Komplexe Freiheit: Konfigurationsprobleme eines Menschenrechts in der globalisierten Moderne 9783839445648

Whan can freedom mean today? A sociological view at freedom can explore this question only against the background of the

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German Pages 308 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Globalisierung als Begrenzung von Freiheit
3. Digitalisierung als Entgrenzung von Freiheit
Exkurs: Digitale Freiheit als Kontingenzkontrolle
4. Eine neue Grammatik der Freiheit
5. Komplexitätsmanagement als Dispositiv der Freiheit
6. Zur Tiefenstruktur komplexer Freiheit
Exkurs: Freiheit in System und Lebenswelt
7. Freiheit in Zeiten der Konfusion
8. Ausblick
Bibliographie
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Komplexe Freiheit: Konfigurationsprobleme eines Menschenrechts in der globalisierten Moderne
 9783839445648

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Helmut Willke Komplexe Freiheit

Edition transcript  | Band 2

Helmut Willke (Prof. Dr.), geb. 1945, war ab 1983 Professor für Planungs- und Entscheidungstheorie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. 2002 wechselte er dort auf die Professur für Staatstheorie und Global Governance. Seit 2008 hat er den Lehrstuhl für Global Governance an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen inne. 1994 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte (darunter auch Einführungen zum Systemischen Wissensmanagement und zur Global Governance) liegen in den Feldern der Systemtheorie, Staatstheorie, politischen Steuerung, des Wissensmanagements, der kollektiven Intelligenz sowie der Demokratietheorie.

Helmut Willke

Komplexe Freiheit Konfigurationsprobleme eines Menschenrechts in der globalisierten Moderne

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Julia Bauer, Bielefeld Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4564-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4564-8 EPUB-ISBN 978-3-7328-4564-4 https://doi.org/10.14361/9783839445648 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1 Einleitung  | 7 2 Globalisierung als Begrenzung von Freiheit  | 19 2.1 Das Problem der Semi-Souveränität | 28 2.2 Das Problem systemischer Risiken | 38 2.3 Das Problem misslingender politischer Steuerung | 48

3 Digitalisierung als Entgrenzung von Freiheit  | 63 Exkurs: Digitale Freiheit als Kontingenzkontrolle  | 81 4 Eine neue Grammatik der Freiheit  | 89 4.1 Zur Antinomie von Freiheit und Gleichheit | 103 4.2 Zur Antinomie von Freiheit und Sozialität | 113 4.3 Zur Antinomie von Freiheit und Sicherheit | 120 4.4 Zur Antinomie von Freiheit und Toleranz | 125

5 Komplexitätsmanagement als Dispositiv der Freiheit  | 139 5.1 Politische Intervention als Form des Komplexitätsmanagements | 152 5.2 Kontingenzkontrolle als Selbstbehauptung der Demokratie | 161 5.3 Resilienz als Strategie des Komplexitätsmanagements | 176

6 Zur Tiefenstruktur komplexer Freiheit  | 187 6.1 Aporien der Meinungsfreiheit | 189 6.2 Aporien der Wahlfreiheit | 198 6.3 Aporien der Kommunikationsfreiheit | 207

Exkurs: Freiheit in System und Lebenswelt  | 237 7 Freiheit in Zeiten der Konfusion  | 247 8 Ausblick  | 279 Bibliographie  | 283

1 Einleitung

Freiheit ist nur in Gesellschaft möglich.1 Als reale Freiheit setzt sie Demokratie voraus. Sie ist daher zwingend politisch begründete Freiheit, und sie wird durch die Teilnahme an der Demokratie wirksam.2 Der Ruf nach Freiheit ist vermutlich so alt wie die Menschheit, aber Freiheit im Kantschen Sinne als selbstverantwortete Mündigkeit setzt Demokratie als gesellschaftlichen Kontext für Freiheit voraus. Deshalb erscheint es wenig sinnvoll, in archaischen, traditionalen, despotischen, theokratischen oder charismatisch geführten Gesellschaften von Freiheit zu reden. Vielleicht gibt es Freiheit auch in einem Karmelitinnenkloster oder in den Hütten der Mbuti im Kongo, aber das steht hier nicht zur Debatte. Im Folgenden geht es um Freiheit in modernen Gesellschaften. Diese ist immer politisch konditionalisierte Freiheit, und alle anderen Formen von Freiheit sind Derivate politischer Freiheit. Dies gilt auch für moderne, funktional differenzierte Gesellschaften, in denen die Funktionssysteme mit ihrer operativen Eigenständigkeit und funktionsspezifischen Eigenlogik eine gewisse Autonomie realisieren und damit auch eigene Freiheitsräume beanspruchen können. Denn auch diese Freiheitsräume sind politisch bedingt und ausschließlich politisch garantiert. Das politische System – als einziges Funktionssystem moderner 1 | Grundlegend Isaiah Berlin, »Two Concepts of Liberty«, in: Isaiah Berlin (Hg.), Four Essays on Liberty, Oxford 1969. 2 | Peter Badura, »Die politische Freiheit in der Demokratie«, in: Willy Brandt u. a. (Hg.), Ein Richter, ein Bürger, ein Christ. Festschrift für Helmut Simon, Baden-Baden 1987, S. 193–207, hier S. 193. »Für Dahrendorf waren die repräsentative Demokratie und ihre Institutionen in Gestalt von Wahlen und Parlamenten sowie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit die Fundamente einer Verfassung der Freiheit.« So Ulrike Ackermann, »Zukunft der Freiheit. Zu einer aktuellen Rede Ralf Dahrendorfs aus dem Jahr 1974«, in: Merkur 5 (2011), S. 456–461, hier S. 458.

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Gesellschaften, welches aufgrund seiner Kompetenzkompetenz für das Ganze von Gesellschaft verantwortlich ist – kann und muss die Freiheitsautonomien der gesellschaftlichen Subsysteme definieren und regulieren. Beispielhaft lässt sich dies am Familiensystem einer Gesellschaft zeigen. Dies ist der wohl privateste Bereich, in dem eigene Autonomieräume plausibel und unabdingbar sind. Dennoch greift die Politik – in Form umfangreicher Familienrechtssysteme – in den Bereich Familie ein, etwa um Kinder zu schützen oder Bildungsgebote durchzusetzen. Allerdings wird in der nachfolgenden Argumentation ausführlich begründet, dass die zur Hyperkomplexität gesteigerte Systemkomplexität moderner Gesellschaften die Steuerungskompetenz der Politik vor deutliche Probleme stellt. Dadurch entstehen in den gesellschaftlichen Funktionssystemen, von der Ökonomie über das Gesundheitssystem bis zum Wissenschaftssystem, Spielräume für Autonomie und Selbstbestimmung, die in der Logik der jeweiligen Subsysteme genutzt werden können oder aber innerhalb überkommener Machtstrukturen zu verschärfter Ungleichheit und Unfreiheit führen. Wie prekär und politisch abhängig die Autonomieräume der Funktionssysteme tatsächlich sind, lässt sich überdeutlich an autoritären Regimen (ob Ungarn, Polen, Türkei oder vielen weiteren Staaten) zeigen. Hier schränkt die Politik die vorher gegebenen und oft sogar verfassungsrechtlich garantierten Autonomieräume der Funktionssysteme ein, beschneidet die Pressefreiheit, die Autonomie des Justizsystems, die Meinungsfreiheit, die Freiheit der Kunst, die Religionsfreiheit etc. und demonstriert in perverser Form den Steuerungsprimat der Politik. In global vernetzten Kontexten ist Freiheit heute darüber hinaus komplex verschachtelt und prekär. Der traditionelle Begriff von Freiheit als demokratische Selbstbestimmung wird mit einer gegenwärtigen Zukunft konfrontiert, die durch globale Vernetzung und umfassende Digitalisierung geprägt ist. Anstatt – wie Höffe3 – Freiheit noch einmal optimistisch zu zelebrieren, geht es hier darum, die Aporien erweiterter und bedrohter Freiheit in einer globalisierten Welt auszudenken, um auf dieser Basis eine neue Grammatik der Freiheit zu entwerfen. Ein der gesellschaftlichen Komplexität angepasster und insofern adäquat komplexer Begriff von Freiheit muss berücksichtigen, dass die indirekten Begrenzungen 3 | Otfried Höffe, Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, München 2015.

1 Einleitung

individueller Freiheitsräume, die aus kontextuellen Bedingungen der Eingrenzung von Freiheit folgen, sich faktisch genauso massiv auswirken wie direkte Verletzungen von Freiheitsrechten. Es erweist sich, dass die in hyperkomplexen Gesellschaften notwendig parzellierte und verteilte Freiheit nicht der Logik eines Nullsummenspiels folgt, sondern neue Freiheitsräume für eine Gruppe mit gleichzeitig eingeschränkten Freiheiten für andere Gruppen einhergehen und daher vielschichte Abwägungen erfordern. Auffällig an der klassischen Konstruktion ist der Fokus auf die Person. Das ist historisch verständlich, weil Locke das Individuum geradezu erfinden und verteidigen musste gegenüber der Dominanz der »Anciens Régimes« von Kirche und Absolutismus. Heute bedrängen die »Nouveaux Régimes« einer globalisierten und hyperkomplexen Welt dieses Individuum in vergleichbar dominanter Weise, allerdings versteckter und indirekter. Die klassische Bedrohung von Freiheit ist Zwang, letztlich ausgeübt durch den Einsatz physischer Gewalt. Die moderne Bedrohung von Freiheit dagegen ist Manipulation,4 letztlich ausgeübt durch anonyme Systemzwänge und scheinbar alternativlose Operationslogiken, und ausgeübt in Formen, die möglichst unbemerkt und verdeckt wirken. Wenn die freiwillig/fahrlässig hergegebenen Daten und Profile von fünfzig Millionen Nutzern von Facebook gestohlen oder gehackt und von einer Analysefirma und möglicherweise von anderen Interessenten missbraucht werden, dann ist die Beeinträchtigung der Freiheit der Nutzer indirekt und verdeckt, aber potentiell real und brisant. Freiheit wird hier primär als politisch konstituierte und politisch zu sichernde Freiheit verstanden, welche die Grundlage für alle nachgeordneten privaten Seiten von Freiheit darstellt. Zielpunkt der Überlegungen ist eine politische Theorie der Freiheit, die sich dezidiert von phänomenologischen oder philosophischen Individualkonzeptionen von Freiheit absetzt. Damit ist das hier zugrunde gelegte Freiheitskonzept eng an De4 | Di Fabio, »Regeln für die digitale Welt. Die algorithmische Person«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online (01.06.2016).: »Seit der Snowden-Zäsur schaut die Netzöffentlichkeit auf die NSA wie ein Unternehmen, das eine feindliche Übernahme vollzogen hat. Doch die sicherheitsversessene große Demokratie macht nur das, was kleinere Demokratien auch gern tun würden und die Autokratien und Diktaturen dieser Welt sind ebenfalls nicht unbeteiligt am Spiel der Datenspionage oder der Manipulation öffentlicher Informationszugänge.«

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mokratie als Steuerungsmodell moderner demokratischer Gesellschaften gebunden.5 Wenn Großereignisse wie die globale Finanzkrise, die arabische Revolution,6 das Management der Griechenlandkrise oder der Umbau der türkischen oder ungarischen Demokratie zu autoritären Regimen zeigen, dass Freiheit im Sinne demokratischer Selbstbestimmung für ganze Gesellschaften nur noch pro forma gilt, dann ist die Frage aufgeworfen, welche Zukunft der Freiheit bevorsteht. Der Schlachtruf »Enduring Freedom« brachte für eine ganze Weltregion Chaos und Terror. Facebook 7 und Google wetteifern darum, einem Milliardenpublikum das als grenzenlose Freiheit der Kommunikation zu suggerieren, was auf Entmündigung im Dschungel von Big Data hinausläuft. Den offiziellen Verteidigern der Freiheit in NSA und CIA gilt die Freiheit der anderen nichts. Die tiefe Verwirrung um Freiheit beginnt aber schon früher und grundsätzlicher als Erosionsprozess der formalen Demokratie. Freiheit ist wie Demokratie an die Territorialität des Nationalstaates gebunden und beide zivilisatorischen Errungenschaften sehen sich von den technologischen Errungenschaften einer globalisierten Welt im Kern bedroht.8 Es liegt auf der Hand, dass die Demokratie in Legitimationsprobleme gerät, wenn grundlegende Fragen nicht mehr in nationalen Parlamenten entschieden werden, sondern in internationalen oder transnationalen Institutionen/Organisationen. Verwirklichte Demokratie ist der beste Schutz substantieller Freiheit. Gefährdungen der Demokratie sind damit Gefährdungen möglicher Freiheit. Dabei ist vorausgesetzt, dass es unterschiedliche 5 | Dies ist ein alter Topos: So zitiert Hobbes die Ausführungen von Aristoteles im 6. Buch der Politik, wonach »in einer Demokratie Freiheit vorausgesetzt werden (müsse), denn allgemein werde die Ansicht vertreten, das unter einer anderen Regierung niemand frei sein könne.« Thomas Hobbes, Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1984 (zuerst 1651). Allerdings wendet Hobbes dies kritisch, weil er dadurch Aufruhr und Widerstand etwa gegen Monarchien provoziert sieht. Siehe auch Nico Stehr, Die Freiheit ist eine Tochter des Wissens, Wiesbaden 2015. 6 | Jean-Pierre Filiu, From Deep State to Islamic State: The Arab Counter-Revolution and its Jihadi Legacy, Oxford 2015. 7 | Siehe: http:/www.spiegel.de/netzwelt/web/facebook-die-visionen-des-markzuckerberg-a-1041522.html, letzter Zugriff 24.10.2016. 8 | Helmut Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion, Frankfurt a. M. 2014.

1 Einleitung

Ausprägungen realer Demokratie gibt, und dass Selbstgefährdungen der Demokratie  – z. B. durch eine »Diktatur der Mehrheit« (Mill)  – immer möglich sind. Eine erste Ebene der Analyse zielt daher darauf, den Zusammenhang zwischen einer Revision des Demokratiemodells unter Bedingungen globalisierter Kontexte und einer Revision des Freiheitskonzepts als Kernelement von Demokratie zu untersuchen. Die Zukunft der Freiheit entscheidet sich aber nicht nur auf den Feldern Demokratie und Politik. Freiheit ist auch in  – zunächst apolitischen  – transnationalen Räumen und in globalen Netzen als Qualität einer erweiterten Lebenswelt relevant, aber faktisch ist sie dort bedrohter und prekärer, weil die etablierten Schutzmechanismen fehlen. Freiheit hängt hier von innovativen Formen des Schutzes ab, weil sie in globalen Kontexten von den ungezügelten Eigenlogiken der Funktionssysteme erdrückt wird. Ein Beispielsfall ist die Funktionslogik des globalen Finanzsystems, welches die Entscheidungsfreiheit auch noch der scheinbar mächtigsten nationalstaatlichen Regierungen drastisch beschränkt. Konkret wird dies bei systemischen Risiken, die Regierungen auch gegen ihren Willen zum Handeln und zu problematischen Rettungsaktionen zwingen – beispielhaft im Fall der griechischen Schuldenkrise, die faktisch den Freiheitsgrad der griechischen Regierung minimiert hat. Die Analyse zielt auf die Verbindung von personaler und systemischer Freiheit, indem souveräne demokratische Entscheidungsfreiheit als kritische Dimension individueller Freiheit verstanden wird. Dieser Aspekt verlässt die individuelle Ebene und zielt auf die systemische Ebene. Welche Anpassungen des Demokratiemodells sind nötig, wenn demokratische Regierungen dem Druck globaler Funktionslogiken ausgeliefert sind? Sind lokale und nationale Freiheit noch von Bedeutung, wenn sie von globalen Zwängen eingeschnürt werden? Welche institutionellen Formen und Mechanismen des Schutzes systemischer Freiheit sind denkbar und plausibel? Aus einem komplexen Freiheitsbegriff zielt die Dimension der institutionellen Formung auf die Suprastruktur von Freiheit. Ziel der Analyse ist die Konstruktion eines komplexen Freiheitsbegriffs, der einerseits die gesellschaftliche (demokratische) Suprastruktur umfasst und andererseits die informationelle Tiefenstruktur der Individuen. Dieser Mehrebenen-Ansatz umschließt auf der transpersonalen Ebene ein mehrstufiges Sozialsystem, welches heute reale Wirkungen globaler Kontexte auf Gesellschaft und Individuum einschließt. Dieser

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Aspekt wird hier unter dem Begriff der Suprastrukturen der Freiheit zusammengefasst. Am Beispiel des globalen Finanzsystems soll dies verdeutlicht werden, indem einige Faktoren der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheiten demokratischer Regierungen durch globale Zwänge thematisiert werden. Auf der individuellen Ebene geht es darum, was Nichtwissen und kognitive Überforderung durch die Komplexitäten einer globalisierten Wissensgesellschaft für die Praxis der Nutzung von Freiheitsräumen bedeutet. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der Tiefenstrukturen der Freiheit. Der Begriff der Tiefenstruktur umfasst hier die mentalen und kognitiven Voraussetzungen für die Möglichkeit einer Person, Freiheitsräume tatsächlich wahrzunehmen. Damit setzt sich die hier entwickelte Theorie von klassischen Konzeptionen der Freiheit im Spannungsfeld von Determinismus und freiem Willen ab. Bei Hume, Locke und Kant steht im Vordergrund die Frage, ob der Mensch in seinem Handeln frei sei oder aber durch seine Leidenschaften, Triebe, durch Umstände oder »Naturursachen« in seinem Wollen und Handeln determiniert sei. Dem gegenüber setze ich die empirische Evidenz voraus, dass der Mensch strategisch handeln kann, also über alle möglichen Festlegungen durch nebenher auch wirksame Determinanten seines Handelns jedenfalls diese durch Gebrauch seines Verstandes9 überdeterminieren kann. Damit rückt der Gebrauch des Verstandes – und mithin die Ressource Wissen – in eine zentrale Position der Freiheitstheorie ein. Die eigentliche Begrenzung von Freiheit folgt aus Nichtwissen. Wenn ich nichts über Alternativen und Optionen weiß, dann sind sowohl Willensfreiheit wie auch Handlungsfreiheit irrelevant. In einem politisch strukturierten Kontext, wie es in modernen Gesellschaften der Fall ist, geht es zunächst und primär um politische Entscheidungen (welche dann Konsequenzen für andere Bereiche der Freiheit haben können), und mithin um die Frage, in welcher Topologie von Wissen und Nichtwissen über politisch relevante Themen sich Personen bewegen. Insgesamt geht es um eine demokratietheoretisch fundierte Beschreibung der Gefährdungen politischer Freiheitsräume durch Entwicklungen, von denen das klassische Demokratiemodell noch nichts wissen kann, und die daher im Interesse der Freiheit in einer komplexen vernetz9 | Dies kommt dem Begriff der Rationalität bei Daniel Dennett nahe, allerdings mit der Qualifikation, dass es je nach Systemreferenz unterschiedliche Arten von Rationalität gibt. Daniel Dennett, Freedom Evolves, New York 2003.

1 Einleitung

ten Welt Modifikationen des Demokratiemodells erfordern. Die Studie zielt darauf, ein individualistisch-moralisch begründetes Freiheitskonzept durch eine »System-Ethik« der Freiheit, eine komplexere Grammatik der Freiheit10 zu ersetzen. Dies schließt die personale Referenz ein (wie ein primär moralischer Begriff von Freiheit), geht aber darüber hinaus in Richtung auf einen komplexen Freiheitsbegriff, der die Operationslogik hochdifferenzierter Gesellschaftssysteme ernst nimmt. Die Zukunft der Freiheit könnte davon abhängen, so die hintergründige Leithypothese, dass eine Konzeption von Freiheit entwickelt wird, aus der in einer globalisierten Welt die Aufforderung zum Widerstand gegen neue Tendenzen der Negation von Freiheit folgt. Wenn sich aus dieser Analyse Optionen für dann doch noch mögliche Freiheitsräume ergeben, dann wäre dies die Minimalvoraussetzung für eine plausible Beschreibung resilienter Freiheiten im Kontext globaler Abhängigkeiten. Theoretischer Hintergrund des hier verfolgten Ansatzes ist eine systemtheoretisch fundierte Steuerungstheorie komplexer Gesellschaften. Die Systemsteuerung moderner, funktional differenzierter Gesellschaften obliegt dem Politiksystem, welches als einziges Funktionssystem über eine Kompetenzkompetenz verfügt, also die Grundregeln für die Grenzen und für das Zusammenspiel aller Subsysteme einer Gesellschaft setzt. Ohne dies hier im Einzelnen auszuführen11 ist damit gesagt, dass gegenüber individualistischen Ansätzen der Freiheitstheorie hier die Betonung auf gesellschaftlich-systemischen Bedingungen möglicher Freiheit liegt. In keiner Weise wird damit die Bedeutung individueller Freiheitsmomente gering geschätzt. Vielmehr soll die komplementäre systemische Seite der Freiheit, die allerdings bislang in der Freiheitstheorie vernachlässigt ist, in den Vordergrund rücken. Die Operationsform moderner Gesell10 | Zum Hintergrund des hier konstitutiven Begriffs der Komplexität siehe Ariane Leendertz, »Das Komplexitätssyndrom. Gesellschaftliche ›Komplexität‹ als intellektuelle und politische Herausforderung in den 1970er-Jahren«, in: MPIfG Dis­ cussion Paper 7 (2015). Verfügbar unter: www.mpifg.de/pu/discpapers_de.php, letzter Zugriff 24.10.2016. 11 | Siehe dazu Helmut Willke, Regieren. Politische Steuerung komplexer Gesellschaften, Wiesbaden 2014; ders., Smart Governance. Governing the Global Knowledge Society, Frankfurt a. M., New York 2007; ders., Governance in a Disenchanted World. The End of Moral Society, Cheltenham, UK, Northampton, MA, USA 2009.

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schaften als funktional differenzierte Systeme bedeutet, dass innerhalb der verschiedenen Funktionssysteme unterschiedliche Bedingungen möglicher Freiheit im Rahmen unterschiedlicher Konzeptionen von Gerechtigkeit12 vorherrschen. Freiheit im Wirtschaftssystem ist eine andere als diejenige im Erziehungssystem, und diese ist eine andere als die Freiheit im Kunstsystem. Demokratie als übergreifendes Steuerungsprinzip ist mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, die Vereinbarkeit der Unterscheide zu gewährleisten. In einer systemtheoretischen Perspektive ist erkenntnisleitend, dass das Zusammenspiel der Individuen emergente Eigenschaften einer Gesellschaft erzeugt, die ihrerseits dann auf die Ebene der Individuen zurückwirken und in rekursiven Prozessen die Bedingungen definieren, in denen sich Individuen wiederfinden. Die wohl wichtigste emergente Eigenschaft der Sozialität von Menschen ist die tragende Bedeutung von (sprachbasierter) Kommunikation für die Konstituierung sozialer Systeme. Die vielleicht provokanteste Weichenstellung in Luhmanns Systemtheorie war, Personen nicht als Teil von Organisationen zu verstehen, sondern als Umwelt sozialer Systeme. Luhmann schockierte mit dem Satz: Soziale Systeme bestehen »aus Kommunikationen, und aus deren Zurechnung als Handlung.«13 Dabei ist der Satz gar nicht so frappierend, wenn man genauer hinsieht. Für die Moderne ist es ja gerade kennzeichnend, dass Personen eben nicht mit Haut und Haaren einer Organisation angehören wie etwa einem Stamm, einer Kirche oder einer Kultur. Vielmehr sind Personen heute an ganz verschiedenen Systemen beteiligt, in denen sie nicht gänzlich aufgehen, sondern stets nur in einer bestimmten Rolle aktiv sind. Genau das ist Bedingung möglicher Freiheit und Autonomie von Personen, dass sie nicht von Organisationen oder von ihrer Gesellschaft insgesamt vereinnahmt werden.

12 | Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983. 13 | Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 240. Und: »Ein Sozialsystem entsteht, wenn sich Kommunikation aus Kommunikation entwickelt.« Ders., Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 2002, S. 78. Und: »Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren.« Ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 30.

1 Einleitung

Aber was bedeutet dann der Satz, dass Organisationen (und andere soziale Systeme) nur aus Kommunikationen bestehen? Zunächst einmal wird damit deutlich, dass Luhmann der Kommunikation – und den Folgen der Kommunikation – eine ausschlaggebende Bedeutung sowohl für das Verstehen wie für die Analyse aller sozialen Phänomene beimisst. Kommunikation, und nicht etwa Handlung, ist für Luhmann die elementare soziale Operation, und aus der einfachen sprachbasierten Kommunikation bauen sich die komplexesten sozialen Systeme auf. Dies lässt sich am Beispiel eines Start-ups nachvollziehen. Gründet eine kleine Gruppe von Leuten eine neue Firma (oder einen Verein oder eine Partei etc.), dann sind da zunächst nur Leute, die miteinander kommunizieren. Es gibt noch keine Organisation. Die Kommunikationen verfestigen sich allmählich in Erwartungen, Erwartungserwartungen, Geschichten, Episoden, Festlegungen, Entscheidungen über Rollen, Arbeitsteilung, Zuständigkeiten und Verantwortungen, die erinnert, dann in der Regel dokumentiert und so festgehalten werden. Nun entstehen über Entscheidungen Strukturen, Prozesse und Regeln, welche die Kernkomponenten der sich (aus den sedimentierten Kommunikationen) bildenden Organisation darstellen. Am Anfang, und zunächst, besteht also ein enger Zusammenhang zwischen Personen und Organisation, und es sind immer und notwendig Personen, welche Organisationen auf den Weg bringen. Aber bald trennen sich die Wege. Die Organisation wird eigenständig und eigensinnig, ganz so, wie Kinder sich irgendwann (hoffentlich) selbständig und relativ unabhängig vom Elternsystem machen. Nach dieser Trennung wird das entstandene Sozialsystem zum Rahmen für die dann darin gegebenen Handlungsmöglichkeiten und Freiheiten. Am einfachsten lässt sich diese Eigenständigkeit sozialer Systeme anhand der jeweiligen »Organisationskultur« zeigen. Organisationskultur entsteht aus Myriaden von Kommunikationen, die sich allmählich zu einem Gerüst verfestigen, in das sich die Personen durch Rekrutierung, Sozialisation und Professionalisierung einfügen. Alte Institutionen wie etwa die katholische Kirche, das Schulsystem oder traditionelle Unternehmen zeigen dies in aller Deutlichkeit. Berater und Manager, die Mergers & Acquisitions (Unternehmenskäufe, -fusionen, -kooperationen etc.) begleitet haben, können ein Lied von der Penetranz und Eigensinnigkeit von Unternehmenskulturen singen. Auch die Kulturen einer Gesellschaft entstehen aus nichts anderem als aus Kommunikationen, die in der Frühzeit mit der endlosen Wiederholung erzählter Geschichten be-

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ginnen, dann mit Schrift und Buchdruck dokumentiert und stabilisiert werden und heute als weltweite Kommunikationen auch eine multikulturelle Weltkultur erzeugen. Luhmann hat für diese Erfahrungen, die ja nicht neu ist, die theoretische Begründung nachgeliefert, und damit nicht nur verständlicher gemacht, was da geschieht, sondern Einsichten und Möglichkeiten an die Hand gegeben, intelligenter und produktiver mit der Eigenlogik sozialer Systeme umzugehen und die Konsequenzen für die Gestaltung von Freiheitsräumen zu bedenken. Die gesteigerte Bedeutung von Kommunikation unterstreicht, warum Kommunikationsfreiheit in ihren Facetten der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Kunstfreiheit, Religionsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit grundlegend für jede Freiheit im Kontext sozialer Systeme ist. Die theoretisch begründete analytische Trennung von Person und Sozialsystem macht es für eine Freiheitstheorie erforderlich, Eigenständigkeit und Eigenlogik sozialer Systeme als Kontexte und mögliche Gegenspieler personaler Freiheit ernst zu nehmen. Jedes Mitglied einer beliebigen Organisation – sei dies Schule, Unternehmen, Kirche oder Krankenhaus  – spürt dies unmittelbar als mehr oder weniger freiwillige Einschränkung von Freiheitsräumen. Dies ist seit langem bekannter Teil der in Demokratien eingespielten Bedingungen möglicher Freiheit. Was in einer globalisierten Moderne nun dazukommt, ist weniger handgreiflich und eher indirekt zu spüren, nämlich die aus den Momenten einer vertieften Globalisierungsdynamik resultierenden Restriktionen, und die aus dem Optionenreichtum einer digital vernetzten Welt sich ergebenden neuen Möglichkeiten und Beschränkungen von Freiheit.14 Diese Ambivalenz der neuen gesellschaftlichen Konstellation bildet die Grundlage für die folgenden Überlegungen zu einer neuen Grammatik der Freiheit. Ausgangspunkte sind die beiden fundamentalen Transformationen, denen sich gegenwärtige Gesellschaften ausgesetzt sehen: der Prozess der Globalisierung und der mit einer durchdringenden Digitalisierung markierte Übergang der Industriegesellschaft in eine Wissensge14 | »Wir leben in einer besonderen historischen Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine. Grenzenlos ist daher der Zwang, der vom Können ausgeht.« Byung Chul Han. Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt 2014, S. 9 f.

1 Einleitung

sellschaft. Kapitel zwei widmet sich vorrangig den neuen Begrenzungen von Freiheit durch Globalisierung, Kapitel drei analysiert die Entgrenzung von Freiheit durch Digitalisierung. Dabei wird deutlich, dass beide Prozesse ihrerseits ambivalente Dynamiken in Gang setzen, also mit neuen Beschränkungen auch neue Optionen schaffen, und mit neuen Freiräumen auch neue, verdeckte und indirekte Eingrenzungen von Freiheit. Die folgenden drei Kapitel bilden den Kern der Konstruktion einer dezidiert politischen Theorie komplexer Freiheit. Zunächst stehen die seit der Französischen Revolution bekannten Antinomien im Vordergrund, welche Freiheit in ein Spannungsverhältnis zu Gleichheit und Brüderlichkeit bringen. Für die Gegenwart gelten weitere Antinomien, von denen die zwischen Freiheit und Sicherheit, sowie zwischen Freiheit und Toleranz ausführlicher behandelt werden. Nach einem Zwischenschritt in Kapitel fünf, in welchem die konstitutive Verankerung des Freiheitskonzept im politischen Steuerungsregime der Demokratie vertieft wird, geht es in Kapitel sechs darum, die klassische Konstruktion des Freiheitsbegriffs als Zusammenspiel von Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit und Handlungsfreiheit für die Bedingungen und Verhältnisse einer globalisierten Wissensgesellschaft neu zu fassen. Dabei kommt mit besonderem Gewicht die Thematik des Nichtwissens und der Überlastung durch Komplexität als Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit zum Vorschein. Kapitel sieben vertieft die Thematik unvermeidbarer gesellschaftlicher Komplexität und daraus resultierender Konfusion derjenigen, die in Demokratien über die Gestaltung der Freiheitsräume entscheiden. Dies führt im abschließenden Ausblick zu der Folgerung, dass nur eine Demokratie, die auch institutionell lernfähig ist, und diese Lernfähigkeit zur Resilienz ausbaut, berechtigte Chancen hat, für eine komplexe, vielschichtige und widersprüchliche Architektur von Freiheit den unabdingbaren Kontext zu bilden.

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2 Globalisierung als Begrenzung von Freiheit

Die Entgrenzung nationalstaatlicher Räume durch eine sich vertiefende Globalisierung bringt paradoxerweise neuartige Begrenzungen der Freiheit. Während globale Konzerne schnell die neuen Freiheitsräume für sich nutzten und mit globalen Lieferketten, globaler Vernetzung und umfassender Digitalisierung ihren Optionenraum vergrößern konnten, wurde der Optionenraum für die meisten Individuen intransparenter und durchsetzt mit undurchschaubaren Risiken.1 Das Kernrisiko sind die mit glänzenden Versprechungen und hohem sozialen Druck garnierten Einladungen, auf Momente von Freiheit und einzelne Verfügungsrechte vor allem über persönliche Daten zu verzichten, um an den globalen Netzwerken teilnehmen zu dürfen. Raffinesse und Risiko dieses neuen mephistophelischen Paktes können kaum überschätzt werden. Das freiheitsgefährdende Zusammenspiel von Globalisierung und Digitalisierung wird im nächsten Abschnitt ausführlicher behandelt. In diesem Abschnitt geht es um eher verdeckte Wirkungen der Globalisierung, die zwar auch auf der Ebene des Individuums aufschlagen, aber den komplizierten Umweg

1 | Keine neue Erkenntnis. In den 1990er Jahren entsteht eine unübersehbare Literatur zur Globalisierung. Siehe z. B. Martin Albrow, Das Globale Zeitalter, Frankfurt a. M. 2007. David Held, Democracy and the Global Order. From the Modern State to Cosmopolitan Governance, Cambridge 1995. Joseph Stiglitz, Making Globalization Work. With a New Afterword, New York, London 2007. Giddens beschreibt die Entgrenzung als »Einbettung« und als »Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte, Raum-Zeit-Spannungen übergreifende Umstrukturierung.« Antony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 33.

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über die nationalen Politiksysteme nehmen – und deshalb für den Schutz individueller Freiheiten bedeutsam sind. Ausgangspunkt ist der empirisch gut abgesicherte Befund, dass die Demokratie als politische Herrschaftsform die zentrale Voraussetzung und die beste Form des Schutzes für individuelle Freiheitsräume darstellt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass jede Beeinträchtigung der Demokratie eine Begrenzung und Beschneidung des Schutzes möglicher Freiheitsräume der Individuen mit sich bringt. Globale Zwänge – welcher Art auch immer – spielen daher eine entscheidende Rolle darin, auf dem Umweg über eine Beschneidung demokratischer Entscheidungskompetenzen den Spielraum demokratischer Partizipation, Mitsprache und Mitentscheidung der Bürger – und mithin ein Kernmoment demokratischer Freiheit – zu verringern und so Komponenten von Freiheit zu gefährden. In der politischen Realität war Freiheit immer eingebunden in einen Kontext komplementärer bzw. konkurrierender Werte und Relevanzen. So forderte die Französische Revolution eben nicht nur Freiheit, sondern Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und postulierte damit gleich zwei kategoriale Begrenzungen möglicher Freiheit. Moderne Verfassungen ersetzen den Begriff der Brüderlichkeit durch Sozialität, und behalten dieselbe Stoßrichtung bei: Freiheit setzt, neben dem schwierigen Korrektiv der Gleichheit, eine Rücksichtnahme auf mögliche Gesellschaft voraus, weil Freiheit nur in Gesellschaft möglich ist.2 Dieses für die demokratischen Nationalstaaten etablierte und erprobte Gefüge ändert sich nun grundlegend durch eine dichter werdende Globalisierung. Die gleiche Freiheit der Anderen, die sich bislang auf einen kulturell homogenen nationalstaatlichen Kontext bezog, wird durch eine Fülle an Heterogenität, Diversität, Differenz und Diffusion kompliziert und unübersichtlich. Die dadurch bewirkte Entgrenzung der Kriterien für gleiche Freiheit schlägt um in eine Begrenzung möglicher Freiheitsräume durch eine Vielfalt von Ansprüchen an gleiche Freiheit für die Anderen. Ein Beispiel ist die steigende Dichte an Vorgaben, Regulierungen und Normierungen durch internationale, transnationale und globale Institutionen, deren Notwendigkeit sich daraus ergibt, dass unterschiedliche Traditionen, Kulturen, Rechtssysteme, Norm- und Wertvorstellungen etc. in ein komplexes Gesamtgefüge zusammengeführt werden müssen. 2 | Ausführlich dazu Helmut Willke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie. Schritte zu einer normativen Systemtheorie, Berlin 1975, S. 224–235.

2 Globalisierung als Begrenzung von Freiheit

Ein institutionelles Beispiel dafür ist die Rolle der Welthandelsorganisation WTO. Sie ist im Januar 1995 als eine Nachfolgeorganisation des GATT (General Agreement on Trade and Tariffs) gegründet worden. Die WTO besteht heute aus etwa 155 Mitgliedsstaaten, die in Grundsatzfragen nach dem Einstimmigkeitsprinzip entscheiden. Von den Mitgliedern sind nur etwa 20 hochentwickelte Staaten, während die Zahl der Entwicklungsländer in der WTO in den letzten zwanzig Jahren von etwa 90 auf etwa 135 angestiegen ist. Die WTO steht heute beispielhaft dafür, dass scheinbar entfernte und entrückte globale Institutionen direkte und spürbare Auswirkungen auf Organisationen und Akteure haben, welche dies zum Teil noch gar nicht wahrgenommen haben.3 Die Regeln und Regelungen der WTO wirken sich nicht nur auf ihre Mitgliedsgesellschaften aus, sondern auch auf Firmen, denn im internationalen Wirtschaftsverkehr außerhalb der EU gilt das Recht der WTO. Da inzwischen auch kleinere und mittlere Unternehmen etwa im Einkauf, im Vertrieb und in Fragen des geistigen Eigentums global denken müssen, und dies mit der weiteren Verbreitung von Internet-basierten Transaktionen auch tatsächlich tun, sind sie von den Regelungen der WTO unmittelbar betroffen. Die Arbeit der WTO ist exemplarisch für die Bedingungen und Möglichkeiten der Selbststeuerung lateraler Weltsysteme4 – hier des Weltwirtschaftssystems. Die Mitgliedsstaaten bringen völlig unterschiedliche Vorstellungen von Politik und den dahinter liegenden Werten, Prinzipien, Traditionen und Normsystemen in eine globale kollektive Willensbildung ein. Sie arbeiten an der kollektiven Entscheidungsfähigkeit mit, wenn und soweit dies zumindest Pareto-optimale Vorteile für die Beteiligten verspricht. Dennoch ist klar, dass die Vorstellungen über die Relevanz von Freiheit z. B. zwischen den USA und China sehr unterschiedlich sind. Ebenso kann es keine substantielle Gleichheit zwischen Mitgliedern geben, die über so unterschiedliche Ressourcen von harter und weicher Macht verfügen wie die USA oder EU einerseits, Bangladesch oder Belize andererseits. Was die Kooperation treibt, ist daher über alle Divergenzen grundlegender Wertvorstellungen hinaus die Erwartung kollektiver, d. h. in diesem Falle globaler Vorteile. Tatsächlich ist diese Erwartung 3 | Für die WHO siehe Jeremy Youde, Global Health Governance, London 2012. 4 | Zum Konzept lateraler Weltsysteme siehe Helmut Willke, Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2001, Kap. 3.3; ders., Global Governance, Bielefeld 2006, S. 37–41.

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weitgehend erfüllt worden, indem in beträchtlichem Ausmaß Handelshemmnisse abgebaut und wichtige Kategorien von Eigentumsrechten global geschützt worden sind. Insofern ist die WTO typisch für die Wirkung globaler oder transnationaler Institutionen. Sie wirkt global in ein äußerst heterogenes Geflecht von Regeln und Traditionen ein, und erweitert in manchen Hinsichten Freiheitsräume, begrenzt zugleich für andere Gruppen Privilegien oder Vorteile und beschränkt so deren Freiheiten. Indem für alle beteiligten Akteure vergleichbare Bedingungen geschaffen werden, ist der Nettoeffekt positiv: Durch ein System, das insgesamt fairer und ausgeglichener ist, ist insgesamt auch die Freiheit gestärkt. Allerdings setzt die Brauchbarkeit globale Regeln und Regulierungen voraus, dass Raum bleibt für berechtigte Unterschiede und Heterogenität, und dass die dezentralen Kompetenzen der Selbststeuerung genutzt werden. Dies kann gelingen, wenn zwei wichtige Errungenschaften der Steuerung komplexer Systeme beachtet werden – Subsidiarität einerseits und Föderalismus andererseits. Eine wichtige Stellgröße für den Raum möglicher Freiheit ist seit langem das Prinzip der Subsidiarität. Dass Freiheit dort am Ausgeprägtesten sein kann und soll, wo die eigene Verantwortung greift und ausreicht, erscheint ebenso plausibel wie die Gegenseite: dass nämlich Freiheitsräume eingeschränkt werden müssen, wenn zur Lösung der anstehenden Aufgaben die Mitwirkung und Mitverantwortung weiterer »sozialer Kreise« unabdingbar ist. Der Föderalismus als Komplementärformel zur Subsidiarität zeigt dann den stufenweisen Auf bau einer gesellschaftlichen und politischen Ordnungsform, die Freiheitsräume mit Verantwortungsdimensionen korreliert. Dieses Mehrebenensystem nationalstaatlicher Organisation wird durch Globalisierung erheblich erweitert. Dem entspricht, dass eine Fülle drängender Probleme – von Migration über Terrorismus oder Pandemien bis Klimawandel – auf globalen Zusammenhängen beruht und nur noch auf globaler Ebene und mit globaler Kooperation sinnvoll angegangen werden kann. Es liegt dann auf der Hand, dass mit der Verlagerung von Verantwortlichkeiten und Handlungskompetenzen auf eine weitere und weiter entfernte Ebene die Freiheitsoptionen auf der Ebene der Individuen eingeschränkt werden. Globalisierung verändert die Bedingungen der Möglichkeit von Sozialität im Sinne geordneter Gesellschaft. Wird Freiheit verstanden als eingebettet und mithin bedingt durch die Voraussetzungen geordneter Gesellschaft – das, was in alter Begrifflichkeit Brüderlichkeit hieß  –, dann erweitert Globalisierung mit den Optionen

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auch die Beschränkungen möglicher Freiheit. Ein konkreter Ausdruck dessen sind zum Beispiel die Grenzen, die inländische Firmen mit globalen Produktions- und Lieferketten darin erfahren, wie sie die Vertragsbeziehungen mit Zulieferern gestalten. Sie können z. B. die Verantwortung für Produktionsbedingungen oder Produktsicherheit nicht mehr auf ihre ausländischen Vertragspartner abwälzen, wenn diese unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten lassen, sondern sie müssen auch bei ihren Vertragspartnern für einigermaßen humane Arbeitsbedingungen sorgen. Eine globale »corporate social responsibility«5 ist Ausdruck einer Beschränkung von Freiheitsräumen im Interesse einer nun nicht mehr nur national sondern global verstandenen wohlgeordneten Sozialität. Auf der Ebene der Beziehungen zwischen Nationen gibt es längst schon eine Bewegung vom Paradigma der Unabhängigkeit – »Declaration of Independence« – zur Interdependenz. Wechselseitige Abhängigkeit ist nicht nur Gebot, sondern unvermeidbare Folge globaler Verflechtungen. Parallel dazu ist auf der Ebene von Personen die Komponente von Freiheit, die sich in Unabhängigkeit ausdrückt, nun eingewoben in ein dichtes Netz unvermeidbarer Abhängigkeiten. Sicherlich gab es Abhängigkeiten zur Genüge auch schon früher, aber mit einer sich vertiefenden Globalisierung wachsen den Personen die globalen Interdependenzen über den Kopf. Sie sind schwer verstehbar, oft nicht direkt spürbar und führen so zu einem diffusen Gefühl des Freiheitsverlustes gegenüber anonymen Mächten – seien dies globale Finanz- und Wirtschaftskrisen, Klimakatastrophen oder auch nur die Verwüstung von Urlaubsdestinationen durch Terrorismus. Interdependenz war immer schon eine Bedingung möglicher Freiheit, solange Freiheit richtigerweise nicht als absolute und unbedingte gedacht war. Dennoch hat sich mit der Unsichtbarkeit globaler Interdependenzen Grundlegendes geändert. Sie wird von einer Bedingung möglicher Freiheit zu einem systemischen Faktor der Begrenzung von Freiheit. Diese 5 | Andreas Georg Scherer, Guido Palazzo, »Toward a Political Conception of Corporate Responsibility: Business and Society Seen from a Habermasian Perspective«, in: Academy of Management Review 32 (2007), S. 1096–1120. Andreas Georg Scherer, Guido Palazzo (Hg.), Handbook of Research on Global Corporate Citizenship, Cheltenham, UK 2008. Dazu Helmut Willke, Gerhard Willke, »Corporate Moral Legitimacy and the Legitimacy of Morals: A Critique of Palazzo/Scherer’s Communicative Framework«, in: Journal of Business Ethics 81 (2008), S. 27–38.

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einschneidende Umkehrung der Verhältnisse für Freiheit kommt erst gar nicht in Sicht, solange der Beobachtungshorizont auf die klassische Perspektive von Nationalstaat, Demokratie und Verfassungsrecht beschränkt bleibt. Einer globalisierten und digital vernetzten Welt ist die klassische Perspektive nicht mehr angemessen, und sie reicht für die neue Welt nicht mehr aus. Die Bedrohungen und Einschränkungen möglicher Freiheit sind nun massiver und subtiler zugleich. So wie die Welt vor prinzipiell unlösbaren Problemen steht (»wicked problems«),6 die allenfalls gemanagt werden können, so ist das Problem der Freiheit in dieser Welt prinzipiell unlösbar und bestenfalls im Sinne eines Managements der Faktoren behandelbar, die Freiheit beeinträchtigen oder gar negieren. Für die Forschung heißt dies nach meinem Argument, dass es primär darum geht, in einer hochgradig komplexen und vernetzten Welt als Nullhypothese zu akzeptieren, dass Freiheit als komplexe Architektur durch negative Wirkungen suprastruktureller und tiefenstruktureller Faktoren prekär geworden ist. Daher sind Konstellationen von Freiheitsaporien zu untersuchen, und auf dieser Basis die Konturen eines komplexen Freiheitsbegriffs und einer fragmentierten, aber resilienten Freiheit zu erforschen. Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen zur Begrenzung von Räumen möglicher Freiheit durch Globalisierung ist eine Einsicht Luhmanns in die Besonderheit politischer Evolution, wonach mit der repräsentativen Demokratie als Steuerungsform der Politik eine evolutionäre Verschiebung ihrer Begründung verbunden ist, die Luhmann als »Umgründung der Politik auf Fluktuationen« 7 beschreibt. Periodische Wahlen und die in immer kürzeren Zyklen erhobenen repräsentativen Meinungsbilder zu beliebigen Politikthemen, (heute ergänzt durch mehr oder weniger spontaner Stürme in den sozialen Medien), schaffen neuartige »dissipative Strukturen« 8 politischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, welche die Abhängigkeiten der Politik von Veränderung und Unbekann6 | »Einige Konstellationen sind schlimmer als irregular. Robin Hogarth beschrieb ›wicked‹ Konstellationen, in denen Professionelle eher die falschen Lektionen aus Erfahrungen lernen.« Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow, London 2011, S. 240. 7 | Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 429 (Kursiv im Original). 8 | Zum naturwissenschaftlichen Hintergrund siehe Ilya Prigogine, »Order through Fluctuation: Self-Organization and Social System«, in: Erich Jantsch, Conrad Wad-

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tem verstärken: »Das System muss sich deshalb auf eine ungewisse Zukunft einstellen.«9 Werden die im demokratischen Prozess angelegten dissipativen Strukturen der Politik im Zuge vertiefter globaler Dynamiken ausgeprägter und geradezu ubiquitär, dann verändern sich die Bedingungen möglicher Freiheit in dem Maße, wie Freiheit an die Möglichkeit von Demokratie gebunden ist. Im Kern geht es um eine gleichzeitige und paradoxe Steigerung von Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten.10 Der Optionenreichtum lateraler Weltsysteme weitet Freiheitsgrade aus und eröffnet sogar Möglichkeiten, mit Wohnort/Arbeitsplatz/Standort auch politische Kontexte zu wechseln. Zugleich nehmen die übergreifenden Abhängigkeiten der Individuen von globalen Netzen und vom Funktionieren globaler Strukturen und Prozesse zu. Der Nettoeffekt für die Möglichkeit oder Unwahrscheinlichkeit von Freiheit bleibt ungewiss, und niemand kann das Ergebnis wirklich abschätzen oder gar kontrollieren. Wieder erweist sich, dass Ungewissheit und Nichtwissen zu determinierenden Faktoren möglicher Freiheit avancieren, vor allem dann, wenn sie nicht auf individuellen Mängeln gründen, sondern auf anonymen systemischen Dynamiken, die jenseits des Einflusses einzelner Akteure eine Welt schaffen, welche »die subjektzentrierte Vernunft durch Systemrationalität abgelöst«11 hat und daher durch die Vernunft Einzelner nicht geheilt werden kann. Ein Beispiel dafür sind die Wirkungen der anvisierten und vorläufig gescheiterten Vereinbarungen zu einem »Transatlantic Trade and Investment Partnership« (TTIP), die zu weltregionalen Regeln führen sollen, die 40 Prozent des Weltinlandproduktes und 30 Prozent  des Welthandels umfassen und damit unweigerlich auch beträchtliche Auswirkungen auf den Rest der Welt hätten.12 Es geht bei TTIP um Empfehlungen zur Erdington (Hg.), Evolution and Consciousness. Human Systems in Transition, London 1976, S. 93–133. 9 | Luhmann, Politik der Gesellschaft, S. 430. 10 | »Eine solche Steigerung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit zugleich setzt hohe Systemkomplexität voraus, die ihrerseits ein typisches Resultat von Evolution ist.« Ebd., S. 431. 11 | Jürgen Habermas, Der Philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, S. 444. 12 | Andreas Freytag u. a., »Die Auswirkungen von T TIP«, in: Konrad-AdenauerStiftung e. V. (2014), S. 5.

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leichterung des Marktzugangs zwischen den USA und der EU, zum Abbau regulatorischer und anderer nichttarifärer Handelshemmnisse sowie zur Festsetzung von Regeln im Umgang mit gemeinsamen Problemen und Chancen im Welthandel. Die Bedarfe für TTIP werden primär von Korporationen definiert, die den Globalisierungsprozess mit weltweiten Wertschöpfungsketten und Produktionsnetzwerken vorantreiben und daher an globalen Regeln für Handel und Investitionen interessiert sind. Für Regierungen – das sind mit den Mitgliedern der EU und den USA neunundzwanzig – und für die von ihnen vertretenen Bürgern impliziert dies die Gefahr, dass die Kompetenzkompetenz der nationalstaatlichen Politiksysteme durch übergreifende Regelungen ausgehebelt wird und insbesondere durch transnationale Schiedsgerichte die Kontrollkompetenz der nationalen Justizsysteme unterlaufen werden kann. Auch hier handelt es sich mit Blick auf die implizierten Wirkungen auf Freiheit nicht um ein schlichtes Problem, sondern um eine komplexe und teilweise paradoxe Konstellation. Denn auf der einen Seite werden durch den Wegfall von Handelshemmnissen und regionalen Barrieren die Wahlmöglichkeiten bezüglich des Angebots von Waren und Dienstleistungen ausgeweitet und damit zum Beispiel Abhängigkeiten von marktbeherrschenden Unternehmen reduziert, insgesamt also Freiheitsräume für Konsumenten/Nachfrager ausgeweitet. Auf der anderen Seite sieht die Lage für alle Akteure außerhalb des Abkommens – und das sind im konkreten Fall vor allem die Entwicklungsländer – ganz anders aus, weil sie zusätzlich zu den bereits bestehenden Schwierigkeiten von den Vorteilen des neuen Freihandelsraumes ausgeschlossen sind. Allerdings trifft es immer weniger zu, dass Güter in einem Land erzeugt und dann grenzüberschreitend gehandelt werden, weil die Wertschöpfung durch eine starke Fragmentierung weltweiter Produktionsprozesse geprägt ist. Baldwin weist zu Recht darauf hin, dass es im Zuge der regionalen Prozesse des 21. Jahrhunderts wichtiger wäre, die Güter- und Faktorenströme innerhalb weltweiter Produktionsnetzwerke oder Wertschöpfungsketten zu erleichtern, als um einen bevorzugten Marktzugang zu kämpfen.13 Wenn die Vorteile aber primär auf der Seite globaler Produktions- und Lieferketten liegen, dann sind damit auch einseitig die bereits bestehenden Großunternehmen und »global players« bevorzugt. Eine weitere Komplikation besteht darin, dass es bei nichttarifären Handelshemm13 | Ebd., S. 7.

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nissen vor allem um Schutzrechte geht, um unterschiedliche Standards für Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz, einschließlich Datenschutz, um unterschiedliche Industrienormen und -standards, die wiederum eng an Sicherheit und Umweltschutz gekoppelt sind, sowie um Vorschriften zum öffentlichen Beschaffungswesen. Eine Vereinheitlichung oder ein Abbau dieser nichttarifären Hemmnisse könnte sich schnell als Danaergeschenk erweisen, weil dann Schutzrechte, die in der EU mühsam errungen worden sind, wegfallen oder verwässert werden könnten. Hier zeigt sich, dass TTIP genau von denjenigen Akteuren und Organisationen zurecht kritisiert und angegriffen wird, die an den Verhandlungen gar nicht teilnehmen: vor allem zivilgesellschaftliche Akteure und Gruppierungen für Umweltschutz, Datenschutz und Schutz vor gentechnisch veränderten Produkten. Erschwerend kommt hinzu, dass um die Verhandlungen eine unrühmliche und verfassungsrechtlich bedenkliche Geheimniskrämerei betrieben wurde und teilweise weiter betrieben wird, die z. B. dazu führt, dass selbst Abgeordnete des Bundestages die Verhandlungstexte nur in einem eigens eingerichteten Raum und nur unter Auflagen in Augenschein nehmen durften.14 Damit wird als Spitze eines Eisberges sichtbar, dass für Abgeordnete bis hin zu dann betroffenen Bürgern Freiheitsrechte geschmälert oder bedroht sind, weil Intransparenz und Komplexität sowohl der Materie wie auch der Verhandlungen zu einer für die Meisten nicht mehr verstehbaren Gemengelage von Erweiterungen und Beeinträchtigungen von Komponenten der Freiheit führen. Auch von dieser Seite her wird die eine kompakte Freiheit aufgesplittert in eine Komposition von Merkmalen, Qualitäten und Komponenten. Diese komplexe Freiheit macht es schwierig, angesichts großformatiger Verschiebungen und Dynamiken und angesichts veränderter Rahmenbedingungen für staatliches Handeln zu einfachen und klaren Kosten-Nutzen-Rechnungen des Nettoertrages bestimmter Entwicklungen für die Freiheit zu kommen. Unweigerlich wird es immer mehr Freiheitskompromisse geben. Die dissipativen Strukturen demokratischer Politik verdichten sich und sind nun eingebettet in einen vielschichtigen Kontext transnationaler, weltregionaler und globaler Rahmensetzungen durch Institutionen, die ihre legitimatorische Grundlage in aller Regel in Vertragswerken haben, die nur sehr indirekt an der »Ket14 | Gertrude Lübbe-Wolff, »Geheimniskrämerei bei T TIP«, in: Merkur 8 (2016), S. 53–61.

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te demokratischer Legitimität«15 angebunden sind. Auch Freiheit wird dadurch sowohl in ihren Möglichkeiten wie hinsichtlich der Faktoren ihrer Negation vielschichtiger und von Bedingungen abhängig, die sehr weit von kontrollierbaren Verfahren und demokratischen Entscheidungsprozessen entfernt sind. Globale Zwänge werden zu Einschränkungen und Gefährdungslagen einer Freiheit, die primär durch nationalstaatlich organisierte Demokratie gewährleistet ist. Die Zwänge lassen sich in drei Stufen der Steigerung beobachten: (1) der Nationalstaat als semisouveräner Akteur, der sich mit Angeboten internationaler Institutionen konfrontiert sieht, welche die nationalen Parlamente nicht ablehnen können; (2) »systemische Risiken« aus dem unbegriffenen und ungesteuerten Operieren globaler Kontexte; und (3) Zwangslagen globaler Problemzusammenhänge, welche die Steuerungskompetenz nationaler Parlamente überfordern.16

2.1 D as P roblem der S emi -S ouver änität Im 21. Jahrhundert ist der Nationalstaat ein semi-souveräner Akteur. Verflechtungen und Interdependenzen werden dichter und gehören zum Kontext jeder nationalstaatlichen Politik. Dabei ist die internationale und globale Kooperation zugleich vorteilhaft und notwendig. Die Konfrontation der Politik mit globalen Dynamiken spielt sich allerdings nicht mehr nur im Rahmen der klassischen Internationalen Beziehungen ab, sondern auf dem eigenen Territorium in komplexeren Konstellationen, in den sich die Funktionssysteme einer Gesellschaft  – beispielhaft Ökonomie und 15 | Frank Nullmeier, Tanja Pritzlaff, »The Great Chain of Legitimacy: Justifying Transnational Democracy«, in: TranState Working Papers 123 (2010). Verfügbar unter: www.econstor.eu/handle/10419/36686, letzter Zugriff 24.10.2016. 16 | Ausführlich Aleksandra Maatsch, »Empowered or Disempowered? The Role of National Parliaments during the Reform of European Economic Governance«, in: MPIfG Discussion Paper 10 (2015). Verfügbar unter: www.mpifg.de/pu/disc​ papers_de.php, letzter Zugriff 24.10.2016. Maatsch untersucht die differentiellen Reaktionen der nordeuropäischen bzw. der südeuropäischen Parlamente bei den folgenden Maßnahmen: Der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität EFSF (Einrichtung und Aufstockung), dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und dem Europäischen Fiskalpakt.

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Finanzsystem – zu lateralen Weltsystemen vernetzt haben und nun Ansprüche an die Politik ihrer Muttergesellschaften richten. Die politischen Systeme der Nationalstaaten kommen von innen und außen unter Druck und verlieren an Einfluss, Autorität17 und Steuerungskompetenz. Paradebeispiele dieser ersten Kategorie sind die präzeptoralen Angebote der Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF (und inzwischen als viertem Mitglied der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM) an Griechenland während der sich hinziehenden Finanz-, Euro- und Staatsschuldenkrisen. Es geht hier nicht um die Problematik insgesamt, sondern um die Frage, welche hintergründigen Bedingungen damit gesetzt sind, welche die Demokratie und damit die Freiheitsräume der Bürger untergraben. Demokratie als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit verweist auf den komplizierten Zusammenhang zwischen einem individuell gedachten Freiheitsbegriff und dem gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen eine solchermaßen individuell gemeinte Freiheit überhaupt möglich erscheint. Das im Frühjahr 2012 unterzeichnete »Memorandum of Understanding« zwischen Griechenland, der Eurogruppe und dem IWF sieht Hilfszahlungen von 130 Milliarden Euro vor. Dies ist das massive »Angebot«, das Griechenland in seiner verzweifelten Lage am Rande des Staatsbankrotts so gut wie nicht ablehnen konnte. Griechenland verpflichtete sich im Gegenzug denn auch zu tiefgreifenden Reformen: Abbau der Staatsverschuldung bis 2020 auf 120 Prozent der Wirtschaftsleistung; innerhalb von zwei Jahren sollen 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) eingespart werden; Reform des Rentensystems; Kürzung von 150 000 Stellen im öffentlichen Dienst; Vereinfachung des Steuersystems und Abschaffung von Subventionen und manchen Privilegien; Kürzung der öffentlichen Gesundheitsausgaben auf unter sechs Prozent des BIP; Senkung der Mindestlöhne um 22 Prozent und Aussetzung der automatischen Lohnzuwächse; weitere Liberalisierung des Marktes sowie weitere Privatisierung von Staatsbetrieben und Einrichtungen.18 Mit jedem 17 | Claire Cutler u. a. (Hg.), Private Authority and International Affairs, New York 1999. Rodney Hall, Thomas Biersteker, »Private Authority as Global Governance«, in: Rodney Hall, Thomas Biersteker (Hg.), The Emergence of Private Authority in Global Governance, New York 2002. 18 | Vassilis Tsianos, Dimitris Parsanoglou, »Metamorphosen des Politischen: Griechenland nach den Wahlen«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 35-37 (2012), S. 8–15, hier S. 9.

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einzelnen Punkt sind relevante Politikfelder angesprochen, in denen Entscheidungen und Gesetze des Parlamentes repräsentativ den souveränen Volkswillen ausdrücken. Der souveräne Volkswille ist die Aggregation der individuellen Entscheidungen der Bürger in den jeweiligen Fragen, die im Parlament aus dem »volonté de tous« den »volonté générale« herstellen. Wird nun das Parlament faktisch zu bestimmten Entscheidungen genötigt, wenn auch nur, um damit größeren Schaden abzuwenden, dann schwindet mit dem Souveränitätsanspruch des politischen Systems insgesamt auch das, was Souveränität als Raum freier kollektiver Entscheidung konstituiert  – nämlich individuelle Freiheit als Kompetenz autonomer Entscheidungsfindung. Wolfgang Streeck moniert daher zurecht, dass demokratisch organisierte Staatsvölker […] sich nur noch dadurch verantwortlich verhalten können, dass sie von ihrer nationalen Souveränität keinen Gebrauch mehr machen und sich für Generationen darauf beschränken, ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Kreditgebern zu sichern.19

Offe sieht zwar das Dilemma: »Wenn man Griechenland und Deutschland, um die beiden Extremfälle zu nennen, in eine Währungsunion steckt, setzt man den ärmeren, weniger produktiven Partner – den, der die höheren Lohnstückkosten hat und daher in seinem Außenhandel weniger wettbewerbsfähig ist – gewaltigen wirtschaftlichen Zwängen aus.«20 Aber er konfiguriert das Problem einseitig als polit-ökonomische Krise und sucht Auswege in einer eher weltfremden Kapitalismuskritik. Dem gegenüber argumentiere ich, dass das gewichtigere Problem darin liegt, dass die polit-ökonomischen Zwänge der Euro- und Staatsschuldenkrise institutionell auf den Gehalt der Demokratie (etwa durch fehlende Partizipationsmöglichkeiten) und individuell auf Optionsräume von Freiheit (etwa durch geringere Renten- oder Sozialleistungen) durchschlagen, und somit ökonomische Lösungen keinesfalls ausreichen21 – nicht nur im Fall 19 | Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013, hier S. 218. 20 | Claus Offe, »Europa in der Falle«, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik 1 (2013), S. 67–80. 21 |  Maria Markantonatou, »Diagnosis, Treatment and Effects of the Crisis in Greece. A ›Special Case‹ or a ›Test Case‹?«, in: MPIfG Discussion Paper 3 (2013). Verfügbar unter: www.mpifg.de/pu/discpapers_de.php, letzter Zugriff 24.10.2016.

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Griechenland, sondern prinzipiell ähnlich auch in allen Fällen hoch verschuldeter Staaten, die sich selbst ihrer »Fiskalsouveränität« berauben.22 Einen etwas anders gelagerten Fall zeigen die Verhandlungen im März 2016 zwischen der EU und der Türkei über die Flüchtlingsproblematik. Die EU hatte sich über einen längeren Zeitraum hinweg durch Uneinigkeit, nationale Egoismen und Alleingänge, die singuläre deutsche Position der Willkommenskultur, autoritäre Entwicklungen in Ungarn und Polen, ein massives Anwachsen populistischer Strömungen aufgrund der angenommenen/befürchteten Überfremdung und weiterer Faktoren in eine völlig unhaltbare Zweckmühle, geradezu in eine »Falle«23 hinein manövriert. Zugleich entwickelte sich die Türkei unter Präsident Erdogan von einer Scheindemokratie zu einem manifest autoritären System, in dem insbesondere Grundrechte, die Unabhängigkeit der Justiz und Pressefreiheit nicht geachtet werden. Die Türkei ist aber für die Flüchtlingsströme das entscheidende Durchgangsland Richtung Europa, und somit kann die Türkei den Strom nach Belieben lenken. Dabei muss gesagt werden, dass die Türkei seit Jahren eine sehr große Zahl von Flüchtlingen, vor allem aus Syrien, aufgenommen und darin wenig Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft bekommen hat. In dieser Situation hat die Türkei in den Verhandlungen am 7. und 8. März 2016 massive Bedingungen dafür gestellt, die von der Türkei nach Griechenland geflüchteten Menschen, die nicht aus Syrien kommen, wieder anzunehmen (um so den Flüchtlingsstrom durch Abschreckung einzudämmen). Sie hat den monetären Preis von drei auf sechs Milliarden Euro erhöht, was nicht so dramatisch erscheint, weil es nur Geld ist und die EU genug davon hat. Von ganz anderer Relevanz sind dagegen die politischen Forderungen der Türkei. So sollte  – nach einem Ultimatum im Sommer 2016  – die Visumspflicht für Einreisen in die EU im Herbst 2016 wegfallen und die Beitrittsverhandlungen zwischen EU und der Türkei sollen beschleunigt werden, trotz der zunehmend despotischen und autoritären Züge der Politik von Präsident Erdogan. Damit liegt das demokratische Dilemma 22 | Sebastian Huhnholz, »Refeudalisierung des Steuerstaates? Vorüberlegungen zu einer politischen Theorie der Steuerdemokratie«, in: Sigrid Boysen u. a. (Hg.), Verfassung und Verteilung. Beiträge zu einer Grundfrage des Verfassungsverständnisses, Tübingen 2015, S. 175–216, hier S. 180. 23 | Claus Offe, Europa in der Falle. Über die Krise des Krisenmanagements, Frankfurt a. M. 2016.

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für die EU auf der Hand. Sie lässt sich von einer zunehmend undemokratischen und offen autoritären Türkei zu Zugeständnissen erpressen, die sie im »Normalfall« niemals machen würde, zu denen sie nun aber sich unter dem Druck der massiven Migrationskrise als geringeres Übel zwischen Pest und Cholera genötigt ist. Es ist wahrscheinlich, dass diese Erpressbarkeit von Einzelstaaten, nicht nur aber vor allem der Demokratien, aufgrund globaler Interdependenzen zunimmt. Flüchtlingsströme, Geldströme, Waffenströme, Drogenströme, Datenströme etc. schaukeln sich leicht zu globalen Tsunamis auf, die Einzelstaaten und selbst supranationale Gebilde wie die EU vor unlösbare Dilemmata stellen und damit erpressbar machen. Derart starke Eingriffe in die Souveränität demokratischer Entscheidungsprozesse bleiben nicht ohne Folgen für die Konturen möglicher Freiheit. Die Beeinträchtigungen sind aber nur auf der Grundlage eines komplexen Freiheitsbegriffes überhaupt erkennbar, weil sie zunächst auf der Ebene der Suprastrukturen der Freiheit spielen. Damit ist gemeint, dass sie sich nicht direkt auf die Ebene individuellen Handelns auswirken, sondern allgemeiner und indirekter das Gefüge institutioneller und organisationaler Faktoren betreffen, welche die übergreifenden Rahmenbedingen möglicher Freiheit bilden. Die Wirkungskaskade erreicht die Ebene individueller Freiheiten erst auf Umwegen und macht es damit schwierig, die freiheitsgefährdenden Momente dieser Konstellationen überhaupt zu erkennen. Die Analogie zum berühmten Galtungschen Begriff der »strukturellen Gewalt«24 drängt sich geradezu auf. Johan Galtung beschreibt damit Formen der Gewalt, die eben nicht direkt spürbar und sichtbar sind wie eine direkte Verletzung von Personen, sondern die indirekt und oft über lange Wirkungsketten auf der Ebenen von Personen ankommen, aber deshalb nicht weniger folgenreich und destruktiv sein können. Statt parallel zu »struktureller Gewalt« von »struktureller Freiheit« zu reden, ziehe ich es hier vor, den Begriff der suprastrukturellen Komponenten einer komplexen Freiheit zu verwenden. Ganz analog zu den Vorzügen eines komplexeren Gewaltbegriffs erlaubt ein Begriff komplexer Freiheit auch jene Momente von Freiheitsbedrohungen in Augenschein zu nehmen, die nicht sofort als manifeste Formen der Unfreiheit der Person erkennbar sind. Wenn in einer global 24 | Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg 1975.

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vernetzten und interdependenten Welt das Bedingungsgefüge für souveränes staatliches Handeln mehrschichtiger und intransparenter wird, und auch demokratische Staaten sich den widersprüchlichen Anforderungen unterschiedlicher Logiken der Realpolitik fügen müssen, dann wird über eine Einschränkung des Freiheitsraumes souveräner staatlicher Entscheidungen eine Kaskade der Einschränkung weitergereicht – etwa über Budget­entscheidungen, die Reduktion von Sozialleistungen, die Gestaltung von Steuersystemen oder die Veränderung von Anspruchsgrundlagen – die irgendwann auf der Ebene der Personen aufschlägt und ganz konkret den Optionenraum von Personen reduziert. Es tritt deutlicher hervor, dass bei hoher Interdependenz der politischen Ebenen, Projekte und Probleme an unterschiedlichen Stellen zugleich Optionenräume geöffnet und andere beschränkt werden, dass es zu schwierigen, auch zeitlich gestuften kombinatorischen Effekten für die Freiheit kommt und es häufig unmöglich wird, den Nettoertrag – ob positiv oder negativ – für die Freiheit auf der Ebene der Personen abzuschätzen. Noch schwerer einzuschätzen sind scheinbar anonyme Bedrohungen der Freiheitsräume von Personen durch Konstellationen der Umwelt, die schlicht als gegeben erscheinen, die tatsächlich aber unterschiedlichsten Systemdynamiken geschuldet sind, hinter denen wiederum Projekte konkreter Organisationen und Akteure stecken. In einer umfangreichen Analyse von 2016 schätzt die WHO, dass im Jahre 2012 weltweit über zwölf Millionen Todesfälle durch Umweltrisiken verursacht waren. Die Studie schließt dabei nur solche Risiken ein, die durch das Verhalten von Menschen beeinflusst sind, und schließt unbeeinflussbare Faktoren aus: Die Gesundheit betreffende Umweltrisiken sind in der Studie definiert als alle physikalischen, chemischen und biologischen Faktoren, die eine Person umgeben, sowie darauf bezogene Verhaltensweisen. Ausgenommen jedoch sind die Teile der Umwelt, die nicht wesentlich verändert werden können. Um die politische Relevanz der vorliegenden Studie zu steigern, liegt der Fokus auf dem Teil der Umwelt, der wesentlich verändert werden kann. 25

25 | Annette Prüss-Ustün u. a., Preventing Disease through Healthy Environments: a Global Assessment of the Burden of Disease from Environmental Risks, Genf 2016, S. X.

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Eine Einbeziehung dieser Risikolagen öffnet den klassischen Freiheitsbegriff  – ein Kompositum aus Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit und Handlungsfreiheit  – und erweitert ihn in die suprastrukturellen Bedingungen der Möglichkeit/Unmöglichkeit von Freiheit. Im Zentrum einer Pandemie wie Ebola oder Cholera ist Freiheit ebenso unmöglich wie im Zentrum eines Tsunami oder im Umkreis der Katastrophen von Fukushima. Dies sind die extremen, medial exponierten Fälle, aber vergleichbares gilt für Millionen von Familien, die zum Überleben auf Kinderarbeit angewiesen sind oder die in Räumen mit stark verschmutzter Luft leben, weil zum Kochen nur rauchende Holzfeuer zur Verfügung stehen.26 Diese und viele weiteren Gefährdungslagen sind Begleiterscheinungen globaler Entwicklungsprozesse, die sich nur schwer oder gar nicht steuern und schon gar nicht abstellen lassen. Sie umfassen technologische, ökonomische, finanzsystemische, ökologische und demografische Prozesse, die als Verheißungen beginnen und häufig in Katastrophen enden. Immer sind es »Angebote«, welche ein Großteil der betroffenen Menschen nicht ablehnen kann, weil sie sonst noch schlechter gestellt wären. Selbst in den im Vergleich zu den Entwicklungsländern reichen OECD-Ländern gibt es Gefährdungslagen, die zwar anders geartet sind, aber ähnlich gewaltsam wirken. Wenn in Deutschland im Jahre 2014 die ärmere Hälfte der Bevölkerung 2,5 Prozent des Nettovermögens besitzt, die reichsten zehn Prozent aber 59,8 Prozent, und der Gini-Koeffizient für das Netto-Vermögen noch einmal um 0,2 Prozentpunkte auf 76 Prozent gestiegen ist, dann ist dies nicht nur eine deutliche soziale Schieflage, sondern für die ärmere Hälfte der Bevölkerung eine reale Beschneidung von Handlungsoptionen.27 Dies beginnt bei der Schulwahl (die Ärmeren besuchen überproportional die Hauptschule oder schließen gar nicht ab) 26 | Ebd., S. 15: »Nimmt man die Effekte von Luftverschmutzung durch Haushalte, die durch den Gebrauch von Festbrennstoffen fürs Kochen entstehen, sowie Luftverschmutzung im Allgemeinen hinzu, dann lassen sich Schätzungen zufolge mindestens 35 Prozent (27–41 Prozent) aller leichten Atemwegsinfektionen in Ländern mit geringem bzw. mittlerem Einkommen auf die Umweltbedingungen zurückführen. Für Kinder unter fünf Jahren liegt dieser Wert bei über 50 Prozent.« 27 | Deutsche Bundesbank, »Vermögen und Finanzen privater Haushalte in Deutschland: Ergebnisse der Vermögensbefragung 2014«, in: Deutsche Bank Monatsbericht 61 (2016), S. 2.

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und endet bei Arbeitslosigkeit und Altersarmut. Auch hier gibt es aus der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Dynamik kaum ein Entrinnen. Selbst den Armen der OECD geht es besser als den meisten Menschen in den Entwicklungsländern, und in diesem Sinne macht ihnen ihre Gesellschaft ein Angebot, das sie sich abzulehnen nicht leisten können. Dabei ist einzurechnen, dass die politischen Systeme der betroffenen Länder die Verhältnisse nicht einfach qua legislativem fiat ändern können. Ein globaler Wettbewerb um Standortqualitäten, die von Lebensqualität bis Innovationskultur reichen, zwingt die politischen Systeme zu Rücksichtnahmen und Abwägungen, die auf verschachtelte Kompromisse zwischen erweiterten und verengten Optionen persönlicher Freiheiten hinauslaufen. Wenn sich z. B. Wirtschaftswachstum nur durch – oder jedenfalls nicht ohne – Förderung von Innovationen und dadurch induzierte Ungleichheiten der Vermögensverteilung erreichen lässt,28 dann bedeutet jede mögliche Entscheidung an irgendeiner Stelle eine Beschränkung möglicher Freiheitsoptionen, und die Frage ist nur, welcher Teil eines komplexen Zusammenhangs davon betroffen sein soll. Dass es sich in den genannten Fällen tatsächlich um Beeinträchtigungen von Freiheitsgraden handelt, wird ersichtlich, wenn Freiheit nicht mehr auf die individuelle Entscheidungs- und Handlungsfreiheit reduziert wird. Ein der gesellschaftlichen Komplexität angepasster und insofern adäquat komplexer Begriff von Freiheit muss berücksichtigen, dass die indirekten Begrenzungen individueller Freiheitsräume, die aus suprastrukturellen und tiefenstrukturellen Bedingungen der Eingrenzung von Freiheit folgen, sich faktisch genauso massiv auswirken wie direkte Verletzungen von Freiheitsrechten. Die komplexen Kausalmuster und Interdependenzen einer global vernetzten Welt müssen für die Konstruktion eines angemessen Freiheitsbegriffs berücksichtigt werden, wenn dieser Begriff für die Gegenwart Relevanz behalten soll. Eine besondere Schwierigkeit liegt dann allerdings darin, dass bestimmte Konstellationen nicht mehr eindeutige negative oder positive Konsequenzen für die Möglichkeit oder Unwahrscheinlichkeit von Freiheit haben, sondern dass sich daraus eine eher intransparente Gemengelage positiver und negativer Auswirkungen auf individuelle Freiheitsräume ergibt. Dies bedeutet, dass es oft auch von den gewählten Handlungsoptionen und den bereits 28 | Jonathan D. Ostry u. a., »Redistribution, Inequality, and Growth«, in: IMF Staff Discussion Note (2014).

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bestehenden Situationen von Personen abhängt, wie sich politische Programme oder Systemdynamiken auf die Matrix verschachtelter Faktoren auswirken, die Freiheit ermöglichen oder beschränken. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Frage der Zulässigkeit einer Gurtpflicht bei Autofahrten oder eines Impfzwanges angesichts der Gefahr einer Epidemie, etwa bei Masern und Tuberkulose29 oder bei Pandemien wie Vogelgrippe oder Ebola. Wenn selbst in den eher freiheitsfundamentalistischen USA die Gurtpflicht eingeführt werden konnte, dann zeigt dies, dass die freiheitsbeschränkende Zumutung einer Gurtpflicht austariert und »geheilt« werden kann durch eine Reihe suprastruktureller und tiefenstruktureller Faktoren, die auf der anderen Seite Freiheitsräume bewahren oder gar erst ermöglichen. Suprastrukturell relevant sind Faktoren wie das politische Ziel der Reduktion der Zahl der Verkehrstoten, generell die Verbesserung der Verkehrssicherheit und der Schutz mitfahrender Personen. Die klassische Dichotomie von Freiheit versus Sicherheit schlägt in der Zusammenschau der Faktoren zugunsten der Sicherheit aus, auch weil die Zumutung an Unfreiheit – der Gurtzwang – verhältnismäßig geringfügig ausfällt. Tiefenstrukturell relevante Faktoren sind in diesem Fall die intrapersonale Abwägung zwischen der Einsicht in den positiven und hilfreichen Sinn des Gurtanlegens einerseits und dem Ärgernis des Zwanges andererseits, ebenso wie etwa die intrapersonale Abwägung zwischen der Verantwortung der Fahrerin für die Mitinsassen einerseits und dem Zugestehen von Eigenverantwortung der Mitfahrenden andererseits. Vergleichbare Überlegungen und Abwägungen leiten den Gurtzwang (und weitere deutliche Einschränkungen) bei Flugreisen oder die Rauchverbote in Flugzeugen, öffentlichen Gebäuden oder Bahnhöfen. Hier machen Regierungen – oder in ihrem Auftrag transnationale Institutionen wie die IATA  – präzeptorale Angebote zur Verbesserung kollektiver Sicherheit, die Individuen auch im Interesse individueller Freiheiten nicht ablehnen können. 29 | »Jeden Tag sterben mehr als 4000 Menschen an den Folgen einer solchen Infektion. 1,5 Millionen Tuberkulose-Tote zählte die Weltgesundheitsorganisation 2014. Rund 9,6 Millionen Menschen erkranken jedes Jahr neu.« Stefan Kaufmann, Lewis Schrager, »Wir benötigen dringend eine neue Impfung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.03.2016. Verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/wissen/ medizin-ernaehrung/wir-benoetigen-dringend-eine-neue-tuberkulose-imp​f ung14138766.html, letzter Zugriff 24.10.2016.

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Im Fall des Impfzwanges ist die Nutzen-Kosten-Rechnung aufwändiger und umstrittener. Hier sind die Balanceakte zwischen Freiheit und Sicherheit prekärer und die Abwägungen zwischen individueller Freiheitsbeschränkung und kollektivem Zugewinn an Freiheitsräumen schwieriger.30 Pandemien wie Ebola oder der Zika-Virus zeigen aber, dass mit steigenden globalen Austauschbeziehungen und weltweiter Vernetzung sich auf der suprastrukturellen Ebene die Gewichte verschieben zugunsten notwendiger Maßnahmen für verschiedenste Aspekte kollektiver Sicherheit, und zulasten der Räume individueller Freiheit. Die Parallelen zu den Folgen der Akte globaler Terrorregime wie IS sind offensichtlich. Ob es plausibel ist, in diesen und in vergleichbaren Fällen von »Angeboten« zu sprechen, – und sei es von präzeptoralen Angeboten –, muss sich daran erweisen, inwieweit die Verluste oder Einschränkungen individueller Freiheitsmomente – verstanden als Momente einer komplexen Architektur von Freiheit  – dadurch ausgeglichen oder überkompensiert werden, dass als Resultat der individuellen Saldierung von Freiheitsverlust, Sicherheitsgewinn und Partizipationsmöglichkeiten die Aufgabe von Freiheitsmomenten einsichtig und freiwillig geschieht. Dies ist bei Sicherheitspflichten im Flugverkehr sehr klar gegeben, bei Anschnallpflicht und Sicherheitsgurten im Auto zumindest nach längeren Zeiten der Gewöhnung, und bei Impfzwängen wohl abhängig vom Ausmaß der perzipierten persönlichen Gefährdung. Jedenfalls wird bei allen Fällen deutlich, dass es wenig überzeugend ist, weiterhin Freiheit dichotom als gegeben oder nicht gegeben zu verstehen. Konkrete Konstellationen in einer Welt, die in Bereichen wie Umwelt, Finanzen, Gesundheit, Verkehr, Forschung, Terror, Migration, Energie etc. hyperkomplex geworden ist,31 und damit sich auch für die weitaus meisten Personen als intransparent und unbegreiflich darstellt, sind gekennzeichnet von einer verschachtelten Gemengelage widersprüchlicher Aspekte, die Freiheit, Sicherheit, Gesundheit, Partizipation, Mobilität, Zugehörigkeit (z. B. zu sozialen Netzwerken) und weitere individuelle Präferenzen einschließen. Dass Freiheit 30 | »Bei 16 Millionen Impfungen gab es zuletzt sieben ernste Komplikationen. Sieben Fälle! Zum Vergleich: Von 16 Millionen Masern-Patienten sterben, rein statistisch, 16.000.« Steven Geyer, »Impfzwang ist vernünftig«, in: Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2015. Verfügbar unter: www.fr-online.de/leitartikel/impfungen-​ impfzwang-ist-vernuenftig,29607566,29959006.html, letzter Zugriff 24.10.2016. 31 | Lars Qvortrup, The Hypercomplex Society, New York 2003.

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dann nicht mehr in Ja/Nein-Kategorien verhandelt werden kann, liegt auf der Hand. Aber offen ist, wer dann mit welchen Kriterien die Kosten-Nutzen-Rechnung aufmacht, und welche Aspekte komplexer Konstellationen dann mit welchem Gewicht in die Abwägungen eingehen sollen.

2.2 D as P roblem systemischer R isiken Das zentrale Beispiel der zweiten Kategorie globaler Zwänge, die sich auf die Freiheit nationaler Entscheidungsinstanzen auswirken, sind die systemischen Risiken, welche die globale Finanzkrise der Jahre 2008 ff. ausgelöst haben. Ebenso deutlich wie in der ersten Kategorie von Zwängen geht es bei systemischen Risiken um eine eigenartige Verknüpfung von aus dem Ruder laufenden ökonomisch-finanziellen Dynamiken mit nicht-intendierten und nicht vorhergesehenen politischen Konsequenzen. Im Kern geschieht etwas Ungeheuerliches: Das Finanzsystem nötigt das politische System zu einer großformatigen Rettungsaktion, in welcher mit Milliarden öffentlicher Gelder Finanzfirmen gerettet werden, denen aufgrund verantwortungslos eingegangener Klumpen-und Großrisiken Insolvenz droht.32 Sind die Risiken und Schulden einer Finanzfirma nur groß genug, dann kann sie damit drohen, dass aufgrund der intensiven und unüberschaubaren Vernetzung und Interdependenz der Finanzfirmen nicht nur sie selbst untergeht, sondern mit ihr ein nationales oder gar das globale Finanzsystem insgesamt bedroht sind. Präzise mit dieser Argumentationsfigur – »too big to fail« – wurde im Herbst 2008 die amerikanische Politik von »13 Bankers«33 dazu erpresst, mit einem Volumen von siebenhundert Milliarden Dollar an öffentlichen Geldern die Versicherungsgesellschaft AIG und weitere bedrohte Banken und Finanzfirmen vor dem Kollaps zu bewahren. Nicht nur finanziell/fiskalisch, sondern vor allem demokratietheoretisch ist dieses Muster hochgradig problematisch.34 Damit sind wir bei 32 | Ausführlich dazu Helmut Willke u. a., Systemic Risk. The Myth of Rational Finance, Frankfurt a. M., New York 2013. 33 | Simon Johnson, James Kwak, 13 Bankers. The Wall Street Takeover and the Next Financial Meltdown, New York 2011. 34 | Island ist bislang das einzige Land, in dem die Finanzkrise zu einem massiven Bürgerprotest geführt hat, der die Regierung aus dem Amt jagte und eine neue

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der dritten Kategorie von Zwangslagen, welche Freiheits-und Autonomiegrade demokratischen Entscheidens beschneiden. Denn damit werden die Entscheidungsfreiheiten der nationalen Parlamente und Regierungen gerade bei solchen Themen ausgehebelt, die von großer Bedeutung und mit massiven Konsequenzen verbunden sind.35 Systemische Risiken sind nicht nur im globalen Finanzsystem beobachtbar, sondern sie schleichen sich in die Operationsmodi der lateralen Weltsysteme ein  – als unbeherrschbare Risiken der Migration, der Atomenergie, des Klimawandels, des globalisierten Terrors etc.  –, indem zum einen ihr globaler Entstehungszusammenhang die Steuerungsreichweite und Steuerungskompetenz der Nationalstaaten überschreitet, und zum anderen indem aus der globalen Vernetzung und Koppelung komplexer Kausalmuster völlig neue »emergente« Eigenschaften entstehen, angesichts derer sich die herkömmlichen Risikomodelle und Regulierungsformen als unterkomplex erweisen. Wenn solche neuen emergenten Eigenschaften zu systemischen Risiken führen, dann ist der institutionelle Freiheitsraum der Demokratie beeinträchtigt. Denn durch solche Risiken werden die im Prinzip souveränen Instanzen der Demokratie im Interesse der Stabilisierung des Systems zu Entscheidungen gezwungen, die sie ansonsten (im Normalfall) ablehnen müssten. Emergenz bezeichnet im Rahmen eines systemtheoretischen Paradigmas den Übergang von einer Systemebene zu einer nächsten Ebene organisierter Komplexität. Eine nächste Ebene meint eine qualitativ erweiterte Form organisierter Komplexität, die Eigenschaften aufweist, welche nicht aus den Eigenschaften der Elemente oder Komponenten zu erklären ist, aus welcher sich die neue Form bildet. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sich aus Myriaden von Molekülen eine lebende Zelle bildet oder aus Verfassung formulierte. Siehe Felix Stadler, »Digitale Solidarität«, in: Kultur und Medien. Analysen. Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin 2014, S. 1–42, hier S. 3–4. 35 | »In den meisten Fällen jedoch betrachtet man politische Entscheidungsfreiheit innerhalb von Wohlfahrtsstaaten so lange nicht als ein eigenständiges politisches Problem, bis bestimmte Anspruchsberechtigte oder auch ganze Gruppen von Unterstützungsempfängern – in den allermeisten Fällen die ärmeren Schichten der Bevölkerung – erkennen, dass die politischen Entscheidungen ihre Bedürfnisse gar nicht oder nur sehr unzuverlässig widerspiegeln.« Douglas Ashford, »Die Theorie des Wohlfahrtsstaates und politische Entscheidungsfreiheit.«, in: Dieter Grimm (Hg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden 1994, S. 287–316, hier S. 288.

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einem Einzeller ein komplexer Organismus, wenn sich Bewusstsein auf der Basis von Organismen entwickelt oder wenn sich soziale Systeme auf der Basis von Kommunikationen auf bauen. Damit ist auch gesagt, dass Emergenz nicht mit dem klassischen Mikro-Makro-Problem gleich zu setzen ist,36 sondern auf das Verhältnis von Teil und Ganzem oder genauer: von System und Elementen zielt. Die Leitfrage ist nicht, wie sich Makro-Phänomene aus Mikro-Phänomen entwickeln, sondern in einer eher umgekehrten Perspektive lautet die Frage: Wie gelingt es einem zufällig-evolutionär entstandenen Kontext, sich selbst in einer unwahrscheinlichen Organisationsform als System zu stabilisieren? Als Beispiel: Wie gelingt nach dem Ende der Bretton-Woods-Ära die Konstitution eines globalen Finanzsystems, das mehr und anderes ist als die bloße Summierung der nationalen Finanzsysteme? Weiter: Wie richtet sich diese Form organisierter Komplexität ihre Elemente so zu, dass sie gegen die Wahrscheinlichkeit des Zerfalls einen kontinuierlichen, rekursiven Prozess der Reproduktion des Systems etablieren? Woher nimmt das System nächster Ebene die Fähigkeit, seine Selbstorganisation nach eigenen Regeln so zu steuern, dass tatsächlich neue Qualitäten des Systems nicht nur zufällig zum Vorschein kommen, sondern verlässlich reproduzierbar sind? Wie gelingt »dieser Exzeß der Wirkungen über seine Ursachen«37? Die Evolution des globalen Finanzsystems als eigenständiges System, als laterales Weltsystem, zeigt, dass dies aus dem Zusammenspiel vieler einzelner Faktoren, individueller Absichten und organisationaler Strategien möglich ist, und so neue Qualitäten des emergenten Gesamtsystems entstehen. Konkret heißt dies zum Beispiel, dass einzelne Finanzakteure und Finanzfirmen völlig rational ihre individuellen Risiken mit elaborierten Finanzinstrumenten managen (»hedging«), aber aufgrund der Vernetzung und Interdependenz der vertraglichen Verpflichtungen diese Absicherungsstrategien im Finanzsystem insgesamt neue Risiken schaffen und sich zu systemischen Risiken aufschaukeln

36 | So aber Bettina Heintz, »Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 56 (2004), S. 1–31. Differenziert Jürgen Schröder, Einführung in die Philosophie des Geistes, Frankfurt a. M. 2004. 37 | Slavoj Zizek, Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt a. M. 2005, S. 155.

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können.38 Das Wissen der beteiligten politischen Systeme und regulatorischen Institutionen über solche systemische Risiken war vor der Finanzkrise 2008 noch vollkommen unterentwickelt. So richtete man den Blick vor allem auf die (gut bekannten) Risiken einzelner Elemente, verschlief gleichsam aber, die Entwicklung eines neuen, bedrohlichen Systems und seiner systemischen Risiken wahrzunehmen. Ein von diesen Fragen geleitetes Verständnis von Emergenz impliziert, dass das traditionelle Verhältnis von Teil und Ganzem in der Emergenzdebatte auf den Kopf gestellt wird oder genauer: vom Kopf auf die Füße. Das für diese Debatte zentrale Argument der »Mikrodeterminiertheit« muss aufgegeben werden zugunsten einer »Systemdeterminiertheit« der Elemente, die in ihrem Zusammenspiel das System reproduzieren. Nicht die Elemente determinieren das System, sondern das System determiniert seine Elemente.39 Wiederum am Beispiel des globalen Finanzsystems lässt sich zeigen, dass es genau diese Transformation von einer Dominanz der Elemente zu einer Dominanz des emergenten Systems war, die der Politik und den Regulierungsinstitutionen verborgen blieb und sie in die Irre führte. Nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems der unterschiedlichen nationalen Finanzsysteme, die nach je eigenen Regeln organisiert und kontrolliert waren, entwickelte sich in den 1970er und 1980er Jahren in einem allmählichen Prozess Vernetzungen und Interdependenzen zwischen immer mehr Banken und Finanzfirmen weltweit. Parallel dazu entwickelte sich in den deregulierten Räumen ein globales Schattenbankensystem in einer Größenordnung, die kein nationaler Regulator mehr überblickte. Parallel dazu konvergierten die finanzwirtschaftlichen und finanztechnischen Ideologien, Konzeptionen, Anlagestrategien, Risikomodelle und Belohnungssysteme auf ein homogenes amerikanisches Modell und ebneten so die große Vielfalt und Heterogenität der Bretton-Woods-Welt auf ein einheitliches homogenes Modell ein.40 Im Zusammenspiel dieser Faktoren veränderte sich das System insgesamt von einem lose gekoppelten zu einem eng ge38 | Andrew Haldane, Robert May, »Systemic Risk in Banking Ecosystems«, in: Nature 469 (2011), S. 351–355. Verfügbar unter: www.nature.com/nature/jour​ nal/v469/n7330/abs/nature09659.html, letzter Zugriff 24.10.2016. 39 | »Elemente sind Elemente nur für die Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme.« Luhmann, Soziale Systeme, S. 43. 40 | Zur Kritik siehe Richard Bronk, Wade Jacoby, »Uncertainty and the Dangers of Monocultures in Regulation, Analysis, and Practice«, in: MPIfG Discussion Paper 6

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koppelten System. Das entstehende globale Finanzsystem änderte seinen Charakter und seinen Operationsmodus mit den neuen Eigenschaften der Vernetzung, Interdependenz, Homogenität, enger Kopplung und systemischer Risiken und bildete daraus den globalen Überbau, der nun die Optionen und Strategien der Elemente des Systems bestimmen sollte.41 Diese theoretische Position benötigt keinerlei transzendente Hilfestellung zur Erklärung von Emergenz. Sie bewegt sich streng im Rahmen einer naturalistischen Weltsicht. Das System muss zunächst streng evolutionär entstanden sein, also im Falle des globalen Finanzsystems als Folge globaler gesellschaftlicher Entwicklungen, die hier mit dem Ende des Bretton-Woods-Arrangements beginnen. Der springende Punkt ist, dass es einigen der in dieser Weise entstandenen Systeme gelingt, entgegen ihrer evolutionären Zufälligkeit und mithin Unwahrscheinlichkeit Mechanismen der Selbststabilisierung42 zu etablieren, also höchst unwahrscheinliche Zustände über die Zeit zu bewahren. Die zentrale Forschungsfrage zum Phänomen der Emergenz ist daher, wie solche Mechanismen der Stabilisierung unwahrscheinlicher Ordnungsleistungen aussehen und wie sie erklärbar sind.43 Erst eine solche Analyse deckt die Opera-

(2016). Verfügbar unter: www.mpifg.de/pu/discpapers_de.php, letzter Zugriff 24.10.2016. 41 | Alexander Kern u. a., Global Governance of Financial Systems. The International Regulation of Systemic risk, Oxford 2006. Pransanna Gai, Systemic Risk. The Dynamics of Modern Financial Systems, Oxford 2013. Kenneth French u. a., The Squam Lake Report. Fixing the Financial System, Princeton, Oxford 2010. Henry M. Paulson Jr., On the Brink. Inside the Race to Stop the Collapse of the Global Financial System. With a Foreword by Rep. Barney Frank, New York, Boston 2011. Hal Scott, »The Reduction of Systemic Risk in the United States Financial System«, in: Harvard Journal of Law & Public Policy 33 (2011), S. 673–734. Mark Williams, Uncontrolled Risk. The Lessons of Lehman Brothers and how Systemic Risk Can Still Bring Down the World Financial System, New York 2010. 42 | »Und hier, an diesem entscheidenden Punkt, beginnt die Sprache der heutigen Biologen der Sprache Hegels auf fast unheimliche Weise zu ähneln. Wenn Varela etwa seinen Begriff der Autopoiese erklärt, wiederholt er fast wörtlich Hegels Definition des Lebens als einer telelogischen sich selbst organisierenden Entität.« Zizek, Körperlose Organe, S. 159 f. 43 | Ausführlich und grundlegend dazu Terrence Deacon, Incomplete Nature. How Mind Emerged From Matter, New York, London 2013.

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tionslogik eines emergenten Systems auf, verhilft also dazu, das neue System als neue Realität zu sehen und es nicht mehr als bloße Aggregation seiner Elemente zu verstehen. Für eine Freiheitstheorie ist dies dann relevant, wenn die neue Systemebene durch ihre Operationsform Freiheiten bedroht und für die Akteure und Betroffenen unklar bleibt, woher die Bedrohungen kommen und wie sie zustande kommen. Emergenz beruht primär auf einer Kommunikationsleistung. Das zufällige Zusammenspiel von Einheiten, das einen Kontext mit neuen Eigenschaften konstituiert, erreicht nur dann Emergenz, wenn es nicht bei dem einmaligen Ereignis bleibt, sondern wenn genau dieser Kontext mit seinen Eigenschaften sich verlässlich reproduzieren lässt, also operative Zyklizität erreicht, also Systemqualität erlangt. An diesem Punkt schlägt Emergenz (der Elemente zum System) in Konstitution (der Elemente durch das System) um. Dies gelingt nicht den Elementen selbst, sondern einer zusätzlichen informationellen Verknüpfung der Elemente zu einer operativen Zirkularität, die das System konstituiert und reproduziert. So lässt sich zeigen, dass z. B. das globale Finanzsystem in den drei Jahrzehnten nach Ende der Bretton-Woods-Ära emergente Eigenschaften ausgebildet und tatsächlich Systemqualität erreicht hat, indem aus der dichten Vernetzung Tausender global verteilter Finanzfirmen Systemeigenschaften – wie vor allem globale Ansteckungsgefahr (»contagion«) und enge Kopplung44 – entstanden sind, die vorher und in den Komponenten des Systems nicht vorhanden waren. Auf der anderen Seite ist es der WTO eher noch nicht gelungen, das Welthandelssystem gegenüber den Partialinteressen der Mitgliedsstaaten zu einer eigenen Systemqualität mit emergenten Eigenschaften zu entwickeln. Ein Grund dafür könnte die verstärkte und ungesteuerte Konkurrenz durch weltregionale Freihandelszonen sein, welche die Funktion der WTO teilweise in Frage stellen.45 44 | Im Sinne von Karl Weick, »Educational Organizations as Loosely Coupled Systems«, in: Administrative Science Quarterly 2 (1976), S. 1–19. Karl Weick, J. D. Orton, »Loosely coupled systems: A reconceptualization«, in: Academy of Management Review 15 (1990), S. 203–223. 45 | Jagdish Bhagwati, »Reshaping the WTO«, in: Far Eastern Economic Review 168 (2005), S. 25–30. Carolyn Deere-Birkbeck, »Reinvigorating Debate on WTO Reform: the Contours of a Functional and Normative Approach to Analyzing the WTO System«, in: University College Oxford. Global Economic Governance Pro-

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Es ist primär die spezifische Verknüpfung der Elemente, ihr spezifisches Zusammenspiel und die darin implizierten wechselseitigen Bindungen, welche die Identität des neuen Systems ausmachen. Die spezifische informationelle Verknüpfung ist das zusätzliche einschränkende Moment, welches den Elementen einen Systemzusammenhang aufzwingt und sie nach den Regeln46 des Systems (den Bedingungen der Möglichkeit des Systems) ausrichtet. Das Ganze ist weniger als die Summe seiner Elemente, weil die Elemente im Interesse der Reproduzierbarkeit des Systems in spezifischer Weise eingeschränkt und gekoppelt werden. Die systemischen Kopplungen der Elemente erzeugen die neuen Eigenschaften des Systems, und darin ist das System mehr als die Summe seiner Elemente.47 Die emergenten Eigenschaften lassen sich nicht aus den Eigenschaften der Elemente erklären. Denn die neuen Eigenschaften entstehen nicht aus den Elementen selbst, sondern aus einem spezifischen Zusammenspiel der Elemente, das sich nach einer bestimmten informationellen Codierung als den Regie-Anweisungen des Systems richtet. Die emergenten Eigenschaften des Systems stecken demnach nicht in den Elementen, sondern in den systemspezifischen Mustern der Vernetzung von Elementen. Ein vertieftes Verständnis von Emergenz ist unabdingbar, um systemische Risiken zu verstehen und einordnen zu können. Eine auf individuelle Elemente eines Zusammenhanges begrenzte Sicht hat durchaus ihre Stärken und ist keineswegs wertlos, aber sie hat keine Möglichkeit, die übergreifende Systemqualität, Systemdynamik und Systemrationalität gramme. Working Paper 50 (2009). Verfügbar unter: www.globaleconomicgover​ nance.org/publications/working-papers, letzter Zugriff 24.10.2016. 46 | »Systeme sind nicht einfach Relationen (im Plural!) zwischen Elementen. Das Verhältnis der Relationen zueinander muß irgendwie geregelt sein. Diese Regelung benutzt die Grundform der Konditionierung.« Luhmann, Soziale Systeme, S. 44. 47 | Dies gilt empirisch gerade auch für das menschliche Gehirn: »Dies ist damit zu erklären, dass die entwicklungsmäßige Zuordnung von neuralen Funktionen zu verschiedenen Gehirnregionen in vielerlei Hinsicht systematisch festgelegt ist. In einem sehr konkreten Sinne nimmt das Gehirn als Ganzes an der Gestaltung seiner Teile selbst teil. Der Wichtigkeit der aus dieser ungewöhnlichen Entwicklungslogik resultierenden Implikationen wird man sich bei der Erforschung der Evolution des Gehirns erst langsam gewahr.« Terrence Deacon, The Symbolic Species. The CoEvolution of Language and the Human Brain, London 1997, S. 194.

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auch nur zu erahnen. Ein folgenreiches und überaus kostspieliges Beispiel dafür ist die sich über einen Zeitraum von gut 25 Jahren hinziehende Entwicklung zur globalen Finanzkrise im Jahre 2008. Es gab in Universitäten und Stiftungen, in Finanzfirmen und Banken, in Weltbank und IMF, in nationalen Politiksystemen und Regulierungsinstitutionen mehr als genug Experten und Expertinnen und Expertise hinsichtlich der Elemente des Finanzsystems: der einzelnen Banken, der einzelnen Transaktionen, der einzelnen Finanzinstrumente, der einzelnen Risiken. Gegenüber diesen Zehntausenden von Experten und Expertinnen gab es tatsächlich nur einzelne einsame Figuren, die in systemischen Zusammenhängen dachten und eine Kategorie wie systemische Risiken überhaupt zu denken und zu artikulieren wagten.48 Nachdem überdeutlich wurde, dass die Krise nicht aus den Merkmalen der einzelnen Elemente resultierte, sondern aus bislang übersehenen emergenten Eigenschaften des neuen Systemzusammenhanges globales Finanzsystem, führte plötzlich alle Welt die Kategorie der systemischen Risiken im Munde – häufig genug nur als Schlagwort und ohne jedes systemtheoretische Verständnis oder gar theoretische Vertiefung. Für Politik und Regulatoren bestand und besteht noch die Herausforderung darin, sich für die Regulierung des globalen Finanzsystems nicht nur um die relativ einfachen Elemente zu kümmern, sondern sich der ungleich schwierigeren emergenten Eigenschaften eines außer Kontrolle geratenen Systems anzunehmen.49 Die wichtigsten neuen Eigenschaften des globalen Finanzsystems sind Vernetzung, enge Kopplung (statt loser Kopplung), Ansteckung (»contagion«) durch Interdependenz, kumulative Risikokaskaden, die Massivität des Schattenbankensystems, eine neue Zeitdynamik (etwa durch »flash trade«) und globale Konzentration der Finanzfirmen zu Konstellationen des »too big to fail«. Nehmen wir nur ein Detail der Krise heraus: 2007/2008 kamen sechs Millionen amerikanische Familien in finanzielle Schwierigkeiten, weil sie die sprunghaft gestiegenen Zinszahlungen für ihre Häuser nicht mehr leisten konnten, und vier Millionen verloren ihr Haus durch Zwangsver48 | Ausführlich dazu Willke u. a., Systemic Risk, S. 18–46. 49 | Dazu mit Vorschlägen auf der Basis des Dodd-Frank-Act: Gabriel Rosenberg, Jai Massari, »The Perils of a Middle Road to Regulating Systemic Risk: The Volcker Rule’s Risk Backstop Provisions«, in: The Georgetown Law Journal 104 (2015), S. 145–158.

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steigerungen (»foreclosures«).50 Ist dies eine Beeinträchtigung von Freiheitsgraden dieser Familien oder das normale Operieren/Fluktuieren des Immobilienmarktes? Wenn es im Effekt als strukturelle Gewalt und insofern als Zwang und Beeinträchtigung von Freiheitsräumen gewertet wird, dann bleibt die Antwort auf die Frage offen, wer oder was für diese Beeinträchtigung verantwortlich zu machen ist. Wieder erweist sich, dass in komplexen Konstellationen wie etwa einer Immobilienblase, die viele Ursachenzusammenhänge und vielschichtige Verantwortungsdimensionen aufweist,51 eine klare Unterscheidung von Eigenverschulden versus systemisch bedingter Beeinträchtigung von Freiheitsgraden nur schwer möglich erscheint. Einzelnen Akteuren, Organisationen oder Institutionen die Verletzung individueller Freiheitsräume vorzuwerfen, erscheint willkürlich, wenn es das systemische Zusammenspiel aller dieser Akteure, Organisationen und Institutionen ist, welches erst eine Immobilienblase hat entstehen lassen. Systemische Risiken als Ursachen umfassender Beeinträchtigungen möglicher Freiheit sind nicht auf das globale Finanzsystem beschränkt. Jedes Funktionssystem einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft trägt das Potential systemischer Risiken in sich, weil es in seiner Operationslogik grenzenlos und ohne eingebaute Bremsen operiert. Nur von anderen Funktionssystemen kann eine Begrenzung ausgeübt werden, weil die wechselseitigen Abhängigkeiten der Funktionssysteme im Kontext einer gemeinsamen Gesellschaft eine Rücksichtnahme durch Selbstbegrenzung nahelegt.52 Für demokratische Nationalstaaten kommt hinzu, dass das politische System gemäß seiner Kompetenzkompetenz dazu legitimiert ist, allen anderen Funktionssystemen solche Grenzen zu 50 | Mark Zandi, Financial Shock. A 360 Degree Look at the Subprime Mortgage Implosion, and how to Avoid the Next Financial Crisis, Upper Saddle River, New Jersey 2008, S. 44. 51 | Bruce Carruthers, »Knowledge and Liquidity: Institutional and Cognitive Foundations of the Subprime Crisis«, in: Michael Lounsbury, Paul Hirsch (Hg.), Markets on Trial: The Economic Sociology of the U. S. Financial Crisis, Bingley, UK 2010, S. 155–180. Robert Shiller, The Subprime Solution. How Today’s Global Financial Crisis Happened, and What to Do about It, Princeton, Oxford 2008. 52 | »Die Kontrolle der Kontrolle liegt jetzt für jedes Teilsystem in der Zugehörigkeit zu einem Kommunikationszusammenhang.« Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München, Wien 1981, S. 48 f.

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setzen, die sich mit Notwendigkeiten des Gemeinwohls begründen lassen. Auf transnationaler oder globaler Ebene fehlt nun genau diese Instanz, die mit Kompetenzkompetenz ausgestattet wäre, und so sind die globalen Funktionssysteme – laterale Weltsysteme53 wie das Finanzsystem, das Weltwirtschaftssystem, Weltgesundheitssystem, Weltsportsystem, das globale Wissenschaftssystem, das globale System der Entwicklungspolitik etc. – auf ihre eigenen Mechanismen der Selbststeuerung und Selbstbegrenzung angewiesen. Wenn nun schon auf nationalstaatlicher Ebene häufig genug die Politik aus den unterschiedlichsten Gründen ihre Steuerungskompetenz nicht nutzt und so ermöglicht, dass die Funktionssysteme über die Stränge schlagen und systemische Risiken produzieren, dann sollte wenig überraschen, dass laterale Weltsysteme nahezu ungebremst in die Fallen systemischer Risiken hineinschliddern. Seit der globalen Finanzkrise hat sich die Vermutung, dass die ungebremste Eigendynamik der lateralen Weltsysteme zu systemischen Risiken führt, zu einer überwältigenden empirischen Evidenz verdichtet. Gerade drängendste politische Probleme wie Ungleichheit der Vermögensverteilung, Gleichbehandlung von Frauen, Umweltzerstörung, Klimawandel, Drogenkriminalität, Energiewende, Armut, Finanzkrise, Terrorismus, öffentliche Verschuldung etc. widerstehen nachhaltig den verschiedensten Ansätzen und Versuchen der nationalstaatlichen Steuerung und befördern Fehlentwicklungen, die zur Herausbildung systemischer Risiken führen. Warum ist das so? Bei der Beantwortung dieser Frage unterscheiden sich die Geister und die Theorien. Herkömmliche Handlungs- und Akteurtheorien kleben gewissermaßen mit der Nase an den konkreten Ereignissen. Sie können zwar die Beweggründe einzelner Akteure und ihre Handlungskonstellationen beschreiben, aber sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Damit sind sie nicht wertlos, aber wenn man am Wald interessiert ist, das heißt, an den Zusammenhängen und Systemlogiken, welche erst bestimmte Handlungen hervorbringen, dann ist ein anderer Ansatz unabdingbar. Es ist ein Ansatz erforderlich, der in der Lage ist, die gesamtheitliche Systemlogik und die übergreifende, die einzelnen Komponenten und Elemente in ihrem Zusammenspiel ernst nehmende Operationsform eines komplexen dynamischen Systems zu analysieren und plausibel zu beschreiben. Ein systemtheoretischer Ansatz ist dazu sicherlich besser geeignet als jede handlungstheoretische Konzeption. 53 | Siehe Willke, Atopia, Kap. 3.3.

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Wenn für Parlamente und Regierungen ein adäquater Freiheitsbegriff meint, dass sie Handlungs- und Entscheidungsspielräume haben und nutzen können, und nicht von externen Akteuren, Interessen und Dynamiken zu bestimmten Entscheidungen gezwungen werden, dann ist eine Konzeption von Freiheit wertlos, die diesen systemübergreifenden Dynamiken nicht auf die Spur kommt und sie nicht als Bedrohungen von Freiheit ernst nimmt. In einer komplexen, hochgradig interdependenten Welt führen diese übergreifenden Dynamiken zu Konstellationen, die gleichzeitig Optionenräume eröffnen und andere verschließen, gleichzeitig in bestimmten Hinsichten Freiheiten stärken und in anderen Feldern Freiheiten einschränken. Genau deshalb treffen klassische, individualistische Freiheitstheorien den Kern der gegenwärtigen Problematik von Freiheit nicht mehr. Großbeispiel ist die politische Konstruktion der EU als supranationales Gebilde, welches den Demokratien der Mitgliedsländer bestimmte Kompetenzen/Optionen/Freiheitsräume nehmen, um insgesamt den Grad möglicher Freiheit in einer kompetitiven Welt zu erhöhen.

2.3 D as P roblem misslingender politischer S teuerung Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Prämisse, dass die politische Steuerungsform der Demokratie jene umfassende Selbstbestimmung der Person erlaubt, die Grundbedingung jeder substantiellen Form von Freiheit ist. Damit ist zugleich gesagt, dass Beeinträchtigungen der Demokratie sich unmittelbar als Beeinträchtigungen möglicher Freiheit auswirken können. Dies ist offensichtlich in Fällen der gewaltsamen Einschränkung demokratischer Rechte wie etwa im Fall vermeintlicher Demokratien wie Ungarn oder die Türkei im Jahre 2018 (um von autokratischen Systemen wie Russland oder Ägypten erst gar nicht zu sprechen), die damit auch grundlegende Komponenten von Freiheit wie Presse- und Meinungsfreiheit außer Kraft setzen.54 Weit weniger offensichtlich sind Gefährdungen der Freiheit, die von politischen Systemen ausgehen, die im formalen Sinne zwar Demokratien sind, gleichzeitig aber Defizite ihrer Steuerungs- und Regulierungskompetenz aufweisen, welche an54 | Siehe als empirische Analyse dazu Simeon Djankov, Owen Hauck, »The Divergent Postcommunist Paths to Democracy and Economic Freedom«, in: Peterson Institute for International Economics. Working Paper 10 (2016).

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gesichts neuer Herausforderungen und globaler Gefährdungslagen zu großflächigen Beeinträchtigungen individueller Freiheitsräume führen. Das massivste Beispiel dafür ist wohl der Klimawandel, der als globale Herausforderung gerade auch die entwickelten Demokratien nach wie vor in ihrer Steuerungsfähigkeit überfordert, und daher für Millionen von Bürgern großflächige Gefährdungslagen schafft, die allerdings indirekt und subkutan wirksam werden, oft nicht direkt beobachtet und gespürt werden können und daher gerade in Demokratien nur schwer thematisierbar sind.55 Allmählich bildet sich deutlicher ein Konnex zwischen Klimawandel, Dürrekatastrophen, Bürgerkriegen, Migrationsbewegungen, Überlastung der Aufnahmeländer und autoritären Reaktionen darauf heraus.56 Hier sind Freiheiten der unterschiedlichsten Art von verschiedensten Personen/Gruppen/Gesellschaften betroffen, so dass es unmöglich erscheint, die negativen Wirkungen des Klimawandels auf die Freiheit in irgendeiner plausiblen Weise zurechenbar zu beschreiben. Da die Effekte aber existieren und beobachtbar sind, kommt es darauf an, politische Steuerungskompetenzen und die dafür erforderliche Expertise zu entwickeln, um ganz generell das Problem des Klimawandels besser zu managen, wenn man Freiheitsräume schützen will. In freiheitstheoretischer Sicht ist das Steuerungsproblem brisant, weil die Kunst der Systemsteuerung sich in einem erbärmlichen Zustand befindet, damit Freiheitschancen und -optionen nicht genutzt oder negiert werden, und weil zugleich die Dringlichkeit praktischer Steuerungsprobleme wächst. Substantielle Beeinträchtigungen demokratischer Steuerungs- und Entscheidungsfähigkeiten schlagen aufgrund des engen Zusammenhangs von Demokratie und Freiheit direkt auf die Konstellationen realer Freiheitsräume durch. Ob Familiensysteme, Organisationen oder Gesellschaften, ob Kommunen, gesellschaftliche Funktionssysteme oder globale Kontexte – auf jeder nur denkbaren Ebene nehmen die Steuerungsprobleme zu, und die Steuerungskapazitäten können nicht Schritt halten. Jüngste Krisen wie die globale Finanzkrise, die Euro-Krise, das Chaos des Bürgerkrieges in Syrien, die Migrationskrise oder die der »Arabischen Revolution« folgenden Krisen der nordafrikanischen Länder zeigen auf internationaler Ebene, wie schwierig die Steuerung komplexer 55 | Dazu Stehr, Freiheit, S. 215–227. 56 | Paul Becker, Christiane Fröhlich, »Klimawandel und Migration am Beispiel Dürren«, in: Deutsches Klima Konsortium. DKK Hintergrund (2016).

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Probleme ist, und wie schnell und nachhaltig die Steuerungsdefizite den Entscheidungsfreiraum der Demokratie beeinträchtigen. Solange Analyse und Krisenmanagement nur auf die Elemente und Einzelteile starren und die Dynamik systemischer Zusammenhänge dabei außer Acht lassen, ist eine Verbesserung politischer Steuerung und Regulierung kaum zu erwarten.57 Ob die Effekte eines ungesteuerten Klimawandels als Verletzungen von Freiheitsräumen zu werten sind, hängt demnach von Faktoren ab, die bislang im demokratietheoretischen Diskurs über Freiheit keine Rolle gespielt haben. In Frage stehen Steuerungskompetenz und Steuerungsleistung demokratischer politischer Systeme, gemessen daran, wie die Demokratien mit langfristigen globalen Szenarien der Zerstörung von Lebensräumen und Lebensoptionen umgehen. So wie ein unkontrollierter Luft- oder Straßenverkehr Leib und Leben und mithin Freiheitsrechte von Bürgern bedroht und daher staatliche Steuerung im Interesse der Freiheitssicherung verlangt, so müsste im Fall des Klimawandels eine vorausschauende Krisenpolitik sich wahrscheinlichen Bedrohungen von Freiheitsrechten entgegenstemmen, wenn Freiheitssicherung als staatliche Aufgabe ernst genommen wäre. Hinter dieser Ausdehnung des Anspruchsniveaus steht eine historische Verschiebung der Funktionen von Politik. Am Anfang moderner Politik steht mit Hobbes die Organisation/ Steuerung von Macht, die inneren Frieden und Rechtssicherheit gewährleistet und die für Max Weber das staatliche Monopol legitimer Macht57 | In einer global digitalisierten Moderne wird das Steuerungsproblem brisanter: »Innerhalb weniger Jahre hat die rasante Vernetzung der Welt die Komplexität unserer Gesellschaft explosionsartig erhöht. Dies ermöglicht zwar jetzt, auf Grund von ›Big Data‹ bessere Entscheidungen zu treffen, aber das althergebrachte Prinzip der Kontrolle von oben funktioniert immer weniger. Verteilte Steuerungsansätze werden immer wichtiger. Nur mittels kollektiver Intelligenz lassen sich noch angemessene Problemlösungen finden.« Dirk Helbig u. a., »Digitale Demokratie statt Datendiktatur«, in: Spektrum der Wissenschaft. Sonderausgabe. 20. Berliner Kolloquium 11. Mai 2016. Der Datenmensch. Über Freiheit und Selbstbestimmung in der digitalen Welt, S. 9. Daniel Kahnemann, Thinking, Fast and Slow, London 2012, S. 241: »Es wäre falsch, irgendwem vorzuwerfen, in einer unvorhersehbaren Welt inakkurate Vorhersagen zu machen. Es scheint jedoch sehr wohl angebracht, Experten vorzuwerfen, dass sie glauben, sie könnten bei einem solch unmöglichen Unterfangen Erfolg haben.«

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ausübung bedeutet. Auf dieser ersten Ebene schafft die Politik für die Gesellschaft eine Ordnung, die den Kampf aller gegen alle verhindert und kollektiv verbindliche Entscheidungen erzeugt. Auf dieser Ebene ist es denkbar (und wird dann Praxis), dass in anderen Bereichen der Gesellschaft nicht Ordnung im Sinne von Einheit zwingend ist, sondern Ordnung durch Heterogenität möglich wird  – so vor allem im Bereich der Religion dadurch, dass im gesellschaftlichen Kontext der Modernen Religion als Privatsache freigegeben und die Trennung von Staat und Kirche erreicht ist; oder dadurch, dass Chaos als Organisationsprinzip der Familienbildung zugelassen wird, indem die Partnerwahl nicht mehr durch Schicht, Stand etc. vorgegeben ist, sondern dem freien Lauf der »Liebe als Passion«58 folgen darf. Im 19. Jahrhundert kommt als zusätzliche Aufgabe die Organisation/ Steuerung von Wohlfahrt hinzu, die im Kern bedeutet, die Folgen systemischer Armut durch Sozialgesetzgebung und Pflichtversicherungssysteme zu regulieren. Ende des 20.  Jahrhunderts drängt sich mit den ersten Schritten in die Wissensgesellschaft eine dritte gesellschaftliche Funktion der Politik in den Vordergrund, nämlich die Organisation von Expertise und die Steuerung der systemischen Folgen von Nichtwissen.59 Bemerkenswert ist, dass über alle Veränderungen hinweg die Grundfunktion der Politik erhalten bleibt – der Schutz von Leib und Leben der Bürger. Leib und Leben sind zunächst vor allem durch illegitime Macht und Gewalt bedroht, dann aber zunehmend durch systemische Armut, und heute und in Zukunft wohl primär durch globale Dynamiken wie etwa Klimawandel oder Ressourcenerschöpfung, deren Regulierung und Steuerung von hochrangiger Expertise abhängen. Während die ursprüngliche »Hobbessche« Funktion der Politik  – Kontrolle von Gewalt – einen unmittelbaren Bezug zu Freiheit aufweist, 58 | Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982. 59 | Damit ändert sich auch die Struktur politischer Steuerung von Hierarchie zu Netzwerk: »Von hierarchisch organisierten, zentralstaatsgleichen Regierungssystemen, die mittels Recht, Gesetz und Ordnung regieren, zu zunehmend horizontal und verhältnismäßig fragmentierten Regierungssystemen, die mittels der Steuerung sich selbst steuernder Netzwerke regieren.« Eva Sørensen, »Democratic Theory and Network Governance«, in: Administrative Theory & Praxis 24 (2002), S. 693–720, hier S. 693.

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weil Zwang und illegitime Gewalt nun einmal direkt Freiheit verletzen, liegen die Dinge bei den weiteren Funktionen von Politik komplizierter. Dass Armut Freiheit einschnürt, wenn sie zu gesundheits- oder gar lebensbedrohlichen Folgen führt, erscheint noch gut begründbar, weil die Verbindungen zu Entscheidungs- und Handlungsfreiheit als wesentliche Komponenten individueller Freiheit klar ersichtlich sind. Aber bereits hier beginnen Fragen danach, wie weit die verwendeten Begriffe von Armut und Freiheitsbedrohung gehen sollen, wie individuelle und kollektive (systemische) Verursachungen von Armut auseinander zu halten und zu bewerten sind, und welche konkreten Kontroll- und Regulierungspflichten für die Politik daraus erwachsen sollen oder dürfen. Weitgehend unbearbeitetes Terrain betreten wir mit der dritten Funktion von Politik, der Steuerung von Expertise und Nichtwissen. Das Leitproblem politischer Ordnungsbildung am Ende der Epoche der Industriegesellschaft und im Übergang zur Wissensgesellschaft ist weder Ohnmacht noch Armut, sondern eine neue Qualität und Massivität von Informationsüberlastung und Ignoranz. Zu den Problemen einer ungleichen Verteilung von Macht, einer ungleichen Verteilung von Eigentum und einer ungleichen Verteilung von Wissen gesellt sich nun als weitere mögliche Bedrohung von Freiheit das Problem einer ungleichen Verteilung von Kompetenzen im Umgang mit Intransparenz und Nichtwissen. Ich lege hier einen Wissensbegriff zugrunde, der sich aus der Unterscheidung von Daten, Informationen und Wissen erklärt. Wissen ist unabdingbar an einen Praxiszusammenhang und damit an Erfahrung gebunden. Wissensgenerierung wie vor allem auch die Vermittlung von Wissen brauchen daher eine kostbare und kostspielige Ressource: Zeit. Jede Praxis ist an Zeit gebunden, und jeder Wissensauf bau benötigt Zeit  – wie die verschiedenen Formen der »Lehrzeiten« deutlich machen.60 Wissen erzeugt Handlungskompetenzen, die durch Praxis und eigene Erfahrung gewonnen werden. Dies bedeutet in unserem Zusammenhang, dass in modernen Gesellschaften durch Differenzierung, Spezialisierung und Professionalisierung sehr unterschiedliche Praxeologien entstehen, die sehr differenziertes Wissen erzeugen. Niemand kann das gesamte Wissen mehr überblicken. Selbst Spezialisten sind außerhalb ihres Fachgebietes in Tausenden von anderen Wissensfeldern Laien. Erst dieser Zusammen60 | Ausführlich dazu Helmut Willke, Einführung in das systemische Wissensmanagement, Heidelberg 2011.

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hang macht deutlich, dass nicht Wissen das dramatischste Merkmal hyperkomplexer Gesellschaften ist, sondern Nichtwissen. Dass Nichtwissen töten kann ist bekannt. Dass Nichtwissen über Krankheiten, Infektionswege, Hygiene, Qualitäten von Essen und Trinken, Verschmutzung von Luft, Wasser, Boden oder Wohnräumen, über Risiken von Arbeitsbedingungen und eine Fülle weiterer Faktoren Millionen von vermeidbaren Todesfällen erzeugen, hat die WHO 2016 in einem umfassenden Bericht dokumentiert.61 Die Bedrohungen von Leib und Leben durch (vermeidbares) Nichtwissen liegen offen zutage. Problematisch aber ist, wie und in welcher Form daraus Verpflichtungen für die Politik abzuleiten wären. Dass demokratische Politik hier längst Steuerungsaufgaben übernommen hat, zeigen großformatige Aufklärungskampagnen über die tödlichen Gefahren des Rauchens, des übermäßigen Alkoholkonsums oder von HIV-Infektionen (in den USA inzwischen auch Kampagnen gegen zu viele Kalorien, zu viel Zucker, zu viel Salz etc.). Diese Kampagnen sind flankiert von einer Reihe gesetzlicher Gebote und Verbote, die zunächst einmal Freiheitsräume begrenzen, indirekt aber als Strategien für den Schutz von Leib und Leben Freiheitsräume erhalten. Die Wirkung von Expertise ist in diesen Fällen einseitig gerichtet. Es gibt ein offizielles anerkanntes Wissen – etwa über die tödlichen Folgen des Rauchens oder die Relevanz von Übergewicht für Kreislauferkrankungen –, welches die Politik als Vertreterin des Gemeinwohls gegenüber denjenigen verordnet, die mit Nichtwissen geschlagen sind oder trotz eigenen Wissens die Risiken eingehen. Im Interesse des Schutzes von Freiheiten der Allgemeinheit der Vernünftigen werden Freiheitsräume der Nichtwissenden oder Unvernünftigen beschränkt. Diese Form der Ausübung der dritten Funktion der Politik ist fraglos etabliert und trifft nur noch auf fundamental-libertären Widerstand, welcher ganz undifferenziert und generell politische Steuerung ablehnt. Es sind Fälle, in denen die Politik in der Lage und willens ist, aufgrund einer anerkannten Expertise eine wissensbasierte Steuerung zu übernehmen und im Interesse der Allgemeinheit die Freiheitsräume der Nichtwissenden zu beschränken zugunsten einer Ausweitung der Freiheitsräume der Mehrheit der Vernünftigen. Damit kommt eine generelle Eigenschaft suprastruktureller 61 | Annettte Prüss-Ustün u. a. Preventing Disease through Healthy Environments: a Global Assessment of the Burden of Disease from Environmental Risks. WHO-report 2016. WHO Geneva. 2016.

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Momente der Freiheitsarchitektur in den Blick. Da es sich um kollektive Wirkungen auf transpersonale Freiheitsaspekte handelt, können die Wirkungen für unterschiedliche Personen/Personengruppen unterschiedlich ausfallen, und im Zweifel sogar  – wie die angeführten Beispiele zeigen – einer Gruppe Freiheitsräume auf Kosten einer anderen Gruppe einräumen. Damit sind offensichtlich schwierige Abwägungsfragen verbunden, die allerdings dort lösbar erscheinen, wo anerkannte Expertise eine klare Richtung der Steuerung und der Risikokontrolle aufzeigt. In Turbulenzen geraten Politik und Freiheit dort, wo die politischen Systeme der Demokratien – aus welchen Gründen auch immer – darin versagen, gegenüber bekannten Großrisiken, die aus globalen Dynamiken resultieren, eine adäquate Steuerungskompetenz zu entwickeln und wahrzunehmen. Katastrophische Entwicklungen wie die globale Finanzkrise, der Klimawandel, aber auch globale Migration, globaler Terror oder globales organisiertes Verbrechen müssen in aller Klarheit als Fälle eines eklatanten Politikversagens bezeichnet werden. Dies hat inzwischen zu einer nicht mehr zu übersehenden Krise der Demokratie62 geführt, die mit einem verbreiteten Populismus oder einem Donald Trump als Präsidenten der USA in ein durchaus bedrohliches Stadium eingetreten ist. Eine Krise der Demokratie bringt zwingend eine Krise der Freiheit mit sich, weil Freiheit nur im Rahmen einer funktionierenden Demokratie hinreichend abgesichert ist. Dies ist leicht zu sehen, wenn autoritäre Regierungen demokratische Prinzipien verletzen und damit – wie viele Beispiele zeigen – Freiheiten einschränken. Schwerer zu diagnostizieren sind dagegen solche Einschränkungen von Freiheiten, die nicht aus expliziten Verletzungen demokratischer Regeln folgen, sondern aus Unfähigkeit, Nichtwissen, Überforderung und unbrauchbaren Steuerungsmodellen der Parlamente und Regierungen. Wenn die politischen Systeme der Demokratien drängende Probleme erst gar nicht wahrnehmen, sie als globale Probleme auf transnationale Institutionen verlagern oder sie dilatorisch auf nächste Generationen abschieben,63 dann handelt es sich 62 | Willke, Konfusion. Helmut Willke, Dezentrierte Demokratie, Frankfurt a. M. 2016. 63 | Dies gilt besonders für Politiken der hohen Staatsverschuldung, wenn eine Regierung oder ein Parlament Verpflichtungen eingeht, die spätere Regierungen, Parlamente und vor allem Generationen binden und so das demokratische Prinzip einer Herrschaft (nur) auf Zeit durchbrechen.

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um indirekte und zeitlich verzögerte Beeinträchtigungen von Freiheitsmomenten, die in der Regel erst dann manifest werden, wenn eine problematische Entwicklung sich zur Krise verdichtet. Die Politik rettet sich in den Ausbau eines Wohlfahrtsstaates, der immer mehr Details der Lebensführung der Bürger in immer anspruchsvollerer Einzelfallgerechtigkeit zu steuern beansprucht und damit genau das Gegenteil erreicht  – eine Konfusion formaler Hypertrophie des Rechtssystems und materieller Inkompetenz der Politik. Faktisch steigen die Funktionssysteme aus dieser Form politischer Einheitsbildung in einem schleichenden Prozess zivilen Ungehorsams aus. Sie lassen es auf »Implementationsprobleme« und »Umsetzungsschwierigkeiten« ankommen und beobachten mit zunehmendem Selbstbewusstsein, wie die Waffen der Politik stumpf werden und eine zu einfach gebaute Normenarchitektur von Konditional- und Zweckprogrammen an höherer Komplexität scheitert. Die Funktionssysteme, die frühzeitig zum Operieren mit höheren Komplexitäten verurteilt waren, nutzen die Gunst der Stunde mit einer geschickten Doppelstrategie. Sie entziehen sich nachdrücklicher dem Zugriff der Politik, indem sie eigene Steuerungskompetenzen aufbauen, und sie dienen sich in Konzertierten Aktionen und anderen Verhandlungssystemen der Politik als Partner in der Gestaltung politischer Steuerung an. Sie legen damit offen, wie grundsätzlich die Politik ihre Fähigkeit souveräner Gestaltung gesellschaftlicher Einheit verloren hat. Die Probleme der Politik sind nicht prinzipiell und nicht unheilbar. Zweifellos ist eine Steuerung auch hochkomplexer Systeme möglich, wenn entsprechend komplexe Steuerungsmodelle und -architekturen zur Verfügung stehen und eingesetzt werden. Den weitaus größten Teil ihrer Steuerungsprobleme haben die politischen Systeme moderner Wohlfahrtsstaaten selbst erzeugt, indem sie sukzessive einem doppelten Wahn der Machbarkeit und der Allzuständigkeit verfallen sind und sich so einer radikalen Selbstüberlastung und Selbstbehinderung ausgesetzt haben. Die restlichen Steuerungsprobleme haben ihre Ursache darin, dass die Politik auch nicht im Ansatz angemessene Modelle und Instrumente der Selbststeuerung nutzt, sondern sich nach wie vor der Illusion hingibt, mit gutem Willen und handwerklichem Geschick seien moderne Gesellschaften zu steuern. Diese Illusion ist inzwischen auch außerhalb der Politik folgenreich, weil die Teilsysteme, die Gefallen am Operieren mit höheren Komplexitäten gefunden haben, sich nun dem Einflussfeld der Politik entziehen müssen, wenn sie dem von ihr ausstrahlenden Syndrom

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der Selbstlähmung entfliehen wollen. Tatsächlich entfliehen sie aus dem Feld nationalstaatlich begrenzter Politik in die Welt globaler Transaktionen und bauen mit einem verzweigten Netz von Stützpunkten und Relationen ihre Unabhängigkeit von nationalen Kontexten aus. So entsteht ein Teufelskreis der Selbstentmachtung für die Politik und zugleich ein »virtuous circle« der Autonomisierung für die expansiven Funktionssysteme. Bedeutsam ist, dass die Akteure des Finanzsystems, der Wirtschaft, der Massenmedien, der Kultur, selbst des Sports und manchmal sogar der Wissenschaft die Politik dort treffen können, wo es weh tut. Transnationale Unternehmen können durch ein phantasiereiches Arrangement ihrer Gewinne, Verluste und Schulden ihre effektive Steuerlast minimieren – sie unterlaufen die Steuerhoheit der Politik. Globale Medienkonzerne beeinflussen nationale Politiken, ohne ihrerseits dem Einfluss derselben ausgesetzt zu sein – sie verändern die Regeln politischer Rechenschaftslegung. Global aktive Finanzkonglomerate und Investoren können eine nationale Währung in die Knie zwingen und können damit auch noch hohe Gewinne machen. Die Währungs- und Finanzhoheit nationaler Politik wird so der Lächerlichkeit preisgegeben. Transnational organisiertes Verbrechen kann sich oft dem Zugriff nationaler Justizsysteme entziehen und unterminiert so das Gewaltmonopol des Staates.64 Um Begriff und Konzeption von Freiheit hier adäquat ins Spiel zu bringen, ist es erforderlich, die Verantwortung der Politik für krisenhafte – und insofern freiheitsgefährdende – Entwicklungen genauer zu fassen. Schwierig daran ist, dass es sich nun nicht mehr um abgeschlossene politische Aktionen und Interventionen handelt, die in ihren Wirkungen empirisch beobachtet und auf ihre Relevanz für Freiheit überprüft werden können. So wie die Gesellschaft insgesamt ihren Zeithorizont von der Vergangenheit in die Zukunft verlagert, so müssen auch die politischen Systeme moderner Gesellschaften sich dominant mit zukünftigen Entwicklungen und Problemen befassen, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben.65 Damit wird die Arbeit an Optionen politischer Entscheidungen als Varianten möglicher Entwicklung zum grundlegenden Geschäftsmodell der Politik. Da nichts mehr endgültig feststeht, geht es in allen 64 | Susan Strange, The Retreat of the State. The Diffusion of Power in the World Economy, Cambridge 1996, S. 110–125. 65 | Dazu Luhmann, Politik der Gesellschaft, S. 144–152.

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relevanten Politikfeldern um kontingente Optionen, und damit wächst der Politik eine neue Steuerungsaufgabe zu: die Steuerung kontingenter Optionen. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive zeigt die neue Aufgabenstellung für die Politik noch deutlicher. Ohne Ausnahme begnügen sich die Funktionssysteme einer differenzierten Gesellschaft nicht mehr mit einer Operationsweise, die in der Gegenwart die jeweiligen Probleme und Erfolge der Vergangenheit bearbeitet. Vielmehr wird für alle Funktionssysteme die Zukunft bedeutsamer, und mit Blick auf mögliche Zukünfte produzieren alle Teilsysteme moderner Gesellschaften ein Übermaß an kontingenten Optionen. Unterschiedliche Optionen können für andere Funktionssysteme oder für die Gesellschaft insgesamt sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. Sie können vorteilhaft sein, neutral oder aber schädlich. Im letzteren Fall, wenn Optionen negative Externalitäten für andere Teilsysteme produzieren, kommt die übergreifende gesellschaftliche Verantwortung der Politik ins Spiel. Stehen für ein Funktionssystem unterschiedliche Optionen zur Auswahl, dann liegt die Aufgabe einer freiheitssichernden Politik darin, diejenigen Optionen zu ermöglichen, die als gesellschaftsverträglich erscheinen, die also möglichst geringe negative Externalitäten produzieren. Diese Aufgabe bezeichne ich als die politische Steuerung gesellschaftlicher Kontingenz.66 Da die Politik die Kompetenz hat, im Sinne einer Kontextsteuerung Rahmenbedingungen für die Funktionssysteme zu setzen, hat sie auch faktisch die Möglichkeit, bestimmte Optionen zu fördern und andere zu bremsen und für die Funktionssysteme unattraktiv zu machen.67 Allerdings darf nicht verkannt werden, dass die Einschätzung möglicher Wirkungen von Optionen sich auf ungesichertem Boden bewegt. Entscheidungen über Optionen können einerseits normativ erfolgen oder andererseits auf kognitiven Begründungen und Evidenz fußen. In einigermaßen aufgeklärten und säkularen Gesellschaften wird es eine Kombination beider Entscheidungsformen hinauslaufen, bis nach einer Übergangsphase sich evidenzbasiertes Entscheiden durchsetzen kann. 66 | Willke, Dezentrierte Demokratie, Kap. 4.1.1. 67 | Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von »strukturierten Optionen, zwischen denen nicht unter dem Gesichtspunkt von richtig und falsch, sondern nur unter dem Gesichtspunkt politischer Verantwortung gewählt werden kann.« Luhmann, Politische Theorie, S. 120.

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Nehmen wir als Beispiel eine Entscheidung über Impfzwang für Tuberkulose. Das Gesundheitssystem produziert verschiedene Optionen, die es dem politischen System zur Entscheidung stellt  – etwa (1)  kein Impfzwang, weil konventionelle Behandlungen der Krankheit ausreichen; (2)  allgemeiner Impfzwang, weil nur so viele Todesfälle vermieden werden können; oder (3) differenzierter Impfzwang etwa für Risikogruppen. Eine normative Entscheidung zwischen diesen Optionen würde abstrakte, wertbasierte Überlegungen zu möglichen Folgen für die Freiheit der Bürger zugrunde legen, während eine evidenzbasierte Entscheidung von wissenschaftlichen Beurteilungen möglicher Folgen der Optionen ausginge. Bemerkenswert ist, dass beide Arten von Entscheidungen mit erheblichen Graden an Ungewissheit belastet sind. Eine normative Entscheidung ist nur so lange plausibel, wie ein bestimmter normativer Rahmen als gegeben und legitim angesehen wird. Da alle normativen Systeme grundsätzlich kontingente Erfindungen darstellen, sind sie bestreitbar und bieten nur eine scheinbare Sicherheit. Auf der anderen Seite bieten auch Expertise und wissenschaftliche Evidenz nur vorläufig plausible Konstruktionen, die durch neue Theorien, Methoden und Empirie kontinuierlich weiterentwickelt und durch neue Konstruktionen ersetzt werden. Die Funktion der Steuerung gesellschaftlicher Kontingenzen bedeutet daher, dass die Politik sich Kompetenzen im Umgang mit Ungewissheit zulegen muss. Es geht um Ungewissheiten, die nicht aufhebbar, sondern nur bearbeitbar sind. Dies macht das Geschäft der Politik schwieriger, weil sie auf den Umgang mit prinzipieller Ungewissheit nicht eingerichtet ist, und nach wie vor lieber einem normativen Gerüst vertraut, das längst brüchig geworden ist. Mit der Explosion kontingenter Möglichkeiten können Funktionssysteme nicht mehr alle denkbaren Optionen tatsächlich realisieren. Sie müssen negieren, um ihre Kontingenzen zu steuern und ihrem eigenen Reichtum an selbst definierter Varietät Herr zu werden. Das gelingt nicht immer, wie die »Ankündigungswut« der Minister und Ministerinnen zeigt. Die Gesellschaftsgeschichte mündet in ein Steigerungsverhältnis von Komplexität und Kontingenz, das Luhmann in folgende Formel fasst: »Komplexität […] heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz hießt Risiko.«68 Am Ende muss die Politik die Risiken beurteilen, insbesondere die Risiken für die Freiheitsräume der 68 | Luhmann, Soziale Systeme, S. 47.

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Bürger, und sie muss bei den Entscheidungen selbst Risiken eingehen, weil es keine Sicherheit der Einschätzungen und Beurteilungen mehr gibt. Kontingenzmanagement fordert von der Politik demnach die Fähigkeit, den von allen Teilsystemen der Gesellschaft entfachten Ansturm von Ideen und Innovationen zu steuern und zu organisieren.69 Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, mit dem Wechselspiel von Komplexität und Kontingenz umzugehen und die daraus entstehenden Risiken operativ zu managen. Dass die politischen Systeme der entwickelten Demokratien längst an diesem Punkt angekommen sind, zeigt für die USA etwa die Entscheidung der Obama-Regierung für ein verbindliches Krankenversicherungssystem oder für die BRD die Entscheidung der Merkel-Regierung für die Energiewende. In beiden Fällen wären normative Entscheidungen zwischen kontingenten Optionen riskant, aber auch die evidenz-basierten Entscheidungen bergen erhebliche Risiken, die einen kontinuierlich nachlaufenden politischen Steuerungsprozess erforderlich machen. Die Beispiele verweisen bereits auf einen weiteren Zusammenhang der Veränderung von »Staatsaufgaben« 70 in Gesellschaften, die sich mit der Eigendynamik und Eigensinnigkeit potentiell »selbstdestruktiver«71 Funktionssysteme auseinandersetzen müssen. Die Aufgabe lässt sich beschreiben als Steuerung gesellschaftlicher Interdependenzen. Im Rahmen einer Debatte um Konzeptionen politischer Steuerung sieht Renate Mayntz zwei Aspekte dieser Aufgabe: Genauer könnte man sagen, daß das Management der gesellschaftlichen Interdependenz sowohl die negative wie die positive Koordination der verschiedenen Teilsysteme verlangt, d. h. sowohl die Verhinderung oder zumindest Begrenzung negativer Externalitäten wie die kooperative Lösung von Problemen des übergeordneten Systems.72 69 | Grundlage hierfür ist die bemerkenswerte Konzeption von Freiheit, die Richard Rorty vorlegt: »Freiheit als die Anerkennung von Kontingenz«. Richard Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989, S. 46. Rortys Kontingenzbegriff geht deutlich über bloße »Abhängigkeit von« hinaus und nähert sich dem Kontingenzbegriff Luhmanns an, der auch hier zugrunde gelegt ist. 70 | Dieter Grimm (Hg.), Staatsaufgaben, Frankfurt a. M. 1996. 71 | Luhmann, Politische Theorie, S. 139. 72 | Renate Mayntz, Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und methodologische Überlegungen, Frankfurt 1997, S. 273.

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Damit macht sie den wichtigen Schritt von der bloßen Abwehr negativer Externalitäten hin zu einer politischen Gestaltung kooperativer Beziehungen zwischen den Funktionssystemen im Interesse übergeordneter, also gesamtgesellschaftlicher Problemlösungen. Neben das Management von (negativen) Externalitäten tritt damit eine Gestaltungsfunktion von Politik, die dann auch alle Risiken einer zukunftsbezogenen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse unter Bedingungen hoher Komplexität und Intransparenz mit sich bringt. Für eine Theorie komplexer Freiheit geht es dabei darum, inwieweit Interdependenzmanagement dazu beitragen kann, das Arrangement für suprastrukturelle Komponenten individueller Freiheitsräume zu verbessern. Ein Beispiel kann das Gemeinte verdeutlichen. Das deutsche Gesundheitssystem »produziert« in seinen Krankenhäusern jedes Jahr Zehntausende von Toten durch vermeidbare Infektionen aufgrund multiresistenter Keime.73 Innerhalb des komplexen Steuerungsmodells des Gesundheitssystems, das Krankenkassen, Ärzteverbände, Pharmaunternehmen, Apotheken, Regulierungsinstanzen etc. umfasst, scheint es keine oder wenig Anreize zu geben, diese skandalöse Situation zu überwinden (wie dies z. B. sehr erfolgreich in Holland geschehen ist, indem Fachärzte für Hygiene in den Kliniken eingeführt und technische Verbesserungen des Abwassersystems installiert wurden). Die Frage ist nun, ob das politische System im Sinne eines Interdependenzmanagements eingreifen muss, um die massiven negativen Externalitäten zu begrenzen, die das Gesundheitssystem produziert. Da es im Fall um Leben oder Tod von Bürgern geht, ist sogar nach ganz klassischer Auffassung von Staatsaufgaben eine Schutzpflicht des Staates gegeben. Allerdings würde sich diese nur auf konkrete Fälle einer konkreten Gefährdung beziehen, die dann auch durch konkret Betroffene geltend gemacht werden müsste – was praktisch aus vielen Gründen so gut wie nicht passiert. Eine Konzeption komplexer Freiheit argumentiert daher anders und bezieht eine suprastrukturelle Ebene möglicher Freiheit und möglicher Freiheitsgefährdungen mit ein. Damit erst wird berücksichtigt, dass in 73 | Laut HKK-Gesundheitsreport hat sich die Zahl solcher Infektionen seit 2007 mehr als verdoppelt. Eine bundesweite Hochrechnung geht von 90.000 Fällen pro Jahr aus. Martin Exner vom Hygiene-Institut der Universität Bonn schätzt, dass 15.000 bis 30.000 der Infizierten jährlich an den Folgen sterben, siehe www.ge​ neral-anzeiger-bonn.de/lokales/region/15-nbsp-000-tote-durch-krankenhaus​ keime-article38841.-html#plx1001582034, letzter Zugriff 24.10.2016.

2 Globalisierung als Begrenzung von Freiheit

bestimmten Fällen der Schutz individueller Freiheitsmomente leerläuft, weil institutionelle, organisationale oder prozedurale Voraussetzung für die Möglichkeit des Schutzes fehlen. Je undurchsichtiger und vielschichtiger die (gesellschaftliche, technologische, strukturelle) Konstellation sich darstellt, in der am Ende Freiheitsrechte bedroht sind, desto schwieriger wird es zu begründen, warum und wie suprastrukturelle Voraussetzungen für den Freiheitsschutz geschaffen werden müssen, will man am Ende individuelle Freiheit schützen. Zugleich zeigt sich an diesem Beispiel, dass viel von der generellen Steuerungskompetenz der Politik abhängt  – und im Fall suprastruktureller Momente von Freiheit vielleicht sogar alles. Denn ohne verbesserte Fähigkeiten, Modelle, Methoden und Instrumente politischer Steuerung hochkomplexer Problemlagen bleibt es bei Steuerungsphantasien und der Illusion politischer Gestaltung von Freiheitsräumen. Mit der Steuerungsfähigkeit der Politik ist es faktisch nicht weit her. Die Verdikte reichen von Unregierbarkeit 74 über »Herumirren im Dunkeln«75 bis zur Verkündung des Endes des Nationalstaates.76 Die Politik muss sich mit mächtigen Gegenspielern vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Kriminalität,77 Ökologie und Gesundheitssystem auseinandersetzen, die keine Rücksichten auf nationalstaatliche Wahlen oder Befindlichkeiten nehmen müssen und rigoros ihren eigenen Interessen folgen. Noch grundlegender wird die Fähigkeit der Politik zur Gesellschaftssteuerung dadurch in Frage gestellt, dass schlicht unklar ist, in welche Richtung gesteuert werden könnte oder sollte und welche Interventionsstrategien dafür geeignet sind. Immerhin trägt ein seit Aristoteles geführter Diskurs über das Verhältnis von Freiheit und Demokratie die Einsicht, dass Substantiierungen und Leistungssteigerungen der Demokratie der Freiheit zugutekommen. Dennoch bleibt die Schwierigkeit, dass auch in der Demokratie Freiheit nicht alleiniges politisches Ziel sein kann, sondern mit konkurrierenden 74 | Armin Schäfer, »Krisentheorien der Demokratie«, in: MPIfG Discussion Paper 10 (2008). 75 | Donella Meadows u. a., Groping in the Dark, Chichester 1982. 76 | Jean-Marie Guéhenno, The End of the Nation-State, Minneapolis, London 1995. 77 | United Nations Office on Drugs and Crime, The Transatlantic Cocaine Market, Wien 2011; Roberto Saviano, ZeroZeroZero. Wie Kokain die Welt beherrscht, München 2014.

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Zielen – etwa Gleichheit und »Brüderlichkeit« – abzustimmen und in ein optimales Verhältnis zu bringen ist. Das macht die Aufgabe der politischen Steuerung der suprastrukturellen Momente von Freiheit kompliziert. Sinnvolle Gesellschaftssteuerung setzt voraus, dass die Politik als steuernde Instanz eine adäquate Vorstellung davon hat und über die notwendige Expertise darüber verfügt, wie sie in komplexe und eigendynamische gesellschaftliche Politikfelder intervenieren muss, um bestimmte Ziele zu erreichen oder politische Programme zu realisieren.

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Möglicherweise aber spielt sich das Drama der Zukunft der Freiheit primär auf einer ganz anderen Ebene ab, als dies das konventionelle Denken annimmt. Nationale und transnationale Kontexte waren immer schon prägende Parameter möglicher Freiheit, daran hat sich noch nichts Grundlegendes geändert. Mit der flächendeckenden Relevanz digitaler globaler Netze aber ändern sich nun jedoch die Konstellationen für eine komplexe Freiheit, die in ein globales Geflecht widersprüchlicher Kräfte, Interessen, Machtfaktoren und Zwängen eingebettet ist. Wenn private Firmen wie Google, Facebook, Apple, Uber, Netflix, Microsoft, Intel, Amazon, WeChat oder Alibaba den globalen digitalen Raum beherrschen und nach ihren Geschäftszielen organisieren,1 dann wäre Freiheit im klassischen Sinne nur durch eine massive Gegenbewegung zu retten, 1 | Siehe Cathleen Berger, »Power in the Digital Age«, in: Global Policy (27.06.2016). Verfügbar unter: www.globalpolicyjournal.com/blog/27/06/2016/ power-digital-age, letzter Zugriff 13.11.2016. »Im Rahmen des demokratischen Prozesses müssen wir auf eine angemessene Regulierung von Unternehmensmacht und datengestützten Geschäftsmodellen drängen. Wir brauchen strengere und klarere Regeln für Transparenzbestimmungen, beispielsweise solche, die Unternehmen vorschreiben, die in ihren Algorithmen verwendeten Variablen öffentlich zu machen. Daneben müssen wir ein progressives Datenschutzrecht vorantreiben, das Regeln für Dateneigentum bestimmt und Grenzen für Datensammlung, -speicherung und -korrelation definiert. Versäumt man das Schaffen solcher Grenzen, werden Unternehmen wie Cloudfare und Google weiterhin unregulierte Grauzonen auskundschaften.« Helbig u. a., »Digitale Demokratie«, S. 6: »In zehn Jahren wird es schätzungsweise 150 Milliarden vernetzte Messsensoren geben, 20-mal mehr als heute Menschen auf der Erde. Dann wird sich die Daten-

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eine Gegenbewegung, die allerdings bislang nur in minimalen Ansätzen erkennbar ist.2 Denkbar aber ist, dass es hier nicht mehr um klassische Freiheiten geht, sondern um ein Zwitterwesen aus Befreiung und tolerierter Unfreiheit. Tatsächlich findet in den digitalen Netzen auch Befreiung statt, mit Open Access, Open Data und Open Government beispielsweise eine Befreiung von der Vormundschaft öffentlicher Verwaltung und hoheitlicher Politik, weit darüber hinaus aber eine Befreiung aus nationalen Borniertheiten, aus den Kontrollen von Moral, Familie und Religion, eine Befreiung aus der Enge der Schulen, Ideologien und dominanten Paradigmen.3 Die Währung, in der die neuen Freiheiten bezahlt werden, ist toleriere Unfreiheit. Als Nutzer unterwerfe ich mich den Bedingungen der Netze (häufig unter Anklicken von 100-seitigen Geschäftsbedingungen, die niemand liest). Ich willige in eine anonyme und intransparente Nutzung meiner persönlichen Daten ein, von »social media« bis zu »predictive body policying«, um Zugang zu den Netzen und ihren Leistungen zu bekommen – und die Idee der Post-Privacy macht den Vorgang schmerzlos. Dabei wird das Spektrum gespeicherter persönlicher Daten und Profile immer umfassender und schließt Aktivitätsdaten, Bewegungsdaten, Transaktionsdaten, Gesundheitsdaten, Konsumdaten und vieles mehr mit ein. Facebook sammelt nicht nur in den eigenen Mauern Daten, auch die Tochterunternehmen steuern viele Informationen bei. […] das 2012 aufgekaufte Instagram – mit zirka 500 Millionen aktiven Benutzern ein weiterer Web-Gigant – liefert ebenfalls fleißig Daten an den Mutterkonzern. Instagram räumt sich mit seinen menge alle zwölf Stunden verdoppeln. Viele Unternehmen versuchen jetzt, diese ›Big Data‹ in Big Money zu verwandeln.« 2 | Dazu gehören erste Ansätze einer Formulierung digitaler Grundrechte: Heiko Maas, Internet-Charta: Unsere digitalen Grundrechte, in: Die Zeit vom 10.12.2015, Nr. 50/2015. Und: »Wir fordern digitale Grundrechte«, Charta der digitalen Grundrechte der EU, in: Die Welt kompakt vom 1.12.2016, S. 25. 3 | Sascha Dickel, Martina Franzen, »Digitale Inklusion: Zur sozialen Öffnung des Wissenschaftssystems«, in: Zeitschrift für Soziologie 44 (2015), S. 330–347. »Die Ereignisse 2013 in Ägypten haben unsere Einschätzung bestärkt, dass Revolutionen im digitalen Zeitalter zwar einfacher zu beginnen, doch schwieriger zu beenden sind.« Eric Schmidt, Jared Cohen., The New Digital Age. Reshaping the Future of People, Nations and Business, London 2015, S. 269.

3 Digitalisierung als Entgrenzung von Freiheit

Datenschutzbestimmungen das Recht ein, ›Cookies, Protokolldateien, Gerätekennungen, Ortungsdaten und Nutzungsdaten‹ an Facebook zu übertragen. 4

In den USA geben Personen bereitwillig ihre Fitnessdaten preis, wenn sie dafür Rabatte bei der Krankenversicherung bekommen. (In Deutschland ist die Bereitschaft dazu weit geringer). Der Fahrdienst Uber bietet günstigere Taxitarife an, aber er überwacht seine Kunden umfassend auf jeder Fahrt – und ähnlich ließen sich die Kosten-Nutzen-Rechnungen für viele Angebote der Internetökonomie und der sozialen Medien aufmachen. Aus einem komplexen Freiheitsbegriff zielt diese Dimension auf die Tiefenstruktur von Freiheit: In welchem Sinn und in welchem Ausmaß unterminieren die Ströme von Mikrodaten die Freiheitsräume von Individuen? Wie gestalten sich die Kosten-Nutzen-Rechnungen der Preisgabe von Daten und Freiheitsräumen? Welche Akteurs- und Interessenkonstellationen stehen hinter dem Datenhunger der globalen Netze, und welche (Un-)Freiheitskonzeptionen scheinen dahinter auf?5 Kürzlich lud Baidu, das chinesische Äquivalent von Google, das Militär dazu ein, sich am China-Brain-Projekt zu beteiligen. Dabei lässt man so genannte Deep-Learning-Algorithmen über die Suchmaschinendaten laufen, die sie dann intelligent auswerten. Darüber hinaus ist aber offenbar auch eine Gesellschaftssteuerung geplant. Jeder chinesische Bürger soll laut aktuellen Berichten ein Punktekonto (›Citizen Score‹) bekommen, das darüber entscheiden soll, zu welchen Konditionen er einen Kredit bekommt und ob er einen bestimmten Beruf ausüben oder nach Europa reisen darf. In diese Gesinnungsüberwachung ginge zudem das Surfverhalten des Einzelnen im Internet ein – und das der sozialen Kontakte, die jemand unterhält.6 4 | Herbert Braun, Sammelleidenschaft. Wie und wo Facebook seine Daten zusammenträgt, in: c’t. magazin für computertechnik 2016, Heft 24 vom 12.11.2016, S. 76–79, hier S. 77–78. 5 | Udo di Fabio, »Regeln für die digitale Welt: »Aber das eigentliche, das neue Problem liegt nicht einmal so sehr im Überwachungsstaat. Die kulturelle Veränderung greift tiefer, hinein in die Köpfe der Menschen, die zu Nutzern und zu Geführten werden, die womöglich eines Tages als Melkkühe aufwachen, und zwar auf jener digitalen Allmende, die so idealistisch auf den Weg gebracht wurde.« Verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-staat-muss-die-grund​ rechte-in-der-digitalen-welt-sichern-14260564.html, letzter Zugriff 25.10.2016. 6 | Helbig u. a., »Digitale Demokratie«, S. 7–8.

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Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass die globale digitale Vernetzung auch neue Freiheitsdispositive eröffnet. Die klassische Figur des Weltbürgers bekommt eine infrastrukturelle Fundierung. Jedenfalls im Prinzip wachsen die Wahlmöglichkeiten und der Optionenreichtum ins Unermessliche. Die Bibliotheken der Welt stehen in digitaler Form für jeden offen, der einen Internetzugang hat  – und dieser Zugang ist zunehmend öffentlich und flächendeckend möglich. Bildungsangebote von Wikipedia bis MOOCs (Massive Open Online Courses)7 entgrenzen den Zugang zu Daten und Informationen. Unzählige Interessen- und Aktionsgruppen bieten aktive Partizipationsmöglichkeiten, wo bislang Transaktionskosten dies verhindert haben. Soziale Medien bieten nahezu grenzenlose Ausdrucks- und Meinungsäußerungsmöglichkeiten in einem globalen Maßstab.8 Die Erfindung der Druckerpresse durch Gutenberg im Jahre 1450 war die Initialzündung eines bis heute andauernden Prozesses der Entgrenzung von Texten  – und mithin der Entgrenzung des Zugangs zu vergangenen und laufenden Kommunikationen. Die Erfindung der Digitalisierung und digitaler Netze erweitert diese Entgrenzung ins global Atopische9 (Ortlose) und Simultane. Die Konsequenzen für Bedingungen der Möglichkeit und Negation von Freiheit sind schwer zu beurteilen. Wenn die Druckerpresse die Möglichkeiten für Dissens und Widerspruch explodieren ließ, weil nun nicht mehr nur die Mönche das Geschriebene vorschreiben konnten, dann läuft heute der Prozess bereits, in dem globale digitale Netze Dissens und Widerspruch ins Dystopische10 steigern. Ob sich gleichzeitig neue Freiheitsoptionen und Konfigurationen möglicher Freiheit entwickeln, ist offen. Ein für die Konzeption von Freiheit relevanter Fall ist Open Government. Grundidee von Open Government ist es, Regierung und Verwaltung offener, partizipativer, transparenter, kollaborativer und effektiver zu 7 | Ingo Blees u. a., »Whitepaper Open Educational Resources (OER)«, in: Weiterbildung/Erwachsenenbildung. Bestandsaufnahme und Potenziale. Bertelsmann Stiftung 2015, S. 55–56. 8 | Die positive Seite: »Für sehr viele Menschen bedeutet Konnektivität Freiheit, Chancen und Menschenwürde.« Schmidt, Cohen, The New Digital Age, S. 260. 9 | Willke, Atopia. 10 | Helmut Willke, Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens moderner Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002.

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machen.11 Allerdings ist dies weder in den USA gelungen, noch ist die Konzeption etwa in Deutschland weit über die Frage des Managements öffentlicher Daten hinausgekommen. Das Bundesinnenministerium hat 2012 eine Studie von 572 Seiten zu »Open Government Data Deutschland«12 erstellen lassen, und geradezu flächendeckend alle relevanten Punkte des Managements von Open Data zusammengetragen, ohne zu einer Einschätzung der Relevanz von Open Data für ein Konzept von Freiheit in der digitalen Demokratie zu gelangen. Dabei eröffnen Open Data und Open Government zunächst Möglichkeiten eines entgrenzten Zugangs zu Daten und Informationen, und damit potentiell Beteiligungsund Mitwirkungsmöglichkeiten, die den Freiheitsraum ausweiten. Wie bei jeder technischen Innovation, kann allerdings die Wirkung auch gegenteilig sein, indem Open Data den Herren der Daten ermöglicht, nur diejenigen zur Verfügung zu stellen, die ihnen genehm sind und die der Manipulierung der Bevölkerung dienlich sein können. In demokratischen politischen Systemen sind hier zumindest einige Sicherungen vorgesehen, auch wenn in dieser Hinsicht seit den SnowdenEnthüllungen und den Veröffentlichungen von Wikileaks das Vertrauen nachhaltig erschüttert ist. Gegenüber den globalen digitalen Netzen der Internet-Konzerne gab es nie einen Grund für Vertrauen, dagegen viele Gründe dafür, von einer eher hemmungslosen kommerziellen Nutzung der User-Daten auszugehen, wie der Facebook-Skandal und die Aktivitäten von »Cambridge Analytics« deutlich genug gezeigt haben.13 In den kunstvollen 11 | Barack Obama, »Memorandum for the Heads of Executive Departments and Agencies – SUBJECT: Transparency and Open Government«, in: General Services Administration: Transparency and Open Government (2009). Verfügbar unter: ht tps://www.whitehouse.gov/sites/default/files/omb/asset s/memoranda_​ fy2009/m09-12.pdf, letzter Zugriff 13.11.2016. Dazu Göttrik Wewer, Open Government, Staat und Demokratie. Aufsätze zu Transparenz, Partizipation und Kollaboration, Berlin 2014. 12 | Jens Klessmann u. a., Open Government Data Deutschland. Eine Studie zu Open Government in Deutschland im Auftrag des Bundesministerium des Innern, Berlin 2014. 13 | »Einige Softwareplattformen bewegen sich in Richtung ›Persuasive Computing‹. Mit ausgeklügelten Manipulationstechnologien werden sie uns in Zukunft zu ganzen Handlungsabläufen bringen können, sei es zur schrittweisen Abwicklung komplexer Arbeitsprozesse oder zur kostenlosen Generierung von Inhalten von

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digitalen Repräsentationen individueller Identitäten muss denn auch der Kern der Entgrenzung persönlicher Freiheit durch ein immer engeres Netz digitaler Spuren und deren Nutzung durch Big-Data-Algorithmen gesehen werden.14 Wenn über Bewegungs- und Aktivitätsdaten immer präzisere Verhaltensprofile erstellt und für Verhaltensvoraussagen und Kaufanregungen (»nudging«)15 genutzt werden können, dann engt dies Freiheitsräume ganz konkret ein, selbst wenn durch Nutzung der Netze eine implizite Zustimmung zur Datenverfolgung und zum »Monitoring« gegeben wurde. Dieses Paradox eines nahezu unmerklichen freiwilligen Verzichts auf Freiheitsmomente ist der Kern der digitalen Bedrohung von Freiheit. Unmerklich ist dieser Verzicht, weil er in kleiner inkrementaler Dosierung daherkommt, sich aber über kurz oder über lang zu einer frappierenden Durchsichtigkeit der Person auswächst.16 Geradezu perfide ausgebeutet wird der Zusammenhang von Service-Nutzung und freiwilliger Durchsichtigkeit der Nutzer von Facebook in derzeit 53 Entwicklungsländern in Afrika, Ostasien und Lateinamerika. Facebook bietet einen kostenlosen Internetservice an – Free Basics – den rund vierzig Millionen Menschen nutzen. Die Datenschutzbestimmungen von Free Basics besagen: Wir sammeln beschränkte Geräte-, Browser- und Nutzungsinformationen, wenn du Free Basics verwendest. Insbesondere sammeln wir di Art des von dir verwendeten Gerätes, bzw. Browsers und Betriebssystems, deine App-Version, App-ID und Geräte-ID, die Zeit und das Datum deiner Verbindung, deinen Mobilfunkanbieter, deine IP-Adresse, deine Telefonnummer, deine Batterie- und Signalstärke, dein Land, deine Spracheinstellung und die Dienste Dritter, nach denen du in Free Basics suchst bzw. die du dort nutzt.17 Internetplattformen, mit denen Konzerne Milliarden verdienen. Die Entwicklung verläuft also von der Programmierung von Computern zur Programmierung von Menschen.« Helbig u. a., »Digitale Demokratie«, S. 8–9. 14 | Siehe dazu grundlegend Cathy O’Neil, Weapons of Mass Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, New York, 2016. 15 | Siehe dazu ebd., S. 9 und 12. 16 | »Was sind die typischen Affordanzen des Internets? Um es so einfach wie möglich zu formulieren: Es macht es leichter, etwas an die Öffentlichkeit zu bringen, und es erschwert es, etwas für sich zu behalten.« Garton Ash, Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt, München 2016, S. 36. 17 | Braun, Sammelleidenschaft, S. 78.

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Durchsichtig werden Personen für interessierte Konzerne, Regierungen, Geheimdienste, aber auch für soziale und professionelle Netzwerke, hinsichtlich ihrer Bewegungsmuster, Präferenzen, Motivstrukturen, Konsumverhalten und weiterer Momente, die insgesamt eine indirekte, ebenfalls nahezu unmerkliche Steuerung, oder jedenfalls Beeinflussung, dieser Personen zulassen und so ihre »Souveränität in Zeiten der Globalisierung« (Höffe) einschränken. An dieser schleichenden Untergrabung von Freiheitsräumen zeigt sich, dass ein individualistisches Freiheitskonzept, wie es Höffe feiert, wenig geeignet ist, den neuen Gefährdungen der Freiheit auf die Spur zu kommen. Was sich ändert, ist nicht der Mensch als Subjekt der Freiheit, sondern die gesellschaftlichen und technologischen Kontextfaktoren, welche die Bedingungen möglicher Freiheit und der Unwahrscheinlichkeit gelingender Freiheit konstituieren. Je hintergründiger, verdeckter und auch entfernter diese Kontextfaktoren wirken, desto unbedenklicher scheint es für Personen zu sein, sich auf Tauschgeschäfte zuungunsten ihrer Freiheitsräume einzulassen. An die Stelle einer »road to serfdom«, wie Friedrich v. Hayek sie noch beschrieb,18 geht es nun um eine »road to servedom« auf welcher die Verlockungen der als unverzichtbar perzipierten Dienste (»services«) es als gerechtfertigt erscheinen lassen, dafür mit Freiheitsverzichten zu bezahlen. In dem Maße wie diese Dienste unverzichtbar, normalisiert und ubiquitär sich darstellen und erweisen, von Office-Programmen und Email über Facebook bis zu Amazon oder Flickr, wird ebenso normalisiert und ubiquitär, dass unter diesen Kautelen Freiheitsmomente verloren gehen. Unter der Bedingung freiwilliger Einschränkung scheint nur noch der Grad der Auflösung von Freiheit justierbar zu sein. In seiner Analyse der »Kultur der Digitalität« kontrastiert Felix Stadler eine postdemokratische Sicht dieser Entwicklung mit einer CommonsLogik, wie sie sich in Open-Source-Software und Projekten wie Wikipedia oder Open Data manifestiert. Postdemokratisch sind für ihn »all jene Entwicklungen – gleich wo sie stattfinden –, die zwar die Beteiligungsmöglichkeiten bewahren oder gar neue schaffen, zugleich aber Entscheidungskapazitäten auf Ebenen stärken, auf denen Mitbestimmung ausge-

18 | Friedrich von Hayek, The Road to Serfdom. The Collected Works of F. A. Hayek. Edited with a Foreword and Introduction by Bruce Caldwell, Chicago 2007 (zuerst 1944).

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schlossen ist«19. Die Commons-Logik dagegen zeige sich darin, »dass sich kommunikationsintensive und horizontale Prozesse mit den digitalen Technologien sehr viel effektiver organisieren lassen. So müssen Beteiligung und kollektive Organisation jenseits von Kleingruppen nicht mehr bloße Utopien bleiben.«20 Nach dem Scheitern unzähliger CommonsProjekte oder ihrem Rückzug in private Idyllen der Selbstversorgung ist der Optimismus von Stadler etwas verwunderlich. Auch unterschätzt er, wie schnell Organisationen und Korporationen die digitale Selbstorganisation von Teams und Gruppen nutzen, um z. B. neue Formen des Projektmanagements à la Scrum zur Effektivitätssteigerung zu praktizieren. Obwohl die Digitalisierung zweifelsohne eine neue Epoche der Gesellschaftsentwicklung einleitet, lassen sich ihre Wirkungen auf Demokratie und Freiheit nicht auf Schemata wie Postdemokratie versus CommonsLogik reduzieren. Die Gemeinschafts-Logik fristet schon lange ein Nischen-Dasein innerhalb der regulären Demokratie, und die Tragödie der Gemeinschaftsgüter ist nur ein Ausdruck davon.21 Auch sind viele Erwartungen an Bürgerbeteiligung, direkter Demokratie oder elektronischen Formen der Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen eher enttäuscht worden, so dass es überzogen erscheint, von der Digitalisierung selbst größere Verbesserungen demokratischer Prozesse zu erwarten. Vielmehr wirkt sich die Digitalisierung indirekt über den Umweg von Big Data, Informationsüberflutung und Wissensintensität der politisch zu behandelnden Probleme auf demokratische Verfahren aus. Die Folgen sind Überlastung der Parlamente, Politikversagen, Ansehensverlust der Demokratie und eine ebenfalls auf Überforderung gründende Unzufriedenheit vieler Bürger. Es sind wenig Hoffnungsschimmer erkennbar, welche gegenüber diesen problematischen Folgen der Digitalisierung ein Erfolg oder auch nur ein Lösungspotential der Gemeinschaftslogik glaubhaft machen könnten. Exemplarisch ist der Fall des Managements der Privatsphäre im Spannungsfeld zwischen Verteidigung gegen staatliche Überwachung und ihrer kommerziellen Nutzung als verwertbaren Datenpool. Der Schutz der Privatsphäre hat einen frühen Ausdruck im Postgeheimnis und später im 19 | Felix Stadler, Kultur der Digitalität, Berlin 2016, S. 209. 20 | Ebd., S. 248. 21 | Siehe Gerrett Hardin, »The Tragedy of the Commons«, in: Science 162 (1968), S. 1243–1248.

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Telekommunikationsgeheimnis gefunden, weil die private Kommunikation zwischen Bürgern den Staat nichts angeht. In einer digitalisierten Welt ist die Lage komplizierter. Zum einen nutzen auch Terrornetzwerke und organisiertes Verbrechen die digitale Infrastruktur, so dass eine staatliche Überwachung des Datenverkehrs mit den erheblichen Gefahren von Terror und Verbrechen begründbar ist.22 Paradigmatisch ist hier der Konfliktfall zwischen Apple und FBI im Frühjahr 2016 um die Entschlüsselung des iPhones eines Terrorverdächtigen. Gegenüber dem staatlichen Aufklärungsanspruch verteidigte Apple werbewirksam den individuellen Datenschutz jedes iPhone-Besitzers, obwohl ansonsten sowohl Apple wie andere digitale globale Spieler wenige Hemmungen haben, die privaten Daten der Nutzer zu verwerten und schutzlos zu lassen. So hat Apple der chinesischen Regierung die Entschlüsselung zugestanden, um den Marktzugang zu China zu erreichen. (Schließlich gelang dem FBI die Entschlüsselung ohne Hilfe von Apple, so dass der Fall nicht entschieden werden musste). Zum anderen verleiten insbesondere die sozialen Medien wie Facebook oder Twitter Millionen von Nutzern dazu, bedenkenlos Privates zu verbreiten, und sogar diese Verbreitung zu suchen, wenn es Bekanntheit, Prestige oder gar Prominenz verspricht. Ähnlich verändert durch Digitalisierung ist der Fall der Versammlungsfreiheit. Diese ist ein besonders wichtiges Verbindungsstück zwischen Demokratie und Freiheit und ein Beleg dafür, dass Demokratie Freiheit und (Versammlungs-)Freiheit Demokratie unterstützt. In einer digitalisierten Welt verlagert sich ein zunehmend gewichtiger Teil der Versammlungsfreiheit in die virtuellen Räume der Blogosphäre, der sozialen Netzwerke und der digitalen Dienste und kommerziellen Foren. Dies wirft zum einen die Frage auf, wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit in digitalen Netzen geschützt und garantiert werden können, 22 | Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ist ein Beispiel für die Fluktuationen des Schutzes der Privatsphäre je nach Bedrohungsszenario: »Zur Rechtfertigung für die anlasslose, d. h. ohne Anfangsverdacht auf konkrete Gefährdung, Speicherung personenbezogener Daten sämtlicher Bürgerinnen und Bürger dient dabei vor allem eine diffuse terroristische Bedrohung. Eine Argumentation, der sich auch die Mehrzahl der sozialdemokratischen Abgeordneten bei der Abstimmung im deutschen Bundestag 2007 anschloss.« Leonhard Dobusch, »Digitales Update für die Freiheit?«, in: Christian Krell, Tobias Moerschel (Hg.), Werte und Politik, Wiesbaden 2015, S. 61–72, hier S. 69.

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zum anderen aber die schwierigere Frage, ob und inwieweit eine staatliche Verpflichtung dafür abgeleitet werden kann, die Voraussetzungen für eine breite Nutzung der digitalen Foren durch interessierte Bürger zu schaffen  – etwa durch Investitionen in öffentliche Netzinfrastrukturen bis hin zu öffentlichen WLAN-Punkten oder Internetzugängen in öffentlichen Bibliotheken. In dem Maße, wie sich die repräsentative Demokratie in eine »digitale Demokratie« ausweitet, indem neue Formen der Vernetzung, Interaktion und Kommunikation durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) neue Möglichkeiten politischer Aktivitäten und virtuelle politische Räume schaffen, wird die Frage der Absicherung der freiheitserweiternden Momente einer digitalen Demokratie brisant. Diese Absicherung ist schwierig, weil die virtuellen Räume zugleich auch die Gefahren des Missbrauchs durch Hetze, Rassismus, Verbrechen und Terror eröffnen und damit Entscheidungen über Grenzen und Bedingungen digitaler Kommunikation erforderlich werden. Diese Frage führt zurück zum Thema des Kontingenzmanagements als neue Aufgabe der Politik. In einer Situation, in der die Funktionssysteme ein Übermaß an kontingenten Optionen produzieren, muss Politik in der Demokratie diese auf ihre Verträglichkeit für eine freiheitliche Gesellschaft prüfen und die optimale Option auswählen. Genau diese Auswahlentscheidung konstituiert für Luhmann politische Verantwortung: Unter politischer Verantwortung soll hier verstanden werden der faktische Vollzug von Selektionen im politischen System – sei es durch Entscheidung, sei es durch Nichtentscheidung. Selektion ist Festlegung des Systems auf einen Zustand, der auch anders möglich wäre, und Verantwortung ist demzufolge jeder Gebrauch oder Nichtgebrauch politischer Macht, der das System bindet, obwohl es auch anders möglich wäre. 23

Die rasante Ausbreitung digitaler Räume und die atemberaubende Geschwindigkeit technologischer Innovationen führen zu einer Überlastung politischer Entscheidungskapazitäten und offenbaren die mangelnde Steuerungsfähigkeit der Politik. Dass die Politik der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung hinterherhinkt, ist solange unschädlich, wie die Demokratie in einem kontinuierlichen, inkrementalen Lern23 | Luhmann, Politische Theorie, S. 126 (kursiv im Original).

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prozess immer wieder einen Gleichstand herstellen kann  – dies ist Lindbloms Intelligenz der Demokratie.24 Wenn die Veränderungen und Innovationen – wie im Fall eines neuen Kontradieff-Zyklus von Computerisierung und Digitalisierung – schnell, disruptiv und ubiquitär werden, dann reicht diese gemächliche Intelligenz nicht mehr aus, und die Steuerungsdefizite können sich schnell zu einem kritischen Politikversagen ausweiten. Genau dies ist faktisch selbst in den entwickelten Demokratien eingetreten, die den Ambitionen der global agierenden Kommunikations- und Internetfirmen wenig entgegenzusetzen haben. Ambivalent ist diese Entwicklung, weil sie zum einen für Individuen Freiheitsräume öffnet, die vorher undenkbar waren, weil sie zum anderen aber eine gläserne Durchsichtigkeit und Vorhersagbarkeit der Individuen für interessierte Organisationen ermöglicht. Der Verlust der Privatsphäre der gläsernen Individuen ist insofern paradox, als er überwiegend durch freiwilligen Verzicht auf einen möglichen Schutz zugelassen ist, gleichzeitig aber so versteckt erfolgt, dass die meisten Menschen davon nichts bemerken. Eine aktive Gegenwehr gegen den Verlust von Privatsphäre und die Hoheit über private Daten – z. B. durch Verzicht auf bestimmte Dienste – ist umso unwahrscheinlicher, je mehr Menschen diese Dienste nutzen und der sorglose Umgang mit privaten Daten gewissermaßen die neue Normalität wird. Eine digitale Entgrenzung der Freiheit ist zunächst wörtlich zu nehmen als Ausdehnung der Freiheit ins Globale und in die virtuellen Räume des Digitalen. Daten und Informationen werden global zugänglich und gewissermaßen vom Schreibtisch aus erreichbar; Angebote für Transaktionen aller Art kommen in digitaler Form aus aller Welt, aus allen Branchen und Disziplinen. Digital vernetzte Gruppen für alle nur denkbaren Interessen und Motive können sich ohne großen Aufwand bilden. Neue Freiheitsmomente können sich konkret dadurch ergeben, dass bedrohte Freiheiten schnell und weitreichend publik gemacht, Unterstützung mobilisiert und Solidarität organisiert werden kann.25 Ebenso kon24 | Charles Lindblom, The Intelligence of Democracy. Decision Making Through Mutual Adjustment, New York 1965. 25 | Ausführlich dazu Manuel Castells, Communication Power, Oxford 2011. Ders., »Communication, Power and Counter-power in the Network Society«, in: International Journal of Communication 1 (2007), S. 238–266, hier S. 246. »Die Verbreitung des Internets, mobiler Kommunikation, digitaler Medien und einer

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kret lassen sich unternehmerische Ideen, die vorher keinerlei Chancen auf Realisierung gehabt hätten, durch Schwarm-Finanzierung (»crowdfunding«) und andere digitale Formen der Start-up-Unterstützung realisieren. Auf der anderen Seite bedroht die Entgrenzung von Arbeit und Privatleben, von Arbeit und Lernen oder von Arbeit und Freizeit Momente persönlicher Freiheit.26 Und es drohen ebenso auch Mobilisierungen von Netzwerken und Mobs gegen die Freiheit. Wie jede Technologie hat auch Digitalisierung eine produktive und eine destruktive Seite, je nachdem wie sie eingesetzt und genutzt wird. Das ist selbstverständlich und muss nicht vertieft werden. Die interessantere Frage ist, ob die Digitalisierung den Komplex Demokratie und Freiheit großformatig herausfordern und verändern wird, und welche Richtung die Veränderungen einschlagen werden. Hier zeichnet sich ein Zusammenspiel von Digitalisierung und Globalisierung ab, welches eine nach wie vor nationalstaatlich organisierte Demokratie und ihre Freiheiten nicht nur oberflächlich, sondern auch in ihren Tiefenstrukturen verändern. Die Veränderungen haben zwar auch innovative und Freiheiten erweiternde Wirkungen, primär aber stellen sie ein Problem dar, weil sie mehrere Grundlagen des klassischen Modells von Demokratie und Freiheit in Frage stellen. Den Verlust an nationalstaatlicher Souveränität durch globale Interdependenzen habe ich bereits genannt. Dieser Verlust ist deshalb gravierend (wenngleich unvermeidbar), weil er die Problemlösungskompetenz der Demokratien direkt betrifft und damit ihre Fähigkeit, die mit den Problemfeldern implizierten Freiheiten wirksam zu schützen. Wenn Demokratien es über Jahrzehnte hinweg nicht schaffen, Problemfelder wie Klimawandel, Migration oder Endlagerung von Atommüll einer Lösung näher zu bringen, dann leiden darunter auch verschiedene Aspekte der Freiheit der Bürger, wie auch insgesamt die Freiheit, Optionen auf ein besseres, gesünderes oder sichereres Leben zu nutzen. Eine weitere Grundlage des klassischen Modells ist die Figur des verständigen und informierten Bürgers, der in der Lage ist, sich über politiVielzahl von Instrumenten sozialer Software hat eine Entwicklung horizontaler Netzwerke interaktiver Kommunikation ausgelöst, die das Lokale und Globale zu festgelegter Zeit miteinander verbinden.« 26 | Stadler, »Digitale Solidarität«, S. 11: »Die Grundlage der Individualität verschiebt sich von der Privatsphäre hin zum Netzwerk.«

3 Digitalisierung als Entgrenzung von Freiheit

sche Fragen diskursiv eine Meinung zu bilden und entsprechend rational zu entscheiden. Auch wenn diese Figur immer schon normativ überhöht war, kommt sie doch im Rahmen der neuen Bedingungen gehörig unter Druck.27 Eine unvermeidliche kognitive Überforderung aller Bürger/ Wähler hinsichtlich der meisten Spezialprobleme, die auf die Politik einstürmen, übersetzt sich in reale Einschränkungen von Kernmomenten der Freiheit  – Einschränkungen der Meinungsfreiheit, der Wahlfreiheit und der Kommunikationsfreiheit. Meinungen werden angesichts der Komplexitäten beliebig, die Wahlfreiheit läuft leer, wenn die Kontingenzen unübersehbar werden, und wie und worüber soll kommuniziert werden, wenn dem Nichtspezialisten die Überfülle an erforderlichem Wissen und unvermeidbarem Nichtwissen die Sprache verschlägt? Dies führt zu der hier vertretenen These, dass sowohl der Freiheitsbegriff wie die Demokratie insgesamt sich den neuen Herausforderungen stellen müssen, wenn sie nicht ganz grundlegend in Frage gestellt werden wollen: Es gibt Stimmen im Silicon Valley, die offen sagen, die Demokratie sei eine alte Technologie, man müsse etwas Neues ausprobieren, etwa die Gesellschaft so lenken wie einen Start-up. Man akzeptiert nur noch datengetriebenes Denken. Entscheidungen sollen allein auf Daten basieren. Andere Konzepte wie demokratische Debatten, Bürgerpartizipation, steuerliche Finanzausgleiche anstelle von Kapitalbeteiligungen des außerbörslichen Marktes an Ländern oder Städten seien gestrig, überkommen, überholt. Mir schein das eine teuflische Ideologie zu sein. 28

Das Problem ist allerdings nicht so sehr, dass Demokratie eine alte Technologie sei, als dass einige ihrer Prämissen durch die dramatischen gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte veraltet sind. Insbesondere der Glaubenssatz des vernünftigen und verständigen Bürgers, ist unter Bedingungen einer fortschreitenden Zunahme von Wissenschaftlichkeit, Komplexität und Spezialisierung nicht mehr zu halten. Jason Brennan hat daraus die Konsequenz eines 27 | Passend daher die Kritik von Rorty: »Ich dränge seit einiger Zeit darauf, dass die Demokratien sich inzwischen in einer Position befinden, in der sie einige der Leitern, die bei ihrer Errichtung verwendet wurden, wegwerfen können.« Rorty, Contingency, S. 194. 28 | Yvonne Hofstetter, Die Ideologie des Silicon Valley ist eine teuflische. Interview. Schwäbische Zeitung vom 8. November 2016, S. 3.

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vehementen Plädoyers »Gegen Demokratie« und für eine Epistokratie gezogen.29 Dabei grenzt er Epistokratie scharf sowohl gegen Technokratie wie auch gegen Totalitarismus ab und begründet sie unter anderem mit einem »Recht auf kompetente Regierung«.30 Dieses Recht wird durch ignorante, inkompetente und irrationale Wähler beeinträchtigt, was freiheitstheoretisch von Bedeutung ist, weil »das Wahlrecht anders ist als andere liberale Rechte. Das Recht auf Redefreiheit gibt einer Bürgerin Macht über sich selbst, das Wahlrecht gibt ihr Macht über andere.«31 Aus der Sicht einer Freiheitstheorie ist dies ein ernst zu nehmendes Argument. Von Anfang an haben Demokratietheorie und Freiheitstheorie dies berücksichtig und vor einer möglichen Diktatur der Mehrheit gewarnt. Das Wahlrecht schließt an strategischer Stelle den Kreislauf zwischen einer Freiheitskonzeption, die Demokratie ermöglicht, und einer Demokratie, die Freiheit im Kontext von Gesellschaft erst konstituiert. Die Gestaltung des Wahlrechts schlägt daher unmittelbar in eine Gestaltung von Freiheitsrechten um. Ein Drei-Klassen-Wahlrecht beschneidet die Freiheitsrechte der benachteiligten Klassen, der Wahlmodus der direkten Demokratie provoziert in einer massenmedial deformierten Demokratie eine populistische Gefährdung der Freiheit. Für die Freiheitstheorie ist es demnach von erheblicher Bedeutung, in welcher Weise sich gegenwärtige Demokratien vor einem Missbrauch des Wahlrechts schützen. Repräsentativität und Minderheitenschutz sind die klassischen Formen, aber es ist zweifelhaft, ob sie in digitalisierten hochkomplexen Gesellschaften ausreichen. Antworten auf die Fragen nach dem politischen und fachlichen Wissen der Wähler werden unausweichlich, sobald auch für die Freiheitstheorie verstanden wird, dass die Gestaltung des Wahlrechts kritisch und problematisch ist, weil es Macht über andere verleiht. Wenn Wähler irrational handeln, können sie anderen schaden, und zum Beispiel deren Freiheitsrechte unverantwortlich einengen oder gar zerstören. Nach dem demokratischen Fundamentalsatz »eine Person eine Stimme« ist es möglich, dass Mehrheiten (oder qualifizierte Mehrheiten) Demokratie und Freiheit gefährden. Tritt dies ein, wie etwa bei der Machtergreifung 1933 in Deutschland oder bei der 29 | Jason Brennan, Against Democracy. Princeton, 2016. 30 | Ebd., S. 160. 31 | Jason Brennan, Against Democracy. The National Interest September 6, 2016a, hier S. 2.

3 Digitalisierung als Entgrenzung von Freiheit

populistischen Machtergreifung von Erdogan in der Türkei 2016, dann ist es zu spät für Korrekturen. Diese müssen früher einsetzen – und heute unter Bedingungen einer digitalisierten und globalen Dynamiken ausgesetzten Demokratie unter anderem bei der Gestaltung des Wahlrechts. Mehrheiten von Populisten, Irrationalen, Inkompetenten oder Post-Faktischen sind manifest freiheitsgefährdend. Es wäre hoch riskant, deren Wahlsiege abzuwarten. Eine ernst gemeinte und wehrhafte Demokratie sollte sich die Freiheit leisten, vorher über mögliche Korrekturen und Abhilfen nachzudenken. Wenn die meisten Wähler töricht handeln, dann schaden sie nicht nur sich selbst. Sie schaden besser informierten und rationaleren Wählern, Minderheiten-Wählern, Nichtwählern, künftigen Generationen, Kindern, Immigranten und Ausländern, die nicht wählen dürfen, aber dennoch den demokratischen Entscheidungen unterworfen oder durch sie geschädigt sind. Politisches Entscheiden ist nicht eine Wahl nur für einen selbst; es ist eine Wahl für alle. 32

Eine flächendeckende Digitalisierung verschärft diese Problematik, weil nun Internet-Foren, soziale Medien, digitale Communities und selbst noch kriminelle digitale Attacken und »Analytics« der unterschiedlichsten Art ungleich massivere Möglichkeiten haben, politische Meinungsbildung und Interessenaggregation zu beeinflussen und zu manipulieren. Wenn diese massenmediale und digitale Hysterie eine Wählerschaft überflutet, die Politik in der Laienrolle und im entfernten Nebengeschäft als »Hobbits«33 betreibt, dann kann nicht überraschen, dass diese Wählerschaft – durch Wahl oder Nichtwahl – mal eben den Brexit beschließt, einen Rassisten zum Präsidenten der USA wählt oder in der Türkei, in Polen oder Ungarn autoritären Führern zujubelt, weil diese nationalistische Instinkte befriedigen.

32 | Brennan, 2016a, S. 9. 33 | Ebd., S. 4: »Hobbits sind meistens apathisch und wissen nichts über Politik. Zu den meisten politischen Fragen haben sie keine starken, festen Meinungen. Sie haben wenig oder gar kein sozialwissenschaftliches Wissen; sie wissen nichts über die laufenden Ereignisse und auch nichts über die sozialwissenschaftlichen Theorien und Daten, die nötig wären, um diese Ereignisse zu evaluieren und zu verstehen. […] In den USA ist der typische Hobitt ein Nichtwähler.«

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Die Entwicklung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates hat seit langer Zeit eine weitere Komponente des klassischen Models an seine Grenzen gebracht  – die Gründung formaler Legitimität auf reine Input-Legitimität. Versteht man mit Max Weber Legitimität als Anerkennung und Beachtung (»Fügsamkeit«) formal korrekt zustande gekommener Gesetze,34 dann verschiebt sich auch in Demokratien, wie bereits erwähnt, der Schwerpunkt von Input-Legitimität zu Output-Legitimität. In der Perspektive einer Freiheitstheorie ist diese Verschiebung ambivalent, weil einerseits die konkreten Leistungen einer Regierung stärker ins Gewicht fallen, also auch die Leistungen hinsichtlich der Erweiterung von Optionen und Freiheitsräumen. Auf der anderen Seite kann es schnell der Freiheit abträglich sein, wenn die formale Input-Legitimität weniger wichtig und weniger beachtet wird. Wenn z. B. unklar ist, wer genau in welcher Rolle daran beteiligt ist, wie Gesetze zustande kommen und formuliert werden – und etwa anonyme Experten oder Beratungsfirmen mit im Spiel sind –, dann ist sowohl die freie Entscheidung der Parlamentarier wie auch die Wahlfreiheit der Bürger eingeschränkt. Bei einigen der Implikationen der Digitalisierung lassen sich beide Momente der Ambivalenz beobachten. Deutschland hinkt beim Ausbau eines Breitbandglasfasernetzes für digitale Daten und Telekommunikation deutlich hinter anderen Ländern her. In den meisten Bundesländern haben nur vier bis sechs Prozent der Haushalte Glasfaseranschluss, und selbst in Bayern als Spitzenreiter liegt die Quote noch unter zehn Prozent.35 Die Input-Seite und damit die Entscheidungsfreiheit der Parlamentarier ist betroffen, weil unklar ist, welche Interessen, Firmen und Akteure Einfluss auf die Breitbandstrategie nehmen, und nach welchen Kriterien die Verteilung zwischen verschiedenen Technologien (Kabel, Drahtlos, Fiber to Home, Fiber to Building) und Regionen (Bundesländer, Stadt, Land) entschieden 34 | Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972. 35 | Tomas Rudl, »Breitbandausbau: Glasfaseranschlüsse in Deutschland Mangelware«, in: Netzpolitik.org (01.07.2015). »Wie man es dreht und wendet: Deutschland befindet sich beim Breitbandausbau keineswegs im ›vorderen Mittelfeld‹, wie Digitalkommissar Günther Oettinger vor wenigen Monaten behauptet hat, und liegt insbesondere bei richtig schnellen Glasfaseranschlüssen weit abgeschlagen hinten. Das großmundige Versprechen, bis 2018 flächendeckend 50 MBit/s sicherzustellen, bleibt bis auf Weiteres uneingelöst.«

3 Digitalisierung als Entgrenzung von Freiheit

wird. Die Informationen des BM für Verkehr und digitale Infrastruktur im Jahr 2016 dazu sind mehr als dürftig.36 Auf der Output-Seite liegen die Dinge in Sachen Freiheit offener zutage: Je besser die Versorgung mit digitaler öffentlicher Infrastruktur ist, desto größere Chancen bestehen für eine Ausweitung von Freiheitsräumen für Kommunikationen, Transaktionen, Geschäftsideen und vieles andere. Auch konkrete Nutzen für Gesundheit oder gar Lebensrettung  – durch schnelle Notrufe oder erleichterte Kommunikation/Überwachung von Pflegebedürftigen  – sind nicht unerheblich.37 Ausweitungen in Richtung digitales Lernen, digitale Unterstützung des Schulunterrichts oder gar MOOCs, erleichterte Vernetzung von Lerngruppen etc. deuten das Potential der Digitalisierung für erweiterte und entgrenzte Freiheitsräume an.

36 | Siehe: www.zukunft-breitband.de/Breitband/DE/Home/home_node.html, letzter Zugriff 25.10.2016. 37 | »The advances in health and medicine in our near future will be among the most significant of all the new game-changing developments. And thanks to rising connectivity, an even wider range of people will benefit than at any other time in history.« Schmidt, Cohen, The New Digital Age, S. 25.

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Exkurs: Digitale Freiheit als Kontingenzkontrolle

Digitalisierung schafft eine individuell dezentrierte und gleichzeitig global vernetzte Welt. Menschen haben individuelle Optionen wie nie zuvor, und zugleich können sie sich zu jedem denkbaren Thema oder Interesse global in Netzwerken zusammenschließen. Für die Freiheit entsteht ein Problem daraus, dass dies nicht nur für Menschen gilt, sondern auch für Sozialsysteme, insbesondere Organisationen und Gesellschaften. Die Produktion von Optionen wird unüberschaubar und es gibt niemanden mehr, der die Fülle an Möglichkeiten und Alternativen noch überschauen und beurteilen kann. Wie Rorty gesagt hat, besteht Freiheit nach wie vor darin, Kontingenz anzuerkennen – und sie nicht einer einzigen Meinung oder Wahrheit oder Ideologie zu opfern. Die globale und digitalisierte Moderne induziert aber ein neues Problem: Eine Überproduktion an Kontingenz, die ebenso problematisch für die Freiheit wird, wie ein Mangel an Kontingenz.1 Zwei Auswege aus diesem Dilemma bieten sich an. Zum einen Kontingenzkontrolle, zum anderen die Entwicklung kollektiver Intelligenz als Ergänzung der begrenzten individuellen Kompetenzen. Für eine künftige Politik der Freiheit käme es darauf an, diese beiden Auswege als Zusammenhang zu behandeln und institutionelle Ausprägungen kollektiver Intelligenz darauf auszurichten, Kontingenzkontrollen kompetent zu managen. Die Überwältigung der Menschen durch Daten, Informationen und Bilder ist mit den Händen zu fassen: »Wir alle haben die Statistiken gehört: einhundert Stunden YouTube Filme werden jede Minute hochgeladen, sechs Milliarden Stunden Video werden jeden Monat geschaut, 1 | Zum Hintergrund siehe Markus Holzinger, Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie, Bielefeld 2007.

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dreiundzwanzig Milliarden Textnachrichten jeden Tag (davon sechs Milliarden täglich in den USA), mehr Menschen besitzen Mobiltelefone als Zahnbürsten, in Indien gibt es mehr Mobiltelefone als Latrinen.«2 Ebenso überwältigend ist die Produktion wissenschaftlicher Texte aller Art, von Forschungsberichten, Weißbüchern, Analysen, Strategie- und Positionspapieren, neuen Managementkonzeptionen, Geschäftsprozessen, Risikomodellen, Prognosemethoden und Steuerungsinstrumenten aus der Praxis, ganz abgesehen von der Fülle von geheimen Dokumenten mit relevanten Daten und Informationen, die irgendwann in die Öffentlichkeit geraten und weitere Verwirrung stiften. Es ist schwer, sich eine Vorstellung zu machen von den Quantitäten, um die es sich hier handelt. So beschäftigen beispielsweise die amerikanischen Geheim- und Nachrichtendienste neben den Hunderttausenden von offiziellen Mitarbeitern zusätzlich mehr als eine halbe Million von privaten Vertragspartnern, die alle »topsecret-clearance« haben (einer von diesen war Edward Snowden).3 Um im Chaos der Datenströme überhaupt noch eine gewisse Übersicht und Orientierung zu behalten, ist es nötig, scharf zu selegieren und nur die jeweils als relevant definierten Daten durchzulassen. Im privaten Bereich von E‑Mail und sozialen Medien lassen sich Filter einbauen und so kann der Strom etwas kanalisiert werden. Aus Sicht der Freiheitstheorie meint Kontingenzkontrolle hier, dass Personen die Freiheit haben sollen, selbst ihre Selektionskriterien zu bestimmen, um ihre Wahlfreiheit zu realisieren, also z. B. ungewollte Nachrichten oder Werbung auszuschließen. Dies erfordert eine Balance, weil komplementär dazu ihre Informationsfreiheit verlangt, dass neu auftauchende Optionen nicht verschlossen bleiben. Vermutlich gehen Menschen in der Regel sehr pragmatisch mit dieser spannungsreichen Balance um, und lassen sich von Moden, Trends und Hype auf Neuigkeiten außerhalb ihrer üblichen Auswahlkriterien stoßen. Anders als die Verantwortung der Politik für eine gesellschaftliche Kontingenzkontrolle (dazu Abschnitt 5.2) meint Kontingenzkontrolle auf der Ebene der Personen ein konkretes Freiheitsrecht, nämlich Selbstbestimmung über die Steuerung der Datenströme. Immer gewichtiger schließt dies auch ein, dass Personen selbst darüber bestimmen können,

2 | Ebd., S. 260. 3 | Schmidt, Cohen, The New Digital Age, S. 265.

E xkurs: Digitale Freiheit als Kontingenzkontrolle

was mit ihren eigenen Daten geschieht.4 Kontingenzkontrolle setzt zunächst einen Willen zur Kontrolle voraus. Wenn jemand sich den Datenfluten freiwillig aussetzt oder seine persönlichen Daten freiwillig weggibt, dann begibt sich diese Person ihrer Kontrollmöglichkeiten. Praktisch relevant ist auch, dass Personen einen generellen Willen zur Begrenzung der Datenströme zwar haben, aber mangels Übersicht, Schulung oder Ausbildung nicht wissen, wie sie das bewerkstelligen können. Es bleibt dann die Frage, ob institutionelle/rechtliche Regeln eingreifen sollen, um solche Personen vor sich selbst zu schützen. Dies wird nur in massiven Fällen legitim und begründbar sein, wenn die Schutzbedürftigkeit in die Nähe eines Schutzes von Leib und Leben rückt. Realistischer erscheint es, den Datenhunger von Organisationen wie Unternehmen, Versicherungen, Krankenkassen oder staatliche Administrationen rechtlich zu begrenzen und mit Aufklärungs- und Sorgfaltspflichten einem möglichen Missbrauch vorzubeugen.5 Damit ist schon angedeutet, dass Individuen für einen realistischen Freiheitsschutz durch Kontingenzkontrolle die Unterstützung durch Organisationen brauchen. Die faktische Übermacht der Organisation bei der Produktion von Kontingenz kann wohl nur durch die Beteiligung anderer Organisationen bei der Kontrolle von Kontingenz ausgeglichen werden. Für die Massenmedien sehen selbst Proponenten der Digitalisierung diese Notwendigkeit: »Die Rolle der Massenmedien wird es vornehmlich sein, zusammenzufassen, zu prüfen und zu verifizieren, also ein Filter der Glaubwürdigkeit zu sein, der all die Daten siebt und das hervorhebt, was man lesen, verstehen und glauben kann, und was nicht.«6 Für viele andere Bereiche werden vergleichbare Einrichtungen/Organisationen 4 | Ernst Hafen, »Digitale Selbstbestimmung durch ein ›Recht auf Kopie‹«, in: Spektrum der Wissenschaft. Sonderausgabe. 20. Berliner Kolloquium 11. Mai 2016. Der Datenmensch. Über Freiheit und Selbstbestimmung in der digitalen Welt, S. 24–25. Ausführlich zur Relevanz für die Grundrechte Christian Hoffmann u. a., Die digitale Dimension der Grundrechte. Das Grundgesetz im digitalen Zeitalter, Baden-Baden 2015. 5 | Andrej Zwitter, Roberto Zicari, »BIG DATA zum Nutzen von Gesellschaft und Menschheit«, in: Spektrum der Wissenschaft. Sonderausgabe. 20. Berliner Kolloquium 11. Mai 2016. Der Datenmensch. Über Freiheit und Selbstbestimmung in der digitalen Welt, S. 33–34. 6 | Schmidt, Cohen, The New Digital Age, S. 49.

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eine Rolle als Wächter und Prüfinstanzen übernehmen müssen – ob als Stiftungen für neutrale Tests, als Informationszentren oder als neutrale Beratungsstellen –, um eine Überforderung von Individuen durch überwältigende Kontingenz zu neutralisieren. Ansätze dafür sind bereits vorhanden (Stiftung Warentest oder Verbraucherberatung), sie werden in Zukunft aber nicht nur ausgeweitet, sondern auch in ihren Kompetenzen gestärkt werden müssen. Ein wichtiger Aspekt dieser Stärkung ist der Auf bau kollektiver Intelligenz. Kollektive Intelligenz entsteht aus der kunstvollen Vernetzung und Relationierung einfacher Elemente in einen systemischen Zusammenhang. Ein eindrucksvolles Modell dafür hat Marvin Minsky in seiner Beschreibung des mentalen Systems des Menschen vorgelegt. Ausgangspunkt und Kernfrage ist: »Wie kann Intelligenz aus Nichtintelligenz entstehen?« (»How can intelligence emerge from nonintelligence?«)7 Auch wenn die einzelnen Elemente (»agents«) nur ganz einfache Operationen ausführen können (und in diesem Sinne über wenig Intelligenz verfügen), so entsteht doch aus ihrem Zusammenspiel eine frappierende emergente Qualität: menschliche Intelligenz und die Fähigkeit zu Sprache, Denken und reflexivem Lernen. Denkt man sich diese intelligenten Menschen wiederum als Elemente einer größeren Intelligenz, die aus dem geordneten Zusammenspiel vieler Menschen entsteht, so kommt man in die Nähe dessen, was etwa Hélène Landemore kollektive Intelligenz nennt.8 Diese setze als »verteilte Intelligenz« voraus, dass viele Menschen mit großer »kognitiver Vielfalt« diskursiv und deliberativ zusammenwirken und nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden.9 Tatsächlich gibt es viele empirische Beispiele eines solchen übersummenhaften Zusammenwirkens von Menschen, die dann Leistungen aller Art, auch Intelligenzleistungen 7 | Marvin Minsky, The Society of Mind, New York 1988 (zuerst 1985), S. 17. 8 | Hélène Landemore, Democratic Reason: Politics, Collective Intelligence, and the Rule of the Many, Princeton 2013. 9 | »Ich behaupte, dass unter Bedingungen hinreichender Bildung und Freiheit innerhalb der Mitglieder einer gewöhnlichen Gruppe von Menschen, die ›Regel der Vielen‹ jede Alternative der ›Regel der Wenigen‹ als Entscheidungsprozedur für kollektive Entscheidungen dieser Gruppe überlegen ist.« Dies., »Democratic Reason: the Mechanisms of Collective Intelligence in Politics«, in: Paper Prepared for Presentation at the Conference Collective Wisdom: Principles and Mechanisms. Collège de France (22.–23.05.2008).

E xkurs: Digitale Freiheit als Kontingenzkontrolle

erbringen, die einem Einzelnen nicht möglich wären. Solche magischen Momente des gelungenen Zusammenspiels einer Sportmannschaft, eines Orchesters, eines Projektteams, einer Forschungsgruppe etc. belegen, dass das Ganze mehr sein kann als die Summe seiner Teile. Genau in diesem Sinne ist das Konzept einer kollektiven Intelligenz ein wichtiger Baustein der Demokratietheorie – und damit auch der Freiheitstheorie. Die Probleme mit dem Konzept beginnen dort, wo die erforderliche kognitive Vielfalt nicht gegeben ist. Wenn die meisten oder alle Menschen in einer Gruppe vom anstehenden Problem/Thema/Konflikt wenig oder nichts verstehen, dann ergibt auch lange Deliberation keine kollektive Intelligenz. Wenn in modernen Gesellschaften die meisten Menschen von bestimmten hochkomplexen Problemen nichts verstehen, dann ist zumindest hinsichtlich dieser Probleme die Vorstellung illusionär, dass durch große Zahlen, kognitive Diversität und Deliberation kollektive Intelligenz möglich wäre. Diese Überlegung macht das Konzept nicht wertlos, beschränkt es aber auf Fälle, in denen ein gesunder Menschenverstand ausreicht und schließt es für Fälle wissensintensiver komplexer Probleme aus. Auch die durch neue Medien und Technologien befeuerte Hoffnung, durch digital vermittelte Kooperation ergäbe sich eine überlegene Schwarmintelligenz, trifft wohl nur für Trivialprobleme zu, nicht aber für politisch relevante schwierige und verwickelte Problemstellungen.10 Um das Konzept zu retten, muss man die Idee der verteilten Intelligenz ernster nehmen, als Landemore dies tut. Man muss vor allem sehen, dass es im Kern nicht um Intelligenz als solche geht, sondern um Expertise und Wissen. In modernen Demokratien ist Expertise durch Differenzierung und Spezialisierung in eine Unzahl von Berufen, Disziplinen, Unterdisziplinen, Fachgemeinschaften, »Communities of practice« und Praxeologien 10 | Habermas fasst seine Überlegungen zur politischen Kommunikation in der ›Mediengesellschaft‹ so zusammen: »Vermittelte politische Kommunikation in der Öffentlichkeit kann deliberative Legititimationsprozesse in komplexen Gesellschaften nur dann vereinfachen, sofern ein sich selbst regulierendes Mediensystem Unabhängigkeit von seinen sozialen Umwelten erlangt und anonyme Publika ein Feedback zwischen einem informierten Elitendiskurs und einer responsiven Zivilgesellschaft garantieren.« Jürgen Habermas, »Political Communication in Media Society: Does Democracy still Enjoy an Epistemic Dimension? The Impact of Normative Theory on Empirical Research«, in: Communication Theory 16 (2006), S. 411–424, hier S. 411.

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aufgeteilt. Die für eine komplexe Problemstellung umfassende Expertise kann ganz im Sinne von Landemore als kollektive Intelligenz entstehen, wenn die vielen Mosaiksteine des relevanten Wissens zusammengefügt werden und eine passende Gestalt ergeben. Die Teile sind in der Sprache von Minsky die »Agenten« oder Bausteine (»building blocks«), die erst in ihrem geordneten Zusammenspiel die Intelligenz des Ganzen erzeugen. In ähnlicher Weise beschreibt auch Friedrich v. Hayek die Überwindung von Nichtwissen und die Entstehung von emergentem Wissen aus der Verknüpfung vieler Teil-Wissen im Rahmen eines übergreifenden Nichtwissens (dazu ausführlicher im nächsten Abschnitt). Und schließlich belegen seit den 1990er Jahren eine Fülle von Analyse und praktischen Erfahrungen mit »Lernenden Organisationen« und Wissensmanagement die Bedeutung organisationaler Intelligenz, die mehr ist als die Summe der individuellen Intelligenzen der Mitglieder einer Organisation.11 Im Lichte dieser Ideen ist eine Bedrohung der Freiheit durch überwältigende Kontingenz nicht ganz so unvermeidlich, wie es zunächst den Anschein hat. Offene Kontingenzen wirken dann lähmend, wenn ich sie mangels Wissen nicht beurteilen kann oder wenn mir die Expertise dafür fehlt, auch ein Übermaß an Kontingenz zu managen und mit dieser Situation kompetent umzugehen. Wenn Organisationen mir die Beurteilung abnehmen oder zumindest mich darin unterstützen und Instrumente der Kontingenzkontrolle zur Verfügung stellen, dann kann ich auf ein weites Feld organisationalen Wissens zugreifen und am verteilten Wissen vieler anderer teilhaben. Wenn aus dem geordneten Zusammenspiel der vielen Spezialexpertisen ein übergreifendes Problembehandlungswissen entsteht, das es erlaubt, Optionen zu beurteilen und daraus Vorschläge zur Kontingenzkontrolle abzuleiten, dann wird die Zersplitterung des für ein Kontingenzmanagement relevanten Wissens in einem organisationalen oder systemischen Wissen wieder aufgehoben. Digitalisierung ist dafür eine wichtige Voraussetzung, weil sie Kooperation und Austausch von Raum und Zeit weitgehend unabhängig macht, und mit Foren, Lernplattformen, Repositorien und vielen anderen Formen elektronisch unterstützter organisierter Kooperation es ermöglicht, verteiltes Wissen zu verknüpfen und die Herausbildung kollektiver Intelligenz durch Technologien, Instrumente und Modelle zu unterfüttern. Immer ist dafür eine 11 | Chris Argyris, Donald Schön, Organizational Learning – A Theory of Action Perspective, Reading, Mass. 1978. Willke, Wissensmanagement.

E xkurs: Digitale Freiheit als Kontingenzkontrolle

Begrenzung von Kontingenz durch Selektivität erforderlich. Organisationen können aus dem Zusammenspiel vieler Expertinnen und Experten angemessene und wirksame Selektionskriterien und Filter herausbilden und so den Strom kontingenter Optionen lenken. Beispiele dafür sind vor allem die Massenmedien, welche Daten und Informationen aus der ganzen Welt nach bestimmten Kriterien filtern, aber auch die Bildung von Fachgemeinschaften (»Communities of practice«) in Organisationen, die wissenschaftliche Infrastruktur vieler transnationaler Institutionen wie etwa der Weltbank oder die Kooperationsnetzwerke des IPCC. Die Weltbank muss – wie andere große Banken oder Finanzfirmen – eine Unmenge an global verteilten digitalen Daten durchforsten und nach bestimmten Kriterien ordnen, um daraus Szenarien, Modelle und Optionen ableiten zu können. Der IPCC, der selbst keine Datenerhebungen macht, verarbeitet die Daten von 195 Mitgliedsländern, die mit jeweils vielen Messstationen eine Fülle von Daten liefern. Diese werden vom IPCC evaluiert, geprüft und zu komplexen Berichten verarbeitet. Ein einfacherer, aber für die betroffenen Personen folgenreicher Fall ist die Wahl eines Studienganges für Studienanfänger. Allein in Deutschland gibt es über 7.500 grundständige Studienangebote. Hinzu kommen unzählige ausländische Angebote und eine nicht mehr überschaubare Flut an digitalen Informationen, Vorschlägen, Berichten, Evaluierungen, Ratings etc. Im wörtlichen Sinne wird hier die Freiheit der Studienwahl ohne externe oder organisationale Unterstützung zu einem Vabanquespiel, das ohne Formen der kollektiven Intelligenz und der Kontingenzkontrolle nicht zu gewinnen ist. Diese Beispiele sollen andeuten, dass Organisationen in der Lage sind, durch Arbeitsteilung und Kooperation ein Kontingenzmanagement selbst angesichts überwältigender Datenmengen zu leisten. Was Individuen nie schaffen könnten, ist mithilfe von Organisationen innerhalb gewisser Grenzen immerhin erreichbar. Für die Freiheit wird damit ein weiteres Dilemma sichtbar: Auf sich gestellt, sind Individuen kaum mehr in der Lage, die durch Komplexifizierung und Digitalisierung massiv gesteigerte Kontingenz ihrer Welt zu kontrollieren. Sie sind daher auf Organisationen angewiesen, welche sie in der Aufgabe der Kontingenzkontrolle unterstützen, aber zugleich als Organisationen den Individuen die Kosten der Mitgliedschaft sowie des Leser-, Kunden- oder Klientenstatus auferlegen.

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Eine Wahrung von Freiheitsräumen im Wirbelsturm digitaler Datenströme hat paradoxerweise nur dann eine Chance, wenn andere Aspekte der Freiheit zugunsten von Mitgliedschaft oder Partizipation an organisationalen Leistungen aufgegeben werden. Dies dürfte in komplexen Konstellationen ein allgemeines Muster sein. Am Bild eines Mobiles verdeutlicht, lässt sich sagen, dass unter Bedingungen dynamischer Veränderung die Realisierung von Freiheit eine Frage der Abwägung zwischen verschiedenen Momenten einer komplexen Architektur von Freiheit ist. Wird ein Moment betont, dann gerät das ganze Mobile in Bewegung und tariert sich zu einer neuen Balance aus. Die Entgrenzung von Freiheit durch Digitalisierung findet ihr Gegenstück in einer für das Individuum nicht mehr beherrschbaren Fülle an Optionen. Menschen können ihre Möglichkeiten digital in den globalen Raum ausweiten,12 zugleich aber bezahlen sie diese Entgrenzung damit, dass nun Kontingenzkontrolle unabdingbar wird. Wenn die Begrenzungen der Freiheit durch Globalisierung und die Entgrenzungen der Freiheit durch Digitalisierung als Grundlage eines Konzepts komplexer Freiheit plausibel sind, wie ließe sich dann die Matrix der Faktoren angemessen beschreiben, die einerseits zu einer Atrophie der Freiheit führen, andererseits Räume gleichwohl möglicher resilienter Freiheit öffnen?

12 | »So gut wie jede Person wird online auf verschiedene Arten repräsentiert, was zur Schaffung dynamischer und aktiver Gemeinschaften verschränkter Interessen beiträgt, die unsere Welt abbilden und bereichern. All diese Verbindungen schaffen riesige Mengen an Daten.« Schmidt, Cohen, The New Digital Age, S. 32.

4 Eine neue Grammatik der Freiheit

Eine »Grammatik« für ein Themenfeld lässt sich mit Kenneth Burke als ein Ensemble von Prinzipien verstehen, das dieses Feld ordnet.1 Die zentralen Prinzipien und Konstruktionsbedingungen eines brauchbaren Freiheitsbegriffs sind Komplexität, Kontingenz und Resilienz. Komplexität und Kontingenz definieren den Rahmen einer prekären, d. h. sowohl bedrohten wie gleichwohl möglichen Freiheit. Komplementär zu drohenden Einschränkungen der Freiheit durch Komplexität und Kontingenz eröffnen sich auch Möglichkeiten der Umgehung dieser Einschränkungen, also Chancen der Bewahrung von Freiheiten, sofern wirksame Formen des Komplexitätsmanagements und der Kontingenzkontrolle realisiert werden. Resilienz schließlich übernimmt die Rolle einer immer schwierigeren Vermittlung zwischen übermächtig erscheinenden Restriktionen einerseits und eines genau dadurch provozierten Widerstandes und einer Lernkompetenz gegen Formen der Unfreiheit andererseits. Das dominante Charakteristikum einer neuen Grammatik der Freiheit 2 ist Komplexität. Dies nicht nur, weil das Menschenrecht Freiheit als Konzeption von den Idyllen des 19. Jahrhunderts und den Kantschen Antinomien der Freiheit in die zerrissene und globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts zu transponieren ist, sondern primär, weil das 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen, Faschismus, Stalinismus und der Geburt eines globalisierten fundamentalistischen Terrors ein solches Übermaß an Nega-

1 | »One could think of the Grammatical resources as principles«. Kenneth Burke, A Grammar of Motives, Berkeley 1969 (zuerst 1945), hier S. XVI. 2 | Der Begriff taucht auch auf bei Peter Graf Kielmansegg, Die Grammatik der Freiheit. Acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat, Baden-Baden 2013. Allerdings sagt Kielmansegg wenig über Freiheit, betont aber zurecht die enge Verbindung von Freiheit und Demokratie im Verfassungsstaat.

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tion von Freiheit hervorgebracht hat, dass es geradezu zynisch erscheinen muss, weiterhin einfach von Freiheit im alten Sinne zu reden. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hilft nichts darüber hinweg, dass Freiheit brüchig, widersprüchlich, inkonsistent, ambivalent, angezweifelt und umstritten ist. In der Welt vieler Entwicklungsländer wird sie als zynisches Danaergeschenk der westlichen Hegemonen angesehen. China im Besonderen, aber auch Russland oder Brasilien lassen keinen Zweifel daran, dass Entwicklung, Prosperität und Wettbewerbsfähigkeit für wichtiger gehalten werden als Freiheit oder Demokratie.3 Diese Positionen führen noch einmal vor Augen, dass Freiheit weder absolut noch unbestritten ist, sondern als komplexes Gefüge ihrerseits in vielschichtigen Wechselbeziehungen zu anderen Werten und Präferenzen steht. In der vor allem von John Locke geprägten Tradition4 umfasst Freiheit die drei konstitutiven Komponenten der »Willensfreiheit«, der »Entscheidungsfreiheit« und der »Handlungsfreiheit«.5 Das Grundmodell ist wenig überraschend, weil ein Mensch willensfähig sein muss, um Freiheit ausüben zu können, er oder sie muss zwischen verschiedenen Optionen wählen und mithin sich für eine Option entscheiden können, und diese Entscheidung muss in Handlungen umgesetzt werden können, weil sie sonst virtuell und folgenlos bleibt. Auffällig ist in dieser Konstruktion der Fokus auf die Person. Das ist historisch verständlich, weil zunächst das Individuum gegenüber der Dominanz der »Anciens Régimes« von Kirche und Absolutismus verteidigt werden musste. Heute bedrängen die »Nouveaux Régimes« einer globalisierten und hyperkomplexen Welt dieses Individuum in einer weniger sichtbaren, versteckteren und indirekteren Weise. Die klassische Bedrohung von Freiheit ist Zwang, letztlich ausgeübt durch den Einsatz physi3 | Siehe z. B. www.pewglobal.org/2015/09/24/corruption-pollution-inequalityare-top-concerns-in-china/, letzter Zugriff 25.10.2016. 4 | John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, London 1961 (zuerst 1690). 5 | »Somit besteht die Freiheit also darin, daß wir imstande sind, zu handeln oder nicht zu handeln, je nachdem wie wir wählen oder wollen.« Ebd., Buch II, Kap. 21, Abschn. 27. Deutlich früher schon hatte Hobbes nahezu identisch formuliert: Ein Freier ist, »wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstands tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen.« Hobbes, Leviathan, S. 163.

4 Eine neue Grammatik der Freiheit

scher Gewalt. Die moderne Bedrohung von Freiheit dagegen ist Manipulation,6 letztlich ausgeübt durch anonyme Systemzwänge und scheinbar alternativlose Operationslogiken, und ausgeübt in Formen, die möglichst unbemerkt und verdeckt wirken. Dahinter steht eine lange historische Entwicklung, die vor allem der Idee der Demokratie geschuldet ist, und die den Einsatz nicht-legitimer physischer Gewalt als unzulässig erklärt und mit dem staatlichen Gewaltmonopol das entscheidende Bollwerk gegen Unfreiheit setzt. Es ist wichtig zu sehen, dass die neuen Bedrohungen der Freiheit erst vor dem Hintergrund einer (durch die Etablierung der Demokratie) prinzipiell gelungenen Sicherung der klassischen Freiheit verständlich werden. Auch wenn diese Sicherung nicht lückenlos und in vielen Teilen der Welt noch weit von der Realisierung entfernt ist,7 gilt für etablierte demokratische Gesellschaften doch das Prinzip einer funktionierenden Garantie personaler Freiheit. Diese Freiheit ist durch ein elaboriertes Rechts- und Justizsystem weitreichend geschützt. Nimmt man dies zur Kenntnis, dann erscheint es als müßig, heute in Theorien der Freiheit vorrangig auf diese Seite der Freiheit abzustellen. Wohlgemerkt: Dies bedeutet keine Geringschätzung dieser Seite, sondern verweist auf die Sorge, dass darüber die neuen Bedrohungen übersehen werden. Paradoxerweise macht es die Errungenschaft der weitgehenden Sicherung klassischer Freiheit in der Demokratie schwieriger, die neuen Bedrohungen der Freiheit angemessen zu sehen und in den Freiheitsbegriff einzubauen. Die vermutlich umfassendste neue Bedrohung von Freiheit folgt aus gesellschaftlicher Komplexität. Komplexität ist eines der konstituierenden Merkmale einer Gegenwart, die sich von den einfachen Gewissheiten immer weiter entfernt, welche Tradition, Religion, Moral, Kultur und Sozialisation einmal vermittelt haben. Die »langen Handlungsketten«, 6 | Di Fabio, »Regeln für die digitale Welt«: »Seit der Snowden-Zäsur schaut die Netzöffentlichkeit auf die NSA wie ein Unternehmen, das eine feindliche Übernahme vollzogen hat. Doch die sicherheitsversessene große Demokratie macht nur das, was kleinere Demokratien auch gern tun würden und die Autokratien und Diktaturen dieser Welt sind ebenfalls nicht unbeteiligt am Spiel der Datenspionage oder der Manipulation öffentlicher Informationszugänge.« 7 | Dazu ausführlich Philip Pettit, Gerechte Freiheit – Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Berlin 2015.

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die Simmel und Elias bereits als Moment des Prozesses der Modernität ausgemacht haben,8 expandieren mit Globalisierung und Digitalisierung ins Uferlose. Unter jeder Oberfläche verbergen sich Tiefenstrukturen verwickelter Zusammenhänge, Rückkopplungen, Nebenwirkungen und nicht-intendierten Folgen, die nicht nur eine »neue Unübersichtlichkeit«9 erzeugen, sondern die Intransparenz der Systeme und ihrer Verhältnisse zur Rahmenbedingung allen Handelns und Entscheidens machen. Diese Intransparenz beruht im Kern auf Nichtwissen.10 Sobald für Menschen Handlungen und Entscheidungen anstehen, die über die vertraute Nahumwelt hinausreichen, sehen sie sich mit einem schwarzen Loch des Nichtwissens konfrontiert, weil es ausgeschlossen ist, dass sie sich in den Myriaden von komplizierten und komplexen Themen, Problemen, Technologien, Produkten etc. auch nur einigermaßen auskennen können, von den damit verbundenen Konzeptionen, Paradigmen, Bedingungszusammenhängen oder Folgewirkungen ganz schweigen. In einer hochgradig arbeitsteiligen, spezialisierten und professionalisierten Welt sind alle Menschen in den meisten Hinsichten Laien und, bestenfalls, in einigen wenigen Themen soweit kompetent, dass sie urteilen können. Dies fängt beim Frühstück an: Wenn es hundert Joghurtvarianten gibt, und alle unterschiedliche Nährstoffe, Schadstoffe, Zusatzstoffe, Allergene etc. beinhalten, und ich keine Ahnung haben kann, ob sie dick oder dünn machen, gesund oder krank, in Kombination mit anderen Lebensmittel gut oder riskant sind, dann hilft nur noch ein »Lob der Routine«11 oder ein Entscheiden durch Nichtentscheiden. So banal das Beispiel ist, so klar belegt es doch das Prinzip: Der Standardmodus des postmodernen Lebens ist Nichtwissen, und mit jeder neuen Expertise und mit jedem neuen Wissen nimmt auch das Nichtwissen zu. Die Normalität des Nichtwissens ist folgenreich für den Freiheitsbegriff. Die erste Komponente des klassischen Freiheitsbegriffs, die Willensfreiheit, ist von Nichtwissen in ihrem Kern bedroht. Einen Willen zu X 8 | Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), Berlin, Leipzig 1917, S. 50 ff. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt a. M. 1977, S. 217 ff. 9 | Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985. 10 | Niklas Luhmann, Die Kontrolle von Intransparenz. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dirk Baecker, Berlin 2017. 11 | Niklas Luhmann, »Lob der Routine«, in: Verwaltungsarchiv 55 (1964), S. 1–33.

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kann ich nur haben, wenn ich etwas über X weiß oder zumindest mir Vorstellungen darüber bilden kann. Wissen ist unabdingbare Voraussetzung für Willen. Wenn ich als Mitglied einer archaischen Gesellschaft nicht wissen kann, dass es verschiedene Religionen, unterschiedliche Lebensentwürfe oder abweichende Moralvorstellungen gibt, dann ist Willensfreiheit (nämlich die Freiheit, etwas anderes zu wollen) in diesen Hinsichten sinnlos. Wenn ich als Bürger einer modernen Gesellschaft nicht weiß, wie komplexe Finanzprodukte konstruiert sind und wie sie funktionieren, dann ist Willensfreiheit mit Bezug auf komplexe Finanzprodukte sinnlos. Wenn Nichtwissen dominant wird und Willensfreiheit gegenüber allen denkbaren Aspekten einer hyperkomplexen Welt  – seien dies Personen, Programme, Projekte, Probleme, Produkte, Politiken oder was immer – ins Leere läuft, dann kippt die Grundkonstruktion von Freiheit. Dann ist Ausgangspunkt der Analyse nicht mehr die dann zu optimistische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit, sondern die skeptischere und realistischere Frage nach den Faktoren, die Risiken für die Freiheit darstellen und sie als bedroht erscheinen lassen. Im Prinzip ist in hyperkomplexen Konstellationen der Willensfreiheit als unabdingbare Vorbedingung für Freiheit die Grundlage entzogen. Der Raum der gleichwohl noch möglichen Freiheit wird dann bestimmt von plausiblen Behauptungen eines hinreichenden Wissens. Wenn komplexe dynamische Systeme prinzipiell intransparent bleiben, dann erscheint Freiheit nur möglich als Ausnahme von Konstellationen unwahrscheinlicher oder gar unmöglicher Freiheit. Die zweite Bedrohung von Freiheit folgt aus Kontingenz. Die Aussage muss zunächst als paradox erscheinen, weil Kontingenz, verstanden als Möglichkeits- und Optionenraum,12 Voraussetzung für Wahlmöglichkeiten und damit für Entscheidungsfreiheit ist. Erst wenn ich mehr als eine Option zur Auswahl habe, ergibt Entscheidung überhaupt einen Sinn und kann Entscheidungsfreiheit tragende Komponente von Freiheit sein. Aber was passiert, wenn die Optionen ins Uferlose wachsen und Kontingenz in Beliebigkeit ausufert? Schon Hamlet wurde von Kontingenz überwältigt und entscheidungsunfähig  – von einer Kontingenz, die »nur« auf dem Hin- und Herwenden von überschaubaren Optionen in einem unüber12 | Luhmann, Soziale Systeme, S. 152–160. Helmut Willke, Systemtheorie I: Grundlagen. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme, Stuttgart 2006, S. 28–34.

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schaubaren mentalen System gründete. Was passiert, wenn auch noch die (äußere) Welt der psychischen und sozialen Systeme unbegrenzte Optionen bietet? Wenn alle zu Hamlet werden, ob sie wollen oder nicht, dann gehen mit dem Übermaß an Kontingenz die Unfähigkeit zu (gewollter) Entscheidung und damit die Negation von Freiheit einher. Auch hier deutet sich ein Kipppunkt der Grundkonstruktion von Freiheit an: Ein Übermaß an Kontingenz macht aus Entscheidungsfreiheit entweder Entscheidungsunfähigkeit oder Entscheidungszwang und pervertiert damit eine Bedingung der Möglichkeit von Freiheit zu einer Situation, in der Freiheit sich selbst überfordert. Wir können nicht wissen, ob unser Entscheiden wirklich frei oder wirklich determiniert ist. Wir können nur Konzeptionen entwerfen, die als Modelle des Entscheidens mehr oder weniger brauchbar sind. Unter diesen Bedingungen erscheint es als plausibel, den extremen Positionen bei der Auflösung des Entscheidungsdilemmas zu misstrauen: Weder Determinismus noch rein rationales Entscheiden erscheinen der komplexen und vielschichtigen Praxis des Entscheidens angemessen zu sein. Offenbar erfordert die Komplexität des Entscheidens eine adäquat komplex gebaute Entscheidungstheorie und, damit verbunden, eine adäquat komplexe Theorie der Freiheit. Eine zweite Folge des Übermaßes an Kontingenz ist Beliebigkeit der dann getroffenen Entscheidung. Ist eine Entscheidung beliebig, dann ist sie weniger Ausdruck von Entscheidungsfreiheit als Ausdruck von Ratlosigkeit oder Überforderung. Je mehr nun intransparente Systeme aller Art Individuen als Wahlbürger, Konsumenten, Patienten, Mediennutzer, Datenproduzenten etc. ratlos oder überfordert zurücklassen, desto weniger realistisch ist es, von Entscheidungsfreiheit zu reden. Die in der Organisationsforschung bekannte Kategorie der »Entscheidung unter Ungewissheit« expandiert zur Entscheidung im Kontext pervasiven Nichtwissens.13 Dies ist besonders brisant an der Schnittstelle von Freiheit und Demokratie, bei der Entscheidung an der Wahlurne. Wenn Wahlbürger die Mehrzahl der zur Debatte stehenden politischen Themen, Konflikte und Probleme nicht mehr verstehen, wenn sie die transnationalen und globalen Hintergründe und Abhängigkeiten der Themen und Kontroversen nicht durchschauen, wenn sie die involvierten Expertisefelder auch nicht 13 | Helmut Willke, »Zur Komplexität der Entscheidungstheorie«, in: Soziale Systeme 15 (2009), S. 61–71.

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mehr annähernd selbst beurteilen können, dann ergeben sich sowohl für Demokratie wie für Entscheidungsfreiheit dramatische Folgen: Bald die Hälfte der Wahlberechtigten verweigert sich gleich dem Wahlgang (Rückgang der Wahlbeteiligung etwa in der EU-Wahl 2014 auf 42,61 Prozent)14, viele erliegen der Versuchung zur Vereinfachung der Entscheidung, auf die Trivialformeln der Radikalen und Populisten zurückzugreifen, erkennbar etwa daran, dass der Front National in den EU-Wahlen sich als stärkste Partei in Frankreich durchsetzen kann oder daran, dass in diesen Wahlen selbst im reichen und stabilen Dänemark die rechtspopulistische Dansk Folkeparti mit 26,6 Prozent stärkste Kraft wird.15 Die politischen Parteien selbst reduzieren ihre Programme auf Personen und Parolen, um gegenüber einer unüberschaubaren Kontingenz wieder klar umrissene Entscheidungsmöglichkeiten zu bieten. Von Entscheidungsfreiheit im Sinne einer überlegten und rationalen Auswahl aus verstandenen Optionen bleibt dann nicht viel übrig. Konzeptionell lässt sich diese Entwicklung darin spiegeln, dass auch in der Dimension der Entscheidungsfreiheit durch neue Formen von Komplexität und Kontingenz Entscheidungen entweder unmöglich oder beliebig werden und damit Entscheidungsfreiheit zur Fiktion verkümmert. Ein Übermaß an Kontingenz in einer hochdifferenzierten vernetzten Welt macht zunächst einmal Freiheit im klassischen Sinne unwahrscheinlich. Der Freiheitsdiskurs versteckt diese Einsicht immer noch erfolgreich hinter Rhetorik und Wunschdenken. In einem zweiten Schritt ist dann die Frage, welche Strategien dennoch einen Raum möglicher Freiheit absichern könnten. Operativ liegt auf der Hand, dass Entscheidungsfreiheit Entscheidungsfähigkeit voraussetzt, also für einen adäquaten Begriff von Freiheit mitbetrachtet werden muss, welche Mechanismen der Kontingenzkontrolle tatsächlich verfügbar sind, ohne heroische Annahmen über das Subjekt und ohne Trivialannahmen über die Welt zugrunde zu legen. Auch an dieser kritischen Stelle erweist sich, dass ein auf das Wollen, Entscheiden und Handeln des Individuums fokussierter Freiheitsbegriff nicht ausreicht. Er verweist hinsichtlich der Eingrenzungen von Freiheit nur auf konkrete Zwangsbedingungen, nicht aber auf eine Überwältigung der Person durch gesellschaftlich produzierte Komplexität und Kon14 | Siehe: www.europarl.europa.eu/elections2014-results/de/election-results-​ 2014.html; letzter Zugriff 26.10.2017. 15 | Ebd.

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tingenz. Diese beiden Faktoren lassen sich als Faktoren der neuen Gefährdungen von Freiheit nicht einfach abstellen. Vielmehr geht es darum, sie als Voraussetzungen moderner demokratischer Gesellschaften zu akzeptieren und dennoch Formen ihrer Beherrschung zu konstruieren, die dann Räume möglicher Freiheit öffnen. Solche Konstruktionen sind schwierig und prekär, weil hinter der Bedrohung durch Komplexität und Kontingenz der gemeinsame Faktor des Nichtwissens steht, und mithin das Management von Nichtwissen zum entscheidenden Instrument wird, Subversionen der Unfreiheit in Gang zu bringen, um über den Umweg einer doppelten Negation verbliebene Räume von Freiheit auszuloten. Die Expansion von Kontingenz beruht darauf, dass moderne Gesellschaften durch Differenzierung, Spezialisierung, Arbeitsteilung, Professionalisierung und Wissensbasierung aller Prozesse in einem Ausmaß Optionen erzeugen, welches Jeden, auch jeden Professionellen überfordert. Denn niemand kann Experte in allen Bereichen sein. Diese Gesellschaften haben sich und ihre Bürger damit in eine Konstellation nicht aufhebbaren Nichtwissens hinein manövriert. Nichtwissen folgt aus dem Auseinanderdriften spezialisierter Praxisfeldern mit je spezifischem Hintergrundwissen und kontextspezifischen Praxeologien.16 Freiheit hängt nun davon ab, ob und wie es gelingt, innerhalb einer Konstellation unvermeidbaren Nichtwissens trotz parzellierter Beurteilungs- und Entscheidungsfähigkeit zu einem modus vivendi eines geteilten, verknüpften und damit hinreichenden Wissens zu kommen. Genau an diesem Punkt erweist sich, dass Freiheit nicht mehr als Einheit gesehen und praktiziert werden kann, sondern nur partiell und dezentriert,17 nur innerhalb eines überschaubaren eigenen Praxisfeldes und eines eigenen Wissensbereichs, und nur im Rahmen eines weiten Umfeldes von Nichtwissen, welches aber für andere Praxeologien transparent ist. Während für die einzelne Person Nichtwissen dominant bleiben muss, gilt für den Zusammenhang der vielen dezentrierten Praxisfelder das Gegenteil: Gelingt ein Zusammenspiel und eine »Kreuzung sozialer Kreise«18 von Praxis, dann 16 | Andreas Reckwitz, »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282– 301. 17 | Ausführlich zum Konzept der Dezentrierung: Willke, Dezentrierte Demokratie. 18 | Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1958 (zuerst 1908), S. 456–511.

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hellt sich das Ganze von Gesellschaft auf, so wie ein komplexer Konzern zwar für jede einzelne Person eine Black Box bleibt, aber aus dem Zusammenspiel der Personen ein hinreichendes Wissen über die Organisation insgesamt entstehen kann. Das Grundmodell dazu hat F. v. Hayek in seiner Theorie des Nichtwissens geliefert: »the knowledge of the circumstances of which we must make use never exists in concentrated or integrated form, but solely as the dispersed bits of incomplete and frequently contradictory knowledge which all the separate individuals possess.«19 Und: »If man is not to do more harm than good in his efforts to improve the social order, he will have to learn that in this, as in all other fields where essential complexity of an organized kind prevails, he cannot acquire the full knowledge which would make mastery of the events possible.«20 Aus diesen Überlegungen lässt sich ein wichtiger Hinweis auf die Konstruktion komplexer Freiheit ableiten: Freiheit ist nur noch möglich als Zusammenspiel vieler verteilter Freiheiten. Die einzelne Freiheit als Freiheit des Einzelnen erweist sich als fragmentiert und partiell (weil sie in viele Bereiche mangels Wissen nicht hineinreichen kann, und damit Wollen und damit Willensfreiheit ausschließt) und gleichzeitig darüber hinaus als Beitrag oder Baustein einer übergreifenden emergenten Freiheit, wenn es gelingt, einen kombinatorischen Gewinn aus dem Zusammenwirken der vielen partiellen Freiheiten zu generieren. Freiheit ist fragmentiert und konditionalisiert. Sie lässt sich nicht mehr auf Individuen begrenzen, sondern verteilt sich auf das Zusammenspiel von Individuen einerseits und sozialen Organisationsformen andererseits, die in der Lage sind, funktionale und epistemische Differenzierungen wieder zusammen zu führen.21 So wie Marktsignale die parzellierten Wissensmomente der Marktteilnehmer zu einem Wissen über den Markt zusammenführen, so bildet der institutionelle Rahmen der Demokratie den verbindenden Hintergrund, auf dem die parzellierten Freiheitsmomente der Individuen sich zur Qualität einer freiheitlichen Gesellschaft zusammenfügen. 19 | Friedrich A. Hayek, »The Use of Knowledge in Society«, in: The American Economic Review XXXV (1945), S. 519–530, hier 519. 20 | Friedrich von Hayek, The Pretence of Knowledge. Nobel Laureate Lecture, 1974. Verfügbar unter: www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/ laureates/1974/hayek-lecture.html, letzter Zugriff 26.10.2017. 21 | Dazu aufschlussreich Mark Taylor, »Madness of Choice«, in: Capitalism and Society. The Berkeley Electronic Press 8 (2013), Artikel 3, hier S. 17–25.

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Auch für den klassischen Freiheitsbegriff gelten gesellschaftliche Bedingungen der Möglichkeit, vor allem die Überwindung der Despotien von Kirche und Absolutismus durch die Demokratie. Aber es geht um die Negierung von Zwang, indem etwas die Freiheit Behinderndes abgeschafft oder außer Kraft gesetzt wird. Bei fragmentierter und konditionalisierter Freiheit geht es dagegen darum, zusätzliche positive Leistungen/ Kompetenzen der Gesellschaft zu schaffen, welche die fragmentierten individuellen Freiheitsräume zu einer systemisch ermöglichten Freiheit zusammenführen. Dieses Zusammenführen kann unterschiedliche Formen annehmen. Wenn sich organisierte Komplexität gegenüber Freiheit vor allem als indirekte Manipulation durch anonyme Systemzwänge und als Intransparenz langer Handlungsketten und verschachtelter Kausalmuster auswirkt, dann stellt dies den Zusammenhang von Freiheit und Wissen, genauer: von Einschränkungen der Freiheit durch Nichtwissen in den Vordergrund. Der »pretence of knowledge« wird destruiert. Komplexitätsmanagement meint dann primär die Herausforderung, mit unvermeidbarem Nichtwissen intelligent umzugehen. Dies ist kein neues Problem. Mit Herbert Simons Idee der »begrenzten Rationalität«22 hat die Kategorie der Entscheidung unter Ungewissheit Eingang in die Managementtheorie gefunden. Allerdings hat sich die Lage durch eine Proliferation hyperkomplexer Systeme verschärft. Individuelle Strategien des Umgangs mit Nichtwissen reichen nicht mehr aus, sie müssen durch organisationale und sozietale Strukturarrangements und Prozessarchitekturen ergänzt werden. Der enge Zusammenhang zwischen Freiheit und Demokratie legt es nahe, mögliche Arrangements des Komplexitätsmanagements genau dort zu betrachten, wo Freiheit unmittelbar und gegenwärtig bedroht ist – nämlich als Konsequenz einer Bedrohung der Demokratie. Eine grundlegende Frage des Komplexitätsmanagements gegenwärtiger Demokratie ist: Wie kann es gelingen, die durch überbordende Komplexität erzeugte Intransparenz und das damit unvermeidbare Nichtwissen der Bürger über Themen, Probleme und Optionen so zu rekonfigurieren, dass die Inseln von Expertise im Meer des Nichtwissens sich zu einem emergenten Wissen verknüpfen, ganz so wie sich nach v. Hayek das nur sehr par22 | Herbert Simon, »Die Architektur der Komplexität«, in: Klaus Türk (Hg.), Handlungssysteme, Opladen 1978, S. 94–112. Herbert Simon, Reason in Human Affairs, Stanford 1983.

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tielle Wissen der Einzelnen im Markt durch Vernetzung zu einem hinreichenden Wissen der Marktteilnehmer über Angebote, Preise und deren Veränderung verdichtet.23 Der Einzelne hat keine Chance, hinreichendes Wissen über das Gesamtsystem zu erwerben. Aber Jeder hat die Möglichkeit, in seinem Erfahrungsraum, Praxisfeld oder Expertisebereich das verfügbare Wissen zu überblicken und zu relevanten Optionen ein wissensbasiertes Urteil zu bilden und so fundiert Entscheidungen zu treffen. Wenn sich Andere – Nichtwissende – auf diese Urteile und Entscheidungen verlassen können, und diese Andere für ihre Bereiche dasselbe leisten, dann können sich Expertisefelder hinreichend überlappen und zu einem hinreichenden Gesamtwissen verknüpfen, obwohl jeder Einzelne nicht über dieses Gesamtwissen verfügt. Das hier treffende Argument von Mark Warren lautet, dass die auf Expertise basierende Autorität für Laien (also für die Mehrheit der Bürger) keineswegs eine Aufgabe ihrer Urteilsfähigkeit bedeutet, sondern nur eine »begrenzte Suspendierung zugunsten eines Vertrauens (wenn erforderlich), welches durch einen Kontext möglicher öffentlicher Kritik ermöglicht ist«.24 Im Effekt ergibt sich eine Vernetzung »verteilter Intelligenz«25 zu dem Wissen, das insgesamt für das Management hyperkomplexer Systeme erforderlich ist.26 Konkret und aktuell ist die Entscheidungsfreiheit der Parlamente der demokratischen Gesellschaften massiv beeinträchtigt. Nicht nur, weil die meisten Vorlagen und Optionen nicht aus der Mitte der Parlamente sondern aus den Ministerien kommen, und weil die Parlamentarier in nahe23 | »Das Ganze verhält sich nicht deshalb wie ein einziger Markt, weil einer der Teilnehmenden das gesamte Feld überblicken würde, sondern weil die begrenzten individuellen Sichtfelder der Akteure sich hinreichend überschneiden, sodass, mit Hilfe vieler Zwischenhändler, die relevante Information allen kommuniziert wird.« Hayek, »The Use of Knowledge«, S. 519–530, hier S. 526. 24 | Mark Warren, »Deliberative Democracy and Authority«, in: American Political Science Review 90 (1996.), S. 46–60, hier S. 56. 25 | »Es gibt eine überwältigende Beweislast dafür, dass die Erforschung von Kreativität auf der grundlegenden Annahme beruhen sollte, dass die Leistungsfähigkeit eines einzelnen, nicht unterstützen Geistes massiv überschätzt wird.« Gerhard Fischer, »Creativity and Distributed Intelligence«, in: NSF Workshop Report Creativity Support Tools. Verfügbar unter: www.cs.umd.edu/hcil/CST, S. 1, letzter Zugriff 26.10.2017. 26 | Ausführlich dazu Willke, Dezentrierte Demokratie, S. 97–120.

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zu jeder Hinsicht von externer Expertise abhängig sind, die von einem ungeordneten Sammelsurium an Experten, Kommissionen, Beratungsfirmen, Lobbyisten, Think Tanks, Sachverständigenräten etc. irgendwie zur Verfügung gestellt werden – ohne Transparenz darüber, wer warum was vertritt.27 Die Entscheidungsfreiheit der Parlamente ist weitgehend fingiert, und je komplexer und globaler die Problemlagen sind, um die es geht, desto stärker prägt Nichtwissen den Prozess des Entscheidens.28 Will man nicht bei der bloßen Fiktion demokratischer Freiheit bleiben, dann scheint es unausweichlich zu sein, für die Parlamente Bedingungen zu schaffen, die Komplexität und Überlastung reduzieren und die Entscheidungsprozesse darauf fokussieren, was mit einem realistisch verfügbaren Wissenshintergrund der Parlamentarier behandelt werden kann. Dies bedeutet zugleich, dass schwierige und verwickelte Entscheidungskomplexe durch Delegation an Fachinstitutionen ausgelagert werden sollten, allerdings demokratisch legitimiert durch explizite Beauftragung und Aufsicht durch die Parlamente. Modelle dafür gibt es längst, vor allem in der Form von Zentralbanken, Verfassungsgerichten, Monopolkommissionen oder Regulierungsinstitutionen, die das Parlament bei schwierigen Fachthemen entlasten und insbesondere langfristige Probleme aus der kurzfristigen Logik der Parteienpolitik herausnehmen. Die Bedrohung der Freiheit der Parlamente wird korrigiert durch ein Zusammenspiel der vielen verteilten Freiheiten von allgemeinem Parlament und spezialisierten Fachinstitutionen, die deshalb tatsächlich Entscheidungsfreiheit realisieren können, weil sie über das hinreichende Wissen verfügen29 (wohlgemerkt: nicht über Wahrheit oder richtiges Wissen, sondern über hinreichendes Wissen). 27 | Dies gilt, jedenfalls für den Fall USA, nicht nur für die Inhalte der Politik, sondern sogar für die Wahlkampagnen selbst. Siehe Brendan Nyhan, Jacob M. Montgomery, »Connecting the Candidates: Consultant Networks and the Diffusion of Campaign Strategy in American Congressional Elections«, in: American Journal of Political Science 59 (2015), S. 292–308. 28 | Willke, Konfusion, S. 27–48. 29 | »Wissen verschiebt sich von einzelnen Köpfen hin zu einem kollektiven sozialen Produkt, dass nur unzureichend in jedem der einzelnen Köpfe repräsentiert wird.« Gerhard Fischer, »Distributed Intelligence: Extending the Power of the Unaided, Individual Human Mind«, in: University of Colorado, Center for LifeLong Learning and Design (L3D) (2006). Verfügbar unter: http://l3d.cs.colorado.edu/~ger​ hard/papers/avi-2006.pdf, hier S. 6, letzter Zugriff 14.11.2017.

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Mit der Kategorie der Fristigkeit von Entscheidungen kommt mit Zeitlichkeit ein Bestimmungsfaktor von Freiheit ins Spiel, der bislang in der Theorie so gut wie keine Rolle spielt. Dies war auch verständlich, solange der gesellschaftliche Zeithorizont primär in die Vergangenheit gerichtet war und gesellschaftliche Veränderungen eher schrittweise und kontinuierlich vor sich gingen, so dass aus vergangenen Erfahrungen extrapoliert werden konnte, was in einer überschaubaren Zukunft zu erwarten wäre. Wenn nun Zukunft zum bestimmenden Zeithorizont wird und Veränderungen diskontinuierlich und disruptiv sind, dann fallen Entscheidungen im Nebel des Nichtwissens, denn wir können nicht wissen, wie Entscheidungen sich in dynamischen und intransparenten Kontexten auswirken werden. Dies geht so weit, dass gerade politische Entscheidungen sich auf »Black-Swan-Ereignisse«30 einrichten müssten, was zugleich notwendig und unmöglich ist. Wenn als frei gedachte Entscheidungen (etwa von Parlamenten) zu katastrophalen und destruktiven Ergebnissen führen, was unter Bedingungen mangelnden Wissens oft der Fall ist, dann ist das Konzept von Freiheit mangelhaft. Es muss als Mangel eingeschätzt werden, dass die Folgenlastigkeit komplexer Dynamiken nicht berücksichtigt ist, und dass die zeitliche Dimension von Entscheidungen ausgeklammert bleibt. Erst ein Begriff komplexer Freiheit erlaubt es, über die zu einfache Triade von Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit und Handlungsfreiheit hinaus zu greifen, und mit Komplexität, Kontingenz und Zeitlichkeit weitere Dimensionen hinzuzufügen. Als vermittelnde Konzeption für Entscheidungsfreiheit zwischen (unzureichendem) Durchwursteln und (unmöglicher) Clairvoyance über zukünftige Entwicklungen bietet sich die Idee der Resilienz an. Im Kern meint Resilienz eine Problemlösungskompetenz auch angesichts überraschender und unbekannter Krisen. Sie kann sich auf der Basis reflektierter Erfahrungen im Krisenmanagement und Problemlösen herausbilden, wenn der Bildungsprozess sich von bloßer Extrapolation aus vergangenen Erfahrungen löst und generische Coping-Kompetenzen einschließt.31 Re30 | Nassim Taleb, The Black Swan: The Impact of the Highly Improbable, New York 2007. 31 | Jamais Cascio, »The Next Big Thing: Resilience«, in: Foreign Policy (2009). Verfügbar unter: http://foreignpolicy.com/2009/09/28/the-next-big-thing-resi​ lience, letzter Zugriff 26.10.2017. Gary Hamel, Liisa Välikangas, »The Quest for Resilience«, in: Harvard Business Review (2003), S. 52–63. Antonio Mutti, »The Resi-

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silienz erweitert die notwendige Zeitlichkeit in eine weitgehend unbekannte Zukunft und verweist auf eine neue Qualität des Lernens, das nun zum Bestandteil der Zeitabhängigkeit von Entscheidungen wird.32 Wenn die Zeitstruktur von Entscheidungen weniger von der Vergangenheit und stärker von Zukunft geprägt ist, dann sollte sich auch das implizierte Lernen von der Vergangenheit in die Zukunft verlagern. Das ist durchaus anspruchsvoll, wenn man bedenkt, dass alles bisherige Lernen, einschließlich des großen Lernprozesses der Evolution, ein Lernen aus vergangenen Erfahrungen ist. Lernen aus der Zukunft erscheint zunächst paradox und unmöglich, aber genau das ist gefordert.33 Dabei kann helfen, dass mit Strategiefähigkeit und etablierten Strategieprozessen reichhaltige Erfahrungen unterschiedlichster Systeme mit projektierten und intendierten Zukünften vorliegen und diese Erfahrungen auch für demokratisch-politische Entscheidungsprozesse genutzt werden könnten. Mit mangelnder Strategiefähigkeit ist eine kritische Schwäche der Demokratie als politische Steuerungsform benannt, die auch auf das Freiheitskonzept durchschlägt. Eine Konzeption von Freiheit, die statisch gedacht ist als eine nur situativ erforderliche Entscheidungsfreiheit, verkennt die eigentliche Herausforderung moderner Gesellschaften, die in einer Kombination von Entwicklungsdynamik und globaler Interdependenz liegt. Wenn Entscheidungen diesen Hintergrund nicht ausreichend berücksichtigen, weil sie ohne Hintergrundwissen und ohne Strategiekompetenz getroffen werden, dann verkümmern sie zu einer »Technologie der Torheit«, die James March für Organisationen als organisierte Anarchien beschrieben hat.34 Es mag zwar auch eine Entscheidungsfreiheit zu Torheit und Anarchie geben, aber im Kontext von Demokratie als lience of Systemic Trust«, in: Economic Sociology. European Electronic Newsletter 6 (2004), S. 13–19. Brian Walker u. a., »Resilience, Adaptability and Transformability in Social-ecological Systems«, in: Ecology and Society 9 (2004). Verfügbar unter: www.ecologyandsociety.org/vol9/iss2/art5/, letzter Zugriff 26.10.2017. 32 | Ausführlich dazu World Economic Forum, Resilience Insights. Global Agenda Council on Risk & Resilience, Genf 2016. Siehe: www.weforum.org, letzter Zugriff 26.10.2017. 33 | Alexander Kaiser u. a., »Learning from an Envisioned Future: An Empirical Account«, in: The Electronic Journal of Knowledge Management 14 (2016), S. 18–30. 34 | James March (Hg.), Entscheidung und Organisation, Wiesbaden 1990, S. 282–295.

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gesellschaftlichem Steuerungsmodell, welches Freiheit insgesamt erst zum Tragen bringt, wären dann die Kosten von Politikversagen und Unregierbarkeit gegenzurechnen – und wohl nicht akzeptabel.

4.1 Z ur A ntinomie von F reiheit und G leichheit Wenn Freiheit mit Platon definiert wird als die gleiche Freiheit aller, dann ist heute Freiheit unmöglich. Wenn Gleichheit ernst gemeint ist als substanzielle Gleichheit der Handlungsoptionen, dann ist in einer kapitalistischen Gesellschaft Gleichheit unmöglich. Im Extrem ergibt sich eine Antinomie oder negative Paradoxie des Zusammenspiels von Freiheit und Gleichheit: keine Freiheit wenn Gleichheit erreicht werden soll, und keine Gleichheit, wenn Freiheit das Ziel ist. Indem Willensfreiheit zumindest in säkularen Gesellschaften sich als Wissensfreiheit manifestiert, und Wissen extrem ungleich verteilt ist, kann es keine Gleichheit in der Freiheit geben. Dies ist aber nicht das Ende möglicher Freiheit, wenn eine nach Wissensgebieten differenzierte und verteilte Freiheit sich zu dem zusammenfügen lässt, was innerhalb der jeweiligen Praxisfelder eine gleichberechtigte Teilnahme Aller am Prozess der Meinungsbildung und Entscheidung ermöglicht. In Bereichen allgemeiner Lebenspraxis, in denen realistisch so etwas wie ein gesunder Menschenverstand existiert, bliebe es demnach bei einer Teilnahme Aller an demokratischen Entscheidungsprozessen. Alle Themen, bei denen Menschen durch ihre eigene Lebenspraxis Erfahrungen machen und eigene Vorstellungen entwickeln, gehören problemlos in den Bereich demokratischer Entscheidungen, in dem der Grundsatz »eine Person eine Stimme« gilt. Beispielhaft stehen dafür die weiten Felder grundsätzlicher Gestaltung von Familienformen, Formen der Schulbildung, der Ausbildung oder der Arbeits- und Wirtschaftswelt. Generell lässt sich sagen, dass alle Bürger unterschiedslos etwa zu ethischen Grundsatzfragen der Politik sprechfähig sind. Eine Differenzierung der Entscheidungskompetenzen ist nur dort demokratisch legitimierbar, wo hochrangig spezialisierte Expertise und Kompetenzen Voraussetzung für Entscheidungsfähigkeit sind. Ein erheblicher Vorteil dieser Konstruktion ist, dass die systematischen Verfälschungen sowohl der Meinungsbildung wie auch der Entscheidungen durch pervasives – unvermeidliches und normales –

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Nichtwissen vermieden werden35 und weder das scheinbare »Wunder der Aggregation« noch eine zauberhafte allgemeine »demokratische Vernunft« bemüht werden müssen, um eine Willensbildung unter Nichtwissenden zu begründen.36 John Rawls griff zu einem berühmten Kunstgriff, um im Spannungsfeld von Freiheit und Gleichheit zu Kriterien der Gerechtigkeit, genauer: Kriterien einer gerechten Gesellschaft, gelangen zu können. Er verbarg den Menschen, die über solche Kriterien entscheiden sollten, ihre eigene Situation, was ihren sozialen Status, ihre Merkmale, Fähigkeiten und Besonderheiten angeht, hinter einem Schleier der Ignoranz, so dass sie zu einer völlig neutralen und unvoreingenommenen und insofern gerechten Entscheidung kommen mussten, weil sie nicht wissen konnten, wo sie im Gefüge einer Gesellschaft positioniert sein würden. Der Schleier der Ignoranz, den Rawls als hilfreiche Fiktion gedacht hatte,37 ist inzwischen zu einem Labyrinth des Nichtwissens mutiert, in dem sich die meisten verirren und nur wenige noch einen Ariadnefaden in Händen halten. Zwar wissen Bürger in Wirklichkeit sehr wohl, wo sie im Gefüge ihrer Gesellschaft stehen, aber dieses Gefüge selbst ist so unübersichtlich geworden, dass sich ein Schleier der Ignoranz über alles legt. Unter diesen Bedingungen können Entscheidungen schwerlich angemessen sein, und die Optionen für Gerechtigkeit, etwa bezüglich der Balancen von Freiheit und Gleichheit, verlieren sich in den Weiten eines umfassenden Nichtwissens. Stellt man sich den Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit als eine Skala vor, an deren einem Ende reine Freiheit und an deren anderem Ende absolute Gleichheit stehen, dann springt ins Auge, dass seit der Französischen Revolution dieses Bild dazu diente, idealtypisch politische Steuerungsregime zu unterscheiden. Auf der einen Seite steht die sozialistisch/kommunistische Idee vollständiger Gleichheit, die in Kauf nimmt, dass darunter die Freiheit leidet; und auf der anderen Seite steht die libertäre Idee einer die Freiheit der Individuen maximierenden Marktgesellschaft, die in Kauf nimmt, dass darunter die Gleichheit leidet und soziale Ungleichheit zum prägenden Merkmal dieser Form von Gesellschaft wird. Beide Extreme sind nicht Theorie geblieben, sondern sind in unter35 | Bryan Caplan, The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Politics, Princeton, Oxford 2008. 36 | So aber Landemore, Democratic Reason, S. 145–184. 37 | John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1981, S. 16.

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schiedlichen Ausprägungen von Gesellschaftsentwürfen, sozialen Utopien oder Experimenten durchgespielt worden, und alle Extreme sind am Ende gescheitert. Radikale Gleichheit scheint dem menschlichen Bedürfnis nach Differenzierung zu widersprechen, so dass gerade auch sozialistische Systeme an massiver illegitimer Ungleichheit gescheitert sind, während radikale Freiheit die Kohärenz einer Gesellschaft zu zerstören scheint, die dann an den ungebremsten Egoismen ihrer Mitglieder scheitert. Jenseits der Extreme wogt seit jeher der Streit zwischen eher marktorientierten Demokratien, welche ein gewisses Übergewicht der Freiheit über die Gleichheit akzeptieren, und eher gemeinwohlorientierten Demokratien, die Einschränkungen von Freiheitsräumen zugunsten größerer Gleichheit favorisieren. Diese »Varianten der Demokratie« sind eng gekoppelt an unterschiedliche Ausprägungen ihrer kapitalistischen Wirtschaftsordnungen, die als »Varianten des Kapitalismus« einige wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden haben.38 In der Perspektive einer Konzeption komplexer Freiheit könnte es nun aufschlussreich sein, für die beiden Hauptvarianten der Demokratie die jeweiligen Kalküle der Freiheit und deren Relationen zur Gleichheit aufzuspüren, um so ein genaueres Bild möglicher/unwahrscheinlicher Freiheit zu gewinnen. Für die USA als Hauptvertreter einer marktorientierten, eher staatsfernen Demokratie hat gewissermaßen von Anfang an Alex de Tocqueville die Thematik eines schwierigen und widersprüchlichen Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit vorgegeben. Entgegen seiner Herkunft und Neigung als Aristokrat nahm er die Entwicklung zur Demokratie als naturgegebenes Schicksal hin und kümmerte sich primär um die Frage, wie eine Fehlentwicklung der Demokratie zur Despotie vermieden werden könnte, wenn die Menschen aufgrund ihrer Präferenzen für Wohlstand und Sicherheit den für die Demokratie konstitutiven Wert der Freiheit ge38 | Peter Hall, David Soskice, Varieties of Capitalism, New York 2011. Wolfgang Streeck, »E Pluribus Unum? Varieties and Commonalities of Capitalism«, in: MPIfG Discussion Paper 12 (2010). Verfügbar unter: www.mpifg.de/pu/discpapers_ de.php, letzter Zugriff 26.10.2017. In einem weltweiten »Varianten der Demokratie«-Projekt unterscheiden die Autoren sieben Typen der Demokratie: electoral, liberal, majoritarian, consensual, participatory, deliberative und egalitarian. Siehe V-Dem Institute, »Global Standards, Local Knowledge: The Varieties of Democracy«, in: Varieties of Democracy Institute, Department of Political Science, University of Gothenburg, Sweden (2012).

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ringer schätzen und im Konfliktfall bereit sind, auf Freiheit zu verzichten. Sein Amerikabild selbst war aber primär durch den Schock der Gleichheit bestimmt. Auf der einen Seite feierte er Gleichheit als Errungenschaft der Abschaffung feudaler Privilegien, auf der anderen Seite aber flößte ihm die Vorstellung einer Masse gleicher und geradezu uniformer Menschen einen gehörigen Schrecken ein.39 Dieser Ausgangspunkt der Debatte ist umso erstaunlicher, als sich heute ein dazu konträres Bild bietet: Das politische System der USA ist einseitig dem Wert der Freiheit verpflichtet und nimmt dafür ein erhebliches Ausmaß an Ungleichheit in Kauf. Der Primat der Freiheit soll an zwei unterschiedlichen Beispielen illustriert werden. Für die konstruktive Funktion eines Vorranges der Freiheit gegenüber der regulativen und normierenden Rolle des Staates können die amerikanischen Heldenfiguren des Unternehmers und des Innovators herhalten. Die besondere Wertschätzung dieser Figuren drückt sich nicht nur im sozialen Prestige aus, sondern vor allem darin, dass der Staat den Aktivitäten dieser Figuren möglichst wenig regulative Hindernisse in den Weg stellt, und stattdessen davon ausgeht, dass es die Marktmechanismen sind – insbesondere die Konkurrenz und die regulative Funktion der Nachfrage –, welche die notwendige Steuerung des Gesamtprozesses übernehmen. Das Resultat ist eine durchaus beeindruckende wirtschaftliche und technologisch-innovative Dynamik, die dazu führt, dass amerikanische Konzerne in vielen Bereichen, vor allem aber in den zukunftsorientierten digitalen Technologien weltweit führend sind. Die Waffengesetzgebung der USA ist das Gegenbeispiel einer destruktiven Funktion des Vorranges der Freiheit. Rund dreiunddreißigtausend Tote sind in den USA jährlich durch Waffenmissbrauch zu beklagen,40 und darüber hinaus ist empirisch erwiesen, dass Waffenbesitz zu erhöhten Raten an Morden führt.41 Die Freiheit des Waffentragens wird direkt 39 | Alex Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit. Klassiker der Politik, Band 4. hg. von Otto von der Gablentz, Köln 1967. 40 | Siehe https://de.statista.com/infografik/3143/anzahl-der-durch-schuss​ waffen-und-durch-motorisierte-fahrzeuge-verstorbenen-personen-in-den-usa/, letzter Zugriff 26.10.2017 [LINK BROKEN]. 41 | Michael Siegel u. a., »The Relationship Between Gun Ownership and Firearm Homicide Rates in the United States, 1981–2010«, in: American Journal of Public Health 103 (2013), S. 2098–2105.

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aus der Verfassung abgeleitet, da der zweite Verfassungszusatz dem Einzelnen das Recht gewährt, Waffen zu tragen. Dieser Zusatz stammt aus dem Jahr 1791 und betrifft eigentlich eine »gut organisierte Miliz« (»a well regulated Militia«).42 Dennoch wäre es natürlich möglich, durch einfache Gesetze die Bedingungen und Beschränkungen für Waffenkauf, die Kriterien für zulässige Typen von Waffen und die Formen des Tragens zu definieren. Dass dies bislang trotz Tausender einzelner Waffengesetze nur höchst unzureichend geschieht, ist nicht nur auf den massiven Einfluss der NRA (National Rifle Association) zurückzuführen, sondern im Kern auf ein Verständnis von Freiheit, das andere Werte, einschließlich des Wertes von Menschenleben, die dieser Freiheit zum Opfer fallen, als nachrangig ansieht. Tatsächlich treibt die Ideologie der Waffenfreiheit groteske Blüten. So versuchte der Gouverneur von West Virginia, Earl Ray Tomblin, vergeblich ein Gesetz per Veto zu verhindern, welches Personen über einundzwanzig Jahren erlaubt, ohne Waffenschein Waffen verdeckt zu tragen. Der republikanische Senator Craig Blair sagte zur Tatsache, dass das Gesetz trotz Veto in beiden Kammern West Virginias zustande kam: »Ich höre, dass die Freiheit an der Tür West Virginias anklopft.«43 Man fragt sich, was passieren wird, wenn diese Tür zur Freiheit dann aufgeht. Die komplementäre Seite eines Vorranges der Freiheit ist im Fall der USA eine hohe Toleranz für Ungleichheit. Der Gini-Index von 41 Prozent ist im Vergleich zu Frankreich (etwa 35 Prozent) oder Deutschland (etwa 31 Prozent) zwar deutlich höher, aber nicht extrem.44 Dennoch verschiebt sich, wie Thomas Piketty in einer Aufsehen erregenden Studie dargelegt hat, in einer langfristigen Perspektive der Wohlstand in Richtung derjenigen, die bereits über Vermögen verfügen und nicht vom Ertrag ihrer beruflichen Arbeit abhängen, was seiner Ansicht nach zu einem »patri42 | Ausführlich dazu Kenneth A. Klukowski, »Making Second Amendment Law with First Amendment Rules: The Five-Tier Free Speech Framework and Public Forum Doctrine in Second Amendment Jurisprudence«, in: Nebraska Law Review 93 (2014), S. 429–494, mit Überlegungen zur Differenzierung der Waffentypen und zum Verhältnis von Verfassungszusatz eins und zwei. 43 | »I can hear freedom knocking at the doors in West Virginia«. Verfügbar unter: www.thetrace.org/2016/03/permitless-carry-states-west-virginia/, letzter Zugriff 07.11.2016. 44 | Siehe: http://databank.worldbank.org/data/reports.aspx?source=2&series=​ SI.POV.GINI&country=UMC, letzter Zugriff 07.11.2016.

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monialen Kapitalismus« führt.45 In den Jahren bis zur globalen Finanzkrise – und inzwischen wieder – ist krasse Ungleichheit vor allem an den exorbitanten Gehältern und Boni im Banken- und Finanzsystem zu beobachten.46 Selbst Fälle von Fonds-Managern, die Hunderte von Millionen Dollar pro Jahr verdienen, führen in den USA nicht zu einem Aufschrei, geschweige denn zur Revolution, sondern sie schaffen im Gegenteil Helden, denen es nachzueifern gilt, und die einen Milliardär wie Donald Trump selbst für die Verlierer des Systems wählbar machen. Als Vertreter einer eher sozialstaatlich orientierten Demokratie ließen sich Frankreich oder Deutschland nennen. Kennzeichnend ist für das kontinentaleuropäische Modell im Gegensatz zu den USA ein stärkeres Gewicht der Gleichheit gegenüber der Freiheit. Die Ursprünge für Deutschland liegen in der Bismarckschen Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre, deren Kern eine Invaliditäts- und Alterssicherung der Arbeiter war, zu der später eine obligatorische Krankenversicherung hinzukam. Die Unterschiedlichkeit der Systeme wird deutlich, wenn man sieht, dass die USA bis 2010 gebraucht haben, um ein allgemeines Krankenversicherungsgesetz (Patient Protection and Affordable Care Act) zu erlassen. Selbst dieses späte Gesetz, das für rund fünfundvierzig Millionen US-Bürger zum ersten Mal einen Krankenversicherungsschutz bedeutet, konnte von Obama nur gegen heftigen Widerstand der Republikaner durchgesetzt werden, und ist nach wie vor umstritten. Auch wenn die Unterschiede zwischen den USA und Kontinentaleuropa oft übertrieben werden, und die USA seit dem »New Deal« durchaus bis heute eine Sozialgesetzgebung haben, sind die Leitideen für die Funktion von Politik doch sehr verschieden. Luhmann hat diese Leitidee als Kontingenzformel der Politik bezeichnet.47 Die Kontingenzformel für die USA ist Freiheit, diejenige für Deutschland (oder Frankreich) dagegen Gemeinwohl. Dies bedeutet, dass das politische 45 | Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2016, S. 313–314: »Wir werden darüber hinaus feststellen, dass die Ungleichheiten seit den 1970er Jahren wieder sprunghaft zugenommen haben – dies freilich mit erheblichen Abweichungen zwischen einzelnen Ländern, was einmal mehr auf die zentrale Rolle der institutionellen und politischen Differenzen hinweist.« 46 | Details hierzu bei Simon Johnson, »The Quiet Coup«, in: The Atlantic Magazine (2009). Verfügbar unter www.theatlantic.com/magazine/archive/2009/05/ the-quiet-coup/307364/, letzter Zugriff 07.11.2016. 47 | Luhmann, Politik der Gesellschaft, S. 120–126.

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System der USA das Gemeinwohl der Freiheit unterordnet, wie etwa die Waffengesetzgebung deutlich zeigt, während viele kontinentaleuropäische Staaten umgekehrt bereit sind, zugunsten des Gemeinwohls auf Momente möglicher Freiheit zu verzichten. Im Grunde setzt sich hier die sozialphilosophische Differenz zwischen Hobbes und Rousseau in die Gegenwart fort. Wo Hobbes das frei sich entscheidende Individuum feiert und den Staat primär als Garant einer friedlichen Koexistenz dieser Individuen verpflichtet, da weist Rousseau dem Staat die Aufgabe zu, »die sozialökonomischen und moralischen Bedingungen einer Existenz durch entsprechende wirtschaftspolitische (vgl. Korsika) und pädagogische (vgl. die Betrachtungen zur Regierung Polens) Maßnahmen aufrechtzuerhalten.«48 Für Deutschland (und andere kontinentaleuropäische Länder) hängt der Unterschied auch damit zusammen, dass es eine lange Tradition sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien gibt, die immer wieder auch Regierungsverantwortung übernommen haben. Hinzu kommt die Rolle starker, organisierter Gewerkschaften, Betriebsräte und Personalvertretungen, die dezidiert Strategien und politische Programme unterstützen, welche von einer Präferenz für Gleichheit geprägt sind. Wie exotisch sich eine derartige Präferenz für die USA ausnehmen muss, lässt sich an der eher skurrilen Rolle von Bernie Sanders im Vorwahlkampf 2016 ablesen. Jedermann wusste, dass Sanders mit einem sozialistisch klingenden Programm keinerlei Chancen hatte, den Präsidentschaftskandidaten für die Demokraten abzugeben, und gerade diese aussichtslose Position machte ihn als Außenseiter kontrafaktisch interessant und zum Kristallisationspunkt für viele junge Menschen und Protestwähler. Dem gegenüber stellen im gleichen Jahr in Frankreich oder in Portugal sozialistische Parteien die Regierung – und niemand findet dies skurril oder exotisch. Unterschiedliche Traditionen und historische Pfadabhängigkeiten führen demnach zu unterschiedlichen Gewichtungen in der Balance von Freiheit und Gleichheit, und dies führt in der Praxis der politischen Steuerung zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen.49 48 | Iring Fetscher, Einleitung zu Thomas Hobbes: Leviathan, Frankfurt a. M. 1984, S. XXVIII-XXIX. Siehe auch Geneviève Rousselière, »Rousseau on Freedom in Commercial Society«, in: American Journal of Political Science 60 (2016), S. 352–363, zur Privilegierung der Wenigen in der Wirtschaftsgesellschaft. 49 | »Dem korrespondiert, dass seit den neunziger Jahren, also seit der Wiedervereinigung, die Wertschätzung der Freiheit − insbesondere der individuellen Frei-

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Dennoch gilt weltweit, auch für Europa, dass Ungleichheit sich zu einem beherrschenden Problemhintergrund verdichtet hat und eine ganze Phalanx von globalen Problemen – von Bürgerkriegen über Migration bis zu Unterentwicklung, Korruption und Populismus – auslöst oder antreibt. Eine Freiheitstheorie muss sich mit der Ungleichheit der Einkommensverteilung beschäftigen,50 weil wirtschaftliche Ungleichheit zwar nicht zwingend, aber im Regelfall zu einer Kaskade sozialer Benachteiligungen führt, die am Ende bedeutet, dass der Freiheitsraum einer disprivilegierten Person sukzessive eingeschränkt und die Ungerechtigkeit der Verteilung zu einer generellen Bedrohung der Freiheit wird. Die Zunahme der Ungleichheit ist besorgniserregend – auch in Deutschland. Sie berührt elementare Fragen der Gerechtigkeit. Außerdem gefährdet die Zunahme an Ungleichheit das Wirtschaftswachstum. Man kann es an dem derzeitigen schwachen Wachstum der Weltwirtschaft sehen, das auch eine ihrer Folgen ist. Ein Faktum, das bereits dem IWF vor einiger Zeit aufgefallen ist. Und eines ist klar: In Zeiten mit schwachem Wachstum wächst auch die Ungleichheit. 51

Mit den Werken von Piketty und Atkinson hat die ökonomische Analyse der Ungleichheit von Vermögen und Einkommen nach langer Vernachlässigung eine bemerkenswerte Renaissance erlebt. Vor allem Atkinson wendet sich explizit der Frage zu, wie Ungleichheit verringert werden könnte.52 Aber auch Piketty widmet den gesamten vierten Teil seiner Arbeit der Frage »der Regulierung des Kapitals im 21.  Jahrhundert«.53 Beide Autoren ziehen aus ihren ökonomischen Analysen politische Konsequenzen. Sie sehen zurecht, dass eine Verringerung der Ungleichheit heit − kontinuierlich zurückgegangen ist, wie Untersuchungen gezeigt haben. Den Deutschen ist bis heute soziale Sicherheit und Gleichheit wichtiger als Freiheit.« Ackermann, »Zukunft der Freiheit«, S. 456. 50 | Noch bedeutsamer ist Ungleichheit für die Demokratietheorie. Denn auf der einen Seite steht die mangelnde oder beschränkte politische Beteiligung der »Armen« und auf der anderen der übermäßige politische Einfluss der Superreichen. 51 | Anthony Atkinson, »Völlige Ungleichheit ist eine Utopie«, in: Kölner Stadt-Anzeiger (27./28. August 2016), S. 12. 52 | Ders., Ungleichheit. Was wir dagegen tun können. Aus dem Englischen von Hainer Kober, Stuttgart 2016. 53 | Piketty, Kapital, S. 627–784.

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nicht der Ökonomie überlassen werden kann, sondern ein steuerndes Eingreifen der Politik erfordert. Beide Autoren verzichten auf eine romantisierende Kritik des Kapitalismus und betonen stattdessen die konstitutive Bedeutung eines Primats der Politik für die Gestaltung der Form der Ökonomie. Damit begeben sie sich als Ökonomen allerdings auf ungesichertes Terrain und brillieren mit Vorschlägen, die aus politologischer und politikpraktischer Sicht nicht gerade überzeugend ausfallen. Zwar bezeichnet Piketty seinen Hauptvorschlag einer globalen Kapitalsteuer als »nützliche Utopie«,54 doch er meint seine Utopie ernst und verkennt dabei weitgehend die fundamentalen Schwierigkeiten und Hindernisse einer Realisierung. Wenn sich nicht einmal die Mitglieder der EU, trotz eines positiven Vorschlags des zuständigen Kommissars, auf eine Transaktionssteuer einigen können, dann ist eine globale Kapitalsteuer keine Utopie, sondern Illusion. Noch realitätsferner sind die Ideen Atkinsons, der 15 Reformvorschläge unterbreitet, unter anderem einen staatlich garantierter Arbeitsplatz für jeden Bürger, eine individuelle Erbschaft bei Eintritt ins Erwachsenenleben und ein Grundeinkommen für alle gesellschaftlich engagierten Menschen.55 Die zur Begründung seiner Reformen herangezogene politische Arithmetik bezieht sich bezeichnenderweise nur auf die haushaltstechnische Machbarkeit (Finanzierbarkeit) seiner Vorschläge, also die Auswirkungen auf den öffentlichen Haushalt. Dies ist bezüglich des politischen Entscheidungsprozesses stark unterkomplex. Die Begründung verkennt, dass es in allen Demokratien der Minderheit der Bessergestellten seit langem verlässlich gelingt, die Mehrheit der Disprivilegierten ruhig zu stellen und sie davon abzuhalten, sie »über den Tisch zu ziehen«.56 Denn nicht nur Einkommen und Vermögen sind ungleich verteilt, sondern deutlicher noch politischer Einfluss und gesellschaftliche Relevanz. So sinnvoll die Reformvorschläge im Einzelnen sein mögen, so unrealistisch ist zu erwarten, dass sie sich in den gegebenen Demokratien durchsetzen lassen. Großbritannien selbst, welches Atkinson als 54 | Ebd., S. 698. 55 | Atkinson, Ungleichheit, S. 388–398. Klugerweise befasst sich Atkinson (in Kapitel 10) auch gleich mit den zu erwartenden Gegenargumenten. 56 | »Why Don’t the Poor Soak the Rich?« Torben Iversen, »Capitalism and Democracy«, in: Bernie Weingast, Donald Wittman (Hg.), Oxford Handbook of Political Economy, Oxford 2006, S. 599–623, hier S. 601.

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exemplarisch behandelt, hat mit seiner Brexit-Entscheidung belegt, wie wenig politische Entscheidungen darauf ausgerichtet sind, der Mehrheit Vorteile zu bringen oder Ungleichheiten zu verringern. Wichtiger als ökonomische Maßnahmen gegen eine Vertiefung der Ungleichheit sind demnach politische Strategien mit dem Ziel, zu verhindern, dass Reichtum und ökonomische Dominanz in politischen Einfluss konvertiert werden können. Dass eine kapitalistisch organisierte Ökonomie Ungleichheit produziert, ist unvermeidbar – auch wenn das Ausmaß der Ungleichheit beeinflussbar ist. Zurecht sieht daher auch Atkinson völlige Gleichheit als reine Utopie an. Vermeidbar ist dagegen ein Durchbrechen der Grenzen zwischen Ökonomie und Politik; und politisch steuerbar sind Ausmaß und Formen, in welchen wirtschaftliche Ressourcen zu Möglichkeiten des politischen Einflusses führen. Wenn es gelänge, die »Vermögensverteidigungsindustrie« zu bändigen und zurückzudrängen, dann stünden die Chancen erheblich besser, dass über reguläre demokratische Verfahren tatsächlich Mehrheiten die Rolle übernehmen, die ihnen bislang höher gewichtete und einflussreichere Minderheiten verwehren. Dies betrifft beispielhaft die Steuergesetzgebung. Insofern ist es kein Zufall, dass sowohl Piketty (mit der Idee der globalen Einkommenssteuer) wie auch Atkinson mit einer Vielzahl von Vorschlägen darauf zielen, das Steuersystem gerechter und tatsächlich progressiv zu machen.57 Der allgemeinere Grund dafür, dass die Reformvorschläge sowohl von Piketty wie auch von Atkinson wenig überzeugend sind, ist nach meiner Argumentation darin zu sehen, dass beide Ungleichheit isoliert behandeln und vernachlässigen, dass Demokratien nicht auf Gleichheit zielen, sondern auf eine Balance zwischen verschiedenen konkurrierenden Werten, vor allem zwischen Freiheit und Gleichheit. Alle Vorschläge zur Verringerung von Ungleichheit müssen auf ihre Konsequenzen für den konkurrierenden Wert der Freiheit geprüft werden, sowie auch – wie im Weiteren zu zeigen ist – auf vergleichbar grundlegende Werte wie Sozialität, Sicherheit oder Toleranz. Genau diese Zusammenhänge machen politische Entscheidungsprozesse in der Praxis schwierig, denn jede Entscheidung für etwas (z. B. für Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit) bedeutet, dass zugleich gegen vieles andere entschieden und ein kunstvoll arrangiertes Mobile zusammenhängender Werte in Bewegung gebracht wird. Dadurch werden Positionen und Interessen berührt, 57 | Atkinson, Ungleichheit, S. 231–263.

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die sich dann in den politischen Prozess einschalten und diesen zu einem vielschichtigen und komplizierten Verfahren der Interessenaggregation und der Kompromissbildung machen.

4.2 Z ur A ntinomie von F reiheit und S ozialität Sowohl die Gründungsväter der amerikanischen Demokratie wie auch die Philosophen der Französischen Revolution sahen, dass eine auf gleiche Teilhabe aller am demokratischen Prozess (nach dem Prinzip »eine Person eine Stimme«) gegründete Form der Politik eine Gefahr mit sich bringt: die Möglichkeit einer Tyrannei der Mehrheit.58 Die Autoren der »Federalist Papers«,59 insbesondere aber Alexander Hamilton, wandten sich daher gegen eine »reine Demokratie« und argumentierten für einen starken Minderheitenschutz, der im Zweifel gegen die Mehrheitsentscheidung die Freiheit der Minderheit respektierte. Die Französische Revolution brachte ein anderes Moment ins Spiel – Brüderlichkeit als Kategorie der Solidarität und Empathie, welche die Härten der Auswirkungen von Freiheit zugunsten einer gleichen Freiheit aller abmildern und vermitteln sollte.60 Bemerkenswert ist, dass Freiheit und Gleichheit Rechte bezeichnen, während Brüderlichkeit eine Pflicht benennt. Es ist die Pflicht, die Rechte aus Freiheit und Gleichheit nicht zu einer Tyrannei der Freiheit oder einer Tyrannei der Gleichheit zu pervertieren, indem über diesen Rechten der Anspruch steht, dass ein Leben in solidarischer Gemeinschaft möglich bleiben muss. Konsequenterweise machte beispielsweise das Godesberger Programm der SPD aus Brüderlichkeit Solidarität. Allerdings sind sowohl Brüderlichkeit wie auch Solidarität Begriffe aus einer vormodernen Zeit, die heute nur noch in Primärgruppen wie 58 | Die auch John Stuart Mill als Gefahr der Demokratie ansah: John Stuart Mill, On Liberty, Kitchener, Ont. 2001 (zuerst 1859), S. 8. So auch Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987 (zuerst 1835), S. 383–403. 59 | Barbara Zehnpfennig (Hg.), Hamilton, Alexander; Madison, James; Jay, John: Die Federalist Papers. Vollständige Ausgabe, München 2007. 60 | Ausführlich zur Begriffsgeschichte Claudia Fraas, »Karrieren geschichtlicher Grundbegriffe – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, in: Gudrun Loster-Schneider (Hg.), Revolution 1848/49. Ereignis – Rekonstruktion – Diskurs, St. Ingbert 1999, S. 13–39.

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Familien oder Freundeskreise angemessen sind. In modernen Flächenstaaten zerreißen mit dem Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft die Bande von Brüderlichkeit oder Solidarität. An ihre Stelle rückt Sozialität, definiert als Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft. Inhaltlich allerdings geht es nach wie vor um das von der Französischen Revolution definierte Problem: Wie lassen sich die gesellschaftlich destruktiven Extreme von Freiheit und Gleichheit durch Sozialität moderieren und in die Form einer ausgeglichenen Triangulierung bringen? Sozialität, verstanden als Gesellschaftsverträglichkeit von Strategien der Freiheit und Programmen der Gleichheit, verlangt, dass die Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Gesellschaft den Grenzwert darstellen, innerhalb dessen die individualistisch gedachten Kategorien von Freiheit und Gleichheit realisiert werden können, ohne sich selbst ad absurdum zu führen. Dahinter steht die Einsicht, dass sowohl Freiheit wie Gleichheit sich in eine Tyrannei der Mehrheit oder eine Tyrannei der Jakobiner entwickeln können, wenn sie rücksichtslos durchgesetzt werden und ihre Mäßigung durch komplementäre Werte misslingt. Aber auch weniger dramatische Formen der einseitigen Maximierung einzelner Werte unterhalb der Schwelle der Tyrannei können Gesellschaften destabilisieren. Starke Ausprägungen sozialer Ungleichheit durch ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilungen verletzen Prinzipien der Demokratie, wie im vorigen Abschnitt ausgeführt, und können den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Grundkonsens gefährden. Komplementär dazu läuft ein überzogener Wohlfahrtsstaat unter dem Banner größtmöglicher Gleichheit Gefahr, die für eine dynamische Gesellschaft notwendigen Freiräume zu ersticken. Gegenüber der relativ geradlinigen klassischen Problematik des Verhältnisses von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist die Lage heute verwickelter, weil es erheblich schwieriger geworden ist, Sozialität als Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft zu bestimmen. Welche Ausprägungen von Freiheit und Gleichheit gesellschaftsadäquat sind, ist umso weniger auszumachen, je heterogener, dynamischer und komplexer die jeweilige Gesellschaft selbst sich darstellt. Unterhalb der Ebene des Gesamtsystems Gesellschaft sind es die Organisationen einer Organisationsgesellschaft,61 61 | Charles Perrow, »Eine Gesellschaft von Organisationen«, in: Journal für Sozialforschung 28 (1989), S. 3–19. Uwe Schimank, »Organisationsgesellschaft«, in: Georg Kneer u. a. (Hg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, München 2001, S. 278–307.

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welche Freiheit systematisch beschränken, und es sind die ausdifferenzierten Funktionssysteme, die Gleichheit systematisch untergraben. Die Rolle von Organisationen für die Bestimmung von Reichweite und Grenzen möglicher Freiheit lässt sich kaum überschätzen. So ubiquitär Organisationen im Leben moderner Menschen sind, so vielfältig sind deren Einwirkungen auf die Freiheit. Da Organisationen weder ignoriert noch abgeschafft werden können, sind ihre Kosten für individuelle Freiheit mit ihren gesellschaftlichen Nutzen in ein akzeptables Verhältnis zu bringen. Der Wert der Sozialität bedeutet dann, dass die Funktionsbedingungen gegenwärtiger moderner Gesellschaften – wozu konstitutiv Organisationen und funktionale Differenzierung gehören – die konkurrierenden Werte von Freiheit und Gleichheit modulieren. So grundlegend Freiheit und Gleichheit für jede Demokratie sind, so klar ist auf der anderen Seite, dass Demokratie nicht Selbstzweck ist, sondern dem Zweck einer wohlgeordneten Gesellschaft dient. Wenn dazu zwingend Organisationen und Funktionssysteme gehören, dann sind die Begrenzungen, die daraus für Freiheit und Gleichheit folgen, wohl begründet und müssen nicht als Versagen der Demokratie gewertet werden. Am deutlichsten tritt das organisationale Dilemma der Freiheit im Verhältnis zu kapitalistisch operierenden Wirtschaftsorganisationen hervor.62 Diesem Dilemma sind alle unterworfen, die in solchen Unternehmen arbeiten. Sie unterwerfen sich freiwillig einem Regime der Fremdsteuerung, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Bereits hier geht es also um einen Verzicht auf Selbstbestimmung im Tausch für andere relevante Güter: einen Arbeitsplatz und Arbeitseinkommen. Bezieht man ein, dass Eltern sich den Regeln von Kindergärten und Schulen, Studierende sich den Regeln von Universitäten, Kranke den Regeln von Kliniken, Parteimitglieder sich den Regeln der Parteien, Gläubige sich den Regeln der Kirchen, Sportler sich den Regeln der Vereine freiwillig unterwerfen, weil sie die Leistungen der Organisationen in Anspruch nehmen wollen, dann wird deutlich, wie umfassend und massiv die Organisationsgesellschaft die Möglichkeiten von Freiheit moderiert und moduliert. Diese freiwillig eingegangen Zwangslage notiert auch Luhmann:

62 | Zur Unterschiedlichkeit der Logiken siehe Michael Sandel, What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets, New York 2013.

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Organisation ist, wie die Gesellschaft selbst und wie Interaktion auch, eine bestimmte Form des Umgangs mit doppelter Kontingenz. Jeder kann immer auch anders handeln und mag den Wünschen und Erwartungen entsprechen oder auch nicht – aber nicht als Mitglied einer Organisation. Hier hat er sich durch Eintritt gebunden und läuft Gefahr, die Mitgliedschaft zu verlieren, wenn er sich hartnäckig querlegt. 63

Es ist anzunehmen, dass die Zwangslagen für mögliche Freiheit prekärer und intransparenter werden, wenn Organisationen über ihre Unverzichtbarkeit für die Konstituierung moderner Gesellschaft hinaus die Dynamiken von Globalisierung, Digitalisierung und Virtualisierung für ihre Ziele nutzen und sich so noch stärker den regulierenden Eingriffen und Grenzsetzungen der nationalstaatlich organisierten Demokratien entziehen. Wenn ein Unternehmen wie Facebook (im Jahre 2015) rund 1,6 Milliarden Nutzer unter seinem Dach versammelt, dann folgen Probleme für die Freiheit der beteiligten Individuen nicht nur aus der Befolgung der Regeln der Organisation, sondern verstärkt daraus, wie die Firma die freiwillig oder auch verdeckt zur Verfügung gestellten Datenkomplexe nutzt, um Profit daraus zu ziehen. Heute schon bieten Versicherungsunternehmen Sondertarife an, wenn Autofahrer oder Fitnessaktive freiwillig Daten zur Verfügung stellen. Jede Nutzerin eines Smartphones lässt sich darauf ein, dass die Betreiberfirma einen ganzen Kranz von Daten sammelt und mehr oder weniger transparent nutzt. Werden diese Daten prophylaktisch in Formen der Vorratsdatenspeicherung dokumentiert, dann liegen Missbrauchsmöglichkeiten und Einschränkungen der digitalen Souveränität der Individuen auf der Hand. In vergleichbarer Weise wirkt die funktionale Differenzierung auf die Bedingungen der Möglichkeit von Gleichheit ein. Als prägendes Strukturmerkmal moderner Gesellschaften erzeugt funktionale Differenzierung in erster Linie nicht Gleichheit, sondern Unterschiede der Funktionslogiken, der Rationalitäten, Ressourcen und Relevanzen innerhalb der gesellschaftlichen Subsysteme. Sie bewirkt in der Folge, dass Menschen in den verschiedenen Funktionssystemen gänzlich unterschiedlichen handlungsleitenden Kriterien folgen. Die Unterschiede, die zu unterschiedlichen Ausprägungen von Freiheit und Gleichheit führen, sind für eine 63 | Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1997, S. 829 (Kursiv im Original).

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differenzierte Gesellschaft unvermeidlich. Sozialität, verstanden als integrierende Kraft eines sozietalen Zusammenhangs, verlangt daher Einschränkungen von Freiheit und Gleichheit im Interesse funktionierender Differenzierung und der daraus folgenden Steigerung einer Vielfalt gesellschaftlicher Leistungen. Nur das politische System der Demokratien setzt formal64 auf radikale Gleichheit  – »eine Person eine Stimme«  –, während alle anderen Funktionssysteme hierarchisch strukturiert sind und durch Unterschiede der Kompetenzen gekennzeichnet sind. Ein extremes Beispiel ist das System des Leistungssports. Es gründet auf der Logik unterschiedlicher Leistungen und gewinnt seine Rationalität und Dynamik aus einer Steigerung der Unterschiede. Dies bedeutet dann auch, dass eine Weltklassesportlerin in einer wenig telegenen Disziplin nichts verdient, während ein durchschnittlicher Bundesliga-Fußballspieler leicht über eine Million Euro oder ein herausragender NBA-Spieler wie Kobe Bryant oder LeBron James über dreißig Millionen Dollar pro Jahr als Grundgehalt bezieht. Auch andere Funktionssysteme wie Wirtschaft, Kunst, Finanzsystem, Erziehung, Wissenschaft oder Gesundheit operieren primär auf der Basis von Ungleichheit der Kompetenzen, Unterschiedlichkeit der Interessen und Differenzierung der Positionen und Rollen. Die Frage ist dann, wie die durchdringende Ungleichheit auf der Ebene der Funktionssysteme sich mit der demokratischen Forderung nach Gleichheit im politischen System verträgt. Und tatsächlich schwelt hier eines der Kernprobleme demokratischer Praxis. An der Wahlurne und im Augenblick des Wahlganges selbst gilt zwar das Prinzip »eine Person eine Stimme«, aber davor und danach gerät die heile Welt der Demokratie ins Wanken. So spricht Jeffrey Winters von einer »Oligarchie innerhalb der Demokratie« und er konstruiert einen materiellen Machtindex (»material power index«, MPI), der auf Vermögen und über Vermögen gekaufte Expertise und über Expertise gekauften Einfluss beruht. Nach diesem Index haben Personen am oberen Ende der Vermögenshierarchie einen MPIWert von zehntausend, also faktisch einen zehntausendfach größeren Einfluss auf die Politik als eine Normalbürgerin. In der Spitze klettert der

64 | Zur Realität oligarchischer Strukturen siehe ausführlich Piketty, Kapital, S. 576–604 und Jeffrey Winters, »Oligarchy and Democracy«, in: The American Interest 7 (2011), S. 18–27.

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Index sogar auf fünfzigtausend.65 Die Multiplizierung des Einflusses der Oligarchen ist gar nicht so geheimnisvoll: Sie beschäftigen beliebig viele Berater, Experten, Anwaltsfirmen und Forschungsinstitute, die mit ihrer Expertise – die vom gewöhnlichen Lobbying bis zu fertigen Gesetzesvorlagen und strategisch platzierten Gerichtsprozesskaskaden reicht – einen massiven Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess nehmen.66 Diese Art der Oligarchisierung ist offensichtlich vom Wert der Sozialität nicht gedeckt. Dass es auch in demokratischen Gesellschaften Machtunterschiede gibt, dürfte unvermeidlich und akzeptabel sein. Aber faktische Machtunterschiede in dieser Größenordnung sprengen den Rahmen einer wohlgeordneten Gesellschaft. Nicht nur Reichtum und Vermögen differenzieren politischen Einfluss und machen die idealtypische demokratische Gleichheit zur Chimäre. Auch Expertise und professionelle Kompetenzen sind sehr ungleich verteilt. Mit jedem weiteren Schritt in die Wissensgesellschaft hinein werden Expertise und Evidenz für politische Entscheidungen wichtiger.67 Die erforderliche Expertise kommt weniger aus dem politischen System selbst, obwohl dieses sich eine eigene Tiefenstruktur einer (ziemlich unregulierten und unkontrollierten) Politikberatung aufgebaut hat, sondern es kommt von den hochgradig verteilten Professionen und Fachgemeinschaften (»communities of practice«), die heute global aufgestellt und vernetzt sind. Ein Beispiel dafür ist im Problemfeld des Klimawandels der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). Im IPCC arbeiten Tausende von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf der ganzen Welt zusammen; es gibt eine Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle, die am Zentrum für Raum- und Luftfahrt (DLR) in Bonn angesiedelt ist. 65 | Ebd., S. 22–23. 66 | Ein Beispiel ist die strategische Verzögerung und Durchkreuzung des für die Finanzsystemreform zentralen Dodd-Frank-Act von 2010. Dazu John Coffee, »The Political Economy of Dodd-Frank: Why Financial Reform Tends to be Frustrated and Systemic Risk Perpetuated«, in: Cornell Law Review 97 (2012), S. 1019–1082. Anekdotisches zum Einfluss der Milliardäre auf die US-amerikanische Politik im Insider-Bericht von Michael Wolff: Feuer und Zorn. Im Weissen Haus von Donald Trump, Reinbek bei Hamburg 2018. 67 | »Wer Autorität in Anspruch nimmt, muß diese folglich auf Wissen gründen. Wissensfunktion und politische Funktion lassen sich letztlich nicht trennen.« Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft, S. 149.

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195 Länder sind Mitglieder des IPCC, deren Vertreter nehmen am Review Prozess und an den Plenarsitzungen teil. Die Verdichtung der Daten geschieht in einem Review-Prozess, der wissenschaftlichen Kriterien der Analyse und Bewertung unterliegt. Im Frühjahr 2014 wurde der 5. Bericht zum Weltklimawandel veröffentlicht. Da der IPCC allerdings keinerlei Entscheidungskompetenz hat, steht es im Belieben der Regierungen, die Berichte zu ignorieren. Selbst wenn es gelingt, wie auf der Weltklima-Konferenz von Paris vom November 2015, zu einem Konsens über notwendige Maßnahmen zu gelangen, ist noch keineswegs ausgemacht, dass sich die beteiligten Staaten und Regierung auch an die Abmachungen halten. Das IPCC widmet sich einer dringlichen und unabweisbaren Problematik, die ein globales und nationales Kollektivgut betrifft und deren adäquate Bearbeitung ein Höchstmaß an verfügbarer Expertise erfordert. Es arbeitet in einem interdisziplinären Feld, in dem unterschiedliche Paradigmen, Ansätze, wissenschaftliche Richtungen und Traditionen heftig miteinander konkurrieren. Gerade diese organisierte wissenschaftliche Auseinandersetzung ist die beste Gewähr dafür, dass in einem offenen Prozess diese insgesamt (zum jeweiligen Zeitpunkt) beste Expertise geschaffen wird. Dennoch ist klar, dass einzelne Wissenschaftler (weniger: Wissenschaftlerinnen) aufgrund ihrer Position und Erfahrung ungleich größere Einflussmöglichkeiten haben als andere, und dass auch in den Wissenschaften und Forschungseinrichtungen Hierarchien, Reputation und Prestige eine Rolle spielen, und so die formale Gleichheit der Forschenden nur auf dem Papier steht. Wenn in dem beschriebenen Sinne Organisationen für moderne Gesellschaften unabdingbar und funktionale Differenzierung als Strukturprinzip konstitutiv sind, dann sind ihre modulierenden Wirkungen auf Räume und Realitäten demokratischer Freiheit und Gleichheit nicht zu vermeiden. Die Existenz von Organisationen und von funktionaler Differenzierung ist damit Bedingung einer gesellschaftsadäquaten Interpretation der in diesem Rahmen möglichen Freiheit und Gleichheit. Eine entsprechende Grammatik der Freiheit verbindet sich zwingend mit konstitutiven Merkmalen der jeweiligen Gesellschaftsformation. Damit ist allerdings nicht eine direkte Abhängigkeit gemeint, sondern eine variable Interdependenz, in welcher die geltenden Konzeption von Freiheit Eigenschaften der Gesellschaft mitgestaltet, und umgekehrt. So erlaubt es in den USA ein eher fundamentalistischer Freiheitsbegriff, dass sich unterschiedliche Ressourcenkonstellationen insbesondere der extrem Vermö-

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genden auf Kosten einer materialen Demokratie austoben können, während beispielsweise in Deutschland oder Frankreich eine lange Tradition des Sozialstaates dafür sorgt, dass Momente von Freiheit zugunsten gesellschaftlicher Solidarität (Stichwort »Solidarbeitrag«) begrenzt werden können.

4.3 Z ur A ntinomie von F reiheit und S icherheit Die Französische Revolution hatte sich mit dem Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit begnügt, von Sicherheit war nicht die Rede. Das ist verständlich, weil noch vor jeder Demokratie Sicherheit als politisches Ziel gewissermaßen selbstverständlich und der ganze Sinn der Erfindung des Politischen bei Thomas Hobbes war: »Wie wir alle wissen, war für Thomas Hobbes Sicherheit der ganze Witz des politischen Unternehmens. Einen Souverän brauchen wir nur, um Sicherheit zu erlangen – Sicherheit untereinander und Sicherheit vor Fremden.«68 Heute aber, unter dem Eindruck eines globalen Terrorismus, einer globalen Cyber-Kriminalität und den Unwägbarkeiten politischer Extreme und religiöser Fundamentalismen, muss ein Konzept von Sicherheit erheblich erweitert und verfeinert werden. Im Anschluss an Waldron lassen sich vier Ausprägungen von Sicherheit unterscheiden: Zum einen die Dimension individuelle und kollektive Sicherheit69, zum anderen die Dimension »reine« Sicherheit (im Sinne von Sicherheit vor gewaltsamer Verletzung oder Tod) und »angereicherte« Sicherheit (im Sinne einer Einbeziehung von Elementen des Wohlergehens und einer bestimmten Qualität von sozialen Beziehungen).70 Durch eine Erweiterung der Analyse der Konzeption von Sicherheit in die Breite und in die Tiefe zielt Waldron auf einen komplexen Begriff von Sicherheit, der berücksichtigt, dass Sicherheit von gesellschaftlichen Kontexten und Konstellationen abhängt, die sehr unterschiedliche Wirkungen haben können. Im Ergebnis weitet er den 68 | Jeremy J. Waldron, »Safety and Security«, in: Nebraska Law Review 85 (2006), S. 454–507, hier S. 456. 69 | Ebd., S. 460. Diese Dimension behandelt Waldron als »Breite« der Konzeption von Sicherheit. 70 | Ebd., S. 461. Diese Dimension behandelt Waldron als »Tiefe« der Konzeption von Sicherheit.

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engen Begriff elementarer Sicherheit von Leib und Leben (»safety«) aus zu einem erweiterten Begriff der Absicherung (»security«), der auch die Lebensumstände in einer konkreten Form von Gesellschaft einschließt. Dementsprechend haben die vier möglichen Ausprägungen von Sicherheit auch unterschiedliche Konsequenzen für das Zusammenspiel und die Widersprüche von Freiheit und Sicherheit. Wenn komplexe Begriffe von Freiheit und Sicherheit aufeinander treffen, dann ist zunächst einmal klar, dass die verbreitete Null-Summen-Aussage »mehr Freiheit auf Kosten von weniger Sicherheit und mehr Sicherheit auf Kosten von weniger Freiheit« viel zu einfach und so nicht haltbar ist. Insbesondere kommt mit differenzierteren Begrifflichkeiten nun ins Spiel, dass sowohl Freiheit wie auch Sicherheit individuelle und kollektive Voraussetzungen haben, die zu nicht-trivialen Wechselwirkungen führen: Damit werden Verteilungsfragen und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit bezüglich beider Güter aufgeworfen. Noch grundsätzlicher führen Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit zu der Einsicht, dass ein Zustand elementarer Sicherheit, der auch Abwesenheit von Furcht und Angst vor Übergriffen auf Leib und Leben einschließt, die Voraussetzung dafür ist, dass Menschen »alle weiteren Rechte und Güter«,, die ihnen die Demokratie, die Verfassungen oder die Menschenrechte gewähren, überhaupt realisieren und genießen können71 – also auch Freiheit. In diesem elementaren Sinn ist Sicherheit sicherlich die Voraussetzung für mögliche Freiheit, und genau in diesem Sinne versteht Hobbes die Rolle des Souveräns als Garant für Sicherheit. Dennoch bedeutet dies nicht, dass Sicherheit immer absolute Priorität haben sollte, denn wenn alle Ressourcen und Aktivitäten auf Sicherheit konzentriert wären, bliebe nichts übrig für eine Praxis der Freiheit (oder für die Realisierung anderer Güter): »Wir müssen eine Balance finden zwischen den Bedingungen zur Sicherung eines Gutes und dem (vielleicht manchmal etwas prekären) Genuss des Gutes selbst.« 72 Diese Balancierung in Richtung auf Verteilungsgerechtigkeit wird noch wichtiger, sobald Sicherheit nicht nur als individuelles, sondern auch als gesellschaftliches Gut betrachtet wird (nicht gleichzusetzen mit einem Kollektivgut). Mit Waldron gehe ich davon aus, dass ein Maximierungsmodell – die größte Sicherheit für die größte Zahl von Menschen – wenig 71 | Waldron nennt dies die »adjektivische« Qualität von Sicherheit. Ebd., S. 471. 72 | Ebd., S. 473.

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überzeugend und wenig praktikabel ist.73 Jedes andere Modell führt aber schon deshalb unvermeidlich zu Verteilungsfragen, weil in einer gegebenen Gesellschaft eine größere Sicherheit für die eine Gruppe  – z. B. für Polizistinnen oder für Hauseigentümer  – zu geringerer Sicherheit für andere Gruppen von Menschen – z. B. für Demonstranten oder für Wohnungssuchende – führen kann. Der exemplarische Fall ist die Migrationskrise und die Frage, wie politische Strategien gegenüber einem Strom von Migranten die Antinomien von Freiheit und Sicherheit ins Relief bringen. Allein schon die Tatsache, dass alle rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien in Europa die Migrationskrise zum Anlass nehmen, zugunsten einer scheinbar bedrohten Sicherheit auf substantielle Freiheiten zu verzichten und diese gerade auch den Migranten vorzuenthalten, weist darauf hin, dass die Vorstellung eines »trade-off«, eines Null-SummenSpiels zwischen Freiheit und Sicherheit zu kurz greift. Im Detail wird es dann genau deshalb kompliziert, weil die verschiedenen Dimensionen von Sicherheit unterschiedliche Implikationen für die Freiheit haben, je nachdem ob man auf Individuen oder auf Kollektive (bis hin zur Gesellschaft insgesamt) abhebt, ob man von elementarer Sicherheit ausgeht oder von einer auf Lebensentwürfe erweiterten Sicherheit. Nehmen wir als Beispiel die Residenzpflicht für bestimmte Asylsuchende (konkret für subsidiär Schutzberechtigte), die eine Verwaltungsvorschrift des Bundesinnenministeriums verfügte. Der Europäische Gerichtshof erklärt diese Vorschrift für ungültig, weil subsidiär Schutzberechtigte nicht anders behandelt werden dürften als Asylberechtigte. Dabei gibt es gute Gründe für eine Residenzpflicht, vor allem das politische Ziel, für eine gleichmäßige Verteilung der Kosten für die Sozialsysteme zu sorgen und zu vermeiden, dass durch eine Massierung von Migranten soziale Brennpunkte entstehen. Auf der anderen Seite spricht gegen eine Residenzpflicht, dass die Betroffenen dann dorthin gehen können, wo sie Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und wo Wohnraum verfügbar ist. Auch der EuGH lässt eine Residenzpflicht dann zu, wenn diese zur Integration der Flüchtlinge erforderlich ist.74 Es ist zu erwarten, dass die neueren, in traditioneller Sicht unkonventionellen Bedrohungen individueller und kollektiver Sicherheit, etwa durch Terrorismus, Fundamentalismus, Migrationsbewegungen oder Cyber-Attacken, zu deutlich schwierigeren und komplizierteren Abwägungs73 | Ebd. S. 477–480. 74 | Urteil vom 01.03.2016, Az. C-443/14 u. C-444/14.

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kalkülen zwingen, und es daher erforderlich wird, beide betroffenen Güter, sowohl Freiheit wie Sicherheit, ihrerseits als komplexere Konstrukte zu konzipieren, die je nach konkreten Konstellationen unterschiedliche Gewichtungen ermöglichen und erfordern.75 Zugleich bieten komplexere Begrifflichkeiten erst die Möglichkeit, differenziertere Abwägungen durchzuführen, wie das Beispiel der Residenzpflicht zeigen kann. Die Bereitschaft von Regierungen und politischen Akteuren, aber eben auch von Bürgern, nach Terroranschlägen wie 9/11, Paris 2015 oder Brüssel 2016, überhastet und undifferenziert auf Freiheiten zu verzichten, könnte möglicherweise eingedämmt werden, wenn die simplifizierende Formel vom schlichten ›trade-off‹ zwischen Freiheit und Sicherheit diskreditiert oder gar überwunden werden könnte. Für die USA ist eine Verschiebung der Gewichte im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit besonders auffällig, weil sie einerseits eine lange Tradition des Vorranges der Freiheit gegenüber allen anderen Werten vertreten und praktizieren (siehe nochmals das Beispiel des Waffentragens). Zugleich aber haben der globale Terror und vor allem das durch den Terrorangriff 9/11 erzeugte Gefühl der Verletzlichkeit das Verlangen nach Sicherheit so gewichtig haben werden lassen, dass dafür auch Gesetze und Maßnahmen akzeptiert werden, die deutliche Einschränkungen persönlicher Freiheitsräume mit sich bringen. Daten des PEW Research Centers für die USA zeigen, dass die Wunden, die der 11. September 2001 hinterlassen hat, immer noch nicht geheilt sind. Die Zahlen zeigen, wie nachdrücklich US-Amerikaner das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit als Schutz der Privatsphäre zugunsten der Sicherheit aufzulösen bereit sind. Die Werte sind stabil, es gab zwischen 2006 und 2013 kaum Veränderungen. Auch die Veröffentlichung der NSA Spähangriffe hat die Amerikaner nicht umgestimmt: 2006 sahen 65 Prozent der Amerikaner Lauschangriffe als ein legitimes Mittel gegen Terrorbekämpfung an, im Juni 2013, also bereits nach der Veröffentlichung der NSA-Affäre durch Edward Snowden, waren es kaum weniger: 62 Prozent der Amerikaner finden ein solches Vorgehen gerechtfertigt.76 Insgesamt scheinen 75 | Waldron, »Security«, S. 502: »Absicherung ist eine komplexe und strukturierte Funktion individueller Sicherheit« (Original: »Sjecurity is a complex and structured function of individual safety«). 76 | Andrea Römmele, »Sicherheit vs. Freiheit. Der Konflikt der 21. Jahrhunderts«, in: Cicero (05.07.2013). Verfügbar unter: www.cicero.de/weltbuehne/sicher​h eit-

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die Snowden-Enthüllungen wenig Eindruck auf die amerikanische Öffentlichkeit gemacht zu haben, obwohl sie eine beängstigende Machfülle der Geheimdienste, und damit manifeste Gefährdungen von Freiheitsrechten, offenbart haben. Immerhin hat der US-Senat es im Juni 2015 abgelehnt, die extrem weitgehenden Befugnisse des NSA aus dem Patriot Act von 2001 zu verlängern. Für Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht mit einer Entscheidung im April 2016 die durch ein Anti-Terrorgesetz erweiterten Befugnisse des BKA teilweise wieder eingeschränkt und damit eine besonnenere Balance zwischen Freiheit und Sicherheit im schwierigen und vielschichtigen Feld der Abwehr von Terror wieder hergestellt. Zwar darf das BKA Terrorverdächtige weiterhin überwachen, aber dort, wo heimliche Ermittlungsbefugnisse tief in die Privatsphäre eingreifen, müssen sie streng verhältnismäßig sein. Das heißt: Je tiefer der Eingriff ist, desto höher müssen die Hürden sein.77 Mit der neuen Gewichtigkeit und Relevanz des Themas Sicherheit in einer globalisierten Moderne scheint gegenwärtig die Bestimmung der vorrangigen Aufgabe von Politik zu ihrem Ausgangspunkt bei Hobbes zurückzukommen. Die Verwüstungen der religiösen Bürgerkriege im England des 17.  Jahrhunderts veranlassten Hobbes dazu, die Sicherheit der Bürger durch einen absoluten Leviathan an die erste Stelle zu setzen. Heute ist es ein religiös verbrämter fundamentalistischer Terror, der das Verlangen der Individuen nach Sicherheit neu definiert und neu entfacht. Dieses Verlangen überträgt sich auf die politischen Systeme, die nun allerdings gegen einen verdeckt operierenden und technologisch hoch gerüsteten Gegner die Gefahrenabwehr ebenso verdeckt, prophylaktisch und technologisch invasiv betreiben müssen, um der Herausforderung auch nur einigermaßen gewachsen zu sein. Hier entstehen völlig neue Konfliktlinien und Bruchstellen in den Konstruktionen von Sicherheit und Freiheit. Denn beide Werte, Freiheit wie auch Sicherheit, sind in der neuen Konstellation eines globalen und digitalen Terrors nicht direkt und sichtbar beeinträchtigt, sondern hypothetisch und potentiell. Die weitaus meisten Menschen sind faktisch weder durch Terror bedroht noch in vs-freiheit-der-konflikt-des-21-jahrhunderts/54972/-seite/2j, letzter Zugriff 07.11.2016. Zum Für und Wider des Snowden-Falles siehe Schmidt, Cohen, The New Digital Age, S. 263–269. 77 | Urteil Az. 1 BvR 966/09 und 1 BvR 1140/09.

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ihren Freiheitsräumen durch Cyberattacken beeinträchtigt. Die potentielle Bedrohung ist dagegen massiv und weitgehend unberechenbar. Eine präventive Abwehr ist schwierig und erfordert z. B. eine Vorratsdatenspeicherung etwa von E-Mail-Verkehr oder Flugdaten, die Unbeteiligte treffen kann, wenn sie wirkungsvoll sein soll. So hat das Bundesverfassungsgericht im genannten Fall der Korrektur des BKA-Gesetzes formuliert, dass unbeteiligte Dritte von Ermittlungsmaßnahmen nur unter eingeschränkten Bedingungen betroffen sein dürfen – was immer das konkret heißen mag.

4.4 Z ur A ntinomie von F reiheit und Toler an z Freiheit wird auch deshalb zu einer komplexen Konfiguration, weil komplementäre Werte wie Gleichheit, Sozialität oder Sicherheit – und es ließen sich Ökologie, Wohlstand, Entwicklung oder Nachhaltigkeit anschließen  – in unterschiedlichen Gewichtungen und Verknüpfungen mit ins Spiel kommen, je nachdem, wie gesellschaftliche Problemlagen, Chancen und Risiken sich entwickeln und verändern. Eine Renaissance kapitalismuskritischer und sozialistischer Romantik bringt den Wert der Gleichheit in den Vordergrund,78 eine Verdichtung terroristischer Bedrohungen den Wert der Sicherheit, und eine Konkretisierung des Klimawandels und der ökologischen Katastrophe den Wert der Sozialität. Eine feststehende Zuordnung der Werte wäre daher widersinnig. Eher verhalten sie sich zueinander wie die Elemente eines Mobiles, in dessen Bewegungen auch die Position der Freiheit variieren kann. Damit kommt in den Blick, dass es keine transitive Ordnung der Werte gibt, sondern variable und dynamische Zuordnungen, die sich je nach gesellschaftlichem Entwicklungsstand zu komplexen Konstellationen verbinden. Vor allem aber kommt in den Blick, dass es mit der »Ordnung der Gesellschaft«, oder besser: mit der »wohlgeordneten Gesellschaft« 79 eine übergeordnete Ebe78 | Ein Beispiel dafür ist der Journalist Paul Mason mit aus der Luft gegriffenen langfristigen Prognosen und abwegigen Thesen, die zum großen Teil darauf beruhen, dass er Daten, Informationen und Wissen nicht unterscheidet und daher Datenproduktion mit einer Wissensökonomie verwechselt. Paul Mason, Postkapitalismus, Berlin 2016. 79 | Zu diesem Konzept siehe John Rawls, Political Liberalism, New York 1996, S. 35 und 43–46.

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ne sozietaler Sinngebung und Selbstthematisierung gibt, welche selbst noch die hochrangigen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit konditionalisieren. John Rawls, der diesen Begriff nutzt, meint damit die dominante Bedeutung von Gerechtigkeit als Ordnungsprinzip einer Gesellschaft, und auch Luhmann begreift Gerechtigkeit als Reflexionswert der Politik, welcher alle Werte in Richtung auf eine legitime Grundordnung der Gesellschaft hin konditioniert. Für bescheidenere Autoren, für welche die Idee der Gerechtigkeit in Beliebigkeit zerfließt, muss Demokratie genügen. Demokratie wird damit zum theoretisch gehaltvollen und auch empirisch belegbaren Reflexionsmodell möglicher Freiheit, und es ist dann die konkrete Form und Leistungsfähigkeit der Demokratie, welche die Konfigurationen der Freiheit determinieren. Plausibilisieren lässt sich dieser Zusammenhang an den beiden konkurrierenden Paradigmen der Demokratiekritik der Gegenwart – der Kritik gesellschaftlicher Ungleichheit als Kapitalismuskritik, und der Kritik gesellschaftlicher Toleranz als Kulturkritik. Die mit der globalen Finanzkrise verbundenen Exzesse der Ungleichheit, die mit Thomas Pikettys »Kapital« empirisch fundiert und in eine historische Perspektive eingeordnet wurden, unterfüttern eine ernst zu nehmende Kritik an der Demokratie, die von der erstaunlichen Resonanz eines Bernie Sanders im amerikanischen Vorwahlkampf des Jahres 2016 bis zur Behauptung eines generellen Versagens der Demokratie gegenüber den Oligarchen des Finanzsystems80 reichen. Tatsächlich tun sich Demokratien unter dem Druck globaler Konkurrenz der Systeme schwer, dem Matthäus-Prinzip entgegenzuwirken und die Vermögenden nicht weiter zu privilegieren. In diesem Paradox konvergieren alle Schwächen der Demokratie als Form der Steuerung der Politik. Die Freiheit der Reichen ist eine andere als die Freiheit der Armen. Auch in reichen Ländern gibt es Armut, wenn man einen relativen Armutsbegriff zugrunde legt.81 80 | Siehe Winters, »Oligarchy«. 81 | Wirkliche Armut allerdings sieht anders aus. Hans Ulrich Gumbrecht notiert dies aus einer Erfahrung mit Armen in Hyderabad im Kontrast zu der noch erträglichen Situation seines Rikscha-Fahrers Ahmed: »Wie ich gehört er zum System und zur Welt des Kapitalismus, denn er hat immerhin die Chance, für seine Arbeit ausgebeutet zu werden. Auf der sozialen Ebene, wo er geboren wurde, ist diese Möglichkeit ein Privileg geworden, sein einziges Privileg gewiss in einer Welt, die

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Wann immer die Politik versucht hat, dieses eherne Gesetz einer Privilegierung der Privilegierten zu durchbrechen, ist sie entweder an den Untiefen einer nicht zu realisierenden Verteilungsgerechtigkeit oder an den negativen Konsequenzen für die Gesamtwirtschaft gescheitert. Für die Demokratie ist es eine zentrale Frage, wie viel Toleranz sie für Ungleichheit auf bringt, und wieviel Toleranz für Ungleichheit die Gesellschaft verträgt. Ein wichtiger Faktor, der auch in reichen Ländern Armut erzeugt, ist die Deregulierung der Arbeitsmärkte. Sie ist sowohl ökonomisch ambivalent, wie auch in ihren Folgen für die Freiheit der Betroffenen. Ökonomisch erzeugt sie  – beispielhaft in den USA, aber zunehmend auch in Deutschland – prekäre Arbeitsverhältnisse, in denen die Arbeitenden nicht genug verdienen, um über die Armutsgrenze hinauszukommen, und die später in die Altersarmut führen. Dennoch ist eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte gesamtwirtschaftlich sinnvoll, weil sich dadurch die Arbeitsmärkte und Arbeitsformen an schnell veränderliche Bedingungen ebenso schnell anpassen können. Das Gegenbeispiel war Frankreich vor Macron. Durch massive Streiks wurde lange eine Deregulierung der Arbeitsmärkte weitgehend verhindert und die gesamtwirtschaftlichen negativen Effekte waren offensichtlich. Auch in der Perspektive einer Freiheitstheorie ist der Fall ambivalent. Flexibilisierung verstärkt die Freiheitsräume der Arbeitgeber und der gut ausgebildeten Arbeitnehmer, verschlechtert aber die Position anderer Gruppen, vor allem der schlecht Ausgebildeten, vieler Alleinerziehender oder Ausländer. Kapitalismuskritik ist heute im wesentlichen Kritik der Ungleichheit, weil sich in allen anderen Hinsichten der Kapitalismus gegenüber konkurrierenden Systemen der Steuerung der Ökonomie als haushoch überlegen erwiesen hat.82 Aber Ungleichheit bleibt ein Problem. Und sie bleibt so viel mehr Arbeitskräfte hat, als sie Arbeit anbietet. Statt streiken zu können, darf Ahmed dankbar sein für das, was er gerade noch und bis heute ist. Wer außerhalb des Systems existiert, ist die Ausbeutung nicht mehr wert – und gehört nur als Abfall noch zur Welt.« Verfügbar unter: http://blogs.faz.net/digital/2016/07/02/ das-unverschaemte-gesicht-der-armut-1045, letzter Zugriff 07.11.2016. Ausführlich Gerhard Willke, Armut − was ist das? Eine Grundsatzanalyse, Hamburg 2011. 82 | Siehe dazu Janos Kornai, »So What Is Capital in the Twenty-First Century? Some Notes on Piketty’s Book«, in: Capitalism and Society. The Berkeley Electronic Press 11 (2016), Article 2, als kritische Einschätzung.

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ein Problem für diejenigen Konstellationen von Freiheit, welche durch ein Übermaß an Ungleichheit zynisch werden und an Anatole Frances Sentenz erinnern: Die majestätische Freiheit erlaubt es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen oder Penthouse-Wohnungen in LondonKensington zu kaufen. Noch problematischer wird Ungleichheit dort, wo sie die Ausübung demokratischer Freiheitsrechte zur Farce macht. So hat etwa ein italienischer Arbeiter zweifelsohne das Recht auf politische Meinungsfreiheit, aber welche reale Chance gehört zu werden hat er gegen das Medienimperium eines Silvio Berlusconi? Eine amerikanische Lehrerin hat das Recht, gegen bestimmte Gesetze zu protestieren, aber welchen politischen Einfluss hat sie gegenüber dem übermächtigen Einfluss etwa der Koch-Brüder? Eine freiheitliche Ordnung der Ökonomie muss als Konsequenz akzeptieren, dass ungleiche Markterfolge zu Ungleichheiten der Vermögensverteilung führen. Die Demokratien haben immer wieder Anstrengungen unternommen, durch eine Politik der Umverteilung die Exzesse der Ungleichheit abzumildern.83 Doch trotz formal progressiver Steuersysteme und einer Fülle an Sozialleistungen halten sich die faktischen Privilegien der Vermögenden hartnäckig. Eine geläufige Hypothese ökonomischer Modelle besagt, das Kapital werfe für alle Kapitaleigentümer, ob groß oder klein, ein und dieselbe Durchschnittsrendite ab. Nichts ist ungewisser. Es ist sehr gut möglich, dass größere Vermögen im Durchschnitt höhere Renditen erzielen. […] Der bei weiten besorgniserregendste Mechanismus der Erzeugung von Ungleichheit ist jener, der sich aus der Ungleichheit der Kapitalrendite ergibt. […] Jenseits einer bestimmten Grenze wachsen Vermögen mit extrem hohen Raten, ganz gleich ob ihre Eigentümer einer Berufstätigkeit nachgehen oder nicht. 84

Gegenüber diesen ökonomischen Mechanismen ist es aus der Sicht der Wahrung von Freiheitsräumen entscheidender, ob und wie es demokra83 | Ostry u. a., »Redistribution, Inequality, and Growth«, S. 25: »Es wäre ein Fehler, sich nur auf Wachstum zu konzentrieren und Ungleichheit beiseite zu lassen. Nicht nur, weil Ungleichheit ethisch wenig wünschenswert zu sein scheint, sondern vielmehr weil das auf Ungleichheit beruhende Wachstum niedrig und nicht nachhaltig sein könnte.« 84 | Piketty, Kapital, S. 574, 575, 586.

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tischer Politik gelingt, eine Transformation von Vermögen in politischen Einfluss zu verhindern. Es ist kein Geheimnis, dass die Demokratien, allen voran die USA, hier wenig Erfolge vorzuweisen haben. Von faktisch degressiven Steuersystemen über tolerierte Steueroasen bis zu organisierten Strategien der »Vermögensverteidigung« 85, welche die Superreichen gegen Parlamente und Regierungen durchsetzen, finden sich die Demokratien in der Defensive. Selbst diese Defensive ist meist nur noch rhetorisch, während tatsächlich der Kampf um eine Eindämmung der Ungleichheit als aussichtslos verloren gegeben wird. Dieser Kleinmut der politischen Klasse in den Demokratien ist erbärmlich. Denn es würde zunächst ja genügen, durch Änderungen der Steuergesetze, der Regeln für zulässigen Lobbyismus und der Regeln für die Wahlkampfinanzierung den weit überproportionalen Einfluss der Reichen auf politische Entscheidungen zurückzudrängen.86 Die illegitime Vermischung von wirtschaftlichen Ressourcen und politischem Einfluss verletzt nicht nur das Prinzip funktionaler Differenzierung und damit die Selbstbestimmung und Eigenständigkeit des politischen Systems. Vielmehr bringt es die Architektur einer Freiheit ins Wanken, die darauf auf baut, dass die Ein85 | Siehe Winters, »Oligarchy«, S. 20: »Die Geschichte der Oligarchie in Amerika hat sich als ein gewaltiger Kampf um die Bewahrung von Reichtum entpuppt, bei dem die Oligarchen versuchen, die Steuerlast anderen Mitgliedern der Gesellschaft aufzudrücken.« 86 | Nach einer Analyse der Macht der Finanzindustrie und insbesondere des extremen Einflusses von Goldman-Sachs auf die amerikanische Finanzpolitik kommt Wolfgang Streeck zu dieser Einschätzung von Gegenwehr: »Die Wut derer, die sich von den Abschöpfungsexperten des globalen Finanzkapitalismus für dumm verkauft fühlen, könnte vielleicht tatsächlich zu einer politisch aussichtsreichen demokratischen Kraft werden, und zunächst wohl auch nur sie. Die neuen Eliten scheinen sich vor nichts so zu fürchten wie vor ihr, nicht obwohl, sondern weil es alles andere als ›vernünftig‹ ist, sich ohne vorheriges Studium der Zentralbankwissenschaft einfach nur moralisch zu empören.« Wolfgang Streeck, »Wissen als Macht, Macht als Wissen. Kapitalversteher im Krisenkapitalismus«, in: Merkur 66, Sonderheft Macht und Ohnmacht der Experten (2012), S. 776–786, hier S. 785. Dass bis heute diese Gegenwehr ausbleibt, belegt aus meiner Sicht, dass der Ansatz moralischer Empörung nutzlos ist. Anstelle einer pauschalen Verdammung von »Experten« geht es darum, die Zentralität von Expertise ernst zu nehmen und hochrangige Gegenexpertise durch pluralistische Expertengremien zu organisieren.

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grenzung der individuellen Freiheitsräume durch die gleiche Freiheit der Anderen nicht nur unter Gleichen gilt, sondern auch von »unten« nach »oben«. Mit der Gestaltung des Steuersystems hat die Politik ein mächtiges Instrument in der Hand, um öffentliche Aufgaben nicht nur zu definieren, sondern auch zu finanzieren. Im Steuersystem spiegeln sich alle Stärken und Schwächen der Demokratie, und diese schlagen unmittelbar als Stärken und Schwächen der Gestaltung oder Gefährdung von Freiheitsräumen durch. Wenn in den USA die Vermögenden gegenüber gewöhnlichen Arbeitnehmern obszön geringe Steuern bezahlen und dadurch ökonomische Ungleichheiten verstärkt, die Privilegierten weiter privilegiert werden und sie es sich leisten können, eine Vermögensverteidigungsindustrie zu finanzieren, dann schlägt sich dies auch in der Verteilung von Freiheitsräumen nieder. Wie die »Panama Papers« zeigen, gibt es in praktisch allen Steuersystemen so viele Schlupflöcher für Vermögende, dass die Idee der Steuergerechtigkeit auf der Stecke bleibt, und damit wiederum eine ungleiche Verteilung von Freiheitsoptionen zementiert wird. Wenn auf der anderen Seite einige europäische Staaten über das Steuersystem eine Umverteilung von oben nach unten zumindest in bescheidenem Umfang zustande bringen, dann werden damit für die Unterprivilegierten auch neue Freiheitsräume erschlossen.87 Ein zweites Paradigma der Demokratiekritik, das erhebliche Bedeutung für Konstellationen der Freiheit hat, lässt sich unter dem Stichwort einer Kritik demokratischer Toleranz zusammenfassen. In allen Demokratien haben über Jahrzehnte hinweg Faktoren wie die Nachwehen des Kolonialismus (z. B. Frankreich oder England), die Aufnahme von »Gastarbeitern« (z. B. Deutschland), Migration (z. B. USA, Kanada) oder die Aufnahme politisch Verfolgter (z. B. die skandinavischen Länder) zu einer Koexistenz unterschiedlicher Kulturen geführt und aus eher homogenen Gesellschaften multikulturelle Gesellschaften werden lassen. Sicherlich hat dies immer schon auch zu Spannungen und zur Bildung von Subkul87 | Huhnholz, »Refeudalisierung«, S. 205: »Steuergeld kauft nichts. Sehr wohl aber reguliert es […], und zwar reguliert es als de-individualisiertes Steuerzahlergeld einer Reihe ungleicher Machtpotentiale. Es reguliert etwa, indem es das Risiko reduziert, dass sich übergroße ökonomische Macht proportional in politische Macht umsetzt […] oder indem relative Armut nicht direkt Ausschluss von politischer Partizipation bedeutet.«

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turen und sozialen Brennpunkten geführt und war Anlass insbesondere für populistische und nationalistische Gruppierungen, gegen »Multikulti« zu polemisieren. Insgesamt aber war die Politik der Demokratien von Aufnahmebereitschaft und Toleranz geprägt.88 Zwei Entwicklungen sprengen seit einigen Jahren dieses eher friedliche Bild. Zum einen setzt eine global zu beobachtende religiöse Radikalisierung insbesondere von fundamentalistischen islamischen Strömungen auf Terror, Abgrenzung und Ablehnung aller westlichen Werte, so dass an die Stelle kultureller Toleranz radikale Gegensätzlichkeit und Intoleranz tritt, was in den betroffenen Demokratien entsprechende Gegenreaktionen hervorruft. Zum anderen, und teilweise damit zusammenhängend, überfordert eine massive Migrationswelle die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft vieler Demokratien, was wiederum zu kontroversen Debatten über Leitkultur und kulturelle Vielfalt führt. Zum Problem für die Demokratie werden diese Debatten und Auseinandersetzungen dort, wo sie in antidemokratischen Formen zu einer Kritik demokratischer Toleranz umschlagen. Es handelt sich inzwischen nicht mehr um Einzelfälle, sondern um einen Flächenbrand, der vom Tea Party Movement über den Front National bis zu Pegida reicht, und darüber hinaus formale Demokratien wie Polen oder Ungarn in autoritäre Regime verwandelt hat. Populisten kritisieren hauptsächlich, dass die Demokratien zu tolerant mit nicht-westlichen Kulturen, insbesondere mit islamischen und islamistischen Gruppierungen umgehen würden  – z. B. das Verschleierungsverbot nicht durchsetzen oder Sprachkurse nicht erzwingen; dass sie ihre Leitwerte nicht verteidigen und damit ihre nationalen Identitäten verraten würden; und dass sie zu tolerant gegenüber Frauenfeindlichkeit, Kriminalität, Widerstand gegen Normen und Werte der Gastländer etc. seien und damit die Bildung von abgeschotteten Subkulturen begünstigen würden. Unabhängig davon, wie berechtigt oder unsinnig die Kritikpunkte sind, müssen sich Theorie und Praxis der Demokratie mit den populistischen und nationalistischen Bewegungen auseinandersetzen, weil es diesen im Kern gar nicht um Islam oder Migration geht, sondern diese Themen nur als willkommene Auslöser für eine viel allgemeinere Fundamentalkritik an Regierung, Politik und Demokratie herhalten müssen. Aus diesem wei88 | Rainer Forst, Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. 2003.

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ten Feld soll hier nur der Aspekt der Toleranz herausgegriffen werden, weil er für das Freiheitsmodell der Demokratie konstitutiv ist. Seit dem Toleranzedikt von Nantes, das Heinrich IV. im Jahre 1598 unterzeichnete, und das den Hugenotten Religionsfreiheit zusicherte, bezieht sich Toleranz vornehmlich auf das Nebeneinander verschiedener Religionen.89 Erscheint religiöse Toleranz schon schwierig genug, so weitet sich für die Demokratie das Problem zu einem Paradox aus: In der Moderne gründet Toleranz auf einem gesellschaftsweiten Pluralismus, insbesondere auch auf einem Pluralismus der politischen Meinungen, den die Politik jedoch immer wieder zu entscheidungsfähigen Mehrheiten zusammenführen muss. Dieses Zusammenführen kann aber nur dann gelingen, wenn in die Konstruktion von Dissens von vornherein die Idee eines wechselseitigen Respekts der Unterschiedlichkeit eingebaut ist. Dissens und kognitive Vielfalt sind grundlegende Bausteine und Voraussetzungen für demokratische Willensbildung. Erst im Widerstreit der Interessen, Positionen und Meinungen bildet sich das heraus, was übergreifend mehrheitsfähig erscheint. Die Minderheiten eines pluralistisch differenzierten Feldes müssen Mehrheitsentscheidungen tolerieren, und sie werden dies nur dann tun, wenn prinzipiell alle Akteure respektieren, dass andere Positionen möglich sind, und wenn prinzipiell die Chance besteht, dass jede Position zur Mehrheitsposition werden kann. Die Fähigkeit zur Toleranz hängt eng mit der Fähigkeit zur Kompromissbildung und den dahinter liegenden Mechanismen funktionierender Kooperation zusammen. Kompromisse sind das Lebenselixier einer pluralistischen Demokratie, und erweiterte Fähigkeiten der Kompromissbildung und der Kooperation erweitern daher die Entscheidungsfähigkeit der Demokratie. Robert Axelrod hat in vielfältigen Analysen herausgestellt, dass es vor allem der »Schatten der Zukunft«90 ist, der Kooperation erleichtert: Wenn sich Kontrahenten nicht nur einmal auseinandersetzen, sondern sich in der Zukunft wiederholt treffen, dann ist Kooperation leichter, weil man zu alternierenden Kompromissen kommen kann. Fritz Scharpf hat dieses Modell des Übergangs von einem Pareto-optimalen zu 89 | Aus philosophischer Sicht dazu Pierre Bayle, Toleranz. Ein philosophischer Kommentar. Herausgegeben von Eva Buddeberg und Rainer Forst, Berlin 2016, der Toleranz nicht nur auf Religion bezieht, sondern sie grundsätzlicher als Gebot der Vernunft und der Aufklärung sieht. 90 | Robert Axelrod, The Evolution of Cooperation, New York 1984.

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einem Kaldor-optimalen Kompromiss ausgearbeitet und illustriert.91 Werden Möglichkeiten der Kompromissbildung ausgeweitet, dann werden Freiheitsräume ausgeweitet, weil neue, bislang verschlossene Optionen nun ausgehandelt werden können. Über die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus ist dann Kooperation auch möglich, wenn eine der Parteien zunächst Nachteile und die andere Partei Vorteile hat, aber die benachteiligte und nachgebende Partei darauf vertrauen kann, dass es in der nächsten Runde der Verhandlungen umgekehrt ausgehen kann. Dass es in dieser Weise möglich ist, in komplexen pluralistischen Konstellationen Freiheitsräume auszuweiten, ist ein Aspekt des umfassenderen Mechanismus der Steigerung von Freiheit durch Toleranz. Toleranz setzt voraus, dass ich mit der Freiheit der Anderen umgehen kann. Als Bürger oder Politikerin bin ich tolerant, wenn ich Interessen und Positionen, die konträr zu meinen eigenen sind, aus grundsätzlichen Erwägungen heraus respektiere. Welche Grundsätze dahinter stehen, mag variieren. Es können religiöse, ethische, humanistische oder eben demokratische sein. Jenseits der Ebene von Personen geht es hier primär um Toleranz als Moment und Komponente des politischen Systems, also um die institutionelle Seite der Toleranz. Moderne säkulare Gesellschaften benötigen institutionelle Mechanismen der Absicherung von Toleranz, um sie in entsprechenden Strukturen, Prozessen und Regeln der Demokratie zu verankern. Gleichberechtigung, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz sind wichtige Elemente dieser institutionellen Absicherung. Damit wird deutlich, dass es für eine freiheitliche demokratische Ordnung nicht ausreicht, dass Bürger und Bürgerinnen als Personen tolerant sind. Unabdingbar ist eine systemisch in das Ordnungsund Freiheitsmodell der Demokratie eingelassene Toleranz, die deshalb so hochrangig angesiedelt sein muss, weil sie Bedingung der Möglichkeit von Freiheit ist. Damit stelle ich mich explizit gegen das bekannte und kontrovers diskutierte Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich 91 | Fritz Scharpf, »Positive und negative Koordination in Verhandlungssystemen«, in: Adrienne Héritier (Hg.), PVS-Sonderheft 24, Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung (1993), S. 57–83.

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die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat. 92

Sieht man von der Sprache des Staatsrechts der 1960er Jahre ab, dann geht es vor allem um die Bedeutung der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft als Voraussetzung einer freiheitlich demokratischen Ordnung. Gerade weil die Demokratie sich nicht von der moralischen Substanz der Bürger abhängig machen kann, und schon gar nicht von einer Homogenität der Gesellschaft, muss sie eigene institutionelle Mechanismen der Absicherung von Toleranz und Freiheit entwickeln und so gestalten, dass sie selbst unter hoher Belastung standhalten. Hinsichtlich der Personen weisen freiheitlich säkulare Staaten ein überwältigendes Maß an moralischer, ethischer und weltanschaulicher Heterogenität und Beliebigkeit auf: »anything goes«. Darauf die Demokratie zu gründen, hieße auf Treibsand zu bauen. Im Gegensatz zu Böckenförde muss also der Staat, genauer jetzt: die Demokratie, selbst die Voraussetzungen ihrer Möglichkeit schaffen, weil niemand sonst dies tut, und schon gar nicht eine diffuse moralische Substanz, deren Inhalte in einer globalisierten Moderne beliebig oder gar verdächtig geworden sind. Wenn die Voraussetzungen für Demokratie als staatliche Ordnungsform weder in einer moralischen Substanz, noch in gesellschaftlicher Homogenität, weder in allgemeinen Werten noch in einer allgemein gültigen Ethik garantiert sind, dann bleibt nur radikale Selbstbezüglichkeit im Sinne einer »Selbstlegitimation des Staates«.93 Die Grundidee dazu stammt von Herbert Simon, der angesichts pluraler und kontingenter Rationalitäten, die bereits in jeder komplexen Organisation zu beobachten sind, einen gangbaren Ausweg in der Idee der prozeduralen Rationalität 92 | Ernst Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 60. 93 | Niklas Luhmann, »Selbstlegitimation des Staates«, in: Norbert Achterberg, Werner Krawietz (Hg.), Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 15 (1981), S. 65–83.

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entwirft.94 Es sind die Verfahren und Verfahrensregeln, auf die sich Beteiligte einigen können, welche je nach Kontext ganz unterschiedliche Werte oder Entscheidungskriterien zulassen, so dass eine generelle Einigung auf Werte nicht mehr erforderlich ist, schon gar nicht mehr eine Einigung auf eine transitive Ordnung unterschiedlicher Werte. Für die Legitimität der Rechtsordnung der Demokratie greift Luhmann diese Idee als »Legitimation durch Verfahren«95 auf und argumentiert damit für eine selbstreferentielle Konstituierung der Demokratie, welche sie von spezifischen Moralen, Werten oder Ethiken unabhängig macht. Das klingt nach einer gewagten Operation, aber bei genauerem Hinsehen erweist sich, dass diese Position realistischer ist als jeder Rekurs auf Werte. Verfahrensrationalität wirkt wie ein alle Differenzierungen nivellierender »Schleier des Nichtwissens«, weil nicht die Entscheidungen selbst festgelegt sind (etwa durch bestimmte Werte oder moralische Maximen), sondern nur die vorgängigen Entscheidungskriterien und Prinzipien wie z. B. die Mehrheitsentscheidung, die Einbeziehung von Anspruchsgruppen oder die Möglichkeit des Widerspruchs. In bemerkenswerter Übereinstimmung mit diesen Positionen sieht auch Habermas keine Möglichkeit, von endgültigen Werten auszugehen, und er geht daher auf prozedurale Lösungen zurück. Seine Lösungsvorschläge heißen kommunikative Vernunft oder Deliberation oder diskursive Verständigung,96 und nicht zufällig spielt bei dieser Lösung Toleranz eine entscheidende Rolle: Wir können uns nämlich auf das gegenseitige Tolerieren von Lebensformen und Weltanschauungen, die füreinander eine existentielle Herausforderung bedeuten, nur einigen, wenn wir für dieses ›agree to disagree‹ eine Basis gemeinsamer Überzeugungen haben. […] Komplexe Gesellschaften sind tatsächlich auf […] rechtlich nicht erzwingbare Toleranz, also auf die Bereitschaft, existentiell bedeutsame Differenzen auszuhalten und mit Angehörigen dissonanter Lebensformen zu koope94 | Herbert Simon, »Rationality as Process and as Product of Thought«, in: American Economic Association Review 68 (1978), S. 1–16. Ders., Reason in Human Affairs, Stanford 1983. 95 | Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied-Berlin 1969. 96 | Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992, S. 19 und passim. Siehe auch die Diskussion bei ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996, S. 309–397.

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rieren, in immer größerem Umfang angewiesen, während dieses Ansinnen zugleich subjektiv immer mehr als Zumutung empfunden wird. Toleranz gilt aus der Sicht des soziologischen Beobachters als eine knapper werdende Ressource. 97

Die Basis gemeinsamer Überzeugungen kann dann nur diskursive oder prozedurale Rationalität sein, weil andere Rationalitäten nicht verallgemeinerungsfähig sind. Wenn, wie Habermas völlig richtig beobachtet, Toleranz in komplexen Gesellschaften zugleich wichtiger und knapper wird, läuft dies auf ein Dilemma für Demokratie und Freiheit hinaus. Pluralität und Unvereinbarkeit der Interessen und Weltanschauungen nehmen zu und steigern den Bedarf an Toleranz, während gleichzeitig die Bereitschaft dazu stagniert oder gar abnimmt. Trotz gelegentlicher Turbulenzen war all dies für die Bevölkerung der Demokratien offenbar auszuhalten, solange die subkulturellen Unterschiede in einen zwar langsamen aber sicheren Prozess der Assimilation und Akkommodation einzumünden schien und die das Fremde aufnehmenden Gesellschaften davon ausgehen konnten, dass die jeweilige nationale Leitkultur unangetastet bleiben und sich im Laufe der Zeit durchsetzen würde – das Beispiel des Einwanderungslandes USA wies hier den Weg. Aber selbst für die USA war 9/11 der Wendepunkt, der Vielen die Zuversicht nahm, dass radikal unterschiedliche Kulturen zusammenwachsen und Toleranz zu einer Koexistenz führen könnte. Diesen Zweifel beuten die populistischen und nationalistischen Bewegungen für ihre eigenen Absichten aus und nutzen die tiefe Verunsicherung und Konfusion, die eine rasante Globalisierung, eine diffuse Bedrohung durch Terror und eine unabsehbare Migrationswelle bei vielen Bürgern und Bürgerinnen erzeugen. Die komplizierten und intransparenten Kausalzusammenhänge, die alle drei Bedrohungsszenarien kennzeichnen, führen zu diffusen Ängsten, die viele Menschen anfällig machen für vereinfachende Parolen und simple Formeln. Bewegungen wie Tea Party, Front National oder Pegida, sowie eine ganze Reihe rechtsradikaler oder nationalistischer Parteien quer durch Europa von Schweden bis Griechenland, werfen der demokratischen Politik vor, zu tolerant und nachgiebig gegenüber diesen Bedrohungen zu agieren. Im Normalbetrieb kann die Demokratie Kritik dieser Art ohne weiteres verkraften. Es wird immer radikale Randgruppen im politischen Spektrum geben 97 | Ebd., S. 334–335.

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(der berüchtigte »lunatic fringe«) und die Erfahrung hat bislang gezeigt, dass sie nur in extremen Ausnahmefällen – wie für Deutschland die Zeit zwischen den Weltkriegen – zur existentiellen Bedrohung für die Demokratie werden. Insofern ist es angeraten, sehr vorsichtig mit Untergangsszenarien zu hantieren. Festzuhalten ist, dass die Welt gegenwärtig nicht von einer zweiten Großen Depression heimgesucht ist, und die Situation diese Mal in der Tat anders ist.98 In der hier interessierenden Sicht von Demokratie- und Freiheitstheorie liegt das qualitativ Neue der globalisierten Moderne darin, dass es primär nicht um Armut und Elend geht, sondern um Nichtwissen und Intransparenz. Die Demokratie gerät in Turbulenzen, wenn zu viele Menschen die Welt nicht mehr verstehen, soll heißen, dass sie sich von den anstehenden politischen Problemen kognitiv überwältigt fühlen und daher nach einfachen Antworten suchen oder sich gleich ganz von der Politik abwenden. Die Freiheit wird dabei in Mitleidenschaft gezogen, weil mit verringerter Fähigkeit zur Toleranz die Freiheit der fremden Anderen auf der Strecke bleibt und das Wüten gegen multikulturelle Vielfalt zugleich die eigenen Freiheitsräume einschränkt. Die Paradoxien der Toleranz reichen von der Null-Toleranz-Strategie der Kriminalitätsbekämpfung zur grenzenlosen Toleranz der Liebe. Während extreme Toleranz Freiheit maximiert,99 variieren in allen moderaten Formen Grade der Freiheit mit Graden der Toleranz. Toleranz gegenüber rauchenden Mitbürger darf offenbar sehr gering sein, weil passives Rauchen als Gesundheitsschädigung gewertet wird, welche eine deutliche Einschränkung der Freiheit der Raucher rechtfertigt. Toleranz gegenüber einem Neubau von Minaretten hat die Schweizer Demokratie rundweg 98 | Carmen Reinhart, Kenneth Rogoff, This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton 2009, belegen zwar, dass diese Aussage oft genug getäuscht hat, und die Welt immer wieder in die gleichen Fallen getappt ist. Dennoch gilt, dass es historisch neue Konstellationen gibt, für welche die Lernerfahrungen der Vergangenheit eher in die Irre führen. 99 | Auch wenn dies in der Folge durch politische und soziale Reaktionen wieder zu Einschränkungen der Freiheit führen kann, indem die Reaktionen Toleranz und Freiheit auf ein entgegengesetzt niedriges Niveau herabzusetzen suchen (beispielhaft die [sehr tolerante] Grenzöffnung Merkels die, nach derzeitigem Stand, dazu geführt hat, dass das Toleranzniveau inzwischen auf ein Niveau unterhalb des Ausgangspunktes gesunken ist).

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abgelehnt und dies sogar in ihrer Verfassung verankert. Andere Demokratien gewichten die Freiheit der Religionsausübung höher und erlauben den Bau von Minaretten. Toleranz gegenüber Rechtsverstößen von jugendlichen nordafrikanischen Migranten hat nach der »Kölner Neujahrsnacht« deutlich abgenommen, weil nun die Freiheitsrechte der betroffenen Geschädigten höher bewertet werden. Viele weitere Beispiele könnten genannt werden, die zeigen, dass demokratische Systeme durchaus reagieren und die Antinomien von Freiheit und Toleranz immer wieder neu austarieren. Dennoch hat sich in der populistischen und rechtsradikalen Demokratiekritik die Befürchtung festgesetzt, dass ein Übermaß an Toleranz dazu führe, dass nationale Kulturen und Identitäten sich ins Beliebige auflösen. Wer aber sollte eine solche Auflösung fürchten anstatt sie als kulturelle Vielfalt und Bereicherung zu begrüßen? Hier treffen sich die Verlierer der Globalisierung (die längst nicht nur Ungebildete und Abgehängte umfassen, sondern viele aus einer sich selbst als prekär einschätzenden unteren Mittelschicht, wie die Zusammensetzung der Wähler von Trump zeigt) mit denjenigen, die von globalen Dynamiken und hochkomplexen Problemen überfordert sind und deshalb nach Autoritäten rufen, die endlich Ordnung und Klarheit schaffen. Jahrespressekonferenzen von Putin oder Wahlreden von Donald Trump geben dafür das Modell ab. Für die Demokratie ist dies eine Bedrohung, weil sie solche einfachen Antworten nicht geben kann. Sie ist auf die langwierigen Prozeduren der Konsensbildung, des Austarierens von Konflikten und der Kompromissbildung angewiesen, und sie kommt mit ihren Entscheidungen oft genug zu spät. Nimmt man hinzu, dass sie, wie beschrieben, anfällig ist für Oligarchisierung und für eine weitere Privilegierung der bereits Privilegierten, dann gibt es sicherlich genug Gründe für eine Kritik der Demokratie. Die entscheidende Weichenstellung ist hier, ob eine Kritik die herausfordernde Komplexität und Intransparenz einer globalisierten Moderne negiert und auf simple Schemata reduziert, oder aber Mechanismen und Möglichkeiten entwirft, wie eine revidierte Demokratie mit Hyperkomplexität zurechtkommen kann und so in die Lage kommt, auch neue Räume der Freiheit zu nutzen, die sich durch Globalisierung und Digitalisierung ergeben.

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Nichts ist bezeichnender für die prekäre Situation möglicher Freiheit als die überbordende Komplexität eines Mehrebenen-Weltsystems, das heute vom Lokalen bis zum Globalen reicht. Um diese Aussage zu spezifizieren, sollen im Folgenden zunächst eine Konzeption und einige Konsequenzen von Systemkomplexität vorgestellt werden. Daran anschließend sind die besonderen Risiken für eine politisch bedingte Freiheit zu beleuchten, welche die enge Verknüpfung von Freiheit und Demokratie in einer Welt hervorrufen, die ganz überwiegend aus nicht-demokratischen Staaten und autoritär regierten Entwicklungsländern besteht. Werden Personen oder Systeme von Komplexität überwältigt, dann sind sowohl Freiheit wie auch Sicherheit beeinträchtigt oder gar verloren. Überforderung durch Komplexität ist beinahe schon eine Zustandsbeschreibung der Moderne, und Bilder dazu reichen von Burnout über Dropout bis zu »freiwilliger Simplizität«.1 Im politischen Kontext sind Kurzschlussreaktionen auf überwältigende Komplexität insbesondere als Populismus potentiell gefährlich. Populismus negiert Komplexität als prägendes Merkmal moderner Gesellschaften. Er vertritt stattdessen  – wie beispielhaft etwa die Tea-Party-Bewegung, die aberwitzigen Positionen eines Donald Trump als Präsidentschaftskandidat und teilweise noch als Präsident oder die Pegida-Bewegung zeigen – eine forcierte Trivialisierung und Vereinfachung gesellschaftlicher Probleme bis zu dem Punkt, an dem es ebenso einfach wird, »Schuldige« zu finden wie triviale »Lösungen« zu propagieren.2 1 | Duane Elgin, Voluntary Simplicity: Toward a Way of Life That Is Outwardly Simple, Inwardly Rich, New York 1993. 2 | Ausführlich dazu Jan-Werner Müller, What is Populism? Philadelphia 2016.

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Der Begriff Komplexität ist inzwischen allerdings zum inflationär gebrauchten Schlagwort mutiert, so dass es unumgänglich ist, zunächst diesen Begriff näher zu bestimmen und zu präzisieren. In einem wegweisenden Artikel hat Warren Weaver drei Typen von Problemen unterschieden: einfache Probleme, Probleme unorganisierter Komplexität und Probleme organisierter Komplexität.3 Bemerkenswert ist, dass Weaver klar die Bedeutung der organisierten Beziehungen zwischen den Variablen oder Elementen eines Zusammenhanges als entscheidendes Kriterium für (organisierte) Komplexität erkannte. Darauf spielen auch die Unterscheidungen zwischen kompliziert und komplex, sowie zwischen trivialen und nicht-trivialen Systemen an. Kompliziert meint, dass viele unterschiedliche Elemente einen Kontext charakterisieren, während komplex meint, dass unterschiedliche Elemente in unterschiedlichen Verknüpfungen einen vernetzten Kontext bilden. Ein Trivialsystem ist durch eine einfache, lineare Input-output-Beziehung gekennzeichnet – z. B. eine mechanische Schreibmaschine, die verlässlich ein A schreibt, wenn man auf den Hebel A drückt. Ein nicht-triviales System (wie z. B. eine lebende Zelle oder ein mentales System) dagegen baut eine eigene interne Komplexität auf, so dass jeder Input (jede Intervention) zunächst intern nach den eigenen Regeln des Systems verarbeitet wird und damit der Input nicht mehr linear zu einem bestimmten Output führt, sondern die Systemlogik darüber entscheidet, welcher Output aus einem Input folgt. Komplexität ist ein zentraler Begriff in Luhmanns Systemtheorie. Ganz früh bindet Luhmann den Begriff an die ebenso grundlegende Beziehung zwischen System und Umwelt. So definiert Luhmann: Als Komplexität soll hier, in erster Annäherung an den schwierigen Begriff, die Gesamtheit der möglichen Ereignisse verstanden werden […]. Der Begriff der 3 | Warren Weaver, »Science and Complexity«, in: American Scientist 36 (1948), S. 536–544. Einfache Probleme (»problems of simplicity«) sind solche mit zwei Variablen, Probleme unorganisierter Komplexität (»disorganized complexity«) solche mit sehr vielen Variablen, z. B. Wettermodelle. Probleme organisierter Komplexität (»organized complexity«) sind Probleme in einem mittleren Bereich mit einer erheblichen, aber noch überschaubaren Zahl von Variablen: »Bei allen handelt es sich um Probleme, die es notwendig machen, sich gleichzeitig mit einer beträchtlichen Zahl an Faktoren auseinanderzusetzen, die sich ihrerseits zu einem organischen Ganzen verknüpfen«, hier S. 540 (Kursiv im Original).

5 Komplexitätsmanagement als Dispositiv der Freiheit

Komplexität bezeichnet stets eine Relation zwischen System und Welt, nie einen Seinszustand. 4

Allerdings ist damit eher der Begriff der Kontingenz definiert und es bleibt unklar, welche Art von Relation zwischen System und Umwelt für das System Komplexität impliziert. Daher kommt Luhmann später zu einer klareren, aber auch schwierigeren Definition. Komplexität ist demnach nicht einfach die Menge der strukturell ermöglichten Relationen, sondern deren Selektivität: auch nicht nur ein (empirisch gesicherter) Erkenntniszusammenhang zwischen den Variablen Größe und Strukturiertheit, sondern die Relation zwischen positiver Bestimmung der Größe und negativer Bestimmung des Ausscheidungseffekts der Struktur. Die Komplexität hat ihre Einheit also in der Form einer Relation: in der Relation wechselseitiger Ermöglichung von Elementmengen und reduktiven Ordnungen. 5

Ein komplexes System ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass es nicht mehr alle möglichen Relationen zwischen seinen Elementen tatsächlich realisiert, sondern dabei selektiv vorgeht und so eine bestimmte Ordnung des Systems realisiert. Diese Ordnung folgt aus der »Idee« des Systems, seiner Gestalt oder seiner Autopoiese als eine Einheit, die ihre Elemente nach der Idee des Systems formt. Es ist immer eine reduktive Ordnung, die auch anders möglich wäre (dies ist die komplementäre Seite der Kontingenz), und die zunächst die Möglichkeiten der Elemente im Interesse einer bestimmten Ordnung reduziert, dann aber genau durch diese Ordnung für das System insgesamt neue Möglichkeiten und Qualitäten eröffnet (dies ist die im System implizierte Seite der Emergenz). Ich definiere Komplexität als den Grad der Vielschichtigkeit, Vernetzung und Folgenlastigkeit eines Entscheidungsfeldes.6 Dabei meint Vielschichtigkeit den Grad der funktionalen Differenzierung eines Systems und die Zahl der bedeutsamen Referenzebenen (das sind Ebenen, die analytisch und empirisch unterschieden werden müssen,  – z. B. Individuum, Gruppe, Organisation, Gesellschaft –, weil Aussagen im Kontext 4 | Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 1, Opladen 1971, S. 115. 5 | Ders., Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1975, S. 207. 6 | Willke, Systemtheorie I: Grundlagen, S. 23.

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einer bestimmten Ebene nicht notwendig auch im Kontext einer anderen Ebene gelten). Vernetzung bezeichnet die Art und den Grad wechselseitiger Beeinflussung zwischen den Elementen sowie zwischen Elementen und System.7 Die Art der Vernetzung bestimmt auch die Muster der Selektivität in der Relationierung der Elemente. Folgelastigkeit meint Zahl und Gewicht der durch eine bestimmte Entscheidung in Gang gesetzten Rekursionen, Kausalketten oder Folgeprozesse innerhalb des in Frage stehenden Systems. Und der Begriff Entscheidungsfeld weist darauf hin, dass es keine Komplexität an sich gibt, sondern nur in Bezug auf ein bestimmtes Problem, welches für ein bestimmtes System in einer bestimmten Situation Entscheidungen erfordert. Diese Überlegungen legen nahe, dass Komplexität in gleicher Weise ein Perfektionsbegriff ist wie Einheit. Innerhalb einer organisierten Einheit gibt es keine Grenzen der Komplexität, sondern nur Begrenzungen der Komplexität durch die Selektivitäten der Formbildung. Dies bedeutet, dass jedes soziale System als sinnhaft konstituiertes System prinzipiell unendlich komplex ist, weil Sinn unendliche Verweisungsmöglichkeiten bereit hält und zunächst keine Einschränkungen weiterer und immer weiterer Differenzbildung erkennbar sind. So lässt sich die volle, reine Komplexität eines Systems nur imaginieren, nicht aber beobachten oder irgendwie empirisch festmachen. Die reine Komplexität eines Systems meint seine prinzipiell mögliche Komplexität vor dem Beginn der Festlegung bestimmter Formen, etwa der Elemente oder der Strukturen. Bei seiner Geburt durch eine erste Leitdifferenz kann jedes sinnhafte System wie bei einem Urknall aus einer prinzipiell unendlichen Komplexität möglicher Sinnverweisungen schöpfen, auch wenn dann sehr schnell selbst gesetzte Restriktionen einsetzen. Diese unendliche Komplexität ist der Zauber, der jedem Anfang innewohnt. Jede Theorie, jedes Spiel, jede Liebe, jedes Buch, jede Politik, selbst jede Geschäftsidee als Nukleus eines Unternehmens hat diesen Moment eines primordialen Beginnens, dem alle Möglichkeiten offen stehen. Die reine Komplexität eines Systems wird nach dem ersten Augenblick seiner Konstituierung zwingend zur organisierten Komplexität des Systems, weil in jeder faktischen Operation nun bestimmte Formen im System gesetzt und damit Anschlüsse, belegte Verzweigungen, Pfadab7 | Zu wichtigen Interdependenztypen James Thompson, Organizations in Action. Social Science Bases of Administrative Theory, New York 1967, 54–55.

5 Komplexitätsmanagement als Dispositiv der Freiheit

hängigkeiten, Prämissen etc. für die weitere Operationsweise definiert werden. Mit der ersten Operation beginnt die Geschichte der Selbstfestlegung des Systems und damit eine Pfadabhängigkeit aller weiteren Operationen. Aus dem unendlichen Reservoir reiner Komplexität schneidet es sich eine begrenzte organisierte Komplexität heraus. Was sich demnach beobachten lässt, ist nicht Komplexität selbst, sondern der Organisationsgrad oder der Ordnungskoeffizient von Komplexität: »Der Begriff der Komplexität hat keinen Gegenbegriff, und das hat theoretisch eine Signalwirkung, denn wir haben sehr wenige Begriffe ohne Gegenbegriff.«8 Fassbar ist Komplexität nur als organisierte, geformte oder geordnete Komplexität. Als Weltkomplexität der Innenwelt eines Systems ist sie unendlich. Systemkomplexität ergibt sich in selbstreferentiellen Systemen daraus, dass die Operationen des Systems auf andere Operationen innerhalb des Systems Bezug nehmen – aber eben nicht alle auf alle. Das Zusammenwirken unterschiedlicher Elemente zur Reproduktion ihrer selbst (d. h. eben dieser Elemente) erfordert eine hochgradige Selektivität der Relationen zwischen den Elementen eines Systems. Denn schon bei einer mittleren Zahl von Elementen würde deren vollständige Relationierung nahezu unbegrenzte Zeit erfordern. Eine Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Relationierung würde die internen selektiven Restriktionen aufheben, welche Grundlage der Stabilisierung des Unwahrscheinlichen und mithin Grundlage von Evolution sind. Eine aufschlussreiche Fassung des Begriffs der Systemkomplexität ergibt sich so aus der Differenz von Element und Relation. Der Grad der Selektivität der Relationierung der Elemente eines Systems verhält sich umgekehrt proportional zur Systemkomplexität. Extrem hohe Selektivität (d. h.: nur noch ganz wenig ist intern zugelassen) ergibt Unterkomplexität im Sinne einer Reduktion auf ganz wenige Optionen. Extrem geringe Selektivität erzeugt Hyper-Komplexität (d. h.: beinahe alles ist intern zugelassen) im Sinne einer Einbeziehung nahezu aller denkbaren Alternativen. Interessant und produktiv erscheint dann der mittlere Bereich organisierter Komplexität. Er ist durch bestimmte Muster oder Ordnungen der Selektivität in der Relationierung der Elemente eines Systems gekennzeichnet. Damit kommen die Bezüge zwischen Systemkomplexität und dem Konzept der Freiheit deutlicher zum Vorschein. Unterkomplexe oder triviale Systeme verfügen über wenig Freiheitsgrade; sie sind auf wenige 8 | Luhmann, Einführung Systemtheorie, S. 175.

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Optionen festgelegt. Hyperkomplexe Systeme dagegen weiten die Freiheitsgrade ins Uferlose aus und machen damit Entscheidungen beliebig oder unmöglich. Im mittleren Bereich organisierter Komplexität korreliert der Komplexitätsgrad eines Systems mit dessen Fähigkeiten des Komplexitätsmanagements. Damit ist auch gesagt, dass es keinen einzig richtigen Grad der Komplexität eines Systems gibt, sondern dieser je nach den Fähigkeiten des Systems variieren kann. Ebenso wenig gibt es einen einzig richtigen Grad von Freiheit in einer Gesellschaft, sondern Möglichkeit und Unwahrscheinlichkeit von Freiheit hängen von den Faktoren und Fähigkeiten der Selbststeuerung einer Gesellschaft ab. Die Evolution moderner Gesellschaften wird seit den Klassikern der Soziologie mit den Begriffen soziale Arbeitsteilung (Adam Smith und Durkheim), soziale Differenzierung (Simmel) und okzidentale Rationalisierung (Weber) beschrieben. Simmel fasste Differenzierung und Integration als einen wechselwirkenden Prozess auf, in dem ein »Erscheinungskomplex nach gewissen Gesichtspunkten hin differenziert und die Resultate der Differenzierung zu einem höheren Gebilde zusammengeschlossen werden«.9 Darüber hinaus schneidet er aber zwei Probleme an, die für das Verhältnis von Komplexität und Freiheit bedeutsam sind: 1. Er erkannte, dass Differenzierung weder ausschließlich in Polarisierung und die Entstehung antagonistischer Konflikte, noch ausschließlich in organische Höherentwicklung einmünden müsse; vielmehr seien beide Prozesse möglich: einerseits eine Entwicklung, »die ein Auseinandergehen in feindliche Gegensätze enthält«, andererseits einen Abbau der scharfen Grenzen zwischen Gruppen, »um zugleich mit der Individualisierung auch Vermittlung und Allmählichkeit der Übergänge eintreten zu lassen«.10 2. Er überwand einen einseitig gerichteten Evolutionismus, indem er Prozesse der Rückbildung der Differenzierung am Beispiel der Religionsentwicklung und der Rückbildung des Kriegerstandes aufzeigte. Wesentlich ist seine Einsicht, dass hier nicht einfach Dedifferenzierung vorliegt: »Die scheinbare Rückbildung der Differenzierung […] ist thatsächlich eine Weiterbildung derselben; sie ist an den Mikrokosmos zurückgegangen […]. Die Differenzierung hat sich aus dem Nebeneinander (hier: von

9 | Georg Simmel, Über sociale Differenzierung, Leipzig 1890, S. 124. 10 | Ebd., S. 119–120.

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Bürger und Söldner, H. W.) innerhalb der Gesamtheit auf das Nacheinander der Lebensperioden des Individuums übertragen.«11 Georg Simmel berührt hier den Gedanken, dass die durch funktionale Differenzierung gestiegene Komplexität der Gesellschaft auf ganz unterschiedliche Weise abgearbeitet werden kann. Vor allem kann soziale Komplexität durch eine zeitliche Folge unterschiedlicher Rollen  – etwa Studentin, Berufsanfängerin, Mutter, Expertin  – aufgefangen werden. Fehlen solche strukturellen Lösungen, dann bleibt oft nur der Ausweg, dass soziale Komplexität auf das Individuum abgeschoben wird und in Form von Rollenüberlastung und Rollenkonflikten Probleme schafft. Allgemeiner gilt, dass Gesellschaften unterschiedliche Formen und Kompetenzen ausbilden, mit einer zunächst nicht beherrschbaren Komplexität umzugehen. Wiederum am Prozess der sozialen Arbeitsteilung entwickelt Emile Durkheim eine implizite Systemtheorie, die in erstaunlicher Weise moderne Problemstellungen vorwegnimmt. Während segmentierte (»primitive«) Gesellschaften durch einen allgemeinen Wertekonsens und überwiegend repressives Recht normativ integriert sind, erzeugt die hochgradige Arbeitsteilung organisierter (»moderner«) Gesellschaften funktionale Interdependenzen und eine neue Form von Kollektivbewusstsein (»conscience collective«) aufgrund der Einsicht in gegenseitige Abhängigkeiten. Durkheim geht aber über die funktionale Integration Herbert Spencers insoweit hinaus, als er erkennt, dass Austauschbeziehungen allein Konstituierung und Dauer des Gesamtsystems nicht leisten können. Neben den rein utilitaristischen vertraglichen Beziehungen sind »nicht-vertragliche Elemente« erforderlich, welche einen strukturellen Rahmen zur Einbindung der hohen Komplexität aufgrund der Vielfalt möglicher vertraglicher Abmachungen bilden: Wahr bleibt, dass sich die Vertragsbeziehungen, die ursprünglich selten oder völlig abwesend waren, in dem Maße vervielfachen, in dem sich die soziale Arbeit teilt. Spencer hat (aber) anscheinend nicht gesehen, dass sich zur gleichen Zeit die nichtvertraglichen Beziehungen ebenfalls entwickeln.12

11 | Ebd., S. 131–133. 12 | Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Dt. Übersetzung der franz. Originalausgabe von 1930, Frankfurt a. M. 1988, S. 246.

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Das institutionelle Gefüge einer Gesellschaft bildet die Gesamtheit dieser nichtvertraglichen Beziehungen, welche zugleich den Rahmen für Räume möglicher Freiheit definieren. Dieses institutionelle Gefüge bestimmt die Muster legitimer Relationierung der Elemente eines Gesellschaftssystems, seien dies Menschen, Gruppen, Organisationen, Institutionen oder Funktionssysteme. Unterschiedliche Muster, wie sie etwa in den »Varianten des Kapitalismus« oder den »Varianten der Demokratie« Ausdruck finden, hängen mit historischen Pfadabhängigkeiten zusammen, aber eben auch mit unterschiedlichen Kompetenzen des Komplexitätsmanagements. Es ist leicht zu sehen, dass unterschiedliche Muster der Relationierung (etwa von Wirtschaft und Politik, oder von Organisationen des Erziehungssystems und Organisationen der Wirtschaft, oder von Personen innerhalb einer Familie) sehr unterschiedliche Optionen von Freiheit eröffnen oder verschließen. Auch kompliziertere Mechanismen des Komplexitätsmanagements haben entsprechende Auswirkungen auf Wahlmöglichkeiten. Bei der Relationierung von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Politik steht etwa eine Form der Negativkoordination – Einigung nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, idealtypisch das französische Modell – einer aufwändigeren Form der positiven Koordination (idealtypisch das deutsche Modell) gegenüber, die durch die Einbeziehung von Zukunft zusätzliche Optionen ins Spiel bringt.13 Über lange Zeiträume hinweg haben sich Demokratien auf wachsende gesellschaftliche Komplexität eingestellt. Ein erster wichtiger Mechanismus war der Übergang von der direkten Demokratie (in kleinen, übersichtlichen Gemeinschaften) auf die repräsentative Demokratie der großen Flächenstaaten. Weitere grundlegende Mechanismen des Komplexitätsmanagements sind Subsidiarität und Föderalismus. »Aber je komplexer und eigendynamischer Gesellschaften und Funktionssysteme werden, desto weniger reichen Subsidiarität und Föderalismus als Mechanismen der Systemsteuerung aus. Um nicht von Entscheidungsanforderungen überflutet zu werden, muss die Politik auf Dezentralisierung, 13 | Fritz Scharpf, »Coordination in hierarchies and networks«, in: Fritz Scharpf (Hg.), Games in Hierarchies and Networks, Frankfurt 1993a, S. 125–66; ders. (Hg.), Games in Hiearchies and Networks. Analytical and Empirical Approaches to the study of governance institutions, Frankfurt 1993b; ders., »Games Real Actors Could Play. Positive and Negative Coordination in Embedded Negotiations«, in: Journal of theoretical politics 6/1 (1994), S. 27–53.

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Delegation und Selbststeuerung der Funktionssysteme setzen. Auch dies ist längst unterwegs, beispielhaft in der Wirtschaft durch die Tarifautonomie oder in der Wissenschaft durch die Wissenschaftsfreiheit.«14 Von Beginn an war die moderne Demokratie geprägt von Auseinandersetzungen über unterschiedliche institutionelle Ordnungsmuster, die hier gleichgesetzt werden mit unterschiedlichen Strategien des Komplexitätsmanagements. Die einflussreiche Auseinandersetzung der 1780er Jahre zwischen den Federalists einerseits, die für eine stärkere Rolle der Zentralregierung eintraten, und den Confederalists andererseits, die für eine starke Position der Einzelstaaten stritten, endete zwar mit einem Sieg der Föderalisten um Madison, Hamilton und Jay, aber die Kontroverse hält bis heute an und entzündet sich in den USA immer wieder an einer mehr oder weniger populistischen Kritik an der Zentralregierung, an »big government«. Die Thematik des Föderalismus ist auch für die EU von größter Bedeutung und bildet den Kern der gegenwärtigen Krise der EU sowie der Versuche, ihr eine passendere und plausiblere institutionelle Form zu verschaffen. Die Beispiele deuten an, dass Formen und institutionelle Muster des Komplexitätsmanagements grundlegende Relevanz für die Gestaltung des politischen Systems, die Ausprägung der Demokratie, und damit die Gestaltung der Räume der Freiheit einer Gesellschaft haben. Die politischen Ordnungsmuster, die sich innerhalb des breiten und variablen Rahmens von Demokratie ausbilden können, lassen sich immer  – und immer noch  – auf den Ausgangspunkt zurückführen, den James Madison im berühmten zehnten Artikel der Federlist Papers ausgeführt hat. Es geht darum, wie ein Land seine Einheit und eine Regierungsform ihre Stabilität erhalten können, wenn die Bevölkerung sich ganz natürlich und unvermeidlich in unterschiedliche und miteinander konkurrierende Gruppen oder Fraktionen aufspaltet, die unterschiedliche Interessen, Leidenschaften, Meinungen, Glaubensrichtungen oder politische Überzeugungen vertreten. Madison kam zu einem sehr weisen Schluss: »Der Schluss zu dem wir kommen ist, dass die Ursachen der Spaltung nicht abgeschafft werden können, und dass daher die Lösung darin liegen muss, ihre Wirkungen zu kontrollieren.«15

14 | Willke, Konfusion, S. 132. 15 | »The inference to which we are brought is, that the causes of faction cannot be removed, and that relief is only to be sought in the means of controlling its ef-

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Die Ursachen der Spaltung nehmen mit gesellschaftlicher Differenzierung und Spezialisierung zu, und sie werden durch übergreifende Entwicklungen wie Globalisierung und Digitalisierung verstärkt. Ungleichheiten von Wohlstand und Vermögen, von Wissen und Expertise, von Ausbildungschancen und Karrieremöglichkeiten, von Macht und Einfluss, von medialer Präsenz und Prominenz, von Gesundheit und Lebenserwartung oder von Mobilität und Autonomie steigen ins nahezu Unermessliche.16 Die Ungleichheiten korrodieren den heroischen demokratischen Gleichheitsgrundsatz »eine Person eine Stimme«, und sie erzeugen ein Grundmuster von Interessenkonflikten und Dissens, welches die Frage aufwirft, wie dem gegenüber demokratische Regierungsfähigkeit und Konsensbildung erfolgreich aufrechterhalten werden können. Für seine Zeit gab Madison eine klare Antwort: Er lehnt die direkte Demokratie ab, weil sie die Leidenschaften und Spaltungen ungehindert durchbrechen lässt; und er empfiehlt daher eine repräsentative Demokratie, in der die Repräsentanten die vielfältigen Unterschiede moderieren und durch Mehrheitsbeschlüsse zügeln.17 Dies gilt grundsätzlich auch noch für heute, aber angesichts der Vervielfältigung der Differenzen und Spaltungen reicht eine Moderation durch repräsentative Demokratie allein nicht mehr aus. Bemerkenswert bleibt, dass die Föderalisten, und insbesondere Madison selbst, eine Stärkung der Bundesregierung (was im Text »Republic« fects.« Siehe: http://avalon.law.yale.edu/18th_century/fed10.asp, letzter Zugriff 08.11.2016. 16 | Beispielhaft für die Kategorien Vermögen, Kapital, Verdienst und Erbschaft Piketty, Kapital, S. 313–624; für Gesundheit und Lebenserwartung WHO-Report 2016; für Reputation und Qualität der Ausbildung als Ranking der Universitäten siehe den Bericht des Center for World-Class Universities an der Shanghai Jiao Tong University www.shanghairanking.com/, letzter Zugriff 08.11.2016. Zu Konsequenzen der Spaltungen für die Frage der Gerechtigkeit siehe Walzer, Spheres of Justice. 17 | Dies allerdings mit sehr idealistischen Annahmen über die Tugenden der Repräsentanten: »Jene, die mit ihrer Klugheit das wahre Interesse ihres Landes am besten erkennen, und deren Patriotismus und Liebe für Gerechtigkeit am ehesten der Versuchung standhält, diese zugunsten von vergänglichen oder einseitigen Erwägungen zu opfern.« Siehe: http://avalon.law.yale.edu/18th_century/fed10. asp, letzter Zugriff 08.11.2016.

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oder »Union« genannt wird) gegenüber den dezentralen Tendenzen der Konföderierten damit begründen, dass so die Freiheit gegen ihre Unterdrückung durch Minderheiten und auch gegen die Diktatur der Mehrheit verteidigt werde. Zwar fördere Freiheit auch die Bildung von Unterschieden und Fraktionen, aber nichts wäre unsinniger als deshalb Freiheit abzuschaffen, denn sie ist grundlegend für das politische Leben.18 Damit ist das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und demokratischer Effektivität thematisiert. Die Leistungsfähigkeit der Demokratie in Begriffen der Systemsteuerung hängt, wie die Überlegungen der Föderalisten zeigen, von Anfang an ab von entsprechenden Formen des Komplexitätsmanagements. Wird zunächst gesellschaftliche Komplexität von konkurrierenden Fraktionen und Gruppierungen erzeugt, so expandieren die Ursachen für Komplexität unter heutigen Bedingungen durch eine Vielzahl von Faktoren. Dissipative Strukturen der Gesellschaft insgesamt, die auf Differenzen und Differenzierungen gründen, erzwingen eine Umstellung des Politikstils auf Fluktuationen und auf neue Ordnungsformen, die Kontextsteuerung (durch die Politik) und Selbststeuerung der Funktionssysteme verbinden. Eine Verlagerung von Steuerungskompetenz in die gesellschaftlichen Subsysteme hinein verstärkt zwar die Bedrohungen von Freiheit, vor denen Madison warnt, aber sie können dadurch ausbalanciert werden, dass die Funktionssysteme und ihre Organisationen auf gesellschaftliche Kompatibilität verpflichtet werden, und diese Verpflichtung durch eine demokratisch legitimierte Politik erfolgt. Die klassischen Mechanismen des demokratischen Komplexitätsmanagements, vertikaler Föderalismus und vertikale Subsidiarität, sind nach wie vor wichtig und wirksam, aber sie reichen angesichts gesellschaftlicher Hyperkomplexität nicht mehr aus. Ich schlage vor, sie durch Mechanismen horizontaler Subsidiarität und horizontaler Föderalität zu erweitern. Damit ist gemeint, dass das vertikale Mehrebenensystem der Politik (von der Kommune über Kreis, Region und Land bis zur Bundesebene) ergänzt wird durch eine horizontal in die Funktionssysteme und ihre Untereinheiten reichende Dezentralisierung der Steuerungsaufgaben. Die dezentral verteilten Selbststeuerungskompetenzen und Fähigkeiten des Komplexitätsmanagements der gesellschaftlichen Subsysteme werden in die Pflicht genommen. Was im Erziehungssystem, im Wissen18 | Ebd.: »Nichts wäre törichter, als die Freiheit abzuschaffen, ist diese doch fürs politische Leben zentral.«

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schaftssystem, im Gesundheitssystem etc. selbst entschieden werden kann, ohne gravierende negative Externalitäten zu schaffen, braucht die Politik nicht zu kümmern19 und kann so zu einer deutlichen Entlastung von Komplexität und Entscheidungsdruck im politischen Prozess führen. Ein willkommener Nebeneffekt wäre eine spürbare Begrenzung der expansiven Dynamik der Politik, wie sie etwa unter dem Stichwort der »Verrechtlichung« verhandelt wird. All dies gilt auch, und wohl verstärkt, für die Ebene der EU, die sich mit Detailregelungen und daraus folgenden Steuerungsaufgaben völlig überlastet und diskreditiert und damit zur Krise der EU beigetragen hat. Die Krise politischer Steuerung ist aber allgemeiner und grundsätzlicher, und sie folgt aus der weitgehend unbegriffenen Wucht einer Steigerung gesellschaftlicher Komplexität, die bislang zu ihrem Schaden weder die Demokratietheorie noch die politische Praxis groß beeindruckt hat. Hinsichtlich der politischen Praxis hängt dies offensichtlich an einem befürchteten Machtverlust, der den politischen Organisationen und Akteuren in einer kurzsichtigen und kurzfristigen Perspektive Sorgen bereitet. Schwerer zu sehen ist, dass in einer weitsichtigeren Perspektive eine Entrümpelung und Entschlackung der politischen Entscheidungsprozesse erhebliche Vorteile für das politische System der Demokratie hätte. Nicht nur könnte eine Fokussierung auf gewichtige Themen und Entscheidungen die Attraktivität der Politik und ihrer Parteien erhöhen, vielmehr wäre damit ein wichtiger Schritt getan, um eine grundlegendere Dezentrierung der Politik in die Wege zu leiten.20 Ganz generell ist Dezentrierung zu verstehen als ein Gegengewicht zur Überlastung hierarchischer Strukturen durch Komplexität und einer daraus folgenden Entscheidungslast. Verteilte Systeme haben mehr Möglichkeiten, die Kapazitäten und Kompetenzen der dezentralen Subsysteme zu nutzen. Dies gilt mit besonderem Gewicht für Systeme, in denen Intelligenz und Expertise von 19 | »Vielleicht stehen für die kommenden Jahrzehnte sehr grundlegende Diskussionen an zur bisher wie selbstverständlich hingenommenen Verfügung des Staates über die Wirtschaft via Steuern, zur dominanten Rolle des Staates in der Erziehung – und möglicherweise auch zum Gewaltmonopol des Staates.« Hans Ulrich Gumbrecht, »Ob die Freiheit eine Zukunft hat«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Digital (09.04.2016). Verfügbar unter: http://blogs.faz.net/digital/2016/04/09/ ob-die-freiheit-eine-zukunft-hat-1007, letzter Zugriff 08.11.2016. 20 | Ausführlich dazu Willke, Dezentrierte Demokratie.

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konstitutiver Bedeutung sind, also etwa für mentale Systeme,21 moderne Organisationen22 und eben hochkomplexe Gesellschaften. Entsprechend verlangen Führung, Steuerung und Management dieser Systeme die Fähigkeit, verteilte Expertise (»distributed intelligence«), die heute vom Lokalen bis zum Globalen disloziert sein kann, zu koordinieren, zu moderieren und zu einer integrierten Leistung zusammenzuführen. Damit ist für hochkomplexe Gesellschaften auch schon idealtypisch die eigentliche Aufgabe des Parlaments als demokratischem Souverän beschrieben. Je mehr sich ein Parlament um Details kümmert, desto mehr verliert es den Überblick. Je mehr es sich in die Paradoxien hierarchischer Steuerung hineintreiben lässt, desto mehr riskiert es, die Folgen für die Freiheitsräume der Bürger aus den Augen zu verlieren – besonders ausgeprägt etwa bei formalen Demokratien wie Polen, die Türkei oder Ungarn, die sich zu autoritären Regimen wandeln. Je mehr es dem in die Politik eingebauten Hang zur Kompetenzerweiterung, zur Überregulierung und zur Beschneidung subsystemischer Autonomien nachgibt, desto mehr verheddert es sich in Nebensächlichkeiten und nachrangigen Entscheidungen, die zu gähnender Leere im Plenarsaal und zu einer allmählich brisant werdenden Politikverdrossenheit der Bürger führen. Will man über das Kurieren der Symptome hinaus grundsätzlicher ansetzen, dann bietet das Dispositiv der Komplexität und des Umgangs mit Komplexität eine in vielen Disziplinen bereits erprobte Herangehensweise. Praxisfelder wie Managementmodelle, soziale Netzwerke, Organisationskonzeptionen, Beratungsansätze, aber auch Modelle mentaler Prozesse oder systemischer Therapie, die der anbrandenden Komplexität nicht einfach ausweichen können, haben viel zu einem besseren Verständnis der Dynamik komplexer Systeme beigetragen. In allen diesen Feldern geht es auch darum, Strategien des Komplexitätsmanagements zu entwickeln und zu erproben und die gewonnenen Erfahrungen mit Blick auf Optimierung und Lernen zu reflektieren. Es gibt keinen Grund für die Politik als Steuerungsinstitution einer Gesellschaft, sich diesen Erfahrungen zu verschließen und weiterhin sich mit geschlossenen Augen23 durch das Labyrinth gesellschaftlicher Komplexität durchzuwursteln.

21 | Marvin Minsky, The Society of Mind, New York 1988 (zuerst 1985). 22 | Willke, Wissensmanagement. 23 | Donella Meadows u. a., Groping in the Dark, Chichester u. a. 1982.

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5.1 P olitische I ntervention als F orm des  K omple xitätsmanagements Grundlegende Aufgabe der Politik ist die Steuerung komplexer Sozialsysteme. Die Bedingungen für Steuerung haben sich im Laufe der Gesellschaftsgeschichte geändert. Wenn es keine externen Götter mehr gibt, die Menschen und Gesellschaften steuern, wer soll dann an deren Stelle treten? Auf diese Frage antwortet Machiavelli anders als Hobbes, John Locke anders als St. Simon, Rousseau anders als Hegel. Heute kommt die Einsicht hinzu, dass soziale Systeme aufgrund ihrer Eigenkomplexität und Intransparenz von außen nicht mehr durchdrungen und gesteuert werden können, ohne die Vorteile dieser hohen Eigenkomplexität zu gefährden. Für nicht-triviale Systeme lässt sich zeigen, dass nur zwei Formen systemadäquater Steuerung übrig bleiben: Kontextsteuerung als Form der externen Einflussnahme und Selbststeuerung als Form der internen Beeinflussung komplexer Systeme.24 Mit dem Zusammenbruch des praktizierten Sozialismus haben auch theoretische Konzeptionen der zentralisierten Planung, der hierarchischen Fremdsteuerung, der direkten autoritären Beeinflussung ihre verbliebene Basis an Glaubwürdigkeit und Reputation verloren. Der auch von der Systemtheorie immer wieder monierte Widersinn einer Trivialisierung komplexer Sozialsysteme hat sich im Falle des Sozialismus auch durch eine immer repressivere Praxis nicht halten lassen; und er hat sich im Falle hierarchisch-zentralistischer Organisationen auch durch technologische Hilfsmittel nicht retten lassen. Dieses praktische Scheitern einer Theorie der Systemsteuerung wird nicht ohne Auswirkungen auf Vorstellungen demokratischer Gesellschaftssteuerung durch Politik und der Organisationssteuerung durch Management bleiben. Phantasien der Machbarkeit, ja Erzwingbarkeit organisationaler Reformen und Restrukturierungen, die vor allem das wohlfahrtsstaatliche Denken noch prägen, werden weiter in die Defensive gedrängt werden. Die von oben verordnete Beglückung der Menschen durch Wohlfahrtsgesellschaft und benevolentes hierarchisches Management wird noch fragwürdiger werden. Wie jede Intervention in komplexe dynamische Systeme sehen sich auch politische Interventionen prinzipiellen Schwierigkeiten gegenüber, die konzeptionell in der Soziologie mit Begriffen wie Autonomie und 24 | Willke, Regieren, S. 35–68.

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Eigendynamik verhandelt werden,25 und die Luhmann systematischer und theoretisch fundierter in der Begrifflichkeit von Selbstreferenz, operativer Schließung und Autopoiese analysiert. In Soziologie und Politikwissenschaft war Ausgangspunkt die empirische Beobachtung von Implementationsproblemen und Umsetzungsschwierigkeiten,26 während für Luhmann die organisierte Komplexität nicht-trivialer Systeme die Grundbedingung aller Interventionsprobleme darstellt. Ein System erarbeitet sich Autonomie (gegenüber seiner Umwelt), indem es in seinen Operationen stärker auf sich selbst Bezug nimmt als auf Ereignisse in seiner Umwelt. Je weiter es seine Eigenkomplexität ausbaut, desto umfassender kann es sich mit sich selbst, seinen Optionen, Kombinationen und Entscheidungen beschäftigen. Besonders deutlich gilt dies für mentale Systeme, die nur noch ganz selektiv mit ihrer Umwelt verbunden sind, und in denen die wesentlichen Prozesse intern auf der Basis des bereits Vorhandenen durch Verknüpfung, Rekombination und selektive Aktivierung ablaufen. Diese selbstreferentielle Operationsweise komplexer Systeme macht sie in einer dosierbaren Weise unabhängig – wenngleich nicht autark – von ihrer Umwelt.27 Selbstreferenz meint die Operationsweise eines Systems, bei welcher die Reproduktion der Einheit des Systems die Bedingung der Möglichkeit von Umweltkontakten (Fremdreferenzen) darstellt. Das System selbst 25 | Renate Mayntz, Birgitta Nedelmann, »Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1987), S. 648–668. 26 | Renate Mayntz (Hg.), Implementation politischer Programme II. Ansätze zur Theoriebildung, Opladen 1983. Aaron Wildavsky, Implementation: How Great Expectations in Washington are Dashed in Oakland; or, Why it’s Amazing that Federal Programs Work at all, Berkeley 1973. 27 | »Da Bewußtseinssysteme ebenso wie Kommunikationssysteme nur unter diesen Bedingungen ihrer eigenen Autopoiesis operieren können, gibt es keinerlei Überschneidungen ihrer Operationen. Die Einheit eines Einzelereignisses, eines einzelnen Gedankens oder einer einzelnen Kommunikation, kann immer nur im System unter rekursiver Vernetzung mit anderen Elementen desselben Systems erzeugt werden. […] Es gibt also keine ›bewußte Kommunikationen‹, so wenig wie es ›kommunikatives Denken‹ (Empfinden, Wahrnehmen) gibt. Oder anders gesagt: Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren.« Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft, S. 31–32.

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und die Kontinuierung seiner operativ geschlossenen Funktionsweise werden zum Maßstab für die Brauchbarkeit der Operationen des Systems. Die Umwelt bietet Möglichkeiten und setzt Restriktionen, welche je nur im Hinblick auf die Eigenarten der Operationsweise des Systems – also durch Selbstbezug – als solche erkennbar werden. Selbstreferenz bei nicht-trivialen Systemen bedeutet deshalb einen durch die Gesetzmäßigkeiten der autonomen Operationsweise des Systems bestimmten Umweltbezug. Selbstreferenz schließt also Umweltkontakte nicht aus, sondern selegiert sie nach Regeln und Kriterien, welche nicht von außen, sondern vom System selbst vorgegeben werden. Selbstreferenz ist, wie Dialektik, eine Verschreibung für unendliche Komplikationen. Aber nur mit der Möglichkeit unendlicher Komplikationen kommt man der Komplexität real operierender Systeme auf die Spur. Das haben andere Denker vor Luhmann auch schon gewusst. Der Geniestreich Luhmanns besteht darin, die alte Idee der Selbstreferenz mit der neuen Idee der Form zu verknüpfen. In Anlehnung an das Formenkalkül von George Spencer Brown versteht Luhmann Form als die Einheit einer sprachlich stilisierten Differenz, welche der Beobachtung bestimmte, distinkte Richtungen weist. Es ist die Form als Form, welche der Beobachtung die Möglichkeit, man ist geneigt zu sagen: die Versuchung, mitgibt, auch die andere Seite der Form zu beobachten – und schon hat die Beobachtung zwei Möglichkeiten und muss demnach sehen, was sie tut: Sie muss sich als Operation selbst beobachten und sieht, dass sie unweigerlich selbstreferentiell operiert. Adam und Eva beobachten (to observe = einhalten) das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, aber gerade dieses Beobachten gibt ihnen die Möglichkeit – führt sie in Versuchung – auch die andere Seite zu sehen. Tatsächlich können sie der Versuchung gar nicht wiederstehen, weil sie begonnen haben, zu beobachten. Die Grausamkeit ihres Gottes liegt deshalb gar nicht darin, ihnen eine fiktive Entscheidungsfreiheit gegeben zu haben, sondern darin, ihnen die Gabe der Beobachtung verliehen zu haben. Ein System, das selbstreferentiell operiert und fähig ist, jeweils auch die andere Seite zu sehen, also in Optionen zu denken, gewinnt Freiheitsgrade zum einen gegenüber seiner Umwelt – die Bindung an eine zwingende Input-output-Logik entfällt – und Freiheitsgrade gegenüber sich selbst, indem es Optionen zulässt und Selbstfestlegungen abschütteln, also sich selbst überraschen kann. Eine praktische Folge durchkomponierter Selbstreferenz lässt sich als operative Schließung bezeichnen. Der Begriff unterstreicht, dass es sich

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um eine Schließung und Abschließung des Systems gegenüber seiner Umwelt in der operativen Dimension handelt, aber weder um eine umfassende Schließung im Sinne von Autarkie noch um eine generelle Unabhängigkeit des Systems. So sind z. B. lebende Zellen, Organismen oder mentale Systeme operativ geschlossen, aber sie hängen hinsichtlich der Rohstoffe ihrer Operationsweise (wie Energie, Nahrung oder Information) von ihrer Umweltnische ab. Ganz analog sind auch Organisationen oder gesellschaftliche Funktionssysteme operativ geschlossen – sie definieren klare Grenzen zu ihren Umwelten und unterscheiden Dazugehörendes und Nicht-Dazugehörendes. Und auch sie hängen hinsichtlich der für ihre Operationsweise relevanten Rohstoffe von ihren Umwelten ab. Es sind diese Abhängigkeiten, welche auch gegenüber operativ geschlossenen Systemen eine gewisse, sehr selektive Beeinflussung von außen ermöglicht. Ich nenne diese Form Kontextsteuerung. Sie zielt darauf, Kontextfaktoren eines Systems, auf welche das System in seiner eigenen Logik und Operationsweise reagiert, so zu konfigurieren, dass es für das System attraktiv wird, sich auf diese Konfiguration einzulassen und sich damit in eine gewünschte Richtung zu bewegen oder zu verändern. Weil aber selbst noch diese Bewegung oder Veränderung ausschließlich in der (internen) Logik des Systems abläuft, ist eine externe Kontrolle dessen, was passiert, nicht möglich und bleibt Illusion. Die Behauptung der eigenen Steuerungskompetenz und der Steuerbarkeit gesellschaftlicher Problemfelder ist eine der konstitutiven Lebenslügen der Politik. Gegenüber Wählern und Publikum muss sie diese Steuerungskompetenz behaupten, aber sie selbst weiß um ihre erbärmlichen Steuerungsfähigkeiten und die mit steigernder gesellschaftlicher Komplexität sich verstärkenden Schwierigkeiten gelingender Intervention – gegenwärtige Beispiele reichen von der Staatschuldenkrise über die Migrationskrise bis zur Unfähigkeit der Politik, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung durch Steueroasen und Briefkastenfirmen zu unterbinden. Im vorliegenden Text geht es aber nicht um politische Steuerungskompetenz im Allgemeinen,28 sondern um die Folgen misslingender politischer Intervention für eine Konzeption von Freiheit. Selbstreferenz und operative Autonomie eines Systems stärken dessen Freiheitsgrade, weil es

28 | Dazu ausführlich Willke, Konfusion. Ders., Regieren. Ders., Systemtheorie III: Steuerungstheorie, Konstanz 2001.

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weniger abhängig von außen ist, und weil es selbst über seine Operationen und Optionen entscheiden kann. Bezieht man diese Logik auf gesellschaftliche Funktionssysteme, dann scheint ein ambivalentes Verhältnis auf zwischen dieser Bewegung zur Autonomie einerseits und der traditionellen Rolle demokratischer Politik als wichtigstem Garanten aller Freiheit andererseits. Wenn die Politik mit der Absicht einer Problemlösung oder einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bürger in ein Funktionssystem interveniert, dann kann dies widersprüchliche Auswirkungen haben. Zum einen könnte die Intervention Freiheitsmomente in den betroffenen Funktionssystemen – etwa Gesundheitssystem oder Schulsystem – stärken, wenn dort durch konträre Interessenlagen oder Machtverhältnisse Freiheitsrechte bedroht oder tatsächlich eingeschränkt sind. Zum anderen aber könnte die politische Intervention genau entgegengesetzt Freiheitsräume einengen, welche ein bestimmtes Funktionssystem aufgrund seiner Autonomie und operativen Geschlossenheit gegenüber Umweltzwängen erfolgreich durchgesetzt hat. Das Gesundheitssystem bietet reichlich Anschauungsunterricht für das Dilemma. Engt ein Krankenversicherungsgesetz wie »Obamacare« (Patient Protection and Affordable Care Act) die Freiheit ein oder ermöglicht es nicht erst eine reale Praxis der Freiheit ohne konstante Sorge um die eigene Gesundheit? Engt die Niederlassungsregelung die Freiheit von Ärzten, Therapeutinnen und Patienten ein oder schützt sie alle Beteiligten vor Überversorgung, schädlicher Konkurrenz und einer Absenkung von professionellen Standards? Schützen strenge Zulassungsvorschriften für neue Medikamente Leib und Leben potentieller Patienten, und damit die Grundlagen ihrer Freiheit, oder schnürt sie die Freiheit der Pharmaunternehmen unnötig ein? Im Schulsystem stellen sich analoge Fragen: Ist die Schulpflicht eine Negation der elterlichen Entscheidungsfreiheit oder im Gegenteil Voraussetzung für ein erfolgreiches Bestehen in der modernen Gesellschaft? Engen die strengen Regeln für Curriculum und Benotung die Freiheiten von Lehrern und Schülern ein oder sind sie unabdingbar, um das Funktionieren des Systems Schule und mithin die freiheitssichernden Leistungen der Schulbildung zu ermöglichen? Ähnliche Fragen ließen sich für jedes gesellschaftliche Funktionssystem stellen. Sie alle verweisen darauf, dass es keine einfachen Antworten mehr gibt, weil es sich nicht mehr um einfache Systeme handelt, sondern um vielschichtige und widersprüchliche Konstellationen, in denen Maßnahmen oder Interventionen unvermeidbar unterschiedliche Wirkungen

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für unterschiedlich Beteiligte haben. Freiheit, so erweist sich, lässt sich nicht mehr als kompakte Einheit verstehen, die entweder vorhanden oder nicht vorhanden ist. Vielmehr zeigt sich Freiheit als komplexe Architektur von Komponenten, die auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Dimensionen zusammenspielen und insgesamt ein eher tragfähiges Konstrukt ergeben oder ein eher fragiles. Insofern spiegeln die Komplexitäten der Funktionssysteme die komplementären Komplexitäten der Freiheit, die innerhalb der gesellschaftlichen Bereiche die Räume möglicher oder unwahrscheinlicher Freiheit definieren. Für politische Interventionen in die Funktionssysteme bedeutet dies, dass sie nicht nur generell ungewiss und unkontrollierbar sind, sondern auch in ihren Wirkungen auf mögliche Freiheit nicht leicht einzuschätzen sind. Jede Intervention kann auch für die Konstellationen der Freiheit in Bereichen wie Erziehung, Familie, Gesundheit, Wissenschaft, Wirtschaft oder Kultur widersprüchliche Wirkungen haben – je nach Geschichte, Entwicklungsstand, Dynamik und Operationslogik des jeweiligen Funktionssystems. Es mutet daher wie ein gesellschaftsfernes individualistisches Wunschdenken an, wenn Otfried Höffe die personale Freiheit als freiheitstheoretischen Höhepunkt seiner Freiheitskonzeption bezeichnet.29 Die Einbindungen personaler Freiheit in organisationale, funktionssystemspezifische und gesellschaftliche Kontextbedingungen sind umso gewichtiger für eine Rekonstruktion möglicher Freiheit, je verlorener und verlassener das Individuum ohne diese Bezüge dasteht. Wenn 1,6 Milliarden Menschen sich freiwillig den Zwängen von Facebook unterwerfen, welche Bedeutung hat dies für den freiheitstheoretischen Höhepunkt personaler Freiheit? Und dies ist nur ein Beispiel aus Myriaden von Fällen freiwilliger Selbstaufgabe von Momenten personaler Freiheit in den Netzwerken digitaler Verführungen. Vor allem überspielt Höffe damit die konstitutiven Bindungen möglicher Freiheit an die Formen demokratischer Politik,30 die sich konkret freiheitsrelevant in den Unzulänglichkeiten und Ungewissheiten politischer Intervention – etwa der Regulierung globaler Firmen wie Facebook – zeigen. 29 | Höffe, Kritik der Freiheit, S. 116. 30 | So ausdrücklich schon Badura, Politische Freiheit, S. 203: »Als Staatsidee und Staatsideal ist Demokratie nicht so sehr Prinzip einer etablierten Ordnung und ihrer Apologie, als ein Prinzip der Kritik und der Revisibilität von Ordnung und Herrschaft überhaupt.

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Man kann heute wissen, dass man nicht wissen kann, wie sich Veränderungen in den Labyrinthen einer gesellschaftlichen Logik realisieren.31 Was ein Mensch im Allgemeinen, ein Politiker oder ein Soziologe im Speziellen als Veränderung intendiert, hat wenig mit den wirklichen Veränderungen zu tun, denn diese laufen auf Bahnen, die er nicht beherrscht und deren Weichen er nicht kontrollieren kann. Deshalb sind alle von Philosophen, Religionsstiftern, Politikern, Wirtschaftsreformern etc. in die Welt gesetzten Veränderungszüge vielfach und mit hohen Kosten entgleist, ob Christentum oder Französische Revolution, ob Sozialismus oder Apartheid, ob Entwicklungshilfe oder der Neoliberalismus der Weltbank. Diese Einsicht kann eine systemtheoretische Soziologie und eine auf ihr auf bauende Interventions- und Steuerungstheorie zum Verständnis von Gesellschaft beitragen. Der in Luhmanns Adaptation der Idee der Autopoiese liegende Verzicht auf die übliche Arroganz der Machbarkeit von Veränderung hat allerdings die Demokratietheorie nicht auf eine neue, angemessenere Bewusstseinsstufe gehoben, sondern sie vielmehr im Kern ihrer Selbstillusion als Veränderungswissenschaft getroffen – und daher verständlicherweise aufgebrachte Verständnislosigkeit provoziert. Dennoch gilt auch für demokratische Politik, dass sie ausschließlich mit Interventionen arbeiten kann, die auf die Barrieren, Geschlossenheit und Eigendynamiken nicht-trivialer Systeme stoßen, und deren Wirkungen auf mögliche Freiheit daher ungewiss bleiben. Das macht Politik nicht nutzlos, aber die Qualität von Politik hängt nun ab von Erfahrungen und Expertise im Umgang mit komplexen Systemen, und für die Sicherung möglicher Freiheitsräume werden Kompetenzen im Komplexitätsmanagement wichtiger als politische Programme. Eine Verdichtung der Komplexitäten durch Globalisierung und Digitalisierung zu gesellschaftlicher Hyperkomplexität bringt eine entsprechende Häufung von misslingenden Kommunikationen und misslingender politischer Intervention mit sich. Die Differenz von Wissen und 31 | »Systeme in der echten Welt weisen nicht nur komplexe, nichtlineare Dynamiken auf, sondern zusätzlich eine Komplexität anderer Art: Die schiere Anzahl an interagierenden Elementen, aus denen sie aufgebaut sind. Diese Art von Komplexität birgt eine tiefgreifende Unsicherheit, welche das politische Handeln in der Praxis erheblich erschwert.« John Anderies, »Aligning Key Concepts for Global Change Policy: Robustness, Resilience, and Sustainability«, in: Ecology and Society 18 (2013), S. 8–24.

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Nichtwissen weitet sich von Personen auf die Gesellschaft selbst aus und wird als Riskanz der Moderne auf Dauer gestellt.32 Damit gerät nach Luhmann auch die Rationalität von Gesellschaft aus den Fugen; Rationalität erscheint »nicht mehr als paradox, sie erscheint als unmöglich. […] Die gesellschaftliche Rationalität wird unter modernen Bedingungen im wortgenauen Sinne eine Utopie. Für sie gibt es keinen Standort in der Gesellschaft mehr.«33 Dies sind schlechte Vorzeichen für eine Freiheit, die im Kern von der Rationalität demokratischer Politik abhängt. Ein gangbarer Ausweg aus dem Dilemma könnte sein, die Differenzierung der Rationalität in Teilrationalitäten und damit die Komplexifizierung möglicher Freiheit anzuerkennen und auf dieser Grundlage ein adäquates Modell von Freiheit zu errichten. Impliziert wäre damit allerdings ein Abschied von der Apotheose personaler Freiheit als freiheitstheoretischem Höhepunkt. Denn nun stellt sich heraus, dass eine Person in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten ganz unterschiedliche Momente von Freiheit und Unfreiheit realisieren kann. Eine Person kann als Wählerin große Freiheit, als Konsumentin oder Mitarbeiterin geringere Freiheit, als Patientin eingeschränkte Freiheit, als Mutter/Erzieherin weite Freiheit, als Nutzerin von Internetdiensten ganz geringe Freiheit, als Mitglied einer Religion keine Freiheit etc. genießen und dies alles gleichzeitig. Der Nettoertrag an Freiheit hängt von der Rollenkomposition der Person und den jeweils dazugehörenden Konstellationen der differenzierten gesellschaftlichen Bereiche ab und er lässt sich nicht mehr in das schlichte Schema von personaler Freiheit-Ja-oder-Nein pressen. Und impliziert wäre damit auch ein Abschied von der Illusion der freiheitssichernden Funktion politischer Intervention verbunden. Man kann nicht mehr präzise wissen, ob eine politische Intervention im Erziehungssystem, Finanzsystem, Gesundheitssystem, Familiensystem etc. die Freiheiten in den Rollensegmenten der betroffenen Bürger stärkt oder einschränkt. Man kann nicht mehr genau voraussagen, wie sich politische Strategien etwa zur Gesundheitsvorsorge, zur Kriminalitätsprävention, zur Terrorismusbekämpfung, zur militärischen Verteidigungsbereitschaft, zum Umweltschutz, zum Datenschutz etc. auf die Konfigurationen der Freiheit der Betroffenen auswirken werden. Man kann nicht mehr sicher sein, welche Rekursio32 | Helmut Willke, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation, Weinheim, München 1993. 33 | Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 184 u. 186.

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nen, nicht-intendierte Nebenwirkungen und positive Rückkopplungen dafür sorgen, dass das Gegenteil dessen eintritt, was eine bestimmte Politik beabsichtigt hatte. Die klassische Strategie des Komplexitätsmanagements der Demokratie angesichts dieser Dilemmata ist Versuch und Irrtum. Das kann nicht ganz falsch sein, wenn man bedenkt, dass dies auch die Lernstrategie der Evolution ist. Aber die Evolution setzt, ebenso wie die klassische Demokratie, auf Inkrementalismus und Durchwursteln. Wenn dies als Intelligenz der Demokratie nicht mehr ausreicht, weil Veränderungen disruptiv und rasant erfolgen, dann sind erweiterte Strategien des Komplexitätsmanagements erforderlich. Der Angelpunkt dafür ist nach wie vor die enge Verknüpfung zwischen der Leistungsfähigkeit der Demokratie als politischem Steuerungsregime und die Sicherung der Freiheitsräume der Bürger durch eben diese Demokratie. Kann die Demokratie ihre Steuerungsaufgabe nur noch bedingt erfüllen, dann hat dies zwingend Folgen für die Ausgestaltung von Freiheit. Weit grundlegender als bislang in der Freiheitstheorie angenommen, muss daher Demokratietheorie als ein elementarer Bestandteil aller Überlegungen zur Architektur von Freiheit angesehen werden. Geradezu zwingend führt dies dazu, dass der individualistische Bias der überkommenen Freiheitstheorien als Einschränkung sichtbar wird, die zwar historisch verständlich ist, aber nicht ohne erhebliche Verluste in das 21. Jahrhundert verlängert werden kann. Solange Freiheitstheorie und Demokratietheorie nebeneinander herlaufen, die eine hauptsächlich von Philosophinnen und die andere hauptsächlich von Sozialwissenschaftlerinnen betrieben, fehlt zumindest für den Fall komplexer Gesellschaften das entscheidende Verbindungsstück, welches der Freiheitstheorie dazu verhelfen könnte, bei aller Wertschätzung der Klassiker sich auf die Bedingungen einer Form von Demokratie einzulassen, die von globalen Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen geprägt ist, sich zur digital inspirierten Demokratie 2.0 verändert hat, und die sich in einer hoch differenzierten, kognitiv anspruchsvollen und hyperkomplexen Gesellschaft als Modus politischer Steuerung behaupten soll.

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5.2 K ontingenzkontrolle als S elbstbehaup tung der  D emokr atie Voraussetzung jeder strategisch gedachten politischen Intervention ist der Wille und die Fähigkeit der Politik zur Selbstbehauptung. Seit Reagonomics und Thatcherismus hat die Selbstbehauptung der (demokratischen) Politik erheblich gelitten. Für zweieinhalb Jahrzehnte waren die Schlagworte quer über nahezu alle Demokratien »weniger Staat, mehr Markt«: Deregulierung, Entstaatlichung, Privatisierung, Dominanz des Marktes und Rückzug der Politik. Die globale Finanzkrise markiert das kostspielige Scheitern dieser politökonomischen Strategie, aber sie und ihre Folgen haben noch keineswegs zu den notwendigen Einsichten und Lernprozessen der politischen Systeme geführt. Selbstbehauptung meint, dass die Politik ihre Kompetenzkompetenz wahrnimmt und sich nicht den Partialinteressen der Funktionssysteme ausliefert. Nach dem bisher Ausgeführten sollte allerdings deutlich sein, dass hier feine und diffizile Abwägungsprobleme zu bearbeiten sind, weil die Politik einerseits die (auch verfassungsrechtlich garantierten) Autonomien der Funktionssysteme respektieren muss, und darüber hinaus von der Expertise und Selbststeuerungskompetenz der Subsysteme abhängig ist. Andererseits besteht die eigenständige Aufgabe der Politik darin, als einzige Vertreterin der Interessen des Gesamtsystems für Integration und Kompatibilität der Teile im Ganzen zu sorgen. Genau in der Aufschlüsselung dieser Dialektik liegt die Herausforderung für eine freiheitssichernde demokratische Politik in einer globalisierten Moderne. Die genauere Bedeutung von Kontingenzkontrolle34 erschließt sich erst, wenn das Verhältnis von Kontingenz und Komplexität durchsichtiger geworden ist, und wenn Kontingenz in ihrer ambivalenten Bedeutung für mögliche Freiheit überprüft worden ist. Die reine Kontingenz menta34 | Der Begriff der Kontrolle ist hier systemisch gedacht und unterscheidet sich deutlich von Kontrolle als Zwang. In komplexen Systemen ist Zwang kontraproduktiv. »Kontrollen sind nicht viel mehr als in ein System eingefügte Prozesse, die Informationen über selbiges sammeln, diese anschließend umwandeln und zurück ins System speisen. Im Kontext von Mensch-Umwelt-Systemen sollten Kontrollen daher als politische Prozesse gedacht werden. Robuste Kontrolle setzt sich wie die Resilienz mit der Dynamik komplexer Feedbacksysteme auseinander.« Anderies, Key Concepts, S. 4.

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ler und sozialer Selbstreferenz wird in jeder Lebenswelt dadurch kanalisiert, dass Menschen als organische Träger mentaler Systeme gleichzeitig in zwei Kontexte struktureller Kopplung35 eingebunden sind: Als Lebewesen haben sie einen Körper und damit immer auch einen körperlichen Bezug zu ihrer Welt  – dies ist für Hobbes der Ansatz, Freiheit auf den Schutz vor körperlicher Gewalt zu gründen. Als soziale Wesen sind sie auf Sozialität angewiesen, operieren also notwendig in gesellschaftlichen Kontexten und stellen über Sprache und Kommunikation einen Bezug zu diesen Kontexten her – dies sollte eine Freiheitstheorie der Gegenwart einbeziehen. Die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Kontexte  – von Familie bis Gesellschaft – definieren die Parameter, die das Universum kontingenter Selbstreferenz auf das Maß notwendiger Abstimmung und Koordination zurecht stutzt. Die doppelte Kontingenz möglicher Interaktion wird in der Interaktion zur Notwendigkeit wechselseitiger Abstimmung. Das Problem doppelter Kontingenz – und damit das Problem der prinzipiellen Nichtfestgelegtheit des Menschen – schafft sich die Lösung der Symbolisierung, zunächst durch die Evolution menschlicher Sprache und in der weiteren Gesellschaftsgeschichte durch Schrift, Buchdruck und insbesondere durch symbolisch generalisierte Steuerungsmedien wie Macht, Geld, Wissen oder Glauben. Sprache als erstes und fundierendes Symbolsystem36 leistet genau dies. Sprache ist die Einrichtung, die Kontingenz erträglich und damit möglich macht – so wie Kontingenz die Erfindung ist, die Sprache notwendig macht. Indem Sprache es erlaubt, aus 35 | Der Begriff der strukturellen Kopplung wird im Folgenden durch den Begriff der symbolischen Kopplung ersetzt und nur gelegentlich beibehalten. Es geht nicht um eine Kopplung über Strukturen, sondern um eine Kopplung über resonante Fluktuationen, die über Symbole oder andere Zwischenträger vermittelt sind. Richtiger ist es daher, von resonanter oder symbolischer Kopplung zu sprechen. Ausführlich dazu Helmut Willke, Symbolische Systeme, Weilerswist 2005, S. 122–134. 36 | »Zuerst begegnen wir dem Symbolischen natürlich in der Sprache.« Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1990, S. 200. »Das Symbol ist am Ursprung aller Sprachen, die nichts Anderes sind als ein Verkettung von Symbolen zum Zwecke der Verständigung.« Edgar Morin, Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard, Stuttgart 1958, S. 206.

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einem Kosmos von Möglichkeiten bestimmte Optionen zu bezeichnen, andere auszuschließen und diese Unterscheidungen in einem beliebig steigerbaren Formenkalkül zu organisieren, formt sie die Welt kontingenter Möglichkeiten zu temporären und vorläufigen Ordnungen, die zugleich im Prinzip jederzeit widerrufen und mit anderen Bezeichnungen und Unterscheidungen anders konstruiert werden können. Die Öffnung von Handlungsoptionen für Menschen durch wechselseitige Kontingenz, die Freiheit überhaupt erst zum Thema macht, wird durch Sprache und die in Sprache als symbolischem System eingebauten Negationsformen ins prinzipiell Unendliche erweitert. Darin scheint die grundlegende Bedeutung von Sprache und Kommunikation für eine Theorie der Freiheit auf. Gedankenfreiheit ist Voraussetzung für Meinungsfreiheit, und diese Voraussetzung für Demokratie. Daher sind Formen – das sind Möglichkeiten und Voraussetzungen  – der Kommunikation Grundlagen jeder Praxis von Freiheit. In seiner groß angelegten »Theorie des kommunikativen Handelns« umkreist Habermas die Thematik des Verhältnisses von Kommunikation und Rationalität in vielen Schleifen. Er sieht auch das Zusammenspiel von Kontingenz und Einbindung bei Sprache und Kommunikation: Wenn die sozio-, ethno- und psycholinguistischen Untersuchungen des letzten Jahrzehnts in einem konvergieren, dann ist es die vielfältig demonstrierte Erkenntnis, dass das kollektive Hintergrund- und Kontextwissen von Sprechern und Hörern die Deutung ihrer expliziten Äußerungen in außerordentlich hohem Maße determiniert. 37

Habermas arbeitet differenziert mit der Unterscheidung von kommunikativem und strategischem Handeln einerseits, der Unterscheidung von Lebenswelt und System andererseits. Erstaunlicherweise aber fehlen alle Bezüge zum Zusammenhang von Kommunikation und Demokratie, und damit zur Leistung der Kommunikation, sei sie lebensweltlich oder strategisch, zur Fundierung von Freiheit.38 37 | Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1981, hier Bd.1, S. 449. 38 | Obwohl die Einsicht in die kontingenzerweiternde Rolle der Steuerungsmedien nicht fehlt: »Durch die Umstellung auf mediengesteuerte Interaktionen gewinnen die Aktoren neue Freiheitsgrade.« Ebd., Bd.2, S. 396.

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Sprache als Sinnsystem umfasst die beiden Seiten des Sinns und des Systems. In der Komponente des Sinns partizipiert es an der Unendlichkeit möglicher Verweisungen und damit an offener, unendlicher Komplexität. In der Komponente des Systems produziert es die reduktiven und selektiven Formen, die in selbstreferentiellen und rekursiven Schleifen zur Ordnung des Systems kondensieren. Es ist das Symbolsystem der Sprache, welches in primordialer Weise die Konstruktion und Dekonstruktion von sozialen und mentalen Ordnungen steuert, indem sie »die Komplementarität und die wechselseitige Anerkennung der Erwartungen sichert«39, sobald Sprecher sich auf eine gemeinsame Sprache einigen. Die Symbolsysteme schaffen neue Kontingenzen. Symbole transformieren die rohen Kontingenzen der ursprünglichen doppelten Kontingenz in die raffinierten Kontingenzen systemisch geordneter Symbole. Die großartige Erfindung von Kontingenz – und mithin letztlich von Freiheit – wäre vermutlich destruktiv ohne die komplementäre Erfindung von Mechanismen, welche die Möglichkeit schaffen, Freiheitsgrade für bestimmte Situationen, bestimmte Zeiten oder bestimmte Beziehungen wieder einzugrenzen, ohne Freiheit oder Kontingenz insgesamt aufzuheben. Kontingenz ist der Anfangs- und Ausgangspunkt jeder Freiheit; doppelte Kontingenz der Anfang jeder wechselseitigen Abhängigkeit von den Freiheiten anderer. Zwar leitet auch Parsons die Notwendigkeit der Ordnungsbildung aus doppelter Kontingenz als Merkmal der conditio humana ab, aber Ordnung beschränkt sich für Parsons auf die Regulierung von Austauschbeziehungen, in denen wechselseitige Abhängigkeiten zu gemeinsamem Nutzen verknüpft werden. Niklas Luhmann führt diesen Gedanken mit zwei entscheidenden Wendungen weiter. Zum einen legt er den flachen Kontingenzbegriff von Parsons mit einer modaltheoretischen Fundierung tiefer und definiert Kontingenz als Negation von Unmöglichkeit und Notwendigkeit: »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.«40 Damit radikalisiert er die Abhängigkeit des einen vom anderen zur Abhängigkeit alles anderen von dem einen, zur Abhängigkeit alles Möglichen oder Imaginierten von dem ersten Schritt der Festlegung einer Systemgeschichte. Zum anderen betont er beim Me-

39 | Luhmann, Soziologische Aufklärung 2, S. 172. 40 | Luhmann, Soziale Systeme, S. 152.

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dium der Sprache nicht wie Parsons den Aspekt des Austausches, sondern den Aspekt der Negation. Die in Sprache eingebaute Möglichkeit der Negation schafft eine Duplikationsregel dadurch, dass zu jeder Aussage eine Verneinung dieser Aussage möglich ist. Sprache verschafft daher die Freiheit, zu jedem Satz einen Gegensatz zu formulieren und jeder Behauptung durch Negation zu widersprechen. Wie ein genetischer Code die Wahrscheinlichkeit von Systemprozessen steuert, so steuert im Fall der Sprache der symbolische Code, beispielhaft die Duplikationsregel, sprachintern die Wahrscheinlichkeit für die Annahme von Selektionsofferten und koppelt so zu einem gewissen Grad die Verwendung des Symbolsystems der Sprache von Umweltereignissen ab: »Die durch Sprache gesteigerte Kontingenz erfordert Zusatzeinrichtungen in der Form weiterer symbolischer Codes, die die wirksame Übertragung reduzierter Komplexität steuern.«41 Mit der Fähigkeit zur Kontingenz und zur Symbolisierung, die denkendes Bewusstsein und sprachliche Kommunikation ausmachen, wird Zukunft wählbar. Es werden Optionen denkbar, die noch gar nicht real existieren und der Raum möglicher Freiheit greift in die Zukunft hinaus. Mit einem Symbole prozessierenden Bewusstsein gelingt der Einbruch der Kontingenz in die Zeit. So setzt zwar Kommunikation Kontingenz voraus, aber es gilt zwingend auch das Umgekehrte: Dass erst ein Symbolsystem auf der Ebene des Bewusstseins sich von der unabänderlichen notwendigen Ordnung der Dinge in die Weiten der Imagination lösen kann und damit Kontingenz entsteht, weil die Bedingungen seiner Möglichkeit gegeben sind. Damit der Prozess der Kommunikation, »der Prozess der Weitergabe der Sprache gedacht werden kann, muss die Ordnung der Zeichen als eine von der Ordnung der Objekte oder Dinge unterschiedene und eigenen Gesetzen gehorchende Ordnung (an)erkannt werden.«42 Sprachfähigkeit und Sprache eröffnen dem Menschen Optionen über die bestehende Ordnung der Dinge hinaus. Es ist daher kein Wunder, dass Kommunikations- und Meinungsfreiheit Kernstücke demokrati-

41 | Luhmann, Soziologische Aufklärung 2, S. 173. 42 | Johannes Fehr, »Saussure: Zwischen Linguistik und Semiologie. Ein einleitender Kommentar«, in: Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie – Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, eingeleitet und aus dem Französischen von Johannes Fehr, Frankfurt a. M. 2003, S. 145.

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scher Freiheit ausmachen.43 Erst wenn es zulässig und faktisch möglich ist, eigene, auch abweichende Meinungen zu äußern, kann Sprache zum Medium intendierter Veränderung werden. Sprache eröffnet Kontingenzräume, die dann allerdings untereinander abgestimmt werden müssen und allen Regeln des Umgangs mit doppelter Kontingenz unterliegen. Die Erfindung der Schrift und des Buchdrucks erweitern die Möglichkeiten, durch Negation Dissens auszudrücken und damit Alternativen zu den jeweils herrschenden Ordnungen zu postulieren.44 Der Buchdruck erlaubt und erleichtert Dissens auch in religiösen Fragen, befördert die Reformation und macht die Kontingenz der Religionen sichtbar. Mit Digitalisierung und sozialen Digitalmedien folgt ein neuer Schub von Meinungsbildung und Dissensdissemination. Die Auswirkungen der digitalen Medien auf Freiheit sind, wie bei jeder Technologie, ambivalent. Sie können Freiheitsräume stärken, etwa durch schnelle soziale Mobilisierung oder spontanen Protest, und sie können den Verzicht auf Freiheitsund Verfügungsrechte normalisieren und als Freiheitsverlust unsichtbar machen. Die vielfältigen Kontroversen um Inhalte und Grenzen der Meinungsfreiheit weisen darauf hin, dass auf die Politik ein Problem der Kontingenzkontrolle zukommt, wenn sie nicht gewillt ist, jede Ausprägung von Kontingenz zuzulassen. Juristisch definierte Grenzen der Meinungsfreiheit oder der Freiheit der Kunst (als Komponente der Meinungsfreiheit) sind legitime und akzeptierte Formen von Kontingenzkontrollen. Hier bewegen wir uns auf einigermaßen gesichertem Terrain, und es geht darum, die Prinzipien der Meinungsfreiheit und ihrer Grenzen auch auf die neuen Medien zu übertragen. Die Sprache ist aber nur der Anfang der Produktion von Kontingenz. Obwohl die menschliche Sprache die Kommunikationskapazität psychischer und sozialer Systeme in gewaltigem Ausmaße steigert, reicht sie 43 | Badura, Politische Freiheit, S. 204: »Ohne die rechtlich gesicherte politische Freiheit des einzelnen und der Gruppen ist der von der demokratischen Verfassung intendierte Prozeß der freien und offenen Meinungs- und Willensbildung nicht gewährleistet.« 44 | »Im Laufe der Geschichte wurden bürgerliche Bewegungen oft durch die Einführung neuer Informationstechnologien ermächtigt, klassische Machtinstitutionen wie den König, die Kirche oder die Eliten abzulösen.« Schmidt, Cohen, The New Digital Age, S. 6.

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bald nicht mehr aus. Bereits in relativ gering entwickelten Systemen steigt die Komplexität rascher als wir denken und sprechen können. Sprache allein würde bei zunehmender Dichte und Vielschichtigkeit der Sozialbeziehungen zu einer Babylonischen Sprachverwirrung führen. Schon bei einem relativ geringen Grad an funktionaler Differenzierung sozialer Systeme werden deshalb Zusatzeinrichtungen zur Sprache erforderlich, weil die Kommunikation über Sprache zu umständlich und zu zeitraubend wäre. Für ausgrenzbare Bereiche wie z. B. das Wirtschaften, das Herrschen, das Glauben oder die Erziehung entwickeln sich spezialisierte Steuerungssprachen als symbolisch generalisierte Medien, z. B. in Form von Geld, Macht, Wahrheit oder Kompetenz. Es sind hoch leistungsfähige Spezialsprachen, die Kommunikationen beschleunigen und verdichten, und durch symbolische Generalisierung ganze Kommunikationssituationen gewissermaßen als Module automatisieren. Geld als symbolisches Medium, zum Beispiel, erlaubt es, ganze (sprachlichen) Kommunikationssequenzen des Aushandelns auf eine einzige Interaktion des Bezahlens zu komprimieren. Parsons behandelte die Medien als Austauschmedien, während Luhmann diesen Ansatz zu einer elaborierten Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien ausweitete.45 Da diese Medien aber, wie Sprache selbst, in sozialen oder gesellschaftlichen Kontexten vor allem in ihrer Steuerungswirkung auffällig und bedeutsam sind, habe ich die Medien als symbolisch generalisierte Steuerungsmedien thematisiert.46 45 | Niklas Luhmann, »Generalized Media and the Problem of Contingency«, in: Jan Loubser u. a. (Hg.), Explorations in General Theory in Social Science. Essays in Honor of Talcott Parsons. Vol. 2, New York 1976, S. 507- 532. 46 | Willke, Systemtheorie I: Grundlagen, S. 204–217. Auch Habermas spricht von Steuerungsmedien und sieht ihre spracherweiternde Funktion: »Insofern dürfen Steuerungsmedien nicht als eine funktionale Spezifizierung von Sprache verstanden werden; sie leisten vielmehr Ersatz für spezielle Sprachfunktionen.« Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 393. Allerdings kritisiert Habermas zugleich die systemtheoretische Konzeption der Kommunikationsmedien: »Weil sprachliche Kommunikation und damit Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung allein unter Steuerungsaspekten in den Blick kommt, gehen die Systemtheoretiker von der Annahme aus, daß aus der Sprache beliebige Steuerungsmedien ausdifferenziert werden können. Sie ziehen gar nicht erst die Möglichkeit in Betracht, daß die Struktur der Sprache selbst diesen Prozeß Be-

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Für unseren Zusammenhang bedeutsam ist nun, dass mit der Vollendung funktionaler Differenzierung in modernen Gesellschaften jedes Funktionssystem sein eigenes Steuerungsmedium ausbildet, und dass über diese Medien nun die Produktion von Kontingenz nicht mehr auf Menschen und ihre Sprachfähigkeit begrenzt ist. Vielmehr produzieren die Funktionssysteme über ihre Steuerungsmedien und weitere mehrstufige Symbolisierungen Lawinen von Kontingenz, die auf die Politik zurollen und die Aufgabe der Kontingenzkontrolle unabweisbar machen. Hinter dieser Annahme steht eine Konzeption, die bereits die Sprache und in verstärktem Maße die Steuerungsmedien als symbolische Systeme versteht, die aufgrund ihrer Eigenkomplexität ihre je eigene Logik und Rationalität ausbilden und eigendynamisch operieren. Grundlegend hat Ferdinand de Saussure diese Systemhaftigkeit und Eigendynamik für die Sprache beschrieben, und Ernst Cassierer hat ähnlich grundlegend symbolische Systeme wie z. B. Mythen oder Traditionen analysiert.47 Ein schränkungen unterwerfen könnte.« Ebd., S. 391 (Hervorhebungen im Original). Ganz im Gegensatz zu Habermas’ Kritik begreift die Systemtheorie mit Saussure Sprache als hochgradig eigenständiges symbolisches System mit eigenständiger Struktur und einer Fülle von Regeln, die von Semiotik, Grammatik, Semantik und Pragmatik definiert werden. Das ist der Grund für die Steuerungsleistung der Sprache und die bemerkenswerte Aussage, dass nicht wir die Sprache sprechen, sondern die Sprache uns: »Wer spricht, tritt, ob er will oder nicht, ins Spiel der Worte ein, und was die Worte sagen, bestimmt, wer sie ausspricht, nur bedingt.« Fehr, »Saussure: Zwischen Linguistik und Semiologie«, S. 225. Diese Eigenständigkeit der Sprache ist der Grund dafür, warum entgegen Habermas tatsächlich aus der Sprache beliebige Steuerungsmedien ausdifferenziert werden können. Steuerungsmedien sind Spezialsprachen, die für jeden Aspekt menschlicher Tätigkeit die Leistungen der natürlichen Sprache steigern können. In gleicher Richtung hat auch Cassirer argumentiert: »Denn wie die moderne Sprachphilosophie, um den eigentlichen Ansatzpunkt für eine philosophische Betrachtung der Sprache zu finden, den Begriff der ›inneren Sprachform‹ aufgestellt hat – so läßt sich sagen, daß eine analoge ›innere Form‹ auch für die Religion und den Mythos, für die Kunst und für die wissenschaftliche Erkenntnis vorauszusetzen und zu suchen ist.« Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe Band 11, Hamburg 2001, S. 10. Dazu ausführlich Willke, Symbolische Systeme. 47 | Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes

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modernes Beispiel ist die mehrstufige Symbolisierung des Steuerungsmediums Geld im Finanzsystem in Formen von Bargeld, Giralgeld, Kredit, Wechsel, Wertpapiere, Aktien, Derivate, Derivate von Derivaten etc. Die globale Finanzkrise hat zur Genüge belegt, dass das Medium Geld im Kontext des Banken- und Finanzsystems eine geradezu erschreckende Eigenlogik entwickelt hat, der sich die handelnden Personen mehr oder weniger besinnungslos ausgeliefert haben. Auch andere Medien haben ähnliche Geschichten geschrieben, etwa das Medium Wahrheit im Wissenschaftssystem, das von Wahrheit zu Wissen und Expertise mutiert ist und weitere Symbolisierungen in Form von Metawissen, Epistemologien und Reflexionstheorien des Wissens ausgebildet hat, welche Steuerungswirkungen auf die Produktion möglichen Wissens ausüben. Aus der Sicht der Politik als gesellschaftlicher Steuerungsinstanz gibt es für die Funktionssysteme so etwas wie Kommunikations- und Meinungsfreiheit, analog zur Situation sprachbegabter Bürger. Komplementär dazu gibt es einen Bedarf an Regeln und Grenzen dieser Freiheit der Produktion von Optionen. Der Bedarf ist bereits unter dem Stichwort der Auswahl gesellschaftskompatibler Optionen angesprochen worden. Aufgabe der Politik ist es, solche Optionen der Funktionssysteme zu unterbinden, die übermäßige negative Externalitäten für andere Funktionssystem oder für die Gesellschaft insgesamt erzeugen können. An diesem Punkt treffen für Politik und Demokratie, und damit für die Freiheitstheorie, Komplexität und Kontingenz aufeinander. Die Kontingenzen der Funktionssysteme (neben derjenigen der Bürger) erzeugen für die Politik gesellschaftliche Hyperkomplexität. Es kann aber nicht darum gehen, Kontingenz zu negieren, vielmehr besteht die Herausforderung für demokratische Politik darin, Formen des Komplexitätsmanagements zu etablieren, welche der Kontingenzproduktion der Subsysteme optimalen Raum geben und dennoch die notwendigen Regeln setzen.48 Das Dilemma lässt sich auch in Begriffen von Ordnung und Unordnung formulieren. Wenn es immer schon Aufgabe von Herrschaft und von Politik war, eine brauchbare geFehr, Frankfurt a. M. 2003. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Drei Bände, Darmstadt 1953 ff. Ausführlich dazu Willke, Symbolische Systeme. 48 | Dies betrifft inzwischen – und vermutlich stark zunehmend – auch die Produktion ›künstlicher‹ Kontingenz durch die von Algorithmen produzierte kommunikative Kontingenz: Elena Esposito, Artificial Communication? The Production of Contingency by Algorithms, in: Zeitschrift für Soziologie 2017; 46(4), S. 249–265.

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sellschaftliche Ordnung zu gewährleisten, so verschiebt sich unter heutigen Bedingungen die Balance in Richtung akzeptabler Unordnung.49 In komplexen Systemen ist Ordnung nur möglich durch das Management von Fluktuationen, und genau dies erfordert eine Umstellung der Politik auf Fluktuationen, die Ordnungsbildung im Verbund mit und auf der Grundlage möglicher Unordnung erlauben. Wirtschafts- und Finanzsystem sind vermutlich die primären Kandidaten, die ein Übermaß an Kontingenz und Fluktuationen für die Gesellschaft erzeugen. Für die kapitalistische Wirtschaft mündet dies in die klassischen Debatten der politischen Ökonomie darüber, wie weit der Freiheitsraum der Ökonomie und wie weit die Regulierungskompetenz der Politik reichen soll. Die Positionen dazu reichen etwa in den USA heute von Donald Trump bis Bernie Sanders oder in Frankreich vom Front National bis zu den Sozialisten. Für das Finanzsystem hat die globale Finanzkrise die Augen dafür geöffnet, dass es den Politiksystemen der Demokratien nicht gelungen ist, die vom globalen Finanzsystem provozierte Unordnung und Kontingenz so weit zu begrenzen und zu regulieren, dass massive Schäden und Verwüstungen hätten verhindert werden können. Diese Erfahrung könnte der Ausgangspunkt für eine allgemeinere Einsicht im Feld der Demokratietheorie und Freiheitstheorie sein: Nicht nur das Finanzsystem, sondern praktisch alle Funktionssysteme sind für die Politik in einem Ausmaß unregierbar geworden, dass man von Politikversagen sprechen muss. Die üblichen Verdächtigen in Feldern des Scheiterns sind Staatschuldenkrise, Euro-Krise, Migrationskrise, Klimawandel, Umweltvergiftung, Explosion der Gesundheitskosten, demografische Krise des Rentensystems etc. Nur scheinbar haben sich die Bürger an die Ubiquität solcher Krisen gewöhnt. Tatsächlich ziehen sie sich in politische Resignation zurück und die ehemaligen Volksparteien sinken in der Wählbarkeit unter die 30-Prozent-Grenze ab. Dass dieses allmählich doch deutliche Versagen der Demokratie problematische Folgen für die Konstellationen der Freiheit hat, lässt sich vor allem daran ablesen, dass vermeintliche Zwänge und Situationen überhand nehmen, die sich als alternativlos darstellen oder so dargestellt werden. Damit schnurrt gesellschaftliche Komplexität auf wenige oder gar nur eine einzige Option zusammen. Das politische System macht sich selbst 49 | Ausführlich dazu Helmut Willke, Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2003.

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unterkomplex und Kontingenzkontrolle pervertiert zum Management eines Trivialsystems. Tatsächlich hängen wohl Überproduktion von Kontingenz – z. B. im Finanzsystem – einerseits und Reduktion politischer Optionen – z. B. im Management der Griechenlandkrise – andererseits dann eng zusammen, wenn die Politik keine brauchbaren Mechanismen der Kontingenzkontrolle entwickelt hat. Im genannten Beispiel heißt dies, dass die Verengung der politischen Optionen im (deutschen und europäischen) Management der Griechenlandkrise darin angelegt war, dass lange vor dem Akutwerden der Staatschuldenkrise Griechenlands die Politiksysteme vieler Nationalstaaten, einschließlich Deutschlands, es über Jahre hinweg versäumt haben, dem unregulierten Wildwuchs von hoch riskanten Optionen im globalen Finanzsystem Riegel vorzuschieben und die Kompetenzkompetenz der Politik in der Form effektiver Regulierung wahrzunehmen. Dabei ist das Finanzsystem nur ein Fall unter vielen. Der flächendeckende Skandal um Abgaswerte und Verbrauchswerte von Dieselmotoren, der nicht nur VW betrifft, belegt die Unwilligkeit/Unfähigkeit der Politik, der mächtigen Lobby der Autoindustrie Grenzen zu setzen und ihr gegenüber das Gemeinwohl durchzusetzen. Der seit Jahrzehnten schwelende Skandal um die systematische Korruption von niedergelassenen Ärzten durch die Pharmaindustrie wurde (in Deutschland) erst im Jahre 2016 durch ein Gesetz etwas eingedämmt. Bis dahin hatte die Politik vor der mächtigen Lobby der Pharmaindustrie gekuscht. Und die politische Macht der National Rifle Association ist Legende. Es geht in unserem Zusammenhang nicht um die Skandale an sich, sondern darum deutlich zu machen, dass die Politik gegenüber der Dynamik der Funktionssysteme darauf angewiesen ist, effektive Formen der Kontingenzkontrolle zu entwickeln und zu etablieren, um überhaupt in der Lage zu sein, ihre Kompetenzkompetenz wahrzunehmen und mithin ihren Anspruch auf Gesellschaftssteuerung tatsächlich auch durchsetzen. Mangelhafte politische Steuerungskompetenz schlägt nicht unbedingt gleich sichtbar auf die Freiheit der Bürger durch. Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Demokratie als Steuerungsform der Politik bilden aber den Nährboden für antidemokratische Tendenzen der unterschiedlichsten Art. Es sind dann diese gegen die Demokratie gerichteten populistischen und extremistischen Protestformen, die für die Freiheit

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gefährlich werden. Da zugleich Pluralismus, Vielfalt 50 und unterschiedliche Positionen Voraussetzungen und Kernelemente von Demokratie sind, ist es allerdings häufig schwierig, zwischen erwünschter demokratischer Auseinandersetzung einerseits und antidemokratischen Positionen zu unterscheiden. Je stärker aber die Demokratie unter mangelnder Leistungsfähigkeit leidet und sich unfähig zeigt, gegenüber den neuen Herausforderungen einer globalisierten Moderne angemessene Steuerungsformen zu entwickeln, desto leichter verschiebt sich das Spektrum der Kritik in Richtung auf eine Ablehnung der Demokratie als schwächlich-ineffizienter Staatsform. Dann allerdings ist Freiheit unmittelbar betroffen, und deshalb kann eine brauchbare Freiheitstheorie nur in engstem Zusammenhang mit einer komplementären Theorie der Demokratie entwickelt werden. Klagen über Mängel der Demokratie als gesellschaftlichem Steuerungsregime gehören zum Geschäft sowohl der Theorie wie der Praxis der Demokratie. Periodisch tauchen Vermutungen über Unregierbarkeit, Krise der Demokratie51 oder die angebliche Überlegenheit präzeptoraler Systeme auf. Insofern setzt der vorliegende Text nur eine Tradition fort. Jede Epoche sieht sich neuen Herausforderungen gegenüber und muss daher auch neue Antworten finden. Ich postuliere mit anderen Beobachtern, dass Globalisierung und eine weltweite digitale Vernetzung tatsächlich qualitativ neue Herausforderungen für die Demokratie darstellen. Der enge Konnex zwischen Nationalstaat und Demokratie bedeutet, dass dort, wo der Nationalstaat in seiner Souveränität und Kompetenz in Frage gestellt ist, auch die Demokratie in Mitleidenschaft gezogen wird, und dass dort, wo die Demokratie unter Druck gerät, auch die Freiheit leidet. Es steht außer Frage, dass der Nationalstaat durch eine vertiefte Globalisierung Grade seiner Souveränität, Steuerungskompetenz und seiner Problemlösungsfähigkeiten verliert, weil internationale Interdependen50 | Insbesondere im Sinne der von Landemore betonten »kognitiven Vielfalt«, Landemore, Democratic Reason, S. 160–184. 51 | Hauke Brunkhorst, »Die Weltgesellschaft als Krise der Demokratie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), S. 895–902, hier S. 897: »Darüber hinaus hat jedoch die faktische Evolution einer global vernetzten, funktional differenzierten Weltgesellschaft die nationalstaatlich organisierte Demokratie marginalisiert. In dem Maße, in dem diese Gesellschaft durch nationale Gesetzgebung nicht mehr kontrollierbar ist, wird die Demokratie immer funktionsloser.«

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zen aufwändige Abstimmungen erfordern und wichtige Entscheidungen nicht mehr in den nationalen Parlamenten fallen, sondern in transnationalen Institutionen oder gleich in globalen Konzernen. Ebenso plausibel erscheint die Annahme, dass demokratische Parlamente, Regierungen und ihre Wähler von der kognitiven Komplexität der anstehenden Probleme überfordert sind. Demokratien sind daher in ihrer Leistungsfähigkeit zweifach abhängig: Zum einen von der Kooperationsbereitschaft anderer Länder (und viele davon sind keine Demokratien), und zum anderen von einer Fülle von spezialisierter Expertise, die das politische System weder selbst bereitstellen noch verarbeiten kann. Deutlicher als je zuvor hängen damit Theorie und Praxis der Freiheit von Fähigkeiten des Umgangs mit Wissen und Nichtwissen ab. Ich habe bereits gesagt, dass Willensfreiheit auf Wissensfreiheit gründet, weil ich ohne Wissen keinen Willen bilden kann. Solange lebensweltliches Wissen und Alltagstheorien ausreichen, um politische Meinungen zu bilden und sich über Optionen klar zu werden, genügt der Rekurs der Freiheitstheorie auf Willensfreiheit. Sind diese Voraussetzungen einer übersichtlichen Gesellschaft nicht mehr gegeben, und werden die politisch zu entscheidenden Steuerungsprobleme demokratischer Gesellschaften im Kontext einer globalisierten Moderne intransparent und unübersichtlich, dann kommt es zu einschneidenden Veränderungen in der Konstruktion von Freiheit. Nun muss für jede Praxeologie der Freiheit geprüft werden, ob in einem immer tieferen Labyrinth von Wissensbeständen und Evidenzen eine hinreichende Allgemeinverständlichkeit einer bestimmten Entscheidungsthematik gegeben ist oder nicht. Nur sehr allgemein lässt sich sagen, dass für alle Problemlagen, zu deren Verständnis der gesunde Menschenverstand ausreicht, Entwarnung gegeben werden kann. Schwierig wird es bei Themen, zu deren Verständnis ein spezifischer Sachverstand und entsprechende Expertise unerlässlich sind. Denn in diesen Fällen wird es zur Fiktion, der Mehrheit der Laien eine reale Willensfreiheit zu unterstellen. Wenn aber keine vernünftige, auf hinlänglichem Wissen basierende Willensbildung möglich ist, dann läuft Freiheit leer. Allerdings sind hier Präzisierungen nötig. Eine lange politikwissenschaftliche und ökonomische Debatte mit einer Vielfalt empirischer Erhebungen über die Frage der Rationalität oder Irrationalität der Wähler hat zwar deutlich gemacht, dass in der Tat die große Mehrheit der Wähler wenig Wissen – und oft falsches Wissen – über politische Themen und Fragen haben, aber dies führt nicht einfach zu irrationalen Entscheidun-

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gen. Denn »vernünftige« Entscheidungsgrundlagen lassen sich auch anders als über eigenes Wissen herstellen. In den 1990ern schlugen Politikwissenschaftler eine andere Stoßrichtung ein, indem sie anerkannten, dass Wähler im Allgemeinen unaufmerksam und uninformiert sind. Zugleich bestritten sie, dass dies die Qualität politischer Entscheidungen wesentlich beeinträchtige. Ein Schwall von Büchern und Artikeln mit optimistisch klingenden Titeln wie ›The Reasoning Voter‹ und ›The Rational Public‹ argumentierten, Wähler könnten »Informations-Abkürzungen« (»information shortcuts«) benutzen, um rationale Wahlentscheidungen trotz ihres mangelnden Detailwissens über die politischen Programme der Kandidaten zu treffen. Diese »Abkürzungen« könnten in vielerlei Arten auftreten, beispielsweise als Schlüsse aus persönlichen Erzählungen, parteiliche Stereotype, öffentliche Unterstützungserklärungen sowie als »Fingerzeige« von Vertrauenspersonen oder -gruppen. 52

Bartels weist aber in Übereinstimmung mit Caplan darauf hin, dass diese Hilfsmittel politischer Orientierung dann nicht helfen, wenn es sich um systematische Irrtümer großer Wählergruppen handelt, oder wenn es sich um neue Fragen handelt, für die es noch keine etablierten Meinungen gibt.53 Vor allem aber scheinen diese Abkürzungen der Meinungs- und Willensbildung dann zu versagen, wenn es nicht mehr um lokale und überschaubare nationale Fragen geht, sondern um weit entfernte globale Konstellationen, die nur über verwickelte und intransparente Wege lokal wirksam werden und dort zu unverständlichen und überraschenden Problemen führen. Belegt ist diese kognitive Überforderung durch den Besorgnis erregenden Aufschwung populistischer und nationalistischer Bewegungen, der in Europa und in den USA zu beobachten ist. Auch die Entscheidung für den Brexit dürfte die meisten Wähler hinsichtlich der Kosten, Konsequenzen und Kausalitäten überfordert haben. Die kognitive Überforderung betrifft keineswegs nur die politischen Laien, sondern in analoger Weise auch die professionelle Politik, die sich über Jahre hinweg unfähig zeigt, komplexe schwelende Krisen wie die Griechenlandkrise, 52 | Larry Bartels, »The Irrational Electorate«, in: The Wilson Quarterly 32 (2008), S. 44–50, hier S. 45. 53 | Ebd., S. 46: Weiterführende »Forschung unterstreicht die Idee, dass ›Informations-Abkürzungen‹ [›information-shortcuts‹] oder bloße Aggregation die Informations-Defizite von Wählern nicht kompensieren können.«

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die Migrationskrise, die Krise des Gesundheitssystems (für die USA), die ökologische Krise (z. B. für Australien) oder den Klimawandel einigermaßen angemessen zu managen. Die gut sichtbaren Schwächen der Demokratie und ihre Unfähigkeit, auf eine Reihe von neuen Herausforderungen überzeugend zu antworten, bleiben nicht ohne Folgen für den Stellenwert der Freiheit im Gefüge demokratischer Grundwerte. Freiheitsmomente erscheinen verzichtbar oder zumindest nachrangig gegenüber einem gesteigerten Bedarf an Gleichheit und Sicherheit. Eine unkontrollierte Kontingenz der Funktionssysteme und die unbändige Optionenproduktion globaler Dynamiken verunsichern nicht nur die Bürger, die für Populismus anfällig sind, sondern auch die professionelle Politik. Die notwendige Selbstbehauptung demokratischer Politik erfordert eine sorgfältige Balance zwischen Steuerungskompetenz und Freiheitswahrung, die leicht, wie die Beispiele Polen, Türkei oder Ungarn zeigen, auf die Seite eines autoritären Regimes kippen kann. Auch die Rhetorik eines Donald Trump oder die Wahlerfolge einer AfD in Deutschland weisen in diese Richtung. Alle diese Simplifizierungen verkennen, dass sich Kontingenzkontrolle nicht autoritär erzwingen lässt, sondern als geduldige und langfristige Strategie der Kontextsteuerung verstanden werden sollte. Es geht um einen Ausgleich zweier widersprüchlicher Aspekte der Steuerung komplexer Gesellschaften. Auf der einen Seite kommt es darauf an, die Eigenständigkeit und Selbststeuerungskompetenz der gesellschaftlichen Subsysteme im Sinne vertikaler und horizontaler Subsidiarität zu respektieren und zu fördern, um deren dezentrale Expertise und Innovationskraft zu bewahren. Auf der anderen Seite steht die Kompetenzkompetenz der Politik, welche die beiden Kernkomponenten der negativen und der positiven Koordination umfasst: Aufgabe der Politik ist es, bestandsgefährdende negative Externalitäten der Subsysteme zu unterbinden, darüber hinaus aber neue Qualitäten des Gesamtsystems aus einem gesteuerten Zusammenspiel der Teile zu ermöglichen. Die Leistungsfähigkeit der Demokratie hinsichtlich dieser beiden Faktoren der Gesellschaftssteuerung schlägt unmittelbar auf die Suprastrukturen einer komplexen Freiheit durch. Ein hoher Grad teilsystemspezifischer Autonomie eröffnet dezentrale Freiheitsräume innerhalb der Funktionssysteme, vor allem in Form von Entscheidungskompetenzen, die sich für die dort agierenden Menschen in Gestalt zusätzlicher Optionen zeigen. Gesteht die Politik z. B. dem Schulsystem einen höheren Grad

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an Autonomie zu (suprastrukturelles Moment), dann erweitert dies die freien Entscheidungsoptionen für Schulleitungen, Lehrkörper, Schüler und Eltern. Wie in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht anders zu erwarten, ergeben sich damit für Personen, die in unterschiedlichen Rollen in mehreren Funktionssystemen operieren, unterschiedliche Konstellationen ihrer Freiheiten. Parallel dazu können sich neue Stockwerke einer komplexen Architektur der Freiheit bilden, wenn es gelingt, neue Gesamtqualitäten einer Gesellschaft – wie z. B. digitale Vernetzung, soziale Medien, Multikulturalität, höherer Bildungsstand oder Grundeinkommen – aus einem strategisch gesteuerten Zusammenspiel der Teile zu entwickeln. Kontingenzkontrolle zielt auf eine aktive gesellschaftsgestaltende Verantwortung der Politik. Gegenüber der naturwüchsigen Dynamik der Subsysteme bedeutet Selbstbehauptung der Politik, dass sie Grenzen setzt und gesellschaftskompatible Entwicklungskorridore prämiert. Das kann nur gelingen, wenn sie über den Tag hinaus das Projekt einer zukunftsfähigen Gesellschaft zumindest im Auge hat. Es gibt keinen Grund, der demokratischen Politik diese Fähigkeit von vornherein abzusprechen, auch wenn ihre kurzfristige Logik und der Primat der Machterhaltung zunächst dagegen sprechen. Denn komplementäre Akteure und Institutionen, wie etwa politische Stiftungen, gemeinwohlorientierte Stiftungen, Forschungsinstitute oder NGOs der Zivilgesellschaft könnten die Politik darin unterstützen, gerade im Interesse der Machterhaltung sich stärker einer nachhaltigen Gesellschaftssteuerung zu widmen.

5.3 R esilienz als S tr ategie des  K omple xitätsmanagements Resilienz ist, wie bereits Komplexität, inzwischen zu einem Schlagwort geworden, das alles umfasst, was irgendwie mit Widerstandsfähigkeit und prospektiver Krisenfestigkeit zu tun hat. Dennoch ist es ein seriöses und produktives Konzept, wenn es adäquat verwendet wird. Begriff und Konzept wurden in den 1960er Jahren in der amerikanischen Kinderpsychologie entwickelt und deutlich später, in den 1990er Jahren, in Organisationstheorie und Managementliteratur übertragen und genutzt. In unserem Zusammenhang geht es nicht um die Resilienz von Personen oder Organisationen, sondern um die bislang wenig bearbeitete Thematik

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der Resilienz auf gesellschaftlicher Ebene, genauer um die Resilienz von Demokratie als Voraussetzung für eine robuste Sicherung der Freiheitsrechte. Resilienz meint im Kern eine bestimmte Qualität des Umgangs mit Krisen und Nichtwissen. Wie bereitet sich ein System auf Krisen vor – von denen man weiß, dass sie kommen werden, aber nicht weiß, wann sie eintreten und wie sie aussehen werden – und wie lernt es aus Krisen? Für Organisationen sind die konkreten Fragen: »Wie müssen Führungs-, Fehler-, Erfolgs- und Innovationskultur beschaffen sein, um organisationalen Krisen vorzubeugen? Welche Kriterien muss eine Organisation erfüllen, um so robust zu sein, dass sie unvorhersehbare Ereignisse […] aushalten und sogar gestärkt aus ihnen hervorgehen kann?«54 Überschneidungen und Anknüpfungspunkte gibt es mit den Konzepten der Verletzlichkeit (»Vulnerabilität«), Resistenz, Innovationsvermögen, und insbesondere zum systemischen Lernen sowie zur Lernenden Organisation.55 Dieser Kontext legt es nahe, das Konzept der Resilienz dafür zu nutzen, die spezifischen Formen des Umgangs mit Krisen und die Bedingungen des systemischen Lernens (einschließlich des damit verbundenen, unvermeidbaren Nichtwissens) für die Demokratie als Modus der Steuerung der Politik zu beleuchten, um daraus Folgerungen für die Möglichkeit oder Unwahrscheinlichkeit robuster Freiheitsräume zu ziehen.56 Je komplexer die Architektur von Freiheit sich darstellt, desto voraussetzungsvoller sind die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Nimmt man ernst, dass Freiheit ein Kind der Demokratie ist, und dass die Leistungsfähigkeit von Demokratie ganz grundlegend den Optionenraum von Freiheit definiert, dann folgt daraus, dass sich Krisen und Bedrohungen der Demokratie unmittelbar in Krisen und Bedrohungen von Freiheitsräumen übersetzen. In diesem Abschnitt geht es damit vorrangig um die suprastrukturellen Voraussetzungen einer krisenresistenten Sicherung von Freiheitsräumen. Die Leitfrage ist: Welche Vorkehrungen können die Resilienz der Demokratie stärken, so dass dadurch systemische und institutionelle 54 | Karim Fathi, »Resilienz – taugt dieser Begriff als ›Ein-Wort-Antwort‹ auf die Häufung von Krisen?«, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen – PLUS (2014). Verfügbar unter: www.forschungsjournal.de/fjsb-plus, S. 3, letzter Zugriff 08.11.2016. 55 | Ausführlich dazu Willke, Wissensmanagement. 56 | Peter Kareiva, Emma Fuller, »Beyond Resilience: How to Better Prepare for the Profound Disruption of the Anthropocene«, in: Global Policy 7 (2016), S. 107–118.

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Einschränkungen von Freiheit erschwert und die Verletzlichkeit von Freiheitsräumen verringert werden? Dabei kommt der Thematik von Wissen und Nichtwissen, insbesondere der Problematik unvermeidbaren Nichtwissens, eine gesteigerte Bedeutung zu. Wenn in hochkomplexen Gesellschaften die Meisten in den meisten schwierigen Problemfeldern Laien sind, und auch über politische Bildung und Aufklärung keinerlei Chancen haben, zu Fachleuten zu werden, dann muss die demokratische Willensbildung mit einem hohen Maß an verteilter Expertise und ubiquitärem Nichtwissen zurande – und dennoch zu brauchbaren Entscheidungen – kommen. Sowohl für die Demokratietheorie und -praxis wie auch für die Freiheitstheorie bringt dies konkrete und reale Schwierigkeiten mit sich. Die schöne und beruhigende Vorstellung der klassischen Theorien, dass die Wähler und Wählerinnen als »raisonierendes Publikum« und als »vernünftige und verständige Bürger« gesehen und behandelt werden können, trifft schlechterdings nicht mehr zu und muss daher als bloße Fiktion einberechnet werden. Die Implikationen dieser Einsicht sind weitreichend, weil Beschränkungen der Demokratie sich gut sichtbar sogleich auch als Beschränkungen möglicher Freiheiten und Freiheitsräume auswirken.57 Betrachtet man die historischen Entwicklungsschübe des politischen Steuerungsregimes Demokratie, von der direkten Demokratie der Agora zur repräsentativen Demokratie der »Federalist Papers« zur dezentrierten (oder post-liberalen) Demokratie gegenwärtiger hochkomplexer Gesellschaften, dann springt ins Auge, dass die konkrete Ausübung von Freiheitsrechten in einen immer dichter werdenden Kranz suprastruktureller Faktoren eingebettet ist. Bereits in der repräsentativen Demokratie nimmt in einigen Hinsichten die Freiheit den Umweg über Repräsentanten und repräsentierende Institutionen. Die Bürger delegieren in einem 57 | Diesen Zusammenhang und den Bezug zur Freiheit hat bereits Kant gewürdigt, wenn er zum Thema »raisonieren« bemerkt: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsoniert nicht! Der Offizier sagt: räsoniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsoniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: »räsoniert nicht, sondern glaubt!« Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?« In: Was ist Aufklärung? Thesen, Definitionen, Dokumente, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger. Stuttgart 2010, S. 11.

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bemerkenswerten Umfang Rechte und Entscheidungskompetenzen an ihre Repräsentanten in den Parlamenten, die dann ohne direktes Mandat und nur ihrem Gewissen verpflichtet entscheiden. Seit ihrer Realisierung in der Moderne vor gut zweihundert Jahren ist demnach Demokratie von einem hohen Maß an Repräsentativität gekennzeichnet. Sie ist damit gut gefahren, auch aus schlichter Notwendigkeit heraus, weil in großen Flächenstaaten eine direkte und unvermittelte Mitwirkung der Wähler und Wählerinnen an Myriaden von Entscheidungen nicht praktikabel wäre. In der dezentrierten Demokratie übernehmen die hinzu kommenden »Guardian institutions«58 wie Zentralbanken, Verfassungsgerichte, Monopolkommissionen, Tarifvertragsparteien oder Institutionen der Finanzmarktregulierung durch Delegation ganze Problemfelder und entscheiden anstelle und in Vertretung der Bürger und ihrer Parlamente. Die Repräsentanten der ersten Ordnung wählen Repräsentanten der zweiten Ordnung nach derselben Logik der Repräsentation: Durch die (demokratisch organisierte und kontrollierte) Delegation von Aufgaben und Funktionen entlastet sich das Parlament von einigen hochkomplexen Aufgabenfeldern, um insgesamt arbeitsfähig zu bleiben, und um sich auf die grundlegenden und allgemeinen politischen Fragen konzentrieren zu können. Aufgrund einer massiv gesteigerten gesellschaftlichen Komplexität reicht die erste Repräsentation der repräsentativen Demokratie nicht mehr aus; erforderlich erscheint eine reflexive Repräsentativität. Die Repräsentanten erster Ordnung bestimmen für besondere Aufgabenfelder Institutionen, die sie ihrerseits repräsentieren. Es liegt dann auf der Hand, dass die konkrete Ausgestaltung dieser Wächtereinrichtungen, die Qualität ihrer demokratischen Legitimation und die Qualität ihrer Entscheidungen darüber bestimmen, ob ich als Bürger die institutionell vermittelte Abtretung bestimmter Facetten meines Freiheitsraumes als nicht akzeptable Minderung meiner Freiheit verstehe oder aber als indirekte Ausweitung meiner Freiheitsrechte in Bereiche, die ich selbst mit meinem limitierten Wissen niemals praktisch betreten und nutzen könnte. In diesem Sinne können suprastrukturelle Einbettungen der Freiheit diese stärken, wenn die Ausgestaltung der Institutionen demokratischen Prinzipien und Kriterien genügt. Dies wiederum hängt davon ab, welche Theorie der Demokratie zugrunde gelegt ist, die diese Prinzipien und Kri58 | Philippe C. Schmitter, »Crisis and Transition, but Not Decline«, in: Journal of Democracy 26 (2015), S. 32–44, hier S. 41.

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terien definiert. Wiederum kommt der enge Zusammenhang von Demokratietheorie und Freiheitstheorie zum Vorschein. Eine klassische Demokratietheorie, die sich primär oder gar ausschließlich auf der Ebene des Individuums bewegt und Freiheit auf individuelle Freiheitsräume reduziert, muss dann jede institutionelle (suprastrukturelle) Vermittlung der Ausübung von Freiheit als Begrenzung begreifen. Dagegen nimmt eine Theorie komplexer Freiheit zur Kenntnis, dass hyperkomplexe Gesellschaften die Voraussetzungen für eine Praxis der Freiheit grundlegend verändert haben.59 Eine unentrinnbare Veränderung besteht darin, dass für alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig vom Bildungsstand gilt, dass sie hinsichtlich der meisten Themen/Probleme/Konflikte Laien sind und bestenfalls sich in ihren Spezialgebieten hinreichend auskennen. In hyperkomplexen Gesellschaften werden Nichtwissen und Intransparenz zur radikalen Herausforderung für Freiheit. Eine Konsequenz der Übermächtigung aller Personen durch kognitive Komplexität ist eine parzellierte und »verteilte« Freiheit, die sich für jede Einzelperson darauf beschränkt, was für diese Person kognitiv fassbar ist. Wissensfreiheit ist Bedingung für Willensfreiheit und damit für Freiheit insgesamt. Erst ein organisiertes Zusammenspiel dieser vielen parzellierten Freiheiten macht dann Freiheit insgesamt in einer Gesellschaft aus. Die Rede von einer freiheitlichen Gesellschaft bekommt eine neue Relevanz, und die Qualifizierung als freiheitliche Gesellschaft wird für Freiheit ›writ large‹ gewichtiger als das Ausmaß konkreter individueller Freiheit. Diese Konstruktion negiert nicht die überragende Bedeutung individueller Freiheit. Aber es ist eine Bedeutung, die erst im gesellschaftlichen Zusammenspiel der vielen differenzierten individuellen Freiheiten faktisch zum Tragen kommt. Sie kann als individuelle Freiheit gar nicht umfassend sein, weil die Bürger nur noch in den engen Grenzen ihrer jeweiligen Expertise überhaupt einen Willen auf der Grundlage eines eigenen Wissens bilden können. Für diese Bereiche hochdifferenzierter Expertise und Praxeologien gilt eben nicht mehr das Idealbild des verständigen und informierten Bürgers, der räsonierend am Prozess deliberativer 59 | Ein so besonnener Beobachter wie Philippe Schmitter schreibt: »Es ist quasi unmöglich, die in den Institutionen und Verfahren heutiger Demokratien existierenden Entropien, sowie die damit verbundene Schwierigkeit, Menschen von neuen Vorstellungen bezüglich ziemlich grundlegender politischer und ökonomischer Zusammenhänge zu überzeugen, zu überschätzen.« Ebd., S. 42.

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politischer Willensbildung teilnimmt. Diese Leitfigur der politischen Philosophie, die nach Habermas auch noch bereit ist, sich dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes auszusetzen, ist ein Relikt verhältnismäßig übersichtlicher und transparenter Gesellschaften. Sie in die Gegenwart zu transponieren, kommt einem Kontextfehler gleich, d. h. eine gut gemeinte Kategorie wird in einem veränderten Kontext unbrauchbar oder gar irreführend.60 Ausdrücklich gilt dies aber nur für komplexe und wissensintensive Problemfelder. In allen allgemeinen Themenfeldern politischen Entscheidens, die keine Spezialkenntnisse erfordern, ist die Freiheit der Willensbildung unproblematisch und wird durch die Möglichkeit allgemeiner politischer Partizipation unterfüttert. Dies ist der Ort des demokratischen »Oberhauses«,61 in dem alle Grundfragen behandelt und entschieden werden – auch die wichtige Frage der Delegation von Problemkomplexen an Fachinstitutionen des Unterhauses. Eine Dezentrierung der Demokratie in diesem Sinne ist geeignet, die Resilienz der Politik zu stärken, indem bewährte Formen des Komplexitätsmanagements wie Dezentralisierung, Centerbildung, Enthierarchisierung und eine erweiterte Architektur von Subsidiarität und Föderalität – und damit von verteilter Intelligenz – zu Bestandteilen der politischen Entscheidungsprozesse werden. Resilienz erfordert zwei Kernkompetenzen, die bezeichnenderweise genau die Schwachstellen der klassischen Demokratie markieren: Strategiefähigkeit und Lernkompetenz. Strategiefähigkeit meint die Fähigkeit, über punktuelle Maßnahmen und myopisches Krisenmanagement hinaus langfristige systemische Ziele zu setzen, die in definierten Entwicklungskorridoren kritische Qualitäten und Kompetenzen einer Gesellschaft aufbauen. Basis dafür ist eine Lernfähigkeit, die sich auf Logik und 60 | Entsprechend die Kritik von Rorty an Habermas: »Habermas, sowie andere Metaphysiker, die einer rein ›literarischen‹ Konzeption von Philosophie skeptisch gegenüberstehen, meinen, dass die klassisch liberalen politischen Freiheiten eine gemeinsame Vorstellung darüber benötigen, worum es sich beim Menschlichen eigentlich handele. Wir Ironiker, die ebenfalls Liberale sind, meinen hingegen, solche Freiheiten benötigten keine weitere gemeinsame Vorstellung abseits der Einigkeit darüber, dass jene Freiheiten bereits an sich wünschenswert sind.« Rorty, Contingency, S. 84. 61 | Willke, Dezentrierte Demokratie, S. 102–108.

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Dynamik ganzer Systeme richtet und nicht auf eine immer spezialisiertere Detailkenntnis von isolierten Einzelheiten. 62

Damit könnte die Demokratietheorie an ein reichhaltiges Erfahrungspotential anknüpfen, welches sich unter den Stichworten der lernenden Organisation und des organisationalen Lernens seit einigen Jahrzehnten herausgebildet hat. Dies ist kein zufälliger Konnex. Bei aller inkrementellen Lernfähigkeit der Demokratie, die Charles Lindblom hervorgehoben hat, fehlt ihr bei drastischen Veränderungsprozessen die dafür entscheidende Lernkompetenz, nämlich eine dem üblichen Durchwursteln geradezu entgegengesetzte Form des vorausschauenden systemischen Lernens. Diese Form ist so anspruchsvoll, dass es keineswegs ausgemacht ist, ob die Demokratie sie in ihrer bisherigen Regimegestalt leisten kann. Wenn aber die Demokratie hinter dem Anspruchsniveau ihrer Gesellschaft zurückbleibt, dann sind auch die Ansprüche an Freiheit gefährdet. Ich habe die Dynamiken der Globalisierung und der Digitalisierung als exemplarische Felder beschrieben, die mit neuen Ansprüchen an Gesellschaftssteuerung auch neue Gefährdungen der Freiheit mit sich bringen. Die Demokratie hat es als nationalstaatlich begrenzte Steuerungsform schwer, diese Herausforderungen zu bewältigen, weil ihr dazu bislang Reichweite und Kompetenz fehlen. Ein höherstufiger Lernmodus könnte dazu beitragen, diese Defizite auszugleichen und sogar darüber hinaus die Attraktivität der Demokratie als politische Steuerungsform wieder zu steigern. Resilienz lässt sich im Kern als die Fähigkeit zu vorausschauendem systemischen Lernen verstehen. Ein resilientes System wartet nicht, bis die Lage verzweifelt ist, sondern es stellt sich antizipierend auf tiefgreifende Veränderungen ein.63 Dies kann gelingen, wenn die Erfahrungen mit vergangenen Krisen nicht einfach in die Zukunft extrapoliert werden – dies wäre Lernen erster Stufe –, sondern zusätzlich gelernt wird, dass die nächste Krise anders sein wird als die vorige, und es daher erforderlich ist, sich Szenarien der nächsten Krise vorzustellen und aus möglichen zukünftigen Krisen rückwirkend auf die Gegenwart zu lernen.64 Während 62 | Willke, Konfusion, S. 96. 63 | Gary Hamel, Liisa Välikangas, »The Quest for Resilience«, in: Harvard Business Review (September 2003), S. 52–63, hier S. 53 f. 64 | Siehe mit Blick auf die Resilienz der internationalen Ordnung und der Risiken der Globalisierung Alex Evans u. a., Confronting the Long Crisis of Globalization.

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also alles bisherige und evolutionäre Lernen ein Lernen aus der Vergangenheit ist, zielt Resilienz auf ein Lernen aus der Zukunft, genauer: aus projektierten Zukunftsszenarien. So verwirrend dies zunächst klingen mag, so klar dürfte doch sein, dass ein Lernen aus vergangener Erfahrung nicht mehr ausreicht, um gegen disruptive und transformative Veränderungen gewappnet zu sein. Wenn Firmen Methoden wie Szenarioanalyse, Zukunftswerkstatt oder »predictive analytics«65 verwenden, um sich mit ungewissen Zukünften auseinanderzusetzen und resilient zu werden, warum dann nicht auch die Demokratie? Die Zukunft der Freiheit hängt von der Fähigkeit der Demokratie ab, heute über zukünftige Bedrohungen kompetenter aussagefähig zu sein und diesen Bedrohungen Expertise-basierte Widerstandsfähigkeit entgegen zu setzen. In einem einflussreichen Buch hat Peter Senge systemisches Denken – neben vier Grundfähigkeiten – als die »Fünfte Disziplin«66 beschrieben, die Organisationen oder Institutionen benötigen, um über den Tag hinaus sich auf eine ungewisse Zukunft einzustellen. Sein Ansatz gründet auf der Konzeption der Systemdynamik (»systems dynamics«) der MITGruppe um Jay Forrester.67 Die große Stärke dieses Ansatzes ist darin zu sehen, dass er, wie der Name sagt, sich bei der Analyse einer komplexen Konstellation nicht nur um die Elemente und Einzelteile kümmert, sondern vor allem um das Zusammenspiel der Komponenten in einem ganzheitlichen Zusammenhang. Daraus lassen sich Prinzipien und Merkmale der Systemdynamik ableiten, die auch Auskunft über das weitere zukünftige Verhalten des Systems, und gerade auch über überraschende, kontraintuitive Entwicklungen, geben können.68 Einzelne Momente der SystemRisk, Resilience and International Order. Managing Global Insecurity, Brookings Institution 2009. Verfügbar unter: http://globaldashboard.org/wp-content/up​ loads/2010/Long_Crisis.pdf, letzter Zugriff 08.11.2016. 65 | Tom Foremski, »Dealing a Better Hand. Predictive Analytics«, in: Financial Times Europe (26.05.2004), IT Review, S. 1. Schmidt, Cohen, The New Digital Age, S. 57. 66 | Peter Senge, The Fifth Discipline, New York 199. 67 | Jay Forrester, World Dynamics, Cambridge, Mass. 1971. Meadows u. a., Groping in the Dark. 68 | Jay Forrester, »Understanding the Counterintuitive Behavior of Social Systems«, in: John Beishon, Guy Peters (Hg.), System Behavior, London, New York 1972, S. 200–217.

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dynamik wie positive Rückkopplung (»Schneeballeffekte«), Rekursivität, Problemlösung als Problemursache, selbst-erfüllende Prophezeiung oder lineare Extrapolation sind zwar durchaus schon länger bekannt und behandelt, aber in der Praxis der Systemsteuerung nicht angekommen. Senges Buch war primär für die manageriale Praxis geschrieben und hat dort immerhin Spuren hinterlassen, auch wenn aufs Ganze gesehen Management nach wie vor weit von systemischem Denken entfernt ist. Noch weiter entfernt von systemischem Denken sind allerdings Institutionen des Erziehungssystems, des Gesundheitssystems oder eben der Politik. Der Ansatz öffnet zugleich die Augen dafür, wie wenig vorhersehbar das konkrete Verhalten eines komplexen dynamischen Systems ist. Dabei ist nicht alles gleichzeitig im Fluss und in Veränderung begriffen. Es gibt Zonen der Indifferenz, es gibt Kontinuitäten und Pfadabhängigkeiten, in denen stetige Veränderungen stattfinden. Problematisch wird es erst, wenn diese Bereiche übersichtlicher Veränderung dahingehend missverstanden werden, dass die Systemdynamik insgesamt voraussehbar und beherrschbar wäre. Aus allem folgt ein gesteigerter Bedarf an Kompetenzen im Umgang mit Intransparenz und Nichtwissen, sowie ein Bedarf an Instrumenten und Methoden für das Navigieren in unbekannten Gewässern. Resilienz ist eine Konzeption, die zunächst zu einem adäquateren Verständnis der Problematik und dann zu passenden Methoden und Instrumenten führen soll. Da es um einen neuen, voraussetzungsvollen Modus des systemischen Lernens geht, besteht für den Fall demokratischer Politik die Aufgabe darin, innovative Formen des reflexiven und strategischen Lernens zu entwickeln, die mit dem institutionellen Gefüge der Demokratie kompatibel sind. Da dieses Gefüge vorrangig auf kleinschrittiges inkrementelles Lernen ausgerichtet ist, wird es sich als notwendig erweisen, auch das institutionelle Gefüge der Demokratie selbst so zu entwickeln, dass leistungsfähigere Formen des Lernens ermöglicht werden. Resilienz als Komplexitätsmanagement steht vor der Herausforderung, Ordnungsparameter in das Chaos kontingenter Optionen69 einzubauen und im Fluss unvermeidbarer Fluktuationen Inseln der Ordnung zu kristallisieren,70 die den Raum möglicher – im Sinne von aushaltba69 | Tom Peters, Thriving on Chaos. Handbook for a Management Revolution, London 1989. 70 | Prigogine, Order through Fluctuation.

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rer  – Unordnung 71 vergrößern. Ein Demokratiemodell nach diesen Voraussetzungen wird geprägt sein von mehr Unordnung, mehr Dezentrierung, mehr »horizontaler Rechenschaftslegung« 72, mehr horizontaler Subsidiarität 73 und mehr Nutzung von verteilter Intelligenz. Es ist abzusehen, dass diese Vorstellung den Vertretern eines klassischen Demokratiemodells einen gehörigen Schrecken einjagen wird. Aber ein Blick auf die gegenwärtigen und absehbaren Bedrohungen einer komplexen Freiheit könnte lehren, dass eine Transformation der Demokratie im Interesse der Freiheit unausweichlich ist.

71 | Willke, Heterotopia. 72 | Schmitter, Crisis and Transition, S. 41 (»horizontal accountability«). 73 | »Vielleicht stehen für die kommenden Jahrzehnte sehr grundlegende Diskussionen an zur bisher wie selbstverständlich hingenommenen Verfügung des Staates über die Wirtschaft via Steuern, zur dominanten Rolle des Staates in der Erziehung – und möglicherweise auch zum Gewaltmonopol des Staates. Die Freiheit des individuellen Lebens von Privilegien des Staates, die so profund waren, dass sie unsichtbar blieben — das könnte ein Thema der Zukunft sein.« Gumbrecht, »Ob die Freiheit eine Zukunft hat«.

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6 Zur Tiefenstruktur komplexer Freiheit

So wichtig ein Verständnis der suprastrukturellen Einbindung und Konditionalisierung komplexer Freiheit ist, so wenig angemessen wäre es, darüber die »Tiefengeschosse« der Architektur der Freiheit zu vernachlässigen. Diese Tiefenstruktur setzt ganz traditionell an drei personalen Momenten des klassischen Freiheitsbegriffs an: Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit und Handlungsfreiheit.1 Komplementär zu den Ausführungen zur Suprastruktur komplexer Freiheit geht es nun darum, den Konsequenzen einer globalisierten Moderne auf der Ebene der Person und ihrer internen Prozesse nachzuspüren. Allerdings steht auch hier die enge Verbindung von Freiheit und Demokratie im Vordergrund, so dass es bei einer sozialwissenschaftlich fundierten und demokratietheoretisch ausgerichteten Freiheitstheorie bleibt. Dies bedeutet, dass die in der klassischen Theorie individualistisch gedachten Komponenten der Freiheit als Momente einer politisch gewendeten Freiheit konfiguriert werden müssen. Dies empfiehlt sich auch deshalb, weil über Willensfreiheit als individuell-psychologisch-kognitive Eigenschaft oder Kapazität des Menschen alles gesagt ist, und alles unklar und umstritten bleibt. Seit sich auch noch die Neurowissenschaften einmischen und glauben, aus Neuronenkonstellationen das Denken und Kommunizieren erkennen zu können, macht es vollends keinen Sinn mehr, eine Freiheitstheorie auf Willensfreiheit aufzubauen. Aussichtsreicher scheint es zu sein, nicht von der Verursachung 1 | »Dies also ist der angemessene Ort menschlicher Freiheit. Er umschließt als Allererstes eine innere Komponente, nämlich die des Bewusstseins, und fordert Gewissensfreiheit im umfänglichsten Sinne; Gedanken- und Gefühlsfreiheit; absolute Meinungsfreiheit und zuletzt die Freiheit, zu allen Angelegenheiten, seien sie praktisch oder spekulativ, wissenschaftlich, moralisch oder theologisch, so zu stehen, wie man möchte.« Mill, On Liberty, S. 15.

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in mentalen Prozessen her zu argumentieren, sondern von den Ergebnissen möglicher Willensfreiheit. In einem sozialen-politischen Kontext ist das Ergebnis tatsächlich ausgeübter Willensfreiheit die Möglichkeit, seine eigene Meinung auszudrücken  – zunächst zu sich selbst 2 und dann zu welchen Themen auch immer. In der politischen Konsequenz geht es also um Meinungsfreiheit, die auf Reflexionsfähigkeit aufsetzt und nicht auf kognitive oder neuronale Faktoren zurückgeführt werden muss, sondern die als konstitutive Komponente demokratischer Freiheit an konkreten institutionellen, normativen und politischen Faktoren festgemacht werden kann. Auch die zweite klassische Komponente der Freiheit, Entscheidungsfreiheit, lässt sich als Komponente einer politisch konstituierten Freiheit konfigurieren und nimmt dann die Form der Wahlfreiheit an. Schon als auf Personen gemünztes Konzept schließt Entscheidungsfreiheit immer auch Wahlfreiheit ein, weil die Möglichkeit zu entscheiden davon abhängt, ob Optionen, also Wahlmöglichkeiten, vorhanden sind. Wahlfreiheit ist daher keineswegs auf die Bereiche politischer Wahlen im Sinne demokratischer Prozesse beschränkt, sondern allgemeiner zu verstehen als die Gesamtheit der zu einer Auswahl aus Optionen führenden Entscheidungsprozesse, die in einer gegebenen Gesellschaft durch politisch

2 | In einem aufschlussreichen Text beschreibt Harry Frankfurt dieses Merkmal der Person als die Fähigkeit zur reflexiven Selbstevaluation. Harry Frankfurt, »Freedom of the Will and the Concept of a Person«, in: Journal of Philosophy 68 (1971), 5–20, hier S. 6. Die Fragen nach der Besonderheit des Menschen als Person gegenüber anderen (bekannten) Lebewesen ist eine wichtige Weichenstellung in der Theorie der Willensfreiheit. Denn damit kommt in den Blick, dass es jenseits der unentscheidbaren Problematik von Freiheit/Determinismus grundlegender um Reflexionsfähigkeit geht. Ein Mensch kann über seine Willensmomente nachdenken und zu einer Willensbildung zweiter Ordnung kommen (»second-order desires«). Es ist nachrangig, woher die Willensmomente – die durchaus widersprüchlich sein können (vergleiche das Beispiel des Drogentherapeuten bei Harry Frankfurt) – kommen, ob aus Genen, Neuronen, Prägungen oder aus reiner Kontingenz. Entscheidend ist, dass eine Person dann reflexiv diese Willensmomente evaluieren und so zu einer Meinung über seinen Willen zweiter Ordnung gelangen kann. Meinungsfreiheit fängt so auf dem forum internum an und setzt sich in einer gesellschaftlich-politischen Situation in die öffentlichen Foren hinein als politische Meinungsfreiheit fort.

6 Zur Tiefenstruktur komplexer Freiheit

vorgegebene Entscheidungsprämissen eröffnet sind. Beispielsweise implizieren die Entscheidungen einer Person für einen bestimmten Schultyp, für einen Wohnort oder für einen bestimmten Beruf politisch gesetzte Regeln, die Wahlfreiheit in den genannten Bereichen erst eröffnen. In einer archaischen oder mittelalterlichen Gesellschaft wäre Wahlfreiheit nicht gegeben, weil nach den geltenden Regeln und Traditionen Optionen für Personen eines bestimmten Standes nicht vorgesehen sind. In modernen Gesellschaften ist Wahlfreiheit bis in verästelte Details hinein eine politisch konstituierte Freiheit. In den USA reicht dies gegenwärtig bis zur Frage, wieviel Zucker oder Salz in bestimmten Lebensmitteln zulässig sind – für überzuckerte oder versalzene Lebensmittel besteht also keine Wahlfreiheit. Aber generell gilt für moderne Demokratien  – und a fortiori für autoritäre Systeme – ein Grad an Verrechtlichung und eine Dichte an Vorschriften, die Wahlfreiheit in ein umfassendes Netz aus Reglements einbinden. In das hohe Lied der Entscheidungsfreiheit, das Philosophen gerne singen, mischen sich in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive deutlich nüchternere Töne. Als politisch formierte Wahlfreiheit ist sie in hohem Maße abhängig von rechtlich geregelter gesellschaftlicher Kompatibilität und von politischen Prioritäten. Schließlich ist auch die dritte Komponente des klassischen Freiheitsbegriffs, die Handlungsfreiheit, kritisch auf ihre Voraussetzungen als politisch ermöglichte und garantierte Freiheit hin zu prüfen. Es wird sich erweisen, dass die Vorstellung von Handlungsfreiheit auf einer Handlungstheorie aufsetzt, die man Thomas Hobbes oder John Locke noch nachsehen kann, die aber heute nicht mehr tragfähig ist. Dies ist in Abschnitt 6.3 ausführlich zu begründen, und es wird eine Kritik der Handlungstheorie von Habermas als exemplarischen Fall einschließen.

6.1 A porien der M einungsfreiheit Ein Wille bildet sich im Inneren eines mentalen Systems und ist daher von außen für Andere nicht erkennbar. Erst wenn dieser Wille sich in beobachtbarer Weise als explizite Meinung in Formen der Kommunikation oder des Handelns ausdrückt, wird er sozial relevant – in Gruppe, Clan, Stamm oder Gesellschaft. Willensfreiheit ist nach wie vor Voraussetzung für Meinungsfreiheit, aber solange der Wille sich nicht in einer geäußerten Meinung manifestiert, bleibt er ein interner unsichtbarer Vorgang. Wenn der Marquis in

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Schillers Don Carlos die berühmte Forderung an den König stellt: »Geben Sie Gedankenfreiheit«, dann geht es eben nicht nur um Gedanken, sondern um die Konsequenzen von Gedanken, die sich in geäußerten Meinungen ausdrücken. Ausdrücklich sagt der König in seiner Antwort, dass die Gedanken unproblematisch sind, solange sie verschwiegen werden.3 Wenn es nach der hier vertretenen Position bei Willens- und Gedankenfreiheit tatsächlich um Meinungsfreiheit geht, dann müssen die heute relevanten Bedingungen der Meinungsbildung und die Möglichkeiten der Meinungsäußerung genauer betrachtet werden, um Gehalt und Gefährdungslagen der Meinungsfreiheit einschätzen zu können. Auch Meinungsbildung spielt sich zunächst im Kopf ab, aber als Moment demokratischer Freiheit kommt es auf Äußerung an. Zwei Aspekte sind daher für eine Freiheitstheorie von besonderer Bedeutung: Was kommt im Rahmen moderner Gesellschaften in den Kopf hinein, und wie gestalten sich Äußerungen in einem gesellschaftlich-politischen Kontext? »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien.«4 Auch wenn der Satz Luhmanns überspitzt ist, so weist er doch auf die überragende Bedeutung der Massenmedien für das hin, was über Gesellschaft in die Köpfe von Menschen kommt. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatten Madison, Hamilton und Jay mit ihren anonymen »Federalist Papers« die entscheidenden Bürger und Politiker in den Staaten der Föderation nicht auf Marktplätzen und Stadtversammlungen erreicht, sondern über die damals wichtigsten Massenmedien, die New Yorker Zeitungen. Heute spielen die Massenmedien eine überragende Rolle in der Formung der öffentlichen Meinung – und damit in der Formung der Meinungen der Bürger,5 und damit darin, wie sich reale Freiheit ausbilden kann. 3 | Der König versteht dies und sagt: »Ich bin der Erste, dem Ihr Euer Innerstes Enthüllt. Ich glaub’ es, weil ich’s weiß. Um dieser Enthaltung willen, solche Meinungen, Mit solchem Feuer doch umfaßt, verschwiegen Zu haben bis auf diesen Tag – um dieser Bescheidnen Klugheit willen, junger Mann, Will ich vergessen, daß ich sie erfahren Und wie ich sie erfahren« (Hervorhebung H. W.). Friedrich Schiller, Don Karlos, Infant von Spanien, Leipzig 1787, Erster Akt, Zehnter Auftritt. 4 | Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 9. 5 | Gemessen an täglicher Reichweite führt das Radio mit 78 Prozent, dann folgen TV mit 72 Prozent, Tageszeitungen mit 65 Prozent und das Internet mit 48 Prozent. Im Meinungsbildungsgewicht allerdings führt das Fernsehen mit 36,9 Prozent vor

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Bei der medialen Vermittlung von gesellschaftlichen und politischen Bildern und Positionen stoßen zwei unterschiedliche Funktionssysteme und damit zwei konträre Logiken aufeinander. Die privaten Medien sind Wirtschaftsunternehmen, und selbst die öffentlich-rechtlichen Medien müssen sich der Aufmerksamkeitslogik der privaten Medien beugen, und tun dies auch, um ihre Quoten zu halten. Die spezifische Logik der Medien kanalisiert, was in den Medien behandelt und veröffentlicht wird. Bekanntermaßen wird damit das vorrangig behandelt, was sensationell, aufmerksamkeitserheischend und auf den Massengeschmack ausgerichtet ist – weil dies Umsatz und Quote bringt. Ohne hier in Medientheorie und Mediensoziologie einzusteigen lässt sich sagen, dass die massenmediale Vermittlung von Politik die Kurzfristigkeit der Relevanzen bis zu den Extremen des Echtzeitjournalismus und Onlinejournalismus verschärft und die Trivialisierung komplexer Probleme zum Programm wird.6 Darüber hinaus führen die unterschiedlichen Informationsbedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu einer Fragmentierung der öffentlichen Kommunikation und Meinungsbildung und damit zu einem neuerlichen, medial forcierten Strukturwandel der Öffentlichkeit. Offen ist nach wie vor, ob das Internet mit seinen Foren für soziale Medien, einschließlich Blogs und Twitter-Folge-Communities, das demokratische Potential einer digitalisierten Gesellschaft stärken oder im Gegenteil zu einer Zersplitterung der Gruppierungen in geschlossenen »bubbles« und zum Zerfasern der Themen in Banalitäten führen.7 Tageszeitungen mit 22,7 Prozent. Uwe Hasebrink, Sascha Hölig, »Topografie der Öffentlichkeit«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22-23 (2014), S. 16–22, hier S. 16–17. Für die USA, wo Internet und soziale Medien bereits viel wichtiger als in Deutschland sind, siehe www.journalism.org/2016/02/04/the-2016-presidenti​ al-campaign-a-news-event-thats-hard-to-miss/ und www.journalism.org/2016/ 05/26/-news-use-across-social-media-platforms-2016/. 6 | Julia Cagé, »Medien, Macht, Demokratie. Wettbewerb und Konzentration auf dem Medienmarkt«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 30–32 (2016), S. 28–33. Di Fabio, Regeln für die digitale Welt: »An die Stelle von journalistischer Recherche tritt das zusammengeklickte Momentanwissen in Erregungszuständen. Öffentliche Meinung wird volatiler und emotional verführbarer.« 7 | Ausführliches Material dazu bei https://www.wired.com/2016/11/filter-bub​ ble-​destroying-democracy/ und https://www.brookings.edu/blog/techtank/​2016/​ 12/09/inside-the-social-media-echo-chamber/.

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Mit der Digitalisierung der Medien tritt noch deutlicher hervor, dass für das Individuum und auf der Ebene individueller Prozesse Gedankenund Meinungsfreiheit technisch dadurch unterstützt und erweitert werden, dass im Prinzip jeder Zugang zu allem hat und sich zu allem äußern kann – und wenn es ein eigener Blog ist. Im Kontrast dazu spielt aber die suprastrukturelle Überformung der Meinungsfreiheit eine entscheidende Rolle dabei, welche Relevanz und Wirksamkeit diese Meinungsäußerungen haben können. Die Suprastrukturen der Meinungsfreiheit sind von Medienkonzentration und ökonomischer Rationalität der Massenmedien geprägt. Medienimperien, wie beispielhaft diejenigen von Axel Springer, Rupert Murdoch, Michael Ringier oder Silvio Berlusconi, vermischen Profitinteressen und politische Einflussnahme. Sie geben einzelnen Personen oder Organisationen einen grotesk überzogenen Einfluss auf die politische Meinungsbildung, dem gegenüber der Normalbürger geradezu irrelevant erscheint. Das Idealbild einer deliberativen Demokratie, in der verständige Bürgerinnen und Bürger dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes folgen, scheitert an einer Ungleichheit der Einflussmöglichkeiten, welche die tatsächlich wirksame Meinungsfreiheit auf wenige Großmogule konzentriert und den vielen Einzelnen wenig Chancen lässt. Die erhebliche Ungleichheit der Einkommen und Vermögen innerhalb entwickelter Gesellschaften (wie auch in globalem Maßstab zwischen Nord und Süd, Erster und Dritter Welt) ist Ausgangspunkt verbreiteter Kritik am ökonomischen wie auch am politischen System moderner Demokratien. Ökonomische Ungleichheit führt nicht nur zu Diskrepanzen zwischen arm und reich, sondern hat eine entsprechende Ungleichheit der Chancen bei der Ausübung von Freiheitsrechten zur Konsequenz. Die Ungleichheiten der faktischen Meinungsfreiheit stehen beispielhaft dafür. Unterschiede der wirtschaftlichen Potenz schlagen auf die Gesamtheit der Freiheitsrechte durch, weil sie ungleiche Einflusschancen auf politische Entscheidungsprozesse nach sich ziehen. Wenn Parlamente aufgrund eklatant einseitiger Beeinflussung und Meinungsbildung absurde Abgasregelungen für die Autoindustrie beschließen oder der Pharmaindustrie gesundheitsgefährdende Freiräume gewähren oder eine Regulierung der Finanzindustrie unterlassen, dann mündet wirtschaftliche Ungleichheit in rekursive Prozesse der Beeinträchtigung von Freiheitsräumen der breiten Allgemeinheit. Es entsteht ein sich selbst verstärkender Prozess, in welchem die ungleichen Chancen die Bürger daran hindern, formal gegebene Freiheitsräume tatsächlich in Anspruch zu nehmen.

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Neben diese suprastrukturellen Deformationen der Meinungsfreiheit treten in einer sich abzeichnenden Wissensgesellschaft tiefenstrukturelle Hindernisse, die einer Entfaltung und Ausübung der Meinungsfreiheit entgegenstehen. Die entscheidenden Hindernisse sind Nichtwissen und die Abhängigkeit von fremder Expertise. Um eine Meinung über etwas (ein Thema, Problem, Konflikt etc.) auszubilden, muss ich zu diesem Etwas einen Wissenshintergrund haben. Ohne irgendein Wissen dazu lässt sich wohl eine Meinung nicht bilden. Allerdings kann dieses Wissen von sehr unterschiedlicher Art und Qualität sein. Es geht definitiv nicht um richtiges Wissen, vielmehr genügt alles, was eine Person für sich selbst als Wissen ansieht. Das schließt Fachwissen, Alltagswissen, vermeintliches Wissen und jede Art von Überzeugung ein, gleichgültig, auf welcher Grundlage die Gewissheit erlangt worden ist. Meinungsfreiheit steht demnach auch der Person zu, die ihre Meinung auf Vorurteile, Irrtümer, Glaubenssätze, Esoterik oder ähnliches gründet. Ein tiefenstrukturelles Hindernis im hier gemeinten Sinn ist daher nur und ausschließlich reines Nichtwissen. Diese Komplikation lässt zum einen zu, dass die Meinungsfreiheit der Vielen von den Einflussmöglichkeiten der Wenigen manipuliert wird, indem medial propagierte Meinungen übernommen und als eigenes Wissen behandelt werden. Zum anderen aber ist davon Nichtwissen scharf abzugrenzen. Nichtwissen im Sinne von Ahnungslosigkeit (»unknown unknowns«) bedeutet, dass es überhaupt keinen Sinn ergibt, in diesen Feldern von Willensfreiheit oder Meinungsfreiheit zu sprechen, denn der Gegenstand für Willen oder Meinung fehlt. Höchst relevant ist dagegen Nichtwissen als erkanntes Nichtwissen (»known unknowns«). Wenn mir als Fachfrau für systemische Familienpsychotherapie völlig klar ist, dass ich von Funktionsweise und Dynamik des globalen Finanzsystems nichts weiß und nichts verstehe, dann geht meine Meinungsfreiheit hinsichtlich der Frage der Transaktionssteuer (Tobin-Steuer) ins Leere. Ich kann der Meinung von Expertinnen in diesem Feld folgen, aber es ist dann deren Meinung, die ich in freier Entscheidung annehmen oder ablehnen kann, wenn ich die mir gegebene Informationsfreiheit nutze.8 Eine Einschätzung von Praxis und Relevanz der Meinungsfreiheit als Ausgangspunkt demokratischer Freiheitsrechte hängt nach dieser Argu8 | Siehe z. B. zum Streit um die Tobin-Steuer: www.handelsblatt.com/politik/ international/pro-und-contra-ueber-sinn-und-unsinn-einer-transaktionssteuer/​ 3438926.html.

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mentation davon ab, wie sich in hyperkomplexen Gesellschaften die Topographien von Wissen und Nichtwissen darstellen. Beobachter, die davon ausgehen, dass Bürger und Wählerinnen im Prinzip ihre Gesellschaften und deren Probleme verstehen können, werden auf der tiefenstrukturellen Ebene Meinungsfreiheit nicht als gefährdet ansehen. Beobachter, die von einem umfassenden Nichtwissens ausgehen, werden zu entgegengesetzten Einschätzungen kommen. Wieder erweist sich, dass eine Freiheitstheorie nichts ohne Grundlagen in Gesellschaftstheorie und Demokratietheorie entwickelt werden kann, und dass unterschiedliche Positionen in der Gesellschaftstheorie determinieren, wie die Potentiale und die Defizite der Freiheit einzuschätzen sind. Idee und Ausbau der Wissensgesellschaft radikalisieren die mit der »okzidentalen Rationalisierung« (Weber) sich durchsetzende gesellschaftliche Arbeitsteilung, Differenzierung und Spezialisierung der Praxisfelder und Praxeologien moderner Gesellschaften. Sie bewirken, dass Veränderung und Innovation nicht mehr dem gemächlichen Tempo der Evolution folgen, sondern sich durch strategisch und kompetitiv ausgerichtete Forschungen und die schnelle Umsetzung von Inventionen in Innovationen zu einer alles durchdringenden Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften verdichtet haben. Von einer Wissensgesellschaft oder einer wissensbasierten Gesellschaft lässt sich sprechen, wenn die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse, künstliche Intelligenz und Expertensysteme gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden. Dahinter steht eine Auffächerung der Disziplinen, Berufe und Fachgemeinschaften, die hochspezialisierte Expertise produzieren, die von Laien nicht mehr verstanden und beurteilt werden kann. Dahinter steht aber auch eine Vernetzung globaler Problemfelder – z. B. das Zusammenspiel von Klimawandel, Dürrekatastrophen, Migrationsbewegungen und Abwehrreaktionen der reichen Länder  –, welche die nationalstaatlichen Steuerungskompetenzen überfordern. Selbst Expertinnen sind nur solche in einigen wenigen Feldern und notwendig Laien in allen anderen Wissensgebieten. Faktisch bedeutet dies, dass alle Menschen hinsichtlich der meisten wissensintensiven Problemfelder Laien und mithin überfordert sind, wenn sie sich zu diesen Problemfeldern eine Meinung bilden oder gar kompetent dazu äußern sollen. Dies galt zwar früher auch schon, aber der Grad der Spezialisierung, Differenzierung, Professionalisierung

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und der Wissensabhängigkeit sind in einer globalisierten Wissensgesellschaft auf einem qualitativ neuen Niveau. Es liegt auf der Hand, dass bestimmte Merkmale der Wissensgesellschaft Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit haben. Die Wirkungen sind weder offensiv noch offensichtlich, sondern eher indirekt und verdeckt. Denn die Beeinträchtigungen folgen aus Nichtwissen, und Nichtwissen ist eine schwierige tiefenstrukturelle Kategorie. Zum einen gibt niemand gerne Nichtwissen zu, auch Experten nicht. Zum anderen, und vielleicht gewichtiger, gaukelt eine lange Tradition demokratischer Gleichheitsideologie vor, dass alle Bürger als verständige und informierte Disputanten sich gleichberechtigt zu allen politischen Fragen und Themen äußern können. Das mag auf der Athener Agora zwischen den Vornehmen der Stadt der Fall gewesen sein, ist aber im Kontext einer Wissensgesellschaft eine tollkühne Behauptung. Dennoch bricht es nahezu ein Tabu, den Gleichheitsgrundsatz in Frage zu stellen.9 Diese Konstellation ist allerdings wenig überraschend, wenn man mit Robert Dahl das Dilemma zwischen Partizipation und Effektivität als konstitutive Problematik jeder Demokratie versteht.10 Ein Übergewicht an Partizipation gefährdet die Effektivität des politischen Entscheidungsprozesses, und ein Übergewicht an Effektivität beschränkt Partizipationsmöglichkeiten der Bürger. In einer historischen Perspektive ist dennoch eine tektonische Verschiebung im Laufe der Entwicklung der Demokratie von Input-Legitimität zu Output-Legitimität, und damit von Partizipation zu systemischer Effektivität zu beobachten. Getrieben wird diese Verschiebung vom Wandel des Nachtwächterstaates zum Sozialstaat, vom gestiegenen Anspruchsniveau der Bürger und auch von der Konkurrenz der politischen Systeme. Die Wissensgesellschaft steigert diese Konkurrenz in die Dimension der Expertise. Wissen wird zur kritischen Ressource und zum entscheidenden Produktivfaktor, über die traditionellen Faktoren Land, Kapital und Arbeit hinaus. Je mehr Wissen durch Forschung, Spezialisierung und Professionalisierung in die Welt kommt, desto weniger ist ein einzelnes 9 | Obwohl der große Freiheitstheoretiker John Stuart Mill genau dies getan hat, indem er zwar ein allgemeines, aber nach Intelligenz gewichtetes Wahlrecht empfiehlt: John Stuart Mill, The Collected Works of John Stuart Mill, Volume XIX – Essays on Politics and Society Part 2, Toronto 1977 (zuerst 1861), hier S. 473–478. 10 | Robert Dahl, »A Democratic Dilemma: System Effectiveness versus Citizen Participation«, in: Political Science Quarterly 109 (1994), S. 23–34.

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mentales System in der Lage, die Gesamtheit des verfügbaren und für den Betrieb moderner Gesellschaften erforderlichen Wissens zu überblicken, geschweige denn zu beherrschen.11 Mit dem Übermaß an Wissen nimmt zwingend der Umfang eines unaufhebbaren Nichtwissens zu. Wenn daher die Meisten hinsichtlich der meisten komplexen politischen Problemfelder mit Nichtwissen geschlagen sind, dann sollten die Formen der Partizipation neu durchdacht und mit Möglichkeiten der Differenzierung angereichert werden. Das klassische Dilemma der Demokratie zwischen Partizipation und Effizienz steigert sich hier zu dem Risiko, durch die Beteiligung durch Laien nicht nur »schlechte Politik« (Caplan) zu erzeugen, sondern katastrophale Politik, die im Besonderen systemische und globale Risiken verkennt. Aus demokratietheoretischer Sicht weist Philip Kitcher darauf hin, dass Wahlen und Mehrheitsentscheidungen nicht per se konstitutiv für Demokratien sind, sondern vielmehr als Ausdrucksformen der Idee öffentlicher Kontrolle angesehen werden müssen. Aber  – und das ist Kitchers entscheidende Warnung – möglicherweise handelt es sich nicht einmal um Ausdrucksformen öffentlicher Kontrolle, sondern vielmehr um deren »Verrat«. Letzteres sei zumindest dann wahrscheinlich, wenn die Mehrheit, wie etwa im Fall des Klimawandels, nach fehlgeleiteten Präferenzen entscheide.12 Rechnet man ein, dass durch Massenmedien und populistische Argumentationen die Gefahr systematischer Irrtümer deutlich erhöht wird (siehe das Brexit-Referendum), dann schafft Ignoranz für Demokratie doch ein gewichtiges Problem. An diesem Punkt der Argumentation muss daran erinnert werden, dass die Vertreter einer deliberativen Demokratietheorie, von Habermas bis Landemore, tatsächlich annehmen, dass ein prinzipiell unbegrenzter inhaltlicher politischer Diskurs, der unterschiedliche Meinungen berücksichtigt und kognitive Vielfalt zum Ausdruck bringt, in der Lage ist, vernünftige Ergebnissen zu produzieren.13 Unter realen Bedingungen einer 11 | »Ein zentrales Problem der Demokratietheorie für eine solche Gesellschaft ist die allgemeine Unwissenheit der Bürger.« Russell Hardin, »Representing Ignorance«, in: Social Philosophy and Policy 21 (2004), S. 76–99, hier S. 76. 12 | Philip Kitcher, Science in a Democratic Society, New York 2011, S. 65. 13 | Einen guten Überblick über die Diskussion bietet Simone Chambers, »Deliberative Democratic Theory«, in: Annual Review of Political Science 6 (2003), S. 307–326.

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Massendemokratie, die mit einer Fülle hochkomplexer und kognitiv voraussetzungsvoller Probleme zu kämpfen hat, ist diese Annahme jedoch schlicht abwegig.14 Ein noch so intensiver Diskurs unter Blinden macht diese nicht sehend. Und auch wenn sich das Wunder der Aggregation in trivialen Fällen – wie etwa der Bestimmung des Gewichts eines Ochsen – ereignen mag, so sagt das nichts über die Angemessenheit des Verfahrens für komplizierte und verschachtelte Problemdiagnosen und -lösungen aus. Die kognitive Überforderung nimmt pandemische Ausmaße an, wenn den ersten Schritten in die Wissensgesellschaft weitere folgen, wenn Spezialisierungen, globale Vernetzungen und Abhängigkeiten, Risikoanfälligkeiten, katastrophische Entwicklungen und die Produktion von Nichtwissen und Ungewissheiten zunehmen. Die Situation ist paradox, weil adäquate Problemlösungen elaborierte und spezialisierte Expertise erfordern und gleichzeitig immer mehr Menschen von immer mehr Themen immer weniger verstehen. Unter diesen Umständen weiterhin alternativlos auf demokratische Deliberation zu setzen und die Beteiligung aller an allen politischen Willensbildungs-und Entscheidungsprozessen als Ideal zu propagieren, heißt, sich blind und taub zu stellen für die mit Globalisierung und Wissensgesellschaft drastisch veränderten Operationsbedingungen moderner Gesellschaften. Eine solche Position läuft darauf hinaus, gesellschaftliche Komplexität hinweg zu wünschen und die Lebenslüge moderner Demokratien über die Möglichkeiten rationalen Entscheidens in die Wissensgesellschaft hinein zu verlängern. Huub Dijstelbloem bezieht die Aporie der Meinungsfreiheit auf die »ernsthaften Schwierigkeiten« der deliberativen Demokratietheorie: »Die Größe gegenwärtiger demokratischer Nationalstaaten, die transnationale Dimension vieler Themen, die Komplexität der Probleme, und die Schwierigkeiten, zu einem Konsens zu kommen, setzen der Durchführbarkeit deliberativer Prozesse Grenzen.«15

14 | Vgl. Ian Shapiro, The State of Democratic Theory, Princeton, N. J. 2003. 15 | Huub Dijstelbloem, »Science in a not so Well-Ordered Society. A Pragmatic Critique of Procedural Political Theories of Science and Democracy«, in: Krisis. Journal for Contemporary Philosophy 1 (2014), S. 39–52, hier 44. Verfügbar unter: www.krisis.eu/content/2014-1/krisis-2014-1-06-dijstelbloem.pdf, letzter Zugriff 08.11.2016 (Übersetzung HW).

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Willensfreiheit als mentale Kategorie und Meinungsfreiheit als politische Kategorie werden durch Nichtwissen nicht grundsätzlich angetastet. Vielmehr steht die praktische Umsetzung und Ausübung dieser Aspekte von Freiheit in Frage. Sollte sich belegen lassen, dass Bürger sich von Politik, Parteien, Wahlen und Engagement fernhalten, weil sie sich von der Unübersichtlichkeit der großen Problemfelder überfordert fühlen, und sollte sich weiter herausstellen, dass sich Nichtwähler nur über die Trivialformeln der Populisten aktivieren lassen, dann wäre es an der Zeit, über neue Konturen der Meinungsfreiheit nachzudenken.

6.2 A porien der W ahlfreiheit Dass Menschen für sich selbst entscheiden können, ist eine Errungenschaft der frühen Moderne, die sich der Befreiung von den Traditionen der archaischen Gesellschaft verdankt. Nicht mehr die Ahnen, die Götter, die Tradition oder die Natur lenken das Verhalten des Menschen, sondern der Mensch selbst kann sich zwischen alternativen Möglichkeiten nach seinen eigenen Kriterien oder Präferenzen entscheiden. Nicht als einziger, aber in einzigartiger Weise, hat Niccolò Machiavelli in seinem Fürsten die Ambivalenz der Entscheidungsfreiheit als Chance und als Begrenzung politischer Handlungsmacht heraus gestellt und damit am Beginn des 16. Jahrhunderts im Florenz der Medici die Grundlagen eines autonomen, selbstherrlichen Politiksystems gelegt.16 Im Zuge der Säkularisierung und der Aufklärung werden die Ideen der Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsfähigkeit zu festen Bestandteilen der westlichen Kultur, ihrer Ethik, ihres Rationalismus und 16 | Vgl. Niccolò Machiavelli, Der Fürst, übers. v. Philipp Rippel, Stuttgart 2014. John Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975, S. 184. Betont einen Bezug Machiavellis zu den Ideen der Republik und der Freiheit: »Wenn sich die Menschen einmal an die Freiheit gewöhnt haben, so sagte man uns, dann lasse sie die Erinnerung an sie nie wieder los. Mit einer neuerlichen Fürstenherrschaft könne man sie nicht länger befrieden. Wir halten es nicht für ausgeschlossen, dies so zu interpretieren, dass die Erfahrung von Staatsbürgerschaft – dessen, was Guicciardini participazione nannte – die Menschen in ihrer Natur in einer Weise änderte, wie es das reine Brauchtum nicht gekonnt hätte.«

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Individualismus. Auch die modernen Entscheidungstheorien, die im 19. Jahrhundert zur Erklärung des rationalen (ökonomischen) Handelns entstehen, gehen durchgängig von der Prämisse menschlicher Entscheidungskompetenz aus und verdrängen deren Begrenzungen in die dunklen Tiefen der Leidenschaften und der Irrationalitäten. Die modernen Entscheidungstheorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts radikalisieren diese Position noch einmal. Sie gehen von klar erkennbaren Zwecken des menschlichen Handelns aus und postulieren sogar die Konsistenz und Transitivität von Zielen und Präferenzen. Damit gelingt es vor allem der Ökonomik, ein in sich stimmiges Modell des rationalen homo oeconomicus zu entwerfen, der sich mit voller Entscheidungsfreiheit seine Ziele setzt und dabei sowohl zwischen verschiedenen Zwecken als auch zwischen alternativen Mitteln der Zweckerreichung auswählt, indem er kühl die jeweiligen Nutzen und Kosten kalkuliert. Vielfach wird dieses Modell auch auf politisches Entscheiden übertragen, ohne sich an der Künstlichkeit der dazu nötigen Vorannahmen zu stören. Folgerichtig kommt es in den 1960er und 1970er Jahren zu einer grundlegenden Revision der Entscheidungstheorie, die mit den Namen Herbert Simon, James March, Johan Olsen und anderen verknüpft ist. Simon prägt den Begriff der »begrenzten Rationalität« (»bounded rationality«) und weist damit darauf hin, dass der klassische idealtypische Begriff des rationalen Entscheidens von Voraussetzungen ausgeht, die in der Realität nicht gegeben sind – etwa die Bedingung vollständiger Information und unbegrenzter Zeit.17 Zugleich wird die Entscheidungstheorie ihre Vergangenheit nicht los. Vor allem außerhalb der Disziplin der Ökonomie, in Philosophie, Psychologie, Soziologie und Biologie, kommt die andere Seite des Entscheidungsdilemmas zum Tragen. Zwar sind es nicht mehr die Götter, die das Entscheiden vorherbestimmen, aber es gibt viele andere Gründe dafür, die Idee der Entscheidungsfreiheit als Illusion zu verstehen. Kant machte diese »Antinomie der Vernunft« und der Freiheit zu einem der Angelpunkte seiner Philosophie. Der triviale philosophische Determinismus wurde von einigen Zweigen der Psychologie als Behaviorismus quasi naturwissenschaftlich unterfüttert und hoffähig gemacht. Auch nach der weitgehenden Diskreditierung des Behaviorismus wird sein Anliegen in der jüngsten Gegenwart von Kognitionspsychologen und Neurobiologen weiter getragen und 17 | Herbert Simon, Models of Man. Social and Rational, New York 1957.

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mit neuen naturwissenschaftlichen Begründungen versehen. An die Stelle zwingender Verhaltensmuster und Reaktionsreflexe treten nun neuronale Schaltzwänge und zwingende Dendritenkonstellationen, welche nach Ansicht dieser Konzeptionen die Entscheidungsfreiheit als Illusion und Selbstbetrug entlarven.18 Inzwischen ist erkennbar, dass vor allem Neurobiologen und Gehirnforscher ihre dürftigen empirischen Befunde maßlos überinterpretiert und ebenso maßlos die Grenzen ihrer Aussagekompetenz überschritten haben. Ohne hier in Einzelheiten gehen zu können, lässt sich doch sagen, dass in den betreffenden Konzeptionen der Sprung von Dendritenmustern oder neuro-physiologischen Prozessen zur Generierung von Bedeutung im Medium einer symbolisch konstituierten Sprache ignoriert und damit die eigentliche Leistung des mentalen Systems als Katalysator von sprachlich vermittelter Kommunikation verkannt wird.19 Dennoch ist das Wieder-Aufflackern des Determinismus in Form neuronaler Schaltzwänge lehrreich. Denn es beleuchtet erneut das Dilemma jeder Entscheidungstheorie: Wir können nicht wissen, ob unser Entscheiden wirklich frei oder wirklich determiniert ist. Wir können nur Konzeptionen entwerfen, die als Modelle des Entscheidens mehr oder weniger brauchbar sind. Weder Determinismus noch rein rationales Entscheiden scheinen der komplexen und vielschichtigen Praxis des Entscheidens angemessen zu sein. Offenbar erfordert die Komplexität des Entscheidens eine adäquat komplex gebaute Entscheidungstheorie. Die Systemtheorie hat eine solche im Angebot. Betrachtet man die von Niklas Luhmann vorgenommenen systemtheoretischen Revisionen der Entscheidungstheorie oberflächlich, dann könnte der Eindruck entstehen, es handele sich im Wesentlichen um eine Radikalisierung der bisher vorgetragenen Kritik am klassischen Rationalmodell etwa in Richtung auf »begrenzte Rationalität« (Herbert Simon). Dieser Eindruck wäre jedoch irreführend. Zwar verstärkt Luhmann tatsächlich die mit jedem Entscheiden verbundenen Aspekte der Ungewissheit und des Risikos dadurch, dass er angesichts der Intransparenz komplexer Systeme jede Möglichkeit der forcierten Reduktion von Komplexität als Trivialisierung ausschließt, etwa wenn er »fortbestehende und immer 18 | Vgl. Wolf Singer, »Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (28.09.2000), S. 10. 19 | Grundlegend dazu Deacon, The Symbolic Species; ders., Incomplete Nature.

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wieder neu generierte Unsicherheit« als »die wichtigste Ressource der Autopoiesis des Systems« bezeichnet.20 Er definiert Entscheidungskompetenz damit als die Kompetenz, mit hoher Komplexität adäquat umzugehen. Aber zugleich rekonstruiert er die begrifflichen und konzeptionellen Grundlagen und verändert damit die Entscheidungstheorie in ihren Tiefenstrukturen viel massiver, als es zunächst den Anschein hat. Vor allem löst Luhmann die Bindung des Begriffs und der Operation der Entscheidung von der Person. Diese Bindung war eine grundlegende Voraussetzung aller bisherigen Vorstellungen und Theorien des Entscheidens. Anstoß und Notwendigkeit für diese fundamentale Umstellung kamen daher auch nicht aus der Entscheidungstheorie selbst, sondern aus den allgemeinen systemtheoretischen Veränderungen des grundbegrifflichen Apparates. Insbesondere der bislang für die Soziologie grundlegende Begriff der Handlung erfährt im Rahmen der Systemtheorie eine radikale Entwertung und rückt in die Position einer abgeleiteten Größe. An seine Stelle tritt als Leitbegriff die Kommunikation. Zudem wird die Konstituierung von Kommunikation der Rangordnung des Begriffs entsprechend vertieft und damit überhaupt erst die Eigenständigkeit sozialer Systeme gegenüber der bloßen Aggregation von Personen begründet (ausführlicher dazu unten Abschnitt 6.3). Nach Luhmann benötigen Entscheidungen keinen Handelnden. Gleichwohl können sie Handelnden zugerechnet werden: »Derjenige handelt, der als Handelnder behandelt wird«.21 Entscheidungen sind aus systemtheoretischer Perspektive primär Beobachtungen, und als solche markieren sie eine Differenz. Entscheiden setzt also Unterscheiden voraus. Die besondere Beobachtungsform der Entscheidung liegt darin, dass Alternativen beobachtet werden, weil jede Beobachtung eine Entscheidung für eine bestimmte Differenz setzt – und nicht für mögliche andere Differenzen. Sie schließt als Operation mithin andere, ebenfalls mögliche Differenzen aus, die nicht beobachtet werden. Daraus folgt, dass jede Beobachtung zwingend etwas Nicht-Beobachtetes setzt: »Wir kommen also nicht um die Einsicht herum, dass etwas unbeobachtbar wird, wenn etwas beobachtet wird«.22 Das bedeutet auch, dass etwa für Personen die meisten Entscheidungen völlig unbemerkt als Routinen des Beobachtens ablaufen 20 | Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S. 186. 21 | Ebd., S. 124. 22 | Ebd., S. 127. Luhmann verweist an dieser Stelle explizit auf Heinz v. Foerster.

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und sie in der Regel auch nicht erkennen, was sie als unbeobachtet ausschließen. Je komplexer die Entscheidungskonstellationen, desto mehr wird durch Nichtwissen ausgeschlossen. Die hier angedeutete Revision der Entscheidungstheorie läuft gegenüber der klassischen Entscheidungstheorie gleich auf mehrere Paradoxien des Entscheidens hinaus. Zum einen wird deutlich, dass in einer hochgradig institutionalisierten Organisationsgesellschaft die ausschlaggebende Ebene für Entscheidungen nicht die Person ist, sondern Kollektive, im Fall der Demokratie sogar eine ganze Gesellschaft. Das bedeutet nicht, dass Personen für Entscheidungen irrelevant wären  – sie sind es in vielen Fällen sogar ausschließlich, etwa dort, wo es um rein persönliche Entscheidungen geht. Es ist eher so, dass die Entscheidungen von Personen in gesellschaftlich gewichtigen und relevanten Fällen irrelevant sind im Verhältnis zu Entscheidungen von Organisationen, Institutionen und weiteren Kollektiven. Zwar sind auch dort Personen beteiligt, aber sie entscheiden dort – was häufig übersehen wird – nach der Logik der Organisationen und nicht nach der Logik von personalen Interessen. Unter diesen Bedingungen können Personen nur entscheiden, wenn sie entscheiden müssen. Davor gibt es keine Entscheidungssituation. Und erst danach folgt alles andere  – von Begründungen bis zum »post-decisional regret«, wie ihn etwa die Dissonanztheorie lehrt. Müssen Entscheidungen begründet werden, dann zieht das in der Regel Mystifikationen nach sich,23 weil es keine per se rationalen Entscheidungen gibt. Richtet sich die entsprechende Mystifikation auf Personen, dann spricht man von Charisma, von charismatischen Führerpersönlichkeiten oder Entscheidern, aber es liegt auf der Hand, dass auch die Rede von Charisma nur eine andere Umschreibung für die Art von notwendiger Mystifikation ist, derer Entscheidungen zu ihrer Legitimation bedürfen. Gegenwärtig machen sich derartige Mystifikationen auch in entwickelten Demokratien immer noch an einem kaum verhohlenen Personenkult fest, oder sie machen als gefährlicher Populismus Karriere oder sie richten sich gar auf Personen wie Donald Trump. Bei der Wahl politischer Parteien, Programme oder Personen müssen Personen entscheiden, und sie können entscheiden, wenn sie Wahlfreiheit haben. Auch hier setzt eine rationale Wahl24 unter den Kautelen einer 23 | Vgl. ebd., S. 135. 24 | Informativ dazu Helmut Wiesenthal, »Rational Choice – Ein Überblick über Grundlinien, Theoriefelder und neuere Themenakquisition eines sozialwissenschaft-

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begrenzten Rationalität die Fähigkeit von Personen voraus, die zur Wahl stehenden Optionen zumindest in großen Umrissen und in ihren Konsequenzen zu verstehen. Auch hier macht sich die Wissensgesellschaft mit ihren kognitiven Komplexitäten als Hindernis der Wahlfreiheit bemerkbar. Wenn ich die Alternativen und Optionen von Klimawandel, Migrationsdynamik, Atomausstieg oder derivativen Finanzinstrumenten nicht verstehe, läuft meine Freiheit, unter politischen Strategien zu wählen, ins Leere. Sicherlich müssen Wähler und Wählerinnen nicht die Details dieser verschachtelten Problemfelder kennen, aber wenn sie sich auf Meinungsführer, »influencer«, veröffentlichte Meinungen, in ihr Weltbild passende Expertise oder schlicht auf politische Programme verlassen, dann ersetzen Derivate oder Fiktionen der Willensfreiheit eine eigene substantielle Willensfreiheit. Hinzu kommt, dass Halbwissen oder schlicht Irrtümer zur bekannten »schlechten Politik« führt: Wenn Kohlearbeiter (soweit es sie noch gibt) gegen Maßnahmen zum Klimaschutz stimmen, weil sie den Verlust ihres Arbeitsplatzes befürchten, so ist dies verständlich, aber kurzschlüssig. Sie müssten gegen Parteien und gegen eine Politik stimmen, die nicht rechtzeitig das Ende des Kohlenbergbaus in die Wege geleitet hat (so wie dies etwa in Japan politisch erfolgreich geschehen ist). Es erweist sich, dass das für »gute Politik« in der Demokratie erforderliche Wissen höchst anspruchsvoll ist, weil es sich gegen die Kurzfristigkeit der Wahlperioden und gegen die politische Logik kurzfristiger Machtkalküle und kurzfristiger individueller Partialinteressen durchsetzen müsste, um tatsächlich ein adäquat mittel- oder langfristiges Modell des Managements/der Einhegung komplexer Problemkomplexe zu erreichen. Wissensabhängigkeit der Lösungsmöglichkeiten der Großprobleme verschärft das grundlegende Dilemma der Demokratie (zwischen Partizipation und Effektivität) zur Frage, an welchem Punkt klassische Formen der Partizipation absehbar zu globalen Katastrophen führen.25 lichen Paradigmas«, in: Zeitschrift für Soziologie 16 (1987), S. 434–449. Zum Aspekt der Nicht-Entscheidung und Irrelevanz siehe René Krieg, »Die Relevanz der Irrelevanz. Zur Erklärung von Nicht-Entscheidungen, Nicht-Alternativen und unwirksamen Einstellungen«, in: Zeitschrift für Soziologie 45 (2016), S. 5–21. 25 | Ausführliche Analysen dazu leistet die schwedische Global Challenge Foundation in ihren jährlichen Berichten: Owen Cotton-Barratt u. a., Global Catastrophic Risks. Global Challenges Foundation in association with Oxford University, 2016. https://globalchallenges.org/en, letzter Zugriff 08.11.2016.

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Wenn dies plausibel behauptet werden kann, dann kommt dem Kontext und der Konstruktion demokratischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse eine grundlegende Bedeutung für die Möglichkeit von Freiheit zu. Sind Kontexte und Inhalte der Politik überschaubar und für verständige Bürger verstehbar, dann sind Meinungs- und Wahlfreiheit eher unproblematisch. Prägt dagegen die »neue Unübersichtlichkeit« die Realität der Politik in einer globalisierten Moderne, dann werden Nichtwissen, Intransparenz, kognitive Überforderung und Apathie zu Herausforderungen für Theorie und Praxis der Freiheit. Wahlfreiheit und Entscheidungsfreiheit werden in der individualistischen Tradition der Freiheitstheorie allzu häufig an untauglichen oder gar lächerlichen Beispielen durchgespielt. Sicherlich gibt es auch eine Wahlfreiheit zwischen zehn Waschmitteln oder zwischen zwanzig Joghurtsorten. Dem gegenüber ist darauf zu bestehen, dass nur eine vorgängige politische Entscheidung diese (ökonomische) Wahlfreiheit überhaupt schafft. Auch wenn ich zwischen Schultypen, Berufen oder Religionszugehörigkeiten wählen kann, setzt dies immer politische Entscheidungen voraus, welche diese Freiheitsräume schaffen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Fall China. Es besteht kein Zweifel daran, dass seine politische Führung mit bestimmten Formen der politischen Kritik oder Abweichung unmenschlich und menschenverachtend umgeht. China ist und bleibt eine politische Diktatur. Erstaunlich aber ist, dass das Land ein autoritäres politisches System mit einem ökonomischen System des Kapitalismus verbindet und durchaus auch in anderen Bereichen, etwa Kunst, Erziehung oder Forschung bestimmte begrenzte Freiräume zulässt. China schickt seine junge Elite auf die besten ausländischen, vor allem amerikanischen Universitäten und muss nicht, wie viele andere Entwicklungsländer fürchten, dass die gut ausgebildeten Studierenden nicht zurückkehren. Immer sind es auch im Fall China politische Entscheidungen, die für andere Bereiche – ob Wirtschaft, Kultur oder Erziehung – Freiheiten gewähren oder eben nicht gewähren. So sind politische Diktatur und ökonomische Freiheit kompatibel, wenn der Primat der Politik gilt und die Politik souverän über die zugestandenen Freiheitsräume entscheidet. Es handelt sich um abgeleitete Freiheiten, die im politischen Interesse gewährt und jederzeit widerrufen werden können. Genau deshalb fallen sie nicht unter die hier vertretene Freiheitstheorie, die ihren Ausgangspunkt und ihre Grundlage in einer originär politisch-demokratisch konstituierten Freiheit hat.

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Wahlfreiheit im Sinne einer Theorie der Freiheit gründet demnach immer zuerst auf der Freiheit politischer Wahl. Ohne diese politische Grundlage sind nachgeordnete Wahlfreiheiten beliebig und revozierbar. Dass auch Chinesen zwischen verschiedenen Typen beim Autokauf oder beim Kauf von Smartphones wählen können, belegt zwar Wahlfreiheit für Konsumenten und im ökonomischen Sinne, ist aber hinsichtlich der suprastrukturellen Voraussetzungen für Wahlfreiheit nicht ausreichend. Eine Auffächerung der Freiheit in einem Konzept komplexer Freiheit ermöglicht es, den Primat politischer Freiheit gemäß dem demokratischen Grundsatz eines Primats der Politik zu begründen und die Freiheitstheorie eng an zentrale Vorgaben der Demokratietheorie anzubinden. Ökonomisch und handlungstheoretisch angeleitete Konzeptionen von rationaler Wahl (»rational choice«) oder öffentlicher Wahl (»public choice«) leiden oft an einer Mikrofundierung der Wahlfreiheit in ökonomistischen Trivialregeln und belegen dann rational die Irrationalität politischer Wahlhandlungen, die von ihren Wirkungen her den Aufwand nicht lohnen.26 Die »überraschungsfreie Trivialität ihrer Erkenntnisse«27 kontrastiert merkwürdig mit der faktisch hohen Bedeutung demokratischer Wahlen, welche sogar autoritäre Regime dazu bringt, zumindest Scheinwahlen abhalten zu lassen. Dass in etablierten Demokratien die Wahlbeteiligung langfristig abnimmt, hat weniger mit rationalen Kalkülen zu tun als mit einem ganzen Strauß von Faktoren, die von individueller kognitiver Überforderung bis zu gesellschaftlichen und globalen Dynamiken reichen, die das Vertrauen von Wählern in die Leistungsfähigkeit der Politik erschüttert haben. In dieser Sicht sind es nicht individuelle Kosten-Nutzen-Kalküle, die darüber entscheiden, ob die politische Wahlfreiheit genutzt wird, sondern übergreifende Einschätzungen einer gegebenen gesellschaftlich-politischen Situation. Wenn Wahlentscheidungen primär aus Beobachtungen resultieren, und Beobachtungen auf Beobach26 | Russel, Ignorance. Zur Kritik siehe Mark Granovetter, »Economic Action and Social Structure: the Problem of Embeddedness«, in: Mary Zey (Hg.), Decision Making. Alternatives to Rational Choice Models, Newbury Park u. a. 1992, S. 304–333. 27 | Wiesenthal, Rational Choice, S. 434. Dabei soll nicht verkannt werden, dass das Modell zum Wahlparadox von vielen Autoren erweitert worden ist, um etwa Einsichten des intrinsischen Wahlnutzens oder expressiven Wahlnutzens mitaufzunehmen.

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tungsmöglichkeiten gründen, die heute vor allem medial vermittelt sind, dann erscheint es wenig überraschend, dass es massenmedial vermittelte Einschätzungen gesellschaftlicher Merkmale und Konstellationen sind, die zu bestimmten Wahlentscheidungen führen. Wenn in den Medien das Migrationsdrama monatelang beherrschendes Thema ist, und sich mit Ängsten über sozialen Abstieg, Multikulturalität und Überfremdung verknüpft, dann führt dies zu populistischen Wahlentscheidungen, auch wenn die Einzelhandlung der Wahl ökonomisch irrational ist. Wenn in den USA eine generelle Unzufriedenheit der unteren Mittelschicht über Aufstiegschancen, Chancengleichheit und Fairness des Systems dazu führt, dass einerseits ein Bernie Sanders in vielen Wahlen eine Hillary Clinton schlagen kann, andererseits ein Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner und dann zum Präsidenten werden kann, dann ist belegt, dass übergreifende gesellschaftliche Faktoren, die zudem nicht individuell konstruiert sind, sondern die Realität der Massenmedien spiegeln, Wahlhandlungen steuern und politische Wahlen entscheiden. Wahlfreiheit als elementarer Bestandteil jedes substantiellen Begriffs von Freiheit lässt sich in dieser Sicht beschreiben als ein Konstrukt mit einem geschichteten Auf bau. Kern und innerste Schicht ist die Freiheit politischer Wahl. Um diesen Kern bilden sich mehrere Schichten derivativer Momente von Wahlfreiheit aus, je nachdem, in welchen gesellschaftlichen Feldern sich Optionen und Kontingenzen eröffnen. So gibt es Wahlfreit der Schulsysteme oder der Ausbildungsgänge, wenn im Erziehungssystem oder in der Wirtschaft dazu Optionen zur Verfügung stehen. Oder es gibt Wahlfreiheit der Eheformen oder der Religionszugehörigkeit, wenn das politische System in diesen Feldern Optionen ermöglicht. Die Schichtung der Wahlfreiheit bedeutet, dass es keineswegs gleichgültig ist, ob ich von der (demokratischen) Wahl zwischen konkurrierenden Parteien spreche oder von einer Wahl zwischen konkurrierenden Automodellen oder Waschmitteln. Insbesondere ist es eine grobe Trivialisierung, von ökonomistischen Modellen einer Wahl zwischen Konsumgütern auf die Möglichkeit und Realisierung politischer Wahlfreiheit zu schließen. Denn die Realisierung politischer Wahlfreiheit folgt nicht aus individuellen Motivlagen heraus, sondern aus politischen Revolutionen, und sie ist nicht Ergebnis individueller Nutzenkalküle, sondern Folge einer individuell-mentalen Verarbeitung medialer Repräsentationen gesellschaftlicher Zustände.

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Diese Komplizierungen lassen Raum für individuelle Komponenten jeder Wahlentscheidung. Sie erweitern aber die Konstellationen relevanter Entscheidungsfaktoren in die Politik und ihre gesellschaftlichen Folgen hinein, und machen sie zugleich abhängig von den Topologien des Wissens und Nichtwissens, welche die zur Wahl stehenden Optionen umgeben. Dies ist die gegenwärtig dominante Aporie der Wahlfreiheit. Immerhin hat diese Konzeptualisierung den Vorzug, dass es nicht mehr darauf ankommt, ob der Mensch wirklich autonom oder wirklich determiniert ist  – was ohnehin unentscheidbar ist. Denn jedenfalls solange großflächige gesellschaftliche Faktoren individuelle Unterschiede überdeterminieren, und die Konturen der Wahlfreiheit von je aktuellen gesellschaftlichen Trends, Konflikten und Entwicklungen abhängen, verschwinden die Personen, wie Luhmann argumentiert hat, hinter den beteiligten Sozialsystemen, die Beobachtungsmöglichkeiten vorgeben und einen Großteil der anstehenden Entscheidungen als reines Routinehandeln ablaufen lassen, bei dem die Personen nicht einmal mehr sehen, was sie nicht sehen.28

6.3 A porien der K ommunik ationsfreiheit Für die Freiheit kommt es am Ende auf das Handeln an. Für die Freiheitstheorie kommt es auf all das an, was vor dem Handeln liegt. Vermutlich war die Freiheitstheorie selbst auch so lange auf das Handeln und die Handlungsfreiheit als letztendliche Ausdrucksform von Freiheit fixiert, weil sie in ihrer utilitaristischen Tradition vom Ende her gedacht hat. In einer systemtheoretischen Sicht wird dagegen vom Anfang her gedacht: Es geht um die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit. Wenn jede sichtbare Praxis der Freiheit sich in Form von Handeln zeigen muss, was sind dann die unsichtbaren Momente, die das Handeln produzieren? Handeln entsteht nicht voraussetzungslos, sondern kristallisiert als konkrete, gut beobachtbare Form aus dem allgemeinen Medium der Kommunikation. Kommunikation ist immer der Hintergrund, auf dem Handeln erst erklärbar wird. Ein Freiheitskonzept, welches die Komponente der 28 | »Manchmal sind wir blind gegenüber dem Offensichtlichen, in jedem Falle aber sind wir blind hinsichtlich unserer eigenen Blindheit.« Kahneman, Thinking, Fast and Slow, S. 24.

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Handlungsfreiheit als konstitutiv für einen angemessenen Freiheitsbegriff ansieht, wird demnach ausgeweitet und gestärkt, wenn die hinter dem Handeln wirkenden Kommunikationen als Kommunikationsfreiheit verstanden und geschützt werden. Tatsächlich sollte dann die Kommunikationsfreiheit, wie sie in Artikel 5 Grundgesetz (Meinungs- und Informationsfreiheit), der EU-Grundrechtecharta (Art. 11) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8) normiert ist, in einer Theorie komplexer Freiheit als Grundlage und Ausgangspunkt jeder Freiheit angesehen werden. Die Fixierung der klassischen Freiheitstheorie auf das Handeln ist verständlich. Seit der Antike gilt für Philosophie, Kunst und Herrschaft das Handeln der Menschen als Ausweis für Zurechnung. Nur Theologen waren schlau und impertinent genug, weiter zu suchen, weil sie wussten, dass die Sünde lange vor der Handlung ihren Anfang nimmt. Philosophie und Psychologie der Neuzeit blieben beim Fokus auf die Handlung, nahmen aber eine Vielfalt innerer Kausalfaktoren – von Motiven bis zu den Antinomien der Vernunft – mit auf, um Handeln zu erklären. Erstaunlich ist, dass auch die Soziologie  – als Wissenschaft von der Gesellschaft  – ihre Karriere als Handlungstheorie begann und bis heute von vielen ihrer Vertreter als Handlungstheorie betrieben wird. Beispielhaft dafür steht Max Weber, der dezidiert eine individualistische Soziologie vertrat und, anders als Durkheim, der Gesellschaft als System keine eigenständige Bedeutung zumaß: Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will […] ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist […] (der einzelne Mensch ist der) allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln. 29

Dass eine Gesellschaft aus Menschen und den Beziehungen zwischen ihnen bestehe, muss so lange als selbstverständliche Alltagstheorie angesehen werden, wie eine soziologiespezifische Alternative dazu fehlt. Die gängigsten Theorien wie Phänomenologie, Behaviorismus, Handlungstheorie, Rational Choice und ähnliches kommen schmerzlos ohne eine 29 | Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1 und 6.

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solche Alternative aus. Luhmann argumentiert, dass auch noch George Herbert Meads Objekttheorie und Talcott Parsons Theorie der Handlungssysteme auf eine individualistische Begründung der Soziologie nicht verzichten und deshalb zu einem Gesellschaftsbegriff sui generis nicht finden können.30 Alle diese Theorien brauchen keine Soziologie. Sie kommen mit Psychologie und Sozialpsychologie aus, und einige dieser Theorien streben diese Reduktion gezielt an. Genau deshalb ist bis heute offen, was Soziologie als Soziologie ausmacht und wodurch Gesellschaftstheorie über eine Teilchentheorie des Sozialen hinausgelangen könnte. Für eine in der Demokratie verankerte Freiheitstheorie ist die Frage nach der Realität von Gesellschaft grundlegend. Wenn gilt, dass die Gesellschaft nur aus Menschen besteht, dann reicht für eine Analyse der Freiheitsräume der Blick auf das Handeln von Personen aus. Konzipiert man Gesellschaft dagegen als eigenständige Realität, dann wird relevant, wodurch diese Eigenständigkeit hergestellt wird und welche Konsequenzen dies für das Handeln hat. Immerhin hat Emile Durkheim vor gut hundert Jahren schon die wegweisende Einsicht formuliert: »Die Gesellschaft ist nicht die einfache Summe von Individuen. Vielmehr stellt das System, das sich aus ihrem Zusammenschluss formt, eine spezifische Realität dar, die ihre eigenen Charakteristika hat.«31 Als praktizierender Pädagoge hat er wohl hautnah genug erlebt, dass die anonymen Regelsysteme der Schule soziale Realität machtvoller formen als die Personen und ihre Interaktionen zusammengenommen. Aber was ist dieses »système formé par leur association«? Durkheim nennt es »Kollektivbewusstsein« und bleibt damit bis heute aufschlussreich unverstanden. Denn wenn wir schon das Bewusstsein der einzelnen Menschen nicht verstehen, wie sollen wir dann ein gesellschaftliches Kollektivbewusstsein verstehen? Luhmann setzt nicht auf die zu personen-isomorph gedachte Kategorie des Kollektivbewusstseins, sondern auf Kommunikation als einer von vornherein zwingend relational und sozial konstruierten Kategorie. Eine einzelne Person kann nicht kommunizieren. Zwei Personen können nicht nicht kommunizieren. Als vermittelnde Instanz fungiert Sprache. Als symbolisch generalisiertes Regelsystem hat sie ihre Besonderheit da30 | Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 29 und 86. 31 | Emile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, Paris 1927, S. 127. »La société n’est pas une simple somme d’individus, mais le système formé par leur association représente une réalité spécifique qui a ses caractères propres.«

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rin, dass sie unabhängig von einzelnen Personen existiert. Kein Mensch hat eine Sprache gesetzt und kein Mensch ist in der Lage, eine Sprache zu verändern. Nicht einmal Menschen als praktizierende Sprachgemeinschaften, als soziale Systeme, können dies bewerkstelligen. Vielmehr sind Veränderungen und Einflussnahmen nur innerhalb der medien-immanenten Regeln und unter Beachtung der Eigengesetzlichkeiten der Regelsysteme der Sprache möglich. Diese über eine linguistische Wende hinausgehende kommunikative Wende der Soziologie ist die eigentliche theoretische Leistung Luhmanns. Er begründet den Anspruch einer Soziologie, die sich kategorial nicht mehr auf Psychologie und Sozialpsychologie reduzieren lässt, sondern über die Formen der Kommunikation die Eigenständigkeit sozialer Systeme begründet. Der Mensch tritt als Person nicht nur anderen Personen gegenüber und muss sich zu ihnen in ein brauchbares Verhältnis setzen, was offenbar schwierig genug ist. Er und sie sehen sich darüber hinaus einer gesteigert unfassbaren und mit Bordmitteln unbegreiflichen Realität gegenüber, die ihren eigenen Regeln und ihrer eigenen Logik gehorcht und die impertinent genug ist, diese Regeln nachhaltig als Kontextbedingungen jeder kommunikativ unterlegten Interaktion zur Geltung zu bringen. Eine in diese Form gebrachte Gesellschaftstheorie muss zu einer tiefgehenden Kränkung des Menschen der Moderne führen, weil er nicht mehr alleine sein Handeln bestimmt. Und wenn dies plausibel ist, dann hat es weitreichende Konsequenzen für eine entsprechende Theorie der Freiheit. Renaissance und Aufklärung feiern die Befreiung des Menschen aus den religiös-moralischen Fesseln alteuropäischer Zwangsgemeinschaft und zelebrieren das Individuum als Apotheose menschlicher Selbstbestimmung. Dem setzt eine soziologische Gesellschaftstheorie eine zweite Aufklärung entgegen: Wenn und soweit der Mensch kommuniziert, partizipiert er an einer beigeordneten sozialen Realität, deren Regeln er nicht bestimmt, deren Wirkungen sich der Logik individuellen Handelns entziehen und die stattdessen häufig zu einer »Logik des Mißlingens« (Dörner) führen. Kaum ist Gott als der große und letztlich einzig relevante Kommunikator aus dem Spiel gedrängt, kaum richtet sich der so aufgeklärte Mensch auf seine Rolle als Individuum ein, erklärt ihm eine die Aufklärung radikalisierende Soziologie, dass nun neue Regeln gelten: die Regeln des Individuums, immerhin, und die Regeln der Gesellschaft. Nicht der Mensch entfremdet sich der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft entfremdet sich ihm, weil der Mensch als körperlich-mentales

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System den Schwingungen eines rein symbolischen Systems verdichteter und institutionalisierter Kommunikation nicht folgen kann, und weil umgekehrt die Gesellschaft als medial konstituiertes, schwereloses Symbolsystem Freiheitsgrade kennt, die dem Menschen unerreichbar bleiben. Präzise in diesem Sinne ist die Gesellschaft für den Menschen unerreichbar. Kein Mensch kann mit der Gesellschaft kommunizieren, die Gesellschaft kann auch nicht mit sich selbst kommunizieren, also sich selbst mit ihren eigenen Operationen erreichen. »Die Gesellschaft hat keine Adresse. Sie ist auch keine Organisation, mit der man kommunizieren könnte«.32 Wenn und soweit sie kommunikativ konstituiert ist, bildet sie eine Realität sui generis, nur lose gekoppelt mit den biologischen, emotiven und kognitiven Lebenswelten der Menschen. In dieser Sicht macht es einen erheblichen Unterschied für die Freiheitstheorie, ob sie von der Freiheit des Menschen handelt oder von der Freiheit des Menschen-in-Gesellschaft. Sicherlich sahen auch die klassischen liberalen und utilitaristischen Freiheitsdenker den Menschen als soziales Wesen, aber Gesellschaft bestand für sie aus nichts anderem als einer Ansammlung von Menschen. Versteht man dagegen Gesellschaft als eine eigene und eigenlogische Systemebene, dann wird die Freiheitstheorie komplizierter. Denn nun bedarf es auch auf der Ebene von Gesellschaft eigener Vorkehrungen, um die erforderlichen Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit zu schaffen. Wenn soziales Handeln entgegen der Definition Max Webers in seinem Ablauf nicht nur auf das Verhalten anderer bezogen ist, sondern weit darüber hinaus von systemischen Eigenschaften der Gesellschaft gesteuert wird, dann sind diese Eigenschaften mitentscheidend dafür, in welchem Maße Freiheit möglich oder unwahrscheinlich ist. Um diesen Eigenschaften auf die Spur zu kommen, schlägt die soziologische Systemtheorie vor, den analytischen Fokus nicht auf das Handeln zu legen, sondern auf Kommunikation. Auf den ersten Blick könnte dies zunächst widersinnig erscheinen, weil Handlungen beobachtbar sind und an Personen festgemacht werden können,33 während Kommunika32 | Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 866. 33 | Eine schöne Formulierung dazu findet sich bei Dirk Baecker, Wozu Theorie?, Berlin 2016, S. 30: »Auch in der soziologischen Theorie Luhmanns ist Handeln theoretisch und empirisch nur möglich, weil es zugleich unmöglich ist. Es ist unmöglich, weil kein Handeln über die Zurechnungskompetenz verfügt, die es braucht, um die Kommunikation dazu zu bringen, genau diesen und nicht einen um

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tionen höchst ephemere Ereignisse sind, die vergehen und verschwinden, kaum dass sie stattgefunden haben: Ein Satz wird gesprochen – und ist dann schon vorbei. Wohl genau deshalb haben Menschen zunächst mit der Schrift und dann mit dem Buchdruck Möglichkeiten erfunden, Kommunikationen festzuhalten, zu dokumentieren, aber auch, um sie über Sätze und Geschichten hinaus in komplexe Formen zu bringen und sie zu verzweigten Gebilden aufzutürmen, die nicht mehr ohne weiteres überschaubar sind. Dokumentierte Kommunikationen erlauben Festlegungen – beispielhaft etwa die »Zehn Gebote« oder die UN-Charta der Menschenrechte  –, die Handlungen anleiten. Handeln und Handlung werden deshalb nicht unwichtig, aber sie sind abgeleitete Kategorien, die ihren Ursprung in Kommunikation haben. In einer systemtheoretischen Sicht ist das Handeln eine derivative Konstruktion, die mit Rücksicht auf das überzogene Selbstbild des individualisierten Menschen auf diesen zugeschnitten ist. Diese Konstruktion muss ihre Verankerung in dem genuin sozialen Prozess der Kommunikation abdunkeln, um dem Selbstbild eines souveränen eigenverantwortlichen Individuums zu genügen: Ich handle, also bin ich souverän – so der standardisierte Mythos des Individualismus. Entgegen diesem Mythos postuliert die Systemtheorie ein komplizierteres Verhältnis zwischen psychischem und sozialem System, zwischen Handeln und Kommunikation. In allen Handlungsbezügen des Alltags moderner Gesellschaften, ob Familie, Kindergarten, Schule, Ausbildung, Beruf, Unterhaltung, Freizeit oder was immer, ist Handeln ohne Bezug auf die dahinter stehenden Kommunikationskontexte nicht zu verstehen.34 In Übereinstimmung mit den Positionen des symbolischen Interaktionismus formuliert Luhmann: »Was eine Einzelhandlung ist, lässt sich deshalb nur auf Grund einer sozialen Beschreibung ermitteln.«35 Handlungen sind InterpunkNuancen verschieden gemeinten Sinn zu unterstellen, so dass noch die stärkste Intention abwarten muss, wie sie von Beobachtern aufgegriffen, in Worte gefasst und weiterverarbeitet wird.« 34 | Dies ist nicht erst eine Einsicht der Systemtheorie. Auch Habermas formuliert: »Sinnverstehen ist […] eine solipsistisch undurchführbare, weil kommunikative Erfahrung. Das Verstehen einer symbolischen Äußerung erfordert grundsätzlich die Teilnahme an einem Prozeß der Verständigung.« Habermas, Kommunikatives Handeln, hier Band 1, S. 164–165. 35 | Luhmann, Soziale Systeme, S. 228.

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tionen eines laufenden Kommunikationsprozesses, die dazu dienen, die unendlichen Geschichten eines ausufernden und letztlich grenzenlosen Kommunikationskontextes zu beobachtbaren, überschaubaren und als abgegrenzte Einheiten verstehbare Komponenten zu unterteilen. Der Kommunikationsprozess muss, »um sich selbst steuern zu können, auf Handlungen reduziert, in Handlungen dekomponiert werden.«36 Handlungen sind demnach Zurechnungen, die ein Beobachter vollzieht, wobei dieser Beobachter auch der Handelnde selbst sein kann. Der Beobachter markiert bestimmte Bifurkationspunkte des sich selbst weiter spinnenden Kommunikationsnetzes, um Orientierungspunkte in einer prinzipiell endlosen Topologie prinzipiell unendlich vieler Topoi der laufenden Kommunikation zu schaffen. Er digitalisiert mit seinen Einzelbeobachtungen, die auf einzelne wahrnehmbare Unterschiede ausgerichtet sind, den breiten Strom analoger Kommunikationen und schafft damit handhabbare Komponenten, die sich weiter verarbeiten lassen. »Am besten lässt sich die laufende Herstellung von Einzelhandlungen in sozialen Systemen begreifen als Vollzug einer mitlaufenden Selbstbeobachtung, durch die elementare Einheiten so markiert werden, dass sich Abstützpunkte für Anschlusshandlungen ergeben.«37 Ein laufender Kommunikationsprozess generiert durch eine mitlaufende Zurechnungsprozedur einen parallel laufenden Handlungsstrang, der aus den Komponenten »Einzelhandlungen« besteht, die dann auf ihre Gründe, ihre Rationalität und ihre Freiheitsräume befragt werden können. Allerdings zeigt sich dann, dass Handlungsfreiheit und Kommunikationsfreiheit sich konzeptionell und operativ unterscheiden. Sie beziehen sich auf unterschiedliche Ebenen einer komplexen Freiheit, für welche die Rede von den Bindungen an gesellschaftliche Voraussetzungen eine neue Bedeutung annimmt. Zum einen erweist sich, dass Handlungsfreiheit ohne Kommunikationsfreiheit überhaupt keinen Sinn ergibt, und zum anderen wird deutlich, dass Kommunikationsfreiheit weit grundlegender und voraussetzungsvoller ist als Handlungsfreiheit. Niemand, kein Hei36 | Ebd., S. 193. Luhmann fährt fort: »Soziale Systeme werden demnach nicht aus Handlungen aufgebaut, so als ob diese Handlungen auf Grund der organischpsychischen Konstitution des Menschen produziert werden und für sich bestehen könnten; sie werden in Handlungen zerlegt und gewinnen durch diese Reduktion Anschlußgrundlagen für weitere Kommunikationsverläufe.« 37 | Ebd., S. 229–230.

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liger und kein Selbstmordattentäter, handelt, ohne vorher in ein dichtes Netz von Kommunikationen eingebunden zu sein, welches die Gründe, Plausibilitäten und Wirklichkeitskonstruktionen – etwa als Glaube oder Hass  – herstellt, die überhaupt erst bestimmte Handlungen ermöglichen. Selbstmordattentäter und alle Arten von Märtyrern belegen, dass bestimmte kommunikativ erzeugte Weltbilder den organisch fixierten Selbsterhaltungstrieb übertrumpfen können und in diesem Sinne Kommunikation stärker ist als Natur. In großem Maßstab gilt dies für Kriege aller Art, wenn kommunikativ erzeugten Konstruktionen wie Vaterland, Nation, Ethnie, Stamm etc. Gründe genug dafür sind, dass Menschen massenhaft sehenden Auges in den Tod ziehen. Wenn Kommunikation diese Mächtigkeit aufweist, dann liegt es nahe, dem Schutz und den Gefährdungen der Kommunikationsfreiheit besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies umso mehr, als die Klassiker der Freiheitstheorie verständlicherweise mangels eines entsprechenden Verständnisses und einer Theorie der Kommunikation nicht über Kommunikationsfreiheit sprechen konnten.38 Für gegenwärtige Gesellschaften dagegen ist Kommunikation alles und alles Kommunikation. Die Formen, Strukturen und Prozesse der Kommunikation gestalten gesellschaftliche Realität, und nur das hat Realität, was kommunikativ konstruiert werden kann. Wenig erscheint für Gesellschaften relevanter und folgenreicher zu sein als Veränderungen von oder Eingriffe in Formen der Kommunikation. Nicht zufällig beginnen Gefährdungen der Demokratie durch sich bildende autoritäre Regime, wie die aktuellen Beispiele Türkei, Ungarn oder Polen zeigen, damit, dass Rederechte, Publikationsmöglichkeiten, Protestformen, Zugang zu Massenmedien oder die Vielfalt der Massenmedien selbst eingeschränkt werden, also freie Kommunikation behindert wird. Ein differenzierteres Bild der Voraussetzungen für Kommunikationsfreiheit gewinnt man, wenn der Kommunikationsbegriff selbst differenzierter entfaltet wird. Während die mathematische Kommunikationstheorie hier wenig hilfreich ist, hat die frühe kybernetische Theorie mit dem Konzept der Rückkopplung einen wichtigen Schritt getan, um den Beson38 | So taucht der Begriff Kommunikation etwa bei Mill, On Liberty, kein einziges Mal in Zusammenhang mit Freiheit auf, sondern nur einmal im Zusammenhang mit dem Verschwinden gesellschaftlicher Unterschiede durch neue Kommunikationsmedien (»means of communication«), ebd., S. 68.

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derheiten der Kommunikation auf die Spur zu kommen. Die entscheidenden Impulse für ein verbessertes Verstehen von Kommunikation kamen von den frühen humanistischen Ansätzen der Psychotherapie, und hier vor allem ab den 1940er Jahren von der systemischen Familientherapie, die mit den Namen der Palo-Alto-Gruppe um Gregory Bateson, Don Jackson, Paul Watzlawik, Virginia Satir und anderen verbunden ist.39 Die zentrale Einsicht dieses Theorieansatzes lässt sich so zuspitzen, dass es für die Veränderung von Personen nicht darauf ankommt, die Personen zu verändern, sondern die Kommunikationsmuster, in die Personen eingespannt sind.40 Damit werden Defekte, Verzerrungen oder Paradoxien dieser Kommunikationsmuster, etwa in Formen der Meta-Kommunikation oder des »double bind«, zu wichtigen Ursachen für pathologische Handlungen der involvierten Personen. Weil die Handlungen ohne eine Analyse und ein Verständnis des Kommunikationshintergrundes unbegreiflich bleiben, wird dieser Hintergrund zum Ansatzpunkt der Therapie. Für die Gesellschaftstheorie waren über lange Zeit andere Themen vorrangig, vor allem Ordnung (Hobbes, Comte), Kollektivbewusstsein (Durkheim), Differenzierung (Simmel), Macht (Machiavelli, Weber) und Rationalisierung (Weber). Nur Herbert Mead ist eine Ausnahme, weil er Prozesse der Symbolisierung an Kommunikation knüpft.41 Erst Luhmann machte Kommunikation zum Angelpunkt der Gesellschaftstheorie. Deshalb sollte es nicht überraschen, dass er ein theoretisch fundiertes Konzept von Kommunikation entwickelt, welches darauf zielt, Kommunikation als einen sozialen Prozess zu verstehen, aus dem gleichursprünglich Sozialität und letztlich Gesellschaft entstehen. Damit sind Umfang und Gewicht der Kommunikationsfreiheit erheblich ausgeweitet, denn sie kann nun nicht mehr nur individuell verstanden werden, sondern umfasst notwendig die soziale und gesellschaftliche Seite, die in jeder Kommunikation mitschwingt. Diese Ausweitung steht für die Freiheitstheorie 39 | Don Jackson (Hg.), Therapy, Communication, and Change, Human Communication, Palo Alto 1968. Paul Watzlawick, The Language of Change. Elements of Therapeutic Communication, New York 1978. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind, New York 1972. Edmond Marc, Dominique Picard, Bateson, Watzlawick und die Schule von Palo Alto, Bodenheim 2000. 40 | Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1983, S. 258. 41 | George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1973, S. 81–90.

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insgesamt an, und Kommunikationsfreiheit ist der exemplarische Fall, weil dann, wenn Kommunikation in die Rolle des Grundstoffs jeglicher Sozialität und in die Funktion der Konstituierung aller sozialer Systeme hineinwächst, die Freiheit der Kommunikation geradezu zwingend zum Angelpunkt aller Freiheit wird. Nicht das Individuum markiert die Apotheose der Freiheit, sondern die Kommunikation. Luhmann versteht unter Kommunikation einen dreistufigen Selektionsprozess: »Begreift man Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen, so ist die Kommunikation realisiert, wenn und soweit das Verstehen zustandekommt«.42 Die Gliederung des Kommunikationsbegriffs in die drei Elemente Information, Mitteilung und Verstehen führt für eine Theorie der Kommunikationsfreiheit dazu, neben Informationsfreiheit und Freiheit der Medien (als Träger von Mitteilungen), und als dritte Komponente einen freien, d. h. ungehinderten Prozess des Verstehens zu postulieren. Wichtig ist zunächst, dass Verstehen nichts mit richtigem oder wahren Verstehen zu tun hat, sondern meint, dass eine wechselseitige Wahrnehmung der Kommunikation zwischen Ego und Alter stattfindet. Verstehen meint im Kern, dass Ego versteht, dass eine Kommunikation mit Alter abläuft. Auf die Inhalte des Verstehens kommt es nicht an. Aus dieser Grundkonstellation hat etwa Humberto Maturana geschlossen, dass es keine »instruktive Interaktion« geben könne.43 Hier nimmt Kommunikationsfreiheit eine erstaunliche Wende: Sie schließt die Freiheit zum Missverstehen bzw. zum idiosynkratischen Verstehen ausdrücklich ein. Dissens wird damit zum geschützten Gut. Und die Freiheitstheorie schließt an die systemische Einsicht an, dass Kommunikationen sich nicht, wie Habermas postuliert, über Konsens entwickeln, sondern sich über das Prozessieren von Dissens entfalten. Kommunikation ist genau deshalb eine emergente Qualität der sprachlich vermittelten Interaktion von Personen, weil sie sich von den einzelnen Personen löst und als symbolisch konstruierte Korrelation – als eigenständiger rekursiver Prozess des Verstehens – eine eigene Realität begründet. Kommunikation eröffnet eine ganze Welt der Systembildung.44 Das je42 | Luhmann, Soziale Systeme, S. 203. 43 | Humberto Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig, Wiesbaden 1982, S. 261. 44 | Jede Kommunikation beginnt mit einer Differenz, und jede Differenz eröffnet eine Welt, wie Spencer-Brown in seiner Theorie der Form formuliert hat: »Der Kern

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weils Systemische der unterschiedlichsten sozialen Systeme ist dann darin zu sehen, dass sie auf Kommunikation beruhen. Kommunikation schafft Welten jenseits der Ebene des konkreten Menschen – Welten, die aus Mustern und Ordnungen von Symbolen bestehen und genau darin über den Menschen als Organismus hinaus reichen und in diesem Sinne »transpersonale« oder systemische Qualitäten aufweisen. Dann erhebt sich allerdings die Frage, warum Personen überhaupt kommunizieren. Die systemtheoretische Antwort ist zunächst verblüffend: Sie kommunizieren, weil sie eine Konstellation des Nichtwissens auflösen wollen: »denn Kommunikation findet ihren Anlaß ja typisch im Nichtwissen«.45 Es gibt ansonsten keinen vernünftigen Grund für Kommunikation. Wenn ich etwas mitteile, was der andere schon weiß, dann handelt es sich um Geräusch oder Rauschen, das kein Verstehen auslöst, also auch keine Kommunikation abschließt. Mit diesem Argument ergibt sich ein weiterer direkter Bezug zwischen einer Theorie komplexer Freiheit und systemischem Denken: Wenn es bei Kommunikation ganz grundsätzlich um soziale Prozesse der Auflösung von Nichtwissen geht, dann wird Kommunikation umso wichtiger, je unvermeidlicher und ubiquitärer Nichtwissen zur Grundausstattung von Gesellschaft gehört. Je intransparenter und komplexer Gesellschaften für jeden Menschen werden, auch für Professionelle und Spezialisten, desto kritischer wird Kommunikation als Voraussetzung dafür, überhaupt noch ein Mindestmaß an Kohärenz und Verstehbarkeit von Gesellschaft zu gewährleisten. Dabei bewegen sich Menschen außerhalb fester Traditionen und überschaubarer Kulturen auf dünnem Eis, und die Gesellschaft entfernt sich zunehmend von ihnen. Kommunikationen entgleisen oder kommen erst gar nicht zustande, weil Verstehen nicht möglich ist. (Nochmals: Es geht nicht um »richtiges« Verstehen, sondern darum, dass ein Kommunikationsversuch oder ein Kommunikationsangebot überhaupt als solche wahrgenommen werden.)46 Ist die Wahrnehmung nicht möglich, weil dieses Buches ist, dass ein Universum dann entsteht, wenn ein Raum getrennt oder auseinandergenommen wird.« George Spencer Brown, Laws of form, New York 1979, S. XXIX. 45 | Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 39. 46 | Ebd., S. 321: »Dass Kommunikationen akzeptiert werden, heißt also nur: daß ihre Annahme als Prämisse der weiteren Kommunikation zugrunde gelegt wird, was immer im individuellen Bewußtsein dabei vor sich gehen mag.«

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eine Person mangels Wissen auf die angebotenen Informationen gar nicht reagiert bzw. die Signale als solche gar nicht erkennt, dann scheitert die Kommunikation. Ein Beispiel dafür ist die Ratlosigkeit von NichtTechnikern gegenüber spezialisierter technischer Information. Sie wird nicht nur nicht verstanden, sondern als solche gar nicht wahrgenommen, weil sie außerhalb der »Welt« bzw. der kognitiven Relevanzen der Laien liegen. Aber es geht nicht nur um Technik, sondern um alle Spezialgebiete, die Laien nichts mehr sagen. Es sieht sogar so aus, als würden Personen gegenüber einer konstanten Überflutung durch spezialisierte Daten und Informationen Abwehrstrategien entwickeln und bestimmte Angebote nicht mehr wahrnehmen oder automatisch ignorieren. Wer von Klimawandel nichts versteht, wird irgendwann Routinen entwickeln, diesbezügliche Kommunikationsangebote schlicht zu ignorieren. Genau hieran macht Luhmann das wichtige systemtheoretische Postulat der »Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation« fest.47 An diesem Punkt schlägt Nichtwissen in Kommunikationsunfähigkeit um – und wird zum Problem für Kommunikationsfreiheit. Breiten sich die Regionen des Nichtwissens auf den Landkarten der modernen Gesellschaften endemisch aus, und genau dies ist durch Differenzierung und Spezialisierung der Fall, dann verdichten sich zwar die spezialisierten Kommunikationen, aber die für die klassische Demokratie konstitutiven allgemeinen Kommunikationen verständiger Bürger scheitern immer häufiger an den Barrieren des Verstehens, der Erreichbarkeit und des Annehmens von Kommunikationsangeboten. Barrieren der Kommunikationsfreiheit werden zu Problemen für die Demokratie, und umgekehrt. Gegenüber dieser Herausforderung, die durch eine global vernetzte Digitalisierung noch brisanter wird, bringt Bruno Frey drei Momente ins Spiel, die allerdings Kernkomponenten funktionierender Demokratien und nichts Neues sind: Subsidiarität, funktionale Differenzierung und Gewaltenteilung. Dann allerdings fügt er ein viertes 47 | Ebd., S. 210. Luhmann, Soziale Systeme, S. 217–218 präzisiert drei Momente dieser Unwahrscheinlichkeit. Erstens ist unwahrscheinlich, »dass Ego überhaupt versteht, was Alter meint«, denn Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden, und wenn der ganze Kontext fremd ist, dann ist Verstehen nicht möglich. Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen des Adressaten, und die dritte ist die Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs im Sinne von Annehmen der Kommunikationsofferte (Kursiv im Original).

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Element hinzu, das problematisch erscheint, nämlich erweiterte direkte Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürger, und gelegentlich sogar schlicht Zufallsentscheidungen.48 Angesichts ubiquitären Nichtwissens erscheint der Vorschlag einer erweiterten allgemeinen Mitbestimmung wenig überzeugend, und Zufallsentscheidungen in extrem folgenreichen Problemlagen wie Klimawandel oder Finanzkrise muten frivol an. In der Komponente der Mitteilung eines dreigliedrigen Kommunikationsbegriffs steckt die Gesamtheit der Verbreitungsmedien, von Sprache über Schrift bis zu den modernen Massenmedien. Deswegen sind neben Redefreiheit auch Publikationsfreiheit, Pressefreiheit, Telekommunikations- und Rundfunkfreiheit Bestandteile der Kommunikationsfreiheit. Verzwickter wird es schon bei den neuen sozialen Medien des Internets, die in einer offenen Mittellage zwischen privaten und öffentlichen Formen der Kommunikation schwerer in die Konstellationen der Kommunikationsfreiheit einzufügen sind. Klar ist allerdings, dass all das, was in einer Demokratie Bestandteil von öffentlicher Meinung und Meinungsbildung ist, zum Schutzbereich der Kommunikationsfreiheit gehört. Gegenüber diesem in der Freiheits- und Grundrechtstheorie intensiv behandelten Feld der Verbreitungsmedien ist die Lage hinsichtlich der generalisierten Kommunikationsmedien völlig anders. Dies könnte, vorsichtig formuliert, daran liegen, dass selbst in der Kommunikationstheorie das Konzept der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien nicht Allgemeingut ist. Für unseren Zusammenhang ist dieses Konzept allerdings nur insofern von Belang als es dazu beiträgt, weitere Dimensionen der Problematik der Kommunikationsfreiheit aufzudecken.49 Generalisierte Kommunikationsmedien sind hoch effektive Spezialsprachen, die ihre Karriere bei Talcott Parsons als Austauschmedien beginnen, und die Luhmann zu symbolisch generalisierten Kommuni48 | Bruno Frey, »Die Bürgerinnen und Bürger müssen mitbestimmen dürfen«, in: Spektrum der Wissenschaft. Sonderausgabe. 20. Berliner Kolloquium 11. Mai 2016. Der Datenmensch. Über Freiheit und Selbstbestimmung in der digitalen Welt, S. 26–27, hier S. 27. 49 | Bereits Parsons verweist explizit auf die Ausdehnung von Freiheitsräumen durch die generalisierten Kommunikationsmedien, insbesondere durch Geld: Es erweitert Freiheiten hinsichtlich der Gegenstände, Orte, Zeiten und Bedingungen einer ökonomischen Transaktion. Talcott Parsons, Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 307.

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kationsmedien erweitert. Für Luhmann besteht ihre Aufgabe und ihre Leistung darin, die Hauptschwäche sprachlich basierter Kommunikation  – die Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation  – durch eingebaute Annahmemotive zu verringern.50 »Sie sind eigenständige Medien mit einem direkten Bezug zum Problem der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation.«51 Medien wie Macht, Geld, Wissen, Liebe, Glaube etc. erlauben es, komplexe Sachverhalte in symbolischer Verdichtung zu kommunizieren: Ein Polizist braucht Autofahrern nicht umständlich zu erklären, was zu tun sei; er hebt die Kelle, das Symbol der Macht – und fertig. Im Supermarkt verhandle ich nicht stundenlang, um einen Korb Waren zu erwerben. Ich bezahle den ausgewiesenen Geldbetrag  – und fertig. Eine Liebende muss ihrem Geliebten nicht jeden Tag aufs Neue ausführlich erläutern, dass und warum sie ihn liebt. Ein Blick im Medium der Liebe genügt – und so erspart man sich viele Gelegenheiten zu Missverständnissen. Symbolisch generalisierte Medien bewirken eine frappierende Steigerung der Leistungsfähigkeit von Kommunikation, indem sie kompakte Module zur Verfügung stellen, die als sozial geltende Vorverständnisse kommunikative Konstellationen vereinfachen. Da ich selbst auf den Aspekt der Steuerung abhebe, der jeder Kommunikation innewohnt, ziehe ich es vor, nicht von Kommunikationsmedien zu sprechen, sondern von Steuerungsmedien (diese begriffliche Unterscheidung ist aber für die weitere Argumentation nebensächlich). Der zentrale Unterschied zwischen verbaler Sprache und Steuerungsmedien liegt in der drastisch gesteigerten Steuerungskapazität von Medien, die sich genau deshalb entwickelt haben, weil Sprache allein, wie schon der Turmbau zu Babel zeigte, zur Steuerung komplexer Systeme nicht ausreicht. Wenn wir zugrunde legen, dass Kommunikation definiert ist als Steuerung von Selektionsleistungen, dann ist der Kern einer Steigerung der Wirksamkeit von Kommunikation die Verbesserung ihrer Steuerungsleistung. Tatsächlich ist die kritische Schwachstelle sprachlicher Kommunika50 | Luhmann, Soziale Systeme, S. 205–207; ders., »Generalized Media and the Problem of Contingency«, in: Jan Loubser u. a. (Hg.), Explorations in General Theory in Social Science. Essays in Honor of Talcott Parsons, New York 1976, S. 507– 532. Ders., Gesellschaft der Gesellschaft, S. 190–395, hier S. 203: »Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien leisten eine neuartige Verknüpfung von Konditionierung und Motivation.« 51 | Ebd., S. 316.

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tion die Unkalkulierbarkeit ihrer Wirkung. Wie aber lässt sich der Wirkung einer Kommunikationsofferte Nachdruck verleihen? Indem sie implizit eine Drohung oder einen Anreiz mittransportiert. Steuerungsmedien koppeln bloße Offerten mit Motiven für die Übernahme eines Kommunikationsangebots durch einen Kommunikationspartner dadurch, dass in die Medien von vornherein Präferenzen für nur eine Seite ihrer jeweils leitenden Distinktionen eingebaut sind. Im Medium Macht zieht (nahezu) jeder Macht der Ohnmacht vor; im Medium Geld (nahezu) jeder Zahlungsfähigkeit der Nichtzahlungsfähigkeit; im Medium Wissen (nahezu) jeder Wissen dem Nichtwissen, im Medium Liebe (nahezu) jeder Intimität der Indifferenz. Damit werden Kommunikationen in eine bestimmte Richtung gesteuert und Annahmeentscheidungen erleichtert oder gar zur Routine. Dissens und Diskussion werden auf Problemfälle beschränkt und im Normalfall läuft die Kommunikation mithilfe der symbolisch generalisierten Steuerungsmedien weitgehend in Form von Routinen, Konventionen, Vorverständnissen und Automatismen ab. Der Einsatz von Macht, Geld, Wissen oder Glauben geschieht in der Regel unmerklich als reines Routinehandeln und erfüllt genau dadurch seinen Zweck als höchst effiziente Steigerung und Beschleunigung der Kommunikation.52 Wie aber steht es um den Schutz der darin implizierten Kommunikationsfreiheit? Eine erste Komplikation liegt darin, dass die Steuerungsmedien der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaft folgen, also in erster Linie die Spezialsprachen der jeweiligen Funktionssysteme werden. Macht ist das Steuerungsmedium der Politik, Geld dasjenige der Ökonomie, Glaube dasjenige des Religionssystems etc. Die Logik funktionaler Differenzierung setzt sich in den Medien insofern fort, als die Kompetenzkompetenz der Politik den übrigen Steuerungsmedien die Freiheitsräume zuweist: dem Geld die Eigentumsfreiheit, dem Wissen die Wissenschaftsfreiheit, dem Glauben die Religionsfreiheit, der Liebe die verfassungsrechtlich garantierte Autonomie der Familie, und so fort für alle Funktionssysteme. Nur die Macht der Demokratie legitimiert sich selbst, weil es über ihr keine Instanz mehr gibt.53 Eine zweite Komplizierung ist darin zu sehen, dass sich nach dieser Argumentation herausstellt, dass sich mit der Ausbildung der Steuerungsmedien Kommunikationsfreiheit nach wie vor auf Personen bezieht, die 52 | Luhmann, »Lob der Routine«. 53 | Ders., »Selbstlegitimation des Staates«.

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mithilfe dieser Medien kommunizieren, nun aber zusätzlich die Funktionssysteme selbst in ihrer Kommunikationsfreiheit geschützt sind. Dies erweist sich juristisch an der verfassungsrechtlichen Garantie der Autonomie der Funktionssysteme und operativ an den Interdependenzen einer funktional differenzierten Gesellschaft. Wenn soziale Systeme bis hin zu Gesellschaften aus Kommunikationen bestehen und kommunikativ konstituiert sind, dann erscheint es nur folgerichtig, dass die Kommunikationsfreiheit neben der personalen zugleich auch eine sozietale Dimension aufweist. Sie umfasst auch den Schutz der symbolisch generalisierten Steuerungsmedien, die in ihrer Funktion als Spezialsprachen Formen der medialen Verankerung von Mitteilungen sind und darin den Möglichkeitsraum von Kommunikation in ähnlicher Weise erweitern, wie dies zuvor die »neuen« Mitteilungsmedien der Schrift, des Buchdrucks und der elektronischen Medien getan haben.54 Die Evolution medialer Substrate der Kommunikation führt zu einer Auffächerung der allgemeinen Kommunikationsfreiheit in die unterschiedlichen Medien: Postgeheimnis für das Medium Schrift, Pressefreiheit für das Medium Druck, Rundfunkfreiheit für die ersten elektronischen Medien. Danach wird es schwieriger. Kommunikationen im Medium der Macht stehen so klar im Zentrum möglicher Bedrohungen von Freiheit, dass sie den gesamten Apparat der Absicherung der Freiheit durch Grund- und Menschenrechte, durch Verfassungen und Rechtsordnungen auf sich ziehen. Dies ist der Bereich der klassischen Freiheitstheorien und soll deshalb hier nicht weiter verfolgt werden. Kommunikationen im Medium des Geldes dagegen scheinen das Interesse der Freiheitstheorie noch nicht geweckt zu haben. Für normale Zahlungen ist dies wenig verwunderlich, weil sie gewöhnlich private und individuelle Ereignisse sind, die im Wesentlichen von den Regeln der Märkte gesteuert und durch rechtliche Vorschriften zur Rechts- und Vertragssicherheit abgesichert werden, so dass ein weiterer Freiheitsschutz nicht erforderlich erscheint. Immerhin ist erkennbar, dass selbst in diesem Bereich die Kommunikationsfreiheit explizit geschützt ist, wo die zugrunde liegende Handlungsfreiheit etwa durch krass unterschiedliche Macht- und Einflusspotentiale eingeschränkt wäre, also etwa bei Monopolen, Knebelverträgen oder Wucher. Als symbolisch generalisiertes Medium steuert Geld ökonomische Kommunikationen (im Vergleich zur 54 | Ausführlich dazu ders., Gesellschaft der Gesellschaft, S. 249–315.

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Sprache) in hoch effizienter, kompakter und schneller Weise. Deshalb ist ein Einkauf im Supermarkt schneller abgewickelt als ein umständlicher Tauschhandel ohne Geld, und auch noch schneller als ein Einkauf auf einem traditionellen Basar. Die Symbolisierung von Wert im Geld erlaubt lange Handlungsketten und lange Handelswege und erweitert den Raum ökonomischer Kommunikationen heute ins Globale. Allerdings sind die Kommunikationschancen höchst ungleich verteilt. Damit wird deutlicher, was institutionell mit Blick auf das Medium Geld als Kommunikationsfreiheit geschützt werden soll. In Frage steht das Recht auf Teilhabe an moderner, also geldbasierter ökonomischer Kommunikation, und damit das Recht darauf, sich in den Geldkreislauf einschalten zu können. Auch hier gilt, dass jeder, der über Geld verfügt, an diesem Kreislauf teilnehmen kann, zugleich aber die Teilnahmechancen durch extreme Vermögensunterschiede ungleich verteilt sind. Der prinzipiellen Möglichkeit der Teilnahme stehen in der Praxis strukturell vergleichbare Hindernisse entgegen wie bei politischer Kommunikation ungleiche Machtverhältnisse oder bei wissenschaftlicher Kommunikation große Unterschiede der Expertise. Während gewisse Unterschiede in der Ressourcenausstattung von Menschen normal und wohl unvermeidlich sind, ist für eine Freiheitstheorie die Frage von Bedeutung, ab wann und nach welchen Kriterien gesteigerte Unterschiede sich zu Bedrohungen oder Einschränkungen von Freiheiten auswachsen. Einen Hinweis gibt Thomas Piketty nach einer grundlegenden Studie zur Ungleichheit zwischen der Entwicklung der Vermögen aus Arbeit und der Vermögen aus Kapital. »In dieser Ungleichheit spricht sich ein fundamentaler Widerspruch aus. Je stärker sie ausfällt, umso mehr droht der Unternehmer sich in einen Rentier zu verwandeln und Macht über diejenigen zu gewinnen, die nichts als ihre Arbeit besitzen.«55 Mit der Transformation von Vermögensunterschieden in Machtdifferenzen ist genau der Punkt bezeichnet, an dem strukturelle Bedingungen einer auf Geld gegründeten Ökonomie für die Kommunikationsfreiheit bedeutsam werden. Ein extremer Fall ist die bereits genannte »Vermögensverteidigungsindustrie« der USA, die mithilfe von Geld einen so übergewichtigen politischen Einfluss gewinnt, dass für einen großen Teil der Bürger 55 | Piketty, Kapital, S. 786. Es sind nach Piketty diese Ungleichheiten als »Divergenzkräfte, die unsere demokratischen Gesellschaften und jene soziale Gerechtigkeit bedrohen, die zu ihren Legitimationsgrundlagen zählt.« Ebd., S. 785.

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Kommunikationschancen hinsichtlich bestimmter politischer Themen wie Steuergesetzgebung oder Subventionspolitik erheblich beeinträchtigt sind.56 Eine gesellschaftstheoretisch fundierte Theorie der Freiheit legt zugrunde, dass in modernen Gesellschaften die Demokratie als Form der Selbststeuerung der Politik gleichzeitig einziger Garant aller Freiheit ist, wie auch diejenige Instanz, welche die Grenzen der vielen differenzierten Freiheitsräume definiert. Alle substantiellen Beeinträchtigungen der Demokratie sind damit Beeinträchtigungen von Freiheit – und umgekehrt. Dies lässt sich am Fall der Meinungsfreiheit zeigen, ebenso wie am Fall der Wahlfreiheit. Am deutlichsten aber ist dies im Fall der Kommunikationsfreiheit. Demokratie hängt von freier Kommunikation ab, wie sonst sollen konkurrierende politische Meinungen gebildet und die Wechselspiele von Regierung und Opposition, von Mehrheit und Minderheit begründet werden? Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Kommunikation nicht nur im engeren politischen System als genuin politischer Diskurs stattfindet. Vielmehr schwappt überall dort die funktionssystemspezifische Kommunikation über ins Politische, wo in den Operationsformen der Funktionssysteme demokratische Fundamentalnormen wie Fairness, Chancengleichheit und Gleichheit vor dem Gesetz verletzt werden. Begründet ist dies in dem für moderne Demokratien bezeichnenden Spannungsfeld zwischen der Autonomie der Funktionssysteme einerseits und der Kompetenzkompetenz der Politik andererseits. Die Politik bleibt verantwortlich für die Grenzziehungen aller Funktionssysteme, auch wenn der Kerngehalt ihrer Autonomie verfassungsrechtlich garantiert ist. Daraus folgt, dass Politik, und damit Demokratie, und damit Freiheitsrechte dann tangiert sind, wenn sich in den Funktionssystemen Konstellationen entwickeln, die verhindern, dass Menschen einen freien Willen bilden, eigene Entscheidungen treffen und schließlich selbstbestimmt handeln können. In diesem Sinne verlangt Demokratie eine Demokratisierung der Gesellschaft.57 Sie kann nicht dulden, ohne sich selbst zu beschädigen, dass irgendwelche dunklen Winkel der Gesellschaft nach fundamental ande56 | Winters, »Oligarchy«. 57 | Gerhard Willke, Helmut Willke, »Die Forderung nach Demokratisierung von Staat und Gesellschaft«, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 7 (14.02.1970), 33–62.

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ren Prinzipien organisiert sind – dies allerdings jeweils mit der schwierigen Abwägung, den Kerngehalt der Autonomie der Funktionssysteme zu respektieren. In einer multikulturellen Gesellschaft wirft dies Probleme auf, wenn z. B. bestimmte religiöse Praktiken mit der Neutralität des Staates oder mit religionsfreien Räumen privater Firmen kollidieren,58 oder wenn Eltern aus ideologischen Gründen ihren Kindern den Zugang zum Gesundheitssystem oder zum Schulsystem verwehren. Prinzipiell sind Beeinträchtigungen der Kommunikationsfreiheit in jedem Funktionssystem der Gesellschaft denkbar. Nach wie vor aber sind es vor allem soziale Ungleichheiten, die faktisch auch zu Ungleichheiten des politischen Einflusses und (als Bedingung dafür) zu ungleichen Ausprägungen der Kommunikationsfreiheit führen. Dass Geld und Vermögen dabei eine Rolle spielen, ist nicht verwunderlich und seit langem Thema der Ungleichheitsdebatte. Zunehmend aber sind es in einer Wissensgesellschaft auch Ungleichheiten der Bildung, Ausbildung und Expertise, die zu ungleichen Kommunikationschancen führen. Wenn beide Momente zusammenkommen und die Medien Geld und Wissen konfundieren, ist das Resultat ein »kognitiver Kapitalismus«,59 der vermutlich die zukünftig stärkste Bedrohung von Demokratie und Freiheit darstellt. Dass die Medien Macht und Geld eine besondere Anziehungskraft füreinander haben, steht außer Frage. Dass Geld Macht kaufen und Macht zu mehr Geld verhelfen kann, zeigen alle oligarchischen und korrupten Regime der Welt – und eben auch einige demokratische, wie insbesondere die USA, aber auch das Italien eines Berlusconi, das Griechenland der Reeder, das Spanien der »Partido Popular«, das Island eines Hallgrimur Helgason60 oder das Mexiko der Drogenbarone. Immerhin gibt es in den Demokratien auch Gegenkräfte, Skandale und erzwungene Rücktritte, 58 | So wäre ein generelles Kopftuchverbot unzulässig, aber ein Unternehmen kann ein solches Verbot für seine Mitarbeiterinnen durchsetzen. So das Gutachten der Generalanwältin vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), Juliane Kokott, Ende Mai 2016. 59 | Arnold Kling, »The Financial Crisis: Moral Failure or Cognitive Failure?«, in: Harvard Journal of Law & Public Policy 33 (2010), S. 507–518. Torsten Strulik, Helmut Willke, Towards a Cognitive Mode in Global Finance. The Governance of a Knowledge-based Financial System, Frankfurt a. M., New York 2006. 60 | Die Veröffentlichung der »Panama Papers« im Frühjahr 2016 haben einen tiefen Einblick in die weltweiten Verwicklungen von Politik und Finanzen gewährt.

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und insgesamt Rechtsordnungen, welche die schlimmsten Auswüchse verhindern. Zwei Schwachpunkte weisen allerdings weiterhin auch funktionierende Demokratien auf: die Systeme des Lobbyismus und die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung. Lobbyisten können mit politischen Akteuren aller Art direkt und ungehindert kommunizieren, was Normalbürgern verwehrt ist. Diese eklatante Ungleichheit der Kommunikationschancen bedeutet eine eklatante Ungleichheit der Chancen des politischen Einflusses. Dass Demokratien dies überhaupt zulassen, ist ursprünglich dem Bedarf der Politik an fachlichen Informationen und spezialisierter Expertise in immer komplexeren Politikfeldern geschuldet. Wenn die Expertise der Abgeordneten, der Regierung und der Ministerien nicht mehr ausreicht, dann ist es zunächst durchaus legitim, auf gesellschaftlich verfügbare Expertise zurückzugreifen. Inzwischen hat sich das System des Lobbyismus zu einer gigantischen Maschine der Ungleichheit fehlentwickelt, welche von einer ebenso gigantisch ungleichen Ressourcenausstattung befeuert wird.61 Lobbygruppen, wie in Deutschland vor allem die Autoindustrie, die Agrarindustrie oder die Pharmaindustrie, verletzen faktisch die Kommunikationsfreiheit der Normalbürger durch das schiere Übergewicht ihres Zugangs und ihres Einflusses auf die Politik. Juristisch ist diese Verletzung schwer zu greifen, weil argumentiert werden kann, dass sich auch die Gegeninteressen organisieren und einen Lobbystatus erarbeiten könnten – was wiederum an Anatole Frances Sentenz erinnert.62 Ob neue technologische Möglichkeiten der Organisierung und Mobilisierung von Interessen etwa durch soziale Medien ein Gegengewicht bilden können, ist eher zweifelhaft. Versuche wie die Bewegung »Occupy Wall Street« waren nicht besonders erfolgreich. Es erscheint aussichtslos oder gar naiv, den Lobbyis61 | In Berlin agieren rund fünf Tausend Lobbyisten, also etwa acht pro Abgeordneten. In Brüssel sind es zwischen fünfzehn und dreißig Tausend Lobbyisten, etwa sechsundzwanzig pro Abgeordneten. In Washington betreiben über Zehntausend Lobbyisten das Einflussgeschäft, etwa zwanzig pro Abgeordneten. In Berlin stehen hinter den Lobbyisten etwa viertausend Verbände, darunter Unternehmensrepräsentanzen, Think-tanks, Anwaltsfirmen, Gutachter, Unternehmensberatungen, wissenschaftliche Institute und Hochschulen, Stiftungen und Politikberater. Siehe Willke, Dezentrierte Demokratie, S. 41–42. 62 | Und die seit langem verhandelte Problematik nicht-organisierbarer Interessen aufruft. Mancur Olson, The Logic of Collective Action, Cambridge, Mass. 1971.

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mus zu demokratisieren oder gar abschaffen zu wollen. Was machbar ist und allmählich in die Gänge kommt, ist eine größere Transparenz über Akteure, Ressourcen, Zwecke und Empfänger der Mittel. Eine verbesserte demokratische Kontrolle könnte zumindest die Chance erhöhen, dass Auswüchse verhindert und Gegenkräfte gestärkt werden. Während Lobbyismus als generelle Deformation aller Demokratien angesehen werden muss, sind die Systeme der Wahlkampf- und Parteienfinanzierung sehr unterschiedlich. Generell lässt sich sagen, dass diese Systeme umso problematischer sind, je ungeregelter und direkter Personen und Organisationen in die Finanzierung von Wahlkämpfen und Parteien eingreifen können. Der exemplarische Fall sind hier die USA.63 Der McCain-Feingold-Act des Jahres 2002 hatte eine Obergrenze für Spenden festgelegt und damit eine Waffengleichheit zwischen unterschiedlich finanzstarken Interessengruppen hergestellt. Weiterhin in Kraft ist die Regelung, dass ein Spender nicht mehr als 5.200 Dollar für einen einzelnen Kandidaten für Wahlen und Vorwahlen ausgeben darf. Doch gibt es künftig keine Beschränkung mehr, wie viele Kandidaten ein Einzelspender unterstützen kann. In einer problematischen Entscheidung hob der Supreme Court die Obergrenze des McCain-Feingold-Act auf 64 und ermöglicht dadurch einen nahezu ungebremsten Einfluss insbesondere der Superreichen auf die Wahlkämpfe und Kandidatenauswahl des politischen Systems der USA.65 Besonders pikant ist, dass der Supreme Court seine Entscheidung auf den Grundsatz der Redefreiheit gründete und damit den kritisch gemeinten Satz bestätigte, wonach das Geld in 63 | Dies gilt, auch wenn man nicht der undifferenzierten Ansicht von Streeck folgt: »Die Regierungen, und insbesondere die der Vereinigten Staaten, befinden sich nach wie vor fest im Griff der Finanzindustrie.« Wolfgang Streeck, »Wie wird der Kapitalismus enden?«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2015), S. 99–111, hier S. 101. Ebenso abwegig Mason, Postkapitalismus, der das Ende des Kapitalismus mit Digitalisierung und Wikipedia begründet. 64 | Im Fall Citizens United vs. Federal Election Commission, der zugunsten von Citizens United entschieden wurde. 65 | Jennifer Heerwig, Katherine Shaw, »Through a Glass, Darkly: The Rhetoric and Reality of Campaign Finance Disclosure«, in: The Georgetown Law Journal 102 (2014), S. 1443–1500. Russ Feingold, »The Money Crisis: How Citizens United Undermines Our Elections and the Supreme Court«, in: Stanford Law Review Online 64 (2012), S. 45–51.

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der Politik spricht – ›money talks‹. Wenn für heutige Bedingungen Redefreiheit als Kommunikationsfreiheit zu verstehen ist, dann kann nicht deutlicher ausgedrückt werden, dass Geld in einem solchen System der Wahlkampffinanzierung nichts anderes bedeutet als Kommunikationschancen. Vermögensunterschiede wirken sich daher als Unterschiede der Realisierung der Kommunikationsfreiheit aus, und je deutlicher und folgenreicher diese Unterschiede sind, desto deutlicher folgt daraus eine Gefährdung der Demokratie. Dennoch steht keineswegs die Abdankung der Demokratie oder das Ende des Kapitalismus an,66 auch wenn sich beide Steuerungsregime immer wieder und notwendig in die Quere kommen. Die Demokratie erweist sich als resilienter als viele Beobachter vermuten, und tatsächlich kommt es darauf an, ihre Gefährdungen, und insbesondere die Gefährdungen ihrer Freiheitsräume möglichst genau und theoretisch fundiert zu beobachten, will man auf die Spur der notwendigen Revisionen kommen. Etwas verdeckter und weniger offensiv als das Medium Geld, rüttelt das Medium Wissen am Gleichheitssatz und am Allgemeinheitsanspruch der Demokratie. Im Medium Wissen gab es nie ein Drei-Klassen-Wahlrecht, selbst die Dümmsten dürfen wählen. Dennoch gibt es gar keinen Zweifel daran, dass Unterschiede an Bildung und Expertise unterschiedliche Möglichkeiten verleihen, Kommunikationsfreiheit als Grundlage demokratischer Partizipation zu nutzen. Während immer schon die »gebildeten Stände« mehr von der Demokratie hatten als die unteren Schichten der Bevölkerung, werden in der sich entfaltenden Wissensgesellschaft Unterschiede des Wissens und unterschiedliche Ausmaße des Nichtwissens gewichtiger. Ich habe dies andernorts ausführlich beschrieben, so dass hier nur einige Grundlinien mit Blick auf die Kommunikationsfreiheit gezeichnet werden sollen.67 Expertise beeinflusst politische Entscheidungen an allen Ecken und Enden, weil die Lösung bzw. das Management komplexer Probleme spezialisiertes Wissen voraussetzt, wenn nicht mehr einfach normativ entschieden werden kann, sondern politische Entscheidungen erst dann als legitim gelten, wenn sie auch inhaltlich überzeugen und entsprechende Evidenz vorzuweisen ist. Damit kommen für politische Steuerung Ex66 | Wie Streeck, Ende des Kapitalismus, etwas vorschnell vermutet. Siehe dagegen Schmitter, Crisis and Transition. 67 | Willke, Konfusion; ders., Dezentrierte Demokratie.

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perten und Expertinnen aller Art ins Spiel, ebenso wie Forschungseinrichtungen, Think-tanks, Stiftungen, NGOs und eine Vielzahl weiterer Organisationen, die jeweils für ihr Fachgebiet über relevante Expertise verfügen. Dies bedeutet, dass es heute eine kaum mehr überschaubare Menge an spezialisiertem Wissen zu allen denkbaren Fragen gibt, welches global verteilt ist und sich rasant fortentwickelt. Es bedeutet weiter, dass sich für das Aufspüren und Zusammenführen der für ein Problem relevanten Expertise ein eigenes Wissensfeld herausbildet, Wissensmanagement, weil nicht mehr offensichtlich ist, wo sich das einschlägige Wissen befindet und wer darüber verfügt. Drittens bedeutet dies, dass mit jedem neuen Wissen neues Nichtwissen produziert wird und der Umgang mit nicht vermeidbarem Nichtwissen sich zu einer Kernkompetenz des Wissensmanagements entwickelt. Schließlich bedeutet die (beginnende) Ausbildung von Wissensgesellschaft und Wissensökonomie, dass Expertise zum vierten Produktivfaktor avanciert und für Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsfähigkeit, Standortqualität etc. ausschlaggebend wird.68 Die heraufziehende Wissensgesellschaft wirft ihre Schatten auch auf die Steuerungsform der Demokratie im Allgemeinen und auf Kommunikationsfreiheit im Besonderen. Wie Meinungsfreiheit eine Meinung voraussetzt und Wahlfreiheit die Verfügbarkeit von Optionen, so setzt Kommunikationsfreiheit voraus, dass Inhalte der Kommunikation verfügbar sind, also Informationen, die mitgeteilt werden sollen. Nun fehlt es nicht an Inhalten und Informationen, vielmehr wird die Überflutung durch große Datenmengen, intransparente Informationen und eine für einzelne Menschen nicht mehr überschaubare Masse an hoch spezialisierter Expertise zum Problem. Als Experte für einige wenige Bereiche kann ich in diesen Feldern Meinungen bilden, Optionen bewerten und darüber politisch kommunizieren. Für eine Vielzahl anderer Bereiche, Themen oder Probleme fehlt mir jegliches Fachwissen, so dass ich in diesen Themen nicht sinnvoll kommunizieren kann. Daneben gibt es allerdings eine allgemeine Lebenswelt für alle Menschen, in der durch Sozialisation, Erziehung und den kulturellen Hintergrund ein Alltagswissen gebildet wird, das für alle alltäglichen Fragen und Probleme ausreicht. Für eine Theorie der Kommunikationsfreiheit ist dieses weite Feld des Alltagswis68 | Ausführlich dazu Nico Stehr, Knowledge Societies, London 1994. Willke, Wissensmanagement; ders., Smart Governance; ders., »Die Krisis des Wissens«, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 26 (2001), S. 3–26.

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sens unproblematisch, denn jeder und jede kann sich aufgrund eigener Erfahrungen und eigenen Wissens Meinungen bilden und in die politische Kommunikation einbringen. In der klassischen Demokratietheorie ist dies die Figur des »vernünftigen und verständigen Bürgers«, der allgemeine politische Fragen beurteilen und dazu Meinungen äußern kann. Hier spielen, wenn alles gut geht, die Habermasschen Diskurse einer zwanglosen Konsensbildung oder zumindest Mehrheitsbildung, und hier trägt auch das Landemoresche Argument der Stärke kognitiver Vielfalt und einer Intelligenz der Vielen.69 Nach wie vor bleibt dies der Raum klassischer Demokratie und – in meiner Diktion – der Zuständigkeitsbereich des für allgemeine Fragen zuständigen Oberhauses des Parlaments.70 Die klassische Demokratietheorie (mit Ausnahme von Mill)71 bricht hier ab und übersieht damit das eigentliche Problem, welches das Medium Wissen für die Demokratie der Wissensgesellschaft stellt. Wie Meinungsfreiheit und Wahlfreiheit ist auch Kommunikationsfreiheit von Nichtwissen in ihrem Kern betroffen. Denn, wie Wittgenstein lapidar sagte, wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Müssen Personen aufgrund von Nichtwissen zu Themen schweigen, an denen ein öffentliches Interesse besteht, und die daher politisch verhandelt werden, dann muss dies als Beschränkung der Kommunikationsfreiheit gewertet werden. Allerdings ist niemand daran schuld, weil ubiquitäres Nichtwissen gerade hinsichtlich großflächiger komplexer Probleme unvermeidlich ist. Insofern gibt es keine Rechtsmittel gegen diese Einschränkungen der Freiheit, vielmehr liegt die Herausforderung darin, strukturelle und prozedurale Veränderungen in der Architektur der Demokratie zu entwickeln, die geeignet sind, die Folgen dieser Begrenzung zu minimieren. Seit langem besteht die Standardantwort auf diese Herausforderung darin, mehr Bildung, Schulung, Ausbildung und Aufklärung zu fordern.72 Dagegen ist nichts zu sagen, auch wenn irgendwann der Grenznutzen dieser Maßnahmen gegen Null geht. Wichtiger ist, dass der ganze Ansatz für die neuen Probleme des Nichtwissens, die aus spezialisierter Professionalisierung und der Wissensintensität komplexer Problemkon69 | Hélène Landemore, »Why the Many Are Smarter Than the Few and Why It Matters«, in: Journal of Public Deliberation 8 (2012), Article 7, S. 1–12. 70 | Siehe Willke, Dezentrierte Demokratie, S. 102–108. 71 | Siehe ebd., Abschnitt 6.1, Fußnote 227. 72 | Atkinson, Ungleichheit, S. 11.

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stellationen folgen, gänzlich untauglich ist, weil das in Frage stehende Nichtwissen unvermeidlich ist und durch noch so viel Ausbildung und Schulung nicht verhindert werden kann. Denn selbstverständlich fallen auch bestens ausgebildete Spezialistinnen und Experten unter die Kategorie der Nichtwissenden in allen Themen und Felder, die außerhalb ihrer jeweiligen Spezialisierung liegen. Die repräsentative Demokratie ist die institutionelle Innovation innerhalb des Steuerungsmodells Demokratie, welche das klassische Demokratiemodell der alten Griechen erfolgreich an die Bedingungen der Neuzeit angepasst hat. Flächenstaaten und Millionen von Bürgern und Bürgerinnen umfassende Gesellschaften wie die USA oder Frankreich waren für direkte Demokratie nicht geeignet. Vor allem aber wurde Politik zu einer Vollzeitbeschäftigung, die sich diejenigen nicht leisten konnten, die selbst in einem »regulären« Vollzeitberuf für ihren Lebensunterhalt sorgen mussten. Nebenbei wurde eine erste Schwelle des Problems des Nichtwissens überwunden, weil nun mehr oder weniger fachkundige Repräsentanten sich um die Details der politischen Entscheidungen kümmern konnten (auch mit Hilfe der Administration und eines sich entwickelnden »Fachbeamtentums«)73, während sich die Beteiligung die Wähler auf generalisierte Zustimmung oder Ablehnung beschränkt. Es ist durchaus denkbar, dass bei einer weiter gesteigerten Wissensintensität und Wissensabhängigkeit aller politischen Entscheidungen diese Innovation einfach weiter ausgebaut wird und »mehr von demselben« ausreicht, um die Probleme eines ubiquitären Nichtwissens zu lösen oder zumindest zu managen. Tatsächlich ist das »Fachbeamtentum« der Ministerien zu einem kaum mehr überschaubaren Apparat angewachsen, der die für notwendig erachtete Expertise erarbeitet und zur Verfügung stellt. Der Fülle an Kommissionen, Räten, Beratungsfirmen, Anwaltskanzleien, Forschungseinrichtungen, politischen Stiftungen etc., die alle Expertise beisteuern, steht die Dürftigkeit an Transparenz und demokratischer Legitimierung dieser Infrastrukturen und Subkulturen der Wis73 | »Bürokratische Verwaltung bedeutet: Herrschaft kraft Wissen: dies ist ihr spezifisch rationaler Grundcharakter. Über die durch Fachwissen bedingte gewaltige Machtstellung hinaus hat die Bureaukratie (oder der Herr, der sich ihrer bedient), die Tendenz, ihre Macht noch weiter zu steigern durch das Dienstwissen: die durch Dienstverkehr erworbenen oder ›aktenkundigen‹ Tatsachenkenntnisse.« Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 129.

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sensbeschaffung gegenüber. Die Kosten von Gutachten für Ministerien, einschließlich Landesministerien, sind explodiert und haben sich z. B. beim Verkehrsministerium von Baden-Württemberg innerhalb von zehn Jahren verzehnfacht.74 Was die institutionelle Seite des Problems angeht, habe ich andernorts ein Unterhaus von Fachsenaten vorgeschlagen, die einige wenige hochkomplexe Problemzusammenhänge durch demokratisch legitimierte und transparente Entscheidungsprozesse behandeln. Hier nun geht es um die personale Seite der Kommunikationsfreiheit. Wie lässt sich die Kommunikationsfreiheit retten, wenn die meisten Menschen in den meisten Fachfragen Laien sind und mangels Wissen nicht vernünftig mitreden können? Der Vorschlag, den ich hier entwickeln möchte, trägt den Titel reflexive Repräsentativität. Ausgangspunkt ist die Repräsentativität erster Ordnung, also die parlamentarische Demokratie, in der die Wähler und Wählerinnen ihre Vertreter (Repräsentanten) in das Parlament wählen, welches dann für ein politisches System die Rolle des Souveräns übernimmt. Wichtig und konstitutiv ist, dass es die politischen Parteien sind, die das System der Repräsentation organisieren. Sie stellen die Kandidaten und Kandidatinnen für die Wahl auf, so dass, je nach konkreter Ausprägung der repräsentativen Demokratie, eher die Personen (mit ihrer Parteizugehörigkeit im Hintergrund) oder die Parteien (mit ihren Personen im Hintergrund) die Bezugsgrößen für die Wahlentscheidung sind. Bereits in der repräsentativen Demokratie erster Ordnung haben wir also eine Konstellation, in der die Bürger ihre originären Rechte einer direkten Demokratie  – nämlich der direkten Entscheidung aller politischen Fragen – an Stellvertreter abgeben, weil die Fülle der Detailentscheidungen sonst nicht organisierbar wäre. Die gewählten Repräsentanten als Stellvertreter erhalten mit der Wahl einen generalisierten Auftrag, sind aber dann bei ihren Entscheidungen autonom und nicht an Weisungen gebunden (Art. 38 GG). Im Modell der reflexiven Repräsentativität wird die Stellvertretung zum allgemeinen Prinzip erhoben, nach dem Beratung und Entscheidung auf speziellen Politikfeldern organisiert werden sollen. Reflexiv wird die Repräsentation, weil die Parlamentarier als Repräsentanten des Wahlvolkes ihrerseits institutionelle Repräsentanten für bestimmte Problem74 | Siehe: www.swp.de/ulm/nachrichten/suedwestumschau/kosten-fuer-gutach​ ten-explodieren-10768682.html, letzter Zugriff 08.11.2016.

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cluster bestimmen, die aus der allgemeinen Befassung des Parlaments herausgenommen werden, und die als Fachsenate Spezialaufgaben übernehmen – wie dies seit langem in den Institutionen Zentralbanken, Verfassungsgerichten, Monopolkommissionen oder Regulierungsagenturen (»regulatory agencies«) geschieht. Dazu gehört eine Beschreibung der Aufgabenstellung und ein detailliertes Reglement, welches die demokratische Qualität der Entscheidungsverfahren und der Rekrutierung der Mitglieder der jeweiligen Institutionen garantiert.75 Insbesondere die Rekrutierung der Mitglieder sollte dabei einer auf Prinzipien bezogenen politischen Supervision unterliegen, während die konkreten Entscheidungen in Form der Kooptation von den – weit gefassten – Mitgliedern der entsprechenden Fachgemeinschaften getroffen werden sollten. Hinzu kommt nun auf der Seite der Bürger (Wähler) die Möglichkeit, für die Fachsenate Repräsentanten zweiter Ordnung zu wählen, etwa in der Form, dass neben den Fachleuten Bürgervertreter oder Ombudsleute in einer allgemeinen Wahl bestimmt werden. Das Hauptgewicht der Wahlen und der Repräsentation zweiter Ordnung liegt allerdings bei den Fachgemeinschaften, die sich zu bestimmten Problemkomplexen – Beispiele: Finanzsystemsteuerung, Migration, Klimawandel, Energiewende – herausbilden, und die unterschiedliche Positionen, Paradigmen, Fachrichtungen, Organisationsformen etc. unter ihrem Dach versammeln. Für die Legitimität dieser Institutionen reflexiver Repräsentativität kommt es entscheidend darauf an, dass ihre Mitgliedschaft pluralistisch und interdisziplinär zusammengesetzt ist und dass ihre Entscheidungsverfahren fachlich den Mertonschen Regeln guter Wissenschaft entsprechen und formal den Regeln der Demokratie. Sowohl kognitive Vielfalt wie Kritik und Dissens sind damit Kernelemente der Entscheidungsformen dieser Institutionen. Innerhalb dieser Fachsenate gelten demnach genau die Regeln, die etwa Habermas oder Landemore für legitime Demokratie und kollektive Intelligenz beschrieben haben.76 Aber sie gelten nicht allgemein und insgesamt, weil in diesen Institutionen nur die Fachgemeinschaften vertreten sind, nicht aber die Allgemeinheit der Wähler. Jason Brennan hat zurecht und eindringlich auf den engen Bezug zwischen der Qualität der Freiheitsrechte und der Konstruktion des Wahlrechts hingewiesen. In seiner Streitschrift »Gegen Demokratie«, 75 | Dazu Willke, Dezentrierte Demokratie, S. 109–122. 76 | Siehe Landemore, Democratic Reason.

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die entgegen ihrem Titel nicht gegen die Demokratie gerichtet ist, sondern für eine gerechtere Demokratie durch eine Kritik des allgemeinen Wahlrechts argumentiert, prüft er ausführlich verschiedene Formen der Qualifizierung und Differenzierung des Wahlrechts. Er unterscheidet beschränktes Wahlrecht (»restricted suffrage«), mehrfaches Wählen (»plural voting«), epistokratisches Veto (»epistocratic veto«) und gewichtetes Wählen (»weighted voting«)  – jeweils Formen des Wahlrechts, die von einer Prüfung des politischen Wissens der Wähler abhängen.77 Diese Strategie der Differenzierung von Wahlmöglichkeiten führt in erhebliche Schwierigkeiten, die Brennan offen zugibt und nicht löst. Er übersieht dabei weitgehend eine Hilfestellung, welche die Demokratie längst erfunden hat, nämlich Repräsentation in der repräsentativen Demokratie.78 Das Grundprinzip, dass Wähler über ein unangetastetes allgemeines Wahlrecht Vertreter wählen, die politisch interessiert und kompetent sind, lässt sich in eine reflexive Repräsentativität ausweiten, nach welcher die Repräsentanten für Problemfelder, in denen sie weder kompetent noch engagiert sind, wiederum Repräsentanten wählen, die genau in diesen Felder kompetent und engagiert sind. Zweifelsohne ist dies ein Problem für die formale Demokratie. Der Grundsatz »Eine Person eine Stimme« bezogen auf die Gesamtheit der Wahlberechtigten gilt dann für die Entscheidungen der Spezialparlamente des Unterhauses nicht mehr. Es liegt auf der Hand, dass sich dieses Manko nur rechtfertigen lässt, wenn der Gewinn für die Demokratie größer ist als der Verlust. Eine Gewinn- und Verlustrechnung ist allerdings schwierig, weil beide Seiten von Annahmen und Vermutungen abhängen. So ist bei einer allgemeinen Wahlbeteiligung von 70 Prozent bis 40 Prozent je nach Wahl und einem zunehmenden Desinteresse an Wahlen und an Politik schwer zu sagen, welches Gewicht die Beschränkung des Wahlrechts auf die jeweiligen (allerdings weit gefassten) Fachgemeinschaften haben könnte. Auf der anderen Seite ist belegt, dass Engagement und Partizipation steigen, wenn es um die politische Vertretung der eigenen Interessens- und Fachgebiete geht. Einem Verlust an Wahlbeteiligung der allgemeinen, eher desinteressierten und fachlich nicht kompetenten Wähler steht demnach ein Gewinn an fachlich kompeten77 | Brennan, Against Democracy, 2016a, S. 6. 78 | Caleb Crain, The Case against Democracy. The New Yorker. Available at www.​ newyorker.com/magazine/2016/11/07/the-case-against-democracy, hier S. 8/23.

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ten und engagierten Wählern in den betroffenen Fachgemeinschaften gegenüber. Ähnlich sieht die Abwägung hinsichtlich der Output-Legitimität aus. Im konstitutiven Dilemma der Demokratie zwischen Partizipation und Effektivität, schlägt sich reflexive Repräsentativität klar auf die Seite der Effektivität der Ergebnisse demokratischer Politik.79 Verluste an allgemeiner Partizipation stehen Gewinne an Problemlösungskompetenz und Steuerungsfähigkeit der Politik gegenüber. Verschiebungen innerhalb des bestehenden Dilemmas haben unweigerlich Konsequenzen für die Allokation von Freiheitsräumen einer aus vielen Momenten und Schichten zusammengesetzten Freiheitsarchitektur. Der Verlust an Freiheit durch eingeschränkte allgemeine Partizipation mag unausgewogen und überflüssig erscheinen, wenn man auf die inkrementelle Intelligenz der Demokratie setzt und sich mit »Durchwursteln« zufrieden gibt. Die Rechnung sieht ganz anders aus, wenn man ernst nimmt, dass genau dieses langsame Lernen heute nicht nur nicht ausreicht, sondern zu irreparablen Schäden führt  – Beispiele dafür sind Klimawandel, Ressourcenerschöpfung, Endlagerung von Atommüll, globale Migration oder gesellschaftliche Ungleichheit. Hinter solchen Abwägungen kommt allerdings ein grundlegenderes Problem der Demokratie zum Vorschein. Als Steuerungsregime der Politik steht sie heute in Konkurrenz mit verschiedenen Varianten autoritärer Regime im Allgemeinen und mit dem chinesischen Modell im Besonderen. China setzt eindeutig auf Effektivität politischer Steuerung und ist darin wohl auch erfolgreich. Die entwickelten Demokratien spüren die Konkurrenz zwar noch nicht politisch, sondern vornehmlich ökonomisch und industriepolitisch, aber für die meisten Entwicklungsländer ist nicht das Modell westlicher Demokratie attraktiv, sondern das chinesische Modell forcierter wirtschaftlicher Entwicklung.80 Hier verschieben sich im 79 | Dahl, Democratic Dilemma. 80 | Arvind Subramanian, »The Inevitable Superpower. Why China’s Dominance is a Sure Thing«, in: Foreign Affairs 90 (2011), S. 66–78. Edward Whitfield, »China and the Great Doubling: Racing to the Top or Bottom of Global Labour Standards?«, in: Global Policy 7 (2016). Verfügbar unter: www.globalpolicyjournal.com, letzter Zugriff 08.11.2016. Edmund Amann, Swati Virmani, »Foreign Direct Investment and Reverse Technology Spillovers: The Effect on Total Factor Productivity«, in: OECD Journal Economic Studies. Volume 2014 (2015), S. 129–153.

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globalen Maßstab die Gewichte in Richtung eines Systemwettbewerbs, für den die Demokratien nicht gut gerüstet sind, und in welchem die Freiheit hinter anderen Werten und Ambitionen zu verblassen droht. Denn angesichts der Unterentwicklung und des versammelten Elends in der Welt ist Freiheit ein Luxusgut, das sich nur wenige privilegierte Gesellschaften leisten wollen.

Exkurs: Freiheit in System und Lebenswelt

In seiner Theorie gesellschaftlicher Rationalisierung fügt Jürgen Habermas Handlung und Kommunikation zum Konstrukt des kommunikativen Handelns zusammen und korreliert dieses dann mit der Unterscheidung von System und Lebenswelt. Habermas interessiert sich hinsichtlich der Fundierung der kommunikationstheoretischen Seite seines Werkes vornehmlich für sprachphilosophische und sprachanalytische Konzeptionen, die hier nicht relevant sind. Aus der Sicht der hier verfolgten Freiheitstheorie ist dagegen die Unterscheidung von System und Lebenswelt wichtig und kritisch. Die ausführliche Herleitung der Unterscheidung bettet er in eine »Kritik der funktionalistischen Vernunft« ein. Diese Vernunft ist Ergebnis langer historischer und kulturanthropologischer Prozesse der Systemdifferenzierung und »okzidentalen Rationalisierung«, welche nach Habermas sich gegen eine ursprüngliche Lebenswelt immer stärker durchsetzen und diese vage als »Kultur und Person« umschriebene Lebenswelt zur residualen Kategorie verkümmern lassen: »Je komplexer die Gesellschaftssysteme, um so provinzieller werden die Lebenswelten. In einem differenzierten Gesellschaftssystem schrumpft die Lebenswelt zu einem Subsystem.«1 Die Stilisierung der Konstellation von Modernisierung und Rationalisierung als Kampf zweier Welten, welcher zuungunsten der Lebenswelt ausgeht, weil sich die technisierten Systeme durchsetzen, ist suggestiv aber nicht plausibel. Der Ansatz von Habermas verkennt die grundlegende Einsicht von Max Weber, der eine weltgeschichtlich vergleichende Analyse der Ausbildung einer spezifisch okzidentalen, rationalen, kapitalistisch geprägten Gesellschaftsformation als Vollendung eines langen Prozesses der funktionalen Differenzierung entwickelt. Rational ist diese Form der Organisation von Gesellschaft in einem ganz spezifischen Sinne, näm1 | Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 258.

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lich im Sinne von Zweckrationalität. Und in der Tat sieht Weber in der durch die protestantisch-calvinistische Ethik geförderten Umstellung von traditionaler Wertrationalität auf kalkulierende Zweckrationalität den Durchbruch eines neuen Organisationsprinzips der Gesamtgesellschaft – also nicht nur der Ökonomie, sondern aller Gesellschaftsbereiche von der individuellen Lebensführung über die Religion bis zu Wissenschaft und Politik.2 Es gibt keinen restlichen Winkel der Lebenswelt, vielmehr geht diese in der Gesamtheit der Funktionssysteme auf. Inhalte der Lebenswelt sind für Habermas »kulturelle Reproduktion, soziale Integration und Sozialisation«.3 Es bleibt allerdings unerfindlich, warum diese Bereiche und Funktionen vom Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung ausgeschlossen oder abgekoppelt sein sollten. Kulturelle Reproduktion und Sozialisation differenzieren sich in modernen Gesellschaften aus in Erziehung, Kunst, Familie und Religion, und die Personen werden in ihren unterschiedlichen Rollen und Zugehörigkeiten zu Umwelten der Subsysteme. Soziale Integration, die Habermas als Kernleistung der Lebenswelt ansieht, findet nun gestuft in Lebenszyklen und differenziert nach Funktionssystemen statt. Soziale Integration in der frühkindlichen Sozialisation und in Kindergärten ist eine andere als die in Jugendkulturen, sozialen Medien oder professionellen Fachgemeinschaften. Bei Habermas fehlt jede Begründung dafür, warum diese Formen der kulturellen Reproduktion und sozialen Integration minderwertiger oder technisierter sein sollen als eine Sozialisation in einer irgendwie ganzheitlichen oder einheitlichen Lebenswelt. Es ist dann gerade das Kennzeichen der Moderne, dass die Trennung von System und Lebenswelt in einer rationalen Gesellschaft sich auflöst und in anderer, sogar verallgemeinerter Form fortlebt in der Trennung von Person und System. Für eine Freiheitstheorie ist die hier vorgenommene Umstellung grundlegend. Während schwer ersichtlich ist, wie in einer von Moral und Informalität gekennzeichneten Lebenswelt die Freiheit der Person gesichert werden könnte, weist die Idee einer rationalisierten Moderne zwei Vorteile für die Freiheit auf. Zum einen gibt die Politik (in der Form der Demokratie) einen umfassenden Schutz gleicher Freiheit für alle nach 2 | Siehe Max Weber, Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Hg. von Johannes Winckelmann, Hamburg 1973, S. 318–340. Ausführlich ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I‑III, Tübingen 1972. 3 | Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 391.

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dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz. Zugleich differenziert sich eine komplexe Freiheit entlang der Linien der funktionalen Differenzierung aus, so dass für eine Person der Freiheitsraum etwa im System Wirtschaft ein anderer sein kann als im System Erziehung oder im System Religion. Es gibt keinen schutzlosen Winkel der Gesellschaft mehr, keine Lebenswelt, in der eine Nora tatsächlich von einem Torvald4 dominiert werden könnte. Vielmehr umfasst die Kompetenzkompetenz der Politik die Gesellschaft insgesamt, und es bleibt kein Rest. Umso deutlicher ist die Freiheit von außen bedroht, also von globalen Kräften und Dynamiken, die von den nationalstaatlichen Demokratien nicht kontrolliert werden können. In vielen Details ist die Argumentation von Habermas unschlüssig, und insbesondere in der Kritik der Systemtheorie einseitig. Besonders deutlich ist dies bei der Behandlung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Habermas versteht und bezeichnet sie richtigerweise als Steuerungsmedien, bleibt aber durchgehend in einer künstlichen Trennung zwischen den sprachlichen Konsensbildungsprozessen der Lebenswelt einerseits und den zweckrationalen und kalkulierenden Operationen der kommunikativen Steuerungsmedien befangen: »Die Umstellung der Handlungskoordinierung von Sprache auf Steuerungsmedien bedeutet eine Abkopplung der Interaktion von lebensweltlichen Kontexten. Medien wie Geld und Macht setzen an den empirisch motivierten Bindungen an […] und ermöglichen eine generalisierte strategische Einflussnahme auf die Entscheidungen anderer Interaktionsteilnehmer unter Umgehung sprachlicher Konsensbildungsprozesse.«5 Habermas kehrt die Verhältnisse um: Für ihn dient verbale Kommunikation der Konsensbildung, während die Systemtheorie davon ausgeht, dass sie nichts anderes tut, als Dissense zu prozessieren. Im Gegensatz dazu produzieren Steuerungsmedien viel leichter Konsens, weil sie eingebaute Motivationslagen mitbringen, die es im Normalfall zur Routine machen, Kommunikationsofferten konsensuell zu akzeptieren. Funktion und Leistung der Steuerungsmedien bestehen gerade nicht darin, Konsensbildungsprozesse zu umgehen, sondern im Gegenteil für eine Vielzahl von Alltagsroutinen mit vorgefertigten Konsensmodulen Kommunikationen zu erleichtern, 4 | In Henrik Ibsens Drama Nora oder ein Puppenheim; dies ist das Beispiel, das Phillip Pettit nutzt, dazu Kapitel 7. 5 | Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 273.

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zu beschleunigen und effektiver zu machen. Erst dadurch wird in dichten Sozialbeziehungen Zeit dafür geschaffen, über den dann noch bestehenden Dissens zu reden. Die Kommunikation im Wissenschaftssystem ist ein Paradebeispiel dafür. Im Medium Wissen wird festgehalten, was als konsensuelles Wissen gilt, von den Vorsokratikern bis zu Einstein (wenngleich es immer revidierbar bleibt), während in der verbalen Kommunikation in kollegialen Gesprächen, Seminaren, Kongressen etc. es um das Prozessieren von Dissensen geht. Habermas nutzt die Lockwood’sche Unterscheidung von Sozialintegration und Systemintegration,6 um die Trennung von System und Lebenswelt zu untermauern. Das erscheint problematisch, denn sie ist keineswegs unumstritten und für moderne Gesellschaften eher irreführend, weil dort Systemintegration Sozialintegration voraussetzt und umgekehrt.7 Die Unterscheidung passt besser zur Trennung von Person und System, weil damit die Eigenständigkeit von Personen einerseits und Systemen andererseits gestützt und in ihren jeweiligen Eigenlogiken verstehbar werden. Anders Habermas: »Die Systemtheorie behandelt sozial- und systemintegrative Leistungen als funktionale Äquivalente und begibt sich des Maßstabs kommunikativer Rationalität.«8 Dem ist entgegenzuhalten, dass erst die strikte Trennung von Person und System die unterschiedlichen kommunikativen Rationalitäten respektiert und hervorhebt. Die üblichen Konflikte entstehen, wenn Personen in Systeme (z. B. Organisationen) eintreten und sich in den meisten Hinsichten dann der Logik der Systeme beugen müssen. Es ist allerdings ziemlich abwegig, dies der Bösartigkeit der Systeme zuzurechnen. Vielmehr sind Personen auf alle nur denkbaren Organisationen angewiesen, von Kindergärten bis zu Altersheimen, von Sportvereinen bis zu politischen Parteien, wenn sie bestimmte Ziele erreichen wollen. Habermas kritisiert diese für Organisationsgesellschaften normalisierte Abhängigkeit: »Am Ende verdrängen systemische Mechanismen Formen der sozialen Integration auch in jenen Bereichen wo die konsensabhängige Handlungskoordinierung nicht substituiert 6 | David Lockwood, »Soziale Integration und Systemintegration«, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln, Berlin 1970 (zuerst 1966), S. 124–137. 7 | Siehe Helmut Willke, »Zum Problem der Integration komplexer Sozialsysteme: Ein theoretisches Konzept«, in: KZfSS 30 (1978), S. 228–252. 8 | Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 277.

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werden kann: also dort, wo die symbolische Reproduktion der Lebenswelt auf dem Spiel steht. Dann nimmt die Mediatisierung der Lebenswelt die Gestalt einer Kolonialisierung an.«9 Die Trennung von System und Lebenswelt dämonisiert nahezu zwangsläufig die Funktionssysteme der Gesellschaft, als wären sie nicht Garanten der Modernität und mit ihrer eingebauten (und verfassungsrechtlich normierten) Autonomie auch Garanten dezentraler Freiheiten der Personen. Sie als Kolonisatoren zu denunzieren, hilft der Argumentation wenig und verdeckt, dass es schon lange nicht mehr um das Zusammenspiel zwischen einer untergegangen vormodernen Lebenswelt einerseits und modernen Systemen andererseits geht, sondern um das schwierige und problematische, aber für moderne Gesellschaften konstitutive Zusammenspiel von Personen und organisierten Sozialsystemen. In diesem Spannungsverhältnis spielt sich das eigentliche Drama der Freiheit ab. Denn beide Seiten sind aufeinander angewiesen, und die Personen könnten ohne die Systeme nicht überleben. Zugleich aber bedrohen die Rationalitäten und Eigenlogiken der Systeme Mündigkeit und Selbstbestimmung der Personen. Das Dilemma lässt sich nicht aufheben, sondern nur bearbeiten in einem Sisyphos-Kampf um Grenzen und Balancen. Dabei sind die Wirkungen der Interdependenz nicht einheitlich und lassen sich weder als Kolonialisierung noch als allgemeine Bevormundung oder gar Unterdrückung fassen. Für unterschiedliche Gruppen von Menschen und für unterschiedliche Typen von Organisationen/Systemen sind die Auswirkungen auf Momente einer komplexen Freiheit unterschiedlich und können nicht über einen Kamm geschert werden. Dies zeigen besonders die Funktionssysteme, in denen die alten Lebenswelten in modernen Gesellschaften aufgehen: Religion, Erziehung und Kunst. Für die Arrivierten, Prominenten, Kompetenten und Glücklichen bieten sie alle Freiheiten, während das Fußvolk sich den Regeln der Systeme weitgehend ausliefern muss. Die Freiheitsgrade verteilen sich je nach Voraussetzungen unterschiedlich, und es ist daher wenig sinnvoll, generell von einer Unterdrückung der Personen durch die Systeme zu reden. Problematisch ist vielmehr, dass sich unterschiedliche Ausstattungen, Kompetenzen und Talente von Personen offenbar leicht in unterschiedliche Freiheitsräume ummünzen lassen, und so auch hier der Matthäus-Effekt wirksam wird. 9 | Ebd., S. 293.

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Im Kontrast hierzu ist es in der von Habermas beschriebenen Lebenswelt um die Freiheit generell schlecht bestellt. Das Konzept selbst bleibt merkwürdig unbestimmt, ist aber jedenfalls »durch kulturelle Überlieferungen, legitime Ordnungen und vergesellschaftete Individuen bestimmt«.10 Es »findet eine empirische Stütze am ehesten in archaischen Gesellschaften«11 und ist durch segmentäre Differenzierung, traditionale und moralische Formen der Gesellschaftssteuerung und -integration charakterisiert.12 Damit sind Bestandteile genannt, die vormoderne, und in der Weberschen Terminologie traditionale und charismatische Herrschafts- und Legitimationsformen umfassen, aber gerade nicht diejenigen der Moderne. Was gesellschaftsgeschichtlich danach kommt, trägt für Habermas bereits den Makel einer »Rationalisierung der Lebenswelt«13. Jedenfalls aus der Sicht einer Freiheitstheorie wäre demnach das Habermassche Verdikt umzukehren: Moderne Gesellschaften eröffnen in rationalisierten Funktionssystemen Freiheitsräume, die den Menschen in traditional und moralisch bestimmten Lebenswelten verschlossen bleiben. Die Lebenswelt entpuppt sich als romantische Idee eines angeblich guten Lebens in alten, vor-rationalen Zeiten, die von Zweckhaftigkeit, Effizienzkalkülen, funktionaler Spezifizierung und Spezialisierung noch verschont ist und daher irgendwie humaner erscheint. Zumindest in der Perspektive einer Freiheitstheorie ist dies eine großformatige Täuschung, die verkennt, dass erst die »rationalisierte« Moderne die Befreiung von oppressiven Traditionen, Herrschaftsformen und Moralen erreicht hat. Als Hintergrund einer heilen Lebenswelt sieht Habermas die Qualität einer Einheit der Vernunft und eine entsprechende übergreifende Rationalität des Ganzen. Die Rationalisierung der Welt in der Moderne erscheint dann als Deformation der Vernunft und als Auflösung einer kommunikativ hergestellten Rationalität. Aber eine heile Lebenswelt ist bloße Fiktion. Für die Moderne und ihre Gesellschaften lassen sich eine Einheit der Vernunft und eine übergreifende Rationalität nicht mehr begründen. Vielmehr entfaltet jedes Funktionssystem seine eigene Vernunft und die Differenzierung setzt sich fort in jede Organisation und jede Praxeologie. Dem entsprechend spaltet sich die kohärente Rationalität einer 10 | Ebd., S. 272. 11 | Ebd., S. 233. 12 | Ebd., S. 241–272. 13 | Ebd., S. 232.

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homogenen traditionalen oder religiös geprägten Kultur auf in eine Vielzahl von unterschiedlichen Teilsystemrationalitäten, die zudem in einer multikulturellen Gesellschaft keine gemeinsame Basis mehr haben. Aber Differenzierung und Aufsplitterung sind nicht mit Deformation und Verlust gleichzusetzen, wie Habermas das nahelegt. Vielmehr bewirken sie gegenüber den einheitlichen und strikt geregelten Lebensverhältnissen einfacher Gesellschaften eine Expansion der Freiheitsgrade für Personen und Systeme. Kontingenz und Innovation treten an die Stelle von Beharrung und Tradition. Sie eröffnen Möglichkeitsräume die vorher undenkbar waren und befreien Menschen und Sozialsysteme aus den Fesseln der von irgendeiner höheren Macht postulierten einheitlichen Vernunft. Gegenüber einer vorgegebenen Vernunft können Menschen nun selbst entscheiden und Organisationen ihre Ziele und Rationalitäten selbst bestimmen. Sicherlich hat dieser Prozess der Zivilisierung und Modernisierung, wie jede grundlegende Transformation, für alle Beteiligten auch Kosten. Sowohl für Personen wie für Sozialsysteme werden nun Kontingenzkontrolle und Komplexitätsmanagement unabdingbar und zum Bestandteil einer komplizierteren Konstellation des Lebens und Überlebens. Dies gehört zu den Kosten einer Freiheit, die nur dann Freiheit sein kann, wenn sie von den Zwängen einer übergeordneten einheitlichen Vernunft befreit ist und sich von den Beschränkungen einer einzigen Rationalität emanzipieren kann. Habermas sieht diesen Zusammenhang: »Die Umstellung des Handelns auf Steuerungsmedien erscheint deshalb aus der Lebensweltperspektive sowohl als eine Entlastung von Kommunikationsaufwand und -risiko, wie auch als eine Konditionierung von Entscheidungen in erweiterten Kontingenzspielräumen, in diesem Sinne als eine Technisierung der Lebenswelt.«14 Anstatt dies als Erweiterung von Freiheitsräumen zu verstehen, sieht er nur die negativen Folgen für die Lebenswelt. Mit der etwas unglücklichen Gegenüberstellung von System und Lebenswelt setzt Habermas eine Kritik der Systemtheorie fort, die ebenso irreführend wie plakativ als Gegenüberstellung von »Gesellschaftstheorie und Sozialtechnologie« begonnen hat.15 Sie setzt sich fort in eine ebenso fehlgeleitete Kritik der Steuerungsmedien, wenn Habermas postuliert: »Die symbolischen Strukturen der Lebenswelt können sich allein über 14 | Ebd., S. 273. (Kursiv im Original). 15 | Jürgen Habermas, Niklas Luhmann (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt 1971.

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das Grundmedium verständigungsorientierten Handelns reproduzieren« und: »Diese Medien versagen in Bereichen der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation; sie können den handlungskoordinierenden Mechanismus der Verständigung in diesen Funktionen nicht ersetzen.«16 Eine Begründung für diese Behauptung fehlt und dies verstärkt den Verdacht, dass die Lebenswelt und ihre »symbolischen Strukturen« eine vergangene Idylle meinen, deren Verlust beklagt wird ohne zu sehen, dass moderne Gesellschaften diese Lebenswelt keineswegs in Technisierung und Deformation auflösen, sondern die Leistungen der kulturellen Reproduktion, der Sozialisation und der sozialen Integration unter völlig veränderten Bedingungen hyperkomplexer und multikultureller Systeme entsprechend vielschichtig und differenziert erbringen  – und dabei Freiheitsgrade zulassen, die in vormodernen Gesellschaften undenkbar wären. Die Auflösung einer mythischen Lebenswelt bedeutet in der Sicht einer systemischen Gesellschaftstheorie ein Zugewinn an Freiheitsgraden und Entfaltungsmöglichkeiten für Personen und Systeme. Für das mythische Denken ist die Einheit der Symbolsysteme konstitutiv, während moderne, funktional differenzierte Gesellschaften diese Einheit in eine Vielzahl unterschiedlicher Symbolsysteme mit je eigener Logik und Operationsform auflösen und damit Vielfalt und Kontingenz einbauen. Damit wird die Einheit der Gesellschaft selbst zum Mythos, weil sich in der Moderne im Prozess der Rationalisierung alle Mythen der Einheit in Differenz auflösen. Es ist dann zu beobachten, dass alle großen Einheiten, die Einheit von Gott, Sinn, Geist, Natur, Geschichte, Staat oder Gesellschaft, ebenso wie die Einheit des Denkens, der Sprache und der Kommunikation Imaginationen darstellen, die auf beiden Seiten ihrer konstituierenden Differenz Mythen der Wiederherstellung von Einheit in sich bergen, die nur als Imagination Geltung haben und daher unkontrollierbar werden. Die Imagination von Einheit durchzieht alle übergreifenden Formen von Sinn, alle großen Entwürfe des Bewusstseins und der Kommunikation. Sie ist notwendig, weil sie nicht möglich ist.17 Niemand kann die Einheit Gottes oder der Natur, der Macht oder des Geldes begründen. Also 16 | Habermas, Kommunikatives Handeln, S. 391 und S. 476. 17 | »Die Einheit der Welt ist unerreichbar, sie ist weder Summe, noch Aggregat, noch Geist.« Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 51. »Denn für alle differenztheoretischen Analysen ist Identität ein eher beunru-

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müssen auch die größten Geister diese Einheit imaginieren. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn diese Imaginationen nicht die fatale Eigenschaft hätten, sich unsichtbar zu machen, ihre zweifelhafte Herkunft zu verschleiern, sich über kurz oder lang als Gewissheiten auszugeben und damit die Fatalität des Ganzen dem einfachen Beobachten zu entziehen.18 Immer geht es darum, die gewöhnlichen, »für endliches Erkennen stets lückenhafte(n) Ordnungsofferten durch ultimate Ordnungsgarantien«19 zu überhöhen.20 In diesem Sinne ist die Imagination einer einheitlichen Lebenswelt mit einer einheitlichen kulturellen Reproduktion und Sozialisation nur noch Mythos in einer Welt und einer Gesellschaft, die von Differenzen und Differenzierung beherrscht werden. Selbst Sprache lässt sich nicht mehr als Einheit verstehen. Trotz der Bemühungen Saussures, die Sprache als autonomes Zeichensystem zu ergründen, kann er sich letztlich der Einsicht nicht verschließen, dass sie sich nicht als einheitliches System darstellen lässt: Das einzelne Zeichen, das semiologische Individuum ist gekennzeichnet durch »die Unfähigkeit, eine sichere Identität zu bewahren«, es ist nicht nur »eine mehr oder weniger fragile Schöpfung: sondern eine radikal eines Einheitsprinzips entbehrende Schöpfung […] Wir bestreiten, dass die Sprache {langue} etwas Einheitliches {une chose unie} sei […]«.21 Nur in der Reflexion wird die (imaginierte) Einheit des Systems noch sichtbar. So definiert Luhmann Reflexion als die Fähigkeit eines Systems zu Operationen, in denen »die Einheit des Systems für Teile des Systems – seien es Teilsysteme, Teilprozesse, gelegentliche Akte – zugänglich wird. Reflexion ist insofern eine Form der Partizipation. Ein higendes Konzept.« Ders., »Die Sinnform Religion«, in: Soziale Systeme 2 (1996), S. 3–33, hier S. 13. 18 | »Wie die Rechenmaschine arbeitet das Gehirn wahrscheinlich nach einer Variante des berühmten Prinzips, das Lewis Caroll in ›The Hunting of the Snark‹ erklärt: »Was ich dreimal sage, ist wahr.« Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung der Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien 1963, S. 180. 19 | Hans Joachim Piechotta, »Ordnung als mythologisches Zitat. Adalbert Stifter und der Mythos«, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne, Frankfurt a. M. 1983, S. 83–110, S. 84, hier mit Bezug auf Adalbert Stifter. 20 | Willke, Symbolische Systeme, S. 204. 21 | Saussure, Linguistik und Semiologie, S. 161 und 211.

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Teil kann das Ganze zwar nicht sein, kann es aber thematisieren, indem er es sinnhaft identifiziert und auf eine ausgegrenzte Umwelt bezieht«22 . Der Verlust der Einheit trifft auch die Freiheit. Es erscheint nicht mehr angemessen, von der einen ganzen Freiheit zu sprechen. Auch Freiheit ist im Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung zu einem in Differenzen verteilten und aufgesplitterten Konstrukt geworden, in dem interne Widersprüche, Dissonanzen und Aporien unvermeidlich sind.23 Freiheit weitet sich zu einer komplexen Konstellation aus, die viele neue Räume schafft, aber auch zu Kompromissen zwingt und zu Konflikten führt. Anstelle des von Habermas diagnostizierten »Sinn- und Freiheitsverlustes«24 durch Rationalisierung und die Ausbildung spezialisierter Funktionssysteme zeigt die Praxis moderner Demokratien eine substantielle Ausweitung von Freiheitsräumen in Form von Kontingenzen und Optionen – nicht zuletzt auch in der Form materieller Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten, die in anderen Gesellschaftsformen auch nicht annähernd gegeben sind. Damit soll nicht abgedunkelt werden, dass die neuen Freiheitsräume gebrochen sind durch soziale und ökonomische Ungleichheiten, Machtunterschiede und ungleiche Einflusschancen. Chancengleichheit herzustellen oder zumindest zu verbessern, bleibt eine Aufgabe von höchster Bedeutung und Konsequenz für die Freiheit – allerdings Chancengleichheit nicht durch die Wiederbelebung einer untergegangenen Lebenswelt, sondern durch eine Stärkung der Demokratie.

22 | Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 73. 23 | Dies sieht bereits John Stuart Mill klar: »Solche Interessenkonflikte zwischen Individuen entstehen häufig durch schlechte soziale Institutionen, sind aber, solange die Institutionen fortbestehen, unvermeidlich – und manche Konflikte sind unvermeidlich, so gut die Institutionen auch sein mögen. Wer auch immer sich in einem überlaufenen Berufsfeld oder einer kompetitiven Prüfung durchsetzt, kurzum: wer auch immer in einem Wettbewerb um eine Sache, die Mehrere begehren, den Anderen vorgezogen wird, erntet den Gewinn vom Verlust der Anderen, ihrer vergeudeten Anstrengung und ihrer Enttäuschung. Dennoch ist es, so der allgemeine Konsens, das Beste für das allgemeine Interesse der Menschheit, wenn die Leute ohne Schrecken vor solcherlei Konsequenzen ihre Ziele verfolgen.« Mill, On Liberty, S. 86–87. 24 | Habermas, Kommunikatives Handeln, S. 488.

7 Freiheit in Zeiten der Konfusion

Die klassische Freiheitstheorie zielte auf eine liberale, d. h. befreite Gesellschaft, befreit von den Oppressionen der alten Regime, von Kirche, Despoten und absolutistischem Staat. Erst das Ende dieser Institutionen der Unterdrückung eröffnete für die Menschen die Räume, in denen sich Freiheit als persönliche Freiheit entwickeln konnte. Schon ganz am Anfang der liberalen Gesellschaft geht es um ein Zusammenspiel institutioneller und personaler Faktoren, und eine genauere Betrachtung zeigt, dass auch für Hobbes, Mill, Tocqueville, Montesquieu oder Locke Freiheit genau deshalb eine komplexe Konstruktion war, weil immer schon institutionelle und personale Faktoren in einem rekursiven Wechselspiel den Raum für Freiheit definiert haben.1 In seinem bemerkenswerten Buch Gerechte Freiheit entwirft Philip Pettit das Panorama einer republikanisch und kosmopolitisch gedachten Freiheit. Für ihn ist Freiheit im Kern dadurch definiert, dass eine Person von keiner anderen Person oder Macht beherrscht wird. »Freiheit in der Auswahl verschiedener Optionen verlangt, dass jede Form der Kontrolle durch andere vermieden wird.«2 Dies ist zwar primär von der Person aus und individualistisch gedacht, schließt aber sukzessive in der Breite eines komplexeren Freiheitsbegriffs alle Mitglieder einer Gesellschaft als prinzipiell Gleiche ein, und in der Tiefe strukturelle und institutionelle Komponenten einer Gesellschaft, die zwingend demokratisch sein muss, um die von Pettit entworfene Form der Freiheit gewährleisten zu können. Der 1 | Insbesondere für Hobbes siehe dazu Quentin Skinner, Freiheit und Pflicht – Thomas Hobbes’ politische Theorie, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2005, aus dem Englischen von Karin Wördemann, Frankfurt a. M. 2005, S. 11: »Mein Ziel besteht im Wesentlichen darin, eine Interpretation von Hobbes’ Theorie der menschlichen Freiheit vorzulegen.« 2 | Pettit, Gerechte Freiheit, S. 3.

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Auf bau des Buches zeigt, dass Pettit Freiheit von der Person ausgehend konzipiert, die allen anderen Personen auf Augenhöhe in einer Konstellation begegnen soll, in der niemand Kontrolle über andere ausübt oder andere beherrscht. Erst danach werden gesellschaftliche Institutionen überhaupt eingespielt und die herrschaftsfrei konzipierte Freiheit mit den drei zentralen institutionellen gesellschaftlichen Formen der Gerechtigkeit, der Demokratie und der Souveränität in Beziehungen gesetzt. Diese Konstruktion führt zu einem kleineren und einem größeren Problem. Das kleinere hat damit zu tun, dass die institutionelle Einbettung der Freiheit aufgesetzt erscheint, so als wären Gerechtigkeit, Demokratie und Souveränität Folgen der Freiheit. Pettit sieht sehr wohl, dass individuelle Freiheit auch von öffentlich verfügbaren Ressourcen und öffentlich garantiertem Schutz abhängt,3 doch bleibt der Zusammenhang ungeklärt und die Argumentation philosophisch statt politisch. Er betont immer wieder, dass Freiheit einer Person darin besteht, nicht von irgendjemand dominiert zu werden, nicht unter der Dominanz einer anderen Person zu leben (sein exemplarischer Fall ist die Situation von Nora in Henrik Ibsens Drama »Nora oder ein Puppenheim«, die nicht frei sei, weil sie unter dem dominanten Einfluss ihres Mannes Torvald lebt). Aber diese Argumentation ist wenig überzeugend. Denn die wichtigste Voraussetzung für die Freiheit Noras ist eine rechtliche: die Gleichstellung der Frau. Wenn diese gegeben ist, dann kann aus den verschiedensten psychologischen und sonstigen Gründen eine Frau immer noch unter der Knute ihres Mannes leiden – das ist dann nicht ein Problem der Freiheit, und schon gar kein Problem der Freiheitstheorie, sondern ein Problem der Durchsetzung von geltendem Recht. Darüber hinaus ist »Herrschaftsfreiheit« in der Demokratie eine problematische Kategorie, denn selbstverständlich herrscht die Mehrheit über die Minderheit, und die unterlegene Minderheit muss sich den politischen Entscheidungen der Mehrheit fügen. Dabei gibt es Grenzen, vor allem Minderheitenschutz und Grundrechte, aber genau in dieser Modulierung der Freiheit selbst noch durch die Herrschaftsform der Demokratie erweist sich, dass die Vorstellung einer Freiheit ohne Herrschaft oder Dominanz weder hilfreich noch sinnvoll ist.4

3 | Ebd., S. 62. 4 | So auch Stehr, Freiheit, S. 27.

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Vor allem aber übersieht Pettit, dass das wichtigste Institut der Demokratie, das Wahlrecht, gerade darin besonders ist, dass es erlaubt, Herrschaft über andere auszuüben.5 Herrschaft und Freiheit schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander in Demokratien im Allgemeinen, in komplexen Gesellschaften im Besonderen. Bei Pettit fehlt eine gesellschaftstheoretisch begründete Einbeziehung der Voraussetzungen für Gerechtigkeit in hochkomplexen Gesellschaften, es fehlt eine Einsicht in die Schwächen der Steuerungskompetenz der Demokratie, und es fehlt eine Reflexion der teilweisen Auflösung nationalstaatlicher Souveränität durch globale Dynamiken. Diese Mängel führen zu einem größeren Problem. Denn indem er die nach wie vor nationalstaatlich organisierten gesellschaftlichen Institutionen der Einbettung der Freiheit – Gerechtigkeit, Demokratie und Souveränität – nur als Rahmenfaktoren wertet und nicht wirklich ernst nimmt, fällt es ihm leicht, diese gesellschaftliche Ebene geradezu zu überspringen und seine Konzeption von Freiheit stattdessen gleich für die Welt insgesamt, für ein globales Reich der Freiheit zu reklamieren. Das ist moralisch  – und es geht ihm um einen moralischen Kompass – hochherzig gedacht, aber irreal und politisch abwegig. Angesichts der schreienden Ungerechtigkeiten in allen Winkeln der Welt, der aggressiven Ablehnung von Demokratie in vielen Teilen der Welt, sowie der Halbierung der Souveränität durch globale Interdependenzen grenzt es schon an Zynismus, Freiheit auf globalisierte Gerechtigkeit, Demokratie und Souveränität gründen zu wollen. Es wimmelt in diesen Teilen des Buches von völlig abwegigen Annahmen oder Forderungen, etwa der, dass Staaten zur Hilfe verpflichtet wären, wenn es anderen Staaten »schlecht ginge«.6 Pettit behandelt Staaten wie Personen und mutet ihnen moralische Qualitäten zu,7 wenn es bestenfalls um geregelte Austauschbeziehungen im Rahmen institutionell verfestigter kollektiver Interessen und Egoismen geht. Gegenüber diesem idealistisch moralischen Ansatz geht es mir darum, Freiheit als System-Ethik zu rekonstruieren. Als komplexes Konstrukt umfasst Freiheit bereits in der Grundausstattung, (also von vornherein und nicht erst, wenn die Individuen bemerken, dass sie auch in 5 | Brennan, Against Democracy, 2016a, S. 2. 6 | Pettit, Gerechte Freiheit, S. 154. 7 | Siehe zur Kritik der moralischen Argumentation Lionel Trilling, The Moral Obligation to be Intelligent – Selected Essays, Hg. von Leon Wieseltier, New York 2000.

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Gesellschaft leben), eine institutionelle Komponente darin, dass sie nur in einer bestimmten Form von Gesellschaft möglich ist. In einer Theokratie ist individuelle Freiheit ebenso illusionär wie in einem archaischen Dorf. Genau in diesem Sinne ist Demokratie Voraussetzung und konstitutives Moment jeder Freiheit  – auch der begrenzten und regulierten Autonomieräume und Freiheiten der eigensinnigen Funktionssysteme. Freiheit außerhalb von Gesellschaft gilt vielleicht für Robinsone oder Eremiten; aber diese leben mit ihren Göttern und jene nur in Märchen. Im realen Leben ist jede Person gesellschaftlich eingebunden, was immer die jeweilige Form von Gesellschaft ist. Freiheit hängt daher immer auch von den Qualitäten einer gegebenen Gesellschaft ab, und nur Demokratie als Form der politischen Steuerung einer Gesellschaft macht Mündigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der Bürger zum verpflichtenden und einklagbaren Programm. Sie stellt den Rahmen zur Verfügung, in dem eine »Beherrschung« von Menschen durch Religionen, Despoten, autoritäre Regime oder Ideologien institutionell ausgeschlossen ist und schafft damit die entscheidende Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Dann ist die Beherrschung durch den Ehepartner zwar immer noch möglich, aber es ist dann kein Thema der Freiheitstheorie, sondern eines für Psychologie und Eheberatung. Nimmt man ernst, dass Freiheit durch die Qualitäten einer bestimmten Gesellschaftsformation weit nachhaltiger gestaltet und ausgestaltet ist als durch moralische Kategorien, dann kommen für eine Revision der Freiheitstheorie insbesondere die Merkmale gegenwärtiger Demokratien ins Spiel, die Antworten auf die Herausforderungen von Globalisierung, Digitalisierung und Wissensgesellschaft sind. In diesen drei Dimensionen unterscheiden sich die Demokratien der globalisierten Moderne von den Gesellschaften der demokratischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts. Alle drei Momente schlagen auf die Formen und Operationsbedingungen der Institutionen der Demokratie durch und werden so unmittelbar für die Räume möglicher Freiheit relevant. Die gegenwärtige Phase der Globalisierung bedeutet neue Abhängigkeiten und Begrenzungen der Freiheit, weil Gesellschaften insgesamt von einer neuen, technologisch unterfütterten Qualität ungesteuerter globaler Dynamiken zu Anpassungen und zu Maßnahmen gezwungen werden können, die sie freiwillig und selbstbestimmt nicht ergreifen würden. Digitalisierung bedeutet eine paradoxe Entgrenzung von Freiheit, weil Personen massenhaft zu einer freiwilligen Aufgabe von Freiheitsmomenten verführt werden. Und

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schließlich führt die Formierung der Wissensgesellschaft zu einer Verfestigung von sozialen Ungleichheiten mit Folgen für die Ausstattung mit freiheitssichernden Ressourcen, indem zur Ungleichheit der Vermögen nun eine ausgeprägte Ungleichheit von Wissen und Expertise hinzukommt. Im Zusammenspiel verändern diese drei Momente die Welt in Richtung einer globalisierten Wissensgesellschaft. Für diese Welt ist ein moralischer Kompass wenig hilfreich und noch weniger wirksam.8 Vielmehr benötigt die neue Welt eine strategische Orientierung für einen Umgang mit Hyperkomplexität und Nichtwissen, welcher vermeidet, Freiheit und Demokratie zu gefährden, und welcher stattdessen, im optimalen Fall, Freiheit und Demokratie stärkt. Voraussichtlich ist schon die erste Aufgabe, Freiheit nicht dem Management der Hyperkomplexität zu opfern, schwierig genug. Ein simplifizierender Populismus auf der einen Seite, eine Entwicklung zu autoritären Regimen in vielen Ländern auf der anderen Seite belegen, dass der Überforderung durch Komplexität oft genug damit begegnet wird, dass »störende« Freiheiten eingeschränkt werden. Weil Freiheit darauf gerichtet ist, Optionen zu erweitern und neue Möglichkeitsräume zu öffnen, ist Freiheit ein erstes Opfer aller »schrecklichen Vereinfacher«,9 die einer nicht beherrschbar erscheinenden Komplexität mit der Beherrschung von Menschen begegnen wollen. Eine ebenso beredte wie tragische Illustration bietet die Migrationsproblematik in vielen europäischen Ländern. Viele Bürger, Kommunen und staatliche Institutionen waren schnell überwältigt von den Anforderungen eines plötzlichen Ansturms von Migranten und reagierten mit Vereinfachungen und Abwehr, die auf eine Bedrohung von Freiheitsmomenten sowohl der Migranten wie auch derjenigen Bürger hinauslief, die den Migranten helfen wollten. Es geht hier nicht um Details der Migrationsproblematik, sondern um den Mechanismus der Freiheitsgefährdung durch eine Überforderung von Personen und Institutionen mit Komplexität. Die Quellen überwältigender Komplexität können sehr unterschiedlich sein, aber sie alle hängen mit Veränderungen der Welt in Richtung auf eine

8 | Es lässt sich begründen, dass Präsident Obamas Regierungsstil dem Versuch einer moralischen Orientierung nahekam, und er folgerichtig weitgehend an institutionellen Realitäten und Machtstrukturen gescheitert ist. 9 | Der Ausdruck »terribles simplificateurs« wird Jacob Burckhardt zugeschrieben.

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durch Globalisierung und Digitalisierung geprägte Wissensgesellschaft zusammen. Für die alte Welt war die Lernfähigkeit der Demokratie nicht nur ausreichend, sondern, wie Lindblom gezeigt hat, vorbildlich und allen anderen politischen Steuerungsregimen überlegen.10 Diese Welt und diese Sicherheit gibt es nicht mehr. Die Demokratie sieht sich zum einen durch das erfolgreiche chinesische Modell autoritärer politischer Steuerung herausgefordert, grundlegender und langfristiger aber wohl dadurch, dass globale Interdependenzen, systemische Risiken und Systemkrisen, sowie eine zunehmende Wissensabhängigkeit aller politischen Entscheidungen eine konstitutive Figur des Demokratiemodells ins Wanken bringen, nämlich den vernünftigen und verständigen Bürger, der in der Lage ist, sich durch Diskurs und Reflexion eine politische Meinung zu bilden und politisch relevant zu kommunizieren. Wenn die unterstellte Vernünftigkeit politischer Meinungsbildung und Kommunikationsfreiheit in Wirklichkeit bloße Fiktion ist, weil nur noch Spezialisten in ihren jeweiligen Fachgebieten über die erforderliche Vernunft verfügen, niemand aber mehr über das umfassende Wissen, das eine allgemeine Vernunft voraussetzen würde, dann gerät die Demokratie ins Schlingern und muss sich Fiktionalität und Scheinheiligkeit vorwerfen lassen. Wohlgemerkt: Dies betrifft nicht alle Fragen und Politikfelder, weil es nach wie vor Themen gibt, für die keine Spezialkenntnisse erforderlich sind, um mitreden und mitentscheiden zu können. Die Frage ist, welche Revisionen der Demokratie als notwendig erscheinen, um das Dilemma von Partizipation und Effektivität in den komplexen Problemfeldern aufzulösen, in denen differenzierte Expertise unabdingbar ist, um »vernünftig« mitreden zu können.11 Antworten auf dieser Frage sind für eine Freiheitstheorie relevant, weil Beschränkungen der Partizipation offensichtlich Einschränkungen von Freiheit bedeuten, und andererseits eine verbesserte Effektivität gerade in schwierigen und drängenden Problemfeldern Freiheitsräume öffnen, so dass alle Revisionen auf Abwägungen möglicher Verluste und möglicher Gewinne an Freiheit hinauslaufen.

10 | Lindblom, Intelligence of Democracy. 11 | Ausführlich dazu Alfred Moore, Critical Elitism: Deliberation, Democracy, and the Problem of Expertise. Cambridge 2017.

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Von den Konfusionen der Gegenwart ist die gravierendste wohl die Verwirrung um die Rolle des Nationalstaates in einer globalisierten Welt. Zwar ist die Rolle der Nationalstaaten noch lange nicht zu Ende gespielt,12 doch sie haben aufgrund globaler Zusammenhänge und Abhängigkeiten deutlich an Gewicht und Steuerungskompetenz verloren. Sie befinden sich damit in einer Zwickmühle zwischen steigenden Ansprüchen der Bürger an staatliche Leistungen und Effektivität einerseits und schwindendem Einfluss auf die großen globalen Probleme und Herausforderungen andererseits. Für die Demokratien unter den Nationalstaaten (grob gesprochen die OECD-Staaten) bewirkt dieses Dilemma ein zunehmend erratisches Pendeln zwischen Globalisierungseuphorie und isolationistischem Kleinmut. Ähnlich gravierend sind die Folgen für die Praxis demokratischer Freiheiten. Ein illustratives Beispiel ist der Fall einer protektionistischen Wirtschaftspolitik. Schützt ein Staat bestimmte Unternehmen oder einen Industriesektor vor ausländischer Konkurrenz (z. B. Frankreich seine Energieindustrie, die USA ihre fortgeschrittene Halbleiterindustrie13, Griechenland den öffentlichen Dienst oder Deutschland den Agrarsektor), so erhöht dies die Freiheitsgrade für die dort Beschäftigten und verringert die Wahlmöglichkeiten von Konsumenten auf den jeweiligen Märkten, auf denen dann billigere ausländische Produkte nicht angeboten werden. Der Nutzen in den protegierten Sektoren ist jedoch kurzfristiger Natur. Auf mittlere Sicht untergräbt Protektionismus in einer globalisierten Welt die Wettbewerbsfähigkeit der geschützten Unternehmen, behindert die effiziente Nutzung von Produktionsfaktoren und schafft so ökonomische und sozialpolitische Probleme, die verschiedene Aspekte von Freiheit beeinträchtigen können. Nimmt man hinzu, dass eine protektionistische Wirtschaftspolitik manchmal auch dem Schutz gegen ausländische Dumping-Angebote dienen soll und deswegen zwar populistisch attraktiv, gleichzeitig aber ökonomisch kurzsichtig und destruktiv ist,14 dann ergibt sich ein Bild mehrdimensionaler Konfusion. 12 | Entgegen Jean-Marie Guéhenno, The End of the Nation-state, Minneapolis, London 1995. Kenichi Ohmae, The End of the Nation State: the Rise of Regional Economies, New York 1995. 13 | Siehe dazu Helmut Willke u. a., Benevolent Conspiracies. The Role of Enabling Technologies in the Welfare of Nations, Berlin, New York 1995. 14 | Wie Caplan, Myth of the Rational Voter, ausführlich darlegt.

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Der Nationalstaat ist – und bleibt für eine lange Zeit – die einzige Instanz,15 die in der Lage und im Fall der Demokratien legitimiert ist, Freiheitsrechte wirksam zu schützen. Auch in transnationalen und internationalen Beziehungen ist er die Instanz, die Vereinbarungen implementiert und mit dem Monopol legitimer Gewaltausübung den Schutz von Freiheitsräumen erzwingen kann. Eine Schwächung des Nationalstaates aufgrund globaler Abhängigkeiten bedeutet konkret, dass er gerade in wichtigen Fragen nicht mehr isoliert und souverän entscheiden kann, sondern nur noch durch aufwändige Kooperationen und Abstimmungen mit anderen Akteuren. Es liegt nahe, dass dies das Ansehen der (nationalstaatlichen) Politik und der Demokratie als ihr Steuerungsregime beschädigt und auf längere Sicht das Vertrauen der Bürger in die Leistungsfähigkeit der Demokratie erschüttert. Zu diesem wenig optimistischen Bild trägt eine den Globalisierungsprozess kennzeichnende Konfusion bei. Sie ist besonders folgenreich, weil sie nicht aus den Beziehungen interdependenter Nationalstaaten resultiert, sondern aus der internen Dynamik der Nationalstaaten selbst. Man muss sich den Prozess der Globalisierung im Kern so vorstellen, dass die Funktionssysteme moderner, funktional differenzierter Nationalstaaten, die sich in einem historischen Prozess der »okzidentalen Rationalisierung« (Max Weber) herausgebildet haben, nun den Rahmen ihrer Muttergesellschaften sprengen und sich auf globaler Ebene zu »lateralen Weltsystemen«16 zusammenschließen. Die Konzeption lateraler Weltsysteme verweist darauf, dass die großen Funktionssysteme (insbesondere Ökonomie, Finanzen, Wissenschaft, Gesundheit, Kunst, Massenmedien, Erziehung etc.) aus den territorialen Bindungen des Nationalstaates ausbrechen und sich zu globalen Kontexten vernetzen. Ihre jeweilige Eigendynamik und Eigenlogik prägt ihre Operationsweise nachhaltiger als die (bisherige) Anbindung an die Muttergesellschaften. Sie orientieren sich weg von den Rücksichten auf ihre nationalen Ursprungssysteme und hin 15 | Sieht man von den gewichtigen, aber sehr eng definierten Eingriffsrechten des Sicherheitsrates der UN ab. Wie abhängig die UNO ist zeigt ein Vorfall im Juni 2016: Sie hatte Saudi-Arabien aufgrund der gegen Kinder bestialischen Kriegsführung im Yemen auf die »List of Shame« gesetzt, innerhalb einer Woche das Land aber aufgrund von Drohung mit dem Entzug von Beiträgen wieder gestrichen. 16 | Willke, Atopia, Kap. 3.3.; ders, Regieren, S. 84–86.

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zu einer eigensinnigen operativ geschlossener Optimierung ihrer je eigenen Logik. Die Folgen sind globale Konkurrenz, Outsourcing, De-Industrialisierung der Ersten Welt, Deregulierung, Privatisierung und insgesamt eine Schwächung der Steuerungsfähigkeit staatlicher Akteure und Instanzen. Paradigmatisch dafür kann das globale Finanzsystem stehen, das sich seit dem Ende der Bretton-Woods-Ära und seit Reagan und Thatcher weitgehend von nationalstaatlichen Bindungen und Regulierungen befreit hat und am Ende in seiner Eigenmächtigkeit zu einer ernsthaften Bedrohung der Wirtschafts- und Finanzsysteme vieler Nationalstaaten geworden ist. Anstatt sich in den Rahmen der Nationalstaaten einzupassen, setzen die Funktionssysteme als laterale Weltsysteme noch stärker auf Selbststeuerung als sie dies bislang schon tun. Anstatt ihre Rahmenbedingungen von einer nationalstaatlich organisierten Politik zu beziehen, könnten sie einen Großteil dieser Kontextparameter in wechselseitiger Abstimmung selbst schaffen und sich dadurch aus der Vormundschaft der Politik emanzipieren. Dies gilt umso mehr als die Funktionssysteme bereits weit aus dem Schatten der Politik heraus getreten sind. Sie haben eigene Kompetenzen entwickelt und vertreten eigene Interessen. Sie verstehen ihr eigenes Geschäft besser als die Politik und sie zeigen sich zunehmend unwillig, die Interventionen und Steuerungsversuche der Politik zu akzeptieren und umzusetzen. Bereits seit den 1970er Jahren wird dies unter den Stichworten der Implementationsprobleme17 und der Grenzen des Regierens18 thematisiert. Mit der Globalisierung kommt hinzu, dass die Funktionssysteme ins Globale ausweichen und sich somit gezielt dem Einfluss und dem regulierenden Zugriff nationalstaatlicher Politik entziehen können. Dies schließt oft die Flucht aus der (nationalstaatlich normierten) Verantwortung für die Wahrung von Freiheitsrechten mit ein. Vor allem Arbeitsschutzrechte, Umweltschutzrechte und soziale Leistungsrechte können damit umgangen werden – und werden gelegentlich

17 | Dazu Renate Mayntz, »Zur Einleitung: Probleme der Theoriebildung in der Implementationsforschung«, in: dies. (Hg.), Implementation politischer Programme II. Ansätze zur Theoriebildung, Opladen 1983. 18 | Susan Strange, »The Limits of Politics«, in: Government and opposition 30 (1995), S. 291–311.

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mühsam über »Global Compact«19 und Projekte der »Corporate Social Responsibility«20 wieder reaktiviert. Laterale Weltsysteme wie die Weltwirtschaft, das globale Finanzsystem, Sportsystem, Mediensystem, Forschungssystem, die globale PopKultur, globaler Tourismus und Logistik, globale Infrastrukturen oder das globale Gesundheitssystem sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Rahmen und im Schutz des Nationalstaates »groß geworden« sind. Sie sind durch internationale Verträge zwischen ihren Mitgliedern entstanden, weil sie als übergreifende Institutionen mit der Kompetenz, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, für die Mitglieder Vorteile versprachen. Beispielhaft gilt dies für die WTO, bei welcher etwa Russland oder China sich jahrelang bemüht haben, Mitglieder zu werden, weil sie für sich erhebliche Vorteile davon erwarten haben. Aber die Organisationen innerhalb der lateralen Weltsysteme  – also etwa die Banken im globalen Finanzsystem oder die Firmen im globalen Wirtschaftssystem – sind von ihrer je eigenen Logik her nicht an den Nationalstaat gebunden, sondern können sogar vor dem Hintergrund funktionierender Nationalstaaten im globalen Raum freier und unregulierter operieren. Die Organisationen der lateralen Weltsysteme können sich dort niederlassen, wo sie durch Auflagen, Regulierung und Kontrolle am wenigsten gestört werden. Die Spitze des Eisberges sind die billigsten Produktionsstandorte, die Steuerparadiese und die Namen auf der Liste der »Panama Papers«. Die einzige Ausnahme von dieser Flucht ins Globale ist das politische System der Nationalstaaten. Politik und Demokratie sind territorial gebunden. Die Funktion des politischen Systems für eine (funktional differenzierte) Gesellschaft besteht darin, die erforderlichen kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Daher muss das »Kollektiv« abgrenzbar und bezeichenbar sein, für welches die Entscheidungen gelten sollen. Die EU ist der (einzige) Sonderfall einer supranationalen Einheit, in der Nationalstaaten einige ihrer Hoheitsrechte an die Gemeinschaft abgegeben haben, allerdings beileibe nicht alle. Daher bleibt die EU eine prekäre Konstruktion, die nicht zufällig seit einiger Zeit umstritten und in interne Streitigkeiten verstrickt ist. Im Zuge zu19 | Georg Kell, »The UN Global Compact: Moving the Business Mainstream. Interview by PriceWaterhouseCoopers«, in: PwC: The Corporate Responsibility Report II (2005). Verfügbar unter: www.unglobalcompact.org; letzter Zugriff 10.11.2016. 20 | Willke, Willke, Corporate Moral Legitimacy.

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nehmender Globalisierung sehen sich die Demokratien daher zwei komplementären Schwierigkeiten ausgesetzt. Extern droht ihnen durch globale Abhängigkeiten die Gefahr, nachrangig oder gar in wichtigen Fragen irrelevant zu sein, weil die großen Entscheidungen in globalen Institutionen, internationalen Gremien oder auf G-20/G-7-Gipfeln entschieden werden. Intern verlieren sie Einfluss und Steuerungskompetenz, weil die Akteure und Organisationen der Funktionssysteme sich stärker an den Regeln und Bedingungen der lateralen Weltsysteme orientieren als an nationalstaatlichen Vorgaben und Steuerungsversuchen. Faktisch hat sich ein umgekehrter Protektionismus etabliert, in dem Firmen staatliche Auflagen und Regeln dadurch aushebeln, dass sie damit drohen, ins Ausland zu verlagern, den Firmensitz in Steueroasen zu verlegen oder sich gleich unter das Dach einer internationalen Holding zu begeben. Wenn Freiheit abhängt von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Allgemeinen und von Stärke und Ausgestaltung der Demokratie im Besonderen, dann erzeugt eine globalisierte Moderne erhebliche Konfusionen für Theorie und Praxis der Freiheit. Da nationalstaatliche, transnationale und globale Ebenen ineinander fließen, entstehen Konfusionen sowohl hinsichtlich der Reichweite wie auch des Schutzes von Freiheitsräumen. Schlicht anzunehmen, dass Freiheit sich ins Globale fortsetzt, wie Pettit das tut,21 ist nicht nur zu optimistisch, sondern verkennt, dass sowohl auf der internationalen wie auch auf der globalen Ebene, sieht man von den sehr engen Eingriffsmöglichkeiten des Sicherheitsrates der UN ab, alle Voraussetzungen für die Sicherung von Freiheitsrechten fehlen. Staaten handeln nicht altruistisch, sondern bestenfalls im Sinne eines aufgeklärten Egoismus, wenn sie ihr Eigeninteresse mit etwas Weitsicht 21 | Kritisch daher zurecht James Bohman, »Buchbesprechung – Just Freedom: A Moral Compass for a Complex World by Philip Pettit«, in: Ethics and International Affairs (2014). Verfügbar unter: https://www.ethicsandinternationalaffairs. org/2014/just-freedom-a-moral-compass-for-a-complex-world-by-philip-pet​ tit/, letzter Zugriff 10.11.2016: »Die USA beispielsweise erfüllen nicht einmal ihre Verpflichtungen gegenüber den Verarmten unter den eigenen Staatsbürgern (von den Bürgern anderer Staaten brauchen wir erst gar nicht anfangen), genau wie auch die Europäische Union zugelassen hat, dass viele ihrer Bürger (wie zum Beispiel in Griechenland) ohne angemessene Gesundheitsversorgung leben. Es scheint jedenfalls angemessen zu sein, anzunehmen, dass der Grad der Freiheit im Angesicht dieser Behandlung von Mitbürgern mitunter eher oberflächlich ist.«

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verbinden. Wenn es der internationalen Gemeinschaft auch nach jahrelangen Verhandlungen nicht gelingt, sich auf Mindeststandards für den Schutz des globalen Klimas, der globalen Ökologie oder den Schutz der Weltmeere zu verständigen, wie soll dann ein Schutz von Freiheitsrechten auf globaler Ebene möglich sein?22 Während Pettit von einer »globalisierten Souveränität« spricht und eine kosmopolitische Expansion von Freiheit anvisiert, wirkt sich ganz im Gegenteil die Globalisierung vielfach als Bedrohung und Einschränkung von Freiheitsräumen aus, weil der Schutz, den Demokratien der Freiheit geben können, durch eine Flucht ins Globale ausgehöhlt oder gar unterlaufen werden kann. Diese Gefahr ist real, wie die Diskussionen um TTIP gezeigt haben, und betreffen vor allem soziale und arbeitsrechtliche Schutzrechte, aber auch Schutzrechte, die in Qualitätsstandards für Nahrungsmittel oder im Schutz vor genveränderten Pflanzen und Organismen festgelegt sind. Anstelle einer globalisierten Souveränität macht sich eine globale Solidarität der Großkonzerne und »global players« breit, die auch hoch korrupte und undemokratische transnationale Institutionen wie FIFA, IOC oder OPEC einschließt. Die Praxis der Freiheit wird durch die Konfusionen der Globalisierung also keineswegs gestärkt, sondern vielfach bedroht und unterwandert. Noch lange Zeit werden die Prozesse der Globalisierung geprägt sein von Positionskämpfen der regionalen Mächte, von Anstrengungen der Entwicklungsländer gegenüber den Etablierten aufzuholen, von einer Vertiefung globaler Ungleichheiten, vom Terror fundamentalistischer Globalisierungsgegner, von defensiven Strategien vieler Nationalstaaten, von Pandemien, die lokale Krankheitserreger in die Welt verteilen, und von weiteren Schreckensszenarien. Dies heißt nicht, dass es nicht auch positive und hoffnungsvolle Entwicklungen gäbe; aber blauäugig von einer Entwicklung zu globaler Freiheit auszugehen, ist zu viel an politischer Unbedarftheit. Eine Theorie der Freiheit muss auf die Konfusionen der Globalisierung reagieren, um relevant zu bleiben. In dem Maße, wie Globalisierung das politische Handeln der Demokratien beeinflusst, wirkt sich diese auch auf die Kontextuierung von Freiheit aus. Freiheit im Rahmen eines Mehrebenensystems von Steuerungsformen (»governance«), das vom Lokalen bis zum 22 | Pettit, Gerechte Freiheit, S. 154, fordert: Wenn »es Individuen in anderen Staaten nicht gut geht, dann haben andere Staaten eine gewisse Verpflichtung, ihnen zu helfen.«

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Globalen reicht, muss adäquat komplex23 aufgebaut sein und wird zwangläufig widersprüchliche Komponenten, Stärken und Schwächen, Antinomien und Aporien aufweisen. Selbst eine gut funktionierende Demokratie wird bestimmte Freiheitsräume ausbauen, andere dagegen zugunsten konkurrierender Werte wie Sicherheit oder Gerechtigkeit begrenzen müssen. Globale Großprobleme wie Klima oder Terror beeinträchtigen Freiheit in großflächiger Form, während andererseits fortschreitende ökonomische Entwicklung und Wertschöpfung erweiterte Freiheitsräume schaffen. Die Bilanz wird für verschiedene politische Regime, verschiedene Weltregionen oder verschiedene Entwicklungsstufen von Gesellschaft, und selbst noch für unterschiedliche soziale Schichten und Milieus innerhalb einer Gesellschaft, unterschiedlich aussehen, und insofern kommt es auf eine Architektur von Freiheit an, die auch angesichts hoher gesellschaftlicher Komplexität und Kontingenz Stabilität und Resilienz aufweist. Daher erscheint es nicht sinnvoll, Freiheit inhaltlich zu bestimmen, etwa als Herrschaftslosigkeit oder als frei von Beherrschung, was sowieso nirgendwo der Fall ist. Vielmehr zielt eine brauchbare Freiheitstheorie auf abstraktere Eigenschaften oder Prinzipien, die ein System und eine Konzeption von Freiheit auszeichnen müssen, wenn sie politische Strategien der Freiheitssicherung anleiten sollen. Freiheit lässt sich demnach nur noch prozedural bestimmen, als eine bestimmte Form des Umgangs mit den Herausforderungen und Behinderungen von Freiheit. Zentral sind dabei die Qualitäten des Komplexitätsmanagement und der Kontingenzkontrolle, wie in Kapitel fünf beschrieben. Am Ende geht es darum, in einem komplexer werdenden gesellschaftlich-politischen Kontext die je adäquaten Voraussetzungen zu schaffen für Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit und Kommunikationsfreiheit. Für die Freiheitstheorie ist diese Umstellung schwierig und ungewohnt, weil die Voraussetzungen primär prozedural und suprastrukturell konstruiert sein müssen,24 da inhaltliche Festlegungen sich aufgrund der komplexen Abwägungen und Aporien als immer weniger brauchbar erweisen. Verstärkt notwendig ist dies dann, wenn die Freiheit durch eine weitere Quelle großer Konfusion 23 | Dazu Ross Ashby, »Requisite Variety and its Implications for the Control of Complex Systems«, in: Cybernetica 1 (1958), S. 83–99. 24 | Was keineswegs Beliebigkeit heißt, denn mit den qualitativen Kategorien einer prozeduralen Rationalität, wie Gerechtigkeit, Fairness und Legitimität, sind anspruchsvolle Korridore für Optionen vorgegeben.

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herausgefordert wird – die Konfusion durch zu viel Wissen und zu viel Nichtwissen. Heute überblickt niemand mehr die Gesamtheit des Wissens oder auch nur die Gesamtheit des politisch relevanten Wissens. Die Überfülle an verfügbarem Wissen gebiert das komplementäre Nichtwissen. Alle, auch Fachleute, müssen sich in den meisten Hinsichten auf das Wissen Anderer verlassen. So verlassen sich Parlamentarier in den meisten Fragen auf das Wissen der Spezialisten in den Fachausschüssen, in den Fachverwaltungen oder in den Beratungsgremien. Sie delegieren Aspekte ihrer Meinungsfreiheit an Andere, weil sie mangels Wissen nicht zu allen Fragen eine eigene Meinung bilden können.25 Selbst Wissenschaftler in einem bestimmten Fachgebiet müssen sich in den meisten Fragen auf die Meinungen von Kolleginnen verlassen, weil niemand mehr die Fülle der Expertise in einer ganzen Disziplin beherrschen kann. Erst aus dem durch geordnete Verfahren organisierten Zusammenspiel der hochgradig verteilten Wissenspartikel ergibt sich das Wissen einer Disziplin, einer Fachgemeinschaft oder einer Praxeologie. Längst reicht hierfür personale Kommunikation nicht mehr aus, vielmehr wird das Zusammenspiel von einer Suprastruktur an institutionellen Faktoren – von Publikationen und Fachzeitschriften über Fachvereinigungen und Forschungsnetzwerken bis zu Universitätssystemen26  – organisiert und über das Kommunikationsmedium Wissen gesteuert. Bei der unvermeidlichen Parzellierung des Wissens bleiben Konfusionen nicht aus. Grenzüberschreitungen aller Art sind an der Tagesordnung. Journalisten verkünden den Untergang des Kapitalismus, Prediger den Untergang der Welt, Pegida-Anhänger den Untergang des abendländisch-christlichen Europas, und einige Wissenschaftler den Untergang des Globus durch den Klimawandel. Andere Konfusionen sind gravierender. Das politische System sieht sich an seinen Schnittstellen zu anderen Funktionssystemen immer wieder Grenzüberschreitungen ausgesetzt, die auf grundlegenden Konfusionen von Systemlogiken beruhen. Zwei 25 | Siehe für eine Fallstudie Thomas König, »Kanzler, Minister und Sachverständige. Eine Untersuchung der Bedeutung von Vertrauen für die Delegation von Reformen am Beispiel der Hartz-Reformen«, in: Politische Vierteljahresschrift 56 (2015), S. 182–210. 26 | Ausführlich dazu Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen, Frankfurt a. M. 1994.

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Fallbeispiele sollen dies illustrieren. Die gegenwärtig dramatischste Konfusion betrifft die Grenze zwischen Politik und Religion und äußert sich im globalen Maßstab als religiös-fundamentalistischer Terror gegen politische Systeme. Die Implikationen von Terror und Terrordrohung für die Freiheit sind offensichtlich, sie verändern die Balancen in der generellen Antinomie von Freiheit und Sicherheit. Eine zweite gesellschaftsweite Konfusion ist weniger offensichtlich, aber für Demokratie und Freiheit langfristig bedrohlicher. Sie resultiert aus vielfältigen Enttäuschungen bestimmter Bevölkerungsgruppen und Wählerschichten mit einem politischen System, das pauschal als die politische Klasse oder die da oben oder als Establishment für alle Widrigkeiten des Lebens und der Welt verantwortlich gemacht wird. Beispielhaft stehen dafür in Deutschland die Pegida-Bewegung und der Erfolg der AfD, und in den USA die Tea-PartyBewegung und der politische Aufstieg von Donald Trump. Die Konfusion besteht in einer Vermischung von Lebensweltidylle und politischem System, und sie bezieht ihre Dynamik aus der moralischen Beurteilung einer Politik, die in ihrer modernen Form die Moral durch Interessen ersetzt hat. In einer merkwürdigen historischen Volte spiegeln sich die Religionskriege des 17.  Jahrhunderts in den fundamentalistisch-islamistischen Terrorregimen der Gegenwart. Bei allen Unterschieden zielen Taliban, Al-Qaida und Islamischer Staat (IS) zunächst gegen die »Ungläubigen« anderer Religionen und dann auf den Herrschaftsanspruch säkularer staatlicher Macht. Die vielschichtige Problematik religiös-fundamentalistischer Bewegungen soll hier nur unter einem sehr begrenzten Aspekt betrachtet werden: der Konfusion der Grenzen von Religion und Politik. Der IS (der im Folgenden beispielhaft steht) stellt mit totalitärem Anspruch die beiden wichtigsten Errungenschaften der Freiheitssicherung der Moderne in Frage, die von Hobbes begründete Trennung von Kirche und Staat, von Moral und Politik, sowie zweitens die durch die Demokratie gesicherte Freiheit und Selbstbestimmung der Person. Er möchte das Rad der Geschichte zurückdrehen und die konstitutiven Errungenschaften der Moderne zerstören. Anders als etwa der Taliban bemühte sich der IS, territorial-staatliche Strukturen aufzubauen,27 um sich tatsächlich 27 | »Der selbsterklärte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi fordert das legitime Gewaltmonopol und somit auch die letztverbindliche Entscheidungsgewalt auf dem kontrollierten Territorium für sich und die Elite der Bewegung.« Miriam Müller, »Terror oder Terrorismus? Der ›Islamische Staat‹ zwischen staatstypischer und nicht-

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zu einer theokratisch-totalitären Alternative zu bestehenden staatlichen Strukturen zu formieren. Der Terror selbst steht in unserem Zusammenhang nicht im Vordergrund, denn er ist zum einen das klassische Mittel der Schwachen, sich gegenüber deutlich überlegenen Mächten Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen, und er ist zum anderen Ausdruck innerreligiöser Konkurrenz und Radikalisierung, was hier nicht zu thematisieren ist. Vielmehr geht es um den radikalen und totalitären Anspruch einer theokratischen Gesellschaftsordnung gegenüber den Demokratien und Werteordnungen des »Westens«. Diese »Verquickung von politischer Ideologie und religiöser Doktrin« in einem »transzendenten Totalitarismus«28 ist die krasseste denkbare Alternative zu einer säkularen und globalisierten Moderne. Sie ist konzeptionell die eigentliche Antithese und Bedrohung der Freiheit. Ihre Schwäche liegt darin, dass der IS zu einem blindwütigen Terror greifen muss, um sich selbst zu stabilisieren und sich global bemerkbar zu machen. Da in der Geschichte Terror selten stabile Strukturen geschaffen hat, ist vorauszusehen, dass der IS, wie Taliban und Al-Qaida zuvor, zu inner-islamischen Geschwüren degenerieren, aber die Demokratien der Welt nicht ernsthaft beschädigen können. Immerhin gibt es mit dem Iran eine (noch) stabile Theokratie, und mit Nordkorea einen (noch) stabilen totalitären Staat, auch wenn jeweils besondere Bedingungen für Stabilität vorliegen. Konzeptionell aber bleibt die Verquickung von Religion und Politik brisant, weil auch ein christlicher und evangelikaler Fundamentalismus, vor allem in den USA, die Grenzen zur Politik missachtet und versucht, mit religiöser Moral Politik zu machen. Moderne Demokratien müssen sich von Anfang an mit einem Dilemma auseinandersetzen, welches darin besteht, dass die Funktionssysteme interdependent und prinzipiell gleichrangig sind, und mit je ihren spezifischen Leistungen zum Fortbestehen der Gesellschaft beitragen. Allerdings ist die Politik aufgrund ihrer Leistung für die Gesellschaft  – der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen auf der Basis ihrer Kompetenzkompetenz – zugleich interdependent und für das Ganze verantwortlich. Sie hat eine Sonderstellung mit Bezug auf Gesellschaftssteuerung, aber dies ändert nichts daran, dass auch alle anderen Funkstaatlicher Gewalt«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24–25 (2016), S. 27–32, hier S. 29. 28 | Ebd., S. 31.

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tionssysteme essentielle und notwendige Leistungen für die Gesellschaft erbringen und dafür auch gewisse Autonomiespielräume einfordern können. Für die Politik bedeutet dies den schwierigen Balanceakt, gleichzeitig bescheiden aufzutreten (weil sie von den anderen Teilen abhängig ist) und dennoch das Ganze zu steuern (weil sie dafür die einzige Instanz ist). Für die Funktionssysteme bedeutet dies, dass sie immer in der Versuchung sind, ihre eigene Logik in die Politik hineinzutragen, um ihre Eigeninteressen gesellschaftsweit zur Geltung zu bringen. Versuche der Grenzüberschreitung sind daher an der Tagesordnung und zu erwarten, und die Politik weiß sich im Normalfall auch hinreichend erfolgreich dagegen zu wehren. Zwei Grenzzonen sind besonders brisant und seit jeher Felder für Auseinandersetzungen: Zum einen, wie gerade ausgeführt, die Grenze zwischen Politik und Religion, die typischerweise in Krisenzeiten besonders umstritten ist. Zum anderen die Grenze zwischen Politik und Ökonomie, die in der Kapitalismuskritik und der politischen Ökonomie ausführlich diskutiert wird. In der Hochphase des Marktfundamentalismus bis zum Ausbruch der globalen Finanzkrise galt die Devise Weniger Staat, mehr Markt: die Steuerungskompetenz der Politik wurde zugunsten einer vermeintlichen Selbststeuerung der Märkte reduziert – mit negativen Folgen für das Gesamtsystem. Während an den Schnittstellen der Funktionssysteme Grenzüberschreitungen und Konfusionen zu erwarten sind und zur Normalität politischer Auseinandersetzungen gehören, die das politische System der Demokratie in aller Regel abzuarbeiten in der Lage ist, bereitet gegenwärtig eine »innere« Grenzüberschreitung der Politik ernstere Probleme. Die repräsentative Demokratie richtet aus guten Gründen eine Grenze auf zwischen den Wahlbürgern einerseits und ihren Repräsentanten andererseits.29 Populistische und nationalistische Kritik an der Demokratie zielt im Kern darauf, diese Grenze zu durchbrechen zugunsten einer vermeintlichen Volkssouveränität, bei der das Volk immer die eigenen Gefolgsleute sind. Die populistische Kritik muss jedenfalls in Teilen auch als Weckruf an eine Form der Demokratie verstanden werden, die gegenüber Ungleichheit und Disprivilegierung zu gleichgültig geworden ist. Dass ein Donald 29 | Siehe dazu Howard Schweber, »The Limits of Political Representation«, in: American Political Science Review 110 (2016).

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Trump sich mit Sprüchen und Parolen der übelsten Kategorie gegen alle republikanischen Mitbewerber um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten mit Leichtigkeit durchsetzen und dann auch noch zum Präsidenten gewählt werden konnte, zeigt neben der Zerrüttung der politischen Kultur in den USA auch eine massive Frustration bei den Wählern, die sich vom System benachteiligt fühlen. Donald Trump wütet gegen Immigranten, Mexikaner, Frauen und andere Gruppen, und seine Anhänger jubeln ihm zu – nicht als Privatmann oder Unternehmer, sondern als Präsident. Ähnliche Hintergründe und Merkmale zeigen sich auch am Aufstieg des Front National in Frankreich oder an den Stimmen der Brexit-Befürworter in Großbritannien. Auffällig ist, dass populistische Strömungen gerade in durchaus wohlhabenden Ländern wie USA, Dänemark oder Frankreich virulent sind, während in wirtschaftlich gebeutelten Ländern wie Portugal oder gar Griechenland ihr Einfluss geringer ist. Dies führt zu der Vermutung, dass es in Kern um eine Diskrepanz zwischen den Versprechungen und den Leistungen der jeweiligen Politiksysteme geht. In den USA geht für viele der »American Dream« nicht mehr in Erfüllung, den die Politik nach wie vor verspricht. In Frankreich hat die »Grande Nation« gelitten und in Großbritannien trauern viele dem globalen Einfluss eines Weltreiches nach. Im vorliegenden Zusammenhang steht allerdings nicht der demokratietheoretische Aspekt des Populismus im Vordergrund, sondern die Konsequenzen für Theorie und Praxis der Freiheit. Populistische Bewegungen beanspruchen Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit und Kommunikationsfreiheit für sich, um sie anderen Gruppen vorzuenthalten.30 Gegenüber der repräsentativen Demokratie bringen sie das Volk in Stellung, unter den Floskeln des »gesunden Menschenverstandes«, des »wahren« Willen des Volkes, des »common sense« und der »gesunden« Ansichten und Meinungen des Volkes. Wenn dazu gehört, dass Donald Trump in einer Wahlrede erklärt, er könne auf offener Straße einen Menschen erschießen ohne dafür Wähler zu verlieren, dann ist das eben so und ficht die Populisten nicht an. Nicht nur die Repräsentanten der 30 | »Rechter Populismus betreibt umgekehrt die Exklusion von Menschen (›Sozialstaatsschmarotzer‹, Immigranten, Asylbewerber, ethnische Minderheiten) und reserviert politische und soziale Teilhaberechte nur für die eigene, autochthone Bevölkerung.« Karin Priester, »Wesensmerkmale des Populismus«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 5–6 (2012), S. 3–9, hier S. 3.

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repräsentativen Demokratie werden als abgehobene und elitäre politische Klasse denunziert, sondern alle Spezialisten und Fachleute als Technokraten oder weltfremde Theoretiker, die keine Verbindung mehr zum »Volk« haben und nicht mehr verstehen, was das Volk umtreibt.31 Zwei Momente der Ursachen für das populistische Syndrom sind für eine Freiheitstheorie besonders wichtig. Der Überforderung vieler Bürger durch vielfältige gesellschaftliche Komplexitäten setzt der Populismus die großen Vereinfachungen entgegen: einfache Lösungen, Reduktion auf Schwarz-Weiß-Bilder, summarische moralische Anschuldigungen und Antworten. Dass die Antworten unbrauchbar sind, darf nicht vergessen lassen, dass die Überforderung vieler Bürger real und folgenreich ist. Wenn die Bürger ihre Repräsentanten und die Fachleute nicht mehr verstehen, dann werden sie leichte Beute derjenigen, die einfache Erklärungen anbieten. Die gegenwärtigen Demokratien haben die großflächige Überforderung der Bürger durch eine hyperkomplexe Welt bislang nicht ernst genug genommen. Die Wenigsten verstehen die komplexen Kausalketten, die am Ende zu Migrationsströmen führen; nur Wenige verstehen, warum eine Energiewende notwendig ist, warum sie hakt, warum dafür keine Stromleitungen vorhanden sind und trotz allem Strom teurer wird; und es gibt wohl niemanden, der noch einen Überblick über die Zusammenhänge des Klimawandels hat. Aber alle diese Themen sind politische Themen und haben politische Relevanz und Konsequenzen. Entscheidungen müssen getroffen werden, und sie fallen, auch wenn die meisten Bürger/Wähler nicht mehr nachvollziehen können, wer warum wie entschieden hat.32 Grundlegende Freiheiten wie Meinungsfreiheit oder Kommunikationsfreiheit laufen ins Leere, wenn Überforderung und Nichtwissen eine (begründete) Meinung gar nicht zulassen und eine (sachorientierte) politische Kommunikation zu diesen Themen erst gar 31 | Siehe ebd., S. 4. 32 | »Wenn in einer gleichsam ›über Nacht‹ so ungeheuer kompliziert gewordenen Welt der ›Souverän‹, das Volk, sich das Mitspracherecht über seine eigene Zukunft erhalten will, dann muss er sich in einer bis dato beispiellosen Weise mit Sachkompetenz und Urteil wappnen. Wissen und Urteilsfähigkeit werden zu unverzichtbaren Voraussetzungen für politische Teilhabe, weil die Politik selbst zum entscheidenden Förderer und Garanten der technologischen Entwicklung geworden ist.« Bernd Guggenberger, »Verflüssigung« der Politik – was dann?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 38–39 (2012), S. 10–17, hier S. 14.

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nicht stattfindet. Es ist dann nicht mehr verwunderlich, dass populistischen Parolen und Propaganda genau hier ansetzen, die Komplexitäten mit Trivialitäten wegwischen und mit einfachen moralischen Kategorien Expertise ersetzen. Vielleicht noch problematischer ist eine zweite Überforderung, die Überforderung der Parlamente und Regierungen der repräsentativen Demokratien durch maßlose Bürger einerseits und durch eine hyperkomplexe Welt andererseits.33 Wenn die Entscheidungsfreiheit der Parlamentarier und Politiker nur noch fiktiv ist, weil sie in Wirklichkeit von externer Expertise abhängen und die Unzahl von Themen nicht mehr selbst beurteilen können, dann ist es leicht, ihnen einerseits Inkompetenz vorzuwerfen, andererseits gegen die anonymen Experten und Berater zu wettern, die angeblich oder vermutlich die Entscheidungen vorgeben.34 Den demokratietheoretischen Aspekt dieser Problematik habe ich anderorts behandelt,35 hier geht es um die Konsequenzen für eine entsprechend abgestimmte Konzeption von Freiheit. Art. 38 Grundgesetz gibt den Parlamentariern die eine große Freiheit, nur nach ihrem Gewissen und ohne Weisungen zu entscheiden. Diese Freiheit ist für die repräsentative Demokratie konstitutiv und unabdingbar. Sie wird aber dann zur Chimäre, wenn sie durch Überforderung und Überlastung faktisch außer Kraft gesetzt ist. 33 | »Die westlichen, repräsentativen Demokratien haben heute zwei Feinde: eine globalisierte, vernetzte und beschleunigte Welt auf der einen, die Hybris der Bürger auf der anderen Seite.« Laszlo Trankovitz, »Eine Verteidigung der Demokratie – gegen den maßlosen Bürger«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 38–39 (2012), S. 3–6, hier S. 3. 34 | Zu einem detaillierten Beobachtungsbericht über ein ganzes Parlamentsjahr hinweg siehe Roger Willemsen, Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlament, Frankfurt a. M. 2013. Das »Think Tanks & Civil Societies Program« der Universität Pennsylvania hat für ihren 168-seitigen Report mehr als 2.500 Politikwissenschaftler, Politiker und Journalisten befragt. Die Studie vom Januar 2017 stellt eine weltweite Rangliste der einflussreichsten Think Tanks auf. Die US führen die Liste mit 1835 Think Tanks an, gefolgt von China mit 435 Vertretern. Deutschland ist auf Rang fünf mit 195 Think Tanks. Champion ist die Brookings Institution in Washington D. C. Siehe www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/ttcsp-das-sind-diewichtigsten-think-tanks-weltweit-14761-548.html., letzter Zugriff 10.2.2017. 35 | Siehe Willke, Dezentrierte Demokratie; ders., Konfusion.

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Eine vergleichbare Konstellation hatte die Erfindung der repräsentativen Demokratie erzwungen. In großen Flächenstaaten wären die Bürger/Wähler mit der direkten Demokratie heillos überfordert gewesen. Die Detailarbeit politischer Entscheidungen wurde daher an Repräsentanten delegiert, welche die kontinuierliche politische Arbeit leisten, so dass die Bürger ihrer eigenen Arbeit nachgehen können. Eine analoge Antwort auf die Überforderung der Parlamentarier ist heute als reflexive Repräsentativität denkbar und nach meiner Argumentation angezeigt. Die Parlamente delegieren einige wenige besonders schwierige und langfristige Aufgabenkomplexe an Spezialsenate, um das allgemeine Parlament zu entlasten und (wieder) arbeitsfähig zu machen. Die repräsentative Demokratie hat zwar die direkte Partizipation der Bürger reduziert, aber insgesamt die Demokratie gestärkt, und wohl für Flächenstaaten überhaupt erst praktikabel gemacht. Eine reflexive Repräsentation würde wiederum die Partizipation der Bürger reduzieren und indirekter gestalten, aber insgesamt die Demokratie stärken und gerade in besonders schwierigen Problemfeldern leistungsfähiger machen. Im Dilemma zwischen Partizipation und Effektivität wäre dies zweifellos wiederum eine Verschiebung in Richtung einer höheren Effektivität des demokratischen Steuerungsregimes, allerdings angesichts der manifesten Krise der Demokratie eine notwendige. Wenn politische Akteure der unterschiedlichsten Art, einschließlich einfacher Wählerinnen und Wähler, gute Gründe für diese Verschiebung erkennen, steigen die Chancen für eine konkrete Umsetzung des hier vorgeschlagenen Modells reflexiver Repräsentativität. Die eine Triebkraft dafür wäre eine manifeste Krise der Demokratie, die allerdings mit Brexit, Trump und einem weltweiten aggressiven Populismus bereits bedrohlich erscheint. Die andere Triebkraft könnte aus einem geduldigen und zähen Ringen um Einsichten in neue globale Dynamiken folgen, welche im Kern zu etwas eher Selbstverständlichen führen: dass auch die Demokratie sich fortentwickeln muss, um zu überleben, dass ein »demokratischer Triumphalismus« (Jason Brennan) fehl am Platze ist, und dass daher Überlegungen zu einer institutionellen Erneuerung der Demokratie nicht mit Hochverrat an der Demokratie gleichzusetzen sind. Auch für die Praxis der Freiheitsrechte ist eine Verschiebung zu konstatieren, die zunächst fatal an das Matthäus-Prinzip erinnert: Die Freiheit der Fachleute wird gestärkt, die Freiheit der Laien verringert. Diese Verschiebung muss erst genommen und in ihren Folgen bedacht werden. Sie lässt sich wohl nur legitimieren, wenn der Nettoeffekt für die Freiheit

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positiv ist. Dabei lässt sich nicht verheimlichen, dass die Größen in dieser »Rechnung« sich nicht präzise bestimmen, sondern nur abschätzen lassen. Darüber hinaus hängen die Schätzwerte von der zugrunde gelegten Demokratietheorie ab, sowie davon, von welchen Topologien des Wissens und Nichtwissens ein Beobachter ausgeht. Am Ende läuft es auf eine Antwort auf die Frage hinaus, ob eine große Menge an Desinteressierten und Nichtwählern vernachlässigt werden kann zugunsten einer begrenzten Zahl von hoch engagierten und kompetenten Fachleuten, die wissen, worüber sie entscheiden. Während für desinteressierte Laien die relevanten Freiheitsrechte formal gegeben sind, aber faktisch leerlaufen, sind für die engagierten Fachleute Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit und Kommunikationsfreiheit in demokratischer Reinform gegeben, weil in pluralistisch zusammengesetzten Fachinstitutionen mit den charakteristischen Merkmalen Diskurs, Kritik, Reflexion und herrschaftsfreie Auseinandersetzung nach den Regeln guter Wissenschaft der Grad realer Freiheit sogar dem Pettitschen Ideal gerechter Freiheit nahekommt.36 So paradox dies zunächst klingen man, so unzweifelhaft muss sich eine Freiheitstheorie für eine globalisierte Moderne doch der Frage stellen, ob und wie die Freiheit als Menschenrecht auch gegen eine radikaldemokratische Hybris der Bürger verteidigt werden muss. So wie eine reformunwillige Demokratie Gefahr läuft, sich zur heiligen Kuh zu stilisieren, so wird Freiheit dort problematisch, wo Ahnungslose sich berechtigt fühlen, an allen denkbaren politischen Entscheidungen gleichberechtigt mitzuwirken. Populistische Bewegungen und Positionen zeigen Richtung und Ausmaß der Anmaßung an. Aber auch in der Diskurstheorie demokratischer Konsensbildung oder in Konzeptionen »öffentlicher Vernunft« schwingt die Vorstellung mit, dass Demokratie und Freiheit am besten gedient sei, wenn alle bei allem mitentscheiden: Je mehr Beteiligte, desto besser.37 Die hier vertretene Gegenthese dazu ist, dass hohe Komplexität verteilte Intelligenz erfordert, dass Arbeitsteilung und Spezia36 | Dass dies anspruchsvolle demokratische Strukturen und Verfahrensregeln in den Institutionen voraussetzt, habe ich andernorts ausgeführt. Siehe Willke, Dezentrierte Demokratie, S. 109–122. Siehe zum Einfluss von Modalitäten auch Lucio Baccaro u. a., »Small Differences that Matter: The Impact of Discussion Modalities on Deliberative Outcomes«, in: British Journal of Political Science 46 (2016), S. 551–566. 37 | Landemore, Why the Many Are Smarter.

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lisierung nicht völlig spurlos am Steuerungsmodell der Demokratie vorbeigehen können, und dass eine verteilte reale Freiheit besser ist als eine ideologisch verbrämte formale Freiheit. Die klassische Freiheitstheorie zielte auf eine Befreiung der Menschen von den »Anciens Régimes« von Kirche und Absolutismus als Vertreter manifester Gewalt gegen eine liberalisierte Gesellschaft. Aber von Anfang an war das Gegenmodell zur Unterdrückung, die Demokratie, belastet durch den Verdacht, dass eine Diktatur der Mehrheit möglich sei. Tatsächlich stellt die formale Demokratie keine wirklichen Absicherungen gegen diese Möglichkeit zur Verfügung. Alle eingezogenen Grenzen gegen eine solche Diktatur – wie Minderheitenschutz, Grundrechte, Menschenrechte und prozedurale Absicherungen – können von Mehrheiten widerrufen werden. Selbst ein Verfassungsgericht, das gegen solche Widerrufe einschreiten könnte, kann durch Mehrheiten abgeschafft werden. Es gibt keine Ewigkeitsgarantien. Dass eine Diktatur der Mehrheit möglich ist, wird unter heutigen Bedingungen dadurch verschärft, dass komplementär dazu eine Diktatur des Nichtwissens droht. Für bestimmte wirtschaftspolitische Themen hat dies Brian Caplan beschrieben,38 aber die Problematik ist viel breiter und betrifft alle wissensintensiven und hochkomplexen Konflikt- und Entscheidungsfelder wie Klimawandel, Finanzsystemkrise, Migration, Energiewende, Endlagerung atomaren Abfalls oder Ressourcenerschöpfung. Da in diesen Themen die meisten Bürger/Wähler Laien sind, wäre ein tatsächlich nach Mehrheiten gewichtetes Votum eine Garantie für Misslingen.39 Abwegige oder destruktive Mehrheitsentscheidungen in diesen Themen beeinträchtigen zwar nicht unmittelbar und direkt die Freiheit, aber ihre indirekten negativen Auswirkungen sind beträchtlich und langfristig – wie der exemplarische Fall Protektionismus lehrt. Die heraufziehende Wissensgesellschaft zwingt Theorie und Praxis der Freiheit zu neuen Antworten. Entgegen ihrem Titel ist die Wissensgesellschaft aus der Sicht der Freiheitstheorie vor allem durch Nichtwissen gekennzeichnet, weil die Explosion spezialisierter Expertise zwar die Experten erleuchtet, aber alle anderen im Dunkeln hält. Wie kann Freiheit als Menschenrecht verstanden, praktiziert und gesichert werden, wenn Meinungsfreiheit als Ausgangspunkt und Handlungsfreiheit als Schluss38 | Caplan, The Myth of the Rational Voter. 39 | Dietrich Dörner, Die Logik des Mißlingens, Reinbek 1989.

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punkt realer Freiheit für alle Laien im Nebel des Nichtwissens diffus werden und schließlich nur noch als Fiktion aufrecht erhalten werden können? Selbst wenn man sich der Diktion von Pettit anschließen und Freiheit als »frei von Unterdrückung oder Kontrolle durch andere« interpretieren möchte, schafft die Wissensgesellschaft Komplikationen. Denn die Unterdrückungsmechanismen der Wissensgesellschaft sind subtil und indirekt, und häufig wissen die Betroffenen  – etwa als Nutzer von Facebook – gar nicht, dass sie sich in einem Kontrollnetzwerk verfangen und dem womöglich sogar zugestimmt haben, ohne die Konsequenzen zu überschauen. Kontrolle und Dominanz treten als tolerante Repression auf, die am Ende unterdrückt, aber tolerant insofern ist, dass sie niemanden dazu zwingt, sondern nur dazu einlädt oder verführt. Unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen hat Herbert Marcuse diesen Mechanismus als repressive Toleranz bezeichnet und damit eine Pervertierung der Freiheit zu einer die Repression stützenden Fassade gemeint.40 Der Wissensgesellschaft könnte eine solche Pervertierung in verstärkter Form drohen. Denn mit dem Mythos des rationalen Bürgers/Wählers/Entscheiders baut die formale Demokratie eine Fassade von Freiheit auf, welche die realen politischen Entscheidungsprozesse geradezu dazu zwingt, die normalisierte Irrationalität zu umgehen, um eine Diktatur des Nichtwissens zu vermeiden. Die großen Konfusionen der Freiheit rühren von widersprüchlichen Prozessen und Folgen der Globalisierung einerseits, der Wissensgesellschaft andererseits. Die Konfusionen setzen sich darüber hinaus im Inneren komplexer Gesellschaften fort, weil es längst nicht mehr die eine Freiheit gibt, sondern vielschichtige Verschränkungen unterschiedlicher Dimensionen einer Freiheit, die zu internen Widersprüchen zwischen ver40 | Und dies mit direktem Bezug auf Freiheitsrechte: »Um einen höchst kontroversen Fall anzuführen: die Ausübung politischer Rechte (wie das der Wahl, das Schreiben von Briefen an die Presse, an Senatoren usw., Protestdemonstrationen, die von vornherein auf Gegengewalt verzichten) in einer Gesellschaft totaler Verwaltung dient dazu, diese Verwaltung zu stärken, indem sie das Vorhandensein demokratischer Freiheiten bezeugt, die in Wirklichkeit jedoch längst ihren Inhalt geändert und ihre Wirksamkeit verloren haben. In einem solchen Falle wird die Freiheit (der Meinungsäußerung, Versammlung und Rede) zu einem Instrument, die Knechtschaft freizusprechen.« Herbert Marcuse, »Repressive Toleranz«, in: Robert Wolff u. a., Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a. M. 1965.

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schiedenen Freiheitsmomenten innerhalb komplexer Konstellationen von Freiheit führen. In pluralistischen und verstärkt in multikulturellen Gesellschaften bedeutet in aller Regel die Ausweitung von Freiheitsräumen für eine Gruppe eine Einschränkung von Freiheiten anderer Gruppen. Dies impliziert schwierige Abwägungsprozesse zwischen verschiedenen Menschenrechten, Grundrechten und Ausprägungen von Freiheitsrechten, die letztlich von Verfassungsgerichten entschieden werden müssen. Ein klassischer Fall ist der Konflikt zwischen der Meinungsfreiheit von Ego, der etwas satirisch Gemeintes über Alter aussagt, was dieser als Beleidigung und als Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht auffasst. Die Rechtsprechung lässt hier einen »Wahrheitsbeweis« zu, der entweder dem einen oder dem anderen Recht gibt. Die Dimension Wissen/Nichtwissen fügt dem einen erheblichen Schwierigkeitsgrad hinzu. Denn es ist nicht ohne weiteres offensichtlich, wer worüber etwas weiß oder nicht weiß. Wenn z. B. ein Land über einen Ort zur atomaren Endlagerung entscheidet, sich die Bürger der Nachbarschaft aber dagegen wehren, weil sie sich in ihrer freien Entfaltung und ihrem Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) beeinträchtigt sehen, dann ist ein »Wahrheitsbeweis« unmöglich – es gibt in der komplexen Frage der Endlagerung keine Wahrheit.41 Zugewinne an Freiheit der einen Gruppe (der entfernt Wohnenden) beeinträchtigen zwingend Freiheitsräume der anderen Gruppe (der nahe Wohnenden). Und es kann in anderen Hinsichten genau umgekehrt sein, etwa wenn es um verstrahltes Grundwasser geht, das entfernt Wohnenden schadet. Die interne Widersprüchlichkeit einer von der Politik definierten und von der Demokratie ausgestalteten Freiheit ist in einer pluralistischen und heterogenen Gesellschaft unvermeidlich.42 Auch wenn Demokratie insgesamt das Bollwerk gegen Repression und Dominanz illegitimer Mächte ist, implizieren unzählige politische Entscheidungen Kompromisse in der Verteilung von Momenten einer komplexen Freiheit. Theorien, die Freiheit in irgendeinem Sinne als monolithisches Konstrukt verstehen, das entweder gegeben ist oder nicht, verfehlen die Problematik des Gegenstandes. 41 | »Wahrheit kann nicht einfach da sein – kann nicht unabhängig vom menschlichen Geist existieren –, weil Sätze nicht einfach existieren, nicht einfach da sein können.« Rorty, Contingency, S. 4. Siehe zum Fall Klimawandel Bronk, Jacoby, »Uncertainty«, hier S. 4 mit Bezug auf Ostrom. 42 | Hanna Arendt, »Freiheit und Politik«, in: Die neue Rundschau 69 (1958), S. 670–694.

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Jedenfalls in einigermaßen gefestigten Demokratien geht es nicht mehr um die Frage, ob Freiheit existiert oder nicht. Vielmehr stehen schwierige Auseinandersetzungen um Architekturen einer geschichteten und verteilten Freiheit an, und die Gefahr ist, dass diese Freiheit in den Auseinandersetzungen zwischen heterogenen Anspruchsgruppen Schaden nimmt. Die eine große Freiheitsgefährdung durch eine Diktatur der Mehrheit gliedert sich auf in mehrere Konfusionen der Freiheit, die als Diktaturen dominanter Anspruchsgruppen bezeichnet werden können. Die durch langfristige demographische Entwicklungen sich anbahnende Diktatur der Alten ist dafür ein Beispiel. Die Brexit-Entscheidung der Briten am 24.6.2016 verdankt sich überwiegend dem Votum der Alten und Rentner, während die Jungen sich mehrheitlich, allerdings erfolglos, gegen einen Brexit ausgesprochen haben. Die Senkung des Rentenalters in Deutschland auf 63 Jahre ist ein Votum der Alten gegen die Jungen.43 Weitere Beispiele zeigen, dass in vielen Politikfeldern Entscheidungen nach demokratischen Regeln getroffen werden, welche den Freiheitsraum und die Optionen der Alten und Rentner ausweiten, während sie zugleich diejenigen der Jungen einengen und ihnen vor allem zukünftige Freiräume und Möglichkeiten verschließen. In der Möglichkeit einer Diktatur der Alten spiegeln sich alle Schwächen der Demokratie. Wären die Alten noch wie bei Plato die Weisen, dann wäre wenig dagegen einzuwenden. Aber es sind kurzsichtige Kleinrentner, denen die nachfolgenden Generationen nicht viel bedeuten. Sie profitieren von der in die Demokratie eingebauten Kurzsichtigkeit der Politik und der Parteien, die ihrerseits von den alten Garden dominiert werden, die schleichend den Kontakt zu den jüngeren Generationen verlieren, und die wenig Veranlassung haben, über die nächste Wahl hinaus zu denken. Für die Bundesrepublik betrug 2013 der Anteil der über Sechzigjährigen an der Bevölkerung 27,1 Prozent, er wird bis zum Jahr 2030 auf 34,6 Prozent anwachsen.44 Kalkuliert man ein wachsendes Desinteresse der Jüngeren an herkömmlichen Formen der Politik mit ein, dann erscheint es nicht abwegig, von einem deutlich übergewichtigen Einfluss der Alten auf die Politik auszugehen. 43 | Siehe Hans-Werner Sinn und Silke Uebelmesser, »Pensions and the Path to Gerontocracy in Germany«, in: European Journal of Political Economy 19.1 (2003), S. 153–158. 44 | Siehe: www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-indeutschland/61541/altersstruktur, letzter Zugriff 10.11.2016.

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Ein zweites Beispiel ist die Argumentationsfigur einer Diktatur der Superreichen. Die Gefahr einer der Demokratie übergestülpten Oligarchie der Vermögenden hat Winters beschrieben,45 und Piketty hat dazu eine breite, historisch angelegte Begründung geliefert.46 Während der Einfluss der Alten direkt auf die Wahl wirkt, ist der Einfluss der Superreichen indirekt und abhängig von Faktoren, die das politische System selbst geschaffen hat  – vor allem Steuergesetze und Regeln der Finanzierung von Wahlkämpfen und Parteien, sowie Regeln über Lobbyismus und politische Spenden. Die Politik hat wenig Einfluss auf demografische Entwicklungen, aber sie hat allen Einfluss auf diese Regeln. Dass die Regeln die Superreichen deutlich privilegieren, zeigt genau dies: ihren unverhältnismäßigen Einfluss und den der »Vermögensverteidigungsindustrie«. Seit langem entzündet sich an der offensichtlichen Privilegierung der Privilegierten eine etwas monotone Kapitalismuskritik. Sie ist in der Sicht der hier vorgelegten Argumentation aus zwei Gründen fehlgeleitet: Zum einen hat sie keine Alternativen zum Kapitalismus als Steuerungsmodus der Ökonomie im Angebot, denn alle bislang praktizierten Alternativen sind jedenfalls destruktiver und bedrohlichere für die Freiheit als eine kapitalistische Wirtschaftsordnung.47 Zum anderen übersieht eine dogmatische Kapitalismuskritik, dass das Hauptärgernis der Wirtschaftsordnung, soziale Ungleichheit und mit unterschiedlichen Ressourcenlagen auch unterschiedliche Einflussmöglichkeiten der »Reichen«, in erster Linie nicht dem Kapitalismus geschuldet ist, sondern einem Politikversagen, d. h. einem Versagen der politischen Steuerung der Ökonomie.48 Mit 45 | Winters, »Oligarchy«. 46 | Piketty, Kapital, S. 105–150. 47 | »Ein Verdienst eines gut funktionierenden Kapitalismus (nochmals: ich beziehe mich nicht auf liberale Marktpolitik, d. h. niedrige Steuersätze etc.) liegt in den Freiheiten, die er Unternehmern, Managern, Angestellten und Konsumenten bietet – Freiheiten, die sozialistische, korporative und staatsfixierte Systeme nicht liefern. Dabei sollte bemerkt werden, dass einige ›persönliche‹ Freiheiten durchaus ökonomischer Natur sind.« Edmund Phelps, »Refounding Capitalism«, in: Capitalism and Society. The Berkeley Electronic Press 4 (2009), Artikel 2, S. 1–11, hier S. 4. 48 | So bereits Huntington: »Was ursprünglich die Marxisten fälschlicherweise der kapitalistischen Ökonomie zurechnen, […] in Wirklichkeit ein Ergebnis des demokratischen politischen Prozesses«. Samuel Huntington, »The United States«,

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ihrer Kompetenzkompetenz hätte die Politik die Macht, auch einer kapitalistischen Ökonomie Schranken zu setzen. Dass dies nicht geschieht, hat viele Gründe. Aber die Fehlsteuerung nur dem Kapitalismus als Steuerungsregime der Ökonomie anzulasten, übersieht die Mitverantwortung von Politik und politischem Prozess. Ähnlich gelagert ist eine dritte Form der Perversion der Demokratie, die Möglichkeit einer Diktatur der Sonderinteressen. In Deutschland sind hier vor allem Industrieverbände zu nennen, etwa aus den Sektoren Automobil, Chemie und Maschinenbau aber auch Landwirtschaft und Finanzindustrie. In den USA wird der Einfluss der Sonderinteressen noch verstärkt durch den Zuschnitt der Wahlbezirke, sowie dadurch, dass Repräsentanten stark von ihren Wahlbezirken abhängig sind und daher sich besonders für deren lokale Sonderinteressen einsetzen. Wohlgemerkt ist dies kein Argument gegen unterschiedliche Interessen. Eine komplexe pluralistische Gesellschaft umfasst hochgradig heterogene Interessen und Demokratie lebt von der Auseinandersetzung um die Unterschiede. In diesem sehr allgemeinen Sinne ist Varietät, einschließlich kognitiver Varietät, sogar Voraussetzung für einen lernfähigen Entscheidungsprozess.49 Andere Voraussetzungen kommen allerdings hinzu, vor allem Chancengleichheit und Kommunikationsfähigkeit der unterschiedlichen Positionen. Dass diese Chancengleichheit nicht existiert, etwa zwischen Autoindustrie und Fahrradindustrie, bedarf keiner weiteren Erörterung. Aber was folgt daraus für eine Freiheitstheorie? Aus der Sicht der hier vorgelegten Argumentation folgt daraus, dass viel klarer als bislang die politische Konditionalisierung der Realität der Freiheitsrechte in der Theorie ihre Bedeutung entfalten muss. Wenn Höffe personale Freiheit als freiin: Michel Crozier u. a. (Hg.), The Crisis of Democracy, New York 1975, S. 55–118, hier S. 73. Eine empirische Analyse zur Stabilität der großen Vermögen bieten Philipp Korom u. a., »The Enduring Importance of Family Wealth: Evidence from the Forbes 400, 1982 to 2013«, in: MPIfG Discussion Paper 8 (2015). 49 | »Jede politische Repräsentation ist nur eine teilweise Repräsentation. Dies ist im Rahmen von politischen Wahlen einfach daran zu erkennen, dass verschiedene Parteien Unterstützung erlangen, sowie anhand einer geringen Wahlbeteiligung und einer Reihe von möglichen Vorwürfen bezüglich der Korruption des Wahlsystems durch Geld, Sonderinteressen etc.« Thomas Catlaw, »Governance and Networks at the Limits of Representation«, in: The American Review of Public Administration 39 (2009), S. 478–498, hier S. 485.

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heitstheoretischen Höhepunkt bezeichnet oder Pettit einen moralischen Kompass für die Freiheitstheorie empfiehlt, dann zeigt dies, wie sehr die Freiheitstheorien des 18. Jahrhunderts noch in die Gegenwart hineinwirken, und wie wenig die Freiheitstheorie im 21. Jahrhundert und in einer globalisierten Moderne angekommen ist. Es sind, wie in Kapitel zwei und drei ausgeführt, nicht mehr nur die nationalstaatlich-politischen Zwänge, die Freiheitsräume einengen, sondern mit zunehmendem Gewicht globale Abhängigkeiten und systemische Risiken, die für einige Gruppen und Interessen Freiheitsräume erweitern und für andere verengen oder ganz verschließen. Dass etwa in Deutschland die Autoindustrie von der Politik privilegiert wird und Freiheitsmomente genießt, die – wie der Abgasskandal zeigt – zu Beeinträchtigungen der Freiheitsäume großer Teile der Bevölkerung führen, ist auch in einem globalen Wettbewerb begründet. Politik und Wirtschaft nutzen die Furcht vor einem Verlust von Arbeitsplätzen, um einseitige Regelungen zu treffen und bestehende Privilegien zu bestätigen. Viele Bürger/Wähler beugen sich freiwillig dieser Argumentation und fahren/erleiden lieber gesundheitsgefährdende Autos als dass sie das Risiko möglicher Verluste von Arbeitsplätzen oder wirtschaftlichem Misserfolg eingehen würden. Für jedes Politikfeld – Gesundheit und Umwelt stehen hier nur beispielhaft – gilt, dass die am Ende auf der Ebene der Person reklamierbare Freiheit Ergebnis komplizierter Abwägungen und Balancen der unterschiedlichen Momente einer komplexen Freiheit ist. Je intransparenter sich das Gesamtgefüge darstellt und je schwieriger es für die Betroffenen ist, für sich selbst Gewinn-Verlust-Rechnungen ihrer realen Freiheit aufzumachen, desto weniger erscheint es angemessen, mit klassischen Freiheitstheorien und Begriffen wie Herrschaftsfreiheit oder globalisierte Souveränität zu arbeiten. Sowohl Theorie wie auch Praxis von Freiheit benötigen Strategien des Komplexitätsmanagements, um sich in den Labyrinthen verschachtelter Freiheits- und Unfreiheitsmomente noch zurecht zu finden. Zugewinne an Freiheit an einem Ort des dichten Geflechts komplexer Freiheit können an anderen Orten, für andere Gruppen oder Interessen, zu anderen Zeiten oder Gewichtungen Verluste von Freiheitsmomenten bedeuten. Eine politische Entscheidung, wie etwa diejenige zur Energiewende in Deutschland oder zur Etablierung der »Homeland Security« in den USA bringt eine ganze Architektur verbundener Freiheitsrechte ins Wanken, ohne dass irgendjemand sagen könnte, wie die Bilanzen für die Freiheit am Ende aussehen könnten.

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Die Konfusionen, die die Freiheit befallen, sind demnach nicht nur externen Faktoren wie Globalisierung und Digitalisierung geschuldet, sondern auch internen Ungewissheiten der Komposition komplexer Freiheit. Wir können nicht mehr wissen, wie sich im Rahmen einer notwendigen politischen Kontextuierung von Freiheit politische Strategien oder Programme auf ihre Architekturen und Konstellationen auswirken. Die Effekte können sich im Laufe der Zeit verschieben und was zunächst als Schutz der Freiheit gedacht war, kann sich unter veränderten Bedingungen als Beeinträchtigung herausstellen. Schon einfache Problemlagen führen zu Konkurrenzen und Kollisionen von Grundrechten und Momenten von Freiheitsrechten, etwa bei einem Protestzug durch die Straßen der Stadt Versammlungsfreiheit gegen Bewegungsfreiheit, oder bei einem lauten oder schmutzigen Betrieb Gewerbefreiheit gegen persönliche Freiheit der Anwohner. Nahezu unübersehbar sind die Konkurrenzen und Kollisionen bei komplexen Problemlagen, etwa der Regulierung von Derivaten, dem Betreiben von Atomreaktoren oder der Steuerung von Migrantenströmen. Konfusionen der Freiheit sind hier unvermeidbar. Sie müssen die Freiheit aber nicht schwächen, sondern können dann, wenn die Verschachtelungen durch ein Komplexitätsmanagement adäquat bearbeitet werden, die Gesamtbilanz der Freiheit sogar stärken. Denn dann erweist sich, dass die in hyperkomplexen Gesellschaften notwendig parzellierte und verteilte Freiheit nicht der Logik eines Nullsummenspiels folgt, sondern eine Ausweitung der Freiheitsräume durch neue Optionen möglich ist – in den einfachen Beispielen oben etwa eine zeitlich geplante Abfolge von Protest und Bewegung oder beim Gewerbebetrieb Lärm- und Umweltschutzeinrichtungen, welche die Belästigung der Anwohner verringern. Bei vielschichtigen und vernetzten Problemlagen ist allerdings nicht zu leugnen, dass Freiheitskollisionen schwerer zu entflechten sind und für die Beteiligten daher oft intransparent bleiben. Es ist zwar nicht beweisbar, aber wahrscheinlich, dass dies inzwischen politische Konsequenzen hat, weil Bürger/Wähler sich einer ganzen Reihe solcher schwierigen Problemlagen ausgesetzt sehen. Wahrgenommen werden vor allem die negativen und beeinträchtigenden Aspekte, was verbreitet zu Unzufriedenheit mit Politik, Parteien und Regierungen führt, und dem dramatischen Anstieg populistischer Gruppierungen in vielen Demokratien weiteren

7 Freiheit in Zeiten der Konfusion

Auftrieb gibt.50 Ein exemplarischer Fall ist die Volksentscheidung der Briten zum Austritt aus der EU (Brexit). Selbst Kenner der Materie sind mit den Implikationen dieser Entscheidung überfordert. Der »Normalbürger« nimmt in dem völlig undurchdringlichen Geflecht von Vereinbarungen und Regelungen, Vorteilen und Nachteilen, Kosten und Nutzen, Optionenerweiterungen und -einschränkungen etc. nur noch die extrem vereinfachenden Schlagwörter und Unwahrheiten auf, die politische Unternehmer wie Jeremy Corbyn (Chef der Labour Partei), Boris Johnson (ehem. Bürgermeister von London und dann Außenminister) oder der Rechtspopulist Nigel Farage in die Debatte werfen, um ihre eigenen politischen Ziele zu erreichen. Die Konfusionen auf allen Seiten nehmen epische Ausmaße an und erlauben jedem, sich das Argument herauszupicken, das der eigenen Interessenlage entspricht. Rücksichten auf andere Interessenlagen, etwa auf mittel- oder gar langfristige Folgen oder auf Beschädigungen des politischen Prozesses sind umso weniger zu erwarten je anspruchsvoller ein rationaler Diskurs wäre, und je wahrscheinlicher es ist, dass die Wähler überwiegend mit Nichtwissen geschlagen sind und nicht wissen können, was sie mit ihrer Entscheidung anrichten.51 Die Brexit-Entscheidung ist keineswegs singulär. Ähnliche Konfusionen spielen in Problemfeldern wie Klimawandel, Energiewende oder Migration. Stünden hier Volksentscheide an, dann müsste mit dem Schlimmsten, nämlich mit Entscheidungen auf der Basis von Nichtwissen und pervasiver Konfusion, gerechnet werden. Primär liegt die Verantwortung für die Auseinandersetzung mit dieser Problematik zwar bei der Demokratietheorie, aber auch die Freiheitstheorie ist betroffen. Wie bereits ausgeführt, beschränkt die repräsentative Demokratie den Raum freier Entscheidungen der Wähler ziemlich drastisch, um über Repräsentation den politischen Entscheidungsprozess effektiver zu gestalten. Allerdings bleiben substantielle Formen indirekter politischer Partizipation als Freiheiten der Meinungsäußerung, der Kommunikation, der Presse oder der Versammlung, so dass das unvermeidliche Dilemma von Partizipation und Effektivität nicht einseitig aufgelöst ist. Volksentscheide kon50 | Brian Stoddart, »Ennui: The Politics of Discontent«, in: Global Policy (14.07.2016). Verfügbar unter: www.globalpolicyjournal.com/blog/14/07/2016/ ennui-politics-discontent?, letzter Zugriff 10.11.2016. 51 | Ausführlich Tim Shipman. All Out War: The Full Story of how Brexit Sank Britain’s Political Class. London, 2016.

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terkarieren die repräsentative Demokratie und spielen in einer Mediengesellschaft Populisten und Medienmogulen in die Hände. Werden sie für wissensintensive Großprobleme angestrengt, dann gehen die Initiatoren sehenden Auges das Risiko ein, dass Entscheidungen ohne ausreichende Expertise und Transparenz gefällt werden. Diese Überlegungen kondensieren zu einem Kernargument der hier vorgelegten Freiheitstheorie: Nichtwissen in komplexen Entscheidungssituationen höhlt Freiheit aus und macht sie zu einer bloßen Fassade für simulierte Freiheit. Denn alle tragenden Komponenten der Freiheit, als da sind Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit und Kommunikationsfreiheit, bleiben Chimären ohne das nötige Wissen zur Bildung einer Meinung, ohne Wissen über Optionen und ohne Wissen über Inhalte der Kommunikation. So einfach diese These klingt, so schwierig ist es allerdings in der Praxis der Deliberation politischer Probleme, zu bestimmen, wer worüber adäquates Wissen hat und wer nicht. Die Klärung dieser Frage kann einer für hyperkomplexe Gesellschaften revidierten Demokratietheorie überlassen bleiben. Eine Freiheitstheorie muss sich damit begnügen, adäquates Wissen als konstitutives Merkmal möglicher Freiheit zu postulieren und Ideen darüber zu entwickeln, wie verfahren werden kann, wenn das erforderliche Wissen tatsächlich nicht oder nur verteilt vorhanden ist. Kompliziert wird die Lage dadurch, dass Nichtwissen auch gezielt mit Strategien hergestellt werden kann, die moralisieren statt argumentieren, die Zukunftsängste schüren, Globalisierungs- und Modernisierungsfeindlichkeit ausbeuten und generell die Verlierer einer globalisierten Moderne damit ködern, dass ihnen ein Zurück in bessere Zeiten und Lebenswelten versprochen wird. Auf dieser Welle hat sich eine Tea-Party-Bewegung etablieren können, wurde ein unsäglicher Donald Trump zum Präsidenten gewählt, hat sich ein Front National in Frankreich zur Stimme aller Unzufriedenen gemacht, und haben nationalistische Politikstile in Russland, Polen und Ungarn die Oberhand gewonnen  – und so fort durch nahezu alle Länder der EU und der OECD. Heilsgewissheiten der moralischen oder nationalistischen Art ersetzen Wissen und Deliberation, und untergraben damit Demokratie und Freiheit. Wenn ein explosives Gemisch aus diffusen Ängsten, Halbwissen, Vorurteilen und Nichtwissen sich zu einer antidemokratischen Haltung verdichtet, wie es gegenwärtig in vielen Ländern Europas der Fall ist, dann ist ganz offensichtlich auch die Freiheit auf breiter Front bedroht.

8 Ausblick

Die konstitutive Verbindung zwischen Freiheit und Demokratie bildet hier die Grundlage für Überlegungen, die einen als individualistisch und statisch kritisierten Freiheitsbegriff zu einem Konzept komplexer Freiheit anreichern. Mit Komplexität, Kontingenz und Resilienz werden wichtige Bestimmungsfaktoren und Merkmale moderner (demokratischer) Gesellschaften herangezogen, um die neuen Bedingtheiten der Freiheit und letztlich das Umkippen der Bedingungen möglicher Freiheit in Bedingungen der Unwahrscheinlichkeit von Freiheit zu begründen. Damit wird Ausgangspunkt einer Freiheitstheorie, dass in hyperkomplexen, global vernetzten Gesellschaften Freiheit prinzipiell unwahrscheinlich wird, weil Intransparenz und Nichtwissen zu ubiquitären Operationsbedingungen aller relevanten Systeme werden. Dies ist aber nicht das Ende der Freiheit, sondern der Ausgangspunkt für Strategien, die zwar anerkennen müssen, dass kein Individuum mehr über ein übergreifendes Wissen verfügt, welches die Intransparenz der Systeme aufheben könnte, die aber aus der Kombination der vielen Komponenten verteilter Intelligenz und verteilten Wissens eine emergente systemische Transparenz erzeugen können. Die eine große Freiheit zerfällt dann zwar – dies meint die Phrase von der Atropie von Freiheit –, aber sie zerfällt in Myriaden von fragmentierten Freiheiten, die dann wieder Freiheit ›writ large‹ ermöglichen, wenn sie in brauchbaren institutionellen Konstellationen mit der Zielrichtung Resilienz zusammengeführt werden. Freiheit wird damit an die noch allgemeinere und grundlegendere Kategorie des Lernens angebunden. Komplexe Freiheit setzt komplexes Lernen voraus und komplexere Lernmodi ermöglichen komplexere Formen der Freiheit. Wenn der tiefste Sinn von Freiheit darin liegt, Lernen zu ermöglichen, gegen Dogmatismus, Fundamentalismus und Erstarrung, dann ist ein Freiheitskonzept angebracht, das sowohl das Lernen von Personen wie auch das Lernen von Organisationen und Gesellschaften als

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grundlegend und selbstverständlich betrachtet, und welches die Möglichkeit von Freiheit an Formen gelingenden Lernens bindet. Nicht zufällig treffen sich Freiheit und Demokratie in der verbindenden Kategorie des Lernens. So wie Freiheit Lernen voraussetzt, so müssen alle Zwangsregime Lernen verhindern oder pathologisches Lernen1 erzwingen, um die Unfreiheit zu stabilisieren. Besonders augenfällig ist dies bei absurden Diktaturen wie etwa Nordkorea. Offenes Lernen – etwa aus frei zugänglichen Medien – wird massiv behindert, während auf der anderen Seite die Bevölkerung skurrile Lektionen über ihre Führer und das Regime zu »lernen« gezwungen wird. Überall dort, wo Traditionen oder Ideologien Freiheiten einschränken, stehen im Hintergrund Lernverbote oder Zumutungen eines pathologischen Lernens – ob bei fundamentalistischen Evangelikalen, deren Kinder Kreationismus lernen müssen oder bei den Traditionen des japanischen Kaiserhauses, dessen Mitglieder bei allen Privilegien auch Einschränkungen ihrer Freiheit hinnehmen müssen. Für den Fall funktionierender Demokratien sind die Ansprüche an Lernen, Lernfähigkeit und Lernmodi entsprechend den Anforderungen an Politik gewachsen. Einfaches Lernen ist Grundlage, reicht aber nicht mehr aus. Auch aus diesem Grund erscheint ein verbesserter und verstärkter Lernprozess durch reflexive Repräsentativität sinnvoll. Ein markantes Defizit der gegenwärtigen Demokratie als Steuerungsregime der Politik besteht darin, dass die institutionellen Lernprozesse zu langsam und auf kontinuierlichen, langsamen Wandel ausgerichtet sind. Wie schon erwähnt, ist ein solcher Lernmodus von disruptivem und schnellem Wandel überfordert und verliert an Anpassungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz. Die Konsequenzen für die Freiheit folgen unmittelbar: verzögertes und ineffektives Krisenmanagement und Politikversagen verschließen Optionen und engen den möglichen Freiheitsraum von Personen und Systemen ein. Schwierig daran ist, dass es sich um virtuelle Optionen handelt, deren Nutzen für die Freiheit hypothetisch bleiben und daher empirisch nicht präzise zu fassen sind. Konzeptionell aber lassen 1 | Ein schwieriger Begriff, der darauf verweist, dass nicht alle Formen des Lernens positiv sind. Beispiele für pathologisches Lernen sind etwa die Entwicklung von Autismus, siehe Phil Christie u. a., Understanding Pathological Demand Avoidance Syndrome in Children. A Guide for Parents, Teachers and Other Professionals, London 2012, oder systemschädliches Lernen von Organisationen, siehe Klaus Türk, Grundlagen einer Pathologie der Organisation, Stuttgart 1976.

8 Ausblick

sich andere, anspruchsvollere Lernmodi sehr wohl beschreiben und Hinweise auf Lerndefizite geben. Dies sind dann zugleich Hinweise auf ungenutzte Räume in einer beweglichen Architektur komplexer Freiheit. Gregory Bateson hat drei Stufen des Lernens unterschieden: »single loop«, »double loop« und »Deutero-Lernen«2 . Darauf auf bauend unterscheiden Argyris und Schön Lernen, reflexives Lernen und reflektiertes Lernen3. Reflexives Lernen beinhaltet ein Lernen des Lernens, verfolgt also das Ziel neue Methoden und Instrumente des Lernens zu nutzen, um es schneller und effektiver zu machen. Die Stufe des reflektierten Lernens ist erreicht, wenn ein System sich eine Strategie des Lernens zurecht legt, also die Frage beantwortet, was vorrangig zu lernen sei und worauf sich das Lernen richten soll. Höhere Stufen des Lernens sind voraussetzungsvoll und verlangen, dass ein System weiß, dass es mit Lernen mehr erreichen kann als eine bloße Anpassung an seine Umwelt: Vor allem nämlich die Fähigkeit, besser und schneller zu lernen, sowie die Fähigkeit, strategisch zu entscheiden und zu handeln. Heute lässt sich eine vierte Stufe des Lernens beschreiben, die Stufe der Resilienz. Sie ist die Fähigkeit eines Systems, kontinuierlich Veränderungen seines Kontextes zu antizipieren und darauf proaktiv zu antworten, anstatt nur punktuelles Krisenmanagement zu betreiben. Resilienz führt ein System dazu, sich zu transformieren, bevor die Notwendigkeit zur Veränderung in eine aussichtslose Lage führt. Resilienz macht ein System vorausschauend widerstandsfähig gegen Widrigkeiten seiner Umwelt. Allerdings ist dies leichter formuliert als realisiert. Denn im Kern erfordert Resilienz ein Lernen aus der Zukunft, genauer: aus zukünftig zu erwartenden Umbrüchen und Krisen. Verbesserte Lernfähigkeiten stärken die Demokratie als Steuerungsregime darin, mit Herausforderungen und Krisen kompetenter umzugehen. Angesichts der gravierenden Mängel im Krisenmanagement und der dadurch seit Jahren induzierten Unzufriedenheit vieler Bürger mit den Leistungen der Demokratie (einschließlich der Ebene der EU), sind Mängel der Lernfähigkeit alles andere als trivial. Die Demokratie verspielt mit Inkompetenz viel von ihrem Kredit und läuft damit Gefahr, von autoritären Regimen und populistischen Strömungen in Frage gestellt zu 2 | Bateson, Ecology of Mind, S. 167–185. 3 | Chris Argyris, Donald Schön, Organizational Learning II. Theory, Method, and Practice, Reading, Mass. 1996, S. 11–22.

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werden. An diesem Punkt wird der Bezug zur Freiheit sichtbar. Autoritäre Regime und Populisten brauchen Sündenböcke, deren Freiheiten sie opfern, um ihre Strategien der Trivialisierung und Reduktion auf Schwarz/ Weiß durchalten zu können. Damit geraten aber zentrale Momente der Freiheit wie Meinungsfreiheit oder Kommunikationsfreiheit für alle Bürger unter die Räder, wie die Fälle Türkei, Polen oder Ungarn zeigen oder wie es der Front National für Frankreich, ein Donald Trump für die USA oder die rechtskonservative FPÖ für Österreich in Aussicht stellen. Demokratie als Schule der Freiheit wird dann überzeugen, wenn nicht nur in dieser Schule gelernt wird, sondern wenn auch die Schule selbst als Institution adäquate Lernfähigkeiten ausbildet und zum lernenden System wird.4 Aufgabe politischer Steuerung ist zwar immer noch der Schutz der Freiheit vor Unterdrückung und Gewalt, aber in funktionierenden Demokratien wird eine zweite Aufgabe ebenso wichtig: Mögliche neue Freiheitsmomente auszudehnen und zu gestalten, die in einer globalisierten Moderne die Handlungsspielräume der Menschen erweitern.

4 | Grundlegend hierzu Amitai Etzioni, The Active Society, New York 1971. Argyris, Schön, Organizational Learning.

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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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