Kleinstadtliteratur: Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne 9783839447895

The small town: a space of experience and a place of negotiation of restless modernity.

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German Pages 540 Year 2020

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Table of contents :
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Inhalt
Die erzählte Kleinstadt
Kleinstädte im 20. Jahrhundert
Kein Dorf mehr – aber so richtig Stadt?
Kleinstadtbilder und Kleinstadtutopien
Heraus aus des Esels Schatten
Reinheit und Gefährdung
Zwischen Beharrung und Beschleunigung
Stifter. Keller. Raabe.
»Die Macht neuer Verhältniße« und die »Ordnung der Dinge«
Die Kleinstadt als Herkunftsraum
Kleinstadterfahrung im Übergang zur Moderne
Fantastische kleine Stadt
Mehr als Würste und Schlösser
»wo der Mensch in seiner Umwelt aufgeht«
Die Neue Frau in der Kleinstadt
Jüdischer Patriotismus in der österreichischen Provinz
Überschaubare Nachbarschaft?
Beim Verlassen der nummerierten Wege
Coming-out in der Kleinstadt
»Die Pyramide Jahr zu Jahr größer, wehe der Schotter rutscht«
Hilbigs Meuselwitz
Die Wahrheit der Provinz
»Im perspektivischen Niemandsland«
Kleinstadt/Kleinstaat
Von Dorfpunks zu Fahrradmods
Autorinnen und Autoren
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Kleinstadtliteratur: Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne
 9783839447895

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Werner Nell, Marc Weiland (Hg.) Kleinstadtliteratur

Rurale Topografien  | Band 8

Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Friederike Eigler (Washington, D.C.), Kerstin Gothe (Karlsruhe), Dietlind Hüchtker (Leipzig), Sigrun Langner (Weimar), Ernst Langthaler (Linz), Magdalena Marszalek (Potsdam), Claudia Neu (Göttingen), Barbara Piatti (Basel), Marc Redepenning (Bamberg), Bernhard Spies (Mainz) und Marcus Twellmann (Konstanz)

Werner Nell (Prof. Dr.) ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeitsbereiche umfassen europäisch-überseeische Literatur- und Kulturbeziehungen, Literatur in transnationalen Prozessen, Vergleichende Regionalitätsstudien sowie Interkulturelle Deutschlandstudien. Marc Weiland (Dr. phil.) ist Koordinator des Forschungsprojekts Experimentierfeld Dorf und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität Weimar.

Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)

Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bauhaus-Universität Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Anke Tornow Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4789-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4789-5 https://doi.org/10.14361/9783839447895 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Die erzählte Kleinstadt. Eine von der Forschung übersehene Größe? Themen, Texte, Zugänge

Werner Nell, Marc Weiland | 9 ⁎⁎⁎ Kleinstädte im 20. Jahrhundert. Selbstbilder, Potenziale, Urbanität und Peripherisierung

Clemens Zimmermann | 59 Kein Dorf mehr – aber so richtig Stadt? Zur Urbanität der Kleinstadt

Detlef Baum | 75 Kleinstadtbilder und Kleinstadtutopien. Ein soziologischer Versuch

Stephan Beetz | 99 ⁎⁎⁎ Heraus aus des Esels Schatten. Wielands Überwindung der Provinzialphilosophie

Lars-Thade Ulrichs | 107 Reinheit und Gefährdung. Zur Dekonstruierbarkeit des kleinstädtischen Idylls in Goethes Hermann und Dorothea

Yahya Elsaghe | 123 Zwischen Beharrung und Beschleunigung. Johann Peter Hebel als Chronist der Kleinstadt

Kevin Drews | 141 ⁎⁎⁎

Stifter. Keller. Raabe. Zu Literatur und Soziologie im 19. Jahrhundert

Ansgar Mohnkern | 167 »Die Macht neuer Verhältniße« und die »Ordnung der Dinge«. Kleinstädtisches Bürgerleben im 19. Jahrhundert am Beispiel der Kügelgens

Anton Philipp Knittel | 187 Die Kleinstadt als Herkunftsraum. Zur poetologischen Funktion der Kleinstadt in Wilhelm Raabes Prosa

Natalie Moser | 209 ⁎⁎⁎ Kleinstadterfahrung im Übergang zur Moderne. Johannes Schlafs In Dingsda

Lothar L. Schneider | 229 Fantastische kleine Stadt. Alfred Kubins Die andere Seite und die Metaphysik der Kleinstadt

Marc Weiland | 247 Mehr als Würste und Schlösser. Die Kleinstadt bei Robert Walser

Jens Liebich | 281 ⁎⁎⁎ »wo der Mensch in seiner Umwelt aufgeht«. Zur Volkstümlichkeit in den Kleinstadttexten Otto Bernhard Wendlers

Jan Kostka | 303 Die Neue Frau in der Kleinstadt. Stadträume und Gender in Marieluise Fleißers Mehlreisende Frieda Geier

Christiane Nowak | 325 Jüdischer Patriotismus in der österreichischen Provinz. Zu Franz Werfels Roman Cella oder Die Überwinder

Hendrik Cramer | 335 ⁎⁎⁎

Überschaubare Nachbarschaft? Religion, Macht und Sexualität in der Kleinstadt: Eine AdoleszenzErzählung von Heinrich Böll mit einem Blick auf Philip Roth

Werner Nell | 347 Beim Verlassen der nummerierten Wege. Kleinstadt in Ingeborg Bachmanns Drei Wege zum See

Karin Wolgast | 373 Coming-out in der Kleinstadt. Ronald M. Schernikaus Kleinstadtnovelle

Sven Glawion | 403 ⁎⁎⁎ »Die Pyramide Jahr zu Jahr größer, wehe der Schotter rutscht«. Einar Schleefs Sangerhausen

Martin Ehrler | 423 Hilbigs Meuselwitz. Von der schwierigen Beziehung zwischen einer Kleinstadt und ihrem größten Dichter

Birgit Dahlke | 439 Die Wahrheit der Provinz. Christoph Hein und Bad Düben

Katrin Max | 455 ⁎⁎⁎ »Im perspektivischen Niemandsland« – Zum Paradigma der Kleinstadt in österreichischen Gegenwartserzählungen

Ursula Klingenböck | 475 Kleinstadt/Kleinstaat. Zu einem Doppeldiskurs in der Schweizer Gegenwartsliteratur

Christoph Steier | 495 Von Dorfpunks zu Fahrradmods. Musikalische Sozialisation und Kleinstadt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts

Janwillem Dubil | 513 ⁎⁎⁎ Autorinnen und Autoren | 531

Die erzählte Kleinstadt Eine von der Forschung übersehene Größe? Themen, Texte, Zugänge W ERNER N ELL , M ARC W EILAND

E INLEITUNG Die Kleinstadt bildet ein Faszinosum und in verschiedenen konjunkturellen Schüben mitunter auch ein Erfolgsmodell des literarischen Erzählens. Immer wieder wird sie von großen Autorinnen und Dichtern, die ihr nicht selten auch entstammen, aufgesucht. Entsprechend bilden und markieren kleine Städte zentrale Orte auf den literarischen Landkarten der National- und Weltliteraturen: Abdera und Seldwyla, Krähwinkel und Kuhschnapel, Güllen und Jerichow, Yonville und Combray, Drohobycz und Dukla sind auf diesen Karten ebenso verzeichnet wie Barchester, Middlemarch und Grover’s Corners sowie Winesburg, Ohio und Brewer, Pennsylvania oder Gopher Prairie, Minnesota und Jefferson, Yoknapatawpha County. Womit jedoch nur einige der weltweit bekannten imaginären Schauplätze literarischer Kleinstadtnarrative angesprochen sind.1 Sie stellen nicht zuletzt aufgrund

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Nicht zu übersehen sind dabei auch die äußerst populären Kleinstädte, die medienübergreifend unter anderem in Literatur und Comic sowie Film und Serie erzählt werden; seien dies etwa Smallville, die Heimat Supermans, oder Castle Rock, der Schauplatz einer Vielzahl von Horrorgeschichten aus der Feder Stephen Kings. Dabei verweist die hier begonnene Aufzählung bereits darauf, dass die Karte literarischer und imaginärer Kleinstädte immer je nach Standort und Perspektive der Betrachter konfiguriert ist und dadurch nicht zuletzt unbekannte und neu zu entdeckende Gebiete aufweist. In der modernen chinesischen Literatur ist es bspw. Hulan am Hulanfluss, das ebenso wie die zahlreichen afrikanischen Markt- und Handelsstädte in den Romanen Mongo Betis, Camara Layes oder Cyprian Ekwensis zum Handlungs- und Verhandlungsort politischer und histori-

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ihrer weiten Verbreitung und langen Tradierung sowie den damit verbundenen Wiederaufnahmen und Aneignungen in verschiedenen Genres und Medien mentale Modelle für das lebensweltliche Denken und Handeln in jeweils spezifischen Räumen zur Verfügung und bieten somit Reflexions- und Projektionsflächen für individuelle wie soziale Selbsterkundung. Wie auch eine Vielzahl weiterer Texte und Werke mit kleinstädtischen Bezügen prägen sie nach wie vor die kulturellen Deutungsmuster kleinstädtischer Lebenswelten; und damit zugleich – insofern das Kleinstädtische immer wieder als Kontrastfolie für die Deutung großstädtischmoderner Entwicklungen einerseits und ländlich-traditionaler Lebenswelten andererseits herangezogen wird – das Leben jenseits und abseits der kleinen Stadt. Charakteristisch für die unterschiedlichen literarischen Bezugnahmen ist, dass sie die Kleinstadt bzw. das Kleinstädtische mitunter als paradigmatischen »Modellfall für gesellschaftliche Entwicklungen« (Nowak 2013: 95) erzählen und gestalten. Im Zentrum steht neben den Schilderungen individueller Erfahrungsräume und Entwicklungen auch die literarische Reflexion auf soziale Ordnungsvorstellungen, die insbesondere in den wahrgenommenen und erlebten Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten der Moderne als Mittel der Selbstverortung und Selbstsetzung fungiert.

K LEINSTADTIMAGINATIONEN –

AKTUELL

Narrative der Marginalisierung Auch gegenwärtig wird die Kleinstadt als Modellfall sozialer Entwicklungen wieder einmal in verschiedenen medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskursen thematisiert (Beetz 2018, Porsche/Milbert 2018). Allerdings wird sie hier vor allem als Problemkategorie vorgestellt und diskutiert. Lässt sich doch eine lange Liste von Erfahrungen und Herausforderungen aufstellen, mit denen sich kleine Städte aktuell konfrontiert sehen: Demografische Entwicklungen und innerstädtischer Wandel (bspw. Wegzug aus Stadtkernen, Konkurrenz mit Gewerbegebieten,

scher, sozialer und weltanschaulicher Fragen sowie individueller Entwicklungen und universaler Erfahrungen ausgestaltet wurde. Ähnlich wie mit der Kleinstadt Weimar ein literarisches Programm und zugleich eine Epoche in der deutschsprachigen Literatur angesprochen werden kann, bezeichnet das in Nigeria gelegene und in den letzten Jahrzehnten zur Millionenstadt herangewachsene Onitsha nicht nur den Sitz eines großen, eben auch Bücher und andere Medien umfassenden Marktes, sondern inzwischen eine eigene literarische Gattung sowie ein entsprechendes Segment des populären Büchermarktes in Westafrika (Lindfors 1991).

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Abwanderung junger Menschen), Abbau und mitunter Verfall von Infrastruktur und baukulturellem Erbe (bspw. hinsichtlich Bahnhof und Bahnanbindung ebenso wie hinsichtlich Abwasser-, Wasser und Energieversorgung), lokalpolitische und zivilgesellschaftliche Folgen von Gebietsreformen 2 sowie der Verlust zentraler Funktionen (bspw. der Versorgung des Umlandes) führen in der Kleinstadt, so die Soziologin Christine Hannemann, mitunter zu einer »Dauerbenachteiligung« und »Kultur der Marginalität« (Hannemann 2005: 112).3 Das damit verbundene Themenspektrum wird nicht nur von aktuellen politischen und wissenschaftlichen Diskursen fokussiert (vgl. Brinkmann/Redecke 2018), sondern auch von zeitgenössischen literarischen Texten. So reflektieren unter anderem Ingo Schulzes SIMPLE STORYS (1998), Christoph Heins LANDNAHME (2004) oder Judith Schalanskys DER HALS DER GIRAFFE (2011) die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Transformationen im Kontext der Nachwendezeit in der

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Hatte die große kommunale Gebietsreform von 1967 bis 1978 in der alten Bundesrepublik bereits eine Reduzierung der Gemeinden um zwei Drittel (von ca. 24.000 auf 8.500) und nahezu die Halbierung der Anzahl der Landkreise mit sich gebracht, so zog die kommunale Gebietsreform nach der Wende für Ostdeutschland eine Reduzierung der Kreise von 191 auf 77 nach sich. Dies stellte insbesondere ein Problem für diejenigen Städte dar, die ihre bisherige Kreisstadtfunktion einbüßten und einen Wegfall von Behörden, Arbeitsplätzen, Infrastrukturen und Fördermitteln zu beklagen hatten; was nicht zuletzt auch mit einem Imageverlust einherging. Für eine kritische Bestandsaufnahme dieser Prozesse in Form einer Metastudie des Ifo-Instituts vgl. Blesse/Rösel (2018).

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In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird dabei von einem »gravierenden Funktionsverlust« (Beetz 2008: 568) kleiner Städte gesprochen, der sich schließlich nicht nur auf die Teilhabechancen der Bevölkerung auswirkt und weitere Abwanderung erzeugt, sondern auch die Innovationsfähigkeit der jeweiligen Stadt, und damit ihre Möglichkeiten, mit gegenwärtigen und zukünftigen Problemen umzugehen, sinken lässt. Aus der Perspektive Hannemanns zeigen sich jedoch auch positive Kehrseiten der Marginalisierung; fordere diese doch die Ausbildung spezifischer Qualitäten, die etwa wiederum die Persistenz sozialer Netze und damit das Überleben kleiner Städte befördern: »Kleinstädte existieren noch immer, weil sie zu einem Zeitpunkt eine Kultur der Marginalität einüben konnten, als urbane Rückbildungsprozesse für größere Städte noch ein undenkbarer Stadtentwicklungspfad waren.« (Hannemann 2005: 112) Auch Beetz (2017) konstatiert in einer neueren Arbeit die Dynamik und Innovationskraft kleiner Städte, die sich vor allem aus dem flexiblen Umgang kleinerer sozialer Einheiten mit Veränderungen ergeben; wobei dieser wiederum von mitunter flachen Hierarchien und einer starken Integration des Politischen in den Alltag geprägt sei. Die Folge davon: »Es herrscht ein enges soziales Kapital und hohe soziale Überschaubarkeit. Damit verbinden sich die Stärke des Lokalen und hohe Stabilität.« (Beetz 2017: 56)

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ostdeutschen Provinz,4 während sich eine auf längere Sicht hin angelegte Entwicklungsgeschichte westdeutscher Kleinstädte bspw. in dem auf elf Bände angelegten Romanzyklus ORTSUMGEHUNG (seit 2010) von Andreas Maier findet. Im Roman von Schalansky erscheint die schrumpfende ostdeutsche Kleinstadt gezeichnet von vermeintlich unabwendbaren wirtschaftlichen und demografischen Entwicklungen, die sich aus der Perspektive der Protagonisten außerhalb des individuellen Einflussbereichs vollziehen. Sie führen nicht nur zu einem zunehmenden Leerstand und Verfall der Bausubstanz, sondern auch zur Erosion des sozialen Zusammenhalts und der individuellen Sinngebung. Arbeitslosigkeit, Überalterung, Wegzug und Kommunikationslosigkeit bilden die sozialen Prägefaktoren dieser kleinen Stadt, in der sich nicht zuletzt die materiellen und kognitiven Überreste sozialistischer Planwirtschaft und Lebensmodelle finden. Zukunft, so sieht es die Protagonistin, eine desillusionierte Gymnasiallehrerin, deren Schule alsbald geschlossen wird, finde, legt man das Handeln bzw. Nicht-Handeln der Menschen vor Ort zugrunde, nur anderswo statt (Schalansky 2011: 41). Die Stadt ist daher schließlich von einer bereits voranschreitenden Überwucherung bedroht: »Auch diese Stadt würde sich von der Populationsschwankung nicht mehr erholen. […] Eine Stadt im vorpommerschen Hinterland, die außer dem Sitz der Kreisverwaltung nichts mehr zu bieten hatte. Am schmalen Fluss ein Hafen für Schrott und Schuttgüter, eine Zuckerfabrik und ein Museum. Der Markt ein Parkplatz. Ein, zwei historische Straßenzeilen. Die turmlose Kirche ein riesiges Rudiment der Backsteingotik. Das Zentrum selbst voller Neubauten, WBS-Siebzig, einfachste Ausführung, ohne Spaltklinker oder Kieselsteine im Waschbeton. Erst waren sie saniert worden. Jetzt standen sie zum größten Teil leer. […] Und es gab eine Unmenge von Pflanzen, die ihren Weg ohne menschliches Zutun in diese Siedlung gefunden hatten. Sie gediehen prächtig und beinahe unbemerkt: das einjährige Rispengras, das mit flachen Wurzeln jeden unbebauten Quadratzentimeter Boden besetzte. Das alte Ackerkraut, das sich von den Feldrändern vorgearbeitet hatte bis hierher, auf den Marktplatz, ins Zentrum der Stadt. Aus Pflasterritzen quoll der knechtische Vogelknöterich. Ganz zu schweigen vom Gemeinen Löwenzahn, der Allerweltsblume, die mit strotzender Potenz jede Straßenecke markierte. Die wilde Vegetation war überall.« (Ebd.: 64f.)

Die aktuelle Situation trägt dabei quasi schon den Keim der weiteren Entwicklung der kleinen Stadt in sich; sie werde sich in einer nicht mehr allzu fernen Zukunft zu einem stattlichen Mischwald gewandelt haben, in dem einzig das Gerippe der

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Für eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Beobachtung ostdeutscher Kleinstädte sowohl unter den Perspektiven eines längerfristigen Modernisierungs- als auch des mit der politischen Wende einsetzenden kurzfristigeren Transformationsprozesses vgl. die Studien zu Wittenberge von Bude/Medicus/Willisch (2011) sowie Willisch (2012).

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Kirche als Ruine im Wald und damit als letztes Zeichen einstiger Zivilisation an diesem Fleck übrig bleiben werde (vgl. ebd.: 70). Der Roman wirft dabei anhand seiner Protagonistin einen pessimistischen Blick auf das Projekt der deutschen Einheit, deren Zustand und Wahrnehmung sich eben an der Situation der Kleinstadt ablesen lässt: »Nicht der Verfall würde diesen Ort heimsuchen, sondern die totale Überwucherung. Eine wuchernde Eingemeindung, eine friedliche Revolution. Blühende Landschaften.« (Ebd.: 71)5 Das literarische Erzählen von und aus der kleinen Stadt dient dabei mitunter der ethnologisch inspirierten Ergründung spezifisch deutscher Mentalitäten und Befindlichkeiten.6 Ganz explizit zeigt sich dies etwa in Moritz von Uslars romanhafter Sozialreportage DEUTSCHBODEN aus dem Jahr 2010, die bereits im Untertitel – EINE TEILNEHMENDE BEOBACHTUNG – sowohl das Vorgehen als auch Erkenntnisinteresse des Autors an der Kleinstadt anzeigt.7 Der Text geht einer von innen wie von außen wahrgenommenen Marginalisierung der Kleinstadt und der Kleinstadtbewohner nach, indem er das Leben im fiktionalisierten, aber auf realem Vorbild fußenden Ort Oberhavel (in Wirklichkeit: Zehdenick) in Brandenburg zwischen Arbeitslosigkeit und Abwanderung, Männerüberschuss und Kneipenalltag aus der Perspektive eines aus Berlin kommenden Journalisten begleitet, dessen Reise zunächst einmal mit der Funktion der Differenzmarkierung und Selbststilisierung im Kontext großstädtischer Lebensweise verbunden und durch diese motiviert ist. Wird sie doch von Anbeginn an mit einer zentralen Erwartung verknüpft: der Ergründung einer ›anderen‹ Lebens- und Sozialform abseits des Bekannten. »Ich haue ab von hier; dorthin, wo kaum ein Mensch je vor uns war – nach Hartrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt. Dort suche ich mir einen Boxclub, trainiere mit, hänge rum und tue nichts, außer die ganze Zeit nur zuzuhören und zuzugucken, was passiert, und abends stelle ich mich da hin, wo der totale Blödsinn auferzählt wird, auf Parkplätze, an Tankstellen, in Pilslokale, und nebenbei

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Wenngleich man aus dem nicht unironischen Ton zugleich herauslesen kann, dass sich dieses Projekt erst mit der vollständigen Überwucherung des Gegebenen auch endgültig realisiert habe.

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Zum ethnologischen Ansatz in der Stadtforschung vgl. Kaschuba (2002).

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In einem Zeitungsartikel verweist von Uslar noch einmal auf das Themenspektrum des gesellschaftlich Randständigen und Marginalisierten sowie auf das generelle Verfahren und die Wirkabsicht des Romans: »In DEUTSCHBODEN begibt sich der Reporter auf die Suche nach den Randständigen der Gesellschaft, den Trinkern, Hartz-IV-Empfängern und moralisch gefährdeten. Sie kommen ausführlich zu Wort. Der Reporter nimmt zwar eine subjektive Erzählperspektive ein, aber es geht ihm um eine möglichst drastische Offenlegung der sozialen Wirklichkeit in der brandenburgischen Provinz.« (von Uslar 2017b: 45)

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erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über Hartz IV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzel der Gegenwart.« (von Uslar 2012: 14)

Dabei fertigt der Reporter detaillierte Aufzeichnungen im Stile einer Sozialstudie sowohl vom Ort als auch von seinen Protagonisten an und entwickelt dabei zunehmend Sympathie für beide, was schließlich angesichts der – von ihm jedoch nicht unerwähnt gebliebenen – gewaltverherrlichenden und -ausübenden rechtsradikalen Vergangenheit einiger Protagonisten als Romantisierung und Verharmlosung kleinstädtischer Verwerfungen aufgefasst wurde; und dies ist einer der Gründe, warum sich um den Text nicht zuletzt im Kontext eines aufgeheizten öffentlichen Diskurses über die Zustände in peripheren Räumen eine rege Debatte gebildet hat. In einem Artikel im SPIEGEL übt die Autorin Manja Präkels (2017b), die selbst in Zehdenick aufgewachsen ist, scharfe Kritik an von Uslar, dessen Schilderungen sie mit ihren eigenen Erfahrungen kontrastiert.8 Eine ausführliche Wiedergabe dieser findet sich in Präkels autobiografischem Roman ALS ICH MIT HITLER SCHNAPSKIRSCHEN Aß (2017), der die Vor- und Nachwendezeit im Ort als Chronik des Gefühls eines zunehmenden Abgehängtseins9 und einer damit korrespondierenden zunehmenden Aggression und schließlich auch Radikalisierung beschreibt: »Wie Schimmelpilz hatte sich die Wut erst im Haus, dann auf der Straße verbreitet und beherrschte schließlich die ganze Stadt.« (Präkels 2017a: 57). Die Protagonistin, als

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So schreibt Präkels über den Umgang von Uslars mit seinen Protagonisten: »Er betreibt, fasziniert von diesen edlen Wilden und mit dem verklärenden Blick des Berliner Szenegängers, ihre Wiedergutwerdung. Das sind nämlich gar keine Nazis, wie alle immer behaupten würden. Nur kernige Prolls. Echte Kerle, mit Tätowierungen und Muskeln, mit denen er enthemmte Bandproben in einem verwaisten Schulhaus erlebt, mit denen ein Mann ein Bier trinken kann oder auch sechs.« (Präkels 2017b) Daraufhin sah sich von Uslar, der angesichts der zunehmend populistisch geführten Diskussionen um eine ›Flüchtlingskrise‹ den Ort wieder besucht und die gesellschaftspolitische Situation eine Woche nach der Bundestagswahl aus der Perspektive der Protagonisten geschildert hatte (von Uslar 2017a: 43) – worauf schließlich Präkels Text kritisch reagierte –, zu einer Entgegnung bewegt, die unter anderem die unterschiedlichen Zeitebenen (Präkels: achtziger und neunziger Jahre, von Uslar: Mai bis Juli 2009) als Argument anführt und darauf verweist, dass sein Roman Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus offensiv zum Thema mache (von Uslar 2017b: 45).

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Dabei kontextualisiert die Autorin den Ort auch entwicklungsgeschichtlich und zeichnet dabei den Aufstieg des Orts nach, der sich im 19. Jahrhundert durch die Entstehung der Industrie und dem damit verbundenen Zuzug von Arbeitern und Bürgern vom Dorf zur Stadt entwickelte, und seinen dann wieder vollziehenden Abstieg, der sich eben u.a. im Verlust von Arbeitsplätzen, Bewohnern und Sinnangeboten äußert.

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politisch linksorientierte Person selbst Außenseiterin im von Rechtsradikalen dominierten Ort,10 schildert dabei die alltäglich gewordene Ausnahmesituation (ebd.: 174), die von psychischer wie physischer Gewalt geprägt ist und schließlich in Menschenjagden, Brandanschlägen und Todesopfern mündet. Die beiden Texte, die sich aus zwei konträren Perspektiven mit jeweils mimetischem Anspruch auf ein und denselben Ort beziehen,11 führen einerseits bereits die beiden gängigen Muster der Bezugnahme auf und der Bewertung von kleinen Städten – die sich klassischerweise zwischen Kleinstadtlob und Kleinstadtkritik bewegen – vor Augen und zeugen andererseits nicht zuletzt davon, dass Situation und Status der Kleinstadt und des Kleinstädtischen in der Gegenwart diskursiv und medial, und ebenso politisch und sozial (Manow 2018: 71-102), stark umkämpft sind. Narrative der Selbsterkundung Neben diesen mitunter sozialkritisch orientierten Werken, die gleichermaßen gesamtgesellschaftliche Transformationen und Verwerfungen an der Peripherie zu fassen suchen, lässt sich in der jüngeren Literatur eine Vielzahl an Texten finden, in denen die autobiografische Selbsterkundung im Rahmen kleinstädtischer Lebenswelten in den Vordergrund tritt. Diese haben über die spezifisch ästhetischen und narrativen Möglichkeiten, die der Topos des Kleinstädtischen bietet, wohl auch rein siedlungsstrukturelle und demografische Voraussetzungen; bilden doch kleine Städte auch heutzutage noch zentrale Knotenpunkte im Städtenetz. Sie stellen damit – auch quantitativ gesehen – noch immer prägende Lebenswelten für viele Menschen dar (vgl. Zimmermann 2003).12 Angesichts der Statistiken wie auch der histo-

10 »Es gab keine Straße, keinen Platz, der nicht von ihnen beherrscht wurde.« (Präkels 2017a: 136) 11 Eine mimetisch orientierte diachrone Schilderung der Transformationen einer Kleinstadt mit jeweils unterschiedlichen erzählerischen Mitteln findet sich etwa in Monika Marons Roman FLUGASCHE (1981) – einem »der ersten deutschsprachigen Umweltromane« (Uhlig 2018: 155) – und in ihrer Reportage BITTERFELDER BOGEN (2009). Erscheint im Roman die Kleinstadt B. noch als »die schmutzigste Stadt Europas« (Maron 1981: 36), so erzählt die Reportage den Wandel der Region Bitterfeld-Wolfen von der umweltverschmutzenden Chemie- und Braunkohleregion zum klima- und arbeitnehmerfreundlichen ›Solar Valley‹ als »eine wundersame Erfolgsgeschichte« (Maron 2009: 7); eine Erfolgsgeschichte, die angesichts des Niedergangs der Photovoltaikindustrie mittlerweile selbst schon wieder historisch überholt ist. 12 So konstatieren aktuelle Statistiken, dass mit dem Stichtag des 31.12.2017 knapp 22 Mio. Menschen in einem klassischerweise als Kleinstadt bezeichneten Ort (5.000 bis 20.000 Einwohner/innen) sowie etwa 22,75 Mio. in einem als Mittelstadt bezeichneten Ort

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rischen Entwicklungen lässt sich mit Hannemann gar sagen: »›Die‹ deutsche Stadt ist offensichtlich eher mittel- und/oder kleinstädtisch geprägt.« (Hannemann 2002: 266) Daher spielen die Formen und Modelle, Funktionen und Erfahrungen des Kleinstädtischen nicht nur in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen immer wieder eine wichtige Rolle, sondern bilden auch zentrale Referenzpunkte in den individuellen Vorstellungen und Lebenswegen. Diese lassen sich nicht zuletzt literatur- und geistesgeschichtlich nachverfolgen.13

(20.000 bis 100.000 Einwohner/innen) lebten (vgl. Statista 2019). Auch eine weitere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis: »Typisch für die Stadtlandschaft in Deutschland sind also die mittleren und kleineren Städte« (Schmidt-Lauber 2010: 13). Wobei hier mit Blick auf das kulturell Imaginäre zu beachten ist, dass es nahezu keine literarischen, filmischen oder künstlerischen ›Mittelstadt-Diskurse‹ und nur wenige soziologische Studien (vgl. Riesman 1958, O’Connor 1985) gibt; die rein statistisch erfasste und auch qualitativ nur schwer abzugrenzende (vgl. Zimmermann 2010: 279, Kersting 2010: 287f.) mittelgroße Stadt erscheint in den kulturellen Imaginationen offensichtlich als Kleinstadt. 13 Auch hier ist der Hinweis wichtig, dass sich das aktuell noch weit geteilte und anerkannte Konzept der Kleinstadt – fußend etwa auf der Bevölkerungsgröße (klassischerweise, aber mit offenen Grenzen: ca. 5.000 bis 20.000 Einwohner), dem Stadtrecht, der städtebaulichen Struktur (in Form von geschlossenen Ortskernen), der gewerblichen Entwicklung (aus dem Handwerk entstehen Industrien), den mit der kleinstädtischen Zentralität verbundenen spezifischen Funktionen (bspw. des Handels und der Dienstleistungen) sowie schließlich auch spezifischer soziokultureller Merkmale (bspw. der sozialen Überschaubarkeit und der Herausbildung lokaler Eliten) – vor allem im 19. Jahrhundert angesichts zunehmender Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse herausgebildet hat (vgl. Beetz 2017: 50); und zwar eben parallel zu einer Hochphase der Kleinstadtliteratur. Es wäre hier durchaus untersuchenswert, in welcher Weise literarische Diskurse im Dialog mit begrifflich-konzeptionellen Fassungen der Kleinstadt und des Kleinstädtischen standen. Laut Hüppauf (2005: 308) ist der mentale Raum der Kleinstadt eine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts, die verbunden war mit medialen Kleinstadtdarstellungen auf Karten, in Reiseführern und -journalen. In die gleiche Richtung geht eine der jüngsten – und raren – Überblicksdarstellungen zum Themengebiet: »Der Topos Kleinstadt in der Moderne wird nicht nur durch sozialgeschichtliche Entwicklungen bestimmt, auch die Literatur hat einen wesentlichen Anteil an der Konstitution eines Bildes, das die Wahrnehmung und Gestaltung der Kleinstadt steuert, indem sie literarische Vorbilder sowie Referenzpunkte zur Verfügung stellt.« (Nowak 2013: 71) Schließlich konstatieren auch geschichtswissenschaftliche Ansätze: »Einen allgemeinverbindlichen quantitativen Kleinstadtbegriff gibt es nicht. ›Kleinstadt‹ muss vom jeweiligen Gegenstand her und im Rahmen von Epochen definiert werden, und je nach Erkenntnisabsicht wird dann weiter regional zu differenzieren sein.« (Zimmermann 2003: 13) Zu den in der Forschung

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In der Gegenwart verweisen darauf etwa Andreas Maiers bereits angesprochenes Großprojekt ORTSUMGEHUNG (seit 2010), Botho Strauss’ Erinnerungen an seine Jugendzeit mit dem Titel HERKUNFT (2014) oder Guntram Vespers Roman FROHBURG (2016). Die Kleinstadt erscheint hier als prägender Ort subjektiver Weltwahrnehmung und individueller Biografien, der auch dann noch seine Wirkung ausübt, wenn der jeweilige Ort selbst schon verlassen wurde. Das spricht etwa Vesper in seiner umfangreichen Autobiografie an. Hier ist es die Vater- und Mutterstadt Frohburg, die ihm auch für das zukünftige Leben »die Meßlatte, die Richtschnur und […] die Grundkonfiguration [lieferte]« (Vesper 2016: 68). Dabei kann die Kleinstadt durchaus einen Befremdungs- und Verstörungsraum bilden. So etwa in Maiers Erinnerungen an sein Aufwachsen in Friedberg in der Wetterau. Die kleine Stadt stellt hier zunächst einmal einen Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen sich die individuelle Entwicklung des Protagonisten in Familie und Schule sowie seine weitergehenden Erfahrungen, Lektüren, Gespräche, Liebschaften und Reisen vollziehen, die zugleich eingebunden sind in die Sozialgeschichte der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren. Das kindliche und jugendliche Leben in der Kleinstadt bewegt sich dabei, das zeigt sich in DER ORT (2015), zwischen den Erfahrungen der Vereinsamung einerseits (z.B. Maier 2015: 22ff.)14 und den Möglichkeiten der Vergemeinschaftung andererseits (z.B. ebd.: 108ff.). 15 Eine der dunkelsten Stellen in diesem Bericht einer Selbsterkundung und Selbstfindung angesichts unterschiedlicher Begehren, Ängste, Angebote und Verunsicherungen, die mitunter zwischen sexueller Erkundung und Missbrauchsassoziationen oszillieren, findet sich in DIE STRASSE (2013). Es ist hier die Schilderung eben jener Straße, an der mittags, wenn die Schüler im Alter von »neun bis elf« (Maier 2013: 82) auf dem Nachhauseweg waren, allem Anschein nach pädophil ausgerichtete ältere Männer vor ihren Häusern auf die Jungen warteten und sie in überaus freundlicher Weise in ihre Häuser lockten, die ein Bild eines mehr oder minder beiläufigen und unbewussten, im Laufe der Zeit auch verdrängten (vgl. ebd.: 82f.), Ausgeliefertseins an eine psychosoziale ›Unterwelt‹ der kleinstädtischen ›guten‹ Gesellschaft zeichnet:

gängigen Definitionsansätzen und -kriterien siehe Steinführer/Vaishar/Zapletalova (2016: 328). 14 »Kein Mensch war auf der Straße. Sogleich, als ich die Straße betrat, am Zaun entlangging und in die Barbarastraße mit ihren kleinen Häusern einbog, fühlte ich mich als einsamer Mensch, der in seinem Mantel allein durch den Schnee läuft, an kleinen Häusern vorbei, die traurig und depressiv daliegen, mit Menschen darin, die mir so fern waren wie ein anderer Planet.« (Maier 2015: 22f.) 15 »Schließlich entwickelten wir ein Gefühl, als gehörte uns die ganze Wetterau und als gehörten wir uns alle gegenseitig« (Maier 2015: 109).

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»Was ich bis heute bemerkenswert finde, ist, daß die Gassen, auf die alle diese Männer traten, überall voller Fenster waren, der Fenster der andren Häuser. Die Fenster in diesen engen Gassen ergaben ein Spiegelkabinett, in dem sich alles hin und her reflektierte, fratzenhaft in dieser ganzen heruntergekommenen Altstadtwinkelromantik. Alle konnten dort oben alles sehen, von Fenster zu Fenster, tausend Blicke gingen hin und her wie die Fäden eines Spinnennetzes in diesen alten Gassen in Friedberg in der Wetterau Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Es war eine Altstadt wie aus einem Weihnachtskalender und zugleich einem Fritz-Lang-Film.« (Ebd.: 79f.)

Die Szene führt dabei zum einen das Wegsehen, Schweigen und Nicht-Handeln der Bürger angesichts des Unerhörten und Verdrängten in ihrer eigenen Mitte vor Augen (schließlich kann der Vorgang nicht nur von allen Nachbarn beobachtet werden, auch die Ehefrauen der Männer wissen Bescheid und verlassen tatenlos die Schauplätze; vgl. ebd.: 80ff.), verweist dann allerdings zum anderen anhand der Schilderungen des Inneren der Häuser, denn diese hat auch der Protagonist betreten, auf den sich bereits abzeichnenden Untergang dieser Welt (zeigt sich hier doch die Gleichzeitigkeit einer konservierten Idylle und eines bereits voranschreitenden Verfalls).16 Neben solchen realistisch erzählten Texten sowie zahlreichen komödiantischen Werken (siehe z.B. die sehr beliebten Bestsellerromane von Alex Capus, aber auch Siegfried Lenz’ LANDESBÜHNE) finden sich allerdings einige, die, wie etwa Christoph Ransmayrs DIE LETZTE WELT (1988) oder Maxim Billers IM KOPF VON BRUNO SCHULZ (2013), ihre kleinstädtischen Schauplätze mit den erzählerischen Mitteln der Fantastik gestalten. Ransmayrs Roman, der die Ovidschen METAMORPHOSEN in eine mit Versatzstücken aus der Gegenwart ausgestattete Welt überführt und transformiert, gestaltet eine zunehmende Verwischung und Aufhebung der Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Der Text folgt dem Protagonisten Cotta auf seiner Suche nach dem aus Rom verbannten Dichter Ovid, im Roman vor allem Naso genannt, in die »eiserne Stadt« Tomi ans Schwarze Meer (Ransmayr 1997: 8f.). Dort sieht er sich einer archaischen Lebenswelt gegenüber, die vor allem durch ihre zeitliche Entrücktheit und ihre räumliche Abgeschiedenheit von der übrigen Welt – insbesondere auch deren Machtzentren sowie der »Symmetrie eines geordneten

16 So heißt es über die Einrichtungsgegenstände in den Häusern: »Sie waren bunt und zugleich farblos, und sie schienen allesamt zu klein zu sein, vor allem wirkten sie einerseits idyllisch und andererseits wie leblos, als seien alle Einwohner des Hauses schon seit Jahrzehnten tot und lägen vielleicht immer noch in den Ecken auf dem Linolboden und verwesten vor sich hin, so daß man jederzeit eine Hand aus Knochen oder einen Totenschädel noch mit Haaren daran hätte finden können. Es war ihr Lebensgeruch. Ein Geruch aus einer anderen Welt.« (Maier 2013: 81f.)

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Lebens« (ebd.: 125) – charakterisiert ist. Dem Protagonisten wird zunehmend klar, »daß er in eine Zwischenwelt geraten war, in der die Gesetze der Logik keine Gültigkeit mehr zu haben schienen, in der aber auch kein anderes Gesetz erkennbar wurde« (ebd.: 220). Die üblichen Gesetzmäßigkeiten – wie etwa diejenigen der Macht, der Zeit oder der Kausalität – sind an diesem Ort aufgehoben. Der »unbezweifelbaren Wirklichkeit Roms« stehen die »Unbegreiflichkeiten der eisernen Stadt« (ebd.: 231) gegenüber. Dabei gestaltet der Roman im Rahmen der kleinen Stadt zwei kontinuierliche Übergänge. Zum einen befinden sich die Stadt (vgl. ebd.: 270) und ihr Umland (ebd.: 285) ebenso wie Cotta (ebd.: 220) und schließlich auch die Stadtbewohner, die sich unter anderem in Tiere verwandeln oder versteinern, selbst in einer Metamorphose.17 Zum anderen erscheint die geschilderte Realität zunehmend als Teil einer Erzählung. Inschriften und Symbole überlagern die Stadt; und auch der Protagonist fühlt sich plötzlich ganz explizit in eine Erzählung versetzt. Der Ort, an dem »die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum vielleicht für immer verloren waren« (ebd.: 221), wird selbst zur Erzählung. Es zeigt sich schließlich im Roman, der als einer der ersten postmodernen Romane im deutschen Sprachraum geschätzt wird, dass die Dichtung Ovids in Tomi in die Wirklichkeit übergegangen bzw. zur Wirklichkeit geworden ist. Diese Vielzahl von zeitgenössischen literarischen Bezugnahmen, von denen hier nur einige Beispiele genannt werden können, ist insofern bemerkenswert, als es sich – der allgemeinen Wahrnehmung zufolge – bei der Kleinstadt wohl um einen der vermeintlich unpoetischsten Orte überhaupt handelt. Die Zeit der Kleinstadt scheint derzeit vor allem eine abgehängte und vergessene Zeit, ja eine Zeit des Gesterns oder gar Vorgesterns zu sein.18 Angesichts der Ausbreitung und Anziehungskraft der Metropolen und der allumgreifenden Nivellierung des Stadt-Land-Gegensatzes drohen kleine Städte auf den ersten Blick in den sozialen und individuellen Vorstellungswelten zunehmend an Raum und Präsenz zu verlieren.

17 Das kündigt der Text gleich zu Beginn mit an; liest Cotta doch in der ehemaligen Einsiedelei, in die Naso aus der kleinen Stadt geflohen war, folgenden Spruch des Dichters: »Keinem bleibt seine Gestalt.« (Ebd.: 15, Hervorh. im Original) 18 Dabei gehört es wohl auch schon in diese vergangene Zeit, dass die kleine Stadt als Projektionsraum einer möglichen Realisierung mitunter utopischer Zukunftsvorstellungen genutzt wurde. So ist etwa Ebenezer Howards Gartenstadt – als »gesunde, natürliche und wirtschaftliche Vereinigung von Stadt- und Landleben« (Howard 1968: 61) – explizit als kleine Stadt mit ca. 30.000 Einwohnern konzipiert (ebd.: 62). Literarisch wiederaufgenommen wird diese Idee dann unter anderem in Ernest Callenbachs ECOTOPIA (1975).

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K LEINSTADTIMAGINATIONEN –

HISTORISCH

Kleinstadtlob und Kleinstadtkritik Die Perspektivierung und Wahrnehmung der Kleinstadt als Anachronismus hat auch kulturhistorische Gründe. Befindet sie sich doch in einer eigenartigen Zwischenstellung – quasi eingespannt in eine doppelte Oppositionsklammer: Gilt auf der einen Seite die Großstadt als prototypischer Ort moderner, komplexer und beschleunigter Lebensverhältnisse und auf der anderen Seite das Dorf als prototypischer Ort traditioneller, einfacher und beständiger Lebensgestaltung,19 so unterlaufen die Erfahrungen und Imaginationen der kleinen Städte seit jeher nicht nur die Gegenüberstellung von Großstadt bzw. Zentrum versus Land bzw. Peripherie 20 sowie die damit verbundenen Projektionen und Wertungen (wie etwa: Fortschritt, Ambivalenz oder Entfremdung einerseits und Authentizität, Naturnähe oder Einengung andererseits), sondern stellen gerade auch in ihren historischen Dimensionen vielfache Überschneidungsflächen zwischen diesen beiden jeweils idealisierten Formen menschlicher Vergemeinschaftung bzw. Vergesellschaftung unter den Bedingungen der Moderne dar. Dementsprechend hatten die Sozialhistoriker Jürgen Reulecke und Clemens Zimmermann bereits 2002 gegenüber der dominierenden Großstadtforschung betont, dass die zahlreich vorhandenen Einzeluntersuchungen

19 Auf diese Zwischenstellung verweist auch Stephan Beetz (2017: 51) aus sozioökonomischer Perspektive: Während einerseits die Großstädte aufgrund des Wachstums der Dienstleistungsbranchen in den wirtschaftlichen Fokus rückten und andererseits die Dörfer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Mobilität und Modernisierung eine Aufwertung als Wohnstandorte erfuhren, gerieten die kleinen Städte seit den 1960er Jahren insbesondere auch dann unter diesen »doppelten Druck« (ebd.), wenn sie – wie vielerorts geschehen – ihre administrativen Funktionen verloren und damit ihre Zentralität aufgeben mussten. 20 Dass dabei allerdings auch die sich im 20. Jahrhundert vollziehenden Transformationen unter anderem im Agrarsektor, im Verkehrswesen, in den Kommunikationsformen sowie in den Lebensstilen zu einer Angleichung von Stadt und Land (vgl. Kersting 2010: 288) bzw. einer Nivellierung des Stadt-Land-Gegensatzes führte, wird in einer ganzen Reihe von Forschungen festgehalten (u.a.: Sieverts 1997, Tenfelde 2006, Langner/Frölich-Kulik 2018); wenngleich ebenfalls festzustellen ist, dass dieser Gegensatz auf anderen Ebenen (Daseinsvorsorge, Einkommen, Kultur-, Freizeit- und Bildungsangebot etc.) und ebenso im globalen Vergleich nach wie vor festzustellen ist (Kersting/Zimmermann 2015) sowie schließlich in diskursiv-kommunikativen Kontexten aufgrund seiner kulturellen Semantiken immer wieder aufgerufen wird und bestimmte Funktionen übernimmt (Redepenning 2019).

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zu Mittel- und Kleinstädten »stärker in das allgemeine Bild der Stadtgeschichte aufgenommen werden sollten« und dass gerade diese Stadttypen näher zu untersuchen seien: »und zwar nicht einfach im Sinne nachholender oder abhängiger Entwicklung, sondern auch nach eigenen Kategorien.« (Reulecke/Zimmermann 2002: 65)21 Nichtsdestotrotz zeigen sich in den öffentlichen und medialen, mitunter aber auch wissenschaftlichen Diskursen vielfach und immer wieder vor allem polar operierende Projektionen, die schließlich sowohl das alltägliche Denken als auch die politischen Bezugnahmen prägen. So stellte bspw. Christine Hannemann noch zu Beginn des neuen Jahrhunderts aus sozialwissenschaftlicher Perspektive fest, dass sich im Begriff der Kleinstadt eine »diametral entgegengesetzte Bildlichkeit« (Hannemann 2002: 271) finden lässt: »Zum einen fungiert ›Kleinstadt‹ als Kennzeichnung von rückständigen, kleinbürgerlichen, langweiligen, unmodernen Lebensverhältnissen; der ›deutsche Michel‹ ist hier zu Haus. Zum anderen suggeriert der Begriff Lebensverhältnisse, die mit Stichworten wie Idylle, Überschaubarkeit, Behaglichkeit, Romantik usw. verbunden werden – insbesondere von großstadtmüden Menschen in dieser Form idealisiert.« (Ebd.)

Davon ausgehend werden kleinstädtische Verhältnisse allzu häufig entweder als eine Art Lackmustest fortschrittlicher Entwicklungen oder aber als letzter Hort des Widerstands bzw. Residuum älterer Lebensformen und Sozialverhältnisse mitsamt ihrer Normen und Werte, Denkmuster und Weltwahrnehmungen imaginiert und konzipiert.22 Historisch, kulturwissenschaftlich, gesellschaftlich und nicht zuletzt literarisch bietet die Kleinstadt daher ein vermeintlich bekanntes und vertrautes Bild individuellen Lebens und spezifischer Sozialverhältnisse. Seit der umfassenden Urbanisierung im 19. Jahrhundert und den damit verbundenen grundlegenden Veränderungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens werden literarische Kleinstädte immer wieder als vermeintliche Gegenstücke zur modernen, urban geprägten Welt vorgestellt und erzählt (Keller 2007: 779).

21 Vgl. etwa die auch konzeptionell ausgearbeiteten Untersuchungen von Zimmermann (1999 u. 2003), Hannemann (2002 u. 2004), Reulecke/Zimmermann (2002), Lanzinger (2003), Gräf (2004), Kolb (2007) sowie jüngst Steinführer (2016), Steinführer/Vaishar/ Zapletalová (2016) und Beetz (2017). 22 Wogegen freilich, und auch dies mag in den Bereich einer Konjunktur nicht nur der Kleinstadtliteratur, sondern ebenso der Kleinstadtforschung führen, in jüngster Zeit markant Einspruch erhoben wird (vgl. Steinführer/Vaishar/Zapletolova 2016, Beetz 2018, Porsche/Milbert 2018).

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Diese Gegenstücke erscheinen in den eben angesprochenen zwei Versionen: In ihrer positiven Variante bietet die Kleinstadt als Idylle eine Antwort auf die wahrgenommene Entfremdung in der Großstadt oder aber auf ungreifbare und unkontrollierbare globale Bewegungen; in ihrer negativen Variante erscheint sie als starr und unbeweglich, als in Traditionen verhaftet und fortschrittsfeindlich. Paradigmatisch zeigt sich dies an zwei Texten, die die jeweiligen prototypischen Pole des Kleinstadtlobs einerseits und der Kleinstadtkritik andererseits markieren und sie zugleich in die Rahmenbedingungen der sich um 1800 abzeichnenden Moderne stellen und unter diesen Bedingungen diskutieren: Johann Wolfgang von Goethes Versepos HERMANN UND DOROTHEA (1797) sowie Christoph Martin Wielands Roman DIE GESCHICHTE DER ABDERITEN (1780). Während Goethes Epos immer wieder auch als Dokument und Vorbild bürgerlicher Selbstversicherung angesichts von außen aufziehender historischer Erschütterungen und moderner Entwicklungen gelesen und verstanden wurde, in und mit dem zentrale bürgerliche Werte (Besitzdenken, Aufstiegswille, Sicherheitsbedürfnis, Ordnungsliebe, Familienbindung, Orientierung an Nachbarschaft und Nation etc.) auf die kleine Stadt projiziert werden, ist demgegenüber Wielands Roman immer wieder auch als Dokument und Vorbild bürgerlicher Selbstkritik angesichts irrationalistischer Tendenzen und als Beispiel für eine auch anthropologisch grundierte Zweifelhaftigkeit an den Verbesserungsmöglichkeiten von Mensch und Gesellschaft gelesen und verstanden worden, die wiederum zentrale Probleme sowohl wissenschaftsorientierter Weltanschauung (Urteilsvermögen, Vernunft(un)tätigkeit) als auch gesellschaftsbezogene und anthropologische Fragen (Religionsgläubigkeit, Massenpsychologie, Funktionen von Kunst und Kultur) sowie nicht zuletzt politische und institutionelle Themenstellungen (Rechtsprechung, Gewaltenteilung) im Rahmen des Kleinstädtischen in satirisch-zugespitzter Weise und (selbst-)aufklärerischer Absicht verhandelt. Zwischen Epos und Idylle Wie die literarisch erzeugten und vermittelten Vorstellungen der großen Stadt (vgl. u.a. Klotz 1969, Riha 1970) einerseits und/oder der dörflich-ländlichen Räume andererseits (vgl. u.a. Hein 1976, Baur 1978), so stellt auch die Kleinstadt nicht nur in kulturellen und sozialen Diskursen einen Topos bereit, sondern bietet zudem eine entsprechende Aufgabe für ihre literarische-künstlerische Ausgestaltung – die nicht zuletzt mit der in unterschiedlichen Kontexten immer wieder aufgerufenen Frage nach der Darstellbarkeit des Kleinstädtischen verbunden ist. So konstatiert etwa Jean Paul mit Blick auf die von ihm so genannten »Romane der deutschen Schule«, d.h. die zwischen Hofwelt und dörflicher Idylle in der Kleinstadt angesiedelten Geschichten und Charakterzeichnungen aus »einer kleinen

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Bürgerwelt« um 1800: »Nichts ist schwerer mit dünnem romantischem Äther zu heben und zu halten als die schweren Honoratiores« (Jean Paul 1975: 254). Seien der Hof mit seinem heroischen Personal und seinen ›großen‹ weltpolitisch wichtigen Themen ebenso wie die Dörfer mit ihren naturnahen idyllischen Schilderzungen der Lebensverhältnisse im Kleinen »den Flügeln des Dichters gleich brauchbar und wegsam« (ebd.), so ist dies in gleichem Maße eben nicht von der mittleren Lage – »welche Flug und Lauf zugleich begehrt« (ebd.) – zu behaupten. Es ist daher festzuhalten, dass »Hauptstadt und Dorf, König und Bauer sich leichter der romantischen Darstellung bequemen als der in der Mitte liegende Marktflecken und Honoratior« (ebd.). Dies benennt nicht zuletzt auch eine Aufgabe, derer sich Goethe mit HERMANN UND DOROTHEA annimmt. In Anknüpfung an das bei Jean Paul angesprochene Darstellungsproblem, dass es sich bei der literarischen Darstellung und Gestaltung kleinstädtischer Lebenszusammenhänge um die Ausarbeitung eines zwischen Epos und Idylle angelegten ›mittleren‹ Feldes handelt, das nicht nur der Zwischenlage und medialen Funktion »bürgerlicher Kultur« (Tenbruck 1986) Rechnung zu tragen hat, sondern zwischen den jeweils stilisierten Protagonisten des Epos (Götter, Helden, Könige) einerseits und der Idylle (Schäfer, Sänger, Landleute, Komödianten) andererseits einen ebenfalls ›mittleren‹ Charakter anzubieten und diesen in seiner Umwelt mehr oder weniger realistisch und damit zugleich nachvollziehbar zu konstituieren hat, lohnt es sich auf Hegels Lob des Goetheschen Kleinstadt-Epos (Epopöe) zurück zu kommen. Lässt sich doch feststellen, dass Goethe nach den Enttäuschungen der Großen Revolution und der Weltgeschichte vor sowohl geschichtsphilosophisch als auch ästhetisch spezifischem Hintergrund zur poetischen Gestaltung und damit gewissermaßen auch ›Hebung‹ der nur noch in den privaten und häuslichen Lebensverhältnissen aufzufindenden Sinnhaftigkeit auf die Form des Epos zurückgreift und diese Form dann den Erfahrungen und Umständen eines kleinstädtischen Mittelstandes anpasst. »Denn meisterhaft«, so Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik über HERMANN UND DOROTHEA, das er dort »als naheliegendes Beispiel eines idyllischen Epos« anspricht, »hat Goethe die Revolution, obschon er sie zur Erweiterung des Gedichts aufs glücklichste zu benutzen wußte, ganz in die Ferne zurückgestellt und nur solche Zustände derselben Handlung eingeflochten, welche sich in ihrer einfachen Menschlichkeit an jene häuslichen und städtischen Verhältnisse und Situationen durchaus zwanglos anschließen« (Hegel 1970: 414f.). Was dabei allerdings die Hauptsache sei: Goethe habe »mitten aus der modernen Wirklichkeit Züge, Schilderungen, Zustände, Verwicklungen herauszufinden und darzustellen verstanden, die in ihrem Gebiete das wieder lebendig machen, was zum unvergänglichsten Reiz in den ursprünglich menschlichen Verhältnissen« (ebd.) gehöre. Für Hegel ist damit der Eintritt der Kleinstadt in die Weltliteratur zugleich auch der Anschluss der Literatur an die Welt der Moderne. Im Blick auf die »neueste Zeit« schreibt er:

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»Denn der ganze heutige Weltzustand hat eine Gestalt angenommen, welche in ihrer prosaischen Ordnung sich schnurstracks den Anforderungen entgegenstellt, welche wir für das echte Epos unerläßlich fanden, während die Umwälzungen, denen die wirklichen Verhältnisse der Staaten und Völker unterworfen gewesen sind, noch zu sehr als wirkliche Erlebnisse in der Erinnerung festhaften, um schon die epische Kunstform vertragen zu können. Die epische Poesie hat sich deshalb aus den großen Völkerereignissen in die Beschränktheit privater häuslicher Zustände auf dem Lande und in der kleinen Stadt geflüchtet, um hier die Stoffe aufzufinden, welche sich einer epischen Darstellung fügen könnten. Dadurch ist denn besonders bei uns Deutschen das Epos idyllisch geworden, nachdem sich die eigentliche Idylle in ihrer süßlichen Sentimentalität und Verwässerung zugrunde gerichtet hat.« (Ebd.: 414, Hervorh. im Original).

Im Blick auf die Kleinstadt geht es hier also bereits um eine spezifische Form, die sowohl den Ansprüchen der Zeit als auch einem gewissen Universalismus genüge leisten kann; und die besondere Aufgabe einer Literatur der kleinen Stadt unter den Bedingungen der Moderne besteht somit, im Anschluss an Hegels Befund, wohl unter anderem darin, dass sie eine Simulation von Lebensverhältnissen durchschnittlicher Menschen auszubilden vermag – und zwar zu Konditionen, die von einem Publikum, das ebenfalls aus den gleichen ›durchschnittlichen‹ Menschen besteht, als Beschreibung ihrer eigenen Realität und zugleich doch als deren Überschreitung im Hinblick auf einen erweiterten oder zumindest erweiterbaren Sinnhorizont wahrgenommen werden kann und damit einen Brückenschlag zwischen Unterhaltung, Belehrung und Besinnung unternimmt. Dies erfordert dann, das zeigt etwa Jean Paul in seinen Romanen SIEBENKÄS (1796/97) und FLEGELJAHRE (1804/05), spezifische ästhetische Anlagen und literarische Techniken, die sowohl auf diese Mittellage und deren nachvollziehbare Gestaltbarkeit zielen als zugleich auch das ›Heben‹ der schweren bürgerlichen Charaktere ermöglichen, ohne deren Wirklichkeitsbezüge in Frage stellen zu müssen. Jean Paul legt dabei Wert auf Stilmischungen und Polyphonie, verschränkt also idyllische und heroische Umstände und lässt seine Charaktere in wechselnden Stimmungen zwischen Natur, Stadt und Hof oszillieren (vgl. Sprengel 1977: 245267). In den FLEGELJAHREN setzt er zudem auf eine Doppelung der Perspektiven und Erzählerstimmen (ebd.: 279-293), baut in diesem Sinne der dann im 19. Jahrhundert sich verstärkt einsetzenden Polyphonie ebenso vor wie den sich bis in die Unterhaltungsliteratur ausbreitenden humoristischen und sentimentalen Brechungen; wobei in ihren Stimmlagen wechselnde, ironische und humoristische Erzähler zur Entfaltung und Beglaubigung der Kleinstadt-Schilderungen aufgeboten werden und sich humoristische Brechung mit reaktionärer Selbstpositionierung durchaus auch mischen kann (Glaser 1969). Vor diesem Hintergrund lässt sich die literarische und literarisierte Kleinstadt sowohl in ihrer bildlich-topologischen Verfestigung als auch in ihrer realitätsbezo-

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genen Ausprägung als ein poetologisch befragbarer und befragter Erfahrungs- und Imaginationsraum bestimmen, der dann auch noch in den Entwicklungslinien gesellschaftlicher und literarisch-künstlerischer Modernisierung bis in die Gegenwart hinein als Mittel der Selbstverortung und Differenzmarkierung genutzt wird.

D IE K LEINSTADT ZWISCHEN R EALITÄT – DER F ALL P ATERSON

UND

V ORSTELLUNG

Reale und mentale Räume Gegenwärtig sind Kleinstädte, so ließe sich vielleicht etwas zugespitzt sagen, beständig mit einer doppelten Bedrohung des eigenen (imaginären) Verschwindens konfrontiert: Schrumpfungsprozessen einerseits stehen Suburbanisierungsprozesse andererseits gegenüber – und mit beiden verbunden zeigt sich die Gefahr, in diesem Dazwischen23 konturlos zu werden: in einem vielfach diskutierten ›Stadt-LandKontinuum‹ zu verschwinden oder als ›Zwischenstadt‹ in der alltagsweltlichen Wahrnehmung (und damit auch hinsichtlich politischer oder medialer Aufmerksamkeit) nur noch, wie es bei Bernd Hüppauf heißt, den bloßen »Anblick eines Überall und Nirgendwo« (Hüppauf 2005: 303) zu bieten. Die eintönige Alltäglichkeit in einem vermeintlichen Überall und Nirgendwo ist eines der zentralen Themen im Film PATERSON (2016) des US-amerikanischen Regisseurs Jim Jarmusch. Paterson ist gleichermaßen der Name des Schauplatzes, einer Industriestadt in New Jersey, des von Adam Driver gespielten Protagonisten, eines Busfahrers und Dichters, und schließlich auch eines in fünf Bänden erschienenen epischen Gedichts (1946 bis 1958) von William Carlos Williams (18831963), der sein Leben in eben jener Stadt verbracht hat und auf den im Laufe der Handlung immer wieder Bezug genommen wird. Dieser Film schildert von Montagmorgen bis Montagmorgen in immer gleichen Sequenzen sieben Tage im Leben des Protagonisten Paterson: vom frühmorgendlichen Erwachen über das Busfahren bis zum allabendlichen Bier in der Kneipe. Mit dem Bus der Linie 23 durchmisst Paterson den gesamten Raum der Stadt; und zwar (von den rein äußeren

23 Tatsächlich wird die Kleinstadt aus den verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven immer wieder auch als Zwischengröße – quasi: nicht ganz Land und nicht ganz (Groß-) Stadt – gefasst. Finden sich in ihr doch gleichermaßen urbane und rurale Lebensstile (Steinführer 2016). »Sie schiebt sich«, so Beetz (2017: 50), »zwischen die Unterscheidung von Stadt und Land.« Aus kultur- und geistesgeschichtlicher Perspektive konstatiert Hüppauf (2005: 307), dass die Kleinstadt den »Machtkampf zwischen Stadt und Land, Zentrum und Peripherie« unterlaufen habe.

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Bewegungen her gesehen) in mehr oder minder immer gleicher Weise und Routine. Dabei geht es dem Film in quasi teilnehmender Beobachtung vor allem um die Wahrnehmung des städtischen Raums von innen heraus und um den individuellen Umgang mit seinen spezifischen Raum-, Zeit- und Sozialordnungen. Bemerkenswert an der Rezeption von PATERSON ist, dass ein Großteil der Rezensionen die Stadt Paterson explizit als Kleinstadt bezeichnen (siehe z.B. unter anderen die Texte in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, der BERLINER ZEITUNG und im SPIEGEL: Göttler 2016, Westphal 2016, Schöning 2016) – obwohl diese immerhin fast einhundertfünfzigtausend Einwohner hat und allein schon vermittels der durch die Kamera vollzogenen Begleitung der Wege Patersons die Ausmaße, Verdichtungen und Ausdifferenzierungen des städtischen Raums deutlich vor Augen geführt werden. Der Film muss also etwas an sich haben, das bei den Rezipienten und Rezensenten trotz aller Offensichtlichkeiten den Eindruck und das Konzept des Kleinstädtischen aktiviert – und damit zugleich darauf verweist, dass der reale Ort und der mentale Raum des Kleinstädtischen nicht deckungsgleich sind. So schreibt Bernd Hüppauf in seinem Artikel zur Kleinstadt als Ort der Moderne: »Vom Geist der Kleinstadt kann ein fester Begriff, der sich auf Fakten und Daten der Geschichte stützt, nichts sichtbar machen, denn seine Grenzen sind unbestimmt und werden in der Phantasie verschoben. Die Kleinstadt als historisches Objekt und die Kleinstadt als Vorstellung sind nicht auf eindeutige Weise miteinander verknüpft und sollten nicht aneinander gemessen werden. In beiden wirkt ein Netz aus Werten und Normen, die nicht unbedingt übereinstimmen.« (Hüppauf 2005: 303)

Es sind also nicht allein die jeweils konkreten räumlichen Gegebenheiten – beispielsweise die Ausdehnung und Dichte der Stadt sowie die Vielzahl und Unterschiedlichkeit ihrer Bauten und Bewohner – entscheidend für den Eindruck und die Vorstellung, die sich menschliche Subjekte von einer spezifischen Kleinstadt machen und anhand derer sie eine konkrete Stadt wahrnehmen, sondern eben auch die jeweils kulturell tradierten und medial vermittelten Bilder und Narrative, die über sie im Umlauf sind und die ein Konkretes zeigen, das sich offensichtlich deutlicher und vertrauter in den räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen der Kleinstadt rahmen lässt. Raum und Zeit der Kleinstadt Im Film PATERSON sind diese Bilder sowohl inhaltlich als auch formal von der Darstellung einer zyklischen Alltagszeit geprägt, die den Lebensrhythmus des Protagonisten bestimmt und den Eindruck des Kleinstädtischen hervorruft. Denn im Zentrum der filmischen Beobachtung wie auch der Handlungen der Protagonisten

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steht der individuelle Umgang mit einer, wie sich mit Michail Bachtin sagen ließe, »zähe[n], klebrige[n] Zeit, die im Raum langsam dahinkriecht« (Bachtin 2008: 185). Es ist diejenige Art von Zeit, die wir aus unseren alltäglichen Routinen und Abläufen kennen: ohne Höhen und Tiefen, langsam und gleichmäßig, ja nahezu unbemerkt und »ereignislos« (ebd.) ablaufend und nicht zuletzt sich beständig wiederholend. Dabei erscheint die zyklische Alltagszeit für Bachtin als ein Kennzeichen des (idyllischen) kleinen Städtchens: »Die Zeit kennt hier keinen fortschreitenden historischen Verlauf, sie bewegt sich in kleinen Kreisen: in einem Tageskreis, einem Wochen-, einem Monatskreis, einem Kreis des ganzen Lebens. Der Tag ist nie ein Tag, das Jahr nie ein Jahr, das Leben nie ein Leben. Von Tag zu Tag wiederholen sich die gleichen alltäglichen Handlungen, die gleichen Gesprächsthemen, die gleichen Worte usw. Die Menschen in dieser Zeit essen und trinken, schlafen, haben Ehefrauen, haben Geliebte (keine romanhaften), spinnen kleine Intrigen, sitzen in ihren Läden oder Büros, spielen Karten und ergehen sich in Klatscherei. Das ist die normale, gewöhnliche zyklische Alltagszeit« (ebd.).

Eine Darstellung und Vermittlung dieser zyklischen Alltagszeit findet Bachtin in Flauberts MADAME BOVARY (1857); und ebenso in der russischen Literatur, bspw. in den Werken von Gogol, Turgenjew und Tschechow (ebd.). In Flauberts Roman aus der Mitte des 19. Jahrhunderts heißt es: »Seit den Ereignissen, die hier erzählt werden sollen, hat sich tatsächlich in Yonville nichts verändert. Die blecherne Trikolore dreht sich noch immer oben auf dem Kirchturm; der Laden des Modewarenhändlers läßt weiter seine beiden Kattunbänder im Wind wehen; die Fötusse des Apothekers, wie Bündel weißer Schwämme, zersetzen sich mehr und mehr in ihrem trüben Spiritus, und über dem großen Tor des Gasthofs zeigt der vom Regen ausgebleichte alte goldene Löwe den Passanten immer noch seine Pudelmähne.« (Flaubert 2012: 97)

Dabei ruft der Roman auch das Bild einer strukturellen und kulturellen Abgeschiedenheit – bis ins Jahr 1835 etwa führte keine brauchbare Straße in den Ort hinein (ebd.: 94) – auf, die nicht zuletzt die Voraussetzung für die jeweiligen Klagen über das Unzeitgemäße des Orts ebenso wie für Modernisierungs- und Reformbestrebungen, von denen einige von Flauberts Figuren angesprochen werden (z.B. ebd.: 178, 190), bildet. Das Konstatieren der abgeschiedenen Existenz in einer zyklischen Zeit führt zugleich zur Gegenbewegung: dem potenziellen bzw. aspirierten Import eines voranschreitenden und auf Entwicklung abzielenden Zeitmodells, anhand dessen die Kleinstadt immer wieder gemessen und bewertet wird. Insofern finden sich hier zwei Zeitmodelle räumlich vorgeprägt, die kultur- und literaturgeschichtlich in verschiedenen Formen immer wieder aufgenommen werden; dabei kommt das eine konkret realisiert und materialisiert vor, während das andere explizit oder implizit

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am Horizont erscheint. Eine solche Zeitstruktur findet sich in den unterschiedlichen internationalen Literaturen zu verschiedenen historischen Zeiten und kulturellen Kontexten in den Imaginationsraum des Kleinstädtischen eingeschrieben; sie kann gewissermaßen als kulturelles Deutungsmuster kleinstädtischer Lebenswelten verstanden werden. Dabei ist sie nicht auf ein bestimmtes Genre beschränkt, sondern passt sich den jeweiligen – alltäglichen wie auch literarischen – Erzählbedürfnissen an. Das zeigt sich unter anderem in Erich Kästners Gedicht KLEINE STADT AM SONNTAGMORGEN (1929): Das Wetter ist recht gut geraten. Der Kirchturm träumt vom lieben Gott. Die Stadt riecht ganz und gar nach Braten und auch ein bisschen nach Kompott. Am Sonntag darf man lange schlafen. Die Gassen sind so gut wie leer. Zwei alte Tanten, die sich trafen, bestreiten rüstig den Verkehr. Sie führen wieder mal die alten Gespräche, denn das hält gesund. Die Fenster gähnen sanft und halten sich die Gardinen vor den Mund. Der neue Herr Provisor lauert auf sein gestärktes Oberhemd. Er flucht, weil es so lange dauert. Man merkt daran: Er ist hier fremd. Er will den Gottesdienst besuchen, denn das erheischt die Tradition. Die Stadt ist klein. Man soll nicht fluchen. Pauline bringt das Hemd ja schon! Die Stunden machen kleine Schritte und heben ihre Füße kaum. Die Langeweile macht Visite. Die Tanten flüstern über Dritte. Und drüben, auf des Marktes Mitte, schnarcht leise der Kastanienbaum. (Kästner 2004: 134f.)

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Auch bei Kästner findet sich ganz explizit eine Materialisierung zyklischer Zeitstrukturen, wie sie bereits Bachtin feststellt. Zeit erscheint hier von »einfacher und grob-materieller Art« (Bachtin 2008: 185) zu sein; wodurch sie fest verwachsen ist mit den jeweiligen Objekten und Örtlichkeiten: »mit den Häuschen und Stübchen des Städtchens, mit den verschlafenen Straßen, dem Staub und den Fliegen, den Klubs, den Billardspielen usw. usf.« (ebd.).24 Eine solche die Wahrnehmung des Kleinstädtischen prägende materialisierte Zeitstruktur findet sich auch gegenwärtig in der Literatur wieder.25 Im bereits erwähnten DEUTSCHBODEN von Moritz von Uslar heißt es aus der Perspektive des Reporters (passenderweise im Kontext eines Kneipengesprächs) angesichts seiner Erlebnisse in der Kleinstadt, die in durchaus vielfältiger Weise vorhanden waren und aufgezeichnet wurden: »[E]s war vielleicht überhaupt das zentrale Thema der Kleinstadt: Es ging um Langeweile und darum, wie die Arbeitslosigkeit – das große Nichts, Nichtstun und fortgesetzte Nichtstun, das Morgen-und-Übermorgen-weiter-Nichtstun, das Zum-Nichtstun-Verdammtsein – den Alltag der Jungs bestimmte. Moment. Für einen Moment lang sah ich deutlich vor mir, dass ich in den Wochen in der Kleinstadt ja selten mehr als absolut nichts gesehen hatte. Es war immer alles nichts gewesen, es hatte sich nie auch nur die kleinste Kleinigkeit abgespielt. Alles immer aufregend, dabei alles ein großes, alles umfassendes, allmächtiges, alles überstrahlendes Nichts. Auf der Hauptstraße: nichts los. Auf der Aral-Tankstelle: nichts gewesen. In der Kneipe Schröder, im Gasthaus zur Alten Eiche, bei Franky’s, im Haus Heimat, in den Autos, die Tag und Nacht durch die Kleinstadt bummsten, im Proberaum der Band 5 Teeth Less: Nie war etwas gewesen, nie war je irgendwas passiert. Es würde auch in Zukunft: nichts passieren.« (von Uslar 2012: 353f.)

24 Diese starke Wendung zum Materiellen lässt sich ebenfalls in neueren Kleinstadttexten beobachten. So beginnt etwa die sehr umfangreiche Autobiografie Guntram Vespers mit einer seitenlangen Aufzählung der verschiedenen Objekte und Orte, die die kleine Stadt wie auch das eigene Leben prägten und prägen (vgl. Vesper 2016: 7ff.). 25 Das gilt selbstverständlich nicht nur für die deutschsprachige, sondern auch für die internationale Literatur. In Andrzej Stasiuks reflexiv verfahrendem und auch metaphysisch orientiertem Roman DIE WELT HINTER DUKLA (poln. DUKLA, 1997) heißt es dazu: »Damals habe ich mir geschworen, nie mehr am Sonntag nach Dukla zu fahren, wenn die Menschen den Nachmittag in den Häusern verbringen, Lähmung auf Markt und Straßen kriecht und die Materie in ihrer ursprünglichsten, urfaulen Gestalt alle Löcher und Ritzen erfüllt, das Licht, die Luft und menschliche Spuren daraus verdrängt, sogar die Zeit verdrängt für ein paar Vormittagsstunden, ehe sich die Kneipen bevölkern, weil zu Hause den Männern der Nachmittag an die Kehle will.« (Stasiuk 2002: 34)

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Der kleinstädtische Chronotopos26 bildet daher, wie es bei Bachtin heißt, das Organisationszentrum (vgl. ebd.: 187) der literarisch gestalteten Ereignisse (oder in diesem Fall auch: Nicht-Ereignisse), er ist also für die Art und Weise des Erzählens von und in der Kleinstadt von grundlegender Bedeutung. Dabei kann die im Kleinstädtischen materialisierte zyklische und ereignislose Zeit, so Bachtin weiter, immer nur die Zeit der Nebenhandlung sein, von der sich die »ereignisreiche[] und energiegeladene[]« (ebd.: 186) Zeit der Haupthandlung abhebt. Erst dann, wenn die Beständigkeit der Abläufe und Zustände durch ein außergewöhnliches und unerwartetes Ereignis durchbrochen wird, erst dann kann (und muss) erzählt werden. Daher bezeichnet beispielsweise der Philosoph Odo Marquard Geschichten generell als »Ablauf-Widerfahrnis-Gemische« (Marquard 2000: 61). Diese grundlegende Bedingung für das – alltägliche wie auch literarische – Erzählen findet sich so auch im kulturellen Deutungsmuster der Kleinstadt wieder; sie kann aus dieser Perspektive gewissermaßen zunächst immer nur ›nebensächlicher‹ Natur sein. Denn eine solche Erzählstruktur ›fordert‹ den Einbruch eines unerwarteten und die Handlung vorantreibenden Ereignisses, das entweder direkt von außen kommt oder aber mit Blick auf ein antizipiertes oder imaginiertes Außen – häufig assoziiert mit der Großstadt – erzeugt wird. Beispielhaft zeigt sich dies in einem der bekanntesten Kleinstadttexte überhaupt: in Gottfried Kellers Novelle KLEIDER MACHEN LEUTE. In dieser ist es der mittellose Schneider Strapinski, der an »einem unfreundlichen Novembertage« (Keller 1987: 298) in die wohlhabende Kleinstadt Goldach kommt und dort für einen polnischen Grafen gehalten wird. Die dann später von Strapinski forcierte bzw. aufrecht erhaltene Maskerade ist jedoch, zunächst einmal, nicht etwa von diesem selbst in betrügerischer Absicht erfunden, sondern wohl vor allem der kleinstädtischen Lebensweise geschuldet, die nach einem außergewöhnlichen Ereignis strebt und sich dafür selbst die passenden Figuren als Handlungsträger imaginiert. Denn über die Bewohner Goldachs, die nahezu jede Handlung und Gebärde des Schneiders, wie auch immer sie sein mögen, in ein Narrativ des Außergewöhnlichen einspinnen, heißt es:

26 Zum Begriff siehe die bekannte und vielzitierte Definition: »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.« (Bachtin 2008: 7)

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»Diese Leute waren nichts weniger als lächerlich oder einfältig, sondern umsichtige Geschäftsmänner, mehr schlau als vernagelt; allein da ihre wohlbesorgte Stadt klein war und es ihnen manchmal langweilig darin vorkam, waren sie stets begierig auf eine Abwechslung, ein Ereignis, einen Vorgang, dem sie sich ohne Rückhalt hingaben. Der vierspännige Wagen, das Aussteigen des Fremden, sein Mittagessen, die Aussage des Kutschers waren so einfache und natürliche Dinge, daß die Goldacher, welche keinem müßigen Argwohn nachzuhängen pflegten, ein Ereignis darauf aufbauten wie auf einen Felsen.« (Keller 1987: 315)

Der Ausbruch aus den alltäglichen Abläufen – sei er nun realisiert oder aber lediglich aspiriert und imaginiert – kann als ein klassisches Muster der literarisch oder filmisch erzählten Kleinstadt gesehen werden. Er zeigt sich über die Literatur hinaus in einer ganzen Reihe ambitionierter Filme und Serien, die die Kleinstadt als Handlungsraum, Projektionsfläche und auch Experimentierfeld bespielen und für spezifische Fragestellungen nutzen. Fokussiert und inszeniert wird dabei ein doppelter Aufbruch und Ausbruch: einerseits aus zyklischen Zeitläuften und andererseits aus sozialräumlichen Geschlossenheiten. Erstere Variante zeigt sich bspw. im Film GROUNDHOG DAY (1993), in dem der Protagonist (gespielt von Bill Murray) ein und denselben Tag in der kleinen Stadt Punxsutawney immer wieder zu durchleben hat und anhand verschiedener Variationen seiner Handlungen (bis hin zum Selbstmord) aus diesem auszubrechen sucht. Ebenso ist dies in der deutschen Netflix-Serie DARK (seit 2017) zu sehen, in der die gesamte Kleinstadt Winden in einer geschlossenen Zeitschleife gefangen ist, die den Zuschauern anhand einer hochkomplexen narrativen Verschränkung verschiedener Zeitebenen und einer streng kausalen Kette von Ursachen und Wirkungen präsentiert wird.27 Letztere Variante wird bspw. in Peter Weirs Film THE TRUMAN SHOW (1998) inszeniert, in dem der Protagonist (gespielt von Jim Carrey) als Kleinkind von einem Fernsehstudio adoptiert wurde und nunmehr ein von Kameras totalüberwachtes und durchgehend im Fernsehen ›live‹ übertragenes Leben in einem riesigen und nach außen hin abgeschlossenen Studio, das eine kleine Stadt mitsamt Umland bildet, verbringt; und ebenso auch in Lars von Triers Film

27 So heißt es gleich zu Beginn der ersten Episode, in der in einer langen Einstellung Bilder der verschiedenen Protagonisten in ihren unterschiedliche zeitlichen Versionen gezeigt und sich wie in einer kriminalistischen Netzwerkanalyse miteinander verbunden finden, leitmotivisch – insofern die zentralen Gedanken im Verlauf der Serie immer wieder aufgenommen und variiert werden – aus dem Off: »Wir vertrauen darauf, dass die Zeit linear verläuft. Dass sie auf ewig gleichförmig voranschreitet, bis in die Unendlichkeit. Aber die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nichts als eine Illusion. Gestern, Heute, Morgen folgen nicht aufeinander. Sie sind in einem ewigen Kreis miteinander verbunden. Alles ist miteinander verbunden.«

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DOGVILLE (2003) dargestellt, in dem sich die Protagonistin (gespielt von Nicole Kidman) auf der Flucht vor Gangstern in eine Kleinstadt in den Bergen verirrt, den Bewohnern als Dank für ein Versteck bei der Arbeit hilft, dabei aber zunehmend ausgenutzt wird und schließlich als Gefangene des Orts psychischen wie physischen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung ausgeliefert ist. In den beiden Filmen wird so immer auch auf die mit jeweils unterschiedlichen Funktionalisierungen verbundene experimentelle Versuchsanordnung in den räumlichen Strukturen der kleinen Stadt zurückgegriffen. Abb. 1: räumliche Strukturen als experimentelle Versuchsanordnungen.

Filmstills aus DOGVILLE (oben) und THE TRUMAN SHOW (unten)

Während DOGVILLE in Nachfolge und Aneignung der Techniken des epischen Theaters vor allem in sozialkritischer Weise und drastischer Darstellung von den Verwerfungen kleinstädtischer Gemeinschaften berichtet, führt die TRUMAN SHOW in komödiantisch zugespitzter Weise das Leben des Durchschnittsamerikaners vor

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Augen; wobei es in beiden Filmen aus Sicht der Zuschauer als logisch und notwendig erscheint, dass die Protagonisten aus den geschlossenen räumlichen, zeitlichen und sozialen Strukturen des Kleinstädtischen auszubrechen suchen. Dieses Muster des antizipierten oder realisierten Ausbruchs aus der sozialen Abgeschlossenheit einerseits und der zyklischen Zeitstruktur andererseits findet sich jedoch im Film PATERSON bemerkenswerterweise nicht in derselben Weise wieder; und das macht zugleich eine der Eigenarten des Films aus. Denn in diesem sind ereignishafte Besonderheiten immer auch Alltäglichkeiten (und umgekehrt) – die gezogene Waffe in der Kneipe ist gleichberechtigter Teil des Handlungsverlaufs wie der stehengebliebene Bus, die tagtäglichen Spaziergänge mit dem Hund und die Beobachtung der Fahrgäste und Umgebung. PATERSON – der Film wie auch dessen Protagonist – arbeitet so an einer Poetisierung der alltäglichen Dinge, Abläufe und Orte, die wiederum darauf verweist, dass menschliche Individuen die sie umgebenden Räume durch die von ihnen produzierten und rezipierten symbolischen Formen wahrnehmen und deuten. Das macht der Film auch visuell deutlich, indem er die Gedichte des Alltagspoeten Paterson über den Schauplatz legt. Die Texte, die ursprünglich aus der Feder des amerikanischen Dichters Ron Padgett (veröffentlich 2017 unter dem Titel: DIE SCHÖNSTEN STREICHHÖLZER DER WELT) kommen und für den Film geschrieben wurden, überlagern hierbei in verschiedenen Einstellungen den konkreten Ort und machen ihn in seiner Vieldeutigkeit doch zugleich auch zugänglich – sowohl für den Protagonisten auf der Ebene der Handlung als auch für die Zuschauer im Prozess der Rezeption. Abb. 2: Patersons bzw. Ron Padgets Gedichte im Film

Filmstills aus PATERSON

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Sie zeigen damit auch, wie und in welchen historischen, sozialen und kulturellen Kontexten literarische Texte spezifisch kleinstädtische Räume in jeweils eigener und eigensinniger Weise deuten und vermitteln – indem sie diese mit Normen und Werten, Erinnerungen und Erfahrungen, Wahrnehmungen und Ideen besetzen und dabei vor Augen führen, wie sich Menschen über den Umweg des Erzählens einen konkreten Raum anverwandeln;28 und wie sie sich dabei jeweils in spezifischer Weise in diesem Raum und zu diesem Raum zu positionieren und zu verhalten suchen.29 Literarisches und filmisches Erzählen bringt dabei, das zeigt PATERSON unter anderem anhand seiner Figuren, einerseits konkrete Erfahrungen im kleinstädtischen Raum zum Ausdruck und prägt diese Erfahrungen doch andererseits immer auch schon vor.

A MBIVALENZEN

DER

K LEINSTADTLITERATUR

Kleinstadtliteratur stellt sich damit als ein literarischer und lebensweltlicher Diskurs dar, der die Ambivalenzen moderner Lebenswelten reflektiert und mitunter gar vorwegnimmt; und zugleich verweisen die jeweiligen Texte darauf, dass die mit der Kleinstadt verbundenen individuellen und sozialen Lebensverhältnisse sowohl in ihren gegenwärtigen Zuständen als auch in ihren historischen Entwicklungen wesentlich vielgestaltiger, differenter und ambivalenter sind als dies eine unilineare Vorstellung sozialer und kultureller Modernisierung suggeriert. Das lässt sich unter anderem am Beispiel eines jener Klassiker der Kleinstadtliteratur beobachten, die oben bereits angesprochen wurden: Gottfried Kellers Novellensammlung DIE LEUTE VON SELDWYLA.

28 Diese anthropologische Perspektive ist auf einer strukturellen und motivischen Ebene bereits in William Carlos Williams’ Langgedicht PATERSON enthalten, das dem Film auch damit als Vorbild dienen kann. In einem dem Poem vorangestellten Kommentar aus dem Jahr 1951 verweist Williams (1992: xii) darauf, dass es ihm mit diesem Text unter anderem um Ähnlichkeitsverhältnisse zwischen der geistigen Konstitution moderner Menschen und den Gegebenheiten einer Stadt ging: »The thing was to use the multiple facets which a city presented as representatives for comparable facets of contemporary thoughts thus to be able to objectify the man himself as we know him and love him and hate him.« (Ebd.: xiii) 29 Diese Dimension wird im Verhalten von Patersons Partnerin noch einmal besonders inszeniert, die ihren Mann abends jeweils nicht nur mit einem neuen und selbst geschneiderten Kostüm überrascht, sondern dazu eine jeweils andere Rolle spielt; es also Tag für Tag darauf anlegt, als neuer, anderer Mensch in Erscheinung zu treten.

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Die kleine Stadt in der Moderne Zum einen, so wurde es zuvor schon erläutert, basieren beide Großerzählungen des Kleinstädtischen (eben die idyllische und die anachronistische Variante) auf einer grundlegenden Widerständigkeit gegenüber modernen Entwicklungen, die im Raum und Modus des kleinstädtischen Lebens angesiedelt und entsprechend literarisch entfaltet werden kann. Bereits bei Keller findet sich jedoch in der Einleitung zum ersten Teil der Novellen (1856) eine dem entgegengesetzte Deutung, die die Kleinstadt als paradigmatischen Ort der Moderne beschreibt und sie in deren Zentrum rückt. Lassen sich hier doch die Ambivalenzen moderner Lebenswelten stellvertretend beobachten. Denn trotz der Tatsache, dass Seldwyla »noch in den gleichen Ringmauern und Türmen wie vor dreihundert Jahren« (Keller 1987: 9) und dementsprechend bis heute im »unveränderliche[n] Kreislauf der Dinge« (ebd.: 11) stecke – und »also immer das gleiche Nest« (ebd.: 9) geblieben sei –, sind doch seine Bewohner von einem neuen, ja beispielgebend modernen Schlage und können gar als Vorbilder des mittlerweile zum Schlagwort gewordenen flexiblen Menschen gelten (Sennett 1998). Sie zeichnen sich nicht nur durch ihre »große politische Beweglichkeit« (ebd.: 11) aus, sondern sind vor allem auch dadurch geprägt, dass sie – insbesondere in jungen Jahren (20- bis 36-jährig) – nicht mehr direkt mit der sie umgebenden Realität umgehen (bspw. durch Bearbeitung der Natur) und stattdessen in einer mehr oder minder abstrakten, ja spekulativen Wirklichkeit leben; finden sie doch ihre Profession in der »Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehrs« (ebd.: 10) und lassen vor allem »fremde Leute für sich arbeiten« (ebd.). Seldwyla wird so zum »Paradies des Kredites« (ebd.). Somit sind gerade die Kleinstädter nicht etwa nur gut gerüstet für die anstehende Globalisierung (schließlich könne man bereits »in den verschiedensten Weltteilen […] Seldwyler treffen«, ebd.),30 sondern werden vielmehr selbst zur treibenden Kraft der Modernisierung und ihrer Verbreitung: »Immer sind sie in Bewegung und kommen mit aller Welt in Berührung« (ebd.: 296), heißt es dazu in der Einleitung zum zweiten Teil (1874/75) der Novellensammlung. Ja, sie werden letztlich zu Agenten einer umfassenden Modernisierung. Denn nur wenige Jahre nach dem ersten Teil, so wird hier konstatiert, »hat sich das allgemeine Leben so gestaltet, daß die besonderen Fähigkeiten […] der Seldwyler sich« umso »herrlicher darin entwickeln« konnten (ebd.: 295). Gemeint ist damit »insonderlich die überall verbreitete Spekulationsbetätigung in bekannten und unbekannten Werten, welche den Seldwylern ein Feld eröffnet hat, das für sie wie seit

30 Entsprechend reich ist, darauf verweist paradigmatisch auch Gottfried Kellers Novelle PANKRAZ, DER SCHMOLLER, der Anteil an Rückkehrern in die kleine Stadt; sei es, um deren Konventionen zu kontrastieren oder aber um die Erfahrungen der Ferne in diese mit einzubringen (und dort ggf. auch wieder versanden zu lassen).

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Urbeginn geschaffen schien« (ebd.: 296). Kurz: Die Welt hat sich mittlerweile, so könnte man etwas zugespitzt sagen, an Seldwyla angepasst. Das kleinstädtische Leben nimmt hier – trotz aller Ironie, mit dem es beschrieben wird – gewissermaßen eine Vorreiterrolle ein. Die Kleinstadtbewohner können als Globalisierungsgewinner gelten. Und zwar trotz dessen, dass sich die einzelnen Figuren immer wieder auch, wie bspw. in den Novellen ROMEO UND JULIA AUF DEM DORFE oder KLEIDER MACHEN LEUTE, in einem engen gesellschaftlichen Korsett wiederfinden und soziale wie auch ökonomische Abhängigkeiten vor Augen führen. Im kleinstädtischen Rahmen zeigt sich dabei eine Gleichzeitigkeit und ein Aufeinandertreffen von traditionellen Moralvorstellungen und Handlungsweisen sowie moderner Geldwirtschaft und zunehmender soziökonomischer Ausdifferenzierung. Zum anderen ist aber darüber hinaus aus historischer Perspektive festzuhalten, dass kleinstädtische Lebensverhältnisse und Sozialformen im Wesentlichen geprägt sind von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die bereits im 19. und 20. Jahrhundert zu verzeichnen ist und ein Nebeneinander verschiedener Lebenswelten hervorruft (Zimmermann 2003); ein Nebeneinander, das sich städtebaulich und architektonisch fassen lässt und zur »Überlagerung mehrerer Zeitebenen« (Hannemann 2002: 274) führt. Dieses Nebeneinander und die damit einhergehende Ambivalenz prägen so auch den literarischen Bildervorrat der Kleinstadt. Ein Beispiel bietet hierfür erneut Keller mit seiner Novelle KLEIDER MACHEN LEUTE. Nach seiner ersten Nacht in Goldach betrachtet der Schneider Strapinski die kleine Stadt, in die es ihn verschlagen hat, etwas genauer: »Mit ganz anderer Miene besah er sich die Stadt, als wenn er um Arbeit darin ausgegangen wäre. Dieselbe bestand größtenteils aus schönen, festgebauten Häusern, welche alle mit steinernen oder gemalten Sinnbildern geziert und mit einem Namen versehen waren. In diesen Benennungen war die Sitte der Jahrhunderte deutlich zu erkennen. Das Mittelalter spiegelte sich ab in den ältesten Häusern oder in den Neubauten, welche an deren Stelle getreten, aber den alten Namen behalten aus der Zeit der kriegerischen Schultheiße und der Märchen. Da hieß es: zum Schwert, zum Eisenhut, zum Harnisch, zur Armbrust, zum blauen Schild, zum Schweizerdegen, zum Ritter […] und dergleichen. Die Zeit der Aufklärung und der Philanthropie war deutlich zu lesen in den moralischen Begriffen, welche in schönen Goldbuchstaben über den Haustüren erglänzten, wie: zur Eintracht, zur Redlichkeit, zur alten Unabhängigkeit, zur neuen Unabhängigkeit, zur Bürgertugend a, zur Bürgertugend b, zum Vertrauen, zur Liebe, zur Hoffnung […]. Endlich verkündete sich an den neuesten Häusern die Poesie der Fabrikanten, Bankiere und Spediteure und ihrer Nachahmer in den wohlklingenden Namen« (Keller 1987: 316f.).

Die kleine Stadt fungiert hier als nahezu allumfassender Speicher der Zeit: In ihr finden die verschiedenen historischen Entwicklungen und Mentalitäten ihre materialisierte Form und ihren materialisierten Ausdruck. An der Kleinstadt lässt sich

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daher in besonderem Maße die »Brechung und Vielgestaltigkeit der historischen Prozesse ablesen« (Zimmermann 1999: 5). Dies gilt gleichermaßen für die ›reale‹ wie auch imaginäre Kleinstadt. Als Topos entwickelte sie daher, so ließe sich wohl sagen, eine eigene Zeit und einen eigenen Raum. Die kleine Stadt als Modell und Aushandlungsort der Moderne Erzeugt, vermittelt und weitergeschrieben wurde dieser lebensweltliche Topos nicht zuletzt von einer Vielzahl literarischer Kleinstadttexte, die die Denkungsarten ihrer Zeit nicht nur wiedergeben, sondern ebenso beeinflussen und prägen; und zwar auch, indem sie spezifische Deutungsmuster kleinstädtischer Lebenswelten entwickeln und menschliche Individuen darin verorten. Die literarische und literarisierte Kleinstadt wird dabei zum Aushandlungsort und Modellfall moderner und urbaner Entwicklungen (wie z.B. in Wilhelm Raabes AKTEN DES VOGELSANGS, 1896, anhand derer der Prozess einer zunehmenden Suburbanisierung beschrieben wird), geordneter Lebenswelten und ihrer Bedrohung von innen und außen (wie z.B. in Goethes HERMANN UND DOROTHEA) oder anthropologisch orientierter Ergründungen der menschlichen Natur und des menschlichen Geistes (wie z.B. in Wielands GESCHICHTE DER ABDERITEN). Dabei ist die Modellhaftigkeit der kleinen Stadt mit Wieland zu einem klassischen Deutungsmuster geworden. Dieser kündigt seinen Roman im vorangestellten Vorbericht als einen »Beytrag zur Geschichte des menschlichen Verstandes« (Wieland 1984: 5) an; und sucht so gleich zu Beginn für eine gewisse Rezeptionshaltung zu sorgen, die die Universalität der verhandelten Themen und Geschehnisse in den Blick nimmt. Handele es sich doch, so Wieland in seinem nachgelieferten SCHLÜSSEL ZUR ABDERITENGESCHICHTE, bei dieser Geschichte um »eine der wahresten und zuverlässigsten« (ebd.: 306f.). Damit verbindet sich dann ihre spezifische Funktion; könne sie doch »als getreuer Spiegel betrachtet werden, worin die neuern ihr Antlitz beschauen« (ebd.: 307). Denn bei Abdera und den Abderiten handelt es sich nicht etwa um einen zeitlich und geographisch begrenzten Sozialraum, sondern vielmehr um ein allgemeines Modell menschlichen Zusammenlebens, das auf die Gegenwart übertragbar ist und, das zeigen die zeitgenössischen Reaktionen auf Wielands Roman, vielfach übertragen wurde.31 Die Abderiten sind dementsprechend, so Wieland, »ein unzerstörbares, unsterbliches Völkchen«; man findet sie daher ganz folgerichtig: »allenthalben« (ebd.: 302, Hervorhebungen im Original).

31 So dann auch in der weiteren Nachfolge des Wielandschen Kleinstädters; vgl. etwa die populären Lustspiele DIE DEUTSCHEN KLEINSTÄDTER (1802) von August von Kotzebue oder FREIHEIT IN KRÄHWINKEL (1848) von Johann Nestroy sowie das Hörspiel DER PROZESS UM DES ESELS SCHATTEN (1958) von Friedrich Dürrenmatt.

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Diese Modellhaftigkeit der kleinen Stadt zeigt sich dann auch zu Beginn und im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder. Während in Heinrich Manns DIE KLEINE STADT (1909) ein Ausnahmezustand, in Gang gesetzt durch das Auftauchen einer Künstlertruppe, die Stadt erfasst und dabei die Vielstimmigkeit der Bewohner vor Augen führt und demokratische Prozesse initiiert, kündigt Hans Fallada in einem namentlich gekennzeichneten Kommentar noch vor dem ›Vorspiel‹ seines Romans BAUERN, BONZEN UND BOMBEN (1931) auf den ersten Seiten einen »Kampf aller gegen alle« (Fallada 1964: 12) an, der in der Nachfolge der berühmten Naturzustandstheorie Thomas Hobbes’ eben jenen Naturzustand – in dem es für jeden Einzelnen rational ist, seinen potenziellen Widersachern möglichst zuvorzukommen und diese zu unterwerfen – im Sozialen und Politischen der Kleinstadt verortet. Dabei hebt Fallada noch einmal explizit die Stellvertreterrolle hervor, die die erzählte Kleinstadt aufgrund ihres modellhaften Charakters einnimmt und die ihre Übertragbarkeit nicht nur auf andere kleine, sondern auch auf große Städte gewährleisten soll: »Meine kleine Stadt steht für tausend andere und für jede große auch.« (Ebd.)32 Ähnliche Übertragungsleistungen finden sich auch in einer Vielzahl weiterer Werke der Weltliteratur; so etwa, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen, in Sinclair Lewis’ MAIN STREET (1920), einem der meistverkauften Romane aller Zeiten in Amerika (Poll 2012: 13): »This is America – a town of a few thousand, in a region of wheat and corn and dairies and little groves. The town is, in our tale, called ›Gopher Prairie, Minnesota.‹ But its Main Street is the continuation of Main Streets everywhere. The story would be the same in Ohio or Montana, in Kansas or Kentucky or Illinois, and not very differently would it be told Up York State or in the Carolina hills.« (Lewis 1920: 2)

Gerade im Kontext der ambivalenten Wahrnehmungen und Erfahrungen der Moderne wird die kleine Stadt in Literatur, Film33 und Alltag immer wieder als imaginäre Modellbildung und Orientierungsgröße herangezogen.34

32 Dass das Konzept des Kleinstädtischen dabei als ein Modell fungiert, mittels dessen mitunter größere, abstraktere oder vermeintlich komplexere (reale) Orte und Zusammenhänge verständlich gemacht werden sollen, ist auch in der alltäglichen kommunikativen Praxis gar nicht untypisch. So konstatiert etwa ein Zeitungsartikel über die Metropole Tokio, dass der Alltag in dieser erstaunlich gut funktioniere; was wiederum damit erklärt wird, dass die Metropole nicht etwa nur vielerorts wie eine Kleinstadt aussehe, sondern eben auch wie eine solche funktioniere (Lill 2016: 31). 33 Dabei lässt sich auch eine ganze Reihe filmischer Beispiele anführen, die die Stellung der kleinen Stadt in der Moderne sowie die damit verbundenen grundlegenden Transformationen und Überformungen von Individuum und Gesellschaft ins Zentrum stellen; so etwa

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Darüber hinaus kann die literarische Kleinstadt aber auch als ein Ort der Entwicklung und Anwendung moderner literarischer Verfahren gesehen werden; und zwar sowohl in der deutschsprachigen als auch in der internationalen Literatur. Denn die literarischen Kleinstädte verfahren immer wieder, das zeigt Christiane Nowak in ihrer Untersuchung, in ähnlicher Weise wie ihre großstädtischen Pendants (vgl. Nowak 2013: 325f.). Darauf verweisen zwei paradigmatische Texte der Moderne: Sherwood Andersons stilprägender Roman WINESBURG, OHIO (1919) und Bruno Schulz’ fast schon surrealistische Traumwelten in DIE ZIMTLÄDEN (1934), deren Erzählweisen im Laufe des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein immer wieder aufgenommen wurden; sei es etwa auf der einen Seite in Ingo Schulzes SIMPLE STORYS (1998) und Robert Seethalers DAS FELD (2018), die beide in der Nachfolge von Anderson episodenhaft erzählen und dabei diese Episoden anhand von Figurenverknüpfungen miteinander verbinden, oder auf der anderen Seite in Christoph Ransmayrs DIE LETZTE WELT (1988) und Maxim Billers IM KOPF VON BRUNO SCHULZ (2013), die beide in der Nachfolge von Schulz mythische Figuren und fantastische Weltmodelle in den klassischerweise realistisch erzählten kleinstädtischen Rahmen versetzen und dadurch in grenzüberschreitender Weise von Sozialräumen berichten, in denen alltägliche Logiken und Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt sind. Bei der Kleinstadt Winesburg in Ohio handelt es sich um einen Ort, der sich innerhalb kürzester Zeit von einem circa fünfzehn Häuser zählenden Dorf zu einer blühenden Stadt (Anderson 1996: 116) entwickelt und dabei einen konstitutiven Wandel – ja: eine »revolution« (ebd.: 34) – durchlebt hat, der, so der Text aus Figurenperspektive, von nachfolgenden Generationen nur schwer nachvollzogen werden könne (ebd.): Industrialisierung, Eisenbahn und Automobil, Globalisierung, Zuwanderung und Massengesellschaft, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher ändern die gewohnten Verhaltensweisen und Denkgewohnheiten.

BLUE VELVET (1986) und TWIN PEAKS (1990/91) von David Lynch, PLEASANTVILLE (1998) von Gary Ross sowie THE MAN WHO WASN’T THERE (2001) und FARGO (Film 1996, Serien 2014, 2015 und 2017) von Ethan und Joel Coen. 34 Ryan Poll (2012) weist in seiner Monografie zur amerikanischen Kleinstadtliteratur nach, dass die Bilder und Narrative der Kleinstadt zu identitätsstiftenden Symbolen und Modellen der Nation wurden. Daher gehe es darum, nachzuvollziehen, »how the small town is used to shape and structure national narratives, epistemologies, and values.« (Poll 2012: 3) Dies kann auch sozialwissenschaftlich rückgebunden werden; geht doch bspw. Ralf Dahrendorf (1968: 85) davon aus, dass die vorherrschenden Sozialmuster der Vereinigten Staaten nicht etwa großstädtisch, sondern eben kleinstädtisch geprägt seien.

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»In the last fifty years a vast change has taken place in the lives of our people. A revolution has in fact taken place. The coming of industrialism, attended by all the roar and rattle of affairs, the shrill cries of millions of new voices that have come among us from overseas, the going and coming of trains, the growth of cities, the building of the interurban car lines that weave in and out of towns and past farmhouses, and now in these later days the coming of the automobiles has worked a tremendous change in the lives and in the habits of thought of our people of Mid-America. Books, badly imagined and written though they may be in the hurry of our times, are in every household, magazines circulate by the millions of copies, newspapers are everywhere. In our day a farmer standing by the stove in the store in his village has his mind filled to overflowing with the words of other men. The newspapers and the magazines have pumped him full. Much of the old brutal ignorance that had in it also a kind of beautiful childlike innocence is gone forever. The farmer by the stove is brother to the men of the cities, and if you listen you will find him talking as glibly and as senselessly as the best city man of us all.« (Ebd.: 34f.)

Im Text wird dies auch als das Aufkommen eines materialistischen Zeitalters (ebd.: 40) verstanden. Im Rahmen der Kleinstadt findet sich hier der Übergang in ein nachmetaphysisches Zeitalter in Szene gesetzt, in ein Zeitalter von Dampfkraft und Geldwirtschaft, der Zirkulation von Waren und Wissen und Menschen.35 Der Roman verfolgt dieses anhand einer Vielzahl von unterschiedlichen und nur lose miteinander verbundenen Figuren.36 Bis in die Gegenwart hinein ist immer wieder diskutiert worden, ob diese additive Form der Zusammenstellung einzelner Szenen, Charaktere, Anekdoten und Erzählungen als Roman verstanden werden kann. Dabei verweist diese Form zunächst auf einen zentralen inhaltlichen Aspekt; zeugt die Pluralisierung der Geschichten wie auch die damit verbundene Vereinzelung der Charaktere doch vom Verlust einer zusammenhaltenden kollektiven Identität und eines verbindenden sozialen und institutionellen Narrativs. Andersons Text beschreibt die zunehmende Ausdifferenzierung der Lebenserfahrungen, -wege und -entwürfe sowie die damit einhergehende Verunsicherung im geradezu ›noch‹ überschaubaren Rahmen der Kleinstadt.

35 Es mag dabei durchaus für die Bedeutung der Gattungsform sprechen, dass auch eine andere Form gesellschaftlicher Modernisierung, die Durchsetzung, Reflexion und letztlich auch Umwendung eines sozialistischen Gesellschafts- und Produktionsmodells, im Rahmen einer Kleinstadt verhandelt wird. Denn auch Ilja Ehrenburgs zu einer Epochenbezeichnung gewordener Roman TAUWETTER (1956) wählt für die Beschreibung der bestehenden Sowjetgesellschaft und die Notwenigkeit ihrer Veränderung den Rahmen, das Personal und die Lebensumstände der kleinen Stadt. 36 In seinem Nachwort zu einer der jüngsten Neuübersetzungen führt Daniel Kehlmann (2012: 295) an, dass sich über 100 Figuren im Text Andersons finden.

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Zusammengehalten werden die individuellen Geschichten dabei von dreierlei. Zum Ersten nimmt Anderson zu Beginn des Textes eine konzeptionelle Rahmung vor, indem von einem ungenannt bleibenden und nur in diesem Kapitel auftauchenden Ich-Erzähler die Geschichte eines alten Schriftstellers – bei dem es sich mutmaßlich, aber nicht notwendigerweise um die Hauptfigur, den Reporter George Willard, handeln könnte – erzählt wird, der ein mehrere hundert Seiten umfassendes und unveröffentlichtes »Book of the Grotesque« geschrieben habe, das sich wiederum aus einer vor seinen Augen aufziehenden langen Reihe von menschlichen Traumgestalten – Figuren, die er alle einmal kennengelernt hatte und die nun hervorgerufen wurden durch einen Traum, der kein Traum war (ebd.: 6) – speiste und von dem sich der direkt angesprochene Leser nun selbst ein Bild machen könne (ebd.: 7). Gemeinsam haben die so eingeführten Figuren des Buches, dass sie als groteske Figuren gekennzeichnet werden. Als grotesk erscheinen sie dem Schriftsteller, der durch die Rahmung nun selbst Teil des Buches geworden ist, vor einem spezifischen Hintergrund: Es gäbe grundsätzlich eine Vielzahl an Wahrheiten, die allesamt von Menschen selbst erschaffen seien und auf vagen Gedanken fußten, nichtsdestotrotz aber allesamt schön seien; so sich allerdings jemand eine bestimmte Wahrheit aneigne, sie in Besitz nehme und zu seiner Wahrheit mache, dann werde dieser jemand zu einer grotesken Figur und mache die einstige Wahrheit unwahr (vgl. ebd.: 6f.). Diese Figuren, die gewissermaßen die Inkongruenz von Vorstellung und Welt vor Augen führen, sind es, die die Leser anhand der dann folgenden einundzwanzig Geschichten, die jeweils von einer Figur handeln und im Inhaltsverzeichnis durch deren Namen gekennzeichnet sind, kennenlernen. Verbunden sind sie, zum Zweiten, dabei zumeist nur durch die Figur des Reporters George Willard, der auf seinen Gängen durch die Stadt auf die zumeist eher separierten und untereinander häufig auch kommunikations- und sprachlos bleibenden Figuren trifft und deren aktuelle Situationen und biografischen Lebenshintergründe in den erzählerischen Blick bringt. Dabei werden in diesem Panorama Aufbruchsstimmung und Begrenzung, Orientierungslosigkeit und Marginalisierung, immanente Fixierung und transzendente Ausrichtung ebenso zur Sprache gebracht wie ihre anthropologischen und sozialgeschichtlichen Hintergründe. Sie erscheinen, zum Dritten, im Rahmen der Kleinstadt als durchaus bestimmte Vielfalt. Es ist hierbei die spezifische kleinstädtische Topografie, die den Eindruck von Überschaubarkeit und Differenziertheit zugleich ermöglicht. Erzeugt und vermittelt sie doch Bilder diversifizierter Lebenszusammenhänge: In ihr zeigen sich unterschiedliche Akteure in einer entsprechend ausdifferenzierten Sozialstruktur (bürgerliche, kleinbürgerliche und unterbürgerliche Schichten, Handwerker, Arbeiter, Ausgestoßene etc.) und in funktionsdifferenzierten Sozialräumen, die anhand sichtbarer Institutionen (vom Rathaus bis zur Kirche, vom Marktplatz bis zur Gaststätte) und

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in spezifischer räumlicher Gliederung (Haupt- und Nebenstraßen, Winkel, Gassen, zentrale und periphere Räume) in einen überschaubaren Zusammenhang37 gebracht werden und somit zu einer Fixierung der in der Moderne anzutreffenden Vielgestaltigkeit führen. Gehört die Künstlichkeit der Idylle (vgl. Curtius 1948: 191-209) ebenso zum Grundbestand kulturellen und literarhistorischen Wissens wie die Unerfassbarkeit, Unerzählbarkeit und mitunter Unwirklichkeit (Scherpe 1988) der großen Städte, so macht die Kleinstadt offensichtlich im Gegenzug dazu das Angebot, die Wahrnehmung von Diversität, Ambivalenz und Abstraktion in eine zumindest vorläufige Form der Ganzheit und Überschaubarkeit zu überführen und darstellbar zu machen.38 Daher finden sich in den Werken der Kleinstadtliteratur immer wieder Zeichnungen und Karten, die dies vor Augen führen. Dabei sind die

37 Es wäre eine eigene Analyse wert, welche Bedeutung dem Anspruch der ›Überschaubarkeit‹ in den Entwürfen und Gestaltungen des (Klein-)Städtischen und so auch in einschlägigen soziologischen Untersuchungen zukommt. Stephan Beetz (2017: 54) spricht etwa von einer »Überschaubarkeitsfiktion«, die nicht nur für die soziologische Reflexion der Kleinstadt in Rechnung zu stellen ist, sondern auch auf politische und soziale Ansprüche verweist (vgl. dazu Luckmann 1970); und zudem eine analytisch nutzbare Perspektive für die Untersuchung literarischer Kleinstadt-Entwürfe bietet. So wäre etwa E.T.A. Hoffmanns Erzählung DES VETTERS ECKFENSTER (1822) als ein Beispiel zu sehen, das nicht nur im Sinne Erving Goffmans den Theatralitätscharakter gesellschaftlicher Interaktion unter den Bedingungen der modernen Großstadt herauszustellen vermag, sondern eben die Reduktion der ›unüberschaubaren‹ Großstadt auf den, hier auch durch eine Krankheit des Beobachters erzwungenen, Ausschnitt einer Kleinstadt hervorhebt. In dieser Hinsicht bietet die Überschaubarkeit der Kleinstadt eine Rahmung, innerhalb deren die (kleine) Größe städtisch-bürgerlicher Individualität erkennbar wird. 38 »Die Kleinstadt umfaßt das ganze Leben des Menschen; in sie gehen daher persönliche und sachliche Elemente zugleich ein«, schreibt Dahrendorf (1968: 89) in seiner Schilderung städtischer Siedlungsformen in den USA. »Gegen die ›Massengesellschaft‹ gerichtet«, so fasst Beetz nicht nur Dahrendorfs Beobachtungen zusammen, sondern nimmt damit den bereits von Dahrendorf kritisch gesehenen ideologischen Gegenentwurf zur Moderne auf, den der Rekurs auf die Kleinstadt immer auch enthält (vgl. Dahrendorf 1968: 80-83), »findet der Mensch in der ›überschaubaren‹ Welt der kleinen Stadt Sicherheit und die Wahrnehmung als Person.« (Beetz 2017: 54) Dies ist auch aus historischer Perspektive nachverfolgbar; fungierte die Kleinstadt doch immer wieder als mitunter verloren geglaubtes und ideologisch überformtes Idealbild: »Als verlorenes Paradies, als Heimat, als Ort, ermöglicht sie durch Überschaubarkeit und Verlangsamung ein humaneres Leben, Raum und gesellschaftliches Ordnungsgefüge scheinen hier – modellhaft – in einer Periode beschleunigten gesellschaftlichen Wandels scheinbar übereinzustimmen.« (Zimmermann 2003: 12)

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Beschreibungen nicht nur auf einzelne Ausschnitte (Gebäude, Straßen, Plätze etc.) beschränkt, sondern suchen immer auch das Ganze der Siedlungsform und ihrer lebensweltlichen Bezüge zu umfassen (vgl. Nowak 2013: 100f.). Dazu gehören ebenso die komplex ineinander verstrickten sozialen Beziehungen. Das zeigt sich etwa anhand einer Netzwerkanalyse, die die beiden Ethnologen Thomas Schweizer und Michael Schnegg am Beispiel von Ingo Schulzes SIMPLE STORYS (1998) unternommen haben;39 einem Roman, der seine zahlreichen Figuren in der thüringischen Kleinstadt Altenburg verortet und in der Nachfolge Andersons ebenfalls episodenhaft und detailreich erzählt. Abb.3: Eine Stadtkarte von Winesburg, Ohio sowie eine Netzwerkanalyse der sozialen Beziehungen in Ingo Schulzes SIMPLE STORYS

Links: Anderson (1995: 2), rechts: Schweizer/Schnegg (1998: 3)

Auch die romanhafte Erzählsammlung DIE ZIMTLÄDEN (1934) von Bruno Schulz fokussiert immer wieder kleinstädtische Topografien; und insbesondere ihre verschiedenartigen Symbolhaltigkeiten und -haftigkeiten. Geschildert werden sie aus der Perspektive eines kindlichen Erzählers, der sich in eine zeitenthobene, traumartige und labyrinthische Welt versetzt sieht, in der Fantasie und Wirklichkeit miteinander verschmelzen. Der kleinstädtische Raum fungiert hier als eine fantastische Stadtlandschaft, die weder nach außen noch nach innen begrenzt ist und sowohl als

39 Die Abbildung zeigt hier ein Gesamtbild der Beziehungen; Schweizer/Schnegg (1998: 3ff.) führen im Folgenden noch genauere Feinanalysen durch und differenzieren zwischen Teilgruppen sowie positiven Beziehungen, Tauschverhältnissen und Konflikten.

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Signum wie auch Ausdruck einer »absonderlich gewordene[n] Zeit« (Schulz 1992: 91) verstanden werden kann. Dabei unternimmt der Text eine Multiplizierung der Bildflächen; finden sich doch in nahezu jedem narrativ geschaffenen Bild bzw. Raum weitere Bilder bzw. Räume. Dies können Briefmarken, Teppiche, Ornamente, Tapeten oder Karten sein, die das Stadtbild des Erzählers (und Lesers) mit immer neuen Bildfeldern verknüpfen (Lachmann 2002: 367) und somit imaginativ erweitern und ein in sich verzweigtes Labyrinth von unüberschaubaren Verweiszusammenhängen entstehen lassen, in die sich der Erzähler ganz konkret leiblich verirrt und in denen er mitunter auch verloren geht. Oftmals bilden diese Bilder überhaupt erst den Ansatzpunkt der narrativen Stadterkundung. So nimmt zum Beispiel die Erzählung DIE KROKODILGASSE ihren Ausgang in einer im Schreibpult des Vaters verwahrten alten Stadtkarte, die – nun an die Wand gehängt – in der Wahrnehmung des Erzählers sogleich den gesamten Raum einnimmt und das lebendige Bild einer organisch wuchernden und wieder verwelkenden Stadt hervorruft. Dabei bietet diese Karte jedoch keine exakte Orientierung, sondern verweist vielmehr auf die Interpretation der Wirklichkeit, die der Kartograph mit ihr vorgenommen hat: »Auf diesem näheren Plan hatte der Kupferstecher das ganze verworrene und vielfältige Getümmel der Straßen und Gassen und die scharfe Klarheit der Gesimse, Architrave, Archivolten und Pilaster nachgebildet, die im späten und dunklen Gold des bewölkten Nachmittags leuchten und alle Durchbrüche und Nischen in die tiefe Sepia des Schattens versenken. Die Körper und Prismen dieses Schattens schnitten sich gleich dunklen Honigwaben in die Hohlwege der Gassen, ertränkten in ihrer warmen, saftigen Masse hier die ganze Hälfte einer Gasse, dort einen Durchbruch zwischen den Häusern und dramatisierten und instrumentierten mit der düsteren Romantik der Schatten die vielgestaltige, architektonische Polyphonie.« (Schulz 1992: 70f.)

Die erzählte Stadt – die, obwohl ungenannt, auf Schulz’ Heimatstadt Drohobycz verweist40 – ist eine imaginäre Stadt, die sich aus den in ihr enthaltenen und sie zugleich auch konstituierenden Bildern speist. Sie ist in ständiger Bewegung und Metamorphose begriffen und bildet dabei Doppelungen und Spiegelungen ihrer selbst, die den mit einer intensiven Sinneswahrnehmung ausgestatteten Erzähler in sich hineinziehen: »Es öffnen sich in der Tiefe der Stadt sozusagen Zwillingsgassen, Doppelgängergassen, Lügengassen und Scheingassen« (ebd.: 61). In einem von

40 Dabei wird in der Forschung darauf verwiesen, dass sich im Werk von Schulz nicht nur eine mythisierte Stadt, sondern auch reale Drohobyczer Straßen finden lassen; die Krokodilgasse etwa sei eine »mythologische Transposition der Stryjer Straße« (Ficowski 2008: 90). Schulz selbst sieht DIE ZIMTLÄDEN auch, so schreibt er in einem Brief an Ignacy Witkiewicz, »als autobiographischen Roman« (Schulz 1994: 93).

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ihm selbst geschriebenen deutschsprachigen Exposé zu den ZIMTLÄDEN bezeichnet Schulz seine literarischen Stadträume als immer wieder neu konfigurierte Landschaft (Schulz 1994: 327). Und auch in der titelgebenden Erzählung erscheint die Stadt in »immer neue[n] und schwärmerischere[n] Konfigurationen« (Schulz 1992: 61); wobei der Protagonist und Erzähler auch seinen eigenen Anteil daran hervorhebt – ist es doch die eigene »bezauberte und verwirrte Phantasie«, die »trügerische Stadtpläne« (ebd.) entwirft. Die äußerlich durchwanderten Räume der Stadt können dabei als innere und projizierte Räume des Subjekts verstanden werden. Sie sind also vor allem Produkt individueller und kultureller Wahrnehmung und Sinnerzeugung. Durch diese Sinnerzeugung findet bei Schulz aber zugleich eine mythische Überhöhung und Verfremdung der Stadtlandschaft statt. Das vermeintlich Bekannte und Erschlossene zeigt sich dadurch von seiner unbekannten Seite. Das dabei angewandte Verfahren versteht er als »Mythisieren der Wirklichkeit« (Schulz 1994: 24), das angesichts der Wahrnehmung einer fragmentierten Wirklichkeit auf die metaphysische Suche nach demjenigen – Schulz spricht immer wieder auch von »Urschemata« (Schulz 1994: 93) – geht, was der Wirklichkeit zugrunde liegt und sich in immer neuen Formen wiederholt. In seinem Exposé schreibt er: »In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Geschichte einer Familie, eines Provinzhauses nicht aus ihren realen Elementen, aus Begebenheiten, Charakteren und den wirklichen Geschichten heraus zu begreifen, sondern über diese hinaus nach einem mythischen Gehalt, nach einem letzten Sinn jener Geschichten zu suchen.« (Schulz 1994: 325)

Dabei ist es insbesondere der schon kurz angesprochene Prozess einer beständigen Metamorphose von Lebendigem und Nicht-Lebendigem (sowie die Aufhebung der Grenzziehungen zwischen diesen beiden),41 der als metaphysisches Prinzip erscheint. Denn, so schreibt Schulz in einem Brief an Witkiewicz: »Die ›Zimtläden‹ geben ein bestimmtes Rezept für die Wirklichkeit, stellen eine besondere Art der Substanz her. Die Substanz dieser Wirklichkeit befindet sich in einem Zustand permanenten Gärens und Keimens, verborgenen Lebens. Es gibt keine toten, festen, begrenzten Gegenstände. Alles dringt über seine Grenzen hinaus und währt nur einen Augenblick in bestimmter Form, um sie bei erster Gelegenheit aufzugeben.« (Schulz 1994: 91f.)

41 So vollzieht sich in den Erzählungen auch eine Verlebendigung und Anthropomorphisierung der Häuser; bekommen diese doch ein menschliches Antlitz und veranstalten selbst gewissermaßen auch Maskenspiele. In HERR KAROL agiert die Wohnung der titelgebenden Figur als erbarmungsloses Subjekt: »Diese leere und verlassene Wohnung erkannte ihn nicht, hatte kein Erbarmen mit ihm, die Möbel und Wände verfolgten ihn mit schweigender Kritik.« (Schulz 1992: 58)

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Die Räumlichkeiten der Kleinstadt erscheinen somit als Räume, die in beständigem Wandel begriffen sind und auch auf weitreichendere und grundlegendere Zusammenhänge übertragbar sein sollen. Sie sind dabei allerdings nicht als in sich harmonisch strukturierte oder gar organisch funktionierende Räume angelegt. Die kleine Stadt bildet keine Einheit, sondern ist in sich selbst – bestehend aus kleineren, heterogenen und bereits in sich geformten und doch nicht festen, sondern fließenden Elementen – widerstreitend und ambivalent. So stehen die Räumlichkeiten der Zimtläden und der Krokodilgasse in Opposition zueinander.42 Während in den Zimtläden »wahrhaft edle Handlungen« im Umfeld von »alten und würdevollen Kaufleuten« (Schulz 1992: 62) vorgeführt und die »geheimsten Wünsche« (ebd.) erfüllt werden, erscheint die Krokodilgasse, in die es vor allem »die graue, unpersönliche Menge« (ebd.: 76) zieht, als sekundärer und imitatorischer Raum ohne Ursprung und ohne Ziel.43 Jenes Viertel, »das so stark vom grundsätzlichen Ton der Stadt abwich« (ebd.: 71), breitet sich jedoch zunehmend in der Stadt aus und verdrängt bzw. ersetzt die traditionelle, väterliche Lebensordnung: »Der Geist der Zeit, der Mechanismus des Wirtschaftslebens hatte auch unsere Stadt nicht verschont« (ebd.). Angesichts der nun aufziehenden »nüchternen Zweckmäßigkeit« (ebd.) kann in der Krokodilgasse keine ›natürliche‹ Metamorphose mehr stattfinden; aus der Perspektive des Erzählers erscheint hier alles als gleichförmig, leidenschaftslos, unlebendig. Zwar biete das Viertel, mehr denn je zuvor, eine unüberschaubare Anzahl an Möglichkeiten, doch fehle es an deren Verwirklichung (ebd.: 79). Die Krokodilgasse ist ein Stadtteil ohne Eigenschaften. Den ZIMTLÄDEN geht es sowohl um metaphysische und erkenntnistheoretische Fragestellungen als auch um den Einbruch der Moderne in die Kleinstadt; und nicht zuletzt findet sich hier die katastrophische Stimmung zwischen den beiden Weltkriegen im Text gespiegelt. Die Kleinstadt fungiert hier wieder als Stellvertreterin für größere Zusammenhänge, die sich eben im Kleinen bebildern, ergründen und kommunizieren lassen. Allerdings verkehren sich in den Texten von Bruno Schulz

42 Diese Oppositionen und Widersprüchlichkeiten lassen sich auch an die historischen Konstellationen, in denen sich Drohobycz befand, rückbinden: »Gehört Galizien seit 1918 zu Polen, so eskalieren in der Stadt die Widersprüche, reißt sich ins Stadtbild ein disparates, unauflösliches Zugleich von polnischer Gegenwart, österreichischer Vergangenheit und modernem Kapitalismus: Diese paradoxe Kontamination historischer Wirklichkeiten erzeugt ein paradoxes, in Geschichten zerrissenes Galizien. Ungetrennt von räumlichen oder zeitlichen Distanzen, drängeln sich hier eng nebeneinander unterschiedliche Welten.« (Lach/Markwart 2011: 14) 43 So wird die Krokodilgasse auch beschrieben als »papierene Imitation nach Art einer Photomontage, zusammengesetzt aus Ausschnitten abgelegter Zeitungen vom vergangenen Jahr« (ebd.: 80).

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die klassischen Kleinstadtbilder schließlich in ihr Gegenteil: Die mehr oder minder ordentliche, überschaubare und handhabbare Welt, zumeist realistisch erzählt, wird unter Einbeziehung ihrer Gegenwelten zu einem in sich ambivalenten und widersprüchlichen Ort der Moderne; zu einem traumartigen und fantastischen Labyrinth, in dem das menschliche Subjekt seine Kontrolle über die Welt wie auch über sich selbst verliert.

F AZIT : L ITERATUR

UND

K LEINSTADT

In der Literaturgeschichte zeigen sich recht diverse Fokussierungen und Konfigurierungen des Topos der Kleinstadt; und zwar in den verschiedensten Formen und Genres vor dem Hintergrund unterschiedlicher und ungleichzeitiger historischer, sozialer, ökonomischer, technischer und kultureller Gegebenheiten und Kontexte: Jean-Jacques Rousseau, Christoph Martin Wieland, Johann Wolfgang von Goethe, Jean Paul, Anthony Trollope, George Eliot, Charles Dickens, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Fjodor Dostojewski, Anton Tschechow, Sherwood Anderson, Marcel Proust, Robert Walser, Hermann Hesse, Heinrich und Thomas Mann, Bruno Schulz, Hans Fallada, Anna Seghers, Thornton Wilder, Uwe Johnson, Friedrich Dürrenmatt, John Updike oder Siegfried Lenz sind nur einige bekannte literarische Autoren, die sich dem Kleinstädtischen gewidmet und den Topos Kleinstadt zu einem zentralen Bezugspunkt in den internationalen Literaturen gemacht haben. Angesichts dieser Vielzahl an prominenten und lesenswerten Texten zur Kleinstadt ist durchaus bemerkenswert, dass die Kleinstadtliteratur im Unterschied zur Großstadtliteratur, von einer ganzen Fülle an Einzeluntersuchungen zu den jeweiligen Werken einmal abgesehen, kaum breitere Beachtung in den Literaturwissenschaften gefunden hat. »Literarische Kleinstadtforschung steckt«, so konstatiert Christian Benne (2012: 149), »noch nicht einmal in den Kinderschuhen.« Dies ist umso erstaunlicher, als die Kleinstadt gerade auch für die Gesellschaftsgeschichte der deutschen Lande (auch in ihrer Außenwahrnehmung) als außerordentlich charakteristisch gilt und der Kleinstädter/Kleinbürger/Spießer nicht nur zu den am meisten mit den Verhältnissen im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verbundenen Projektions- und Spielfiguren gehört, sondern der Vorwurf des ›Provinziellen‹ bis in die Gegenwart hinein immer wieder zu hören ist und mit der Vorstellung des Kleinstädtischen bebildert wird. Zunächst ist jedoch zu konstatieren, dass die Kleinstadt zumindest innerhalb einer auf Dynamik, Fortschritt und Individualität hin ausgerichteten Moderne – aber historisch gesehen auch schon innerhalb eines diese vorbereitenden höfischen und städtischen Zentralismus – tatsächlich ein Schattendasein im Rücken der Großstadt

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fristete und fristet. Sowohl aus sozialhistorischer als auch aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht fungiert die Großstadt seit der Industrialisierung als eine Art Brennglas, »in dem die Bedingungen der Moderne sich konzentrieren und deshalb immer wieder und in jeder Hinsicht zünden« (Früchtl 1998: 767). Theorien der Moderne sind nahezu konstitutiv mit Theorien der Großstadt verbunden (vgl. Benne 2012: 148, Saunders 1987). Dies trifft auch auf literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu, die in der Regel geleitet wurden von der Annahme, dass insbesondere die moderne Literatur ihre Formen und Inhalte in Auseinandersetzung mit den Lebenswelten und Wahrnehmungsweisen der großen Stadt entwickelt habe. Der kulturelle Bildervorrat der Moderne fokussiert nicht nur die Großstadt, er sei auch – so die damit verbundene Grundannahme – insbesondere in seinen literarischen und filmischen Formen in ihr produziert und von ihren jeweiligen Lebenswelten und technischen Möglichkeiten bedingt. Demgegenüber gilt die Kleinstadt nach wie vor als heimeliges Gegenbild des Vor- oder gar Antimodernen, als spießiges »Nesthockeridyll« (Glaser 1969: 66), das bestenfalls noch eine kurzzeitige Flucht vor und Auszeit von der modernen Beschleunigung der Lebenswelten biete.44 In diesem Kontext wurde neben der vermeintlichen Provinzialität immer wieder die vermeintliche Abgeschieden- und Abgeschlossenheit des Kleinstädtischen hervorgehoben und betont. Die Kleinstadt erscheint aus dieser Perspektive »als das Andere der Moderne« (Benne 2012: 148). Dabei muss wohl festgestellt werden, dass sich hierbei das kulturelle Deutungsmuster des Kleinstädtischen vor die realen Gegebenheiten und Strukturen geschoben und damit die Wahrnehmung konkreter Entwicklungen verzerrt bzw. überdeckt hat.45 Denn die Bilder der Abgeschiedenheit von großstädtisch-modernen Bewegungen können, so Stephan Beetz, angesichts der räumlichen Verflechtungen von

44 So beschreibt etwa Hermann Glaser in seiner KLEINSTADT-IDEOLOGIE Ende der 1960er Jahre den mentalen wie realen Raum der Kleinstadt als denjenigen Ort, der als typisch für die deutsche Mentalität gelte: »Wenn es eine deutsche Seele gibt, so nistet sie in der Kleinstadt, oder besser: kehrt sie in ihren Sehnsüchten und Hoffnungen, Enttäuschungen und Frustrationen immer wieder zum Nest zurück – zu den Nestern, die sich das deutsche Bürgertum zu Ende der 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts über politische und menschliche Abgründe klebte: heimelige Refugien vor den Winden und Stürmen einer radikal sich verändernden Welt.« (Glaser 1969: 66) 45 Hierzu weist auch Christiane Nowak auf eine ambivalente Gestaltung des kleinstädtischen Raums hin, die sich aus dem Widerspruch zwischen sozialer Modellhaftigkeit einerseits und abgeschiedener Räumlichkeit andererseits ergibt: »Zwar wird eine Verbindung zwischen Kleinstadtleben und sozialen, ökonomischen oder politischen Umständen postuliert, dennoch wird die kleine Stadt als abgeschlossener Raum dargestellt.« (Nowak 2013: 95)

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Stadt und Land nicht bestätigt werden: »Vielmehr zeigen sich in vielen kleinen Städten Aufbrüche in die große Moderne, sie haben nicht nur an regionalen und überregionalen Entwicklungen partizipiert, sondern diese auch entscheidend mit geprägt.« (Beetz 2017: 50) Ja, es lässt sich wohl festhalten, dass die Gleichsetzung von Vor- bzw. Anti-Moderne und Kleinstadt keineswegs folgerichtig ist; hat doch die Kleinstadt im deutschen Sprachraum wie sonst nirgendwo, so Christian Benne (2012: 150f.), »in so großem Ausmaß zur gesamtgesellschaftlichen Modernisierung wie auch zur ästhetisch-künstlerischen Moderne beigetragen wie hier.« Kleine Städte bilden nicht nur lebensweltlich bedeutsame Räume, die wiederum aufgrund ihrer besonderen Formen menschlicher Vergesellschaftung und Raumaneignung eine gewisse Attraktivität für literarische und künstlerische Darstellungen entwickelten und daher in ihren literarisch-künstlerischen Anverwandlungen auf eine lange (Literatur-)Geschichte mit einer Vielzahl an paradigmatischen Texten und prominenten Autoren und Autorinnen zurückblicken können. Vielmehr stellen sie zentrale literaturgeschichtliche Orte und Modelle dar, in und mit denen prägende literarische Verfahren entwickelt und verbreitet wurden. Die Trennung und Gegenüberstellung großstädtischer Moderne und kleinstädtischer Vormoderne ist daher aus literatur- und geistesgeschichtlicher Perspektive umso erstaunlicher, als die jeweiligen Werke in ihren vielfältigen Formen und Gestaltungen Deutungen zentraler Fragstellungen moderner Lebenswelten und aktueller Zeitumstände bieten – und selbst auch in ihrer spezifischen Suche nach einer angemessenen Form für die Darstellung zunehmender Unübersichtlichkeit sowohl inhaltlich als auch formal moderne Problemstellungen im überschaubaren Kontext reflektieren.46 Dabei wird für die Literatur der Kleinstadt freilich immer wieder konstatiert, dass diese vor allem die Klischees des engstirnigen und lächerlichen Kleinbürgers hervorhebe (vgl. Zimmermann 2003: 9f.); und es lassen sich dafür gewiss einige Beispiele finden. Doch ist diese etwas vereinseitigende Sicht wohl stark beeinflusst von der weit verbreiteten und nicht zuletzt aufgrund ihrer komödiantischen wie auch abgrenzenden Funktion immer wieder aufgenommenen und populären Figur des kleinstädtischen Spießbürgers. Denn angesichts der Fülle an unterschiedlichen Texten lässt sich insgesamt vielmehr das Gegenteil feststellen: Sie, die Kleinstadt, »war nie der Ort rein provinzieller Sterilität oder Depression,

46 Dabei ist auch sozialgeschichtlich festzuhalten, dass die Bewohner kleiner Städte ebenso früh und zeitgemäß die jeweils modernen Formen des Erzählens rezipierten und nicht zuletzt dadurch mit überregionalen Themen konfrontiert und an großstädtische Weltbilder und Vorstellungen angeschlossen wurden; dies zeigt etwa ein Band über Kino und Kinokultur in ländlichen und kleinstädtischen Räumen seit dem frühen 20. Jahrhundert (Thissen/Zimmermann 2016). Kleine Städte fungieren dadurch als Träger und Vermittler von Modernität und Bürgertum (vgl. Zimmermann 2003: 21ff.).

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sondern stets auch ein Ort der Kreativität, eine fragile Mixtur, eine ambivalente Mischung aus sich widersprüchlichen Kräften.« (Hüppauf 2005: 304) Aus der Perspektive Hüppaufs erscheint sie gar als »paradigmatische[r] Ort der Ambivalenz« (ebd.: 311). Die kleine Stadt bildet im kulturell Imaginären der Moderne einen zentralen Bezugspunkt und Gestaltungsraum. Eine – bisher noch ungeschriebene – Literaturgeschichte der Kleinstadt, die sich wiederum auf zahlreiche Einzeluntersuchungen zu den bekannten und berühmten Autorinnen und Autoren der Kleinstadtliteratur berufen kann, könnte dies vor Augen führen und analysieren. Allerdings gibt es bisher noch keine Gesamtdarstellung der Kleinstadtliteratur;47 und auch dies steht ganz im Gegensatz zur Vielzahl an umfangreichen Untersuchungen und Anthologien zur Großstadtliteratur. 48 Dabei führen doch gerade die Diversität der ästhetischen Bezugnahmen – von der realistischen Kleinstadtgeschichte über die fantastisch-surrealistische Traumwelt bis hin zur postmodernen Serie – ebenso wie die nahezu durchgängige Fokussierung kleinstädtischer Schauplätze und Lebenswirklichkeiten als Aushandlungsorte von Lebenserfahrungen und Lebensmodellen unter den Bedingungen der Moderne recht deutlich vor Augen, dass die Kleinstadt sowohl historisch als auch gegenwärtig nicht nur auf der literarischen Landkarte, sondern ebenso im Erfahrungs- und Vorstellungshaushalt einer Vielzahl an Menschen noch immer einen zentralen Ort bildet und markiert. Einen Ort, den es weiter zu erkunden lohnt.

47 Die wenigen jüngeren Darstellungen widmen sich entweder einem kurzen literaturgeschichtlichen Ausschnitt (Nowak 2013, Poll 2012) oder einem bestimmten Genre (Geherin 2015). 48 Diese Marginalisierung des Kleinstädtischen in den Literaturwissenschaften findet sich parallel auch in der Stadtforschung; wenngleich insbesondere aus historischer Perspektive bereits vergleichsweise viele Untersuchungen vorliegen. Dabei wird von mehreren Autorinnen und Autoren beklagt, dass kleinstädtische Lebensformen und -weisen in der Forschung, bis auf einige Ausnahmen, allzu häufig marginalisiert und systematisch vernachlässigt (Zimmermann 1999 u. 2003, Gräf 2004, Hannemann 2002 u. 2004, Steinführer/Vaishar/Zapletalová 2016) wurden.

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Kleinstädte im 20. Jahrhundert Selbstbilder, Potenziale, Urbanität und Peripherisierung C LEMENS Z IMMERMANN

Als verlorenes Paradies, als Heimat von Bürgern und als Ort von Kultur ermöglicht die Kleinstadt, so der literarische Diskurs des 19. Jahrhunderts, ein durch Überschaubarkeit und Verlangsamung humaneres Leben. Physischer Raum und gesellschaftliches Ordnungsgefüge scheinen hier nicht nur übereinzustimmen, sondern in einer Periode beschleunigten gesellschaftlichen Wandels gegen diese Transformationsprozesse zu stehen; wiewohl Prozesse des Wandels immer wieder auch über die literarisierten Kleinstädte hereinbrechen und das Geschehen vorantreiben. Freilich kann in der literarischen Wahrnehmung die dem Kleinstädter häufig zugeschriebene und mittlerweile stereotypisierte Engstirnigkeit deutlich satirischen Charakter annehmen. Dabei zeigt sich im Laufe des 20. Jahrhunderts auch ein weitergehender Wandel der literarischen Kleinstadtwahrnehmung, die nunmehr auf die Spannung zwischen Großstadtfeindschaft und einer ›anderen‹ Moderne eingestellt ist (vgl. Nowak 2013: bes. 71-77). In der sozialen und gebauten Realität jedoch liefen erst Industrieagglomerationen, dann die Großstädte den kleinen Städten wachsend den Rang ab. Der heutige Kleinstadtdiskurs (der Geschichtswissenschaft, Soziologie, Geographie und Mediengeschichte) hebt wenig auf die isolierte Entität oder Grundcharakteristiken einer Lebenswelt der Kleinstadt ab. Mehr geht es um relationale Qualitäten und den Status von Kleinstädten innerhalb des Städte- und Regionalsystems. Dabei lautet die Frage insbesondere, welche urbane Qualität den Kleinstädten zuzuschreiben sei. Es soll hier gezeigt werden, dass diese prekäre Frage der Urbanität der Kleinstädte gegenstandsangemessen formuliert werden sollte, zwar vor dem Hintergrund klassischer urbanistischer Modelle, aber eben doch mit dem Ziel, diese Urbanität in ihrem Eigenwert und nicht etwa als Schrumpf- oder gar Gegenform großstädtisch-klassischer Urbanität zu begreifen. Ferner sollen neuere Befunde zur Kleinstadtentwicklung aufgezeigt werden, die gegenüber älteren ideologischen

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Konstrukten und tradierten Motiven nicht nur ein differenzierteres Gesamtbild zeigen, sondern auch vor Augen führen, dass eine deutliche Normalisierung der Forschung zu Kleinstädten stattfand: Sie sind ein ›normaler‹ Gegenstand geworden. Dies ist auch auf den realen sozialen Wandel, auf die gesellschaftlich erhöhte Mobilität, verdichtete Kommunikation und Konkurrenz zwischen Städten sowie die Entstehung suburbaner Landschaften zurückzuführen. Die klassischen Grenzziehungen zwischen Groß- und Kleinstädten und die Konturen des Stadt-LandVerhältnisses sind zwar zunehmend undeutlicher und flüssiger geworden, dennoch aber immer noch vorhanden. Denn die Kleinstadt der Moderne ist nach wie vor als Stadt zu verstehen und zu begreifen; sie unterscheidet sich von Dörfern und umliegenden Landgebieten weiterhin deutlich. Ebenso ist auch das Land keineswegs in einem allgemeinen Siedlungsbrei verschwunden. So weit fasse ich den Begriff der Kleinstadt weiterhin als Entität mit bestimmten Qualitäten auf, mit ihren Beziehungen in das jeweilige Umland und zu anderen Städten innerhalb von Regionen und Metropolregionen; das Land und die größere Stadt bzw. Großstadt als Gegenüber sollten dabei stets mitgedacht werden (Kersting/Zimmermann 2015). Weniger für weiterführende Betrachtungen geeignet ist hier der herkömmliche statistischdemographische Begriff von Kleinstadt, wie er in der Geographie und Sozialstatistik verbreitet ist, wo im Allgemeinen Siedlungen von einigen Tausend bis 20.000 Einwohner/innen als Kleinstädte bezeichnet werden. Es ist klar, dass ein solches quantitativ-demographisches Kriterium allein für die hier angestellten Überlegungen nicht ausreicht. Es geht vielmehr darum, auch die Mittelpunktfunktion und die kulturell-historischen Aufladungen sowie räumlichen Strukturen von Kleinstädten mit zu berücksichtigen.

S ELBSTBILDER Die Kleinstadtrepräsentationen des 20. Jahrhunderts schwanken zwischen folkloristischen Verklärungen und der Kritik an ihrer Antiurbanität, zwischen Wunschbildern und Klischees, zwischen visuellen Authentifizierungsstrategien und medialen Standardisierungsprozessen. Abzulesen ist dies in den bis heute verbreiteten Bildbänden, die als wichtiges Medium der Stadtdarstellung zu verstehen sind. Diese unterliegen strengen Konventionen und orientieren sich in ihrer Bilderauswahl an präsumtiven Konsumentenwünschen. Bebilderte Stadtgeschichten ließen und lassen zwar gewünschte und offizielle Selbstbilder aufscheinen, hängen aber ebenso von den strategischen Überlegungen der Auftraggeber oder den jeweiligen Selbstverständnissen der örtlichen Amateurhistoriker ab. Dabei ist auch festzustellen, dass wiederum Auftragsarbeiten, die an professionelle Autoren vergeben werden, sich an allgemeinen historiographisch legitimierten Zäsuren und Leitbegriffen orientieren.

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Soweit hier Selbstzeugnisse auftauchen, sind sie eher geschminkt und bearbeitet, der Werbecharakter solcher bildlichen Darstellungen ist unübersehbar. Demgegenüber attestierte Benita Luckmann im Jahr 1970, in einer Zeit forcierter politischer Aufklärung, den Einwohnern des badischen Brettens eine Atmosphäre historischer Verdrängung – eine typische Außenbeobachtung dieser Zeit, der dann zahlreiche erfolgreiche Explorationen kleinstädtischer Milieus im Nationalsozialismus folgen sollten. Zu Beginn solcher kritischen Sondierungen stand die Frage nach der Affinität der Kleinstadt (und ihrer ›Kleinbürger‹ und Eliten) zum Nationalsozialismus. Bald zeigten sich sowohl die Widerstandspotenziale als auch lokalen Kontinuitäten nach 1933 bzw. 1945 (vgl. Luckmann 1970; Stokes 1984; Pohlmann/Pohlmann 1990; Klemp 1997; Minner 1999; Peters 2015; Medicus 2016). Wie schwer es jedoch ist, Selbstbilder möglichst ›authentisch‹ zu erforschen, weiß jede und jeder, die/der sich mit dem Unterfangen auseinandergesetzt hat. Unter Selbstbildern sind nicht Images zu verstehen, die sich Stadtverwaltungen und städtische Eliten aus Marketinggründen geben, auch nicht das Öffentlichkeitsbild nach außen. Es geht hierbei vielmehr um die Assoziationen und Einstellungen, die sich bei Kleinstadtbürger/innen selbst mit ihren Orten verbinden. Biographische Zugänge sind dafür am aussichtsreichsten, da sie einerseits in individuellen Erfahrungen gründen und andererseits genrehafte Erzählregeln implizieren; sie stehen auch bis zur Initiierung eines solchen wissenschaftlichen Projektes nicht zur Verfügung. Kaum einmal erschließen sich in der historischen Forschung subjektive biographische Quellen, teils weil sie nicht Gegenstand offizieller Sammeltätigkeit sind, teils weil sie zum Anekdotischen neigen. Mit einer systematischen Auswertung von Stadtratsprotokollen oder Sekundäranalysen früherer Sozialforschungen kann man diesbezüglich künftig weiterkommen (vgl. Biskup/Schalenberg 2008; Bachmaier 1969). Lokale Identitäten beziehen sich zwar auf den kleinstädtischen Erfahrungshintergrund, schließen aber andere und konkurrierende Erfahrungen nicht aus. In der kleinen Industriestadt tritt die Abhängigkeit vom dominierenden Industriebetrieb hervor, entsprechend ist die Kleinstadterfahrung von der industriellen Prosperität oder aber von Krisen überlagert (für Industriestädte vgl. Heßler/Riederer 2014). Lokale Identitäten des Kleinstädtischen ergeben sich dabei nicht nur auf der Grundlage, in einer kleinen Stadt zu leben. Sie basieren auch auf dem Bewusstsein bzw. der Wahrnehmung, dass es sich hierbei um eine schrumpfende, wachsende oder konsolidierte Stadt handelt. Kleinstadterfahrungen ergeben sich ferner, wie bereits angedeutet, im Rahmen gemeinsam erlebter Orte. Kleinstädtische Selbstbilder resultieren, so die Forschung, häufig aus dem Bewusstsein einer einzigartigen Historizität des jeweiligen Ortes und aus der Betonung der Schönheit des umgebenden Naturraumes (vgl. Kolb 2007). Eine wichtige Rolle im Prozess der Konstituierung und Verfestigung solcher Selbstbilder spielt dabei auch die Feststellung und

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Markierung von Differenzen gegenüber anderen Städten und dem ländlichen Umland. Die mit der Kleinstadt verbundenen Gruppenidentitäten speisen sich vielmals aus internen symbolisch aufgeladenen Orten und Ereignissen, und haben insofern auch mit Erinnerungen zu tun. Wie jedoch ist all dies genauer zu erforschen? Letztlich helfen empirische Methoden aus dem Forschungsdilemma. Auch wenn repräsentative Befragungen schon bestimmte Antworten provozieren, so scheinen sie doch nach wie vor ein geeignetes Instrument zu sein (das man freilich in historischer Perspektive so gut wie nie zur Verfügung hat). So beobachtete etwa Christine Hannemann (2003) im Zuge ausgedehnter Recherchen auf der Basis empirischer Sozialforschung in ostdeutschen Kleinstädten die wahrgenommene Lebensqualität, Persistenz und Überschaubarkeit, die positiv von Einwohner/innen beurteilt wurden, die freilich aber auch als Enge empfunden werden konnte. Exemplarisch sei noch auf eine empirische Studie zu Esslingen hingewiesen: Betont wurde hier von den Befragten das gute soziale Klima, die hohe Lebensqualität, das starke Ausmaß und die steigende Tendenz partizipativen Engagements im lokalen Rahmen, die Bürgernähe der Verwaltung sowie die hohe Bedeutung von Vereinen und Nachbarschaft. Die Befragten erwarteten aber auch eine steigende Tendenz, selbst lebenszyklisch aus der Stadt abzuwandern. Mit Esslingen verbanden die Befragten ferner die schöne Altstadt, eine immer noch starke Bedeutung von Religiosität, Kinderfreundlichkeit, Offenheit und zugleich auch Traditionalität; und man meinte, dass dieses positive Bild als Image auch außerhalb wahrgenommen werde. Kritisch wurde jedoch die wirtschaftliche Zukunft des eigenen Ortes gesehen. Die Pluralität und Vielschichtigkeit des Eigenbildes – das sich in seiner inneren Ausdifferenziertheit deutlich von den häufig von außen kommenden Stereotypisierungen ›des‹ Kleinstädtischen unterscheidet – zeigt sich in dieser Befragung auch daran, dass man sich sowohl als ehemalige Reichsstadt, als schwäbische Stadt, als Industrie- und als Kulturstadt verortete (vgl. Bunz 2006).

P OTENZIALE Einen Aufschluss über die diversen Zuschreibungen und Wertungen, die an kleine Städte von außen herangetragen werden, erhält man durch eine Analyse massenmedial erzeugter und vermittelter Kleinstadtbilder. Betrachtet man das Bild der Kleinstadt, wie es beispielsweise seit den 1960er Jahren im Nachrichtenmagazin SPIEGEL aufschien, ist zunächst kaum etwas davon zu bemerken, dass man ihr Potenziale zuschriebe. Geschrieben in der Attitüde der eigenen Überlegenheit und im mokanten Modus finden sich dort Berichte über Kleinstädte, in denen sich Wehrstrafrichter verstecken (15/1964) und die zum Treffpunkt einer SS-Einheit werden (15/1979); ebenso auch von der Verdrängung des Lagers von Bergen-Belsen in Bergen selbst

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(30/1985). Kleinstädte sind laut SPIEGEL die Schauplätze eines militanten Antisemitismus (10/1986) und des Terrors gegen einen jüdischen Mitbürger (33/1993) wie auch gegen den Versuch, eine syrisch-orthodoxe Kirche zu errichten (19/1996). Die Kleinstadt erscheint somit als paradigmatische Stätte der Intoleranz, des Abgelebten und gar Reaktionären, ferner als Ort unwürdiger Wohnbedingungen und der Diskriminierung von Zigeunern (43/1979), als Stätte von eigenmächtiger Bücherzensur durch die Stadtverwaltung (10/1984) und als Zentrale katholischen Wunderglaubens (4/1996). Es zeigt sich hier, dass das Bild des Kleinstädtischen auch von dem geprägt wird, was massenmedial als berichtenswert angesehen wird; und dementsprechend implizit von der Berichterstattung ausgeschlossen bleibt. Immerhin aber taucht auch Rottweil auf mit einer Jugendinitiative für Altbausanierung (47/1981), und es geht 2002 um die RTL-Fernsehshow THE DOME, die erfolgreich in Riesa stattfand (23/2002). Darüber hinaus wird auch über eine geglückte urbane Sanierung im bayerischen Tittmoning (48/1996) und in einem weiteren Fall über eine Initiative zur Bürgerbeteiligung (50/2000) berichtet; mithin traut man der Kleinstadt inzwischen zu, zivilgesellschaftliche Qualitäten zu besitzen. In den USA bewertet man Kleinstädte, zu denen es eine exzessive populäre Literatur gibt, neuerdings wegen ihrer ökologischen Vorteile, ihrem geringeren Stadtverkehr sowie den sich in ihnen eröffnenden Chancen zur zivilen Einflussnahme im Zuge eines small scale urbanism gegenüber der Großstadt und dem sprawl deutlich positiver (Tumber 2012). Geographische Studien heben darauf ab, dass man – in Anlehnung etwa an Richard Floridas Ansatz einer Creative Class – die eigene Kreativität der Kleinstadt erforschen und entdecken solle, die sich eben nicht an ihrem Beitrag für globale Kulturindustrien, sondern im Kontext der »everyday lives of residents« bemessen ließe. So schreibt etwa Gordon Waitt: »Through the theoretical lens of cityscapes, small cities are shown not to lack creativity in the arts per se. Instead, in adopting this approach and drawing attention to the discursive structures underpinning the groundwork and dreamwork of economic policy makers, I have argued that it is conventional economic policy thinking that masks the creativity that is always present in people living in small cities. Ideas of small cities lacking creativity are framed through ideas embedded in particular classed ideas of creativity and the arts. Ideas about creative people and cities are imposed from elsewhere, usually New York, London or Paris.« (Waitt 2006: 181f.)

Die Frage nach den Potenzialen der Kleinstadt lässt sich, in historischer Perspektive, anhand der schon angedeuteten Frage nach ihrer spezifischen Urbanität weiter zuspitzen. Der Begriff der Urbanität changiert zwischen einer gesellschaftlich-historischen Zustandsbeschreibung und zugeschriebenen Verhaltensweisen, zwischen einem wichtigen Schlagwort in öffentlichen Diskursen und den Variationen wissenschaft-

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lichen Sprachgebrauchs. In der öffentlichen Debatte gewann der Begriff erst Konjunktur, als in den 1980er Jahren Stadtkultur und kommunale Kulturpolitik als wichtige Instrumente der wachsenden Städtekonkurrenz entdeckt wurden. Bei Jüngeren erwachte, was man die Sehnsucht nach der Metropole nannte. In dieser Situation schien sich eine entpolitisierte Yuppie-Urbanität auf großstädtische Serviceleistungen sowie genügend Ereignisse und Kulturangebote zu reduzieren. Die Belebung und Nutzung von Straßenraum über Stadtfeste wurde als Zeichen einer demokratisierten Urbanität von großstädtischen Bevölkerungen sehr aktiv wahrgenommen (vgl. Sens 1986; Herterich 1986; Bohn/Wilharm 2012; Dengel 2012). In den urbanistischen Fächern wird Urbanität als stets positiv charakterisierte Lebensform im sozialen Raum der Stadt verstanden. Populäre Beispiele sind für Wien die Begegnungen von Intellektuellen und für Berlin eine produktive Bohemekultur (vgl. Prigge 1996: 43, Forkert 2013). Das Konzept der Urbanität als Lebensform leitet sich bis heute von Georg Simmel ([1903] 1995) ab, der die Großstadt auf sozialpsychologischer Ebene und als Reich der Freiheit charakterisierte. Seine zentrale Schrift DIE GROßSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN nahm indes Topoi des antiurbanen Diskurses auf. Demnach zeichnet sich die Großstadt generell durch ihre Geldwirtschaft und Warenwelt, Dichte, Arbeitsteilung, Kreativität, persönliche Freiheit und Toleranz gegenüber Fremden aus. Kurzum: Sie ist schlechthin der Ort der Moderne. Sie erscheint als Schauplatz einer übergreifenden nationalen und globalen Kultur, deshalb haben, vermittelt über Ausstellungen und Medien, Performativität und das Visuelle einen hohen Stellenwert. Durch die hohe Begegnungsdichte seien indes die Großstädter dazu gezwungen, sich allumfassend distanzierend zu verhalten. Man gehe funktional begrenzte Beziehungen ein, während sich der kleinstädtische Habitus genau umgekehrt vom in sich geschlossenen Begegnungskreis und persönlicher Bekanntschaft her ableite. Das Individuum stehe dort unter dem ständigen Druck sozialer Kontrolle; und so könne sich jedenfalls ein Großstädter in einer Kleinstadt nur beengt fühlen. Diese Einschätzung und Perspektivierung der kleinen Stadt als Ort der Enge (und Traditionsgebundenheit) und nicht etwa als Ort einer besonderen Balance sozialer Erfahrung wirkt bis heute sehr fragwürdig in der Kleinstadtforschung nach (vgl. Nowak 2013: 59f.; Frisby 1984; Hüppauf 2005: 305, 308-314). Der amerikanische Stadtsoziologe Louis Wirth griff 1938 das Modell Simmels in verkürzter Form auf. Auch er ging bei Urbanität (= urbanism) als Lebensform, dem »distinctive mode of human group life« (Wirth 1938: 4), von der Großstadt aus. In Abstufungen bzw. abgeschwächt fänden sich dann in kleineren Orten die Strukturmerkmale großstädtischer Soziabilität wieder (ebd.: 7). Nach dieser Auffassung wäre die Kleinstadt zwar als eine Art abgeschwächte Stadt zu verstehen, jedoch differiert sie in einem entscheidenden Punkt von der Urbanität (dem urban way of life) der großen, da sie auf Begegnungen und auf sozialer Nähe, Bekannt-

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schaft, ein Stück weit auf »emotional ties« aufbaue (ebd.: 15). Neuere sozialwissenschaftliche Forschungen wie die von Thomas Ellwein haben allerdings auf der Grundlage von demographischem Wachstum und Eingemeindungen das Moment persönlicher Bekanntschaft abgeschwächt, demgegenüber Medialisierungs- und Pluralisierungstendenzen trotz anhaltendem Konformitätsdruck betont (vgl. Ellwein/Zoll 1982). Durch Eingemeindungen und Gebietsreformen hatte sich bereits die einheitliche räumliche und ›identitäre‹ Verfasstheit der Kleinstädte ein Stück weit aufgelöst, so dass man abwarten musste, ob sie sich auf neuer territorialer Basis wieder stärker reorganisieren kann. Die Urbanität der Kleinstadt beruht auf ihrer spezifischen Soziabilität. Hier zeigen sich die Beschäftigungsverhältnisse als primäres Kriterium für wahrgenommene Lebensqualität, zugleich die Eigenschaften der sozialen Kleinstadtkultur. Dazu gehören der hohe Stellenwert von ansässiger Familie und Netzwerken, die informellen Begegnungen im Rahmen der Vereine, die Bedeutung von Gärten und Stadtfesten, das soziale Kapital von Traditionen und Kompetenzen, die für künftige Innovationen genutzt werden können. Ebenso wäre auch die Geschichte alternativer Bewegungen seit den 1970er Jahren in ländlichen Regionen und Kleinstädten, die noch weitgehend unbearbeitet ist, für eine positivere Sicht der Kleinstadt- und Dorfpotenziale zu berücksichtigen (vgl. Hannemann/Benke 2002: 344-348; Schubert 2002; Mahlerwein 2016; Paulus 2015). Die Kleinstädte bekamen ihren untergeordneten Platz in der Städtehierarchie im späten 19. Jahrhundert zugewiesen, als Großstädte und Industrieagglomerationen eine einzigartige Dynamik verhießen. Nicht zur negativen Sicht der Kleinstadt passten freilich hoch aktive See- und Badestädte oder diejenigen Kleinstädte, die sich erfolgreich wirtschaftlich spezialisierten, wie z.B. die Hohner-Stadt Trossingen im Schwarzwald (vgl. Berghoff 2006). Viele Kleinstädte profilieren sich heute, nicht zuletzt aufgrund des gewachsenen Standortwettbewerbs, durch besondere kulturelle Aktivitäten und Festivals sowie durch ihre Schulangebote – jeweils relational zum Umland und zu anderen Städten. Das passt zu einem in der Disziplin der Geographie verankerten Modell von Urbanität, das den Begriff funktionell und weit auffasst, auf messbare Daten abhebt und die Kleinstädte miteinander vergleichbar machen soll. Es unterstreicht das (nach Einwohnergrößen abgestufte) Angebot an Erwerbsmöglichkeiten, Wohnformen, Nutzungsmischung in Städten. Hier wird demnach auf die institutionelle Ausstattung verwiesen, ferner auf subjektiv bewertete Lebensqualität, was die Frage der Potenziale der Kleinstadt günstiger erscheinen lässt. Seit dem 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein begründen ein diversifizierter Einzelhandel, besondere schulische und kulturelle Angebote, Verwaltungsinstitutionen sowie die Funktion als Verwaltungsmittelpunkt die funktionelle Urbanität der Kleinstadt. Indes ist die wirtschaftliche Situation vieler Kleinstädte prekär oder droht doch an Attraktivität zu verlieren. Internationale Studien zeigen, dass die kleine Kleinstadt heute die

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größten wirtschaftlichen Schwächen und Verwundbarkeiten aufweist. Insofern läuft alles auf eine Frage von relativer Größe und der Relationen zum Umland hinaus. Aber auch die kleine Kleinstadt weist urbane Qualitäten auf, die sie selbst für Kreative unter Umständen attraktiv werden lässt (vgl. Wüst 2004: 51; Mihm 2001; Lorentzen/Heur 2012).

K LEINSTÄDTISCHE U RBANITÄT D AS B EISPIEL DES K INOS

IN DER

M ODERNE :

Inwiefern leistete das Kino in der Kleinstadt einen Beitrag zu deren Urbanität? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es sich im frühen 20. Jahrhundert, und dann noch einmal nach 1945 bis etwa 1965, in Kleinstädten in erstaunlichem Maße ausbreitete. Dies ist Teil einer allgemeinen Medialisierungsgeschichte der ländlichen Gesellschaft. In den meisten Kleinstädten der nicht rein agrarischen Gebiete bestand oft schon in den 1920er Jahren, spätestens um die Jahrhundertmitte das Angebot eines ständigen, häufig auf bestimmte jahres- und arbeitszeitliche Rhythmen eingestellten Kinoprogramms. Auffällig sind starke regionale und lokale Unterschiede bei diesem Angebot, woraus sich schließen lässt, dass lokale Faktoren mit darüber bestimmten, ob und mit welchem Erfolg ein Unternehmer ein Kino eröffnen konnte. Die Kinoprogramme kleiner Orte fielen seit den 1930er Jahren gegenüber größeren Städten nicht mehr so stark ab wie zuvor. Je nach örtlicher Lage (Einwohnerzahl, Konfessionsstruktur, Erreichbarkeit des Kinos) zeigt sich für Kleinstädte, wie sich Jugendliche und junge Erwachsene zu Kinogängern entwickelten. In den Kleinstädten trug gerade das Kino bedeutend zu Unterhaltung und Freizeitgestaltung bei; es bildete auch einen Ort, an den Frauen allein hingehen und an dem Jugendliche ein paar Stunden für sich sein konnten. Das Kino in der Kleinstadt hinterlässt im Gedächtnis starke Eindrücke und war – und ist es partiell weiterhin – ein Raum freier Wahl, wie er auch von anderen kommerziellen Vergnügungsangebote hergestellt wird: ohne soziale Pflichten, wie man sie doch in den Vereinen hatte. Das Informations- und Spielfilmangebot konfrontierte die Zuschauer mit fremden Welten und Erfahrungen (vgl. Thissen/Zimmermann 2016; Maldener 2016; Haake 2016; Gregorius 2007; Morat 2005: 234f.). Åsa Jernudd wies für Schweden darauf hin, dass sich das Kino in Klein- und Mittelstädten deswegen gut etablieren konnte, weil es dort im Rahmen der Arbeiterund Volksbewegungen stand; es gehörte einerseits zu den »spaces of a provincial modernity« (Jernudd 2012: 29), musste sich andererseits aber auch an Grenzen des Sag- und Schaubaren anpassen. Dies trifft allerdings ebenso auf das Kino in größeren Städten zu, wie Studien zur Filmzensur in der Bundesrepublik zeigen (vgl. Buchloh 2002).

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In einer Lokalstudie zum westfälischen Billerbeck wird die Einbindung der Programme in die moralischen Ansprüche des örtlich überaus dominierenden katholischen Milieus sichtbar, durch die Kontroversen und Diskussionen vor allem hinsichtlich der Themen Ehe, Familie und Erotik ausgelöst wurden. Das heißt: Gängige Grenzen von Erfahrungen und Moral waren durch das Angebot in Frage gestellt. Es lässt sich vermuten, dass dadurch diese Grenzen auch langfristig verschoben wurden (vgl. Gruttmann 2012: 416, 428 sowie Gruttmann 2016). Wiederum in der katholischen Region Limburg (Niederlande) konkurrierten Kinos katholischer Organisationen mit privaten Kinobetreibern, die in ihren Publiken als ›cultural intermediaries‹ eine starke Rolle hatten, aber immer auf Kriterien der Respektabilität ebenso achten mussten wie darauf, steuerlich nicht schlechter als die kirchlichen Veranstaltungen gestellt zu werden (Van Oort 2012). Das Kino war im Kleinstadtkontext das potenziell globale Medium, das auf ständiger Bewegtheit eines medialen Stroms und auf übergreifenden Märkten beruhte; und somit schließlich auch ein neues Raumgefüge sichtbar machte (vgl. Wasson 2013: 372f.). Der Kinobau brachte eine besondere Ästhetik ins Bauensemble, die mit seiner Technizität, den beleuchteten Fassaden und der Lichtreklame auf die großstädtische Lichterstadt verwies und eine Chiffre für urbane Modernität bildete; und zwar selbst dort, wo man sich an traditionalistische Baustile und Reglements der Fassaden vernakulär anpasste (vgl. Steidle 2011: 292ff.; Steidle 2012: 66-68, 170-186, 220-253; vgl. Gunning 1994). In der Kinobauliteratur um 1930 war es das Ziel, Film ohne Qualitätsdifferenz auch in den Vorstädten und Kleinstädten zu zeigen. Dazu sei der Vorführraum ›würdig‹ zu gestalten und sachdienlich mit einer Bühne auszustatten; und so ist dann der Kinosaal oft der einzig geeignete Raum für kulturelle Veranstaltungen aller Art gewesen. Dabei argumentierte der maßgebliche Kinoarchitekt Werner Gabler dafür, die Bauaufgabe aus den lokalen Situationen heraus zu entwickeln und nicht als Kopie des Großstadttheaters zu gestalten. Er betonte, dass neu eingerichtete Kinos in Kleinstädten die technischen Standards von Großstadtkinos sogar überträfen und dass der Repräsentationsaufwand des »Großstadttheaters« sowohl unnötig wie wegen der bescheideneren Finanzerträgnisse der so genannten »Provinz« dort unmöglich sei. In Kleinstädten könne sich das Kino »auf die nach ihrer kulturellen Verantwortung gar nicht hoch genug einzuschätzende Aufgabe beschränken, einen würdigen Raum zu bieten, in dem eine Versammlung von Zuhörern sich ohne äußere Ablenkung den gemeinsamen Eindrücken der Vorführung hingeben kann« (Gabler 1933: 300). Ferner meinte der Regierungsbaumeister Gabler, dass in diesem Kontext abgewandelte Urbanitätsmaßstäbe angebracht seien: »Eben weil sich der größte Teil der Besucher untereinander kennt, ist es erwünscht, dass [man] auch im Theater die Plätze entsprechend der öffentlichen Stellung« des Kinogängers einnähme (ebd.). Die Kleinstadt mit ihrer sozialen Nähe schließe also betonte Distinktion keineswegs aus; aber auch ansonsten geht Gabler davon aus, dass

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moderne Bildmedien in allen Stadttypen in gleicher Qualität zur Verfügung stehen sollten und zunehmend auch stünden. Kurzum: Aus all dem ergibt sich der urbane Charakter von Kleinstädten, trotz ihrer Nähe und besonderen Beziehungen zum ländlichen Umfeld. Insofern auch sie sich – genauso wie größere Städte – ständig modernisierten, kam es dann auch zu besonderen Spannungszuständen mit beharrenden Sektoren und Akteuren. Das Beispiel des Kinos zeigt, dass der tiefgreifende Medialisierungsprozess des 20. Jahrhunderts hier ebenso zu charakteristischen Formen von Angeboten wie Publiken führte.

P ERIPHERISIERUNG ? Nicht nur in den nostalgischen Bildbänden der 1920er Jahre über die bürgerlichen Kleinstadtidyllen klang ihr willkommener unzeitgemäßer Status gegenüber der Dynamik der Moderne an, sondern zugleich auch die Ahnung von ihrem wachsenden Bedeutungsschwund. Dies zeigt sich etwa in Karl Kaltwassers Band KLEINE STADT, der 1935 bis 1955 in zahlreichen Auflagen erschien (Kaltwasser 1935; ähnlich gelagert: E. O. Hoppe 1929). Die Peripherisierung von Kleinstädten ist in der modernen Stadtforschung zuerst am Beispiel der DDR beschrieben worden, wo die bauliche und infrastrukturelle Entwicklung kleinerer Städte stark vernachlässigt wurde (vgl. Hannemann/Benke 2002). Die heutige Stadtforschung betont die anhaltende Bedeutung der Pluralität urbaner Erfahrungen jenseits der Metropolen (vgl. Bell/Jayne 2006; Bell/Jayne 2009) und sieht die Gefahren des Zurückfallens kleinerer und mittelgroßer Städte gegenüber den erstrangigen in den Städtenetzen, ihre geringere materielle Fähigkeit, politische und gesellschaftliche Probleme zu steuern und zu meistern sowie auch das geringere Angebot an kulturellen Möglichkeiten (vgl. Connolly 2008). Neben den Befunden ambivalenter Entwicklung zwischen Attraktivität und Leerstand gibt es Niedergangszenarien. So die des Soziologen Jean-Luc Roques (2009 und 2011), der Rückgang und Rückzug in den kleinen Städten Frankreichs angesichts der Ohnmacht gegenüber der unaufhaltsam fortschreitenden Periurbanisierung ausmacht. Gemeint ist damit die flächenhafte Suburbanisierung und die Anlage nichtruraler Orte von der Eigenheimsiedlung bis zum Skiort gemeint. Roques wiederholt die etablierte Kleinstadtcharakteristik und zielt dabei ab auf Zugehörigkeitskultur und Pflege der kulturellen Überlieferung. Seine Kleinstadtkritik fällt apodiktisch aus, seine empirische Methode bleibt indes offen: In der kleinen Stadt lebten demnach zwei Gruppen: »ceux qui sont d’ici«, diejenigen, denen die Kleinstadt seit Generationen ›gehört‹, und »ceux qui viennent d’ailleurs«, diejenigen, die den Schlüssel und die Kodierungen zum neuen Ort finden und sich in ihren Verhaltensweisen anpassen müssen. Besonders die Suche

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nach Arbeit erscheint für die Zuziehenden mühsam, ebenso die Wohnungssuche. In der Freizeit trifft der Zugezogene auf geschlossene Gruppen, die ihn zwingen, sich fiktiv zu integrieren. Zwischen dem Pol der Selbstisolation ihres kulturellen Milieus und dem Kräftefeld der Periurbanisierung sei die Zukunft der Kleinstadt ungewiss, falls sie es nicht schaffe, überzeugende Strategien zu entwickeln: Soll man hier den Weg der Selbstgenügsamkeit einschlagen oder in angenehmer Umgebung drauf los konsumieren? Wie kann man die modernen Informationstechnologien nutzen und doch die eigene Geschichte wiederentdecken? (vgl. Roques 2009: 43-46, 105, 207209; Roques 2011: 26, 176f., 239) In Deutschland wird demgegenüber eher auf die wachsenden Differenzen der Kleinstadtentwicklung in der Nähe von großen Städten und in ländlichen Räumen hingewiesen: Die Kleinstadt in der Nähe größerer Städte bzw. in Agglomerationen stehe in Gefahr, ihre Kontur zu verlieren und richtiggehend aufgesaugt zu werden. Aber insgesamt ist doch zu konstatieren, dass die Zahlen stabil bleiben. Im Raum Stuttgart beispielsweise stiegen die Kleinstadtbevölkerungen gar um ein Vielfaches an, allerdings auch um den Preis wachsender innerer Suburbanisierung (vgl. Brombach/Jessen 2004: 188). Gerade weil im Sog von Zentralisierungs- und Suburbanisierungsprozessen und aufgrund großflächiger Polarisierung zwischen Metropolregionen und abgehängten Gebieten Peripherisierung droht, bestimmt die Frage der Steigerung der Attraktivität der kleinstädtischen Innenstädte die urbanistische Debatte. Wie kann der aufgesprengte Zusammenhang der Orte wieder hergestellt werden, wie können vielfältige Kulturangebote, Angebote zur Aneignung von Flächen und Gebäuden durch z.B. kulturelle Akteure und Jugendliche unterbreitet und entwickelt werden? Wie können Begegnungsorte geschaffen, künftig Zuwanderer beteiligt und dauernd ansässig gemacht werden, ohne die Handlungsfähigkeit und Frustrationstoleranz von Bewohnern zu überfordern? Als Hauptproblem wird auch die zunehmende Filialisierung im Einzelhandel gesehen, ebenso macht die Konkurrenz mit globalen Handelsketten Läden in Kleinstädten sicherlich mehr zu schaffen als in Mittelstädten, in denen sich Reste des ortsansässigen und charakteristischen Einzelhandels erhalten haben (vgl. Beißwenger 2016; Halebsky 2009). Die offiziellen, d.h. im Rahmen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung verfolgten empirischen Entwicklungsanalysen unterstreichen, dass die Ergebnisse sehr unterschiedlich ausfallen: Die schon erwähnte Kleinstadt Billerbeck erreicht ebenso wie Moritzburg in Sachsen bei Kriterien wie Beschäftigtentrend und Familienfreundlichkeit sehr gute Werte, Winterberg in NordrheinWestfalen und Bad Sachsa in Niedersachsen wiederum zeigen starke soziale Ungleichheit und Probleme bei der Entwicklung der Beschäftigung und beim Wohnungsbau. Es gibt aber doch allgemeine Trends: Zwei Fünftel aller Klein- und Mittelstädte schrumpften v.a. im Osten, in Mitteldeutschland, in NordrheinWestfalen und abseits der großen Zentren. Der demographische Wandel werde dadurch, so die Schlussfolgerung, zu einer weiteren Verschlechterung der Versor-

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gung führen, v.a. in den dünn besiedelten ländlichen Räumen der ehemaligen DDR. Andererseits sieht man im Bundesinstitut Chancen durch eine rationalere Verteilung von Fördermitteln sowie die Bildung von Kooperationen und Netzwerken auf regionaler Ebene. Ferner seien auch die Nutzung der in Kleinstädten ausgeprägten Motivationen zur ehrenamtlichen Arbeit sowie Investitionen im Bereich der jeweiligen Innenstädte anzugehen (vgl. Gatzweiler 2012: 79-82, 85, 98-105; Schrödel 2014: 232-258). Demnach ist Peripherisierung von Kleinstädten kein allgemeiner, sondern ein regional hoch differenzierter Trend.

S CHLUSS Insgesamt ging es hier die Betrachtung der Entwicklungschancen von Kleinstädten in der Moderne des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Dabei lässt sich einerseits auf zweifelsfrei nachgewiesene Errungenschaften von Kleinstädten wie anhaltende Attraktivität der Umwelt, wirtschaftliche Fortentwicklung in Richtung erfolgreicher Tertiarisierung, gute Chancen auf Eigentumsbildung und neue Dienstleistungsangebote sowie andererseits auf die Sorge um den Sog der Agglomerationen und die bedrohlichen demographischen Schieflagen verweisen. Ferner wurde deutlich, dass Selbstbilder und Selbstkonzepte wie etwa das Gefühl, in der Kleinstadt der Natur nahe zu sein oder die eigene Stadt als ›Heimat‹ zu empfinden, kurzum: soziale Emotionen und Vorstellungsbilder (sowohl historisch begründete auch bestimmte Sehnsuchtsorte anstrebende) eine wichtige Rolle bei der Frage nach den Potenzialen und auch der Peripherisierung von kleinen Städten spielen. Weniger Raum gegeben wurde hier den melancholischen Bildern und der harschen Kritik der Kleinstadt, da es um eine differenzierte Chancen- und Urbanitätsbilanz ging. Die Kleinstadt des 20. Jahrhunderts hat sich jedenfalls nicht als der antimoderne Hort erwiesen, als der er vielfach literarisch, medial und alltagsweltlich erzählt wird. Die von außen kommenden Zuschreibungen sind hier eher als Projektionen zu verstehen, die weniger über die Kleinstadt und mehr über den Standort und die Positionen derjenigen ausdrücken, die sie vornehmen. Das lange Zeit im Diskurs vorherrschende Motiv der kleinen Stadt als Raum der Unfreiheit und mangelnden Pluralität ist mittlerweile durch relationale Kriterien ersetzt worden. Mit ihnen wird schließlich auch deutlich wurde, dass die typischen engen sozialen Beziehungen zwar einerseits Individualisierungsmöglichkeiten beschränken, aber andererseits wohl auch ein Potenzial für die Fortentwicklung der Zivilgesellschaft darstellen.

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Kein Dorf mehr – aber so richtig Stadt? Zur Urbanität der Kleinstadt D ETLEF B AUM

E INLEITUNG : H ISTORISCHE P ERSPEKTIVEN AUF DIE EUROPÄISCHE S TADT Es gab schon immer kleine und große Städte, Städte in denen eine mehr oder weniger heterogene Bevölkerung zusammenlebte, die sich mehr oder weniger fremd war und die relativ dicht aufeinander wohnte. Dabei fungierten Städte schon immer als »Integrationsmaschinen«, wie es bei Simmel heißt. Allerdings haben sie zu allen Zeiten aber sehr unterschiedlich integriert und auch nicht immer alle aufgenommen, die in der Stadt leben wollten. Ihr Integrationspotential hing sowohl mit ihrer Größe als auch mit kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Faktoren zusammen. Städte hatten auch schon immer ihren eigenen Charakter. Als Residenzstädte oder Handelsstädte, als Verwaltungsstädte oder Universitätsstädte entwickelten sie ihren eigenen Charme, hatten ihre je eigene städtebauliche Gestalt und entwickelten ihre je eigene und für sie typische soziale, kulturelle und ökonomische Dynamik. Städte hatten immer auch eine Funktion für das Umland, das strukturell auf sie verwiesen war. Beide konnten ohne den jeweils anderen auch nicht existieren. Insofern hat sich eine spezifische Arbeitsteilung entwickelt, die beiderseits produktiv war. In der Stadt lebten im Grunde die, die von der landwirtschaftlichen Produktion freigestellt waren, aber gerade deshalb auch von ihr abhingen. Das Land wiederum brauchte die Stadt, um Dinge zu erwerben, die man nicht selbst herstellen konnte. Die Entwicklung des Marktes als Kernstück der ökonomischen Dynamik der Stadt macht das deutlich. Idealtypisch lässt sich im historischen Blick wohl sagen, dass die Stadt schon immer als Motor der Modernisierung galt, wo das Land in seinen Traditionen verharrte. Insgesamt hat sich in den Städten – bei aller Unterschiedlichkeit ihres Charakters – ein anderer Lebensstil durchgesetzt und vor allem andere Formen des Zusammenlebens entwickelt als auf dem Land, im klassischen Dorf –

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wiewohl sich beide im Rahmen und unter den Bedingungen der Moderne einander angenähert haben und mittlerweile auch von einer Urbanisierung des Dorfes wie auch einer Verdörflichung urbaner Strukturen in der Stadt gesprochen werden kann. Die Entwicklung der Großstadt als eigener Stadttyp bildete eine Zäsur in der Geschichte der Stadt und ihrer Beziehung zum Land. Die Großstadt konnte sich erst im Zuge der industriellen Verstädterung entwickeln. Mit der Industriestadt kam es zu einer anderen Zusammensetzung der Bevölkerung; und mit ihr entwickelte sich auch eine spezifische Logik von Integration und Ausgrenzung sowie ein eigener Lebensstil, der sich auch vom urbanen Lebensstil der Bürgerstadt unterschied. Die industrielle Großstadt hat die Kleinstadt als Kategorie – soziologisch gesehen – erst hervorgebracht. Die Großstadt stand mit ihrer eigenen Dynamik und ihren eigenen Problemen der Kleinstadt mit ihrer Beschaulichkeit und ihrer wenig beschleunigten Dynamik gegenüber. Die von der Industrialisierung nicht erfasste Bürgerstadt blieb im Grunde auch Bürgerstadt mit den für sie typischen Merkmalen ihrer städtebaulichen Gestalt, ihrer infrastrukturellen Ausstattung mit Geschäften, Dienstleistungen, Cafés, Restaurants, kulturellen Einrichtungen und Einrichtungen kollektiver Daseinsvorsorge etc. sowie mit ihrer typischen Beziehung zum Umland. Die Entwicklung zur Industriestadt wurde auf dem Weg zur Großstadt durch zwei Prozesse beschleunigt, die an der Kleinstadt vorbeigingen. Der Ausbau der Verkehrswege zu Wasser, auf der Schiene und auf der Straße führte zu einer Konzentration der Produktion in bestimmten industriellen Ballungszentren. Darüber hinaus war der ländliche Pauperismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Grund einer massenhaften Landflucht der von Armut und Arbeitslosigkeit geplagten Landbevölkerung in die Industriestädte. Die damals virulente soziale Frage als Inbegriff für die Armut und das Elend der ländlichen Bevölkerungen wurde nunmehr zur sozialen Frage in den Großstädten, die sich zur Wohnungsfrage und zur Überlebensfrage eines ländlich geprägten Industrieproletariats in den Städten verdichtete. Die damit verbundenen Probleme kennen wir aus zeitgenössischen Schilderungen. Verwiesen sei hier nur auf Friedrich Engels eindrückliche Schilderung der Lage der arbeitenden Klassen in England (vgl. Engels [1885] 1974). Diese Entwicklung ließ auch eine konservative Kritik an der Großstadt im 19. Jahrhundert entstehen, die vor dem Hintergrund der Idealisierung und Romantisierung ländlicher Verhältnisse, des Dorfes und der ländlich geprägten Kleinstadt, die Großstadt als Moloch, als Ort des Verfalls und des Lasters sah. Die Protagonisten dieser Kritik sahen in der Großstadt den Verfall der Gemeinschaft – und zwar in einer Zeit, in der alles als Gesellschaft erschien und gemeinschaftliche Formationen des Dorfes und der Kleinstadt verloren zu gehen und Individuen die Stadt zu bevölkern schienen, die sich wie auch allen anderen fremd seien, wie es etwa bei einem der Protagonisten des Diskurses zu jener Zeit, Ferdinand Tönnies ([1887] 1991: 17f.), heißt. Ebenso, d.h. in die gleiche Richtung gehend, sah Heinrich Wilhelm Riehl in den Bewohnern der Großstadt die Entwurzelten und Isolierten, die sich

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nicht mehr auf die Solidarität der Gemeinschaft verlassen dürfen (vgl. Riehl [1853] 1925: 96ff.); und schließlich prognostizierte Oswald Spengler ([1918-22] 1950: 117f.) angesichts dieser Entwicklungen gar den Untergang des Abendlandes. Kein Wunder also, dass der Entwicklung und Geschichte der Kleinstadt im Schatten der Großstadtentwicklung im Zuge der industriellen Verstädterung wie auch der damit verbundenen Großstadtdiskurse keine größere Bedeutung zukam. Auch die Stadtsoziologie – als eine der Kerndisziplinen der Soziologie mit der Geschichte der Soziologie als Wissenschaft unmittelbar verbunden – hat sich kaum für die Kleinstadt interessiert und mit ihr auseinandergesetzt. Nicht nur die Chicagoer Schule macht dies deutlich, sondern auch deren Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durch die Sozialforschungsstelle Dortmund, die sich zwar auf der einen Seite sehr stark mit der Tradition der Community Studies beschäftigte und einige einschlägige Gemeindestudien durchgeführt hat, sich auf der anderen Seite jedoch sehr schnell der Großstadtentwicklung gewidmet hat. Selbst die Gemeindestudien bezogen sich oft auf Städte wie Darmstadt, auf die Entwicklung der Dörfer zu Industriestandorten wie Wolfsburg oder in industriellen Ballungszentren wie denen des Ruhrgebiets. Aber auch später, bereits im Stadium einer etablierten Wissenschaft, hat sich die Stadtsoziologie vornehmlich mit der Großstadt beschäftigt (vgl. Bahrdt 1971). Das Dorf und die ländliche Kleinstadt wurden zum Thema der Agrarsoziologie, die sich mit dem ländlichen Raum beschäftigte.

D IE F RAGESTELLUNG

DES

B EITRAGS

Im Folgenden geht es darum, die Kleinstadt in ihrem eigenen Charakter und ihrer eigenen Identität zu begründen, aus der ein spezifischer urbaner Lebensstil jenseits von Dorf und Großstadt erwächst – der aber nicht losgelöst von Dorf und Großstadt analysiert werden kann. Dabei soll die Kleinstadt jedoch nicht als eine Etappe auf dem Weg eines Dorfes zur Großstadt geschildert werden; also quasi: die Kleinstadt als ein heranwachsendes Dorf im Stadium der Pubertät oder Adoleszenz. Vielmehr lässt sich festhalten, dass sie aufgrund ihrer städtebaulichen Gestalt und ihrer für sie typischen Verbindung zum Umland einen eigenen urbanen Lebensstil entwickelt, der sowohl jenseits der Großstadt (ohne allerdings den Charakter einer Stadt zu verlieren) als auch jenseits des Dorfes (ohne allerdings auf Eigenheiten des Dorfes ganz zu verzichten) zu verorten ist. Die Geschichte der Kleinstadt und ihr Charakter sind nicht ohne das Dorf und nicht ohne die Entwicklung der Großstadt denkbar. In konzeptioneller und idealtypischer Weise wird dies im Weiteren mit Blick auf die europäische Stadt ausgeführt.

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Vielleicht war gerade auch der von Christine Hannemann beschriebene Zustand der Dauermarginalisierung der Zustand, der es der Kleinstadt ermöglichte, unbeachtet und im Schatten der Großstadt – und also auch jenseits einer für die Großstadt typischen beschleunigten Moderne – eine Identität und eine Eigenlogik zu entwickeln, die nicht nur ihr Überleben sicherte (vgl. Hannemann 2005: 105ff.). Vielmehr konnte sie im Kontext ihrer Verwobenheit mit dem ländlichen Raum einerseits sowie bei gleichzeitiger Verschiedenheit vom ländlichen Lebensstil des Dorfes anderseits einen anderen urbanen Lebensstil hervorbringen, in der sich Tradition und Moderne, Beharrung und Wandel, Vergangenheit und Gegenwart, Geschichtsbewusstsein und Wagnis in die Zukunft begegnen, ohne sich auszuschließen. Dies ist die Kehrseite der Marginalisierung, die Hannemann (2005: 112) durchaus auch sieht. Folgende Fragen sind in diesem Kontext von Interesse: Kann die Urbanität als Lebensweise der Kleinstadt von der der Großstadt unterschieden werden? Wie lassen sich die für die Großstadt typischen Strukturmerkmale des Städtischen auf die Kleinstadt übertragen? Im Anschluss an die Bearbeitung dieser Fragen geht es um die These, dass die Urbanität der Kleinstadt eine Lebensweise ist, in der sich die für die Stadtgesellschaft typischen Elemente von Vergesellschaftung mit den für das Dorf konstitutiven Momenten der Vergemeinschaftung verbinden lassen. Dabei beziehen sich die Überlegungen auf die europäische Stadt, die sich von Städten anderer Kulturkreise durch die Bedeutung unterscheidet, die sie ihrer Geschichte gibt und mit der sie sich in öffentlichen Bauten und Räumen repräsentiert. Weiterhin zeichnet sich die europäische Stadt durch ihre kommunale Sozialstaatlichkeit aus, mit der sie auf Formen des Zusammenlebens aller achtet. Ihre Emanzipationsgeschichte als »conjuratio« (Max Weber), als Verschwörung freier Bürger gegen ihre Usurpatoren und Gründer, hat schließlich zur Selbstverwaltung der Stadt durch ein selbstbewusstes Bürgertum geführt. Zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert hat sich eine Emanzipationsbewegung der Gemeinden aus feudalen Herrschaftsverhältnissen in Europa entwickelt, die unmittelbar mit der Entstehung und der Geschichte des europäischen Bürgertums verbunden ist, das die städtische Lebensweise entscheidend geprägt hat. Dieses historische Bewusstsein machte die Identität der Bürgerstadt aus und darf auch als ein wesentliches Element des Charakters der Kleinstadt bezeichnet werden.

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D ER B EGRIFF DER U RBANITÄT In den gängigen Konversationslexika findet man als Definitionsmerkmale der Urbanität eine verfeinerte, mit Bildung versehene und Weltgewandtheit repräsentierende Lebensweise, die sich von der bäuerlichen Kultur abgrenzt. Diese Lebensweise konnte nur durch die Befreiung von landwirtschaftlicher Arbeit entstehen. Damit sind zwei Bedeutungsschichten verbunden. Zum einen war man befreit von körperlicher Arbeit, was sich auch auf die Art der Regeneration und der Reproduktion des Lebens auswirkte. Zum anderen war man von der Abhängigkeit der Natur befreit und von dem Zwang, sich den Naturabläufen zu unterwerfen. Damit war man auch entbunden von dem durch den jahreszeitlichen Zyklus strukturierten Zwang der Ernten, der Bearbeitung des Bodens und von den mit der Tierhaltung verbundenen Notwendigkeiten. Die bäuerliche Wirtschaftsweise war eine Einheit von Arbeit und Leben, die sich im Ländlichen nicht auflösen konnte. Diese Auflösung begann erst in der Stadt und kann als typisch für sie gelten; schuf sie doch gleichsam einen besonderen Lebensstil, der dadurch geprägt war, dass man sich anderen Dingen widmen konnte, Zeit hatte für kulturelle und auch politische Angelegenheiten, die wiederum mit der Stadt als Gemeinschaft der Bürger verbunden waren. Die Römer verstanden unter Urbanität eine kultivierte Lebensart und eine elegante, witzige Rhetorik. Im hohen Mittelalter bezeichnete der Begriff die höfische Gesellschaft und im späten Mittelalter wurde der Begriff als städtische Lebensweise vor allem in den romanischen Ländern den Stadtbewohnern zugeschrieben (vgl. Stercken/Schneider 2016: 11). Die städtische Lebensweise eines aufstrebenden Bürgertums in der Frühen Neuzeit verwies normativ auf eine bessere Gesellschaft. »Stadtluft macht frei« war seinerzeit nicht nur ein Rechtsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, es war gleichsam eine Parole. Denn: »Landluft macht eigen« – so ging der Satz weiter und verwies auf die feudale Eingebundenheit der Landbevölkerung und auf die Bindung an die Scholle. Der Satz signalisierte das Emanzipationsbegehren der bürgerlichen Gesellschaft aus diesen feudalen Zwängen und Bindungen, das von der Idee eines freien Individuums mit individuellen Rechten getragen war. Dazu verhalf die Stadt; der Feudalismus war auf das Land verwiesen. Privateigentum, individuelle bürgerliche Rechte und Freiheiten gegenüber dem Staat boten dann auch die Grundlage dieses Emanzipationsbegehrens und waren auch der Ausgangspunkt für die allmähliche Trennung einer bürgerlich geprägten Privatsphäre der Wohnung von den öffentlichen Räumen der Stadt, den Straßen und Plätzen und auch der res publica, der öffentlichen Angelegenheiten. Natürlich kannte das Dorf auch das Freiheitsbegehren und die Loslösung von feudalen Abhängigkeiten. Die Dorfgemeinschaft war durchaus in der Lage, sich gegen Ansprüche des Feudalherrn zu wehren. Aber es war die Dorfgemeinschaft

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insgesamt, die das Dorf selbst verwaltete und aus der jener Kommunalismus entstand (vgl. Blickle 2000). Die Dorfgemeinschaft blieb Gemeinschaft, in der die Individualität des einzelnen wie auch Individualinteressen keine – oder zumindest keine vordergründige – Rolle spielten. Das unterschied die Dorfgemeinschaft von der bürgerlichen Gesellschaft in den Städten, die sich als Gemeinschaft von Individuen verstand, die sich gegen die Herrschaft richten und ihre Mitglieder reflexiv ins Verhältnis setzen konnte. Ihre Beziehungen untereinander waren nicht natürlich gewachsen, sondern mussten auf der Basis eines positiven Rechts geregelt und organisiert werden. Max Weber bezeichnete die Herrschaft der Stadt durch ihre Bürger sogar als illegitime Herrschaft. Die Urbanität der Industriestadt hatte hier hingegen nochmal andere Ausprägungen. Die industrielle Verstädterung war von der Dialektik von Arbeit und Leben bestimmt. Arbeit und Reproduktion des Lebens waren funktional aufeinander bezogen und haben den Alltag der Menschen strukturiert sowie ihren Lebensstil geprägt. Damit hat sich der städtische Lebensstil der Industriestadt vom ländlichen nur durch die Art des Arbeitens und durch die Trennung von Arbeit und Wohnen bzw. Arbeitszeit und Regenerationszeit unterschieden. Man hat gearbeitet, um zu leben. Die für die Stadt typischen Formen der Präsentation im öffentlichen Raum und des kulturellen Lebens hatten für das Industrieproletariat keine den Lebensstil prägende Bedeutung. Dieser Prozess macht im Übrigen auch deutlich, dass Verstädterungsprozesse auch ohne die Entwicklung einer Urbanität als Lebensstil möglich waren.

D IE U RBANITÄT

DER

K LEINSTADT

Wie lässt sich die Urbanität der Kleinstadt ganz allgemein beschreiben? Für die kleinstädtische Bürgerstadt ist zunächst einmal anzunehmen, dass sie sich als Bürgerstadt vom Land durch ihre andersartige Lebensweise unterscheidet. Damit hat sich auch eine andere Qualität zum ländlich geprägten Umland entwickelt. Die Qualität und die Gestaltung dieser Beziehung ist ein wesentliches Element der Urbanität der Kleinstadt, prägt sie doch auch das innerstädtische Leben. Diese andere Lebensweise war neben der Befreiung von landwirtschaftlicher Arbeit von der bereits beschriebenen Trennung von Arbeit und Leben gekennzeichnet, die sich als eine Trennung von Arbeit und Wohnen manifestierte. Diese Trennung entsteht bereits in der Stadt der Frühen Neuzeit im Rahmen des Bürgertums. Mit der Großstadt im 18. und 19. Jahrhundert und mit der Industrialisierung wird diese Trennung zu einer Art Spannung, die bei Hans Paul Bahrdt dann auch zu einer Polarisierung wird (vgl. Bahrdt 1971: 58ff.). Selbst der Handwerker konnte in der vorindustriellen Stadt noch Arbeit und Leben im Haus integrieren; seine

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Arbeitsstätte war Bestandteil seines Hauses. Erst die räumliche Trennung zwischen der Arbeitsstätte und der Wohnung, die die Überwindung von räumlichen Distanzen erforderlich machte, erzeugte und prägte das Spannungsverhältnis von Arbeit und Leben. Die Entwicklung einer kleinstädtischen Industrie machte die Kleinstadt nicht schon zu einer Industriestadt, die ihren Lebensstil veränderte und ihre Urbanität verlor. Zwar kannte die Kleinstadt auch die Trennung von Arbeitsstätte und Wohnung. Diese Trennung bewirkte aber nicht die Diskrepanz von Produktionssphäre und Reproduktionssphäre, wie sie aus der industriellen Großstadt bekannt ist. Das ›Fabrikle‹, der größere mittelständische Betrieb oder selbst das Gewerbegebiet mit seinem Baumarkt und seinen Gewerbebetrieben haben bis heute nicht derartige Auswirkungen auf den urbanen Lebensstil in der Kleinstadt. Die von der kleinstädtischen Industrie gebrauchten Arbeitskräfte kamen aus dem unmittelbaren Umland, die in die Kleinstadt pendelten oder zugezogen sind. Als Pendler kamen sie oft aus den Dörfern und waren Nebenerwerbslandwirte oder Kleinbauern, die auf einen Nebenverdienst als Arbeiter angewiesen waren. Sie kannten die Stadt als Bezugsort und waren den städtischen Verhältnissen gewachsen, weil die sozialen und sozialökologischen Barrieren nicht unüberwindbar erschienen. Entscheidend für die Urbanität der Kleinstadt ist auch, dass sich in den mit Industrie ausgestatteten Kleinstädten keine typische Arbeiterkultur entwickelte. Es konnten sich sozialräumlich keine Arbeiterviertel ausbilden, in denen sich eine spezifische Lebensart entwickelte, die von der Dialektik von Arbeit und Leben, von Arbeiten und Regeneration getragen war. Die Lebensweise der Arbeiter war von der bürgerlichen Urbanität nicht so weit entfernt. Der Arbeiter in der Kleinstadt blieb schließlich auch Bürger dieser Kleinstadt – vielleicht auch eher am Rande der Kleinstadt und im Kontext eines kleinbürgerlichen Milieus. Das unterschied den Arbeiter in der Kleinstadt vom Proletarier der Industriestadt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

D IE IDEALTYPISCHEN S TRUKTURMERKMALE DER G ROßSTADT UND IHRE A USPRÄGUNGEN IN DER K LEINSTADT Gelten die für die Großstadt festgestellten Merkmale auch für die Kleinstadt – quasi: nur in einem geringeren Ausmaß – oder lässt sich aufgrund der für die Kleinstadt spezifischen Ausprägungen dieser Merkmale eine ganz anderen Urbanität konstatieren? Für die weitere Beschreibung der Urbanität der Kleinstadt ist es hilfreich, die kleinstädtische Lebensweise mit einigen Strukturmerkmalen des Städtischen in Verbindung zu bringen, die bislang nur im Kontext der Großstadtentwicklung diskutiert wurden; was im Übrigen auch unterstellt, dass diese Merkmale nur

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mit der Großstadt in Verbindung gebracht werden könnten. In ihrer spezifischen Ausprägung – so die These – lassen sie sich aber auch in der Kleinstadt finden. Unvollständige Integration Zunächst ist für die städtische Lebensweise die unvollständige Integration derer prägend, die sich im öffentlichen Raum der Stadt bewegen. 1 Im öffentlichen Raum der Stadt sind alle allen anderen fremd. Man verhält sich so, als würde man die anderen nicht kennen: distanziert und reserviert. Menschen begegnen sich den anderen gegenüber immer nur mit einem Ausschnitt ihrer Persönlichkeit, etwa in ihrer Rolle als Passant, Fahrgast, Käufer oder Auskunftsgeber. Im öffentlichen Raum ist man nicht mit seiner Gesamtpersönlichkeit integriert. Dieses Verhalten erfordert bestimmte Verhaltensregeln, nach denen Kontaktaufnahme oder Nicht-Kontaktaufnahme ablaufen und es zu einer bestimmten Stilisierung des Verhaltens kommt. Man ist in dem Maße unvollständig integriert, in dem man sich angemessen im öffentlichen Raum präsentiert, sich also den Regeln entsprechend verhalten kann, die im öffentlichen Raum einen reibungslosen Ablauf ermöglichen. Abweichungen von der Stilisierung werden möglicherweise sanktioniert. Unvollständige Integration ist erforderlich, um im öffentlichen Raum der Stadt mit dem Anderen als einem Fremden zurecht zu kommen. Wenn es jedem gelingt, sich an die Regeln zu halten, die im öffentlichen Raum gelten, interessiert sich eigentlich niemand für den jeweils Anderen. Schließlich ist jeder in der Stadt nicht nur jedem fremd, sondern in dieser Fremdheit auch jedem gleichgültig. In der Anonymität der Stadt hat der Fremde die Chance, dem Anderen als einem Gleichen, wenngleich eben Anderen zu begegnen, als jemandem, der auch hier ist, auch wenn man sich gegenseitig fremd ist. Und in der kulturellen und sozialen Verschiedenheit derer, die sich alltäglich in der Stadt begegnen, fällt eigentlich keiner wirklich auf. Im Unterschied zur Stadt kennt das Dorf diese Form der unvollständigen Integration nicht. Das Dorf integriert eigentlich immer vollständig. Man gehört entweder dazu oder nicht. Der Fremde, der im Dorf ankommt, hat zunächst nicht die Chance, in der Anonymität des Dorfes unterzutauchen und in diesem Rahmen

1

Der Begriff der unvollständigen Integration stammt von Bahrdt (1971: 58ff.), der sich dabei von der Definition der Stadt als Markt bei Max Weber hat leiten lassen. Der Markt ist ein offenes System. In einem geschlossenen System wäre man vollständig integriert. Auf einem Markt bewegen sich die Marktteilnehmer in einer gewissen Beliebigkeit der Kontaktaufnahme. Man nimmt dann Kontakt auf, wenn man etwas kauft oder einen Kauf vorbereitet.

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beliebig Kontakte aufzunehmen; es gibt – klassischerweise – keine Anonymität. Dementsprechend kann man sich im Dorf auch nicht distanziert und reserviert dem Fremden gegenüber verhalten. Die Stadt integriert eigentlich immer nur Individuen jenseits ihrer Herkunft von Sippen, Familien oder Clans. Die Stadt ist Gesellschaft; ihre Integrationsprinzipien beruhen auf der Individualität des Einzelnen als Bürger. Die Integrationsforen im Raum der Öffentlichkeit sind Kooperationen, Vereine, Verbände, Interessengruppen oder auch Parteien. Im Unterschied dazu ist die Dorfgemeinschaft ein Zusammenschluss von Häusern, Familien und Sippen. Das Dorf ist die Gemeinschaft der zu Häusern, Familien und Sippen gehörenden Dorfbewohner. Die Dorfgemeinschaft kennt keine Individualinteressen jenseits der Dorfgemeinschaft. Man gehört in dem Maße zur Dorfgemeinschaft, wie man die gemeinsamen Interessen teilt, wie man das kollektive Gedächtnis als Ordnung verinnerlicht hat und verkörpert. Daraus entsteht ein spezifischer Habitus, der im Dorf eine höhere Dignität genießt als anderswo außerhalb des Dorfes. Zwischen diesen beiden idealtypischen Fassungen und Konzeptionen – zwischen Dorf und Großstadt – lässt sich die Kleinstadt verorten. Sie kennt die der Großstadt zugeschriebene Form der unvollständigen Integration nicht in dieser mit Distanziertheit und Reserviertheit verbundenen Ausprägung auf der Basis einer umfassenden Anonymität. Ist sie doch nicht mit der Situation konfrontiert, dass alle allen fremd sind. Und selbst dann, wenn man sich nicht kennt, bedeutet es nicht, dass man sich fremd ist. Schließlich gehört man zur Stadt; man darf also davon ausgehen, dass der jeweils Andere Werthaltungen, Erwartungen, Vorstellungen des Zusammenlebens mit Anderen teilt. Das schafft zunächst auch eine Sicherheit und Gewissheit im Umgang miteinander. Deshalb gelingt es dem Fremden in der Kleinstadt auch nicht – oder nur schwer – sich unauffällig im Stadtbild zu zeigen und im öffentlichen Raum zu verhalten, ohne dass er kritisch beäugt und beobachtet wird. Andererseits erlaubt auch die Kleinstadt ein gewisses Maß an Distanziertheit und Reserviertheit. Auf der Basis der Individualität jedes Einzelnen gelingt so etwas wie die individuelle Präsentation im öffentlichen Raum. Man ist sich nicht fremd, aber respektiert die Individualität des Anderen, seine Präsentationsform im öffentlichen Raum, wenn er Distanziertheit ausstrahlt. Auch das wiederum unterscheidet die Kleinstadt vom Dorf, in dem diese Distanziertheit idealtypischerweise nicht möglich ist. Als Produkt eines bürgerlichen Lebensstils ist sich der Bürger der Stadt seiner Individualität bewusst. Er präsentiert sie dementsprechend und fordert sie auch ein; und sie wird zumeist auch respektiert.

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Privatheit und Öffentlichkeit Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit berührt auch die Prinzipien vollständiger und unvollständiger Integration. Dieses Verhältnis ist konstitutiv für das großstädtische Leben. Auch diese Überlegung geht auf Bahrdt zurück: »Eine Stadt ist eine Ansiedlung, in der das gesamte, also auch das alltägliche Leben die Tendenz zeigt, sich zu polarisieren, d.h. entweder im sozialen Aggregatzustand der Öffentlichkeit oder in dem der Privatheit stattzufinden.« (Bahrdt 1971: 60) Und weiter heißt es: »Je stärker Polarität und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich ausprägen, desto ›städtischer‹ ist, soziologisch gesehen, das Leben der Ansiedlung.« (Ebd.) Bahrdt hat sich dabei eine bürgerliche Öffentlichkeit vorgestellt, zu der jedermann Zugang hat; und die auch durch ihre besonderen Präsentationsformen gekennzeichnet ist, die sich von denen des Privaten unterschieden. Der Markt als Ort und Wesen des Öffentlichen unterschied sich von der Wohnung als Inbegriff des Privaten. Mit der Trennung von Arbeitsstätte und Wohnung erhält das Verhältnis von Arbeit und Leben eine neue Qualität und verweist zugleich auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit. Die Wohnung war nicht nur der Ort der Regeneration. Vielmehr diente sie als Inbegriff des Privaten zur Abgrenzung vom öffentlichen Raum insgesamt; und die Arbeitsstätte war im Grunde Teil des öffentlichen Raums. In der Privatheit der Wohnung ist man vollständig integriert, weil man als Mensch dort umfassend wahrgenommen wird und handelt. In der privaten Sphäre verhält und präsentiert man sich anders. Während man sich im öffentlichen Raum auch vor Zumutungen und Zugriffen schützen muss, weil man nicht mit jedem Kontakt aufnehmen möchte, ist man im Bereich des Privaten auf Kommunikation mit den Anderen und auf die Wechselseitigkeit der Beziehungen verwiesen – ob man will oder nicht. Öffentlichkeit steht für die Freiheit und das Recht, sich im öffentlichen Raum unter Gleichen zu bewegen; und zwar bei gleichzeitiger Eingebundenheit in die Erwartungen der jeweils Anderen. Privatheit steht für das autonome Individuum. Dieses Spannungsverhältnis prägt eine »urbane Tugend« (Bahrdt). »Der urbane Mensch setzt in jedem Fall voraus, dass der andere – mag dessen Verhalten noch so sonderbar sein – eine Individualität ist, von der her sein Verhalten sinnvoll sein kann.« (Bahrdt 1971: 164) Die Gestaltung des Urbanen in der Stadt ist nicht nur eine Frage der Gestaltung des öffentlichen Raums, sondern auch eine Frage der Wechselbeziehungen zwischen den beiden Bereichen Privatheit und Öffentlichkeit. Das Soziale konstituiert sich in der Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit. Nur wer in beiden Bereichen ›zu Hause‹ ist und das Verhältnis zwischen diesen Bereichen für sich gestalten kann, kann mit dem urbanen Lebensstil umgehen.

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Wie gestaltet sich nun das Spannungsverhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in der Kleinstadt? Die zu verfolgende These ist, dass die Kleinstadt dieses Verhältnis anders gestaltet. Es ist also nicht mit Bahrdt davon auszugehen, dass sich das Leben desto urbaner gestaltet, je mehr sich die Privatheit und die Öffentlichkeit polarisieren. Vielleicht muss man den öffentlichen Raum der Kleinstadt und seine städtebauliche Gestalt noch einmal näher betrachten. Kleinstädte kennen einen Marktplatz als Zentrum mit einer entsprechenden Infrastruktur: mit Geschäften, Restaurants, Cafés und Dienstleistungen, durch die sich das urbane Leben hauptsächlich abspielt. Meist befinden sich auch die Kirche, das Rathaus und die Gerichte in der Nähe. Dann gibt es in der Regel einige Plätze mit einer gewissen Aufenthaltsqualität für bestimmte Bevölkerungsgruppen, bspw. einen Park oder Freiflächen mit spezifischen Nutzungen. Im Zentrum dieser Kleinstädte befinden sich dann auch die historisch bedeutsamen öffentlichen Bauten, die den Charakter der Innenstadt ausmachen und auch Identifikationsorte sind. Dieser Raum ist also auch den allermeisten vertraut, ja sogar wichtig. In der Großstadt bieten möglicherweise Stadtteile diesen Bezugsrahmen – man braucht die City der Innenstadt nicht unbedingt, um sich im öffentlichen urbanen Raum entsprechend urban zu bewegen oder Identifikationsorte zu finden. In der Kleinstadt ist der Raum der Innenstadt auch der einzige Bezugsraum urbaner Öffentlichkeit; es gibt im Prinzip keinen anderen. Vieles deutet darauf hin, dass die Präsentations- und Interaktionsformen in diesem städtebaulich gestalteten Kontext der Innenstadt durch diesen auch geprägt werden. Man ist nicht nur in diesen Raum integriert, sondern durch ihn. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist also nicht ›voraussetzungslos‹; sich im öffentlichen Raum zu präsentieren geschieht immer unter der Bedingung der wahrgenommenen oder tatsächlichen Zugehörigkeit zu diesem Raum, in dem man zuhause ist und sich sozialräumlich verorten kann. Dies verringert die Spannung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Man bewegt sich quasi in einem Zustand, in der die Nähe des Öffentlichen zum Privaten eine stärkere Konturierung der beiden Bereiche erfordert. Es geht also nicht um die Polarisierung von Privatheit und Öffentlichkeit, sondern um eine stärkere Konturierung des Öffentlichen vom Privaten. Darüber hinaus lässt sich aber auch ein Unterschied zum klassischen Dorf festhalten. In diesem ist alles öffentlich – und zwar auch das Private. Hier kennt man sich mit all seinen privaten Verhältnissen und Bezügen und ist zumeist auch nicht bemüht, diese privaten Verhältnisse vor den Anderen zu schützen. Die Trennung von Öffentlichem und Privatem ist kein charakteristisches Merkmal des klassischen Dorfes, wenn Privatheit überhaupt mitgedacht und mitkonzipiert wurde. In der Kleinstadt hingegen kennt man zwar auch das Private als den Inbegriff vollständiger Integration, weil man sich dort anders geben kann als in der Öffentlichkeit. Wenn man sich aber im öffentlichen Raum der Kleinstadt bewegt, ist man zwar als Individuum in der Rolle respektiert, die man im öffentlichen Raum darstellt, aber immer im Bewusstsein, dass die Anderen von einem doch mehr wissen – bis ins

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Private hinein. Das heißt aber auch, dass man sich der sozialen Kontrolle der Öffentlichkeit nicht einfach entziehen kann. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit ist also in der Kleinstadt vorhanden, es hat nur einen anderen Charakter und es hat andere Konsequenzen für die Präsentationsformen derer, die sich im öffentlichen Raum bewegen.

F REMDHEIT , I NDIVIDUALITÄT , K ONTINGENZ Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit sowie das Prinzip der unvollständigen Integration können als strukturelle Bedingungen des Städtischen identifiziert werden. Sie prägen das Handeln der Menschen und die Art des Umgangs mit Anderen; sie sind also auch Rahmenbedingungen des Handelns und der Gestaltung von Beziehungen. Peter Dirksmeier hat in URBANITÄT ALS HABITUS auf drei Merkmale aufmerksam gemacht, die das Handeln und die Gestaltung der Beziehungen im öffentlichen Raum unter den Bedingungen des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit und der unvollständigen Integration der Stadt beschreiben: Fremdheit, Individualität und Kontingenz (Dirksmeier 2009: 41ff.). Sie begründen einen bestimmten Habitus, der Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung ist, die die Menschen verinnerlicht haben und mit der sie wie selbstverständlich leben. Diese drei Merkmale sollen kurz erläutert und anschließend auf die Kleinstadt bezogen werden. Fremdheit Fremdheit ist ein typisches Merkmal des Städtischen, das den Umgang mit einander prägt. Jeder Städter gehört zur Stadt und ist gleichzeitig jedem anderen fremd, der sich in der Stadt aufhält oder sich dazu zählt. Insofern ist Fremdsein auch immer ambivalent. Man gehört, so ließe sich wohl sagen, irgendwie dazu; und zwar unter der Bedingung, dass die Anderen einen nicht kennen. Der Fremde gehört als Anderer eigentlich erst in dem Augenblick dazu und ist einem auch nicht mehr fremd, in dem man den Blickwinkel der Gemeinschaft, der Sippe oder des Clans verlässt und das Individuum im Fremden sieht – ein Individuum mit einer eigenen Identität und Integrität jenseits von Sippe, Familie und Clan. Diese Identität wird nur in der Interaktion mit anderen verständlich. Die Einnahme des Blickwinkels, in dem Fremden ein Individuum mit eigener Identität zu sehen, setzt voraus, die Verständigung mit dem Fremden unter der Bedingung des Respekts seiner Individualität zu suchen. Die Identität des Anderen zu respektieren, bedeutet aber auch, dass man selbst eine Identität hat, die einen als Individuum mit einer eigenen Individualität ausweist.

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Dass man zwar einander fremd, aber sich doch auf irgendeine Art nahe ist, eben weil man auch in der Stadt wohnt, kann bedeuten, dass man sich zwar nicht kennt, aber sich doch auf bestimmte Grundeinstellungen des Umgangs miteinander verlassen kann. Unter den Bedingungen unvollständiger Integration haben die Interaktionen zwischen den Fremden immer auch etwas Unbestimmtes, auch Unverbindliches. Der Fremde bleibt eventuell selbst nach einer gelungenen Interaktion dem anderen fremd. Diese Interaktionen haben etwas Indifferentes, das auch Unsicherheiten und anomische Situationen erzeugt. Individualität Individualität und ihre Präsentation im öffentlichen Raum ist ein weiteres Merkmal von Urbanität. Individualität hat etwas mit der Sicherung der Identität allen anderen gegenüber zu tun. Wer bin ich im Verhältnis zu den Anderen? Und: Wie will ich, dass mich die Anderen sehen? Das sind die beiden identitätsbegründenden Fragen, die sich der Einzelne stellt. Identitätssicherung ist an Identitätsdarstellung gebunden und verwirklicht sich deshalb nur in Interaktionen zwischen Individuen. Der öffentliche Raum erlaubt solche Interaktionen unter der Voraussetzung der Anonymität und Distanziertheit; er erlaubt aber auch die Aufnahme und Gestaltung von Beziehungen und Interaktionen. Der öffentliche Raum zwingt zur Abgrenzung zum Anderen durch Identitätsdarstellung und Selbstidentifikation und erlaubt gleichzeitig diese Identifikation unter den Bedingungen der Nähe. Wie auf dem Markt gibt man seine Identität nur soweit preis, wie es für das Gelingen der Interaktion notwendig ist. All dies gelingt nur unter der Voraussetzung der Individualität jedes Einzelnen, die sich reflexiv ins Verhältnis zur Gesellschaft, zu allen Anderen setzen kann. Sie gelingt nicht zwischen Mitgliedern einer Gemeinschaft, die diese Individualität nicht brauchen und unter der Bedingung von Gemeinschaft auch nicht entwickeln können. Kontingenz Ein drittes mit der Fremdheit und der Individualität zusammenhängendes Merkmal ist das der Kontingenz, also der Unbestimmtheit und damit zusammenhängend auch mit der Offenheit menschlicher Erfahrungen in modernen Gesellschaften. Die Dynamik und Komplexität der Stadt und die Pluralität von Lebensstilen und Werthaltungen schaffen eine spezifische Kultur der Stadt, die durch Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen gekennzeichnet und auch von Unerwartetem geprägt ist, mit denen man im öffentlichen Raum zurecht kommen muss. Man ist mit der Präsentation und den Verhaltensweisen von Individuen konfrontiert, deren Vorstel-

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lungen man nicht teilt. Damit sind insgesamt Unsicherheiten und Ungewissheiten verbunden, die einerseits zu einer gewissen Offenheit und zu einem Denken in Alternativen herausfordern. Stadtbewohner lernen in der Regel, mit diesen Merkmalen des urbanen Lebensstils und den damit verbundenen Spannungen umzugehen. Sie lernen, dass es Verhaltensweisen gibt, die man nicht teilt, die man aber tolerieren oder gar respektieren muss; und sie halten die damit verbundene Spannung aus. Der städtische Lebensstil ist sogar in der Lage, diese Spannungen in Kreativität und Innovation zu transformieren. Andererseits können diese Widersprüchlichkeiten und Ungewissheiten auch zu einer Distanziertheit und Reserviertheit führen, also auch zu einer psychischen Abschottung gegenüber anderen Vorstellungen und Lebensstilführungen. Georg Simmel hat dies in seinem prominent gewordenen Aufsatz DIE GROßSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN mit den Begriffen der Reserviertheit, Blasiertheit und Intellektualität umschrieben. Intellektualität bedeutet dabei, dass der Großstädter alle Beziehungen rational durchdringt und er sich auf diese Weise subjektiv gegen die Zumutungen der Großstadt schützt. Die Vielzahl der möglichen Kontakte führt auch zu rationalen Formen der Beziehungen, die als Zweckbeziehungen bezeichnet werden können. Blasiertheit bedeutet, dass den Großstädter nichts mehr überraschen kann; er ist gegen die Überreizung der Großstadt abgestumpft. Reserviertheit meint, dass sich der Großstädter gegen ständige und zugleich dichte Kontakte zu vielen Menschen distanziert verhält. Es wäre geradezu anstrengend, mit jedem Kontakt aufzunehmen, der einem in der Innenstadt begegnet und man wäre überrascht, wenn jeder jeden grüßen würde. Wo man sich auf dem Dorf oder im städtischen Wohnquartier fragt, warum einer nicht grüßt (vgl. Simmel 1993: 117ff.), wäre man in der Stadt überfordert, jeden Gruß zu beantworten.

F REMDHEIT , I NDIVIDUALITÄT , K ONTINGENZ IN DER K LEINSTADT Fremdheit Lässt sich feststellen, dass in der Stadt Menschen zusammen leben, die sich gegenseitig fremd sind, dann fällt der wirklich Fremde in der Kleinstadt eher auf – egal ob er ein Fremder ist, der mit den kleinstädtischen Regeln vertraut ist oder nicht. Auch der Fremde aus einem anderen Kulturkreis ist schnell als solcher identifiziert. Die Großstadt ermöglicht die Fremdheit auf Grund der Heterogenität der Bevölkerung, der Vielfalt der Lebensstile und Verhaltensweisen. Sie ermöglicht auch alternative Lebensstilführungen und Werthaltungen. Die Kleinstadt erlaubt klassischerweise wenig Alternativen der Lebensstilführung, die sie für angemessen hält,

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ermöglicht auch damit dem Fremden nicht unbedingt, seinen Lebensstil als Alternative zu leben. Diejenigen, die sich der sozialen Kontrolle der Kleinstadt entziehen könnten, entwickeln sich am Rande öffentlicher Räume, in gemiedenen sozialen Räumen und können sich häufig nicht öffentlich präsentieren. Die Verhältnisse sind überschaubar. Eine sozialstrukturell relativ homogene Bewohnerschaft mit ähnlichen Wertvorstellungen und Lebenshaltungen erzeugt ein Milieu, in dem sich entwickelnde Alternativen normativ nicht erwünscht sind. Damit verringert sich auch die Chance auf Innovation und Wandel. Der Fremde ist schließlich nicht einer, der kommt und wieder geht, sondern einer, der kommt und bleibt und Alternativen mitbringt. Für einen urbanen Lebensstil ist entscheidend, ob der Fremde diese Alternativen in der Stadt öffentlich leben kann oder nicht. Für die Kleinstadt stellt sich diese Frage nicht; ihre Urbanität gelingt auch ohne diese Erfahrung. Individualität Für die Entwicklung der bürgerlichen Individualität war die Stadt notwendig. Auch sie unterscheidet die Stadt vom Dorf. Die traditionelle Dorfgemeinschaft kennt keine Individuen, sondern Dorfbewohnerinnen und -bewohner, die sich als Gemeinschaftsmitglieder verstehen, die sich der Gemeinschaft zugehörig fühlen, sich ihr unterordnen und ihr nicht gegenüberstehen. Sie kennt das Gemeinschaftsmitglied, das Mitglied eines Hauses oder einer Sippe ist. Der Zusammenschluss der Häuser, Familien und Sippen ermöglichte das Dorf, nicht der Zusammenschluss der Dorfbewohner als Individuen. Das sei noch einmal betont, weil die Kleinstadt hinsichtlich des Verständnisses von Individualität an dem Gemeinschaftsgedanken des Dorfes anknüpft. In der Großstadt beruht Individualität auf der Anonymität und Fremdheit jedem Anderen gegenüber im öffentlichen Raum und auf der Freiheit des Einzelnen, »Marktbeziehungen« einzugehen oder nicht, wie H. P. Bahrdt das nennen würde. In der Kleinstadt beruht die Individualität auf der Kenntnis der jeweils Anderen als Bürger der Stadt. Man gehört zur Stadt, zur Gemeinschaft der Stadtbewohner und ist irgendwie mit ihnen verbunden. Die Höflichkeit bürgerlicher Präsentation und Beziehungsgestaltung im öffentlichen Raum gestattet es nur nicht, dem Anderen zu nahe zu kommen. Man grüßt sich; und selbst wenn man sich kennt, geht man weiter. Anders als in der Großstadt begegnen sich die Individuen im öffentlichen Raum der Kleinstadt öfter und eher; und von daher ist auch die individuelle Freiheit, Beziehungen einzugehen und zu gestalten, eingeschränkt. Auf dem Markt der Kleinstadt kann man nicht erst dann Beziehungen mit dem Verkäufer aufnehmen, wenn man etwas kaufen will. Man hat schon eine Beziehung zu ihm, die dann aktiviert wird, wenn man etwas kauft. In diesem Sinne ist die Kleinstadt näher an der Gestaltung der Beziehungen in der Dorfgemeinschaft als an den großstädtischen

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Verhältnissen. Die Großstadt bietet aufgrund ihrer Größe, sozialstrukturellen Differenziertheit und ihrer sozialräumlich getrennten Stadtteile Gelegenheit genug, um sich distanziert und reserviert im öffentlichen Raum zu bewegen, ohne Gefahr zu laufen, dass man nicht integriert ist. Die Kleinstadt hat eine eher wenig differenzierte ›flachere‹ Sozialstruktur und ihr Stadtgebiet bietet wenige Möglichkeiten sozialräumlicher Segregation und Differenzierung der Wohngebiete. Damit bleibt das Individuum als Mitglied der Kleinstadtgesellschaft auch sozialräumlich mit dieser Kleinstadt integrativ verbunden, ohne dass es einer Gemeinschaft angehört. Das hat sicher etwas Ambivalentes, ja sogar Widersprüchliches, mit dem der Kleinstädter umzugehen lernt. Kontingenz Die Kleinstadt kennt eigentlich, idealtypisch gesehen, keine Ungewissheiten. Die Überschaubarkeit und relative Homogenität sozialer Verhältnisse und sozialen Verhaltens lassen eine Form von sozialer Kontrolle entstehen, die dem Dorf generell näher ist als der Großstadt. Wo in der Großstadt die soziale Kontrolle auf Institutionen übergegangen und damit auch das Individuum entlastet ist, wird im Dorf soziale Kontrolle vorwiegend über Kommunikation und informelle Verständigung ausgeübt. Diese informelle Verständigung beruht auf einem kollektiv getragenen System von Erwartungen und Vorstellungen, wie man in der Dorfgemeinschaft zu leben habe. Dieses normative Verständnis versagt in der Großstadt angesichts der Pluralität von Lebensstilen und Wertvorstellungen. Eine solche Vorstellung von Normativität gehört aber durchaus in der Kleinstadt zum öffentlichen Leben dazu; auch dann, wenn sich in ihr Institutionen finden, die normative Vorstellungen formulieren, repräsentieren und auch durchsetzen. Fremdes, Ambivalentes, Unerwartetes oder Widersprüchliches erzeugt zwar Spannungen bei den Individuen, sie müssen aber nicht individuell bearbeitet werden, wenn es sich nicht um individuelle Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten mit Anderen handelt und wenn das Fremde und Ungewisse im öffentlichen Raum erscheint. In der Kleinstadt ist man eher daran gewöhnt, dass der öffentliche Raum keine Ungewissheiten erzeugt und sich Fremdes und Ambivalentes aufgrund der Überschaubarkeit der Verhältnisse nicht der Kontrolle entziehen kann. Ungewissheit erzeugt hier häufig auch Unsicherheit und Angst. Was in der Großstadt angesichts der Vielzahl von unerwarteten Situationen und Überraschungen nur einfach zur Kenntnis genommen wird, führt in der Kleinstadt eher zu Verunsicherungen und anomischen Situationen; und in der Folge davon auch zu Sanktionierungen und Diskriminierungen. Solche Verunsicherungen treten auf, wenn sich Milieus mit abweichenden Werthaltungen und Verhaltensmustern ausbilden, die

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sich im öffentlichen Raum präsentieren, wie etwa subkulturelle Milieus oder Gruppierungen mit alternativen Lebensentwürfen. Dazu verhilft der Kleinstadt ein kollektives Gedächtnis, das eine gewisse Form der sozialen Kontrollinstanz darstellt und auch der Identitätssicherung dient. Dieses kollektive Gedächtnis speist sich vor allem aus den Erinnerungen, Geschichten und Erzählungen, die Individuen mit der Stadt verbinden und die beständig reproduziert werden; ebenso auch aus den Repräsentationen der Stadtgeschichte in öffentlichen Bauten und Plätzen und aus den individuellen biographischen Einbettungen im sozialen Raum der Stadt. Daraus erwachsen Traditionen und Rituale, die gepflegt werden. Das kollektive Gedächtnis speist sich weniger aus der Strukturgeschichte der Stadt, mit der das Individuum oft nichts verbindet; von Bedeutung sind vielmehr die kleinstädtischen Selbstbilder. Die individuellen Entscheidungen in Einklang zu bringen mit den Erfordernissen eines kollektiven Gedächtnisses und seinen Ausprägungen ist eine besondere Herausforderung in der Kleinstadt und mag zu Ambivalenzen führen, die auch spannungsgeladen sein können. Der Respekt dem Individuum gegenüber und vor seinen Entscheidungen und Verhaltensweisen reicht im Grunde nur soweit, wie das aus dem kollektiven Gedächtnis abgeleitete Selbstverständnis darunter nicht leidet; die Grenzen sind in der Kleinstadt enger gesteckt als in der Großstadt. Je größer die Abweichungen von den generellen Erwartungen an das Verhalten im öffentlichen Raum sind, desto bedrohter ist auch die Zugehörigkeit zur Stadt und zur Stadtgesellschaft mit ihren Vergemeinschaftungstendenzen.

D IE U RBANITÄT DER K LEINSTADT ZWISCHEN DÖRFLICHER V ERGEMEINSCHAFTUNG UND S TADTGESELLSCHAFT Die Urbanität der Kleinstadt kann als ein Lebensstil beschrieben werden, der durchaus Züge dörflicher Vergemeinschaftung einerseits und städtischer Vergesellschaftung andererseits trägt. Vergesellschaftung Was ist daran Vergesellschaftung? Moderne Gesellschaften unterliegen bestimmten Prozessen der Modernisierung, die auch die Städte betreffen und die sicher für die Kleinstadt noch einmal anders betrachtet werden müssen. Hans van der Loo und Willem von Reijen haben vier für die Modernisierung typische Prozesse ausgemacht, die heutige moderne Gesellschaften prägen: Individualisierung, Rationalisierung der Kultur, die auch mit einer gewissen Enttraditionalisierung einhergeht, sowie sozialstrukturelle und funktionale Differenzierung (vgl. van der Loo/von

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Reijen 1997). Diese Prozesse findet man in einer anderen Form und Ausprägung auch in der Kleinstadt. An ihnen kann man auch ermessen, wie sehr auch in der Kleinstadt moderne urbane Lebensstile zu beobachten sind. Der Begriff der Individualität ist bereits hinreichend erläutert. Hier geht es noch einmal um die mit der Modernisierung verbundene Entwicklung der Individualität aus der traditionellen Gemeinschaft heraus. Als Individuum ist der Kleinstädter eigentlich ein von der Gemeinschaft befreites Individuum. Seine Beziehungen zu anderen sind eher rational und gehorchen anderen Regeln als emotional-affektive Beziehungen. Sie sind einerseits distanziert und auch reserviert; oder, etwas anders gefasst und betrachtet, eigentlich nur dadurch gestaltet, dass man weiß, dass der Andere auch dazugehört – mehr aber auch nicht. Andererseits können sie auch zweckrational oder wertrational sein; und dadurch eben auch interessengeleitet. Gleichzeitig besitzen sie jedoch eine Komponente von Gemeinschaftlichkeit, die auch emotional getragen sein kann, eben weil man weiß, dass der andere dazugehört. Die Rationalisierung der Kultur, mit der wir auch eine gewisse Entmythologisierung von Ritualen und Anschauungen verbinden, kennt auch die Kleinstadt. Und auch hier führt dieser Prozess zu einer Enttraditionalisierung. Bei aller Traditionsgebundenheit verlieren bestimmte Traditionen ihre soziale Bindungswirkung; man kann sich ihnen inzwischen auch entziehen, ohne dass man Gefahr läuft, nicht mehr dazu zu gehören. Die rationale Begründung von nicht-rationalen Mythen führt zu einer Entmythologisierung. Die Modernisierung der Gesellschaft entfaltet auch hier ihre Wirkung. Traditionen haben keinen gemeinschaftsbildenden Charakter mehr wie früher im Dorf. An ihnen teilzuhaben ist zu einer Privatangelegenheit der Individuen geworden. Wo Familie und Kirche über Jahrhunderte hinweg das Leben der Dorfgemeinschaft bestimmt haben, treten an ihre Stelle andere Akteure und Institutionen. Das Konzept der sozialstrukturellen Differenzierung bezieht sich auf die Ausdifferenzierung sozialer Schichten und Milieus. Für die Großstadt lässt sich feststellen, dass diese Differenzierung sehr viel stärker ist als in der Kleinstadt. Die Größe der Kleinstadt wie auch ihre Bewohnerzahl machen bereits deutlich, dass diese Differenzierung nicht so stark sein kann. In der Tat ist in der Kleinstadt eine begrenzte Differenzierung sozialer Milieus und sozioökonomischer Lebenslagen zu finden. Die stärkere Homogenität der Milieus macht allerdings auch deutlich, dass die Pluralität von Lebensstilen nicht so stark ausgeprägt ist und alternative Lebensstilführungen auch nur in Grenzen geduldet werden. Auch die sozioökonomische Differenzierung zeigt, dass besondere ›Ausreißer‹ der Sozialstruktur, also etwa Ärmere und Ausgegrenzte oder aber Reiche, nicht typisch sind für die Kleinstadt. Die meisten Kleinstädte sind noch durch eine historisch entwickelte und etablierte Mittelschicht geprägt. Damit sind auch bestimmte Spannungen und Konflikte struk-

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turell nicht virulent; und die soziale Spaltung der Stadt ist kein vornehmliches Thema einer integrativen Stadtentwicklung. Das Konzept der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften umschreibt den Prozess der Ausdifferenzierung von Funktions- und Handlungsbereichen. Dieser Prozess führt dazu, dass die unterschiedlichen Funktionsbereiche einerseits hochgradig spezialisiert sind und ihre eigene Logik von Integration und Ausgrenzung entwickeln. Andererseits sind sie aber strukturell auf die Gesamtgesellschaft und andere Funktionsbereiche verwiesen und gerade wegen ihrer Spezialisierung auch von anderen Funktionsbereichen abhängig. Ausdifferenzierung erfordert auf der Strukturebene auch immer einen Integrationsmechanismus, der alles zusammenhält. Funktionale Differenzierung ist auch typisch für die Großstadt. Die Kleinstadt kennt eine gewisse Ausdifferenzierung von Handlungsfeldern und Funktionsbereichen; und auch sie bedarf auf der Strukturebene eines solchen Integrationsmechanismus. Auch sie muss darauf achten, dass sie zusammengehalten wird. Der Unterschied zur Großstadt ist der, dass die Überschaubarkeit der Funktionsbereiche diese Integration auf der Strukturebene erleichtert und die Bereiche in ihrer vielschichtigen Verwobenheit und ihrer sozialräumlichen Dichte auch stärker aufeinander verwiesen sind und sich gegenseitig aufeinander beziehen lassen. So weiß z.B. möglicherweise die Schule mehr von der Sozialisation der Kinder in den Familien und kennt den lokalen Arbeitsmarkt besser als dies für sie in der Großstadt möglich ist. Vergemeinschaftung Was kann an und in der Kleinstadt als Vergemeinschaftung verstanden werden? Die Vergemeinschaftung wird von der Überschaubarkeit der kleinstädtischen Verhältnisse, der Tendenz der Homogenität und der weniger ausgeprägten Differenziertheit der Lebensverhältnisse und Lebensstilführungen sowie der Wert- und Erwartungshaltungen getragen. Die Kleinstadt kennt auch nicht diese Art der Fremdheit, die eher der Großstadt zugeschrieben wird. Selbst wenn man sich nicht kennt, ist man sich nicht fremd, weil man eben aufgrund der angesprochenen Homogenität der Lebensstilführung davon ausgeht, dass die Anderen einem relativ ähnlich sind, d.h. mitunter ähnlich denken und ähnlich handeln. Auch wenn man sich als Individuum in der Stadt bewegt, ist man doch auch mit den Anderen gemeinschaftlich verbunden, kennt sogar unter Umständen die privaten Hintergründe der Anderen. Daher kann die Kleinstadt in idealtypischer Weise eher als ein geschlossenes System beschrieben werden; und von daher wird es auch wenig Ungewisses geben, was die Kleinstadt beunruhigt. Ungewissheiten, Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten entstehen erst angesichts einer gewissen Offenheit der Kleinstadt, die

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diese klassischerweise in dieser Form nicht hat. Ihre generelle Offenheit zur ländlichen Umgebung hin erzeugt diese Ungewissheit, diese Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten an sich nicht. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit ist in der Kleinstadt weniger ein Spannungsverhältnis. Vielmehr geht es um die Konturierung von Privatheit und Öffentlichkeit, um eine schärfere Trennung dieser Sphären. Man ist sich auf der einen Seite nah, hat aber auch Distanz zum Anderen. Unter den Bedingungen, dass jeder jedem fremd ist, ist diese Distanzierung kein Problem. Wenn man sich aber nahe ist und auch die individuelle Geschichte der Anderen kennt, wird Distanzierung schwieriger. Seine private Geschichte zu Hause zu lassen, wenn man sich im öffentlichen Raum aufhält, ist in der Kleinstadt deutlich schwieriger als in der Großstadt. Auch hier kommen Aspekte dörflicher Vergemeinschaftung zum Tragen. Deshalb ist im kleinstädtischen Rahmen auch dasjenige weniger ausgeprägt, was seit Bahrdt als unvollständige Integration der Städter und Städterinnen bezeichnet wird. Man ist im öffentlichen Raum soweit integriert, wie man sich als ›Marktteilnehmer‹ auf die für den Markt erforderlichen Interaktionen einlassen kann; und zwar, weil man den Anderen kennt und nicht, obwohl man den anderen nicht kennt. Man ist soweit integriert, wie man sich angemessen, d.h. den jeweiligen sozialen Regeln entsprechend, verhalten kann. Nur unterliegt der öffentliche Raum der Kleinstadt sehr viel stärker der sozialen Kontrolle derer, die sich auch im öffentlichen Raum aufhalten. Die Angemessenheit des Verhaltens lässt nicht sehr viele Alternativen zu. Die Offenheit des öffentlichen Raums ist daher enger konturiert. Auch hier ist die Kleinstadt der Integration durch die Dorfgemeinschaft näher.

D IE B EDEUTUNG DER K LEINSTADT

FÜR DAS

U MLAND

Der Kleinstadt kommt eine spezifische Funktion und Bedeutung für ein ländlich geprägtes Umland zu. Die für die Großstadt typische Abgrenzung zum Land als Bedingung für einen urbanen Lebensstil ist für die Kleinstadt nicht nur nicht typisch, sondern gefährdet im Grunde ihren spezifischen Charakter. Gerade die Vernetzung mit dem ländlichen Umland ist für die allermeisten Kleinstädte konstitutiv, die sich nicht im Sog einer Großstadt oder Metropole befinden. Nicht nur aus ökonomischer Sicht, die die Versorgung durch das Land im Auge hat, sondern auch die Funktionen als Verwaltungsstandort und als Standort für umfassende Dienstleistungen, als Ort mit der Infrastruktur von Geschäften, Restaurants, Cafés, kulturellen Angeboten und Einrichtungen der Freizeitgestaltung machen die Kleinstadt als Handlungs- und Erlebnisraum für das nicht-städtische Umland attraktiv. Sie kann dabei auch ein Identifikationsort für das ländliche

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Umland sein, wenn man sich mental auf ihre Bedeutung oder Rolle als Residenzstadt mit einem Schloss oder als attraktive Einkaufs- und Erlebnisstadt einlassen kann. Dadurch entsteht eine Urbanität, die nicht so sehr von städtischer Präsentation im öffentlichen Raum gekennzeichnet ist, die sich wiederum von der ländlichen diametral unterscheidet. Vielmehr signalisieren die Verhaltensmuster und Präsentationsformen im öffentlichen Raum der Kleinstadt die Offenheit gegenüber dem ländlichen Umland und den gemeinschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen Verhaltenserwartungen geteilt werden. Der Umlandbewohner begegnet den Anderen im öffentlichen Raum nicht als Fremder, sondern als jemand, der zwar hier nicht zuhause ist, aber sich mit der Infrastruktur, den räumlichen Gegebenheiten und den sozialen Strukturen des Städtischen auskennt und auch mit der spezifischen Mentalität vor Ort vertraut ist, d.h. sich zurechtfindet und den Erwartungen der Stadtbewohner entsprechen kann. Die Bewohnerschaft des Umlandes wird im Grunde nicht mit den mit Spannungen verbundenen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten konfrontiert; und es tauchen beim Besuch der Stadt keine Ungewissheiten und Überraschungen auf, auf die man vorbereitet sein sollte. Die Diskrepanz zwischen den Strukturen des Städtischen und denen des Dorfes ist daher insgesamt gesehen nicht so groß als dass man sie nicht überwinden könnte. Welche Bedeutung die Kleinstadt für das ländliche Umland hat und wie sehr ihre Urbanität auch von ihren Funktionen abhängt, die sie für das ländliche Umland hat, kann man vielleicht an dem Verlust dieser Funktionen ermessen. Im Zuge vieler kommunaler Verwaltungsreformen kam es zur Konzentration von Funktionen in einer noch größeren Kleinstadt oder in mittleren und größeren Städten. Die Abwanderung von Gerichten, die Verlust der Funktion als Kreisstadt, die Schließung von Krankenhäusern und anderen öffentlichen Eirichtungen führte und führt gerade in der Kleinstadt zu einem desaströsen Verlust von Urbanität. Denn diese Funktionen waren einstmals an Gebäude und ihr bauliches Umfeld gebunden, die zugleich auch zur städtebaulichen Gestalt der Stadt beitrugen. Die Abwanderung der Funktionen erzeugt Leerstand und Schrumpfung; und wenn die Stadt nicht in der Lage ist, sich dem erzwungenen Wandel anzupassen und sich mit anderen Funktionen auszustatten, dann führt dies auch dazu, dass die Attraktivität der Stadt für eine junge und qualifizierte Bevölkerung sinkt. Darüber hinaus ist aber mit dem Verlust dieser Funktionen gerade auch der Verlust jener Bevölkerungsgruppen verbunden, die bislang auch die Urbanität der Stadt mitgestaltet haben. Es fehlen auch diejenigen, die als Familiengründer zu einer Belebung der Stadt beitragen könnten. Daran lässt sich ermessen, dass die urbane Lebensweise nicht nur von der urbanen Infrastruktur und der städtebaulichen Gestaltung und Ausstattung abhängt, sondern von einer urbanen Bevölkerung, die in der Stadt lebt und eben diese Urbanität mitgestaltet. Dies macht auch noch einmal deutlich, dass sich das urbane

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Selbstverständnis, mit dem Menschen im bebauten Raum handeln, auch von der Gestaltung dieses Raumes abhängt. Es kommt letztlich auch auf die durch die Bevölkerung initiierte und von ihr mitgetragene ökonomische, kulturelle und soziale Dynamik an, die eine Stadt entfalten muss, um eben attraktiv zu sein oder auch erst dadurch attraktiv für ein ländliches Umland zu werden. Der Verfall bzw. Verlust an Urbanität in den Kleinstädten kommt somit gewissermaßen einem Kulturverfall gleich; und er kann auch zu sozialen Verwerfungen und zu einem Verlust der Integrationspotentiale führen, die die Kleinstadt im Besonderen prägen und sie auch von Dorf und Großstadt unterscheiden.

F AZIT : U RBANITÄT

DER

K LEINSTADT

Die Kleinstadt ist eine Stadtgesellschaft mit spezifischen Vergemeinschaftungstendenzen. Daraus lässt sich auch ein für die Kleinstadt typischer urbaner Lebensstil ableiten, der sich einerseits vom Dorf abgrenzt und gleichzeitig Affinität zu dessen Lebensstil hat. Andererseits konnte die Kleinstadt jenseits der großstädtischen Dynamik ihre eigene Identität sichern, indem sie sich dieser Dynamik auch entziehen konnte. Insofern konnte sie sich auch von der Urbanität der Großstadt absetzen. Die Urbanität der Kleinstadt beruht auf einem kollektiven Gedächtnis, das nach innen signalisiert, was sowohl geht als auch nicht geht; und das auch nach außen eine Offenheit entwickelt für das, was geht und was in Grenzen auch alternativ geht. Die Kleinstadt denkt über die Grenzen ihres Stadtgebietes hinaus und ist offen für die Interaktion mit dem Fremden – soweit dieser keine Unsicherheiten, Ambivalenzen und Ungewissheiten mitbringt. Das unterscheidet sie in den idealtypischen Bildern und Fassungen vom Dorf, das demzufolge nicht über seine Grenzen hinaus denke und handle. Kulturelle Vielfalt und sozialkulturelle Differenzierung von Milieus werden nicht unter dem Aspekt betrachtet, dass sie selbstverständlich zur Urbanität der Stadt gehören. Vielmehr sind es Sonderfälle urbanen Lebens, die der Verständigung bedürfen. Es kommt dann auf die sozialen und psychischen Integrationspotenziale an, die die Kleinstadtbevölkerung entwickelt; wie etwa die Fähigkeit der Empathie in das Anderssein des Fremden und der Ambiguität, mit anderem auch zurecht zu kommen. Das wiederum unterscheidet die Kleinstadt von der Großstadt oder Metropole. Insgesamt liegt der Charme der Kleinstadt in ihrer sozialräumlichen Überschaubarkeit, den langsameren Wandlungs- und Veränderungsprozessen bis hin zu einem gewissen Beharrungsvermögen, schließlich auch der Bewahrung bestimmter Traditionen, aus denen sich das kollektive Gedächtnis speist und die die Identität der Kleinstadt ausmachen. Die Kontinuität in ihrer Entwicklung, ihre geringere

K EIN D ORF

MEHR



ABER SO RICHTIG

S TADT ? | 97

Komplexität und die geringere Beschleunigung ihrer sozialen, kulturellen und ökonomischen Dynamik sowie ihre geringere sozialstrukturelle Differenzierung und kulturelle Vielfalt, die auch mit weniger Konflikten und Spannungen verbunden ist, schaffen ein Milieu, das manchmal sogar als Gegenstruktur zur Gesellschaft erscheint. Die Urbanität der Kleinstadt verweist auf Verhaltensweisen und -regeln, die sich aus der Struktur der Stadt ergeben, ohne dass sie in Kollision geraten mit den für die Dorfgemeinschaft gültigen Anschauungen und Regeln des Zusammenlebens und der Beziehungsgestaltung. In diesem Sinne erscheint die Kleinstadt in idealtypischer Weise als zwischen Stadtgesellschaft und Dorfgemeinschaft positioniert und in keiner der beiden Formen menschlichen Zusammenlebens aufzugehen.

L ITERATUR Bahrdt, Hans Paul (1971): Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Reinbek: Christian Wegner. Baum, Detlef (2014): »Dorf und Stadt als idealtypische Konturen und Lebensräume in Ost und West«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur und Lebenswelt, Bielefeld: transcript, S. 111-136. Baum, Detlef (2018): Lehrbuch Stadt und Soziale Arbeit. Stadtsoziologische Grundlagen Sozialer Arbeit, Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Blickle, Peter (2000): Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform. Band 1: Oberdeutschland, Band 2: Europa, München: Oldenbourg. Dirksmeier, Peter (2009): Urbanität als Habitus. Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land, Bielefeld: transcript. Engels, Friedrich (1974): Zur Lage der arbeitenden Klassen in England, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 2, Berlin: Dietz, S. 225-506. Hannemann, Christine (2009): »Klein- und Landstädte«, in: Stephan Beetz/Kai Brauer/Claudia Neu (Hg.), Handwörterbuch zur ländlichen Gesellschaft in Deutschland, Wiesbaden: VS, S. 105-112. Riehl, Wilhelm Heinrich (1925): Die Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik, 4 Bände, Band 1: Land und Leute, Stuttgart: Cotta. Simmel, Georg (1993): »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Ders., Das Individuum und die Freiheit. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 192-204. Spengler, Oswald (1950): Der Untergang des Abendlandes, 2 Bände, München: C.H. Beck. Stercken, Martina/Schneider, Ute (2016) (Hg.): Urbanität. Formen der Inszenierung in Texten, Karten, Bildern, Köln/Weimar/Wien: Böhlau.

98 | D ETLEF B AUM

Stewig, Reinhard (1987) (Hg.): Untersuchungen über die Kleinstadt in SchleswigHolstein, Kiel: Selbstverlag Geographisches Institut der Universität. Tönnies, Ferdinand (1991): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. van der Loo, Hans/van Reijen, Willem (1997): Modernisierung. Projekt und Paradox, München: dtv. Zimmermann, Clemens (1992): »Die kleinen Städte auf dem Weg in die Moderne«, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 30/2, S. 5-11.

Kleinstadtbilder und Kleinstadtutopien Ein soziologischer Versuch S TEPHAN B EETZ

K LEINSTADT

ALS

F IKTION

Dass Soziologen die Beschäftigung mit der Kleinstadt nahezu als Zumutung empfinden, liegt wohl schlichtweg in der allgemein geteilten These begründet, die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen, Konflikte und Aufbrüche zeigten sich als Erstes in den Großstädten. Kleinstädte dienten bestenfalls dazu, in einem halbwegs überschaubaren Handlungsraum – gleichsam als lebende Kulisse – den Wandel menschlichen Handelns, sozialer Beziehungen und Institutionen zu studieren. 1 Nur geringe Aufmerksamkeit erhielt demzufolge die Frage, ob es in der unüberschaubaren Fülle von regionalen, historischen, politischen und sozioökonomischen Ausprägungen von Kleinstädten so etwas wie eine übergreifende Gemeinsamkeit, sozusagen ›die Kleinstadt an sich‹, gibt. Das Folgende ist ein Versuch, dieser Frage nachzugehen. Was uns mit Blick auf die Kleinstadt sofort entgegentritt ist ihr Klischee. Es treten Bilder auf den Plan, die von Überschaubarkeit und Gemeinschaft, aber auch Enge und Konfliktvermeidung handeln. Hinzu gesellen sich wahlweise variierende Vorstellungen von gesellschaftlicher Stagnation oder besonderer Stabilität. Schließlich keimen weiterführende Überlegungen auf – zu den Besonderheiten einer gewissen Provinzialität, die das Leben von der Großstadt gewissermaßen abschirmen, oder zur Selbstgenügsamkeit, die in einer modernen und mobilen Welt nicht ohne Charme zu sein braucht. In diesem Dickicht aus Imaginationen und Projektionen stellt sich die grundlegende Frage, ob es sich hierbei tatsächlich um Alltagswelt

1

Vgl. in Institut für Sozialforschung (1956) das Kapitel über Gemeindestudien.

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in Kleinstädten oder die Perspektive von Großstädtern auf das kleinstädtische Leben handelt. Bei allem, was wir aus Studien zu Kleinstädten wissen, entsprechen diese Klischees wenig dem alltäglichen Leben: Weder geben sie die Vielfalt von Lebensführungen innerhalb der Kleinstädte noch die komplexen räumlichen Verflechtungen und Beziehungen der Bewohner und Bewohnerinnen von Kleinstädten wieder. Die Vermutung liegt somit nahe, dass sich die Klischees über die empirischen Realitäten der Kleinstädte legen; und es daher eine Frage soziologischer Aufklärung sein könnte, diese aufzubrechen. So einfach scheint es indessen nicht zu sein, weil die sozialen Ordnungen in diesen Bildern selbst Bestandteil sozialer Praxis sind: Werden diese doch nicht nur in der gesellschaftlichen Perspektive auf die Kleinstädte, sondern auch in der (kollektiven) Selbstvergewisserung in den Kleinstädten beständig reproduziert und verteidigt. Die Selbst- und Fremdzuschreibungen eines vermeintlich getrennt voneinander existierenden ›Innen‹ und ›Außen‹ der Kleinstädte sind in den Lebenspraktiken konstitutiv ineinander verschränkt. Um eine analytische Differenzierung zwischen den empirischen Beschreibungen einer vielfältigen Lebenspraxis in real existierenden Kleinstädten und der Rekonstruktion der Bilder und Vorstellungen über die Kleinstadt vorzunehmen, soll im Folgenden für letzteres der Begriff des Kleinstädtischen verwendet werden. Dazu werden drei Zugänge zu Vorstellungen über das Kleinstädtische unternommen und erprobt. Ein solches Unterfangen muss mit keiner geringen Herausforderung umgehen: Trotz (oder wegen) besseren Wissens halten wir gesellschaftlich an einer ausgesprochen starken Dualität in der Denkweise zwischen (Groß-)Stadt und Land fest – die eine Zeitlang als Gegensätze (Polarität), dann als Spannungsfelder (Kontinuum) und schließlich als hybride, ineinandergreifende, inkongruente, nur phänomenologisch greifbare Räume mit besonderen Lebensstilen gefasst wurden. Zu ›Kleinstädten‹ im nunmehr gebrauchten Sinn wurden diese zwar erst im 19. Jahrhundert mit dem demographischen Wachstum der Großstädte, aber seitdem ist das Kleinstädtische gewissermaßen eingeklemmt zwischen diesen beiden – auch forschungsstrategisch viel besser aufgestellten 2 – Siedlungsgebilden. Als ob diese Indifferenz es heraufbeschwören würde, enthält der Begriff dann auch die Zumutung, weder das eine noch das andere zu sein. Die eher diffuse Identität scheint ein defensives Kleinstadtbild hervorzubringen. Oder steckt in diesen Bildern – dialektisch gedacht – möglicherweise gar eine besondere Syntheseleistung?

2

Die relativ geringe Präsenz der Kleinstädte in der raumwissenschaftlichen Forschung führte im Frühjahr 2018 zur Bildung des Ad-hoc-Arbeitskreises Kleinstadtforschung der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, dessen Arbeit in mehreren Publikationen der ARL Niederschlag gefunden hat (siehe ARL 2019a, ARL 2019b, Porsche/Steinführer/Sondermann 2019).

K LEINSTADTBILDER UND K LEINSTADTUTOPIEN | 101

D REI V ERSUCHE

ÜBER DAS

K LEINSTÄDTISCHE

Das Kleinstädtische soll als eine spezifische Form lokaler Vergesellschaftung behandelt werden. Der Begriff der lokalen Vergesellschaftung ist bewusst gewählt, er grenzt sich gegen das Postulat von ›Gemeinschaft‹ ab, indem er Kleinstädte als sozial differenzierte Gesellschaften betrachtet. Es geht dabei nicht in erster Linie um das vorhandene Artefakt eines Siedlungsgebildes, sondern um die sozialen Prozesse, wie Menschen vor Ort spezifische (Teil-)Gesellschaften ausbilden. Die Fokussierung liegt auf lokalen Gesellschaften, die andere Perspektiven nicht ausschließt (weder räumliche (überlokale) noch andere sozialstrukturelle Dimensionen, wie Armut und Migrationserfahrung), aber deren Eigenständigkeit für die Erklärung sozialer Lebenswelten hervorhebt. Der erste Versuch ist nahezu klassisch zu nennen: Vor allem in Anlehnung an die Arbeit von Georg Simmel (1995) handelt es sich beim Kleinstädtischen um ein sozialpsychologisches Gebilde mit der Eigenschaft der unvollständigen sozialen Differenzierung. Immer wieder in den Vordergrund gestellt wird hierbei der Gesichtspunkt der lokalen Integration. Bei der Ausbildung sozialer Kreise bleibt demzufolge Anonymität weitgehend aus, die sozialen Beziehungen sind von einer gewissen Unausweichlichkeit geprägt. So genannte urbane Qualitäten wie etwa Experimentierfreudigkeit, Lebensstil-Ermöglichung oder Öffentlichkeit fehlen weitgehend, weil die damit verbundene Differenz nicht als Chance, sondern als Problem wahrgenommen wird. Wohlgemerkt geht es Simmel nicht darum, die Realität des Lebens in Kleinstädten zu beschreiben, sondern eine Form lokaler Vergesellschaftung. Auch wenn diese feine Differenzierung bemerkenswert ist, landet dieser Versuch nicht selten in der Zuschreibung von Provinzialität. Der zweite Versuch kann zwar ebenfalls ein allgemein verbreitetes Bild des Kleinstädtischen reklamieren, muss aber auch eine gewisse Irritation hinnehmen. In Anlehnung an Max Weber (1921) kann die Kleinstadt im ökonomischen Sinne als Markt, im infrastrukturellen als zentraler Ort und im soziokulturellkommunikativen als Knoten in regionalen Netzwerken angesehen werden. Das heißt auch, dass sie nicht aus sich selbst heraus besteht, sondern nur im Wechselverhältnis zu ihrer Umwelt existiert. Allerdings ist die Funktion der Kleinstadt als Versorgungszentrum und/oder Kommunikationsraum von der staatlichen Planung zwar zugewiesen worden, aber inwieweit diese als Zentralität existiert, ist in der lebensweltlichen Praxis weitgehend unbestimmt. Hier könnte sich die Fiktion von der Zentralität eher als hinderlich für den ›Stoffwechsel‹ – d.h. für die diversen Austauschprozesse – mit der Umwelt erweisen. So wurde politisch mit dem Bild der »Ankerstadt« eher ein technokratisch und hierarchisch beherrschbares Ordnungsprinzip erzeugt und vertreten: der letzte Ort staatlicher Zivilisation, bevor

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sich das Land in einer vermeintlich amorphen, undurchschaubaren und unbeplanbaren Fläche auflöst. Ein dritter Versuch nimmt Anlauf bei einer bereits lang gehegten Vorstellung von der Kleinstadt als funktionierendem (politischen und bürgerschaftlichen) Gemeinwesen. Von Platons Vorstellungen einer Polis über die Phalanstère und Familistère der Frühsozialisten bis zu den Gartenstädten in der Tradition von Ebenezer Howard und zum Siedlungsbau des 20. Jahrhunderts: Es sollten relativ überschaubare Gemeinwesen gegründet werden, teils innerhalb oder am Rande von Großstädten, teils als eigenständige Siedlungsgebilde. Dahinter stand nicht zuletzt die Idee eines Gemeinwesens, dass die Menschen integrieren und aktivieren kann. In ihrer Kleinstadtstudie Ende der 1960er Jahre nahm Benita Luckmann (1970a) das Selbstverständnis der Bewohner/innen mit Übersichtlichkeit, Ablehnung der Großstadt, Vertrautheit, Traditionsgebundenheit und der Öffentlichkeit des Privaten auf und machte auf die Umbrüche in der kleinstädtischen Gesellschaft aufmerksam. Trotzdem hielt sie an einem Modell fest, das sie ähnlich wie Anselm Strauss als ›small life world‹ beschrieb (Luckmann 1970b).

K LEINSTADT

ALS

U TOPIE

Die Utopie des Kleinstädtischen als gestaltbarer politischer, ökonomischer und sozialer Zusammenhang ist wohl in keinem anderen Werk so hart auf die real existierende Kleinstadt getroffen wie in Sinclair Lewis’ im Jahr 1920 veröffentlichten Roman MAIN STREET (dt. HAUPTSTRASSE, 1922). Die Protagonistin – wohlgemerkt von der Soziologie inspiriert – trägt den Gedanken der Umgestaltung allgemein der, später einer konkreten Kleinstadt mit sich. Aber alle Utopien zerbröseln in der Realität bevor sie überhaupt geltend gemacht werden können. Der Roman gilt als eines der Schlüsselwerke der »revolt from the village«, die seit den 1930er Jahren bis in die Gegenwart insbesondere die Kleinstadt als ideologisches Fundament der US-amerikanischen Gesellschaft kritisiert und dekonstruiert (Kitahara 1993, Lauck 2014). Dies steht nicht zuletzt auch im Kontext sozialwissenschaftlicher Zugänge und Interpretationen. Ralf Dahrendorf (1963) widmete in seinem Werk über die Aufklärung ein Kapitel der Gemeinschaftsfiktion, die das Bild der kleinen Stadt beherrscht und zur gesellschaftlichen Ideologie (in den USA) wurde: Gegen die ›Massengesellschaft‹ gerichtet, soll der Mensch in der ›überschaubaren‹ Welt der kleinen Stadt sowohl Sicherheit als auch die Wahrnehmung als Person finden. Diese Perspektive negiert aus seiner Sicht nicht nur die modernen gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern sie verhindere die Produktivität sozialer Konflikte und Vielfalt.

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Kann dies anders gedacht werden? In Anlehnung an die geographischen Arbeiten von Torsten Hägerstrand zeigte Anthony Giddens als globale gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne die ›Entbettung‹ (disembedding), die Entkopplung von Raum und Zeit sowie die reflexive Ordnung und Umordnung gesellschaftlicher Beziehungen auf. Regionale ›Entbettungen‹ und regionale Konkurrenzen sind die Folgen, aber es entstehen auch neue überregionale und supranationale Ordnungen, die von einem höheren Abstraktionsgrad geprägt sind. Giddens sieht allerdings die lebensweltlichen Bezüge nicht als deren heimelige Gegenwelten an. Vielmehr können in diesen kleinen Welten die Strukturen der größeren Welten erlernt und Vertrauen in diese erzeugt werden. So könnte demzufolge die Utopie der Kleinstadt gerade darin liegen, dass die große Welt nicht in kleinste Sinnprovinzen zerfällt, die nur über abstrakte Strukturen zusammengehalten werden, sondern die Kleinstadt als Ort von kommunikativer Unausweichlichkeit sowohl die ›Entbettung‹ als auch ›Rückbettung‹ (re-embedding) von Lebenswelten aufnimmt. Eine Utopie der Kleinstadt kann weder in den ideologischen Vorstellungen des Kleinstädtischen noch im realen Kleinstadtleben ihren Ausgangspunkt nehmen: Sie muss erst eine phänomenologische Beschreibung von Orten und ihren Lebenswelten leisten. Viele (wissenschaftliche wie alltagsweltliche) Deskriptionen und Narrative schaffen es nicht, sich vom Siedlungstyp lösen. Zum Beispiel wird oft die Bestimmung eines Ortes als Funktion von dessen Siedlungsgröße abgeleitet – als wäre die gebaute Umwelt eine nahezu alles bestimmende Determinante sozialen Verhaltens. Es gibt jedoch wenige Anhaltspunkte, dass sich die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen (z.B. der ›Entbettung‹) durch die Schaffung alter räumlicher Ordnungen (der Größe, der Zentralität, des Wachstums) bewältigen lassen. Es ist daher nicht nur die Kleinstadtvergessenheit der Soziologie, die meinen und unseren Blick auf Literaturen und Künste lenkt, sondern auch deren spezifische Möglichkeiten und Verfahren, Sehnsüchte und Enttäuschungen in der Utopie des Kleinstädtischen in der Lebenswirklichkeit der Kleinstadt zu thematisieren. Im Kern heißt dies, sowohl im konkreten als auch übertragenen Sinne Räume zu schaffen, in denen Kleinstadtrealitäten und Kleinstadtutopien ihren Platz finden, aus denen neue Bilder der Kleinstadt entstehen können. Plurale Gesellschaften, zu denen wider des eigenen Selbstbildes auch Kleinstädte gehören, können sich nicht auf einheitliche Ziele und Ordnungen verlassen, die ihre Entwicklung bestimmen. Kennzeichen der reflexiven Moderne ist es, dass das Politische in Aushandlungen und Kommunikation besteht. Zygmunt Bauman, der zeitlebens nicht müde wurde, auf die Ambivalenzen der Moderne und auch das Aushalten von Unordnung hinzuweisen, machte in seinem letzten, 2017 erschienen Buch auf die Gefahren von ›Retrotopia‹ aufmerksam: ein Zurück in Stammesdenken und eine Politik des Lokalen sei illusorisch. Im Sinne der Unausweichlichkeit der sozialen Kreise in der Kleinstadt hat diese mehr Differenz und Diversität auszuhalten als gemeinhin angenommen.

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E IN P LÄDOYER Dies gilt es zu bedenken, wenn ich hiermit nun doch ein Plädoyer für eine (im eigentlichen und doch auch metaphorischen Sinne des Wortes: umsichtige) »Kirchturmpolitik« äußere. Das zielt auch auf den Versuch der Rettung eines in Misskredit geratenen Begriffes ab. So könnte die Utopie der Kleinstadt in einer Gestaltbarkeit von Räumen mit »mittlerer Reichweite« zwischen Eigenheim und Weltgesellschaft liegen. Der Kirchturm wäre die Repräsentation eines Knotenpunktes zwischen lokaler und überlokaler Perspektive sowie die Institution, die zwischen den verschiedenen lokalen Lebenswelten vermittelt. Vielleicht besteht eine der zentralen politischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte darin, die Entwicklungschancen dieser lokalen Lebenswelten so zu stärken, dass sie eben nicht in Verteidigungsgemeinschaften münden. Sinclair Lewis’ Hauptfigur kämpft im Roman vor allem mit dem »Dorfbazillus« – dem Absolutsetzen der eigenen Lebenswelt und der Verweigerung von Veränderung, weil das Gegebene zugleich als das Bewahrenswerte und Gute erscheint bzw. verstanden wird. Der Kleinstadt fällt das Provinzielle nicht nur als Zuschreibung zu, sondern sie klammert sich selbst daran. Eine der wuchtigen und weitreichenden Fehldiagnosen ist dabei immer wieder die mangelnde Vielfalt der Kleinstadt. Es scheint so, als ob gerade das direkte, unvermeidbare Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebensstile und Milieuzugehörigkeiten eine Praxis der Nivellierung hervorbringen würde. Hier könnte ein eher dialektisches Denken ins Spiel kommen – wenn nämlich die Befangenheit der Kleinstadt nicht zur Negierung der Moderne führt, sondern die Anforderungen der modernen Gesellschaft in lebensweltlich fundierten Gemeinwesen bearbeitet werden. Die (konkreten) Utopien der Kleinstadt wäre nicht ein Gegenmodell zur Moderne, sondern könnte deren Spannungsfelder in einem Handlungsraum der Polis aufgreifen.

L ITERATUR ARL (2019a) (Hg.): Kleinstadtforschung, Hannover [= Positionspapier aus der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 113]. ARL (2019b): Small town research in Germany – status quo and recommendations, Hannover [ = Position Paper of the Akademie für Raumforschung und Landesplanung 114]. Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dahrendorf, Ralf (1963): Die angewandte Aufklärung, Frankfurt a.M.: Fischer. Giddens, Antony (1995): Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Institut für Sozialforschung (1956): Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt.

K LEINSTADTBILDER UND K LEINSTADTUTOPIEN | 105

Kitahara, Taeko (1993): »Revolt from the Village: Another View of Midwestern Small Towns«, in: Essays and Studies in British & American Literature, 89 (1993), S. 81-118. Lauck, Jon (2014): »Main Street and Empire: The Fictional Small Town in the Age of Globalization«, in: The Annals of Iowa 73 (2014), S. 300-301. Lewis, Sinclair (1922): Hauptstraße, Berlin: Volksverband der Bücherfreunde. Luckmann, Benita (1970a): Politik in einer deutschen Kleinstadt, Stuttgart: Enke. Luckmann, Benita (1970b): »The Small Life-Worlds of Modern Man«, in: Social Research 37 (1970) 4, S. 580-596. Porsche, Lars/Steinführer, Annett/Sondermann, Martin (2019) (Hg.): Kleinstadtforschung in Deutschland – Stand, Perspektiven und Empfehlungen, Hannover [ = Arbeitsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 28]. Simmel, Georg (1995): »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, 1. Bd. (= Gesamtausgabe, Bd. 7), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 116-131. Weber, Max. (1921): »Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920/21) 3, S. 621-772.

Heraus aus des Esels Schatten Wielands Überwindung der Provinzialphilosophie L ARS -T HADE U LRICHS

E INLEITUNG In Christoph Martin Wielands erstem Roman DON SYLVIO stolpert der Prinz Biribinker auf der Suche nach dem »unsichtbaren Palast« im Innern eines Wales über einen überaus ungewöhnlichen Kürbis. Nach lauter Beschwerde und einigen unmaßgeblichen Belehrungen eröffnet der Kürbiskopf dem Protagonisten nämlich voller Selbstbewusstsein: »[S]o ungünstig auch immer die Figur und Organisazion eines Kürbisses zu Beobachtungen seyn mag, so geschickt ist sie hingegen zu transcendentalen Betrachtungen; und mit allem dem entdeckt man doch in hundert Jahren nach und nach eines oder das andere, was entweder unsere schon gefaßten Hypothesen bestätigt, oder uns auf die Spur einer neuen bringt.« (Werke IV, 12: 235)1

Der denkende Kürbiskopf im DON SYLVIO ist mit seinem »dicken Wanst« also zwar prädestiniert zu transzendentalen Spekulationen a priori. Seine Immobilität verdammt ihn jedoch zu ewiger Lebens- und Praxisferne, und folglich ist er nicht dazu in der Lage, zu empirisch gesicherten Erkenntnissen zu gelangen und dadurch, wie Kant es empfahl, »sich im Denken [zu] orientieren.« (AA VIII: 131ff.)2

1

Aus den SÄMMTLICHEN WERKEN Wielands wird im Folgenden mit dem Kürzel ›Werke‹

2

Aus den GESAMMELTEN SCHRIFTEN Kants wird im Folgenden mit dem Kürzel ›AA‹

unter Angabe des Bandes, des Unterbandes und der Seitenzahl zitiert. unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert.

108 | L ARS -T HADE U LRICHS

In dieser Szene wird – um der satirischen Darstellung eine ernste Deutung zu geben – vor allem Eines deutlich: Bereits der junge Wieland hatte nur eine sehr geringe Meinung vom spekulativen Denken. Er forderte stattdessen eine pragmatische Philosophie, die eine verlässliche anthropologische Basis vorzuweisen hat und die sich in konkreten Lebens- und Handlungszusammenhängen zu bewähren vermag (vgl. dazu Ulrichs 2011: 51-71 u. 246-261.). Eines der Hauptbetätigungsfelder einer solchen pragmatischen Philosophie – dessen war sich Wieland bewusst – ist die Rechtsphilosophie. Die Rechtsphilosophie nämlich reflektiert auf die Bedingungen der Möglichkeit des sozialen Zusammenlebens. Schließlich bildet ein funktionierendes Rechtssystem die Grundlage dafür, dass der Kultur- nicht wieder in den Naturzustand zurückfällt. Und der Naturzustand ist für Wieland, wie er in seinen BEYTRÄGEN ZU EINER GEHEIMEN GESCHICHTE DER MENSCHHEIT (vgl. Werke V, 14) deutlich macht, nicht von Rousseaus ›edlem Wilden‹ bevölkert, der einsam durch die Wälder streift, hier und da eine Frucht vom Baume pflückt, hier und da einen anderen friedfertigen Wilden trifft und hier und da ein Weibchen besteigt. Der Naturzustand besteht in seinen Augen vielmehr in einem Kampf aller gegen alle, der erst nach vielen Mühen und unter ständiger Gefahr des Rückfalls allmählich in einen Kulturzustand überführt werden kann. Der Kulturzustand ist aber in wesentlicher Hinsicht ein Rechtszustand. Für diese – pragmatisch orientierte und anthropologisch fundierte – Auffassung Wielands ist, auf dem Gebiet seiner Romanproduktion, die in den Jahren 1774 bis 1780 im TEUTSCHEN MERKUR erschienene GESCHICHTE DER ABDERITEN der wohl eindrücklichste Beleg. Insbesondere im vierten Buch dieses Romans, der sich dem »Prozess um des Esels Schatten« widmet, wird vorgeführt, von welch enormer Bedeutung ein funktionierendes Rechtssystem für den Bestand und die Erhaltung einer bürgerlichen Gesellschaft ist – oder vielmehr wie schnell die Beugung und Missachtung des Rechts selbst eine so kleine und überschaubare Sozietät wie die Abderas in eine schwerwiegende Krise führen kann. Dabei ist es sicher kein Zufall, dass der Aufstieg und Verfall eines Sozial- qua Rechtssystems an einer so unbedeutenden Polis dargestellt wird. Konstituiert sich nämlich – so die Überzeugung Wielands – eine bürgerliche Gesellschaft ausschließlich aus Klein- und nicht (auch) aus Weltbürgern, dann ist es bald schon nicht nur mit der Bürgerlichkeit, sondern gleich auch mit der Gesellschaft vorbei. Denn für Wieland zeichnet sich der Kleinbürger als Abderit durch die Beschränktheit seiner Perspektive aus: er sieht nur auf seine kleinen, alltäglichen Zwecke und übersieht dabei das Wohl des Ganzen. Es kann – so viel sei bereits vorweg gesagt – als die Pointe der Darstellung Wielands im vierten Buch der ABDERITEN betrachtet werden, dass diese Beschränktheit des Kleinbürgers auch und gerade auf dem Gebiet herrscht, das ihm gemeinhin am nächsten und wichtigsten ist: auf dem Gebiet des Eigentums. Das »Mein und Dein« ist aber nicht nur in den Augen der zwielichtigen Romanfigur Fysignatus »die Grundfeste aller bürgerlichen Sicherheit« (Werke VI, 20: 133). Dies hat zur Folge,

H ERAUS

AUS DES

E SELS S CHATTEN | 109

dass hinter der scharfen und oft absurden Satire der ABDERITEN im Zusammenhang mit dem »Prozess um des Esels Schatten« ein überaus ernster Sachverhalt hervortritt, der die lachende Miene des Lesers unversehens zu einer nachdenklichen werden lässt. Dass es auch schon den zeitgenössischen Rezipienten nachdenklich machen musste, lehrt ein Blick auf das aufklärerische Rechtsdenken im Allgemeinen (Kap. 2) und auf die Kantische Rechtslehre im Besonderen (Kap. 3). Erst auf dieser Grundlage kann man zu einem angemessenen Verständnis des »Eselsprozesses« in den ABDERITEN gelangen, dessen (rechts-)philosophische Bedeutung von der Forschungsliteratur bisher nur sehr ungenügend erfasst worden ist (Kap. 4) – und erst auf dieser Grundlage gibt es auch eine Aussicht auf eine haltbare ideengeschichtliche Einordnung (Kap. 5).

D AS

AUFKLÄRERISCHE

R ECHTSDENKEN

Die Rechtssituation im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation glich im 18. Jahrhundert selbst eher dem Hobbesschen »bellum omnium contra omnes«, als dass dieser Krieg in einem echten, einem allgemeinen Rechtszustand, in dem Einer des Andern Vorteil befördert oder wenigstens nicht auf den Nachteil seines Nächsten aus ist, sein geschichtliches Ende fand. Denn die von Hobbes in seiner berühmten Bestimmung des Naturzustands angesprochenen »omnes« waren in diesem zerfallenden Reich nicht bloß die nur teilweise und vorläufig domestizierten Bewohner der deutschen Städte und Dörfer – es waren schon die im beständigen Widerstreit liegenden Gesetze selbst. Das im Deutschen Reich des 18. Jahrhunderts geltende Recht war eine Kombination aus ganz disparaten Traditionen: Das alte römische Recht mischte sich mit dem modernen Naturrecht, und beide wurden permanent durchkreuzt vom Gewohnheitsrecht. Gewohnheitsrecht aber hieß – das darf man bei aller Begeisterung für die Aufklärung als der ›Geburtsstunde der Moderne‹ nicht vergessen – auch noch im 18. Jahrhundert vor allem: die Verteidigung jener überkommenen Privilegien, die das Gerüst der ständischen Gesellschaft bildeten. Und diese Kriege zur Bewahrung alter Vorrechte wurden durchaus nicht heimlich und mit politischen Ränkespielen geführt, sondern häufig mit unverhohlener Aggressivität. Hinzu kam, dass in den aberdutzend Fürstentümern auf deutschem Reichsgebiet ganz unterschiedliche Rechtsverhältnisse herrschten: Was in dem einen Kleinstaat erlaubt war, konnte schon wenige Kilometer weiter strikt verboten sein; und der Delinquent konnte sich entsprechend vor der Strafverfolgung durch einen schnellen Grenzübertritt sichern. In der »Werkel-Tags-Welt« (Wieland 1979: 552) herrschte oft nicht das positive Recht – es herrschte das Recht des Stärkeren. Dieses ist zwar immer sehr ›positiv‹ in seiner Durchschlagskraft, aber es hat, wie wir seit Platon wissen, einen immensen Nachteil: es ist kein Recht.

110 | L ARS -T HADE U LRICHS

Eine derartige Situation war für die meisten Aufklärer – ob sie nun der ›gemäßigten‹ oder der ›radikalen‹ Fraktion angehörten3 – natürlich inakzeptabel. Sie wussten: Gerade auf dem Gebiet des Rechts hatte sich die Aufklärung zu bewähren. Hier wurde mit ihren Reformideen die Probe aufs Exempel gemacht, und hier auch wurde das Aufklärungsdenken alltagswirksam. Die Bedeutung der juristischen Aufklärung im 18. Jahrhundert ist deswegen kaum zu überschätzen. Es war ja auch durchaus nicht so, dass man in diesem rechtsaufklärerischen Geschäft keine Erfolge verbuchen konnte: Nicht nur schuf das Naturrecht die Grundlage für die Formulierung der Menschenrechte, wie sie in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und in die französische Verfassung von 1791 Eingang fanden. Auch in der Abschaffung der Folter, der Beendigung der Hexenprozesse und den Reformen der Strafpraxis – um nur einige Errungenschaften des 18. Jahrhunderts zu nennen – wurde der juristische Aufklärungshumanismus greifbar. Nicht mehr grausame Bestrafung, sondern Besserung des Verbrechers wurde von der aufgeklärten Rechtspraxis beabsichtigt. Dem entsprach rechtstheoretisch eine Auffassung der Strafe nicht mehr als Rache, sondern als Abschreckung – im Sinne sowohl einer General- wie einer Spezialprävention. Dass die Verwirklichung dieser Ideale nur in Ansätzen gelang, steht freilich auf einem anderen Blatt. Das die aufklärerische Rechtslehre in besonderem Maße prägende naturrechtliche Denken, dessen Erfolge sich im Deutschland des 18. Jahrhunderts vor allem an die Namen Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und Christian Wolff banden, war jedoch in erster Linie ein vertragsrechtliches Denken. Gemäß Pufendorfs naturrechtlich begründetem Kontraktualismus ist die Basis von Staat und Gesellschaft ein Vertrag – und zwar ein doppelter: der Gesellschaftsmitglieder gegenüber dem Souverän und zugleich der Gesellschaftsmitglieder untereinander. Alle Vertragsabschlüsse – und so auch diese denkbar allgemeinsten – setzen jedoch mündige Partner voraus, die verantwortlich zu handeln und Verträge einzuhalten vermögen. Den Vertrag mit dem Souverän charakterisierte allerdings eine Besonderheit: Das Gewaltmonopol hatte zwar – darin folgten die Naturrechtler der Aufklärung Thomas Hobbes – der Souverän. Um dieses Monopol aber vor Missbrauch zu schützen, bedurfte es einer wirksamen Kontrolle. Um solch eine Kontrolle zu gewährleisten, trat das aufklärerische Rechtsdenken für die Gewaltenteilung ein.4

3

Zur bekannten Unterscheidung zwischen »moderate« and »radical Enlightenment« vgl.

4

Für Kant ist eine derartige empirische bzw. sozialhistorische Begründung der Gewalten-

Israel (2006) sowie Israel/Mulsow (2014). teilung allerdings nicht haltbar; er versucht sie stattdessen a priori aus dem Begriff des Rechts selbst zu »deduzieren« (vgl. dazu Kalscheuer 2014: 118ff.).

H ERAUS

AUS DES

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D IE K ANTISCHE E IGENTUMSTHEORIE Man kann nun behaupten: So wie das Eigentum die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft bildet, so machten die Eigentumstheorien den Kern des aufklärerischen Rechtsdenkens aus. Zur Begründung des Eigentums vereinte man das kontraktualistische Modell mit einer Reflexion auf die fundamentalen Rechtsprinzipien. Das geschah in Ansätzen bereits bei John Locke und seinen Nachfolgern. Es war aber – wieder einmal – Immanuel Kant, der diese Reflexion am grundsätzlichsten betrieb. Kants Anspruch war es, sogar noch die in der Aufklärung vieldiskutierte Frage, wodurch Besitz in Eigentum umgewandelt wird bzw. wie eine ursprüngliche Erwerbung vernünftig begründet werden könnte, zu übersteigen: Ob dies durch Okkupation (was bereits Jean Jacques Rousseau kritisiert hatte) oder durch Bearbeitung und Kultivierung des jeweils als Eigentum beanspruchten Gegenstandes, wie Locke meinte, geschähe, stand nicht mehr im Zentrum der Kantischen Überlegungen. Für Kant war vielmehr die Basis des Eigentums5 das Rechtsprinzip als Prinzip der Wechselseitigkeit selbst. Im Recht, so Kant, geht es um die wechselseitige Anerkennung der Freiheitssphären der in einer bürgerlichen Gesellschaft Vereinten: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.« (AA VI: 230)

Dieses Rechtsprinzip wendet Kant nun konsequent sowohl auf die Entstehung als auch auf die Verteilung des Eigentums an. Eigentum kann es entsprechend nur in Form des rechtlichen Besitzes geben. Dabei handelt es sich beim rechtlichen Besitz um einen reinen »Verstandesbegriff«: »Der Begriff eines bloß rechtlichen Besitzes ist kein empirischer (von Raum- und Zeitbedingungen abhängiger) Begriff, und gleichwohl hat er praktische Realität, d.i. er muß auf Gegenstände der Erfahrung […] anwendbar sein.« (AA VI: 252f.)

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Kant definiert Eigentum dabei nur negativ: »Das rechtlich Meine […] ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein Anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde. Die subjective Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt ist der Besitz.« (AA VI: 245) Die Verletzung dessen bestehe in dem »Abbruch an meiner Freiheit, die mit der Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann« (AA VI: 249). Um die Besitzwahrung auch unter der Bedingung der physischen Abwesenheit zu gewährleisten, unterscheidet Kant zwischen »sinnlichem« und »intelligiblem« Besitz.

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Kants ebenso radikale wie verblüffende Folgerung daraus war: Das gesamte Eigentum entsteht auf einen Schlag – sobald ich etwas als das Meine beanspruche, schließe ich mich von allem Anderen aus und anerkenne es als Eigentum Anderer, indem »allen andern dadurch eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs desselben zu enthalten« (AA VI: 253): »In dieser Anmaßung [dass etwas Äußeres das Meine sein solle] aber liegt zugleich das Bekenntniß: jedem Andern in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor.« (AA VI: 255)

Die Pointe der Kantischen Eigentumstheorie ist also, dass das gesamte Eigentum innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft (und nur in dieser sei Eigentum überhaupt möglich) auf einen Schlag entstanden und verteilt ist. Das liegt eben daran, dass das Eigentum die äußere Konkretisierung des Prinzips der Wechselseitigkeit, genauer: der wechselseitigen Anerkennung der Freiheitssphären aller in einer allgemeinen Rechtssituation Beteiligten, und damit des Rechtsprinzips überhaupt ist. Eigentum qua rechtlichen Besitz kann es für Kant, da es stets an wechselseitige Zubilligung und Beschneidung von Freiheits- und Machtsphären gebunden ist, demnach niemals auf Basis einer einseitigen Willkür durch Okkupation, sondern immer nur auf Grundlage des Rechtsprinzips und damit auf vertraglicher Basis geben. Der Vertrag nämlich sei der »Act der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des Einen auf den Anderen übergeht« (AA VI: 271). Jeder Vertrag besteht dabei laut Kant in zwei vorbereitenden (dem »Angebot« und der »Billigung«) und zwei konstituierenden (dem »Versprechen« und der »Annehmung«) Akten der Willkür (vgl. AA VI: 272f.). Die »transcendentale Deduction des Begriffs der Erwerbung [von Eigentum] durch Vertrag« nach dem »Gesetz der reinen praktischen Vernunft« muss jedoch annehmen, dass alle vier Akte von den Vertragspartnern als zugleich stattfindend vorgestellt werden – sonst verlöre sie ihren apriorischen Status. Die Einhaltung jedes Einzelvertrags über ein bestimmtes Eigentum6 kann demnach nur sichergestellt werden, wenn dieser unter der Bedingung einer allgemeinen Wahrung des Rechtsprinzips überhaupt geschlossen wird:

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Die »Momente (attendenda) der ursprünglichen Erwerbung« von Eigentum sind dabei laut Kant 1. die Apprehension eines Gegenstandes, 2. die Deklaration des Besitzes dieses Gegenstandes, 3. die Zueignung als »Act eines äußerlich allgemein gesetzgebenden Willens, durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird« (vgl. AA VI: 258f.).

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»Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des Anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit giebt, er werde ebendieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten.« (AA VI: 307)

Das wiederum ist nur dort möglich, wo die Gesellschaft selbst auf einem Vertrag beruht. Das ist aber genau die bürgerliche Gesellschaft. Eigentum kann es deshalb nur innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft geben. Eigentum ist sogar das äußere und zugleich sichere Zeichen für das Vorliegen einer solchen Gesellschaft. Umgekehrt gilt auch: Nur wo es rechtmäßiges Eigentum gibt, gibt es eine Gesellschaft: »Etwas Äußeres als das Seine zu haben, ist nur in einem rechtlichen Zustande, unter einer öffentlich-gesetzgebenden Gewalt, d.i. im bürgerlichen Zustande, möglich.« (AA VI: 255)

D ER E SELSPROZESS

IN DER

G ESCHICHTE

DER

A BDERITEN

Welche Bedeutung hat nun diese – zweifellos scharfsinnige – Kantische »Deduction des Begriffs der Erwerbung [von Eigentum] durch Vertrag« nach einem »Gesetz der reinen praktischen Vernunft« im Hinblick auf Wielands GESCHICHTE DER ABDERITEN? Gehört sie nicht zu genau jenen »transcendentalen Betrachtungen«, zu denen nur »die Figur und Organisazion eines Kürbisses« geschickt machen? Mitnichten. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Es handelt sich um einen Musterfall derjenigen Art des Philosophierens, der Wieland stets den Vorzug gab: der pragmatischen und praxisnahen, der lebensweltlich orientierten und alltagswirksamen, also genau jener aufklärerischen Art des Philosophierens, wie es Wieland verstand. Mehr noch, man kann sogar behaupten: Der »Prozess um des Esels Schatten«, den Wieland im vierten Buch der GESCHICHTE DER ABDERITEN erzählt, ist geradezu die narrative Umsetzung der Kantischen Eigentumstheorie. Freilich hat er sie – kein Einzelfall in der vom ›alten Streit‹ zwischen Philosophie und Literatur beherrschten Ideengeschichte (vgl. Ulrichs 2011: 11-24) – schon lange vorher erzählt; und zwar rund zwanzig Jahre vor dem Erscheinen der METAPHYSIK DER SITTEN Kants. Der Anlass für den Prozess um des Esels Schatten ist ebenso rasch erzählt wie er skurril ist: Der Zahnarzt Struthion mietet einen Esel, um von Abdera nach Gerania zu gelangen, wo er auf dem Markt seine mehr oder weniger wirksamen Pulver und Essenzen verkaufen will. Der Eselsbesitzer Anthrax begleitet ihn auf seinem Ritt persönlich als Reiseführer. Will man den Sachverhalt im Kategoriensystem des Römischen Rechts und ebenso der Kantischen Rechtslehre erfassen, heißt das: Die Angelegenheit ist zum einen eine »locatio conductio« in Form der »Verdingung meiner Sache an einen Andern zum Gebrauch desselben« und zum andern ein

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Lohnvertrag in Form einer »locatio operae« des Eselsführers mit dem Zahnarzt (vgl. AA VI: 285). Sie fällt damit einerseits ins Sachenrecht als dem »Recht des Privatgebrauchs einer Sache, in deren (ursprünglichen, oder gestifteten) Gesammtbesitze ich mit allen andern bin« (AA VI: 260ff.), zum andern ins persönliche Recht im Sinne des »Besitz[es] der Willkür eines Anderen, als Vermögen sie durch die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Art zu bestimmen« – wobei beides, in Übereinstimmung mit dem Rechtsprinzip, d.h. dem »Princip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann gemäß« (AA VI: 271ff.), zu erfolgen habe. Damit ist den METAPHYSISCHEN ANFANGSGRÜNDEN DER RECHTSLEHRE Genüge getan. Die abderitische Erzählung geht aber weiter ihren unaufhaltsamen Gang: Auf der Mitte des Weges zwischen Abdera und Gerania – weit und breit ist kein Baum, kein Strauch zu finden – will sich Struthion aufgrund der enormen Mittagshitze in den Schatten des Esels setzen. Das aber wird ihm von Anthrax verweigert: Struthion habe zwar den Esel gemietet, keineswegs jedoch dessen Schatten. Den müsse er ihm extra vergelten. Der Zahnarzt lehnt das rundheraus ab: der Schatten sei Teil des Esels und damit in der vertraglich vereinbarten Miete enthalten (vgl. Werke VI, 20: 6f.). Soweit der juristische Sachverhalt, der zum Ausgangspunkt einer allmählich eskalierenden Historie wird, die selbst in der an Skurrilitäten reichen Geschichte Abderas ihresgleichen sucht. Nun nämlich wird die gesamte Maschinerie des abderitischen Rechtssystems in Gang gesetzt: Die beiden Streithähne Struthion und Anthrax brechen ihre Reise ab und kehren zurück nach Abdera. Dort ziehen sie sogleich vor den Stadtrichter Fillipides (Werke VI, 20: 9ff.). Dieser verfolgt in seinen Urteilen gewöhnlich eine einfache und in der Regel sehr wirksame Strategie: er gibt immer dem zuletzt Sprechenden Recht. Dieses bisher bewährte ›Rechtsprechungsprinzip‹ kann er im vorliegenden Fall jedoch nicht recht anwenden. Er stellt nämlich sogleich einen »Verfahrensfehler« fest: es gäbe in diesem Fall nur zwei Kläger, aber keinen Beklagten. Ein Urteil sei deshalb nicht möglich. Verständlicherweise unzufrieden mit dieser alles andere als salomonischen Auskunft geraten die beiden Kläger in die Fänge zweier Rechtsanwälte: Fysignatus wird zum Rechtsvertreter Struthions, Polyfonus zum Anwalt des Anthrax. Die beiden gewieften Sykophanten tun in der Folge alles dafür, dass sich in Abdera zwei Fraktionen bilden: die »Schatten« (die Anhänger des Zahnarztes) und die »Esel« (die Anhänger des Eseltreibers). Als sich in die Angelegenheit dann auch noch drei sogenannte ›politische Entscheidungsträger‹ – der Zunftmeister Pfriem, der Priester des Jason-Tempels Agathyrsus sowie, ein wenig später, der Erzpriester des Latonentempels Strobylus – einmischen, droht die gesamte abderitische Gesellschaft im Parteienstreit zu zerfallen (vgl. ebd.: 19ff.). Lakonisch stellt der Erzähler fest: »der besagte Esel hatte seinen Schatten auf ganz Abdera geworfen« (ebd.: 17f.). Schließlich war es den beiden Sykophanten im Verein mit den Politikern

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gelungen, »die ganze Republik in seinen [des Prozesses] Strudel hinein zu ziehen« (ebd.: 18). So nimmt das Verhängnis weiter seinen Lauf: Obwohl das Stadtgericht beim scharfsinnigen Referenten Miltias ein Rechtsgutachten einholt und dieser die Angelegenheit eindeutig zugunsten Struthions entscheidet, gelangt auch diese Instanz zu keinem Urteil. Stattdessen wird die Angelegenheit vor den Senat gebracht (ebd.: 36). Dort stellt man fest, dass es für diesen Fall – wen wundert’s? – kein »Präjudizialurteil«, also keinen Präzedenzfall gäbe (ebd.: 63). Daraufhin wird das Gremium der »Zehnmänner« einberufen, das für »alle Sachen, bey denen die Religion von Abdera unmittelbar betroffen war« (ebd.: 95), zuständig ist. Zu einer solchen Religionsangelegenheit war der Streit durch die Einmischung der beiden rivalisierenden Priester inzwischen geworden. Auch dieses Gremium scheitert jedoch an der Aufgabe – ist es doch so, dass, wie der Erzähler feststellt, »die Zehnmänner von Abdera, im Durchschnitt genommen, den Ausschuss der blödesten Köpfe in der ganzen Republik ausmachten« (ebd.). Es hilft nichts: die letzte Instanz, die Volksversammlung, muss entscheiden. Nun wird endgültig klar, dass »das, was in der Abderitischen Staatseinrichtung demokratisch schien, bloßes Schattenwerk und politisches Gaukelspiel« ist (ebd.: 76). Fysignatus, der Rechtsvertreter Struthions, hat zwar offenkundig die besseren Argumente. Polyfonus vermag jedoch durch geschickte Rhetorik den Sachverhalt weiter in der Schwebe zu halten (vgl. ebd.: 146ff.). Das Resultat ist so trostlos wie, angesichts des abderitischen Volkscharakters, absehbar: das ganze Gemeinwesen zeigt sich überfordert, und die Volksversammlung, die letzte Instanz des abderitischen Rechtssystems, gelangt ebenso wenig zu einer Entscheidung. Da aber kommt ein Deus ex machina ganz eigentümlicher Art zur Hilfe – nämlich in Gestalt des Esels selbst. Der Gegenstand des gesamten Justizskandals taucht plötzlich auf dem Marktplatz unter den Versammelten auf. Und auf einen Schlag zeigt sich das Volk in dem einig, in dem es sich immer einig ist: in der Gewaltanwendung. Der Esel wird binnen Sekunden von einem wild gewordenen Mob in tausend Stücke zerrissen (ebd.: 162f.). Nomofylax stellt nüchtern fest, dass der Anlass des Streits damit beseitigt sei: »das Volk hat sein Müthchen an ihm [dem Esel] abgekühlt« (ebd.: 164f.). Diese Konfliktlösung ist aber natürlich nur eine scheinbare: Am Ende des Prozesses wird bloß die latente Aggressivität der abderitischen Gesellschaft offenbar. Recht wird gesprochen, indem man in einen rechtlosen Zustand, recht gesagt: in die Barbarei zurückfällt. Immerhin begehen die Abderiten nicht noch jenes zweite Unrecht, das in der Realgeschichte regelmäßig dem ersten auf dem Fuße folgt: das Vergessen und Verdrängen. Vielmehr errichten sie am Ende ein Denkmal. Sie setzen es aber natürlich – dem Esel (ebd.: 165). Das also ist, in aller Kürze, der Prozess um des Esels Schatten. Man könnte es sich nun leicht machen und ausrufen: Was für eine wunderbare Satire auf das Rechtssystem! Wie entlarvend für jede Form der Rechtsbeugung! Welch herrliche

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Absurdität! Dergleichen wird aber der erzählten Geschichte in keiner Weise gerecht. Die Sache ist weit ernster und weit hintergründiger. Denn der Anlass des Eselsprozesses ist nur scheinbar absurd und nur scheinbar zufällig von Wieland ausgewählt. In Wirklichkeit liegt hier die Achillesferse des gesamten abderitischen Rechts- und Gesellschaftssystems. Worin besteht sie? Häufig wurde dazu festgestellt: Der Grundmangel des abderitischen Systems sei die fehlende Gewaltenteilung. Politik und Recht würden in dem griechischen Stadtstaat fortwährend vermengt. Allenthalben herrsche infolge dessen Korruption. Insbesondere sei die Rechtsbeugung, d.h. die Unterordnung der Rechtsprechung unter persönliche Interessen allgegenwärtig. Dafür stünden nicht allein die Richter – seien diese nun die Stadtrichter, die sogenannten »Zehnmänner« oder stellten sie die Volksversammlung selbst – sowie die Sykophanten, jene praktizierenden Sophisten, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestreiten, dass sie die Rechtsstreitigkeiten der Bürger schüren und führen. Es seien vor allem die Priester Abderas, die sich fortwährend in die Rechtsprechung einmischten und auf deren Rücken ihre persönlichen und religiösen Fehden ausföchten – und damit werde die juristische Krise Abderas zu einer Folge der mangelnden Trennung von Staat und Religion. All das ist zweifellos richtig. Aber es trifft nicht des Esels Kern. Denn im Zentrum des Prozesses um des Esels Schatten steht nicht ein beliebiger, letztlich nichtiger Sachverhalt, sondern der vertragsrechtlich verstandene Begriff von Besitz und Eigentum. Dass der sich aus einer absurden Nichtigkeit entspinnende Prozess die gesamte abderitische Gesellschaft in Aufruhr versetzt, zeigt aufs Deutlichste, dass Wieland, ebenso wie später Kant, offenbar der Auffassung war, dass der Eigentumsbegriff der Grundbegriff des gesamten Rechtssystems und damit der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt ist. Das wird an vielen Stellen der GESCHICHTE DER ABDERITEN deutlich. So wird schon im Rechtsgutachten des Miltias zwischen dem Principale »Esel« und dem Accessorium »Schatten« (ebd.: 28) sowie zwischen Gemein- und Privateigentum (ebd.: 30f.) unterschieden und auf dieser Basis festgestellt, dass es hier auf »eine allgemeine Rechtsfrage ankomme, die das Eigentum betreffe« (ebd.: 34). Wie die Luft, so merkt die den Senat beratende »Kanzley« an, sei auch der Schatten eine »res nullius«, also herrenlos: beide würden »folglich ein Eigenthum des ersten, der sich ihrer bemächtigt«, also durch »Ockupation« (ebd.: 67). Fysignatus schließlich kommt in seiner Rede vor der Volksversammlung zu dem Schluss, dass der Schatten »zu den gemeinen Dingen zu rechnen ist, an welche ein jeder so viel Recht hat als der andre, und an die sich derjenige das nächste Recht erwirbt, der sie zuerst in Besitz nimmt« (ebd.: 141). Darüber hinaus sei der Schatten »ein Zubehör des Esels« und damit auch Teil des »Mietkontrakt[s]« (ebd.). Dass nun trotz dieser eigentlich eindeutigen Rechtslage und dem ihr zugrundeliegenden klaren Eigentumsbegriff die Verwirrung in Abdera anhält, mehr noch: dass das Rechtssystem Abderas, ohne Rücksicht auf die Prinzipien der Gewaltenteilung zu nehmen, von politischer und religiöser Seite beständig korrumpiert wird,

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schließlich: dass der Streit um die Frage nach dem rechten Verständnis von Eigentum das gesamte abderitische Gesellschaftssystem ins Wanken bringt – all das verweist darauf, dass sich hier nicht etwa nur die Satire in dem ihr angeblich so eigentümlichen Medium der Kontingenz, d.h. der unbeherrschbaren Fährnisse des menschlichen Daseins, ergeht, sondern dass in dieser Polis etwas Grundsätzliches im Argen liegt: Die abderitische Gesellschaft beruht offenkundig nicht auf einem Vertrag, der unter Gleichen geschlossen wurde; sie vermag überhaupt nicht das Rechtsprinzip in Anwendung zu bringen und damit die wechselseitige Anerkennung der Freiheitssphären »nach einem allgemeinen Gesetze« zu gewährleisten; kurzum: sie ist gar keine bürgerliche Gesellschaft. Und weil sie keine bürgerliche Gesellschaft ist, gibt es in ihr auch kein rechtmäßiges Eigentum. In Abdera herrscht also im Grunde Anarchie, unter dem Deckmantel staatlicher Ordnung. Und in Abdera herrscht eigentlich Barbarei, keine Zivilisation – es ist der Kriegs-, nicht der Kulturzustand, mit dem wir es in Wielands Roman zu schaffen haben. Das ist es, was am Ende offen zu Tage tritt, wenn der wütende Mob den Esel auf dem Marktplatz zerfetzt.

B ESCHLUSS : V ERSUCH EINER U RTEILSFINDUNG Eine bürgerliche Gesellschaft – das ist eine Gesellschaft, in der das Rechtsprinzip angewendet und durchgesetzt wird. Das Rechtsprinzip besteht in der wechselseitigen Anerkennung der Freiheitssphären aller Mitglieder dieser bürgerlichen Gesellschaft: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.« (AA VI, 230) Im Eigentum realisiert und konkretisiert sich dieses Rechtsprinzip als ein Prinzip der Wechselseitigkeit: In demselben Zuge, in dem ich etwas als das Meine beanspruche, schließe ich mich von allem Anderen aus und anerkenne es als das Eigentum Anderer. Deshalb kann es Eigentum nur in einer bürgerlichen Gesellschaft geben. Geregelt wird all das in Verträgen. Alle Eigentumsverhältnisse basieren auf solchen Verträgen, und auch die Gesellschaft insgesamt beruht auf einem Vertrag unter Gleichen. Wo diese Gleichheit nicht herrscht – wie dies aufgrund seines Gewaltmonopols im Verhältnis des Souveräns zu den Gesellschaftsmitgliedern der Fall ist –, da bedarf es zumindest einer wirksamen Kontrolle, und diese wird allein durch Gewaltenteilung7 gewährleistet.

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Die Gewaltenteilung ergibt sich allerdings für Kant, anders als für die Vertreter des aufklärerischen Naturrechts, bereits analytisch aus dem Begriff des Rechts selbst.

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Das ist der Kern des aufklärerischen Rechtsdenkens, wie wir es bei Kant finden. Und das ist auch des Eselschattens Kern, wie ihn Wieland freigelegt hat. So weit, so gut. Eine bürgerliche Gesellschaft – das ist aber auch diejenige Gesellschaft, in der ein Menschenschlag leben kann und leben will, von dem Wieland in der GESCHICHTE DER ABDERITEN nur »Geheimnachrichten« (vgl. Werke VI, 19: 216ff.) verlauten lässt: die Mitglieder des »uralten Ordens der Kosmopoliten«. Kosmopoliten sind nämlich keineswegs vaterlands- oder staatenlose Gesellen, es sind vielmehr gerade diejenigen, die sich wechselseitig in ihrer jeweiligen Freiheit – und zwar nach dem »nothwendigste[n] aller Naturgesetze« – anerkennen. Deswegen kann der Erzähler von ihnen sagen: »Zwey Kosmopoliten kommen, der eine von Osten, der andere von Westen, sehen einander zum ersten Mahle, und sind Freunde; – nicht vermöge einer geheimen Sympathie, die vielleicht nur in Romanen zu finden ist; – nicht, weil beschworne Pflichten sie dazu verbinden; – sondern, weil sie Kosmopoliten sind. […] Ihre Freundschaft hat nicht vonnöthen durch die Zeit zur Reife gebracht zu werden; sie bedarf keiner Prüfungen; sie gründet sich auf das nothwendigste aller Naturgesetze, auf die Nothwendigkeit, uns selbst in demjenigen zu lieben der uns am ähnlichsten ist.« (Ebd.: 217 u. 219)

Die beiden Kosmopoliten, von denen hier die Rede ist, sind Demokrit und Hippokrates. Sie sind, nebst Euripides, in den ersten drei Büchern der GESCHICHTE DER ABDERITEN die Repräsentanten des »uralten Ordens der Kosmopoliten«. Insbesondere Demokrit ist für Wieland innerhalb des Romans eine wesentliche Reflexionsfigur. Er steht für die von Wieland geforderte pragmatische Philosophie, die in konkreten Lebens- und Handlungszusammenhängen Orientierung zu geben vermag. Demokrit ist nämlich in erster Linie ein Naturforscher, d.h. er vertritt keinen spekulativen, sondern einen empirischen Philosophiebegriff. Basis seines Philosophierens ist die persönliche Erfahrung. Diese gewinnt er insbesondere auf Reisen. Entsprechend zeichnet er sich durch Weltläufigkeit aus. Diese Weltläufigkeit führt zu einem Wissen darüber, wie viele unterschiedliche und gleichermaßen begründete Anschauungen und Werte es in der Welt gibt und wie sehr es deshalb darauf ankommt, dass man sich in Toleranz übt. Für Aufklärer wie Wieland und Kant ist Toleranz aber nicht Duldung, sondern Respekt gegenüber anderen Überzeugungen und Handlungsweisen. Die Grundlage des Respekts ist jedoch genau das, was auch die Grundlage des Rechts ist: das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung. Eine solche Anerkennung ist aber gerechtfertigt möglich nur auf der Grundlage der doppelten Selbsterkenntnis der Vernunft, die im Bewusstsein zugleich von der eigenen Unersetzlichkeit und der eigenen Unzulänglichkeit besteht. Darin ist zugleich erkannt und anerkannt, dass es, mag es auch niemals eine endgültige Begründung geben, zum Austausch von Gründen keine Alternative gibt.

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Ein solcher demokritischer Kosmopolitismus steht der abderitischen Provinzialphilosophie, die sich selbst für den Nabel der Welt und die eigenen Auffassungen und Normen für das Maß aller Dinge hält, unversöhnlich gegenüber. Ihr Ziel ist keine »Spaaßphilosophie« (Schopenhauer 1988: 151ff.), die alle Begründungen und Argumenten fröhlich verabschiedet und die Schopenhauer so überaus beredt gescholten hat, sondern eine lachende Philosophie. Die Abderiten nun sind vielleicht zum Lachen. Es besteht allerdings permanent die Gefahr, dass man als Kosmopolit in ihrer Gesellschaft bald nichts mehr zum Lachen hat. In Abdera herrscht, mit Hegel (1970b: 393, vgl. auch 1970a: 219f.) gesprochen, die reine »Prosa der Verhältnisse« – die »Poesie des Herzens« hat hier nichts zu gewinnen. Die abderitische Polis am Rande des griechischen Kulturraums stellt also nicht im Geringsten eine Idylle dar. Sie steht zwar dem militaristischen Sparta denkbar fern; sie ist aber auch ein Gegenort zur gebildeten und kultivierten ›Metropole‹ Athen. Vor allem ist Abdera jedoch das buchstäbliche Gegenteil einer Utopie: es ist kein Nicht-Ort von idealem Charakter, sondern ein sehr realer Ort, der überall und allenthalben ist. Das macht Wieland selbst in seinem Essay DER SCHLÜSSEL ZUR ABDERITENGESCHICHTE von 1781 deutlich, mit dem er auf die schon kurz nach dem Erscheinen des Romans überaus lebhaft geführte Diskussion um die ABDERITEN als einen ›Schlüsselroman‹ reagiert. Die Abderiten, heißt es dort, »leben und weben noch immer fort, wiewohl ihr ursprünglicher Wohnsitz längst von der Erde verschwunden ist. Sie sind ein unzerstörbares, unsterbliches Völkchen: ohne irgendwo einen festen Sitz zu haben, findet man sie allenthalben« (Werke VI, 20: 302).

Halb resigniert, halb belustigt stellt Wieland fest: »an den Abderiten, wohin sie auch verpflanzt wurden und so viel sie sich auch mit andern Völkern vermischt haben, hat man nie die geringste wesentliche Veränderung wahrnehmen können« (ebd.: 303f.). Ihr Hauptcharakteristikum sei entsprechend »die seltsame Eigenschaft der Einförmigkeit und Unveränderlichkeit« (ebd.: 305). Dieser Einschätzung Wielands ist es zuzuschreiben, dass er seine GESCHICHTE DER ABDERITEN, wie er im »Vorbericht« schreibt, als einen »Beytrag zur Geschichte des menschlichen Verstandes« (Werke VI, 19, 5) versteht. Sein Anspruch ist es, mit der Schilderung der abderitischen Verhältnisse überhistorische Konstanten identifiziert zu haben. Hinter der Satire steht also ein ernster anthropologischer Impetus: die Darstellung folge dem »Gewährsmanne […] der Natur selbst« (ebd.). Es griffe darum auch zu kurz, in Wielands Text bloß einen weiteren Beleg für die »Identifizierung von Kleinstadt und Anti-Moderne« (Benne 2012: 150) zu sehen, die Darstellung der Kleinstadt Abdera entsprechend nur als »Kennzeichnung von rückständigen, kleinbürgerlichen, langweiligen, unmodernen Lebensverhältnissen« (Hannemann 2002: 271) zu betrachten und auf dieser Basis festzustellen, dass sich diese Thematik in der ›Geburtsstunde der Moderne‹, das heißt also zur Zeit der Aufklärung mit besonders

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brennender Deutlichkeit gestellt hätte – als handelte es sich um eine unausweichliche geschichtliche Notwendigkeit. Die GESCHICHTE DER ABDERITEN ist, im antiken Gewand, weniger auf die Kleinstaaterei im Deutschen Reich des 18. Jahrhunderts als auf deren ideelle, vor allem rechtliche Grundlagen gemünzt. Die Diskussion dieser Grundlagen hat weit über das 18. Jahrhundert hinaus eine hohe Aktualität. Vor allem aber sind die rechtlichen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder von Neuem bedroht. Aus der Einsicht Wielands, dass »das alte Völkchen der Abderiten nicht so gänzlich ausgestorben war, als ich mir eingebildet hatte« (Werke VI, 20: 301), erwächst die Erkenntnis, dass der Kosmopolit vor dem Kleinbürger, dem Bewohner der geistigen Provinz, stets auf der Hut sein muss. Deshalb ist es, im Hinblick auf die Abderiten, erzählerisch wie philosophisch nur konsequent, dass der lachende Philosoph Demokrit nach Beendigung des Prozesses um des Esels Schatten beschließt, aus Abdera, das er sich ursprünglich als Rückzugs- und Besinnungsort ausgewählt hatte, »mit Sack und Pack« auszuwandern (ebd.: 167f.). Damit ist zwar die pragmatische und kosmopolitische Philosophie ebenso gescheitert wie die Reform der rückständigen abderitischen Gesellschaft. Sie hat sich aber wenigstens vor der Provinzialphilosophie in Sicherheit gebracht. Zurück bleiben die Esel. Und sie werfen wechselseitig aufeinander ihre langen Schatten.

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Reinheit und Gefährdung Zur Dekonstruierbarkeit des kleinstädtischen Idylls in Goethes Hermann und Dorothea Y AHYA E LSAGHE

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DEUTSCHESTE ALLER

D ICHTUNGEN

Mit HERMANN UND DOROTHEA, so gab Goethe selber zu Protokoll, habe er »den Deutschen einmal ihren Willen gethan« (Goethe 1987, IV, 13: 5); eine distributions- und rezeptionsgeschichtlich leicht erhärtbare Aussage. Für keinen anderen Text scheint Goethe ein so hohes Honorar erhalten zu haben. Es lag um ein Mehrfaches über dem Handelsüblichen (vgl. Tietzel 1999: B7). Bis 1945 sollte der Text zum Kernbestand des deutschen Bildungskanons gehören. Die Inhalte des berüchtigten Kriegsabiturs konnte Günter Grass in dem makabren Asyndeton zusammenfassen: »vormittags Hermann und Dorothea, nachmittags das Gewehr 98 K« (Grass 1987: 102). Die besondere Bedeutung, die HERMANN UND DOROTHEA zumal bei der nationalen Selbstvergewisserung zufiel, zeigte sich besonders im Umkreis der Ereignisse, die im Lauf der deutschen Einigungsgeschichte Epoche machten. So am 28. März 1849 in der Frankfurter Paulskirche, als Eduard Simson alias von Simson, Präsident der konstituierenden Reichsversammlung und ein Menschenalter später Gründungspräsident der Goethe-Gesellschaft, das einstimmige (aber wegen der vielen Enthaltungen dennoch nur knapp mehrheitliche) Ergebnis der Kaiserwahl bekanntgab, das die Einheit Deutschlands hätte besiegeln sollen. Zur feierlichen Untermalung des vermeintlich historischen Augenblicks griff Simson nicht auf irgendeinen »Ausspruch des Dichters« zurück, »dessen Wiege vor jetzt fast einem Jahrhundert in dieser alten Kaiserstadt gestanden hat« (Simson 1849: 6093); sondern er zitierte zu diesem Zweck die Figurenrede eines Kleinstädters ausgerechnet aus HERMANN

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DOROTHEA, wenn auch ziemlich ungenau. Die unterlaufenen Ungenauigkeiten sind wohl – soweit sie nämlich nicht auf das Konto eines Protokollanten gehen – ihrerseits noch ein Zeugnis dafür, wie weit verbreitet und wie leicht verfügbar gerade dieses eine Werk gewesen sein muss. Denn allem Anschein nach rezitierte Simson aus dem Gedächtnis und aus dem Stegreif: UND

»Nicht den [statt: ›dem‹] Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung Ziellos fortzuleiten, zu schwanken [statt: ›Fortzuleiten, und auch zu wanken‹] hierhin und dorthin, Dieß ist unser; so laßt [statt: ›laß‹] uns sprechen und fest es behalten [statt: ›sagen und so es behaupten‹].« (Ebd.)

Mit Hermanns Schlussworten, konservativ oder reaktionär, wie sie es nun einmal sind, hatte Simson eine wirklich staunenswert geschickte Wahl getroffen. Denn dem gewählten Kaiser gegenüber gaben sie sozusagen ein Stillhalteversprechen ab. Und »unserem edlen Volke« gegenüber, »wenn es auf die Erhebung des Jahres 1848 und auf ihr unerreichtes Ziel zurückblickt[e]« (ebd.), enthielten die herausgegriffenen Verse eine implizite Bitte, Aufforderung oder Warnung, sich mit dem scheinbar erreichten Teilziel zufriedenzugeben. »Dieß ist unser; so laßt uns […] fest es behalten.« Zu behalten freilich gab es vorerst herzlich wenig. Der Kaiser, man weiß es, lehnte die Wahl schnöderdings ab. Und nachdem es dann endlich doch noch zur Einigung gekommen war, ohne weitere Erhebung des edlen Volkes, und als dasselbe das Wiegenfest »des Dichters« zum ersten Mal im neu gegründeten Reich begehen konnte, da tat das der Historiker Alfred Dove, indem er HERMANN UND DOROTHEA zu Goethes »deutscheste[m] […] Gedicht[]« (Dove 1871: 283) ausrief bzw. wiederausrief. Denn die aberwitzige Formel vom ›deutschesten Werk‹ hatte schon Tradition und sollte im Übrigen auch weiterhin Schule machen. HERMANN UND DOROTHEA war und blieb in seiner »deutschesten Deutschheit« (Varnhagen von Ense 1858: 113) die »deutscheste« unter allen »Dichtung[en]« des Nationaldichters (Engel 1906: 654), das »deutscheste[] […] Epos unserer ganzen Literatur« (Thouret 1898: 55f.) – und so weiter und so fort. Die meisten der hier einschlägigen Belege stammen nun aber aus einer Zeit, da Deutschland von einer binnengeographischen Mobilität sondergleichen erfasst wurde und zumal seine großen Städte durch einen bisher beispiellosen Wachstumsschub geprägt waren (vgl. Boa 2006: 22). Diese Koinzidenz dürfte keine ganz zufällige sein. Denn die nationalen Vereinnahmungen des Texts als eines »Epos vom deutschen Bürgertum« (Petsch 1935) hatten vermutlich nicht zuletzt mit der Rolle zu tun, die die Kleinstadt darin spielt, oder mit dem nostalgischen Licht, unter dem sie darin erscheint. Das lässt sich wiederum auch rezeptionsempirisch belegen. Denn gleich mehrere Kleinstädte erhoben den Anspruch, in Goethes namenlosem

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»Städtchen« (Goethe 1958: I, 57 u.ö.) portraitiert zu sein (vgl. z.B. Huther 1888: 73f.).

A NTIKISIERENDE F ORM Das so gerne angenommene Identifikationsangebot, das Goethe den Deutschen und vor allem dem deutschen Bürgertum mit dem notorisch deminuierten »Städtchen« machte, beruht auf dessen Verklärung. Verklärt wird die Kleinstadt zu einem Ort unentfremdeten Lebens, dem auch die »Fabriken« (Goethe 1958, I: 58) daselbst nichts anhaben können, weil das Wort hier noch in seiner alten, vorindustriellen Bedeutung zu nehmen ist: officina, ›Werkstatt‹ (vgl. Grimm 1984, 3: 1217). Der Topos vom unentfremdeten Leben erscheint so denn auch in den programmatischen Worten der gleichnamigen Elegie, die HERMANN UND DOROTHEA einmal hätte ankündigen sollen: »Wo sich, nah der Natur, menschlich der Mensch noch erzieht« (Goethe 1987, I, 1: 294). Denselben Anspruch auf Naturnähe und Ursprünglichkeit erhebt auch die eigenwillige Form, in der das Städtchen als Ort dessen präsentiert wird, was Goethe selber gerade in Hinblick auf die Wahl dieser Form als »das reine menschliche der Existenz« bezeichnete (Goethe 1987, IV, 11: 273). Das reine Menschliche habe er »von seinen Schlacken abzuscheiden gesucht« (ebd.). Zu diesem Zweck wählte er folgerecht das Gefäß einer archaischen Urform. Nicht umsonst lag ARMINIUS ET THEODORA ziemlich bald in gleich mehreren altsprachlichen Übersetzungen vor (vgl. Fischer 1822; Winckler 1823; Berlichingen 1825; Winckler 1830; Dühr 1888), lateinischen und griechischen Rückübersetzungen oder, sozusagen, Wiedervereigentlichungen, deren eine Goethe selber dem deutschen Original vorzog (vgl. Eckermann 1836: 194). Dieses lehnt sich an die älteste Erzählform an, die sich in der europäischen Überlieferung erhalten hat. Dabei griff Goethe nicht eigentlich auf das Homerische Epos zurück. Vielmehr orientierte er sich an dessen Vorform. Eine solche hatte seinerzeit Friedrich August Wolf gerade eben erschlossen bzw. wiedererschlossen.1 Anstelle des einen Homer postulierte Wolf eine Vielzahl von Homeriden, wie er sie in Anlehnung an einen verbürgten Wortgebrauch der alten Griechen nannte. Mit seiner bahnbrechenden Theorie, die Goethe freilich in einer ersten Skizze zunächst denkbar »schlecht erbaut[e]« (Goethe 1987, IV, 10: 260), habe Wolf »uns befrei[t]«. In der Elegie wird ihm das eigens gedankt:

1

Indessen scheint Wolf damals von Giambattista Vicos SCIENZA NUOVA (1725) (Vico 1966: 161-176; vgl. Grafton/Most/Zetzel 1985: 8-12) noch nichts gewusst zu haben (vgl. Fisch/Bergin 1944: 69).

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»Erst die Gesundheit des Mannes, der, endlich vom Namen Homeros Kühn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn. Denn wer wagte […] den Kampf […] mit dem Einen? Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.« (Goethe 1987, I, 1: 294)

Die Homerischen Epen also, die nach übereinstimmenden Zeugnissen erstmals im Athen der Peisistratiden redigiert wurden, sind Wolf zufolge in ihrer monumentalen oder, wenn man so will, metropolitanen Größe sekundäre Erscheinungen. Sie sind kompiliert aus einzelnen Heldenliedern, überblickbaren Kleinepen oder, mit einem wiederum schon altgriechischen Terminus, Rhapsodien. Indem Goethe hiermit die Autorität des übermächtigen »Einen« durch ein Kollektiv anonymer Sänger ersetzte, in das sich nunmehr auch er einzureihen den Mut fand, vollzog er auf philologisch-poetologischem Gebiet und in sublimierter, aber eben doch auch homologer Form einen Akt der ›Befreiung‹, wie er auf deutschem Territorium in politicis eh und je ausblieb, siehe oben. Jenseits des Rheins war er jedoch blutiger Ernst geworden, in der Französischen Revolution, dem für Goethe »schrecklichste[n] aller Ereignisse« (Goethe 1987, II, 11: 61). Es entbehrt daher nicht der Pikanterie, wenn er, als befreiter Homeride, ausgerechnet in HERMANN UND DOROTHEA so entschieden wie nirgends sonst gegen dieses Ereignis Stellung bezog. Als heiles Reservat und von der Revolution verschontes Refugium des auch schon formaliter ratifizierten Rein-Menschlichen wird die Kleinstadt nach zwei Seiten hin profiliert. In einer Art aurea mediocritas wird sie einerseits gegen »Dorf« (Goethe 1958: II, 19) und »bäurische[]« (ebd.: II, 263) Lebenswelt ausgespielt, anderseits aber auch gegen die »Städte […], die großen« (ebd.: III, 25). An diesen – Straßburg, Frankfurt, Mannheim – nimmt der von einem frustrierten Wunsch nach sozialer upward mobility besessene Vater des Protagonisten Maß; was zu einem massiven Generationenkonflikt mit ebendiesem Protagonisten führt, einem Ausbund kleinstädtischer Selbstbescheidung, Bodenständigkeit und Solidität.

D IE HYGIENISCHE C ODIERUNG DER K LEINSTADT Um die namenlose und schon als solche idealtypische Kleinstadt gegen die Extreme abzuheben, deren Mitte sie hält, Dorf und Großstadt – oder was man damals unter dem eben aufkommenden Prädikat ›großstädtisch‹ verstand (vgl. Grimm 1984, 9: 581f.) –, werden gleich mehrere Codes mobilisiert. Zur Abgrenzung gegen die dörfliche Sphäre dient zunächst die von der Religionssoziologin Mary Douglas unter dem Titel PURITY AND DANGER untersuchte Opposition von Reinlichkeit und Verschmutzung, Gesundheit und Infektion, Sicherheit und Todesgefahr, Leben und Sterben (Douglas 1966). Ein derartiges Binom lässt sich etwa an den ver-

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schiedentlich inserierten Details der Infrastruktur ausmachen, besonders der Wasserversorgung. Im Unterschied zu den »wasserreichen, verdeckten, / Wohlvertheilten Kanäle[n]« des reinlichen Städtchens sind, kaum ist ein Zug von Flüchtlingen eingetroffen, schon »alle / Tröge des Dorfes beschmutzt und alle Brunnen besudelt« (Goethe 1958: III, 29f.; VII, 33f.). »Alles Wasser getrübt im Dorfe« (ebd.: VII, 31): Solche Unreinlichkeit bildet in der Handlungsregie nota bene die unmittelbare und unverzichtbare Voraussetzung für die Wiederbegegnung des Protagonisten mit der Deuteragonistin. Sie ist zugleich auch die Bedingung für deren ersten Auftritt in persona. Diesen zögerte Goethe aus guten Gründen und mit wohlweislicher Absicht bis ins letzte Drittel seines Kleinepos hinaus. »Goethe fühlt, daß, sobald seine Dorothea auftrete, Hermann […] nur zur zweiten Figur herabsinken müsse« (Böttiger 1838, 1: 77). So Karl August Böttiger, ein Augen- oder Ohrenzeuge der Werkentstehung. Um das dort erhöhte Infektionsrisiko zu umgehen, entfernt sich die weibliche Hauptfigur vom Dorf. Doch immer schon – seit ihrer »Jugend« (Goethe 1958: VIII, 41) – hat sie sich vom »bäurische[n]« Milieu ferngehalten, von dem ihr Schwiegervater in spe befürchtet, dass Hermann die Braut seiner, Hermanns, Wahl daraus rekrutiere: »Aber denke nur nicht, du wolltest ein bäurisches Mädchen Je mir bringen ins Haus, als Schwiegertochter, die Trulle!« (Ebd.: II, 263f .)

Dorothea also, »von jung auf« mit den Standards französischer »Höflichkeit« vertraut (ebd.: VIII, 43, 48), verlässt das verdreckte Dorf, um außerhalb Wasser »zu schöpfen, wo rein und unablässig der Quell fließt« (ebd.: VII, 29), und zugleich eben auf den mehr oder weniger zufällig daselbst stehenden Hermann zu treffen. Ihre endliche Reintegration in die heile Sphäre der Kleinstadt steht somit a limine im Zeichen der Hygiene. Dabei dient der reinliche Brunnen im siebten Gesang, ERATO / DOROTHEA, nicht nur handlungslogisch als Katalysator dieser Reintegration: Seinem Titel zum Trotz finden Dorothea und Hermann während dieses ›erotischen‹ Gesangs zwar noch keineswegs zueinander – jedenfalls nicht auf der Ebene der symbolischen Ordnung. Aber auf der Ebene des Imaginären gelingt die Paarbildung hier schon sehr wohl. Sie ereignet sich in einem Spiegelstadium à deux. Eine Spiegelung seiner selbst zeigt dem Paar, das noch keines ist, seine Bestimmung, eines zu werden; genau so eben, wie Spiegelbilder dem menschlichen Tragling dessen erst noch zu erlangende Selbstkoordination gleichsam vormachen und durch solche Antizipation des self-containment die »Ich-Funktion« zu bilden helfen (Lacan 1973):

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»[…] auf das Mäuerchen setzten Beyde sich nieder des Quells. Sie beugte sich über, zu schöpfen; Und er faßte den anderen Krug, und beugte sich über. Und sie sahen gespiegelt ihr Bild in der Bläue des Himmels Schwanken, und nickten sich zu, und grüßten sich freundlich im Spiegel. Laß mich trinken, sagte darauf der heitere Jüngling; Und sie reicht’ ihm den Krug. […] Also standen sie auf und schauten Beyde noch einmal In den Brunnen zurück, und süßes Verlangen ergriff sie.« (Goethe 1958: VII, 38-44, 106f.)

S EX

UND

G ENDER

Das reine Wasser gibt im vollen Sinn des Worts das Medium der Paarwerdung ab. Die Spiegelszene an der sauberen Quelle ist gleichsam die Bildnerin einer Wiroder Dual-Funktion, abgeschlossen und emphatisiert durch das einzige eindeutig als solches identifizierbare Homer-Zitat des Texts: »und süßes Verlangen ergriff sie«2. Durch dieses Zitat einer jahrtausendealten Versformel wird die Szene am Brunnen zu einer zeitlosen stilisiert, nicht weniger durch ihre alttestamentlichen oder »patriarchalische[n]« Reminiszenzen, die den bibelfesten Zeitgenossen erst recht nicht entgehen konnten (Böttiger 1838, 1: 79). Die also gleich doppelt als archetypische ausgewiesene Szene, die in den bebilderten Ausgaben des Texts immer wieder gern mit einer Illustration gewürdigt wurde (vgl. z.B. Goethe 1868: 86/87; Goethe 1878: 48/49; Assel/Jäger 2017a und 2017b), fixiert die Frau nun aber von Anfang bis Ende auf eine mütterlich-altruistische Position (vgl. Kittler 1978: 114-124; Greiner 1989: 292-295; Elsaghe 1992: 27-35). Es beginnt damit, dass Dorothea mutmaßlich für eine Niedergekommene und deren Säugling Wasser holen will; und es endet mit Hermanns Aufforderung oder, morphologisch genau genommen, mit seinem Befehl an sie, ihn trinken zu lassen. Diese mehrfache Fixierung ihrer Geschlechterrolle ist Teil und Ausdruck einer Textdynamik, in der der Kleinstadt eine auch gendertheoretisch beschreibbare Funktion zufällt. In deren Konsequenz leuchtet die Kleinstadt als Ort auch in sexualibus und eroticis heiler Zustände desto verheißungsvoller. Die Kleinstadt ist durch intakte Geschlechterverhältnisse ausgezeichnet. Sie wird so von der ›großstädtisch‹-urbanen Kultursphäre abgegrenzt. Im Dunstkreis

2

Es handelt sich hierbei um eine wörtlich genaue Wiedergabe der griechischen Formel (Homer 1945f.: III, 446; XIV, 328); und zwar so genau, wie sie Goethe weder bei Voss noch in sonst einer Übersetzung hätte finden können.

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der Stadt und ihres tertiären Wirtschaftssektors sind die Männer dermaßen effeminiert, dass ihnen Hermann, geborener Landmann, der er ist, die Anerkennung ihrer Männlichkeit vorenthält. Hermann oder, in der Erstausgabe und in vielen anderen Drucken: »Herrmann« (Goethe 1797; Goethe 1988; vgl. Goethe 1963: 193f.) setzt sie selbst grammatisch zu Neutra herab: »jene Handelsbübchen, […] um die, halbseiden, […] das Läppchen herumhängt« (Goethe 1958: II, 211f.). ›Die‹ Frau aber nimmt außerhalb des Städtchens amazonisch-bedrohliche Züge an. Diese werden auf dem Weg in die niedliche Kleinstadt und besonders auf dem Boden derselben sukzessive bereinigt. Je näher die weibliche Hauptfigur ihrer neuen Heimat kommt, desto stärker wird sie auf stereotyp weibliche Merkmale reduziert. Die Identifikationsofferte, die der Text damit allen Leserinnen machte – zu denen denn selbst »Mägte« und »Nätherinnen« en masse gehören sollten (Goethe 1889: 157) – wurde im Lauf seiner Distributions- und Illustrationsgeschichte verstärkt und sekundiert. So wurde offenbar die Luxusvariante der Erstausgabe mit häuslich-herzigen Papierscherchen und -messerchen geliefert (vgl. Helmerking 1948: 26; Böttiger 1838, 2: 205) – von der Wahl der Szenen ganz zu schweigen, die die Illustratoren künftiger Ausgaben treffen sollten. Und wenn es nach Goethes »Vorstellungen« (Goethe 1987, IV, 12: 12) gegangen wäre, hätte selbst schon die Erstausgabe in hier genau einschlägiger Weise illustriert werden sollen. Dabei dachte er an vier bis zwölf Kupferstiche nach Motiven aus seinem nächstälteren Erzählwerk, WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE (vgl. Scheibe 1961: 272). Was er seinem Verleger daraus »zum Vorschlag« brachte (Goethe 1987, IV, 12: 12), waren einstweilen allerdings »nur zwey Situationen« (Böttiger nach Scheibe 1961: 272), und zwar zwei je sehr typisch weibliche Sujets: einerseits Philine, »ein Liebling des Dichters« (ebd.) und die einzige unter allen Frauen- und Mädchenfiguren des Romans, die nie männliche, amazonische oder androgyne Züge annimmt; und andererseits »die schöne Amazone« Natalie (Goethe 1987, I, 22: 43, 57), aber in ausgerechnet dem Augenblick, da »die Schöne« das männliche Attribut ablegt, das sie eben noch als Amazone erscheinen ließ, nämlich den »Überrock« ihres Onkels (ebd.: 45). Mütterlich »legt[]« sie in der betreffenden ›Situation‹ diesen »Rock sanft über« den verwundeten Wilhelm, um ihm in just diesem Moment, »ihr Haupt mit Strahlen umgeben«, als »Heilige« zu erscheinen (ebd.: 45f.). Und in einer ausgesucht mütterlichen Pose hätte selbst die ohnedies entschieden weibliche »Philinne« präsentiert werden sollen, wie sie nämlich ihrerseits den verwundeten Mann und Helden umsorgt, während »er auf dem Krankenlager liegt« (Böttiger nach Scheibe 1961: 272). In HERMANN UND DOROTHEA besteht der schwerste und rabiateste Verstoß gegen die Normen des Weiblichkeitsdiskurses, wie sie also auch und gerade die Illustrationsgeschichte des Texts belegt, in einer expresso adiectivo »männlichen« Tat, die eine Frau zu begehen wagt (Goethe 1958: VI, 116). Sie findet sich im sechsten Gesang, KLIO / DAS ZEITALTER. Wie schon dieser Titel antizipiert – Klio

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als Muse der Geschichtsschreibung und also der Vergangenheit –, soll er sich deutlich vor der eigentlich erzählten Zeit ereignet haben, in deren Verlauf Dorothea dem Städtchen integriert wird. Mit dieser zeitlichen geht eine auch räumliche Distanzierung einher. Die männliche Tat der Frau muss jenseits »des Rheinstroms« stattgefunden haben, mit dessen »Fluthen« »der Herr« die heile Welt der Kleinstädter vor den Scheußlichkeiten des Zeitalters »schützt« (ebd.: I, 190, 197). Jenseits dieses gottgewollten »Wall[s]« (ebd.: I, 194) und in einer also deutlich als solche markierten Vorzeit brach Dorothea das Gewaltmonopol der Männer, indem sie sich »bewaffnet« gegen die »wilde Begier« »verlaufnen Gesindels« wehrte (ebd.: VI, 118, 112, 108), das »mit Gewalt […] die Lust zum Entsetzen« zu pervertieren im Begriff war (ebd.: VI, 63). Schon die Rezeptionsgeschichte dieses Passus spricht für sich. Denn bereits in einem ersten Sekundärtext und dem allerersten Buch, das je zu HERMANN UND DOROTHEA erschienen ist, wurde er zu einem Stein oder Steinchen des Anstoßes. Gemeint sind Wilhelm von Humboldts ÄSTHETISCHE VERSUCHE, die freilich nicht über ihren ersten und eben einzigen Band hinaus gedeihen sollten: ÜBER GÖTHE’S HERRMANN UND DOROTHEA, gegen vierhundert Oktavseiten stark. Humboldt, zuvor soeben in mehreren Publikationen für sein Teil mit Fragen der Geschlechterdifferenz, ihren Naturgegebenheiten und ihrer ontologischen Unabänderlichkeit zugange (Humboldt 1795a, 1795b, 1795c), nahm den Passus von Dorotheas männlicher Tat als einzigen von seinem sonst so pauschalen wie überschwänglichen Lob aus (Humboldt 1799: 112f.). Dabei befand er es für nötig, seine Kritik als eine »nicht bloß subjectiv[e]« abzusichern (ebd.: 113). Zu diesem Ende berief er sich eigens auf noch »andere Leser« als sich selber (ebd.). Die also auch so noch anstößige Männlichkeit der zur Amazone Entarteten bleibt auf das linksrheinische Gebiet beschränkt und in die Vorvergangenheit des Erzählten versenkt. Ihre männliche und als solche nur ausnahmsweise »schöne[]« Tat (Goethe 1958: VI, 104) wird an Ereignisse gebunden, deren Epizentrum in der Groß- und Hauptstadt Paris liegt, der damals größten auf dem Kontinent. Dass in der Folge dieser Ereignisse das männliche Monopol auf Waffengewalt tatsächlich in Frage gestellt wurde (vgl. Opitz 1989), schlug in Deutschland wiederum nur auf Papier zu Buche. Hierher gehören namentlich die literarisch ausphantasierten Amazonenfiguren, die sich in der engeren und engen Nachbarschaft von HERMANN UND DOROTHEA herumtreiben: Penthesilea, die Jungfrau von Orléans, die cross-dressers in WILHELM MEISTERS LEHRJAHREN (vgl. Stephan 1993: 193-200), wo eben fast alle Frauenfiguren früher oder später einmal männliche Züge annehmen, bis auf die eine Ausnahme des »Liebling[s]« Philine; und es spricht natürlich Bände, dass Goethe ausgerechnet diese Ausnahme für die Illustration von HERMANN UND DOROTHEA vorsah, zusammen mit der Szene, in der das cross-dressing einer anderen revoziert wird und diese ihren leihweise getragenen Herrenmantel auszieht, um den verwundet daliegenden Wilhelm damit zuzudecken und so die vorübergehend

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verzitterte Genderdifferenz in einer mütterlichen Geste alsogleich wieder zu begradigen. In demselben Jahrgang der HOREN, in dem nach Goethes Willen jene gleichnamige Elegie das Kleinepos von HERMANN UND DOROTHEA hätte ankündigen sollen (vgl. Schwarzbauer 1993: 341f.), publizierte Wilhelm von Humboldt seine Übersetzung der neunten PYTHISCHEN ODE (nachdem er in diesem Organ auch jene Abhandlungen über die Natur der Geschlechterdifferenz veröffentlicht hatte). Die neunte PYTHIE, damals auch von Friedrich Hölderlin übersetzt (vgl. Hölderlin 1952: 376 vs. Hölderlin 1987: 25f.) und dichterisch anverwandelt (vgl. Seifert 1982: 295298; Elsaghe 1998: 189-194), artikuliert ihrerseits die Männerphantasie von der amazonischen Frau. Denn Pindar erzählt darin den Mythos der stark androgynen Heroine Kyrene: Wie sie »des Gewebes / ewig wiederkehrende Wege« (»der Nadeln lobens- / Werthe […] Wege«) oder »des häuslichen Mahles Ergötzung« (»der Mahle der häuslichen […] Ergözungen [sic]«) »an der Gespielinnen Seite« (»[m]it Freundinnen«) verschmähte und stattdessen lieber »mit ehernem Wurfspieß / und mit dem Schwerdte kämpf[te]« (»mit Pfeilen ehernen / Und dem Schwerdte streitend«) (Pindar 1797: 65; Hölderlin 1952: 103). Wie Humboldt und Hölderlin hier die Faszinationsfigur gewalttätiger oder gewaltfähiger Weiblichkeit mehrfach auf sichere Distanz halten – als Übersetzung einer archaisch-altgriechischen Erzählung von einer auch zu deren Zeit schon voroder urzeitlichen Vergangenheit –, so wird auch Dorotheas Amazonentum zeitlich und räumlich von der heilen Welt des Städtchens dissoziiert. Die dort noch integren Verhältnisse begründet ja schon die Elegie mit einer besonderen Nähe zur Natur, in deren Namen oder um deren Ordnung willen anderwärts die realen Versuche, das männliche Gewaltmonopol anzutasten, blutig unterdrückt wurden (vgl. Godineau 1994: 36): »Wo sich, nah der Natur, menschlich der Mensch noch erzieht.« Solche Nähe zum Naturgewollten und Naturgegebenen erstreckt sich schon in der Elegie nicht zuletzt oder gewissermaßen vor allem anderen auf sex und gender. Denn in der fiktiven Erzähl- oder Rezitationssituation, die dort entworfen wird, ist für eine »Gattin«, wie sie die Dorothea des Kleinepos zu werden im Begriff steht, nur eben eine in jeder Hinsicht dienende Rolle vorgesehen. Diese bleibt untergeordnet bis in die grammatische Funktion: »Schüre die Gattin das Feuer, auf reinlichem Herde zu kochen!« (Goethe 1987, I, 1: 293) Die dienende Frau wird an den sprichwörtlichen Kochherd gestellt und dieser bei der Gelegenheit nota bene gleich wieder mit einem epitheton ornans bedacht, das die »häusliche[]« (ebd.) Kleinwelt als eine immer auch hygienisch heile markiert. Dergestalt an den reinlichen Herd gebunden, wird die Hausfrau aus dem Kreis der »Freunde« und »Gleichgesinnte[n]« (ebd.: 294) herausgehalten und dazu noch nicht einmal einer direkten Anrede gewürdigt. Daran lässt die handschriftlich gesicherte und syntaktisch vollkommen stimmige Überlieferung des Jussivs keine Zweifel: »Schüre die Gattin […]!« – mag diese Befehlsform, zum Zeichen ihres

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denn doch allzu patent haustyrannischen Sexismus, von Seiten der affirmativen Goethe-Philologie auch angezweifelt worden sein, und zwar zu Gunsten einer auch nur schon grammatisch fragwürdigen bis unhaltbaren Lesart: »Schüret« (Trunz 1981: 613). Dem in der Ankündigung der Elegie evozierten Idealbild einer dienenden Gattin wird Dorothea während der Erzählzeit und der erzählten Zeit des realisierten Kleinepos sukzessive angenähert und angeglichen. Je näher sie dem Städtchen und in eins damit dem Auge der Rezipienten kommt – in jeweils herabgesetztem Mittelbarkeitsgrad –, desto mehr geht sie ihrer amazonischen Züge verlustig. Sie mutiert Schritt für Schritt zu dem »häusliche[n] Mädchen«, das die Kleinstädter in ihr verbis ipsissimis suchen (Goethe 1958: VI, 147): In einer Erzählung und Figurenrede des Gesangs KLIO, das heißt in der Vorvergangenheit des eigentlich Erzählten und links des Rheins, war Dorothea noch eine Amazone pure et dure. In Hermanns Botenbericht, am Anfang der erzählten Zeit, wagt sie es immerhin noch, von sich aus einen ihr bisher wildfremden Mann anzureden. In der folgenden Teichoskopie einer Nebenfigur erscheint sie dann bereits in einer mütterlich-weiblichen Pose, im sechsten der neun Gesänge (bzw., in der ursprünglichen Gliederung der Handschrift, dem vierten von sechs und also hart nach der Werkmitte): »Sie hat die Puppe [scil. einen Säugling] gewickelt« (ebd.: VI, 132) – eine Stelle wiederum, die sich die Illustratoren erwartungsgemäß nicht entgehen ließen (vgl. z.B. Goethe 1868: 72/73; Goethe 1878: 40/41; Assel/Jäger 2017b). Und im siebten (bzw. fünften und zweitletzten) Gesang steht ihr erster eigentlicher Auftritt im Zeichen hygienischer Vor- und altruistischer Fürsorge. Hermanns Offerte, in die geborgene Sphäre der Kleinstadt einzutreten, quittiert sie hier dankbar mit einer Sentenz, durch die sie ihre und die »Bestimmung« der Frau so definiert, wie es die Elegie für »die Gattin« vorgibt: »Dienen lerne bey Zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung« (Goethe 1958: VII, 114). Es spricht wieder Bände, wenn Humboldt »die ganze Unterredung« »am Brunnen« nicht hoch genug zu loben wusste (Humboldt 1799: 72f.), wenn sie auch sonst in der Rezeptionsgeschichte besonders akklamiert wurde und wenn sie selbst ihrem Verfasser lieb war wie nur eine. Schon bei der Uraufführung des Texts, als Goethe die im vollsten Wortsinn »patriarchalische Pastorale« des Gesangs ERATO / DOROTHEA und eben just auch diesen einen Vers einem handverlesenen Publikum vorlas – »eine der schönsten Stellen über die Bestimmung des Weibes« – hatten nach Böttigers Zeugnis »der Vorleser« und seine Zuhörer »Thränen im Auge« (Böttiger 1838, 1: 79). Wie ansprechend die schöne Stelle über die Bestimmung des Weibes für eine patriarchalisch gesinnte Rezeptionsgemeinde war und blieb, sollte sich noch jahrhundertelang zeigen. Noch in den 1970er Jahren vermochte sie einen freisinnigen Germanisten zu ergötzen. Er interpretierte sie als raffiniert »versteckte[n] Hinweis« auf eine tiefere Bewandtnis, die es mit der volksetymologischen Lesart des Vorna-

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mens »Herrmann« habe, mit dem diesem einbeschriebenen Machtanspruch des gleich doppelt denotierten Männer- und Herrengeschlechts (Willoughby 1972: 273). Solchen patriarchalen Norm- oder Wunschvorstellungen genügt der weitere Gang der Handlung je länger, desto vollständiger. So zum Beispiel dort, wo er im eigentlichen Sinn einer räumlichen Bewegung zum Erliegen kommt oder sistiert wird, das heißt im vorletzten (ursprünglich letzten) Gesang, HERMANN UND DOROTHEA. Der Untertitel antizipiert nicht umsonst, dass die Paarbildung bald zu ihrem guten Ende gelangt. Denn noch vor dem Haus, auf das sie Hermann gleich expressis verbis festlegen wird, aber eben schon auf dem Gebiet des Städtchens, in das »sie geborgen« (Goethe 1958: VII, 191) zu werden im Begriff ist, verliert Dorothea ihre Selbstständigkeit im wahrsten Sinne des Worts: »Aber sie […] Fehlte tretend; […] sie drohte zu fallen. Eilig streckte gewandt der sinnige Jüngling den Arm aus, Hielt empor die Geliebte; sie sank ihm leis’ auf die Schulter, Brust war gesenkt an Brust und Wang’ an Wange. So stand er, Starr wie ein Marmorbild, […] Trug mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes.« (Ebd.: VIII, 89-98)

Mag der hilflos und hilfsbedürftig gewordenen Frau ausgerechnet hier noch einmal »Heldengröße« attestiert sein, so wird das Heroische ihrer Weiblichkeit doch stante pede durch einen ästhetisierenden Vergleich von der Realität abgerückt, ganz ähnlich wie auf der Theaterbühne eine Pentesilea oder eine Jungfrau von Orléans. Es wird zum Marmorbild arretiert und in die Fiktionalität eines tableau vivant oder einer statue vivante hinübergespielt, und das heißt natürlich auch: verharmlost. Genau gegenläufig dazu gewinnt der Protagonist durch die Schwächung des weiblichen Parts erst seine vollgültige Geschlechtsidentität. Der bisher so verzagte, schüchterne und vom Kriegsdienst dispensierte »Jüngling«, nachdem er sein ohnmächtiges Leiden am »›non‹ du père« (Foucault 1962: 195) eben noch an der Brust der Mutter ausgeweint hat (vgl. Goethe 1958: IV, 155f.), erlangt nun erst wahres »Mannesgefühl«. Wenig später, als sich »das Mädchen« »bebe[nd]« an seinem starken »Arm« festhält (ebd.: IX, 3, 294f.), beansprucht der zum vollwertigen Mann Gewordene denn auch prompt die Rolle eines Kriegers für sich. Indem er die Geschlechterrollen in ähnlicher Weise klarstellt wie der Autor der LEHRJAHRE durch jene einmal zur Illustration vorgesehene Geste der Natalie, fordert er seine nunmehrige Verlobte auf, ihm »die Waffen« zu »reiche[n]« (ebd.: IX, 314), wie sie einst selbst einmal eine zu führen wagte. Jetzt dagegen, in seinem mit ausdrücklich »männlicher

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Rührung« (ebd.: IX, 298) gesprochenen Schlusswort, legt er ihre nun so ganz und gar nicht mehr amazonische Person auf das Haus und die Familie fest: »Denn es werden noch stets die entschlossenen Völker gepriesen, Die für Gott und Gesetz, für Eltern, Weiber und Kinder Stritten und gegen den Feind zusammenstehend erlagen. Du bist mein; und nun ist das Meine meiner als jemals. […] [S]o rüste mich selbst und reiche die Waffen. Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus und die liebenden Eltern, O, so stellt sich die Brust dem Feinde sicher entgegen.« (Ebd.: IX, 308-316)

Die martialisch-virile Selbstgewinnung geht hier also mit prachtexemplarischer Deutlichkeit auf Kosten der Frau. Diese, vordem zur Amazone emanzipiert, wird ganz buchstäblich entwaffnet und verhäuslicht. Die Amazone ist nunmehr zur Hausfrau erniedrigt. Die damit erzielte Vollständigkeit der männlichen Selbstvergewisserung äußert sich nicht zuletzt in einem kühnen Verstoß gegen die symbolische Ordnung der Sprache (und insofern, als diese im Namen des Vaters erlassen ist, in einer ödipalen Rebellion, wie sie an der Brust der Mutter eben noch ausblieb). Seine unbedingten Besitzrechte an der Frau behauptet der jetzt zum vollwichtigen Mannsbild Mutierte mit einem agrammatischen und paradoxalen Komparativ des Possessivpronomens: »meiner als jemals«.

S ELBSTDEKONSTRUKTIONEN DES KLEINSTÄDTISCHEN I DYLLS Etwas genauer besehen freilich, als es die patriotische Patina lange erlaubte, die Hermanns einst so gern zitierten Schlussworte anlagerten, lassen sich diese scheinbar so beherzten Worte mühelos dekonstruieren und auf das Gegenteil dessen hin durchsichtig machen, was sie gleichsam kontraphobisch bekräftigen – auch abgesehen von dem pikanten Faktum, dass sie dem Text erst nachträglich aufgesetzt wurden (vgl. Elsaghe 1991), wie man früh hätte sehen können (vgl. Hewett 1892: 209f.; Cholevius 1897: 65), aber geflissentlich übersah oder auch übersehen wollte. Sie geben etwas zu erkennen von einer Einsicht in die Unhaltbarkeit des mit noch so männlicher Rührung Behaupteten. Stabilität oder Zeitlosigkeit der in der Kleinstadt herrschenden Verhältnisse sind hier ganz vergebens beschworen. Denn die entschlossenen Völker, mit denen Hermann sich und die Seinen hier vorgeblich so frohgemut und zuversichtlich vergleicht, erweisen sich am Ende der pathetisch gestreckten Satzkaskade als solche, die dem Feind trotz allem – »erlagen«.

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Ebenso fadenscheinig ist die infrastrukturell-räumliche Choreographie, mit dem das idyllische Reservat der Kleinstadt und das in ihm bewahrte Rein-Menschliche gegen die Verheerungen des Zeitalters von den ersten Versen an abgeschottet wird. Bereits diese installieren eine genau bezifferte Wegstrecke zwischen der Kleinstadt und dem Verkehrsnetz, das die Flüchtlinge und was sie personifizieren am Städtchen vorbeiführt. Es ist ein »Dammweg« (Goethe 1958: I, 6, Hervorhebung Y. E.), der gleich am Anfang mit diesem sehr sprechenden Nomen bezeichnet wird und nicht etwa als ›Straße‹, was metrisch-prosodisch ebenso nahe und vom Textganzen her sogar ungleich näher gelegen hätte. Denn die Signifikanz des sprechenden Kompositums verrät sich schon darin, dass dessen eine Hälfte hier um den Preis einer Inkohärenz erkauft ist. Später nämlich ist von keinem Dammweg mehr die Rede, sondern unversehens doch noch von einer Straße, noch genauer genommen einer »großen Straße« (ebd.: III, 39). Die Distanz zu diesem bedeutsam so genannten Dammweg, welchem die Flüchtlinge folgen und der sie an der Kleinstadt vorbeilenkt, beträgt »immer ein Stündchen« (ebd.: I, 6). So steht es in einem der ersten Verse, mit einer wiederum bezeichnenderweise ambivalenten Formulierung, »immer ein Stündchen«: Das Adverb konzediert erst die Beträchtlichkeit des Abstands; die Deminuierung der Zeitangabe hingegen nimmt sie dann doch wieder zurück. Können Handlungsregie und Raumarrangements den Abstand des Städtchens zur »Bewegung« (ebd.: IX, 305) des Zeitalters also schon hier nur mit erheblichen Anstrengungen aufrechterhalten, so drohen solche Distanzierungsversuche in Zukunft ohnedies gänzlich hinfällig zu werden. Denn wie man einer nebenher in einer Figurenrede fallengelassenen Bemerkung entnehmen muss, wenn man diese Rede mit gleichschwebender Aufmerksamkeit liest, ist ein »Chausseebau« bereits »beschlossen« (ebd.: III, 38f.). »Fest beschlossen«, wird er die Kleinstadt an das noch »immer ein Stündchen« entfernte Verkehrsnetz der »großen Straße« anbinden (ebd.: III, 39). Damit ist das Ende des kleinstädtischen Idylls besiegelt. Die Tage der räumlichen Voraussetzung sind gezählt, aufgrund derer die Kleinstadt als Biotop des ›Ewigen Menschen‹ (Barthes 2012: 292) paradiert werden kann. Die selbstgratulatorischen Gesten des Kleinepos und seine Appelle an die deutschen Kleinstädter sind also ohne großen Aufwand dekonstruierbar. Das Städtchen bleibt nur vorläufig von der furchteinflößenden Bewegung verschont, wie sie epizentrisch von der größten Groß- und der »Hauptstadt der Welt« ausgeht: »die es schon so lange gewesen, / Und jetzt mehr als je« (Goethe 1958: VI, 15f.). Die Kleinstadt, zum Ort des wahren Menschen und echten Deutschen emporstilisiert, wird in HERMANN UND DOROTHEA als solcher wider besseres Wissen von der Dynamik des angebrochenen Zeitalters abgesetzt. Dieses bessere Wissen oder schlechte Gewissen eben geben die Fehlleistungen zu verstehen, die in der mehr als zweihundertjährigen Forschungs- und Rezeptionsgeschichte des Texts im Interesse seiner nationalistischen Vereinnahmbarkeit nicht von ungefähr unterschlagen wurden.

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R EINHEIT

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Zwischen Beharrung und Beschleunigung Johann Peter Hebel als Chronist der Kleinstadt K EVIN D REWS

E INLEITUNG »Denn der Kaiser Napoleon ist so schnell in seinen Unternehmungen und macht so kurzen Prozeß, daß selbst ein Komet nicht geschwind genug zur Sache tun kann, wenn er noch zu rechter Zeit will da sein, und ist dem Hausfreund auch so gangen, hat den preußischen Krieg auch erst angekündet, als er schon vorbei war.« (Hebel 1984: 287)

Was der rheinländische Hausfreund hier dem geneigten Leser zum Neujahr 1809 als Einleitung in den neuen Kalender über die Dynamik historischer Ereignisse eröffnet, scheint auf den ersten Blick den Gebrauchswert des Kalenders 1 ernstlich

1

Ludwig Rohner schlägt in seiner maßgeblichen Studie über Kalendergeschichte und Kalender den Begriff »Verbrauchsliteratur« (Rohner 1978: 17) als heuristischen Begriff vor, der damit jedoch noch keine normative Gattungsbestimmung darstellt. Vielmehr nimmt Rohner eine literatursoziologische Perspektive ein, die in ihrer praxeologischen Ausrichtung gleichermaßen der Erklärungen literarischer Phänomene aus bloß sozioökonomischen Determinanten einerseits und der Vergessenheit der medialen Rahmenbedingungen von Kalendergeschichten in Hinblick auf die Rezeptionssituation andererseits entgeht. Damit lässt sich dann der ordnungs- und orientierungsstiftende Aspekt der Kalendergeschichten nicht mehr von der täglichen, ritualisierten Rezeptionsweise des Mediums Kalender abstrahieren. Rohner schlägt daher für den Zusammenhang von Struktur, Gebrauchswert und Medialität des Kalenders folgende ›weiche‹ Definition vor: »›Kalendergeschichte‹ – das ist ein spät aufkommender Sammelbegriff, der verschiedenartige kurze und kürzere Erzählungen (von der Anekdote bis zur Novelle in nuce) umschließt; ihre didaktische, aufklärerische Absicht steht ihnen nicht immer auf der Stirn

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zu problematisieren. Denn Kalender repräsentieren nicht bloß festgelegte zeitliche Ordnungsweisen, sondern sind selbst Medien der Reflexion und Organisation von Zeit.2 Wie sollen jedoch Kalender jene Organisationsleistung vollbringen, durch die der »individuellen Lebenszusammenhang ihrer impliziten Leser in einer regionalen und kosmischen Ordnung« (Mix 2001: 27) lokalisierbar gemacht wird, wenn die historische Bewegung eine Fahrtgeschwindigkeit aufgenommen hat, durch die sich das Medium des Kalenders in die Position versetzt sieht, gegenüber der uneinholbaren und im Kalender tendenziell nicht-repräsentierbaren Geschichte bloß die eigene Nachträglichkeit konstatieren zu können? Der Kalendermacher, der als Chronist ein Stratege der Zeit ist, hat mit seinem Zeitmanagement also eine turbulente Prüfung zu bestehen. Selbst Kometen, die als »sehr merkwürdige Erscheinung[en]« (Hebel 1984: 177) zwar ein »großes Unglück« (ebd.: 178) bedeuteten, aber in ihrem paradoxen Status als bekannte und regelhafte Ausnahmen doch noch in die große kosmologische Ordnung eingerückt werden können, halten dem Vergleich mit der Dynamisierung und Beschleunigung weltgeschichtlicher Veränderung nicht Stand. Doch bereits im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Napoleon-Passage relativiert Hebel diese zeitliche Eskalationsbewegung der Ereignisgeschichte, indem er einen eigentümlichen Schauplatzwechsel vornimmt: »Doch wäre dies [die Nachträglichkeit des Kalenders gegenüber der Ereignisgeschichte, K.D.] noch zu verschmerzen, wenn er [der Hausfreund, K.D.] nur nicht beklagen müßte, daß es mit dem andern Krieg, nämlich wo mit Äpfelküchlein geschossen und kriegsgefangene Kronentaler eingebracht werden, noch nicht recht hat wollen in Gang kommen. Doch wird’s mit Gottes Hilfe und unserm eigenen Fleiß etwa besser werden von Jahr zu Jahr, und hat schon diesmal nicht überall gefehlt, wo viel guter Wein gewachsen ist Anno Eintausend Achthundert und sieben, und ein schön Stück Geld daraus gelöst worden. Der Rheinländische Hausfreund weiß auch davon zu sagen und hat je ein Schöpplein gekauft oder etwas zu Konstanz im ›Adler‹, zu Waldshut im ›Rebstock‹, zu Lörrach im ›Goldenen Ochsen‹ (hat nichts gekostet), zu Schopfheim im ›Pflug‹, zu Utzenfeld in der ›Mühle‹, zu Freiburg im ›Schwert‹, zu Offenburg in der ›Fortuna‹, zu Kehl im ›Lamm‹, zu Ulm bei Lichtenau im ›Adler‹, zu Rastatt im ›Kreuz‹, zu Durmersheim beim Herr Schlick.« (Hebel 1984: 287f.)

geschrieben. […] Das Medium wirkt bestimmend noch dort, wo es bloß angenommen wird, in der ›Kalendergeschichte ohne Kalender‹.« (Rohner 1978: 21) 2

»Kalendermacher und Komputisten regeln nicht nur den Alltag und die liturgische Ordnung, sie lösen mit der Bearbeitung von Zeitzyklen und ihren Zäsuren auch Nachdenken über Chronologie schlechthin und ihre Erforschung aus.« (von den Brincken 2000: IX)

Z WISCHEN B EHARRUNG

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Der Schauplatz dieses kuriosen »andern Krieg[es]«, der sich dem ökonomischen Wachstum zuwendet, ist unverkennbar die Kleinstadt, die keineswegs abgekoppelt von zeitgeschichtlichen Veränderungen liegt, sondern gerade im textuellen Nebeneinander mit den historischen Umbrüchen in Relation gesetzt wird. 3 Dieses textuelle Kompositionsprinzip in den Kalendergeschichten Hebels ist, so die Leitthese der folgenden Ausführungen, keineswegs Zufall, sondern Produkt einer bewussten literarischen Konstruktion der Herstellung von Bezüglichkeit zwischen der großen Geschichte und dem kleinstädtischen Erfahrungsraum derselben. Denn mit den historischen Umwälzungen nach 1806, die die Markgrafschaft Baden tiefgreifend verändern, wächst der Kleinstadt in besonderem Maße eine prägende historische Rolle in der Neukonstituierung des badischen Staates zu, die sich auch im Kalender bemerkbar macht. So ist der RHEINLÄNDISCHE HAUSFREUND, für den Hebel 1807 die Redaktion übernimmt und aus deren Beiträgen er 1811 das SCHATZKÄSTLEIN DES RHEINISCHEN HAUSFREUNDES bei Cotta veröffentlicht, der Landeskalender für Baden.4 Das Nebeneinander von Weltgeschichte und Kleinstadt im RHEINLÄNDISCHEN HAUSFREUND ist gerade deshalb so bemerkenswert, weil die Markgrafschaft Baden mit dem Eintritt in den Rheinbund am 12. Juli 1806 zum Großherzogtum ernannt wurde (vgl. Schimke 2012: 21). Das leitete nicht nur eine neu »gewonnene außenund innenpolitische Souveränität Badens« (ebd.) ein, sondern brachte auch erhebliche Gebietserweiterungen mit sich. Hannelore Schlaffer hat in ihrer Analyse der Kalendertexte an verschiedenen Stellen zurecht darauf hingewiesen, dass diese elementaren staatlichen und gesellschaftlichen Veränderungen ganz wesentliche Folien für die Kalendergeschichten und -erzählungen sind (vgl. Schlaffer 1980: 255-269). So war der Landesherr Karl Friedrich von Baden durch den territorialen Zuwachs vor allem auch von katholischen Gebieten mit dem Problem konfrontiert, eine zunehmend heterogene Bevölkerung durch »Zusammenschluß der Landesteile ideologisch zu bewältigen« (ebd.: 265) und unter seiner Herrschaft in das neue staatliche Gefüge zu integrieren. Die gleichzeitig entstehende »prekäre Lage im

3

Bereits in dieser kurzen und typischen Reihenbildung zeigt sich, dass die Vorstellung von Hebel als Dichter der Dorfgeschichten fragwürdig ist. Der rheinländische Hausfreund, den Jan Knopf einmal zutreffend als »Vagant« charakterisiert hat, der »durchaus nicht sesshaft« (Knopf 2001: 7) ist, sammelt den Stoff seiner Erzählungen sozusagen ›undercover‹, indem er durch die Kleinstädte Badens streift: »Denn der Rheinländische Hausfreund geht fleißig am Rheinstrom auf und ab, schaut zu manchem Fenster hinein, man sieht ihn nicht; sitzt in manchem Wirtshaus, und man kennt ihn nicht; geht mit manchem braven Mann einen Sabbaterweg oder zwei, wie es trifft, und läßt nicht merken, daß er’s ist.« (Hebel 1984: 287)

4

Eine übersichtliche und instruktive Zeittafel mit allen relevanten Daten zu Hebels Leben und den literarischen Veröffentlichungen findet sich in Hebel (1957: XLI-XLIII).

144 | K EVIN D REWS

Hinblick auf die Souveränität in innenpolitischen Entscheidungen« (Schimke 2012: 22) resultiert sowohl aus der napoleonischen Vorherrschaft und der Nähe zu den mächtigen Nachbarn Bayern und Württemberg, als auch daraus, dass die notwendige Neuorganisation der Staatsverwaltung vor allem durch das Beharrungsvermögen kleinstädtischer Selbstverwaltungen (vgl. ebd.: 324-327) verzögert wird, die sich der juristischen, ökonomischen und administrativen Organisationsvereinheitlichung widersetzen. Zugleich erfüllen die Kleinstädte jedoch in diesem heterogenen Land Baden, das kein überragendes Zentrum hat, eine wichtige Funktion. Auf ihren Marktplätzen als Orten der ökonomischen Zirkulation und in ihren Wirtshäusern als Orten der geselligen Begegnung werden die Möglichkeiten eines gelingenden gesellschaftlichen Austausches und einer kommunikativen Integration zwischen Land und Stadt ebenso wie zwischen den gesellschaftlichen und sozialen Gruppen erprobt, indem hier das Problem des gesellschaftlichen Maßes als Frage nach dem vereinigenden Band der Gesellschaft5 ausgehandelt wird. In ihrer raumzeitlichen Ambivalenz zwischen Beharrung und Fortschritt und in ihrer relativen Überschaubarkeit ist die Kleinstadt der paradigmatische Ort dieser Aushandlung bei Hebel. Hebel als einen Chronisten der Kleinstadt darzustellen, bedeutet also für die folgenden Ausführungen, zu untersuchen, inwiefern Hebel gerade die Kleinstadt als einen Raum verhandelt, in dem die historischen Umbrüche nach 1806 in entscheidender Weise sichtbar werden. Im kleinstädtischen Milieu, so die These, lässt Hebel in den Kalendergeschichten unterschiedliche Lebensweisen und ihre je spezifischen Zeitlichkeiten aufeinanderprallen, konfrontiert sie miteinander, überblendet und verwebt sie narrativ. Es war Walter Benjamin, der in seinen essayistischen Versuchen über Hebel diesen als einen Chronisten vorstellte, indem er einen Unterschied herausstellte zwischen dem Historiker der Ereignisgeschichte, der nur in einer bloß eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Logik die großen Weltgeschehnisse betrachtet

5

Als Diskurs über gesellschaftliche und individuelle Verbindlichkeit hat die Rede vom ›Band der Gesellschaft‹ im 18. Jahrhundert die rein politisch-juristische Perspektive der obligatio und des vinculum iuris als »verbindlichkeitsfordernde[…] Interaktion[…]« (Bunke/Mihaylova/Ringkamp 2015 : 1) verlassen, um das autonom handelnde Subjekt und seine moralischen Maßstäbe zu fokussieren. In der »enge[n] Verwobenheit zwischen Ethik, Politik, Literatur und den sozio-kulturellen Hintergründen des 18. Jahrhunderts« (ebd.: 3) entspinnt sich um das Bild vom ›Band der Gesellschaft‹ ein Diskurs, der die moralische Freiheit des Individuums an die Frage der verbindlichen, normativen Gesellschaftskonstitution koppelt. Es wird zu zeigen sein, dass Hebel diese Frage nicht nur an moralischen Wertmaßstäben orientiert, sondern die Kleinstadt auch als jenen produktiven Ort verhandelt, an dem vor allem auch neue ökonomische und gouvernementale Praktiken die Frage nach dem gemeinsamen Maß der Gesellschaft leiten.

Z WISCHEN B EHARRUNG

UND

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und dem Chronisten, der das Große immer wieder im Kleinen – et vice versa – zu entdecken vermag: »Der Historiker hält sich an ›Weltgeschichte‹, der Chronist an den Weltlauf. Der eine hat es mit dem nach Ursache und Wirkung unabsehbar verknoteten Netz des Geschehens zu tun […]; der andere mit dem kleinen, eng begrenzten Geschehen seiner Stadt oder Landschaft – aber das ist ihm nicht Bruchteil oder Element des Universalen sondern anderes und mehr. Denn der echte Chronist schreibt mit seiner Chronik zugleich dem Weltlauf sein Gleichnis nieder. Es ist das alte Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos, das sich in Stadtgeschichte und Weltlauf spiegelt.« (Benjamin 1977: 637f.)

Wenn sich in der Stellung der Kleinstadt zwischen Dorf und Großstadt spezifische kleinstädtische Verhaltensweisen und Lebensformen zeitigen, dann gilt es, die literarische Verhandlung dieses permanenten Schwellencharakters bei Hebel auszuloten. Die analytische Spur, die Benjamin für das Verständnis Hebels ausgelegt hat, die er aber eher auf die Gesamtökonomie des Hebelschen Werkes bezog, soll nachfolgend dergestalt erprobt werden, dass sie auf die Rolle der Kleinstadt verwiesen wird. Die Analyse nähert sich nachfolgend dem literarischen Schauplatz kleinstädtischer Selbstverständigung in Hebels Kalendergeschichten in vier Schritten. Zunächst sollen (1) einige Anmerkungen zum Status der Kleinstadt in der Literaturwissenschaft und (2) speziell in der Hebel-Philologie die Analyse wissenschaftlich einordnen; dann werden (3) Texte Hebels in den Mittepunkt gestellt, die sich mit den negativen Aspekten der Kleinstadt beschäftigen; abschließend wird (4) ein Text über die Einführung neuere Maßeinheiten besprochen, an dem sich sehr eindrücklich zeigt, wie Hebel die Entstehung neuer gouvernementaler Praktiken mit der Frage nach dem richtigen ethischen Maß des Zusammenlebens stellt. Benjamin hat Hebel an einer anderen Stelle auch als einen Kosmopoliten bezeichnet, der aber letztlich »doch immer der süddeutsche Kleinstädter geblieben« (Benjamin 1977: 636) ist. Diese Charakterisierung ist dabei aber keineswegs diffamierend gemeint – immerhin handelt es sich hier um den bedeutenden Denker der Großstadt –, sondern gilt vielmehr dem Nachweis, dass Hebel es eben vermag, kosmopolitische Perspektive, Weltgeschichte und »Stadtklatsch« (ebd.: 638) dergestalt »ironisch« (ebd.) zu verschachteln, dass die Kleinstadt in ihrer Schwellenposition selbst erkennbar wird. Durch die Annahme von der erzählerischen Verschränkung mit den historischen Veränderungen, der hier nachgegangen werden soll, lässt sich mit Blick auf Hebel zeigen, dass die Kleinstadt nicht so sehr in die gängigen Dualismen (Großstadt/Land, Fortschritt/Rückständigkeit) eingerückt wird, sondern in ihrer Eigendynamik gerade divergierende Zeiten, Verhaltensweisen und Lebensformen verflechtet und integriert.

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K LEINSTADT – L ITERATUR – W ISSENSCHAFT Die Untersuchung der Kleinstadt als Perspektive und Gestaltungsraum in der modernen Welt einerseits und speziell als literarischer Topos, als literarisches Ordnungsfeld und -muster sowie als Imaginationsort und Projektionsfläche andererseits, ist zunächst auf die Frage nach ihren räumlichen Bestimmungsmöglichkeiten hin orientiert. Wie wird die Kleinstadt als spezifisches räumliches Gefüge inszeniert, welche Narrative koppeln sich an die Kleinstadt, welche Bilder werden mit ihr verbunden und wie senken sich semantischen Zuschreibungen in den kleinstädtischen Raum ein? In Abgrenzung zu den Klischeebildern, die sich immer wieder im Zusammenhang mit Kleinstadt(be)schreibungen verbinden, hat Bernd Hüppauf für die eigentümliche Zeitlichkeit der Kleinstadt eine provokante These geliefert. Er beschreibt die Kleinstadt als »produktiven Ort in der Modernisierung« (Hüppauf 2005: 304) und als »Raum eines anderen Weges in die Moderne« (ebd.). Die Kleinstadt ist dann durch eine spezifische räumliche, architektonisch Anordnung und eine eigene – nicht ländliche und nicht großstädtische – Zeitlogik geprägt, die gleichwohl Anteil an der Moderne und der neuen/neusten Zeit hat.6 Christiane Nowak hat jedoch in ihrer umfangreichen Studie zum Topos Kleinstadt festgestellt, dass in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher vornehmlich die »ideologischen Implikationen des Topos Kleinstadt im Vordergrund« (Nowak 2013: 22) standen. Dabei wird die Kleinstadt zumeist mit Rückständigkeit und antimodernem Beharrungsstreben verbunden: Krähwinkel und seine Spießer stellen das Bildreservoir bereit. Diese scheinbar »unablösbare mythische Schicht« (Burdorf/Matuschek 2008: 10) überlagert eine differenziertere Wahrnehmung der Kleinstadt, die so immer wieder im Zuge ihrer Entgegensetzung zur Großstadt in »dichotome Typisierung[en]« (ebd.: 9) eingefasst wird.7 Wo dem »kleinstädtischen Lebensmodell […]

6

Reinhart Koselleck hat gezeigt, dass mit dem emphatischen Begriff der Neuzeit bzw. neuen Zeit im 18. Jahrhundert die Geschichte als Kollektivsingular einerseits »als eine genuine Größe verstanden wurde« (Koselleck 1979: 321), die sich an Fortschritt und Bewegung orientiert, zugleich jedoch auch das »erfahrungsgesättigte[…] Theorem von der Ungleichzeitigkeit verschiedener, aber im chronologischen Sinne gleichzeitiger Geschichten« (ebd.: 323) zeitigt. Für diese Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die für die Moderne konstitutiv ist, scheint die Kleinstadt in ihrer Ambivalenz ein paradigmatischer Erfahrungsraum zu sein.

7

Dabei spielen dann auch gar nicht so sehr tatsächliche statistische Unterschiede eine Rolle, sondern vielmehr jene »diskursive[n] Zuschreibungen in ihrer polaren Gegensätzlichkeit« (Rehm 2015: 40), wie sie Stefan Rehm analog zur Stadt/Land-Polarität beschrieben hat, die sich in antagonistischen semantischen Denkfiguren und Bildern ablagern.

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eine Nähe zu konservativen Ideologien attestiert« (Nowak 2013: 10) wird, knüpft sich demgegenüber mit der Feststellung, dass »das Prinzip der Moderne sich nur im städtischen Leben konzentriert« (Früchtl 1998: 769), an die Großstadt eine emphatische Perspektive von Modernität. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen diskursiven Zuschreibungen von Kleinstadt und Großstadt kann man sagen, dass Früchtls folgende Diagnose meist doch nur mit der Großstadt verbunden wird: »Die Stadt ist – immer noch – der exemplarische Ort einer modernen Gesellschaft, metaphorisch in der Tat ein Brennglas, in dem die Bedingungen der Moderne sich konzentrieren und deshalb immer wieder und in jeder Hinsicht zünden.« (Ebd.: 767)

Hebels Beschreibungen der Großstadt stehen dazu in einem kontrapunktischen Verhältnis. In dem kurzen Kalendertext WAS IN EINER GROßEN STADT DRAUFGEHT begegnet man der Großstadt nur vermittelt durch statistische Erhebungen über den immensen Wein- und Fleischverkehr sowie dem Holz- und Kohleverbrauch: »Eine große Stadt hat einen großen Magen, und braucht im Winter einen großen Ofen. In Wien aber sind in einem Jahr, vom 1. November 1806 bis dahin 1807, geschlachtet und verspeist worden: 66 795 Ochsen, 2133 Kühe, 75 092 Kälber, 47 000 Schafe, 120 000 Lämmer, 71 800 Schweine. Viel Fleisch kostet viel Brot. Daher wurden verbraucht: 487 000 Zentner Weißmehl, 408 000 Zentner gemein Mehl. Zu einem guten Bissen gehört ein guter Trunk. Also ist getrunken worden: 522 400 Maß Wein, 674 000 Maß Bier. Etwas Gutes ißt und trinkt man gern in einer warmen Stube. Sind verbrannt worden: 281 000 Klafter Holz, und 156 000 Meß Steinkohle.« (Hebel 1984: 152)

Wenn für Joseph Vogl die Großstadt zum epistemologischen Ort der Daten und Statistiken wird (vgl. Vogl 2003: 38), der sich vor allem durch kontingente Ereignisse und Begegnungen als ein Möglichkeitsraum des Beliebigen charakterisieren lässt, dann ist diese Kontingenz des großstädtischen »Ereignis- und Datenraum[s]« (ebd.) bei Hebel häufig mit Orientierungslosigkeit, statistischer Anonymität und fehlgeschlagener Kommunikation verbunden. Nicht zuletzt spielt auch die berühmte Geschichte KANNITVERSTAN in der »große[n] und reiche[n] Handelsstadt« Amsterdam. Auch in der »große[n] Stadt London« (Hebel 1984: 169), der man hier zunächst als »ungeheuer große[…] Stadt« vor allem »bei stockfinsterer Nacht« begegnet, wird der Protagonist als anonyme und orientierungslose Person eingeführt, die »keinen einzigen [Menschen] kannte« (ebd.). Die Zeichen- und Menschenzirkulation des großstädtischen Lebensraumes, die sich immer wieder auch bei Hebel in Verkehrsszenen manifestiert, mündet darin, dass die Bevölkerung letztlich nur als statistische Größe (vgl. hierzu Vogl 2003: 38) auftaucht.

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Vor dem Hintergrund der vorherrschenden dichotomisch organisierten Erzählund Reflexionsmuster einerseits und der Beschreibungen der Großstädte bei Hebel andererseits scheint Bernd Hüppaufs These von der permanenten Ambivalenz der Kleinstadt zwischen Rückständigkeit und komplementärer Modernität ein heuristisch fruchtbarer Ansatz zu sein.8 Jedoch stellt sich dann für einen literaturwissenschaftlichen Zugriff die Frage, wie diese Ambivalenz, dieses Oszillieren zwischen den Zeiten und Räumen konkret erzählerisch ausgestaltet wird. Hebel als einen literarischen Chronisten der Kleinstadt in den Blick zu nehmen bedeutet dann konkret, die spezifischen »künstlerisch erfaßten Zeit-Raum-Beziehungen« (Bachtin 2008: 7) zu fokussieren. Diese zu erfassende chronotopische Konstellation bestimmt Michail Bachtin folgendermaßen: »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. […] Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.« (Ebd.)9

Der Aufweis eines eigenständigen, spezifischen Chronotopos der Kleinstadt bei Hebel hat also demnach immer der Frage nachzugehen, ob die behauptete spannungsgeladene Ambivalenz der Kleinstadt in den Kalendergeschichten durch eine genuin kleinstädtische Raum-Zeit erzählerisch ins Werk gesetzt wird. Bevor nun aber anhand zweier exemplarischer Texte die Kleinstadt als Ort der Verhandlung von Verhaltensweisen und Lebensformen dergestalt in den Mittelpunkt gestellt werden kann, sodass deutlich wird, welche Rolle sie sowohl ästhetisch als auch politisch bei Hebel spielt, muss noch ein notwendiger Einschub zur HebelForschung vorgeschaltet werden. Denn in der Forschung zu Hebel stand die Frage

8

Wobei hier vorsichtig anzumerken ist, dass dies nicht bedeutet, zugleich auch Hüppaufs Vorstellung von der Widerständigkeit der Kleinstadt als »Ort der Abweichung, an dem Grenzen und Beschränkungen, Ungeplantes und systemlos Konkretes sich erhalten« (Hüppauf: 2005: 307) zu teilen. Auch wenn es dem Autor hier keineswegs als Intention unterstellt werden soll, so lässt sich doch nicht abstreiten, dass in diesem Argument zumindest die Gefahr lauert, die Kleinstadt zum Ort eines romantischen Antikapitalismus zu stilisieren.

9

Es sei hier nur am Rande angemerkt, dass Bachtin selbst Hebel nicht mit dem Chronotopos des Provinzstädtchens verbindet, das er Flaubert vorbehält (vgl. Bachtin 2008: 185), sondern mit dem idyllischen Chronotops (vgl. ebd.: 164). Jedoch unterstreicht er anhand der berühmten Geschichte UNERWARTETES WIEDERSEHEN nachdrücklich (und damit gegen eine lange Tradition der Hebel-Forschung, die sich vor allem um den Idylliker bemühte), dass es sich hier um eine gebrochene Idylle handelt, die sich mit dem städtischen Chronotopos konfrontiert sieht.

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nach seinem Verhältnis zur (Klein-)Stadt lange Zeit im Schatten der Rezeption Hebels als Idylliker.

H EBEL –

EIN

D ICHTER

DER

» HEIMATLICHEN E RDE « 10?

Hebel als Dichter der Kleinstadt zu untersuchen scheint also nicht auf der Hand zu liegen. Wird er doch, orientiert man sich zumindest an der älteren Forschung, vielmals als Dichter der badischen bäuerischen Landschaft, des Wiesentals zwischen Lörrach, Hausen und Weil wahrgenommen.11 Als ein besonders prominentes Beispiel dieser Rezeptionslinie wurde immer wieder das Urteil Martin Heideggers herangezogen, wonach Hebel in seine Dichtung das »unversehrte Ländliche jener Zeit« (Heidegger 1957: 32) eingetragen habe: »Die Säfte und Kräfte der heimatlichen Erde und der stämmig-heitere Sinn der dortigen ihm zugeneigten Menschen bleiben in Hebels Gemüt und Geist lebendig.« (Ebd.: 9) Robert Minder hat Heideggers Hebel-Text und die »Sakralisierung des deutschen Wortes« (Minder 1968: 90) in eine Traditionslinie mit der nationalsozialistischen Vereinnahmung Hebels als deutschen Schollendichter gestellt. 12 Minder setzt diesem Hebel-Bild dasjenige des »urbane[n] Schüler[s] der Antike« (ebd.: 153) entgegen, der sich durch Modernität und aufklärerisches Denken auszeichnet. 13

10 So die fragwürdige Charakterisierung bei Heidegger (1957: 9). 11 Dieses sehr verallgemeinernde Urteil über die ältere Hebel-Forschung weiß um seine Pauschalität und möchte auch nur auf eine allgemeine Tendenz aufmerksam machen. Es verkennt nicht, dass es auch immer wieder differenziertere Perspektiven gab. So hat etwa Wilhelm Zentner bereits festgehalten, dass Karlsruhe nicht bloß ungeliebter und unfreiwilliger städtischer Aufenthaltsort war (ein Gerücht, das sich hartnäckig in der Forschung hält). Vielmehr war für Hebel gerade die Stadt mit ihren gesellschaftlichen Salons, ihrem literarischen Leben und ihren Wirtshäusern ein wichtiger Impulsgeber seines Schreibens. Zentner fasst dies folgendermaßen zusammen: »Später bezieht der Rheinländische Hausfreund wertvolle Anregungen für seine Kalendergeschichten aus dem Leben und Treiben der badischen Residenz, und mancher Stoff ist ihm im Bären und Erbprinzen, im Drechslerischen Kaffeehaus oder bei den festlichen Mahlen der Museumsgesellschaft zugetragen worden.« (Zentner 1960: 15) 12 »Es war die Zeit [nach 1933, K.D.], wo auch Hebel als sippenverhafteter Bauer auftrat« (Minder 1968: 92). Minder macht auf Herman Burtes ›arischen Hebel‹ aufmerksam und versucht zu zeigen, dass sich Heidegger indirekt bis in die Wortwahl an diesem HebelBild orientiert. 13 So ordnet Minder etwa – im Gegenzug zur ideologischen Vereinnahmung – die Idee vom Alemannischen in Hebels Dichtung in den Geist der Aufklärung ein: »Bei Hebel wie bei

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Auch wenn sich die »pseudo-romantisch mystifizierende Auffassung des Dichters« (Minder 1968: 89) bei Heidegger nicht übersehen lässt14, so scheint es doch angebracht, ein etwas differenzierteres Bild zu zeichnen, um nicht unbeachtet zu lassen, dass Heidegger zugleich auch konstatiert: »Johann Peter Hebel [ist] kein bloßer Dialekt- und Heimatdichter. Hebel ist ein weltweiter Dichter.« (Heidegger 1957: 11) So hat etwa Ludwig Rohner versucht, die Überbetonung des mystifizierenden Aspekts bei Heidegger zu relativieren (ohne diesen Aspekt zu bestreiten), um zu betonen, dass in anderen Passagen des Heidegger-Textes entscheidendes analytisches Potential liegt (etwa in Bezug auf die Analyse des Wortes ›Hausfreund‹). Seine Forderung lautet daher: »In Einzelheiten hätte die Prüfung zu beginnen« (Rohner 1978: 170). Dabei hat gerade auch Rohner in seinen Analysen zu Hebels Kalendergeschichten entschieden dem Gerücht entgegengewirkt, dass Hebel Dorfgeschichten15 schrieb; vielmehr wähle er als Schauplatz meist Kleinstädte: »Die Dörfer liegen alle in der großen Ebene. Häufiger sind die kleinen Landstädte, sie werden gern mit Namen genannt. Die Rolle der Landschaft ist überhaupt unbeträchtlich.« (Ebd.: 165) Was aber ist der Grund für dieses hartnäckige Gerücht, das sich an das Bild vom bäuerisch-ländlichen Dichter knüpft? Er liegt weniger in den literarischen Kalendergeschichten selbst als in ihrer späteren »intensiven, aber selektiven Verbreitung von Hebels Kalendertexten durch die Lesebuchtradition« (Bee 2004: 64), die eine Rezeption durch Aussonderung unpassender Texte anleitete und so den Dichter mit »Attribute[n] wie ›harmonisch‹, ›erfreuend‹, ›heiter‹ und ›anmutig‹« (ebd.) auszustatten vermochte, durch die dann dem vorgefertigten Bild entsprochen werden konnten. Für Hebels Texte gilt daher in besonderer Weise, was Rohner für die (vor allem wissenschaftliche) Rezeption von Kalendertexten allgemein beklagt: Kalendergeschichten werden oft behandelt, »als hätten sie nie in einem Kalender gestanden.« (Rohner 1978: 15) Berücksichtigt man jedoch die medialen Bedingun-

Goethe, als er Hebels Gedichte anpries, bedeutet ›alemannisch‹ die kulturelle Zusammengehörigkeit der oberrheinischen Landschaft und ihrer Menschen im Geist des aufgeklärten Kosmopolitismus ohne jede politische Annektionsidee.« (Minder 1968: 91) 14 Auch Theodor W. Adorno greift im JARGON DER EIGENTLICHKEIT diesen archaischen, re-mythologisierenden Sprachduktus an, wenn er kritisiert, dass Heidegger »Hebel, der aus der gleichen Gegend stammt […] in den Blickrauchfang« seines Jargons der Bodenständigkeit »hängen möchte« (Adorno 1970: 449). 15 »Die Wahrheit ist: Hebel hat keine einzige Dorfgeschichte geschrieben. Zur vergleichenden Probe ziehe man etwa Berthold Auerbachs ›Schwarzwälder Dorfgeschichten‹ oder Ludwig Anzengrubers ›Dorfgänge‹ herbei: diese Erzählungen, in gewollt einfacher Sprache gehalten, sozusagen künstlich naiv, spielen auf dem Dorf, handeln von Bauern und stellen bäuerliche Konflikte dar.« (Rohner 1978: 163)

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gen und die spezifischen Distributionsgesetze und Rezeptionsweisen des Kalenders anstatt ihn nachträglich schlichtweg durchzustreichen, lassen sich die Texte auch vom historischen Kontext nicht mehr problemlos abstrahieren. Blickt man aber in die wenigen Ausgaben der Kalendertexte, in denen alle Texte versammelt sind (d.h. auch die scheinbar unliterarischen über Medizinisches, Diätisches, über Astronomie, Kalender- und Zeitorganisation), ergibt sich freilich ein differenzierteres Bild. Daher legen gerade Untersuchungen zur Medialität des Kalenders und ihrem historischen Kontext den Schluss nahe, dass Thesen wie jene von Georg Hirtsiefer, wonach Hebel »von zeitgenössischen Geistesströmungen beinahe unberührt geblieben« sei (Hirtsiefer 1968: 16), unhaltbar sind.16 Diese These vom unbeeinflussten, quasi aus der Zeit gefallenen Hebel, die vom Medium Kalender nichts wissen will, verbindet sich häufig mit der Vorstellung eines biographischen Kontinuums, das zwischen dem Dichter der ALEMANNISCHEN GEDICHTE (1803) und den Kalendertexten keinen signifikanten Unterschied macht. Der lateinische Vers »sylvestrum tenui meditabor avena«, den Hebel den ALEMANNISCHEN GEDICHTEN statt eines Verfassernamens voranstellt und der eine leichte Abwandlung der 1. Ekloge Vergils ist (vgl. dazu Staffhorst 1990: 7-18), hat dafür gesorgt, dass dieses Motto kurzerhand auf alle literarischen Produktionen Hebels übertragen wurde (vgl. auch Rohner 1978: 160).17 Die Umformung des Vergil-Verses zeigt, so Staffhorst, dass sich Hebel bereits hier nicht an den unvermittelten Ausdruck des natürlichen Lebens und der wirklich gesprochenen Sprache orientiert, sondern zugleich eine Übersetzung ins Poetische vollzieht, durch die er seine literarische Konstruktion

16 So auch die Position von Wolfgang Ritzel. Er versucht mit seiner Biographie zwar dem klassisch kontinuierlichen Biographie-Schema von Jugend-Reife-Alter zugunsten einer Anordnung in Wirkungsfeldern zu entkommen, irritierenderweise verbindet er diesen experimentellen Versuch aber noch viel eindeutiger als Hirtsiefer mit der These von der biographischen Immunität gegenüber der Zeitgeschichte: »Hebel freilich beobachtet das Weltgeschehen mit Aufmerksamkeit; aber weder wirkte er in ihm mit, noch erlitt er von ihm irgendwelche lebensbestimmende Einwirkungen. Er hätte keinen anderen Weg genommen, wenn die 1789 eingeleitete Veränderung der europäischen Landkarte ausgeblieben und der Landesherr Badens nicht vom Marktgrafen zum Großherzog aufgerückt wäre« (Ritzel 1991: 16) 17 Diese Forschungsmeinung argumentiert dann jedoch seltener auf der Grundlage von immanenten Textanalysen, an denen sich die These letztlich messen lassen müsste, sondern zieht in ihrer biographisch-autorzentrierten Perspektive gern Briefe heran, in denen sich häufiger negative Beschreibungen des Städtischen und positive Beschreibungen des Ländlichen finden; wie etwa im Brief vom 15. August 1795, in dem sich Hebel über die »Carlsruher Hundstagluft« beschwert und den Wunsch äußert, im Ländlichen »bald auf eine Pfarrey zu kommen« (Hebel 1957: 35).

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vielmehr in die Tradition rhetorischer Stilfiguren setzt.18 Die Übertragung des Bildes Hebels als eines Dichters des natürlichen Ausdrucks auf alle literarischen Texte, die vor dem Hintergrund der unterschiedlichen medialen Eigenlogiken von Gedicht und Kalendertext ohnehin fraglich erscheint, wird durch diese Einordnung in eine literarische Tradition noch brüchiger.19 Entgegen der biographischen Immunitätsthese sind die Kalendertexte jedoch sowohl hinsichtlich ihrer Produktions- als auch ihrer Rezeptionsseite tief in historische Kontexte eingebettet. York-Gothart Mix hat unlängst nochmals betont, dass eine Analyse der Hebelschen Kalendertexte, die die Produktions- und Publikationsbedingungen ebenso wie die medialen Eigenheiten des Kalenders ignoriert, unzureichend bleibt: »Angesichts der chronologischen Funktion und einer im Titel signalisierten regionalen Ausrichtung von Johann Peter Hebels ›Rheinländischem Hausfreund‹ und anderer populärer Kalender liegt es nahe, die in vielen Erzähltexten manifeste, mit dem Medium korrelierende Raum- und Zeitsemantik in den Blickpunkt zu rücken.« (Mix 2001: 23)

Für die Kalendertexte gilt dann in besonderem Maße, was gewissermaßen schon bei den ALEMANNISCHEN GEDICHTEN nachweisbar ist: Sie sind literarische Konstruktionen, die ihre eigene Literarizität stets mitkommunizieren. Mündlichkeit ist nicht die Sache des Kalenders. Nicht nur die stetig auftauchende Anrede an den »geneigten Leser« (Hebel 1984: passim), auch Ratschläge wie derjenige, dass eben jener geneigte Leser »klug sein [wird] und am Ende des Jahres den alten Kalender in ein

18 Gertrud Staffhorst zeigt eindrücklich, dass die Vorstellung vom Dialekt als unvermitteltem Ausdruck des natürlichen Lebens nicht haltbar ist. Die Mundart ist bereits bei Theokrit eher eine Konstruktion, eine bewusst inszenierte »Literatursprache« (Staffhorst 1990: 23). Auch orientiert sich Hebel stärker an der rhetorischen Tradition und an Stilkonventionen als es die Vorstellung vom unvermittelten Ausdruck suggeriert (vgl. ebd.: 58f.). Ähnlich betont auch Robert Minder diese bewusste literarische Gestaltungsarbeit: »ohne die Kunst des Zusammenziehens, ohne den ständig wachen, kritischen Sinn und die subtile Anwendung der alten Gesetze der Rhetorik ist auch Hebels Werk nicht zu denken.« (Minder 1992: 49) Auch W.G. Sebald betont Hebels »hochentwickelte Kunstsprache, die er sich eigens für den Kalender schuf« und die dort angelegten »Element[e] der Verfremdung« (Sebald 2000: 21). 19 Darüber hinaus ist es auch verwunderlich, dass zwar gern die in den Kalendergeschichten wiederholte Vorstellung vom allseitigen Verwobensein der Dinge miteinander aufgerufen wird, um sie an kosmologischen Spekulationen oder politischen Imaginationen von Gemeinschaften zu messen, aber in ihrer grundlegenden Logik des elementaren Bezugs ausgerechnet für den Dichter selbst nicht gelten soll.

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Kistlein« (ebd.: 455) legt, damit er als Ratgeber beizeiten wieder hervorgeholt werden kann, verweist eindrücklich auf eine schriftliche Kommunikationssituation. Wenn »ein wohlerzogener Kalender […] ein Spiegel der Welt« (ebd.: 276) sein soll, dann vermag er das bei Hebel nur vermittels seiner literarischen Darstellungsweise. Die Raum- und Zeitsemantik, über die der Kalender in das historische Gefüge gestellt wird, korrespondiert mit der literarischen Form als der Möglichkeit ihrer Darstellung. Wenn der Kalender also historische Prozesse in seiner literarischen Vermittlung erzählbar, d.h. Geschichte in Geschichten erfahrbar und verstehbar macht,20 dann bleibt die ästhetische Strukturierung als solche in den Texten immer präsent.

»W IR B RASSENHEIMER « Der Ort der literarischen Verhandlung und Reflexion über die historischen Veränderungen in der Zeit zwischen 1806 und 1819 und des Versuches einer narrativen Verständigung über diese Umbruchszeit ist bei Hebel selten das Dorf und noch weniger die Dorfgeschichte. Zwar spielen sich viele Begebenheiten, von denen der rheinländische Hausfreund zu berichten weiß, immer wieder auch in Dörfern ab, aber sie sind dann meist Geschichten über Allgemeinmenschliches, Allzumenschliches. So heißt es etwa in der Eingangsrede zum Kalender von 1813, in der Hebel die vielfältigen historischen Ereignisse und Veränderungen auf dem »großen Jahrmarkt der Welt und des Lebens« (Hebel 1984: 361) verzeichnet und die sich vor allem in den Städten zugetragen haben, dass das Dorf indessen davon kaum berührt wird: »Aber die Leute im Dorf kennen einander noch alle und merken nicht, daß sich fast alles geändert und gewechselt hat.« (Ebd.) Die Darstellung des Zusammenhangs von individuellem Leben, gesellschaftlicher Kommunikation und sozialem, politischem und ökonomischem Wandel koppelt Hebel hingegen dergestalt an die Kleinstadt, dass diese in ihrer permanenten Ambivalenz zwischen Beharrung und Fortschritt erkennbar wird. Die Kleinstadt wird dabei jedoch nicht selten als Ort konservativer Verwahrung gegenüber eingreifenden Veränderungen beschrieben. So heißt es etwa über das hessische »Städtlein« Hersfeld zu Zeiten der napoleonischen Besatzung im Jahre 1807:

20 ›Geschichte in Geschichten erfahrbar zu machen‹ ist der Anspruch und die Funktion der Kalendertexte u.a. bei Hebel, so die Leitthese in Jan Knopfs Studie über den Kalender bei Hebel und Brecht (vgl. Knopf 1973: 89).

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»Da gab es nun von Seiten der Einwohner, denen das Alte besser gefiel, als das Neue mancherlei Unordnungen, und es wurden besonders in dem Ort Hersfeld mehrere Widersetzlichkeiten ausgeübt, und unter andern ein französischer Offizier getötet« (Hebel 1984: 127)

Diese Geschichte vom menschenfreundlichen französischen Kommandanten, der im letzten Augenblick dafür sorgt, dass die Stadt der Vergeltung durch Plünderung und Brandstiftung doch noch entkommt, ist sicherlich zweideutig, handelt es sich hier doch um die Ausnahmesituation der Besatzung. Außerdem ist Hebels eigene Stellung sowohl zur Französischen Revolution als auch zu Napoleon zwiespältig. Für die Darstellung des Rückständigen in der kleinstädtischen Mentalität ist daher auch das Stück DIE SCHMACHSCHRIFT aus dem Kalender von 1813 eindringlicher. In dieser Geschichte wird eine Schmachschrift über den König Friedrich in Berlin an eine öffentliche Tür geschlagen, allerdings etwas zu hoch, um sie lesen zu können. Als dies dem König berichtet wird, befiehlt er jedoch nicht, den Verfasser ausfindig zu machen und womöglich zu hängen, sondern gibt dem Boten folgende überraschende Anweisung: »›Ich befehle, daß man die Schrift tiefer hinabhänge und eine Schildwache dazustelle, auf daß jederman lesen kann, was es für ungezogene Leute gibt.‹ Nachderhand geschah nichts mehr.« (Hebel 1984: 362)

Als die gleiche Schmähung schließlich dem Amtsschreiber in Brassenheim widerfährt, reagiert dieser nicht mit jener von Hebel achtungsvoll beschriebenen doppelbödigen, weltmännischen Gelassenheit. Der Amtsschreiber fährt hingegen aus seiner Haut und will den Urheber durch einen ebenfalls aufgestellten Wachposten gleich auf frischer Tat erstochen sehen. Hebels Erklärung für diese ganz andere Verhaltensweise liegt für ihn im Unterschied zwischen Berlin und Brassenheim: »Nicht ebenso dachte der Amtsschreiber von Brassenheim. Denn Brassenheim ist ein Amtsstädtlein.« (Ebd.) Bei dieser lakonischen Erklärung bleibt es dann auch zunächst, als sei die Tatsache des Kleinstädtischen an sich schon selbsterklärende Ursache für des Amtsschreibers Wut und Anweisung. Tatsächlich wird im weiteren Verlauf der Erzählung aber noch indirekt eine weitere Erklärung gegeben, wenn der Hausfreund betont, dass es vor allem der Stadtklatsch sei, der sich nun auf Kosten des Amtsschreibers belustigt, denn in Windeseile hatte sich nämlich die Begebenheit herumgesprochen. Der Hohn und Spott kleinstädtischen Geflüsters ist, in Verdrehung der tatsächlichen Rangfolge der Amtswürden, hier eher Anlass für Raserei als die mögliche Beschädigung der Integrität eines großen Souveräns. Daher auch Hebels kurzes Fazit: »›Merke: Der König von Preußen hat sich in diesem Stück klüger betragen als der Herr Amtsschreiber von Brassenheim.« (Hebel 1984: 365)

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Ist Brassenheim demnach das Krähwinkel des RHEINLÄNDISCHEN HAUSFREUNDES? Provinzielles Niemandsland, das sich selbst für den Mittelpunkt der Welt hält? Zunächst ließe sich anmerken, dass Hebel mit der Darstellung des provinziellen Stadtklatsches und seiner vulgären kommunikativen Eigendynamik einen beliebten literarischen Topos kleinstädtischer Verhaltensweise aufruft, denn »kleine Städte gelten als ideale Brutstätte für Klatsch und Tratsch.« (Nowak 2013: 75) Im Gegensatz zu den meisten anderen erwähnten Städten und Dörfern ist Brassenheim jedoch kein realer Ort, gleichwohl aber der am häufigsten genannte Schauplatz. Das allein verdient schon Aufmerksamkeit, tritt doch diese Kleinstadt, in der sich übrigens die bemerkenswertesten Begegnungen in den Wirtshäusern abspielen, als rein literarische Fiktion auf. In der Forschung wurde Brassenheim daher auch bereits mit kleinstädtischer Provinzialität und Rückständigkeit assoziiert (vgl. Bee 1997: 89). Guido Bee resümiert, dass sich in Brassenheim letztlich auch »nichts Rühmliches« (ebd.: 88) abspielt, ohne dass er jedoch weitergehende Erklärungen für diese Charakterisierungen der Kleinstadt in Bezug auf ihre Funktionsweise und ihren literarischen Stellenwert anbietet. Dabei ist es nicht unwichtig, dass der rheinländische Hausfreund die Assoziationen der negativen Aspekte kleinstädtischer Mentalität nicht von außen, gleichsam von einem unbeteiligten und überlegenen moralischen Standpunkt aus formuliert, sondern in der wiederholten Formulierung »wir Brassenheimer« (vgl. etwa Hebel 1984: 474f.) sich selbst einbezieht und eine zumindest virtuelle Innenperspektive einnimmt. In diesem Brassenheim wird zwischen beißendem Spott und ironisch-kritischer Berichterstattung über die listigen Täuschungsversuche, Geisterbeschwörungen (ebd.: 418) oder trunkenen Gaukelspieler, bei denen der rheinländische Hausfreund immer wieder den listigen Zirkelschmied und den Zundelheiner auftreten lässt, mehr verhandelt als die bloße provinzielle Enge und ihre Spiegelfechtereien. Die periodische Wiederkehr Brassenheims als Erzählort korrespondiert in eigentümlicher Weise mit der seriellen Anlage des Kalenders selbst. Die historischen Veränderungen als unvorhergesehene Ereignisse dringen auch in Brassenheim immer wieder ein (vgl. ebd.: 474f.), lassen sich dort aber nicht umstandslos in ein Erklärungsmuster einfügen. York Gotthart Mix hat für den eigentümlichen Charakter des Kalenders zwischen Weltgeschichte und lokalem Lebensraum die These aufgestellt, dass der Kalender ein Medium der Herstellung von Kohärenz sei: »In exemplarischer Weise popularisiert der neben religiösem Schrifttum als einziger Lesestoff fungierende Kalender ein Modell generalisierender Weltdeutung, das sozial kohärent wirkt, regional verankert ist und sich in jedem Rezipienten permanent von neuem individualisiert.« (Mix 2001: 25)

In Brassenheim scheint diese Vermittlungsleistung als Kohärenzherstellung gerade am kleinstädtischen Starrsinn zu scheitern; die Erzählungen steuern hier nicht mehr

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reibungslos auf das berühmte »Merke« zu, das so viele der Kalendergeschichten mit einer moralischen Pointe ausstattet. In Brassenheim bleibt zuletzt stets ein Rest, der nicht aufgeht. Wenn die Geschichten aus Brassenheim überhaupt einmal mit diesem »Merke« enden, dann unterstreichen sie entweder bloß den literarischen Topos von der kleinstädtischen Provinzialität (vgl. Hebel 1984: 236), ufern selbst wiederrum, statt in einem prägnanten kurzen Satz zu kulminieren, in eine längere Erklärung aus (vgl. ebd.: 335) oder konstatieren doppeldeutig gar, dass jemand »nichts gemerkt« (ebd.: 475) habe. Die »Überbrückung« (Knopf 1973: 80) von Geschichte und lokalen Begebenheiten durch Geschichte bleibt zunächst aus, muss aus dem Erzählten selbst herausgefiltert werden (vgl. Hebel 1984: 378). Die lebenspraktische Ausrichtung des »Merke«, die der rheinländische Hausfreund in früheren Texten so selbstverständlich postuliert21 und realisiert hat, kommt in Brassenheim zum Stocken. Die Überbrückungsleistung steht in der Kleinstadt als Ort zwischen provinzieller Engstirnigkeit und historischer Involviertheit zur Disposition. Doch ist diese spöttische und ironisch-kritische Darstellungsweise der Kleinstadt nur die eine Seite der Medaille bei Hebel. Im nächsten Abschnitt steht eine kleinstädtische Szene im Mittelpunkt, in der der rheinländische Hausfreund nicht nur die Schwierigkeiten, sondern auch die Möglichkeiten der Vermittlung dergestalt an die Kleinstadt knüpft, dass diese als produktiver Ort der Aushandlung von sozialer, politischer, ökonomischer Verständigung über gesellschaftliches Zusammenleben steht.

»J ETZT

WIRD ALLES GLEICH «?

In der GESCHICHTE DES ADJUNKTS STANDREDE ÜBER DAS NEUE MAß UND GEWICHT aus dem Kalender von 1812 steht der Adjunkt, ein wiederkehrender Protagonist im RHEINLÄNDISCHEN HAUSFREUND, im Wirtshaus der Kleinstadt Mühlburg, die späterhin eingemeindet wurde und heute zu Karlsruhe gehört, und erklärt den Bewohnern des Städtleins die Vorteile des für ganz Baden durch den Landesfürsten verordneten einheitlichen Maß- und Gewichtssystems: »Das neue Gewicht und Maß bringt allgemeinen Nutzen. Denn Erstlich, so war’s bisher in jeder Herrschaft, in jedem Städtlein andres, andre Ellen, andre Schoppen, andre Simri oder Sester, anderes Gewicht. Jetzt wird alles gleich, von Überlingen oder Konstanz an am großen See bis nach Lörrach im Wiesenkreis und von da durch das ganze Land hinab bis nach Wertheim im Frankenland.« (Hebel 1984: 336)

21 »[…] und die Weisheit besteht nicht im Wissen, sondern in der rechten Anwendung und Ausübung davon.« (Hebel 1984: 54)

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Diese Ausführungen scheinen nur ein dem Kalender als aufklärerisches Instrument geschuldetes Nebenprodukt zu sein, ohne Bezug zu den literarischeren Texten. Der Text ist jedoch für die Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Kleinstadt im RHEINLÄNDISCHEN HAUSFREUND in mehreren Hinsichten mehr als das. Es zeigt sich schon in einer ersten Lektüre, dass diese Rede des Adjunkten und die durch das sich zunächst wiedersetzende kleinstädtische Publikum eingeworfene Widerrede selbst szenisch und damit literarisch ausgestaltet ist. Der Kalendertext informiert seine Leser nicht bloß in einer abstrakten Deklaration über die Einführung der neuen Gewichts- und Maßeinheiten, sondern entwickelt ein kleines Drama, in dessen offener Kommunikation an einem vertrauten Ort der Rezipienten (das Wirtshaus der Kleinstadt) alle Argumente für und wider der Vereinheitlichung sukzessive entwickelt und auf offener Bühne ausgestellt werden. In dieser literarischen Dramatisierung zeigt sich, dass die Vereinheitlichung von ökonomischen Wertmaßstäben eine der wesentlichen Bedingungen der Konstituierung des modernen Staates ist. Wo im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts die Bevölkerung langsam als elementarer Faktor der politischen Ökonomie auftritt, ist die Notwendigkeit reibungsloser Zirkulationsketten (vgl. Vogl 2002: 225) zwischen ihren Mitgliedern in ökonomischen Tauschakten und Wertschöpfungsketten an die Vereinheitlichung der Verkehrsgrundlagen Maß und Gewicht gekoppelt. Michael Stolleis, der sich in einem Aufsatz mit des Adjunkts Standrede beschäftigt hat, ordnet daher die Kalendergeschichte auch in die Konstituierung des frühmodernen Staates ein: »Einheitlichkeit entspricht aber auch den zeitgenössischen Vorstellungen von ökonomischer und herrschaftstechnischer Rationalität. […] Symmetrie und harmonisch funktionierende Hierarchie der ›Staatsmaschine‹, hohe Effizienz bei der Ausführung der Befehle des Souveräns, geringe Reibungsverluste durch sinnvolle Abstimmung aller Teile.« (Stolleis 2004: 38)

Diese Perspektive auf die sich formierende moderne Staatssouveränität trifft für die Entwicklung Badens nach der Gebietserweiterung und der Erhebung zum Großherzogtum ganz gewiss zu und resultiert bei Stolleis in der Feststellung: »Staatsgebiet und Normgebiet deckten sich vollständig.« (Ebd.: 37) Diese Normierungs- und Normalisierungsstrategien verbinden sich unter dem Landesherren Karl Friedrich zu Baden zugleich mit ökonomischen Theorien und Experimenten einerseits und mit der Vorstellung gesellschaftlichen Ausgleiches andererseits. So hat Karl Friedrich von Baden, ein aufgeklärter Souverän und überzeugter Physiokat, viele gesetzliche und administrative Neuerungen bereits vor den napoleonischen Umwälzungen auf den Weg gebracht. Er hat bereits 1783 die Leibeigenschaft aufgehoben (vgl. Schimke 2012: 14) und ab den 1770er Jahren in einigen Orten physiokratische Experimente mit der Steuerpolitik und Gewerbefreiheit eingeleitet. In einem Schreiben an die Bevölkerung, in der er seine physiokratische Vorstellung von gelungenem

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Wirtschaften mit der Frage des angestrebten gesellschaftlichen Ausgleiches verbindet, lässt sich das gesellschaftspolitische und ökonomische Pendant zur Einführung der neuen Gewichts- und Maßeinheiten erkennen: »Der Geist Freiheit, also verstanden, muß gewiß viel zum Reichtum eines Volkes beitragen, weil dadurch der Genuß des Eigentums einem jeden versichert, und der Weg, seine Umstände zu verbessern, geöffnet wird. […] der Handwerker, der Künstler, der Fabrikant findet Verdienst, der Kaufmann findet Beschäftigung, indem er den rohen und verarbeiteten Produkten durch den Handel einen guten Wert verschafft; der Staat ist reich und blühet; – und siehe da abermals alle Interessen vereiniget in einem, vom Landesfürsten bis zum Hirten; alle gewinnen durch die Vermehrung der Produktion. Niemand muß also den andern darin stören, jeder vielmehr den andern unterstützen. […] Hier ist Vereinigung der Kräfte zum gemeinen Zweck; Harmonie!« (Schlaffer 1980: 263f.)22

Es folgen in diesem Antwortschreiben dann noch einige Anmerkungen vor allem mit direkter Ansprache an die Städter, die die Bauern auf den städtischen Marktplätzen nicht mit falschen Maßen täuschen und benachteiligen sollen. Abschließend heißt es dann programmatisch: »Diese Summe ist der freicirculierende Reichtum im Staat, wovon alle Stände leben, ein jeder nach dem Maße des Anteils, welchen er mit Recht daran zu fordern hat, oder welchen er durch seine Arbeit erwirbt.« (Ebd.: 264)

Die Frage nach dem ökonomischen und (darüber vermittelt) dem gesellschaftlichen Maß und Gleichgewicht in der Austarierung der Kräfte wird bei dem Landesfürsten auf den Begriff der Harmonie hin orientiert, findet zugleich aber im Begriff der Störung seinen Gegenbegriff. Auf Störungen trifft diese physiokratische Idee ökonomischer Bindung heterogener Gesellschaftsteile im noch nicht vollends konsolidierten Staat Baden nach 1806 mehrfach. So scheitern nicht nur die physiokratischen Experimente in den Städten, auch die Industrialisierung, die für

22 Hannelore Schlaffer hat in ihrer tiefgründigen historischen Einordnung des SCHATZKÄSTLEIN DES RHEINISCHEN HAUSFREUNDES DES

diese ANTWORT AUF DIE DANKESSAGUNG

LANDES NACH DER AUFHEBUNG DER LEIBEIGENSCHAFT (1783) in den Zusammen-

hang mit den historischen Veränderungen nach 1806 gestellt. Für sie ist das zentrale Wort ›Harmonie‹ vor allem als »Losungswort der Zukunft« (Schlaffer 1980: 264) zu verstehen. Der Umgang Hebels mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Ausgleich, die sich mit dem Wort ›Harmonie‹ verbunden sieht, kann aber auch, so soll hier abschließend gezeigt werden, mit gouvernementalen Regierungstechniken, ökonomischen Theorien und ästhetischen Imaginationen um 1800 in Verbindung gebracht werden.

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die Stabilisierung im Konkurrenzkampf mit Bayern und Württemberg notwendig ist, schreitet durch die Einwände des Landesherrn nur sehr langsam voran (vgl. Schlaffer 1980: 268 und Schimke 2012: 43f.). Störungsfreiheit ist aber gerade für die physiokratische Konzeption gelingender ökonomischer Zirkulation maßgebend. Diese Vorstellung des möglichst ungehinderten, reibungslosen Zirkulationsflusses ist vor allem an die Vorstellung der Selbstbeschränkung der Regierung gebunden. Es geht darum, Verhältnisse zu schaffen, in denen staatliche Eingriffe auf ein Minimum reduziert werden (vgl. Foucault 2004b: 29). Die ökonomischen und organisatorischen Edikte dieser Zeit schwanken in Baden hingegen zwischen der Maximierung souveräner Verfügungsgewalt und der liberalen Organisation und »Herstellung von Freiheit« (ebd.: 99) durch neue Regierungstechniken.23 Angemessenheit in der Regierungstätigkeit, maßvoller ökonomischer Austausch und letztlich Harmonie zwischen den Tauschpartnern orientiert sich am »›angemessenen Preis‹« (ebd.: 54). Besonders für die physiokratische Theorie sind nicht die Großstädte jene Orte, an denen sich diese Orientierung am angemessenen Preis mit der Suche nach dem richtigen Maß verbindet. Sie sind vielmehr jene Reflexionsobjekte, an denen sich »das problematische Verhältnis von Bedürfnissen, Überschuss und Zirkulation dokumentiert« (ebd.: 229). Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass die physiokratische Theorie in ihrer Abkehr vom merkantilistischen Modell der Großstadt24 als privilegierter Ort polizeylicher Regulierung zunächst eine »Entstädterung zugunsten einer Konzentration auf die Landwirtschaft« (Foucault 2004a: 492) favorisierte, die sich an natürlichen Produktionsprozessen und -zyklen25 orientiert.

23 Diese Herstellung von Freiheit, die über die Sicherung und Steuerung von Rahmenbedingungen interveniert, ist vor allem an ein »Nützlichkeitsprinzip« (Foucualt 2004b: 72) und -kalkül gebunden. Nicht zuletzt hebt daher auch die Standrede mit dem Satz an: »Das neue Gewicht und Maß bringt allgemeinen Nutzen.« (Hebel 1984: 336) Maßvolles Regieren, das sich an der Harmonie und dem Ausgleich orientiert, sieht sich dabei selbst immer wieder der Gefahr ausgesetzt, gerade durch »ein Übermaß an Regierungstätigkeit« (Foucault 2004b: 29) diese Austarierung zu unterlaufen. 24 »Daher kommt es, dass die Polizei im 17. und 18. Jahrhundert wesentlich, glaube ich, unter der Perspektive dessen vorgestellt wurde, was man die Urbanisierung des Territoriums nennen könnte. Es handelt sich im Grunde darum, aus dem Königreich, aus dem ganzen Territorium eine Art von Großstadt zu machen, so daß das Territorium wie eine Stadt, nach dem Vorbild einer Stadt und genauso vollkommen wie eine Stadt geordnet sein würde.« (Foucault 2004a: 483) 25 »Es ist das große Verdienst der Physiokraten, in ihrem Tableau économique zum ersten Mal den Versuch gemacht zu haben, ein Bild der Jahresproduktion zu geben in der Gestalt, in welcher sie aus der Zirkulation hervorgeht« (Marx 2007: 617)

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Es ist vor allem die Kleinstadt, und das zeigt die Rede Karl Friedrich von Badens, die nicht mehr als Ort der Disziplinierungen und Verordnungen (vgl. ebd.: 489) verstanden wird, sondern in einem auf der Grundlage von natürlichen Gesetzmäßigkeiten gedachten Produktionszyklus zum Ort der freien Zirkulation und des Austausches wird. Gerade dieser Preis als »Ort der Verifikation und Falsifikation der Regierungspraxis« (ebd.: 55) stellt jedoch die ökonomische Theorie und gouvernementale Regulierungsarbeit vor eine problematische Situation, denn das Schwanken des Preises setzt eine Zone der Unvorhersehbarkeit ein, die sich dergestalt an die Frage angemessenen Regierens knüpft, das die ›natürliche‹ Ausgleichsbewegung selbst permanent zwischen kontingenten Wechselfällen und ökonomischen Verbindlichkeiten pendelt (vgl. Vogl 2002: 224f.). Die Harmonisierungsbestrebungen Karl Friedrichs von Baden werden, entgegen der physiokratischen Idealvorstellung, die sich »an der restlosen Einlösbarkeit der repräsentativen Zeichen durch die Dinge des Bedarfs und damit am Kriterium eines immer wieder in sich geschlossenen Kreises ausrichtet« (ebd.: 31), selbst in einen dynamischen Prozess eingesenkt. Beschränkt man dieses Denken in »Begriffen wie Zirkulation, Überschuss, Gleichgewicht und Kompensation« (ebd.: 241) nicht bloß auf die ökonomischen Theorien, sondern verortet es in einem diskursiven Schnittfeld von Ökonomie, Politik, Naturgeschichte, Medizin, Ethik und Ästhetik, so eröffnen sich auch für das poetologische Moment der Inszenierung neuer Wissensformen in Hebels Kalendertexten neue Perspektiven. Dann wird es fraglich, ob man der Bedeutung der literarischen Inszenierung dieses historischen Prozesses in der STANDREDE vollends gerecht wird, wenn man sich nicht das poetologische Verfahren ansieht und den literarischen Text zudem in den Zusammenhang mit anderen Kalendergeschichten etwa über ökonomische Täuschungsversuche und Marktplatz- bzw. Wirtshausszenen stellt, die ähnliche Probleme verhandeln. Die Texte sind dann mehr als bloß »wirkungsvolle Mittel publizistischer Begleitung« (Stolleis 2004: 49) der neuen gouvernementalen Regierungstechnik eines Staatsbeamten, der die Gesetze und Weisungen des modernen Staatsapparates erfolgreich distribuiert. 26 Die Frage nach dem verbindenden Maß und dem gesellschaftlichen Gleichgewicht wird im RHEINLÄNDISCHEN HAUSFREUND durch unterschiedliche ästhetische Operationen an eine ethische Dimension gekoppelt, durch die jene reinen ökonomischen Prozesse zugleich auf gesellschaftlichen Ausgleich durch integrative Geselligkeit und kommunikative Verständigung auf den Marktplätzen und in den Wirtshäusern der Kleinstädte verwiesen werden. Das richtige Maß als eine Figur des

26 Zumal die Logik sowohl der Danksagung des Landesherren als auch die Standrede im Kalender nicht mehr über juridische Kategorien, sondern über die Einsetzung natürlicher Mechanismen der Regulierung laufen und somit ein komplexes Spiel des Austarierens anleiten (vgl. Foucault 2004b: 73).

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Äquilibriums ist in vielen Texten des Kalenders narrativ verhandelt und wird gerade durch diese literarischen Inszenierungen für die Gesellschaft und das Zusammenleben hinterfragt: »Merke: Man muß nie mehr scheinen wollen, als man ist, und als man sich zu bleiben getrauen kann, wegen der Zukunft.« (Hebel 1984: 236)

Dieses »Merke« steht nicht zufällig am Ende einer Geschichte aus Brassenheim, wo sich verschiedene Protagonisten immer wieder einen Vorteil durch falsche Maße bzw. ein Übermaß an Egoismus zu erschleichen versuchen. Auch in zwei anderen Texten betont Hebel in literarisch-medialer Selbstreflexivität, dass gerade der Kalender die Möglichkeiten dieses Ausgleiches als Fortschritt erkennbar macht: »Der geneigte Leser aber wird klug sein und am Ende jedes Jahrs den alten Kalender in ein Kistlein legen, bis er alle beisammen hat. Bereits aber wird er seine lustigen Täler voll Kirchtürme, seine fruchtbaren Felder und Hügel, seine Berge mit anderen Augen ansehen, wenn er sich daran erinnert, was sich hier schon zugetragen hat, und wird manchmal denken: Gottlob, es sind jetzt gleichwohl bessere Zeiten.« (Ebd.: 455) »Und in manchem Städtlein oder Flecken, wo einst kaum für einen Kreuzer Prisen zu haben waren, stehn jetzt Kaufläden mehr als einer, von den schönen Wirtshäusern an allen Straßen nicht zu reden.« (Ebd.: 465)

Dieser Fortschritt als Idee der kleinstädtischen Entwicklung wird hier durch einen »Mechanismus der gegenseitigen Bereicherung in Gang« (Foucault 2004b: 84) gesetzt, der mit des Landesherrn Vorstellung von der Vereinigung der Kräfte korrespondiert. Guido Bee hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass gerade in den späteren Kalenderexten (nach 1806) zunehmend das Singuläre, NichtBeispielhafte, Außergewöhnliche und Kontingente Einzug in die Erzählungen erhält und Hebel gerade darüber die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen der sich konstituierenden modernen Lebenswelt verhandelt. Bee nimmt dieser quer zur traditionellen Lesart der Kalendertexte liegenden Analyse aber gewissermaßen selbst die Brisanz, wenn er das Auftauchen dieser »durch den permanenten Einbruch gekennzeichneten Welt« (Bee 2004: 80) in den Kalendertexten auf die Ausrichtung auf Rezeptionserwartungen einengt, wodurch das Argument letztlich dahin tendiert, den literarischen Zuschnitt an Verkaufsmöglichkeiten zu messen (vgl. ebd.: 66). Die Figur des Äquilibriums, die in der Kleinstadt bei Hebel nicht realisiert, sondern durch ihre stets etwas abseitig liegende

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Moral27 gerade an diesem Ort der Spannung zwischen den Zeiten vielmehr zur Disposition steht, wird auf einen dynamischen Prozess hin orientiert. Anders als in der physiokratischen Theorie und ihrer Vorstellung von natürlichen Gesetzmäßigkeiten kann das Gleichgewicht vor dem Hintergrund der Moderne und ihrer Beschleunigung und Kontingenz nicht mehr in ein Spiel endlicher Kräfte und Vermögen eingefasst werden. Das »Merke« der Kleinstadt hängt der Kalender an einen dynamischen Ausgleichsprozess immer erneuter Aushandlungen inmitten der historischen Veränderungen, in den seine eigenen zeitlichen Organisationsfähigkeiten und lebenspraktischen Orientierungshilfen nunmehr eingebettet sind. In diesem Sinne lässt sich Benjamins Pointe vom Zusammenhang von Geschichte und Moral im Bild der Uhr als reziprokes Bedingungsverhältnis verstehen: »Wenn Hebels Geschichten ein Uhrwerk sind, so ist das ›Merke‹ der Zeiger« (Benjamin: 1972: 206). Denn dort, wo die Moral nicht mehr aufklärerisch-didaktisch serviert, sondern als Frage und Problem der postrevolutionären Zeit mit dem Thema des Gleichgewichts als eines dynamischen Prozesses gelingender Balance verbunden wird, setzt Hebel eine moderne Figur ein: Balance ergibt sich nur noch durch stetiges Ausbalancieren, die Idee des Äquilibriums wird in der Verlaufsform ständig wiederholter Äquilibrierung eingeschrieben.28 Die Möglichkeitsbedingung dieser Ausgleichbewegung markiert Hebel – vor allem wenn er den konservativen Aspekt der Kleinstadt am Beispiel Brassenheims beschreibt – dabei sehr deutlich: die Öffnung der Kleinstadt für Veränderungen und Neues: »Schick dich in die Welt hinein, Denn dein Kopf ist viel zu klein, Daß die Welt sich schick’ in ihn hinein.« (Hebel 1984: 552)

Nur diese Offenheit für die Spannungen der modernen Welt zeitigt die Möglichkeit des Ausgleichens, denn die große Geschichte ist derweil sowieso schon inmitten der kleinsten Gasse der kleinsten Stadt:

27 So die überzeugende Beschreibung bei W.G. Sebald: »Überhaupt steht er [der Hausfreund, K.D.] trotz seiner professionellen didaktischen Neigung nie in als Präzeptor in der Mitte, sondern immer ein Stückchen abseits« (Sebald 2000: 19). 28 Diese Dynamisierungstendenz verweist damit bei Hebel auf das Denken einer modernen Balancefigur ein, die nicht mehr den letztgültigen Ausgleichpunkt erreicht, sondern nur noch in der Bewegung selbst stattfindet (vgl. zur diskursiven Einordnung dieser Figur vgl. Goebel 2006: 9-16, 24 und passim).

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»Kamen nicht um diese Zeit die Weltbegebenheiten dem guten rheinländischen Leser selber bis ins Haus und auf den Speicher, und blieben manchen Abend bei ihm über Nacht?« (Ebd.: 481)

Das literarische Verfahren der Verschränkung von Mikro- und Makrokosmos in der Kleinstadt zeigt eine Ästhetik polarer Bezüglichkeit, die sich bei Hebel in den kleinstädtischen Lebensraum einschreibt. Die Ausführungen sollten daher auch vor allem zeigen, dass die Kleinstadt bei Hebel nicht bloß eine Art Miniaturversion der Großstadt ist, in der sich die Entwicklungstendenzen besser beobachten lassen. 29 Die Kleinstadt hat bei Hebel, vor allem im Kontrast zu seinen Großstadtbeschreibungen, eine zeitliche Eigenlogik, die in ihrer Ambivalenz als Ort der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen besteht, und spezifische räumlich-architektonische Einrichtungen (Marktplatz, Wirtshäuser), die sich zu eigenen Formen sozialer Organisation ausgestalten und deren politisches, ökonomisches und gesellschaftliches Beziehungsgeflecht sich gerade darin manifestiert. Brassenheim ist gerade deswegen Bezugspunkt und Spannungsfeld der literarischen Fiktion einer idealtypischen Kleinstadt in ihrer dynamischen Dialektik aus konservativer Mentalität und beschleunigenden Modernisierungsprozessen. Hebel hebt diese Dialektik in Brassenheim aber nicht auf, sondern macht die Stadt zum Ort konfliktgeladener Austragung von historischen Aushandlungsprozessen.

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29 So wird die Kleinstadt häufig verhandelt: »Des Weiteren werden kleine Städte immer wieder als Modellfälle konstituiert, mit denen gesellschaftliche Entwicklungen beschrieben werden. Sie gelten als Zeichenräume, Modelle oder Laboratorien der Moderne, im 20. Jahrhundert wird auch die Mikrokosmos-Vorstellung auf kleine Städte angewandt, z.B. in Heinrich Manns Roman Die kleine Stadt.« (Nowak: 2013: 95)

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Stifter. Keller. Raabe. Zu Literatur und Soziologie im 19. Jahrhundert A NSGAR M OHNKERN

I. Seit ihren Anfängen ist insbesondere die deutsche Soziologie darum bemüht, die Komplexität von modernen Gesellschaften samt ihrer Prozesse, Verfahren und Entwicklungen wie auch ihrer Akteure, ihrer Schauplätze und anderer Eigentümlichkeiten in je neuer Weise und in je neuer Terminologie buchstäblich auf den Begriff zu bringen. Das Bedürfnis nach einem solchen Auf-den-Begriff-Bringen klingt selbst noch in Luhmanns berühmter Anführung von der »Reduktion von Komplexität« (Luhmann 1997: 143f.) nach, in deren Dienst nicht allein soziale Systeme stehen. Gleiches gilt nämlich ebenso für jedwede Systeme der Soziologie selbst in ihrem Bemühen, die schiere Unübersichtlichkeit ihres ureigenen Gegenstandes – nämlich Gesellschaft in ihrem modernen, differenzierten Sinn – in eine Art Überschaubarkeit zu verwandeln, die es erlaube, so etwas wie kategorisierte Erkenntnis hervorzubringen. Dieses geschieht seit jeher durch die Ausweisung von Homogenitäten, von Strukturen, wiederkehrenden Prinzipien und Ordnungen, die sich in der Sprache der Soziologie als Terminologie oder – vermeintlich distinkt, ab- wie eingrenzend, differenzierend und definierend – als Begriff darstellen.1 Ein solches Bedürfnis nach Ordnung und Geschlossenheit, das nicht bloß sozialen Systemen, sondern wohl eben auch den Systemen ihrer Beschreibung in der Soziologie selbst zu Grunde liegt, trat (und tritt noch stets) mit dem Dasein des je

1

Vgl. zu dieser latenten Überlappung von Gegenstand und Methode Luhmann (1997: 68) selbst: »Zunächst klären die bisherigen Begriffsfestlegungen auch den heute oft benutzten Begriff der operativen (und selbstreferentiellen) Geschlossenheit des Systems.«

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Partikularen, je Einzelnen in Bezug, ja womöglich in Widerspruch. So bringt doch jeder Begriff notwendigerweise eine Art von Subsumtion dieses je Partikularen mit sich, und zwar in der Weise, dass dasselbe mit dem Risiko ausgestattet ist, nicht angemessen betrachtet, ja mitunter übersehen oder gar getilgt zu werden. So gilt lange Zeit, was Adorno einmal über den Charakter der Soziologie als Disziplin bemerkte, in der »in irgendeiner Weise Gesellschaftliches verhandel[t]« werde: »Eine jede Ansicht von der Gesellschaft als ganzer transzendiert notwendig deren zerstreute Tatsachen. Die Konstruktion der Totale hat zur ersten Bedingung einen Begriff von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren.« (Adorno 1972: 197)

Zumal in der Tradition der deutschen Soziologie herrschte noch lange die von Kant herrührende Vorstellung von einer Erkenntnis vor, in der die jeweilige Anschauung eines konkreten Gegenstandes stets einem Begriff, einer Kategorie unterzuordnen sei, sofern am Ende im Prozess der Erkenntnis auch tatsächlich eine gültige Form von Wissen stehen soll. Nur konsequent erscheint es demnach, wenn Max Weber in WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT, gleichsam Monumentalwerk der modernen Soziologie, diesen Sachverhalt reflektiert und das Programm der Disziplin gerade als Begriffsarbeit definiert: »Die Soziologie«, so Weber, »bildet – wie schon mehrfach als selbstverständlich vorausgesetzt – Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens.« (Weber 2013: 169) Solche »Typen-Begriffe« aber sind nicht selten gerade von jener Art, dass sie die Strukturen, die sie bezeichnen und schematisch präsentieren, in der Sprache von klaren Gegensätzlichkeiten, von distinkten Oppositionen darstellt. Und so steht denn auch am Anfang der deutschen Soziologie gerade jenes Werk, das schon in seinem Titel genau solche oppositionelle Begriffsbildung führt, die für Jahrzehnte so etwas wie ein Art Leitproblem einer am Ende des 19. Jahrhunderts noch jungen Disziplin sein wird: Ferdinand Tönnies’ GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT (1887). Der Untertitel zeigt an, was verhandelt wird, nämlich »Grundbegriffe der reinen Soziologie«, die, so das Eingeständnis, im Rahmen der »wissenschaftliche[n] Ansicht« (Tönnies 1963: 5) nicht auf der diffusen Basis von (man höre darin das Echo der Sprache Kants) »mannigfachen Erscheinungen« (ebd.), sondern notwendigerweise auf ein »Ganzes« (ebd.) gerichtet sein müsse. Demnach leitet sich die Geburtsstunde der Soziologie aus einer »[a]llgemeine[n] Bestimmung der Hauptbegriffe« (ebd.: 1) her, die überhaupt einer Bestimmung der »wissenschaftliche[n] Terminologie« (ebd.: 3) entspricht, in der entschieden distinktiv das »Wesen der Gemeinschaft« (ebd.) von dem »Begriff der Gesellschaft« (ebd.) getrennt wird und sich formelhaft wie folgt niederschlägt:

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»Wenn man daher neuerdings, in wissenschaftlichem Begriffe, von der Gesellschaft innerhalb eines Landes, im Gegensatz zum Staate, handelt, so wird dieser Begriff aufgenommen werden, aber erst in dem tieferen Widerspruch gegenüber den Gemeinschaften des Volkes seine Erläuterung finden. Gemeinschaft ist alt, Gesellschaft ist neu, als Sache und Namen.« (Ebd.: 4)

Es zeigt sich also zum einen, dass sich Soziologie – ganz ähnlich etwa wie im Fall des von de Saussure in die Linguistik eingeführten Prinzips der Differenz – an der Idee eines systematischen »Widerspruchs« nährt, an dem sich so etwas wie wissenschaftliche Erkenntnis auszurichten hat. Es verdeutlicht aber zum anderen auch, dass es sich bei dem Gegenstand der Soziologie selbst nicht um eine unveränderbare, sich stets gleiche »Sache« handelt, sondern diese selbst, so wie die »Namen«, die sie einzufangen suchen, einer ihrem Charakter nach geschichtlichen Veränderung unterliegt. Diese Veränderung, wie sie sich am Ende des 19. Jahrhunderts in einer Vielfalt von sozialen Erscheinungen als Ergebnis einer Entwicklung zeigt, in der sich »alte« Formen des gemeinschaftlichen Lebens zunehmend durch die »neuen« von Gesellschaft ersetzt finden, ist jene Veränderung, die sich mit Karl Polanyi (1978) als »Great Transformation« bezeichnen ließe. In ihr bilden sich jene Komplexitäten von Institutionen, von ökonomischen, juridischen, politischen und überhaupt gesellschaftlichen Ordnungen heraus, deren Nachfolger noch heute im Gewand einer in ihrer Gesamtheit unübersichtlichen Globalisierung zu beobachten sind: nämlich Städte, Märkte und soziale Netzwerke. In diesem Prozess einer Herausbildung gesellschaftlicher Komplexität büßen soziale Beziehungen einerseits zunehmend an Konkretheit und Direktheit – d.h. in der Sprache Tönnies’: an Gemeinschaft – ein, derweil sie andererseits einen höheren Grad sozialer Abstraktion herausbilden, sich in Erscheinungen und Lebenswelten sukzessive ausdifferenzieren und eben darin gerade in ihrem geschichtlichen Sinne gesellschaftlich werden. Zur Charakterisierung des Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft gehört dabei auch die Bestimmung des Gegensatzes ihrer jeweiligen geographischen Ordnungen. Tönnies bemerkt dazu einschlägig: »In dauernder Beziehung auf Acker und Haus entwickelt sich das gemeinschaftliche Leben.« (Tönnies 1963: 25) Hiermit ist angedeutet, dass es sich bei der Ordnung der Gemeinschaft wesentlich um eine explizit rurale Ordnung handelt, in der sich Wirtschaften und Leben mit gemeinschaftlichem Besitz sowie einer »[g]egenseitig-gemeinsame[n], verbindende[n] Gesinnung, als eigene[m] Willen« (ebd.: 20) abspielt. Soziales Leben weist also in seiner vermeintlich ursprünglicheren Gestalt, wie sie von der Idee der Gemeinschaft gekennzeichnet ist, eine Verbundenheit mit ländlichen Strukturen auf, in denen soziales Handeln durch einen irgendwie homogenen sozialen Zweck bestimmt ist.

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Solche Bindung von sozialer Struktur und geographischem Schauplatz findet sich nicht für das System einer Gesellschaft, die ihrem geschichtlichen Ort nach zunehmend das Modell von Gemeinschaft überdeckt. Denn »Gesellschaft als Gesamtheit, über welche sich ein konventionelles System von Regeln erstrecken soll, ist […], ihrer Idee nach, unbegrenzt; ihre wirklichen und zufälligen Grenzen durchbricht sie fortwährend.« (Ebd.: 53) Wesentlich an der Ordnung des Gesellschaftlichen ist also, dass sie sich gleichsam selbst ihren Ort zuweist, den sie latent stets von Neuem hinausschiebt, ausweitet und auch verändert. Dies indessen bedeutet keineswegs, dass Gesellschaft notwendigerweise ortlos ist; es gilt bloß, dass ihr kein einmaliger, kein konkreter Ort angemessen scheint, wie es zumindest der Idee nach für die latent immobile Ordnung der Gemeinschaft angenommen wird. An die Stelle eines gleichsam natürlichen Ortes tritt – darin kommt die Vorstellung von Gesellschaft als »mechanisches Aggregat und Artefakt« (ebd.: 5) zum Ausdruck – vielmehr ein Schauplatz. Schauplatz ist er darum, weil an ihm verschiedene Akteure zusammenkommen, die zur Grundlage ein System von abstrakten, vornehmlich wirtschaftlichen Beziehungen haben, denen das »Dasein von Gesellschaft […] ein werdendes Etwas […] [u]nd zugleich ein fiktives und nominelles« (ebd.: 53) ist. Zwar kommen nach theoretischen Gesichtspunkten diese Akteure ohne Ortsbindung aus, de facto aber senkt sich unmittelbar in das Bewusstsein der Soziologie die Idee ein, dass sich als Schauplatz die Praxis des städtischen Lebens herauskristallisiert. Es ist bekanntermaßen Georg Simmel, der den Ort dieses Lebens an der Schwelle zum 20. Jahrhundert genauer bestimmt, wenn sein einschlägiger Aufsatz über DIE GROßSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN (1903) den Schauplatz dessen, was Tönnies »Gesellschaft« nennt, explizit als Großstadt markiert. Auch wenn diese Großstadt ihre »funktionelle[] Größe jenseits ihrer physischen Grenzen« (Simmel 1998c: 127) hat, so bringt ihr »großstädtische[s] Gewühl« (ebd.: 126) gegenüber ruralen Lebensräumen doch vor allem eines hervor: Unüberschaubarkeit sowie relative »Unabhängigkeit, die der einzelne innerhalb ihrer [der Großstadt] genießt.« (Ebd.: 127) So sehr Simmel dabei auch immer auf die Relativität sozialer Beziehung sowie ihrer »Differenzierung«2 insistiert, so sehr ist er doch auch noch stets dem Erbe der frühen Soziologie verbunden, die danach trachtete, soziologische Erkenntnis auf der Basis von Differenz, von begrifflicher Opposition und distinkter Unterscheidung zu etablieren, was für die Frage nach dem Lebensraum bedeutet, dass sich Gemeinschaft und Gesellschaft in folgenden Oppositionen denken lassen muss: rural vs. urban, Dorf vs. Stadt, Land vs. Metropole.

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Vgl. dazu insbesondere Simmels frühen Text ÜBER SOCIALE DIFFERENZIERUNG (Simmel [1890] 1998a).

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Das Dilemma einer wissenschaftlichen Terminologie, die sich in ihrem Wesen auf das Prinzip von Differenz und Unterscheidung und dabei insbesondere auf das Herausbilden von Kategorien und Begriffen stützt, spiegelt sich notwendigerweise in dem Sachverhalt, dass sie ihren je verschiedenen Gegenstand dem Primat einer distinkten wie zugleich distinktiven begrifflichen Ordnung unterwirft. So kristallisiert sich als Gemeinplatz in der Soziologie rasch die allseitig anerkannte Unterscheidung von ruralem Lebensraum vs. urbanem Lebensraum, von Dorf/Land vs. Stadt heraus. Dieses Modell ist zweifelsohne kraftvoll in der Unterscheidung von Idealtypen, zumal es unter dem geschichtlichen Eindruck des späten 19. Jahrhunderts, in dem das Anschwellen der Großstädte eine der zentralen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen darstellt, einen Nachweis für die Versuche bildet, als Disziplin den ›neuen‹ Lebenswelten gegenüber mündig zu bleiben. Die ›Haussmannisierung‹ von Paris, in der sich ein frühes soziologisches Bewusstsein mit städteplanerischer Architektur sowie dem konkreten und gewaltsamen Machtanspruch Napoleon III. paart, zeigt diesen Sachverhalt im europäischen Kontext wohl in seiner unverhohlensten Form an. Dass hingegen nicht jede mehr oder weniger urbane Lebenswelt, zumal im deutschen Kontext, dem Idealcharakter eines Paris als der »Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« (Benjamin 1977b: 45ff.) entspricht, sondern sich gerade zwischen den eindeutigen Polen von Stadt und Land eine weitreichende Diffusion von Lebensräumen ausbreitet, macht derweil die Herausforderung, eine begrifflich scharfe soziologische Terminologie herauszubilden, deutlich. Dies ist zumal dann der Fall, wenn die Terminologie nicht bloß polare Idealtypen, sondern ihrerseits auch die Nuancen, Details wie auch Zwischenräume hinreichend abbilden will. Einschlägig für diese Herausforderung ist dabei das Problem, eben nicht die Großstadt bzw. große Stadt halbwegs angemessen begrifflich einzufangen, sondern vielmehr ihrer bisweilen diffusen urbanen Komplementärerscheinung, nämlich der Kleinstadt mit dem begrifflichen Instrumentarium einer gerade in ihrer Geburtsstunde auf eindeutige Opposition und Differenz abzielenden Sprache der Soziologie habhaft zu werden. Selbst den Gesten der Relativierung und Anerkennung von Komplexität, wie sie etwa Georg Simmels Einwürfen zumeist eigen sind, entweicht gerade diese Kleinstadt, indem sie dem eindeutig Ruralen oder – so ließe sich mit Tönnies erweitern – dem einseitig Gemeinschaftlichen zugeschlagen wird. Im Gegensatz zu einem »weiten nationalen und internationalen Bezirk« (Simmel 1998c: 127), wie sie vermeintlich bloß der Großstadt anhänglich ist, sei nämlich »die Lebenssphäre der Kleinstadt […] in und mit ihr selbst beschlossen.« (Ebd.: 126) Unter dieser Prämisse erscheint es nur allzu konsequent, dass die latente Selbstbezüglichkeit der antiken Polis der der Kleinstadt vergleichbar sei (vgl. ebd.: 125). In dem Bedürfnis begriffliche Eindeutigkeiten zu produzieren, fällt also die soziologische Beobachtung auf die simple und in vielen Bereich gar pejorativ konnotierte Feststellung zurück, dass die Kleinstadt in allen ihren Elementen im

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Wesentlichen nichts anderes sei als eben nicht die Großstadt. Diese Einordnung der Kleinstadt mag zum einen ein spezifisches Zeugnis für eine nicht selten (und nicht nur bei Simmel) hindurchschimmernde Ehrfurcht vor der Monstrosität der Großstadt sein. Darüber hinaus aber zeugt es von der spezifischen Ohnmacht der noch jungen Disziplin Soziologie, gerade das Unspezifische sowie das einigermaßen Diffuse und Unkategorisierbare, das der Verlegenheitsbezeichnung ›Kleinstadt‹ ja zweifelsohne auf der buchstäblichen Ebene anhaftet, begrifflich zu fassen.

II. Aus dem Begriffsdilemma der frühen Soziologie ergibt sich, dass es sich gerade für das 19. Jahrhundert als dem Jahrhundert teils ungeheurer Transformationen von sozialen Lebenswelten bei der Suche nach der Bestimmung dessen, was die Kleinstadt denn eigentlich sei, nach Alternativen umzuschauen gilt. Es mag nicht überraschen, dass gerade bei der Ausschau nach diesen Alternativen die womöglich unbegrifflichste aller möglichen Sprachen, nämlich die Sprache der Literatur, zu einer Fundgrube für die zumindest symptomatische Erfassung gerade des Kleinstädtischen wird. So ist zumal von der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts behauptet worden, dass sie – zumindest im Vergleich mit der Literatur, die Baudelaires oder Balzacs Paris, Dickens’ London oder gar noch Mevilles New York hervorbrachten – irgendwie ›provinziell‹ geblieben sei. Und in der Tat: Gerade jene Literatur, die eine epochenabgrenzende Germanistik für gewöhnlich mit der Nomenklatur ›Realismus‹ zu versehen gewohnt ist, präsentiert auf den ersten Blick ihre Geschichten eigentümlich rural. Von Stifters NACHSOMMER bis hin zu Fontanes STECHLIN weist sie Schauplätze abseits jener großstädtischen Ordnungen auf, platziert ihre Geschichten (wenn auch nicht ausschließlich, so doch zumindest tendenziell) vor ländlichen Kulissen. Schenkt man einem Historiker des 19. Jahrhunderts Glauben, so sind dabei »Wilhelm Raabe, Adalbert Stifter und selbst Gottfried Keller […] Pflegefälle der Germanistik geworden.« (Osterhammel 2011: 30) Doch so sehr die mitsamt anderer ehedem kanonischer Autoren zunehmend in die Ungelesenheit zu fallen drohen, so sehr bilden sie doch zugleich eine Art von Komplementärphänomenologie zu den frühen Versuchen begrifflicher Soziologie heraus, insofern sie qua Literatur nicht an das Bedürfnis gebunden sind, begriffliche Schärfe auszubilden, sondern das eigentümlich Diffuse an den sozialen Erscheinungen des 19. Jahrhunderts abzubilden, ohne sie notwendigerweise auf den Begriff bringen zu müssen. Denn wenn auch nicht ausschließlich, so doch zumindest vornehmlich teilen alle drei Autoren eine Vorliebe für das nicht explizit Städtische und wohl auch nicht explizit Ländliche. Ihre Welt ist – wenn auch in je verschiedener Weise – die Welt des Kleinstädtischen.

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Der historisch erste der drei genannten »Pflegefälle« ist Adalbert Stifter. Es mag eigentümlich scheinen, den Naturmaler und -schriftsteller gerade in die Reihe derer zu setzen, die sich an den Transformationsprozessen eines sich zunehmend in Bewegung setzenden 19. Jahrhunderts abarbeiten, steht doch nahezu das gesamte Werk unter dem Verdacht, dass – so vielleicht am einschlägigsten Benjamin in seinem eigentümlich ratlosen Text über STIFTER – »der Grundzug seiner Schriften« eben vor allem »die Ruhe« (Benjamin 1977a: 609) sei. Dass dabei etwa noch lange eine Erzählung wie das in die Sammlung BUNTE STEINE eingegangene BERGKRISTALL bis in die Mitte des 20. Jahrhundert eher als erbauliche Volksschullektüre zumal im Kontext katholisch geprägter ruraler Lebensräume galt, mag als eine Spätform einer eigentümlichen Rezeptionsverwirrung gelten, die sich rund um den Österreicher rankt und wohl erst seit den 1990er Jahren einer berechtigten und gründlichen Revision unterzogen wurde.3 Doch steht gerade dieses BERGKRISTALL – jene Geschichte einer weihnachtlichen Kammüberquerung, in der sich die beiden Kinder Konrad und Sanne in der alpinen Schnee- und Eiswelt des Berges bei dem Versuch verlieren, die großelterlichen Weihnachtsgeschenke am Heiligen Abend in ihr Heimatdorf zu bringen – in einem eigentümlichen Spannungsfeld zwischen altertümlicher Ruralität und den in Miniatur sichtbaren Modernisierungsprozessen des Zeitalters, in dem die Erzählung entstand. Beide Kinder leben in dem Dorf Gschaid, einer scheinbar abgeschlossenen, selbstgenügsamen, »eigene[n] Welt« (Stifter 1961: 164), die nach Tönnies wesentliche Kriterien von Gemeinschaft erfüllt: Intimität, Überschaubarkeit, Nachbarschaft und unmittelbare soziale Beziehungen. Das Tal, in dem sich dieses Gschaid befindet, kennt »keine Straßen« (ebd.) und scheint nicht angebunden an die ›große Welt‹, derer Hintergrundrauschen hinter die Talgrenzen verwiesen wird. Und doch gilt, dass die Kinder Produkte einer Ehe sind, die die Grenzen der Abgeschlossenheit des Tales im Stillen, aber doch entschieden sprengt. Ist nämlich der Vater ein in Gschaid ansässiger Schuster, so entstammt die Mutter doch dem »jenseitige[n] Tal« (ebd.: 167), was die Passüberquerung als eine Art Minimalpraxis von Migration wie auch Warenverkehr notwendig macht. Das Tal der mütterlichen Familie hat derweil im Unterschied zu Gschaid »an seinem Eingange einen stattlichen Marktflecken Millsdorf, der sehr groß ist, verschiedene Werke hat und in manchen Häusern städtische Gewerbe und Nahrung treibt. Die Bewohner sind viel wohlhabender als die in Gschaid, und obwohl nur drei Wegstunden zwischen den beiden Tälern liegen, was für die an große Entfernungen gewöhnten und Mühseligkeiten liebenden Gebirgsbewohner eine unbedeutende Kleinigkeit ist, so sind doch Sitten und

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Es sind wohl vor allem zwei Arbeiten zu nennen, die dem jüngeren Interesse an Stifter einen entscheidenden Impuls gegeben haben: Geulen (1992) sowie Begemann (1995).

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Gewohnheiten in den beiden Tälern so verschieden, selbst der äußere Anblick derselben ist so ungleich, als ob eine große Anzahl Meilen zwischen ihnen läge.« (Ebd.: 168)

Dorf, so zeigt sich, ist also nicht notwendigerweise gleich Dorf. Verbindet sich nämlich das Dörfliche der Bergwelt hier mit dem explizit »städtische[n] Gewerbe«, so lässt sich wohl kaum noch von einer einseitig ruralen bzw. einseitig gemeinschaftlichen Ordnung sprechen. Millsdorf wie auch Geschaid haben keine Entsprechungen in der wirklichen Welt, doch als imaginäre Dörfer tragen sie immer schon Spuren eines irgendwie Kleinstädtischen, eines nicht mehr einseitig, sondern allenfalls zweideutig Altertümlichen. In solcher Zweideutigkeit hat sich die Lebenspraxis von Gesellschaft grundlegend eingenistet. Dies zeigt sich am deutlichsten in der Familie der Kinder; ist doch selbst bereits der Gschaider Schuster, der »nirgends entbehrt werden kann, wo die Menschen nicht in ihrem Urzustande sind« (ebd.: 170), durch gerade jenen »Marktflecken«, der sich in Millsdorf findet, seinerseits an eine Welt von Handel und Warenaustausch angebunden, die über die Grenzen des Tales hinausgeht. Denn es »geht sogar ein Weg, der eine Straße heißen könnte, längs ihres Tales« (ebd.: 169). Das bedeutet: Selbst inmitten der vermeintlichen Ruhe der Bergwelt findet ein regelmäßiger Transfer von Menschen, von Waren und von Arbeit statt, und selbst noch das abgeschiedene Gschaid pflegt eine entfernte, aber doch stete Beziehung zu dieser bewegten Welt von Austausch und Zirkulation. So haben sich in die Stiftersche Welt, für dessen begriffliche Repräsentation sich nur nach allzu naiven Maßstäben noch die Rede von einem einseitig Gemeinschaftlichen veranschlagen ließe, behutsam Elemente einer latent auf Austausch und vor allem Expansion von wirtschaftlicher Aktivität gründenden Form von Gesellschaft eingeschlichen. Wurde bereits bemerkt, dass Stifter darum bemüht sei, »jene Einfachheit auch in die großen Verhältnisse des Schicksals zu tragen« (Benjamin 1977a: 608), so zeigt sich hier nun, dass sich dies ebenso in entgegengesetzter Weise lesen ließe, und zwar dergestalt, dass solche »großen Verhältnisse« gerade in Miniaturform Eingang gefunden haben in jene Welt des nur nach ästhetischen, nicht aber mehr nach sozialen Gesichtspunkten »Kleine[n]« (Stifter 1961: 7), von dem Stifter in der Vorrede zu BUNTE STEINE schreibt. Die Welt Gschaids ist eine Welt von Warenwirtschaft und Warenverkehr, als deren frühe Agenten jene beiden Kinder zu gelten haben, die dem Schneegestöber und dem Eis des Berges nur durch ein weihnachtliches Wunder zu entrinnen vermögen. Solches Wunder stellt dabei womöglich noch die letzte Form dar, der Undurchsichtigkeit nicht nur des Schneegestöbers selbst, sondern zuletzt womöglich auch der latenten Gewalt der aufdämmernden modernen gesellschaftlichen Ordnungen zu entrinnen. Darin sind die Kinder unzweifelhaft Nachfolger eines Vaters, der nur darum zur Heirat jener »schöne[n] Färberstochter von Millsdorf« (ebd.: 173) gelangt, weil er gemäß der Devise seines in seinen Geschäften bereits weiter fortgeschrittenen Schwieger-

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vaters lebt, dass nämlich »ein rechter Mann […] sein Gewerbe treiben« (ebd.: 174) müsse.4 In Miniaturform, aber darum nicht weniger entschieden, hat sich also selbst in die Abgelegenheit der Bergwelt wie zugleich auch in die familiären Strukturen die Praxis von gesellschaftlichem Warenverkehr und »Tausch« eingesenkt, über den Tönnies bemerkte, dass er als »vereinigter und einziger Act, Inhalt des fingierten Social-Willens ist.« (Tönnies 1963: 42) Insofern eignet den Dörfern also, wie sie in BERGKRISTALL wie auch in anderen Erzählungen Stifters den Ort des Geschehens bilden, ein womöglich bereits eigenständig Kleinstädtisches in dem Sinne an, dass sich in ihm – »Marktflecken« und expandierende Privatwirtschaft zeigen es an – erste Entwicklungsstufen von gerade jenen Institutionen finden, die in der Sprache der Soziologie dem Gesellschaftlichen zugeschlagen werden. Wie so oft bei Stifter, in dessen NACHSOMMER etwa das Idyll der ruralen, abgeschiedenen Welt des Asperhofes finanziert wird durch Instrumente einer komplexen Finanzindustrie (vgl. dazu Mohnkern 2013), erscheint es grundlegend verfehlt, den natürlichen Schauplatz der Bergwelt mit den historischen bzw. gesellschaftlichen Schauplätzen zu identifizieren. Denn das Eigentümliche an der Stellung Stifters ist, dass die »Ruhe«, wie sie Benjamin benannte, nicht bloß Ausdruck einer »Abwesenheit zunächst und vor allem jeglicher akustischer Sensation« (Benjamin 1977a: 609) ist, sondern dass sie sich im buchstäblichsten Sinne vielmehr »in der Stille« (Stifter 1961: 189) des Schneegestöbers mit Elementen jener »neue[n] Unübersichtlichkeit« paart, die ja bekanntermaßen noch im 20. Jahrhundert als Metapher herhalten musste beim Versuch, den Charakter gerade moderner Gesellschaften auszudeuten und ihm Anschaulichkeit zu verleihen (vgl. Habermas 1985).

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Einschlägig für den Expansionswillen des Vaters heißt es: »Einige Zeit nach dem Tode seiner Eltern, durch welchen ihm das Haus derselben zugefallen war, das er nun allein bewohnte, änderte sich der Schuster gänzlich. So wie er früher getollt hatte, so saß er jetzt in seiner Stube und hämmerte Tag und Nacht an seinen Sohlen. Er setzte prahlend einen Preis darauf, wenn es jemand gäbe, der bessere Schuhe und Fußbekleidungen machen könne. Er nahm keine andern Arbeiter als die besten und drillte sie noch sehr herum, wenn sie in seiner Werkstätte arbeiteten, daß sie ihm folgten und die Sache so einrichteten, wie er befahl. Wirklich brachte er es jetzt auch dahin, daß nicht nur das ganze Dorf Gschaid, das zum größten Teile die Schusterarbeit aus benachbarten Tälern bezogen hatte, bei ihm arbeiten ließ, daß das ganze Tal bei ihm arbeiten ließ, und daß endlich sogar einzelne von Millsdorf und andern Tälern hereinkamen und sich ihre Fußbekleidungen von dem Schuster in Gschaid machen ließen. Sogar in die Ebene hinaus verbreitete sich sein Ruhm, daß manche, die in die Gebirge gehen wollten, sich die Schuhe dazu von ihm machen ließen.« (Stifter 1961: 171f.)

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III. Ein zweiter im Bunde der germanistischen »Pflegefälle« ist Gottfried Keller. Kann schon DER GRÜNE HEINRICH vor dem Hintergrundrauschen einer grundsätzlich missglückten Stadterfahrung in München seine sozialgeschichtlichen Facetten nur unschwer leugnen, so stehen sich in Kellers Literatur überhaupt die Analyse von »gesellschaftliche[m] Wandel« und demjenigen, was sich als »sprachliche Form« darstellt, näher als vielleicht bei jedem anderen Schriftsteller selbst des 19. Jahrhunderts (vgl. Szemkus 1969). Mag der Schweizer die Bergwelt auch nie ganz verlassen haben, so sind die Kulissen doch weitaus urbaner als bei seinem österreichischen Zeitgenossen Stifter. Und doch: Nie steht er mit beiden Beinen so ganz in der Großstadt, die sich ja – zumal im Schweizer Kontext – auch allenfalls erst von Ferne her ankündigt. Zürich hat in der Mitte des 19. Jahrhundert nur etwa 50.000 Einwohner und wäre damit wohl nicht mehr als das, was heute den Namen ›Kleinstadt‹ verdiente.5 Einschlägig unter den Kleinstädten Kellers ist derweil zweifelsohne die fiktive unter ihnen: Seldwyla, »die kleine Stadt dieses Namens gelegen irgendwo in der Schweiz« (Keller 1996b: 11). Dabei nehmen jene berühmten LEUTE VON SELDWYLA, nach denen Kellers noch stets berühmtester Erzählband im 19. Jahrhundert benannt ist, zunächst den Anschein, als seien sie nie so recht angemessen und vorbereitet für die Modernisierungsprozesse ihres Zeitalters; liegt ihre Stadt doch »noch in den gleichen Ringmauern und Türmen, wie vor dreihundert Jahren« (ebd.). Als tendenziell aus der Zeit gefallene Parodie dessen, was die Idee einer mittelalterlichen Stadt darstellt, weist Seldwyla gerade jene Abgeschlossenheit auf, mit der Simmel die Kleinstadt identifizierte. Und doch lässt sich von Seldwyla, das Keller zumal in seinen kruden Figuren präsentiert, keineswegs behaupten, dass es nicht auch ein spezifisch Großstädtisches nach Simmels Maßstäben ausweise. Dieses Großstädtische liegt in den Elementen von Geschäftigkeit, Arbeitsteilung und auch jener auf durchaus abstrakten Institutionen beruhenden Rechtsordnung, die etwa die Streitsache Manz versus Marti in ROMEO UND JULIA AUF DEM LANDE eben doch in der Stadt austragen lässt. Seldwyla, so ist erst kürzlich bemerkt worden, »ist ein Tummelplatz unhaltbarer Zustände, aber darum wiederum überraschend stabil.« (Honold 2016: 52) Darüber hinaus aber weist die Kleinstadt durchweg gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnisse aus – lässt man

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Programmatisch für solches ambiges Stadtbewusstsein, das nie ganz als Stadt, aber auch nie ganz als Land erscheint, liest sich der Beginn des GRÜNEN HEINRICH: »Zu den schönsten vor allem in der Schweiz gehören diejenigen Städte, welche an einem See und an einem Flusse zugleich liegen, so, daß sie wie ein weites Tor am Ende des Sees unmittelbar den Fluß aufnehmen, welcher mitten durch sie hin in das Land hinauszieht.« (Keller 1996a: 11)

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doch »fremde Leute für sich arbeiten« (Keller 1996b: 11) – und verbindet diesen Zustand mit einem »trefflichen Schuldenverkehr[]« (ebd.), der anzeigt, dass das Leben der Kleinstadt, so altertümlich es daherkommt, doch wesentlich von Geld und zumal von Kredit angetrieben wird, der ja ohne jeden Zweifel zu den Kernfaktoren moderner kapitalistischer Gesellschaften gehört. Im Zentrum Seldwyla steht – das ist über Keller längst bemerkt worden – die Vorstellung eines Homo Oeconomicus (vgl. Breithaupt 2003). Gerade Geld als die »verkörperte Funktion des Ausgetauschtwerdens« (Simmel 1998b: 211) innerhalb einer Ordnung abstrakter sozialer Beziehungen gestaltet das Leben in den Erzählungen Kellers vielfach zu vermittelten Beziehungen um und macht deutlich, dass sich die erzählte Welt inmitten der Transformationen ihres Jahrhunderts befindet. »Keller«, so bemerkte Georg Lukács darum auch einmal, »kennt und gestaltet sehr genau die gesellschaftlichen Verhältnisse.« (Lukács 1964: 364) Exemplarisch zeigt sich die anschwellende »Abstraktion« nicht nur »des Tauschprozesses« (Simmel 1998b: 213), sondern ebenso der menschlichen Beziehungen überhaupt, an der Erzählung über DIE DREI GERECHTEN KAMMACHER. Hier hoffen die drei ›expatriots‹, der Sachse Jobst, der Bayer Fridolin sowie der Schwabe Dietrich, allesamt durch Arbeit allein zu Vermögen – die Rede ist von einem »heimlichen Schatz« (Keller 1996b: 201) – zu gelangen, und zwar indem sie sich in stets neuer Weise jeweils durch Fleiß und Rationalisierung ihrer Arbeit gegenüber ihren Konkurrenten einen Vorteil zu verschaffen versuchen. Hat Lukács einmal im Rahmen seiner Abhandlung über DIE VERDINGLICHUNG UND DAS BEWUßTSEIN DES PROLETARIATS bemerkt, dass »das Schicksal des Arbeiters […] zum allgemeinen Schicksal der ganzen Gesellschaft« (Lukács 2015: 23) werde, so zeigt sich diese synekdochische Verbindung wohl gerade an diesen drei Figuren, insofern sie unschwer als Beispiele all jener Hunderttausenden zu lesen sind, die im Rahmen allgemeiner Landflucht im 19. Jahrhundert ihr Glück in den zumeist städtischen Stätten der Lohnarbeit suchen. Ironie der Erzählung ist bekanntermaßen, dass sie sich – so sehr sie auch in Arbeit und Konsumverzicht investieren – am Ende in einem subtil-brutalen »Wettkampf« (Keller 1996b: 205) verstricken und vermögenlos bleiben. So, als habe Keller ein frühes Exempel für die Ironie einer Selbstverantwortungsrhetorik im Zeichen moderner liberaler (und noch dazu neoliberaler) Zeitalter zeichnen wollen, steht doch am Ende dieses Wettkampfes bloß der Reichtum derer, für die sie arbeiten: nämlich ihr Meister und jene Züs Bünzlin, um die sie sich in der illusionären Hoffnung, in Grundbesitz und ›altes Geld‹ einheiraten zu können, verzweifelt bemühen. Was die Erzählung derweil anschaulich macht, ist, wie sich das kleinstädtische System Seldwyla, so sehr es auch alte Elemente einer Welt von (zumindest Kleinstadt-)Gemeinschaft aufweist, am Ende doch das tragikomische Schauspiel einer akzelerierten Zirkulation von Arbeit und lebenden Körpern hervorbringt, wie sie – ginge es nach den Modellen der Soziologie – doch eigentlich gar nicht in ihr zu

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finden sein dürften. Die in ihr verstrickten Akteure, am Ende sind es Fridolin und Jobst, verfangen sich buchstäblich in einem »Wettrennen« jener Art, von dem Tönnies mit Bezug auf die neue Arbeits- und Handelswelt von Gesellschaften behauptete, dass darin »jeder dem anderen zuvorkommen und wenn möglich als der erste ans Ziel […] zu gelangen trachtet« (Tönnies 1963: 54). Mit Keller läuft sich das Wettrennen als ein beschleunigtes System, das seinen Zuschauern zwar »ein rauschendes Vergnügen« (Keller 1996b: 238), seinen Teilnehmern hingegen bitterer Ernst ist, indessen fest. Denn: »Halb tot vor Scham, Mattigkeit und Ärger lagen Jobst und Fridolin in der Herberge, wohin man sie geführt hatte, nachdem sie auf dem freien Felde endlich umgefallen waren, ganz in einander verbissen.« (Ebd.: 239) Darin ließe sich die Erzählung als frühe Allegorie dessen lesen, was Marx im Zuge seiner Analyse kapitalistischer Krisen als »immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche« (Marx 1983b: 259) bezeichnete, in denen sich jene viel zitieren »Gesellschaften [und eben nicht Gemeinschaften, A.M.], in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht« (Marx 1983a: 49), verfangen. Die beiden Expats nämlich »schlugen […] sich fleißig auf die Hände, kamen aber immer um ein Weniges vorwärts« (Keller 1996b: 238). Aus dem »straffen Zusammenhalt« (Simmel 1998c: 125) der kleinstädtischen Lebenswelt fallen also entgegen der Analyse der Soziologie jene heraus, die ihre Schatzbildung auf falscher Grundlage versuchen, nämlich auf der Basis bloßer Arbeit und nicht auf Kapital. Dies alles ist eben entschieden Teil von Seldwyla und kann nicht als bloße Ausnahme gelten. Seldwyla selbst eben ist nicht Dorf, aber es eben auch nicht nicht Stadt. Vielmehr – als Kleinstadt – ist es im parodistischen Antlitz der Polis gesellschaftlicher Schauplatz. In ihm schwebt über den einzelnen Akteuren latent ein Schicksal, gegen das sich abzusichern im Zusammenhang kapitalistischer Gesellschaften im Zeitalter von »Überproduktion, Spekulation, Krisen, überflüssige[m] Kapital« nie allen gelingt: Werden sie sich doch als »überflüssige oder ZuschußArbeiterbevölkerung« (Marx 1983a: 658), als explizit städtisches Proletariat, wiederfinden.

IV. Vielleicht am einschlägigsten zur Frage nach dem literarischen Status der Kategorie des Kleinstädtischen ist derweil der erstgenannte von Osterhammels Pflegefällen: Wilhelm Raabe. Seine Geschichten, so sehr sie auch das Hintergrundrauschen der Großstadt, vor allem Berlins, kennen und ablichten, spielen nicht selten vor der vordergründigen Kulisse einer überschaubaren kleinstädtischen Ordnung. Ausnahmen finden sich vor allem in Raabes früheren Erzählwerken wie der CHRONIK DER SPERLINGSGASSE (1856) oder auch – die Referenz auf Poes THE MAN OF THE

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CROWD (1840) ist offensichtlich – in EINER AUS DER MENGE (1858). Doch auch in Romanen und Erzählungen dieser Art erscheint Berlin bei Raabe nie als die undurchdringbare Metropole vom Schlage jenes Londons, durch das sich Poes MAN OF THE CROWD als ikonisch gewordene Figur einer sich buchstäblich selbst zur Kenntnis nehmenden Moderne hindurchdrängt, sondern vielmehr in meist nachbarschaftlichen Mikrokosmen, in denen das je Städtische heruntergebrochen scheint auf soziale Miniaturstudien mitsamt ihrer oft kruden und abseitigen Charaktere. Eine vorsichtige literarische Spurensuche, die auch die vermeintlich geringfügigen Erschütterungen in der Sozialgeschichte zu erfassen sucht, kommt an Raabes Erzählwerk indessen ebenso wenig vorbei wie an Stifter und Keller. Denn in die Überschaubarkeiten der sozialen Gefüge, wie sie Raabe präsentiert, mischen sich stets Irritationen einer, wie bereits früh erkannt wurde, nachdrücklich »beunruhigte[n] Welt« (Fairley 1961: 248). Es ließen sich eine Vielzahl von Raabes Romanen und Erzählungen herausgreifen, doch dokumentiert diesen Sachverhalt vielleicht kein anderer Text so symptomatisch wie die späten AKTEN DES VOGELSANGS (1896). Raabes Text, weder Roman noch Novelle in vollumfänglichen Sinne, vereint die Erinnerungen des »Oberregierungsrat[s] Dr. jur. K. Krumhardt« (Raabe 1960b: 213) an seinen Freund aus Kindertagen, Velten Andres, der, derweil Krumhardt in einem namenlos, jedoch wohl an Braunschweiger Verhältnisse erinnernden vor- bzw. kleinstädtischen Umfeld bleibt, sein Glück in Berlin sucht und dessen Spuren sich in vielen Jahren des Auseinanderlebens der beiden Freunde verlieren. Wie so oft bei Raabe sind es die Randständigen, um die die Geschichten kreisen und an deren Aberrationen sich (in Diltheys Sprache) der »große Differenzierungsprozeß der Gesellschaft« (Dilthey 1983: 67) aufs Deutlichste zeigt. Früh in den AKTEN findet sich eine Reminiszenz an eine vermeintlich alte Ordnung. Krumhardt erinnert sich an eine vergangene Zeit, in der im »Vogelsang« – eine »homologe Titelanspielung« (Sina 2016: 247) zur früheren CHRONIK DER SPERLINGSGASSE – als »Kindheitsgärten« (Raabe 1960b: 214) eine vermeintlich idyllische Welt erscheint, in der Krumhardt und Andres zusammen aufwuchsen. Diese Welt ist eine, wie es Raabe nennt, der »Nachbarschaft«: »Die Nachbarschaft! Ein Wort, das leider Gottes immer mehr Menschen zu einem Begriff wird, in den sie sich nur mühsam und mit Aufbietung von Nachdenken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre hineinzufinden wissen. Unsereinem, der noch eine Nachbarschaft hatte, geht immer ein Schauder über, wenn er hört oder liest, daß wieder eine Stadt im deutschen Volk das erste Hunderttausend ihrer Einwohnerzahl überschritten habe, somit eine Großstadt und aller Ehren und Vorzüge einer solchen teilhaftig geworden sei, um das Nachbarschaftsgefühl dafür hinzugeben.« (Raabe 1960b: 218)

Als Hintergrundrauschen der Erzählhaltung klingt also das Anschwellen der Städte an, wie es das ausgehende 19. Jahrhundert hervorbrachte. Später im Text vermischt

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es sich als das Rauschen von Fabriken und Eisenbahnverkehr zunehmend mit der Stimme Krumhardts selbst. Doch steht nicht nur die schiere Größe der Stadt, nicht alleine ihre Komplexität zur Diskussion, sondern vielmehr eine spezifische Lebensform, die Raabe ja selbst noch in früheren Texten – eben in der CHRONIK DER SPERLINGSGASSE (vgl. dazu Eiden-Offe 2011) – sogar im anschwellenden Berlin präsentierte: die »Nachbarschaft«. Schenkt man dabei der (nahezu zeitgleich in Anschlag gebrachten) Sprache der Soziologie Glauben, so bestimmte diese Nachbarschaft gerade das Verhältnis der Menschen und den Kontext gemeinschaftlicher Lebensformen – und hätte somit keineswegs als ein städtisches Phänomen zu gelten: »Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zusammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die gemeinsame Feldmarck oder auch bloße Begrenzung der Acker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung aneinander und vertraute Kenntnis von einander verursacht« (Tönnies 1963: 15).

Rufen bei Raabe nun also Krumhardts Akten die Erinnerung an solche »Nachbarschaft« als eine grundsätzlich vergangene auf, so könnte es scheinen, als sei die Klage um den Verlust dieser Nachbarschaft auch und gerade die Klage um den Verlust von Gemeinschaft in jenem Sinne, wie sie eine konservative Lesart hervorbringen würde. Es nimmt dabei auf den ersten Blick den Anschein, als habe sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine klar abgrenzbare und vor allem irreversible geschichtliche Zäsur ereignet, die eine entschieden alte Ordnung – gemäß Tönnies zweifelsohne die der Gemeinschaft – von der neuen, derjenigen der Gesellschaft, grundlegend trennt. Die genauere Betrachtung von Raabes Nachbarschaft zeigt indessen, dass der Sachverhalt um einiges verworrenerer ist. Bei Raabe nämlich findet sich als Schilderung über diese Nachbarschaft, dass sich in ihrem Zentrum ein »Haus« von Krumhardts Vater befand. Dieser »hatte« es »von seinem Vater geerbt und der wieder von seinem Vater. Darüber hinaus verlor sich unsere Kenntnis des Besitzstandes in der Nacht der Zeiten. Es war jedenfalls ein altes Haus, das nicht nur die drei Schlesischen Kriege, sondern auch den Spanischen Erbfolgekrieg miterlebt hatte als Zeitengenosse.« (Raabe 1960b: 219)

Den Kern der Nachbarschaft also bildet dieses Haus mit festen Besitzstrukturen, das eine verwachsene Einheit mit einer Genealogie der Familie ausweist. Bringt die dafür einschlägige Sprache der frühen Volkskunde im 19. Jahrhundert die Vorstellung vom »ganzen Haus« als dem »Inbegriff einer socialen Gesammtpersönlichkeit« (Riehl 1855: 142) hervor, so scheint bei Raabe indessen schon durch die Unvollständigkeit der Familiengenealogie – darin ein stiller Marker jener »defekter Familien« (vgl. dazu Sammons 2010), wie sie sich bei Raabe in immer neuer Gestalt zeigen – anzudeuten, dass nicht alles jener Einfältigkeit entspricht, die das

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Idealbild einer begrifflichen Sprache hervorbringt. Vielmehr fällt auf dieses Haus im Lichte seiner Nachbarschaft bereits der Schatten dessen, was als das »Haus nach seinem Ende« (Ghanbari/Haag/Twellmann 2011) bezeichnet wurde. Was nämlich die an das Krumhardtsche Haus anrainenden Häuser anbelangt, so scheinen die Angelegenheiten noch deutlich komplizierter. So sprechen die AKTEN von einem »Nachbarhäuschen, das seiner äußern Erscheinung nach etwas jünger war« (Raabe 1960b: 219) und das der Vater von Velten Andres »erst bei seiner Niederlassung in der Stadt und der Vorstadt Vogelsang käuflich an sich gebracht« habe (ebd.: 219f.). Über die Familie Andres bemerkt Krumhardt seinerseits: »auch sie fühlten sich ihres Besitztums sicher und gehörten vom Anfang an dazu – nämlich zur Nachbarschaft im alten, echten Sinne.« (Ebd.: 220) Noch verwickelter erscheint das nur noch schwer als organisch-gewachsen zu Bezeichnende an den sozialen Beziehungen dieser Nachbarschaft mit Bezug auf das Verhältnis der Nachbarn untereinander; war doch, wie Krumhardt anmerkt, »mein Vater […] nach dem Tode des Doktors ganz selbstverständlich von der Obervormundschaft der Witwe als ›Familienfreund‹ beigegeben worden« (ebd.). Mag das Freundschaftliche als Indikator von Nähe, Intimität und Gemeinschaft intendiert sein, so hat es doch immer auch entschieden Elemente von sozialer Wahl (inklusive der Möglichkeit ihrer Aufkündigung), die die Nachbarschaft von einer gleichsam naturrechtlichen Schicksalsgemeinschaft wesentlich unterscheidet und sie darum ihrer hinlänglichen Legitimität durch eine Art unausgesprochenes Naturrecht enteignet. Es schleichen sich also auch in Raabe Vorstellung von Nachbarschaft im Stillen jene »Unübersichtlichkeiten« ein, die sich zumal in den Verhältnissen des »Besitzstandes« spiegeln. So bekommt mit dem Haus der Familie Andres auch die domestische Ordnung buchstäblich eine eigens angelegte Akte, findet sich doch ein »der Zeit nach noch ziemlich naheliegende[r] ›Eintrag‹ im Hypothekenbuch« (ebd.). Den Besitzverhältnissen, aus denen das System einer scheinbar idyllischen Nachbarschaft zusammengesetzt ist, haftet also der Charakter einer Finanzstruktur moderner Prägung an, der (nicht allein nach Tönnies) als Marker von Gesellschaft fungiert: Kredit.6 Wird denn also in den AKTEN DES VOGELSANGS von Krumhardt vorgege-

6

Die Frage nach Darlehen und Kredit findet sich vielfach im Werk Raabes. Schon die Erzählung über die Apotheke ZUM WILDEN MANN etwa zeigt, wie es um ein »zweistöckiges, dem Anscheine nach recht solides Haus« (Raabe 1960a: 162) bestellt sein kann. Dort wurde eben die Apotheke Philipp Kristellers und seiner Schwester Dorette, die der Erzählung den Titel gibt, auf der Grundlage jener Schenkung von »neuntausend – fünfhundert Taler[n] in Staatspapieren« (ebd.: 196) gegründet, die Kristeller mit der einschlägigen Forderung entgegennahm: »Gründet ein Haus, das feststeht und glückliche, fröhliche Kinder in seinen Mauern aufwachsen sieht!« (Ebd.) Schon das Versterben der Verlobten und die Einrichtung der Apotheke mit seiner Schwester zeigt indessen, dass

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ben, dass die häusliche Ordnung des Vogelsangs den Charakter einer Nachbarschaft hat und sich darüber hinaus mit einem sentimentalen »Gefühl des nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und Anteilnehmens« (ebd.: 218) verbindet, so muss dies insbesondere im Lichte der fiskalischen Struktur als entschieden verworrener, brüchiger und verletzlicher gelten, als es in der verklärten Darstellung Krumhardts den Anschein hat. Jedenfalls weicht es die Vorstellung einer Opposition von kleinstädtisch-intimer Nachbarschaft und groß- bzw. weltstädtischer Anonymität nachhaltig auf. Dies verdeutlicht, dass damit auch bereits in den Wurzeln einer eben bloß vermeintlich geborgenen kindheitlichen Umgebung und nicht erst in den späten Ausbrüchen aus kleinbürgerlichen Ordnungen jene, wie es über Velten Andres einschlägig heißt, »Eigentumsmüdigkeit« (ebd.: 373) vorgezeichnet ist, die dann später an dessen »Weltleben« (ebd.: 271) nachgewiesen wird. 7 Mit der bei Raabe wie so oft ins Detail sich eingrabenden Irritationen, die eben auch den Strukturen der Eigentumsverhältnisse eignen, zeichnet sich in dem latent Provinziellen der kindlichen Welt damit das Aufziehen einer neuartigen, globalen Weltordnung ab, an deren Horizont zumal ein Amerika schimmert, wie es sich schließlich konsequenterweise auch an dem dritten Element der Nachbarschaft, an den Wohnverhältnissen der »Mrs. Trotzendorff« zeigt: »Zugezogen war nur, jenseits der Grünen Gasse, Mrs. Trotzendorff from New York, in eine Mietwohnung« (ebd.: 220). Dies alles ist zwar Nachbarschaft, aber eben doch nicht mehr bloß im Sinne jener Gemeinschaft, wie sie Tönnies zu zeichnen versuchte.8

V. Es zeigt sich also, dass bei Raabe – wie auch vor ihm bei Stifter und Keller – gerade das sprachliche Register der Literatur als eines von der Art erscheint, das sich den Eindeutigkeiten gegenüber verwehrt, nach der die Sprache der Soziologie zumal in

jene Haus-Gründung sich als weniger fest erweist, als der »Anschein« vermuten lässt. Und nicht zuletzt die Tatsache, dass ebendiese Schwester es ist, die – angezeigt durch ein »Wir wollen es verwalten wie ein Darlehn, Philipp« (ebd.: 197) – über das Haus den Geist eines Kreditdarlehens legt, mag das Gelingen ebendieser Gründung entschieden im Weg stehen. Dass schließlich Herr August in der Gestalt Dom Agostin Agonistas aus Brasilien heimkehrt, um gerade diesen Geist de facto anzurufen und die Schenkung rückgängig zu machen, zeigt, wie anfällig eine häusliche Ordnung ist, die – sei es auch nur in einem Als-ob-Modus – ihren proprietären Grund auf der Praxis von Darlehen errichtet. 7

Vgl. zur Frage des Eigentums bei Raabe Wünsch (1998).

8

Vgl. zu einer ausführlicheren Analyse von Raabes »Soziologie des Häuslichen« Mohnkern (2017).

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ihren Anfängen Ausschau hält. War das ursprüngliche Bestreben der Soziologie nämlich eines, das – in der Sprache eines Zeitgenossen – aus der Vorstellung von »Gleichsetzen und Nicht-Gleichen« (Nietzsche 1988: 880) entsteht, mit dem sich Begriffssprache über die Dinge und Lebenswelten gleichsam Herrschaft zu verschaffen sucht, so bringt die Literatur alternative Formen der Erfassung komplexer Wirklichkeiten hervor, die sich buchstäblich nicht auf den Begriff bringen lassen. Dabei ist gerade ihr Schauplatz, an denen sie ihre Geschichten entwirft, in eben solcher Gestalt ein unbegrifflicher wie es ihre Darstellungsweise ist: die Kleinstadt. Es erscheint in diesem Sinne möglich, diesen Schauplatz gar als den notwendigen der Literatur zu bezeichnen, da ja offensichtlich das Kleinstädtischen im 19. Jahrhundert eine explizit literarische Form, nicht aber einen soziologischer »TypenBegriff« darstellt. Damit verbunden aber – und darin nimmt die Kleinstadt als literarische Erscheinung womöglich nur symptomatischen Charakter an – ist, dass ein Wissen über Gesellschaften nicht notwendigerweise soziologischen Charakter annehmen muss, sondern auch durch andere Formen des Wissens, eben durch Literatur, erzeugt und vermittelt werden kann, die entgegen einer begrifflichen Einstampfung das Bewusstsein um ein irreduzibel Heterogenes, ein Verworrenes, auch ein Singuläres und Zwiespältiges nicht nur bewahren, sondern gegen begriffliche Wissensformen geradezu verteidigen. Vergleichsweise spät erscheint demgegenüber das Eingeständnis der Soziologie, dass in ihr als Disziplin ein »Bewußtsein des Ungenügens« (Luhmann 1997: 22) schlummert, insofern die ihr eigene »Beschreibung des sozialen Lebens der Menschen […] sich an Ideen orientiert, denen die vorgefundene Wirklichkeit nicht genügte.« (Ebd.: 21) Gerade dort aber, wo sich diese Wirklichkeit nur unbegrifflich als Literatur einfangen lässt, wird sie transformiert in die Gestalt dessen, was Literatur am Ende wohl immer schon war: Die eine oder andere Spielart von – Realismus.

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»Die Macht neuer Verhältniße« und die »Ordnung der Dinge« Kleinstädtisches Bürgerleben im 19. Jahrhundert am Beispiel der Kügelgens A NTON P HILIPP K NITTEL In Memoriam Dr. Hans Schöner (1929-2014), Archivar der Familie von Kügelgen

V ORBEMERKUNG Mit Philipp Engelhard von Nathusius (1815-1872) gibt im Jahr 1870 – und damit fast pünktlich zur Reichsgründung – einer der angesehensten und herausragenden Vertreter des konservativen Preußen im Verlag von Wilhelm Ludiwg Hertz (18221901) in Berlin eine anonyme Autobiographie mit dem Titel JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN MANNES heraus. Wilhelm von Kügelgen (1802-1867), ehemaliger Ballenstedter Hofmaler und Kammerherr des aufgrund einer hebephrenen Schizophrenie (vgl. Boroffka 1995) regierungsunfähigen Herzogs Alexander Carl von Anhalt-Bernburg (1805-1863), ist als Verfasser dieser JUGENDERINNERUNGEN rasch ausgemacht, zumal Nathusius, der Neinstedter »Kreuzzeitungsmann« (Kügelgen 1990: 540)1 und Redakteur des VOLKSBLATTS FÜR STADT UND LAND in Halle,

1

Nathusius, ehemaliger Protegé Bettine von Arnims (1785-1859), ist, wie Kügelgen dem Bruder Gerhard nach Estland schreibt, »ein reicher Mann und lebt nur zu Humanitätszwecken« (Kügelgen 1990: 540). Die Freundschaft mit dem »Ehrenmann in jeder Beziehung« geht auf die Initiative des Ballenstedter Kammerherrn zurück, der im Juni 1854 aus politischem Interesse den »ausgezeichneten Mann[]« (ebd.) kennenzulernen wünscht. Doch der Philanthrop ließ Kügelgen zunächst ausrichten, »er strebe nicht nach neuen Be-

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bereits im Jahr zuvor in der Nr. 43 des VOLKSBLATTS vom 29. Mai 1869 erstmals das Kapitel »Die Tabakspfeife« vorabgedruckt und dabei auch auf die gesamte Autobiographie und ihren tatsächlichen Verfasser hingewiesen hatte. Die Autorschaft Kügelgens wäre anhand der darin geschilderten Lebensstationen und des gewaltsamen Todes seines Vaters, des Malers Gerhard von Kügelgen (1772-1820), ohnedies nicht zu verschweigen gewesen.2 Mit den JUGENDERINNERUNGEN, vor allem auch mit den in deren Nachfolge edierten Texten von Familienmitgliedern, rücken – so meine These – mindestens drei psychohistorisch zu lesende Phänomene in den Blick: Zum einen bieten die vielfach kompilierten Texte – in erster Linie Kügelgens Briefe an den Bruder Gerhard (1806-1883) – des adligen Kammerherrn eines damals mehr oder weniger bereits überlebten Duodezfürstentums im Rahmen der Klein- und Residenzstadt Ballenstedt exemplarische Einblicke in ein biedermeierliches »Bürgerleben« um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Zum andern zeigen Kügelgens Beschreibungen zeitgeschichtlicher Phänomene insbesondere der 48er Ereignisse in Ballenstedt selbst deutlich »die Signatur der Zeit« (ebd.: 613f.).3 Denn sie lassen erkennen, warum die Kleinstadt »zur politischen Idylle der Deutschen schlechthin« (Herrenknecht/ Wohlfarth 2004: 6) werden konnte, warum sie – wie Adorno mit Blick auf die Nachkriegszeit formulierte – als »Trost der Geborgenheit im Provinziellen« (zit. nach Boll 2004: 33) fungierten. Und daran anknüpfend tragen die hier beleuchteten Texte auf einer dritten Ebene – wie ein Blick auf die Editions- und Rezeptionsgeschichte zeigt – ebenfalls die »Signatur ihrer Zeit« in sich. Denn sie bieten dem bildungsbürgerlichen Bedürfnis offensichtlich Anschlussmöglichkeiten, sich in Krisenzeiten an der kleinstädtisch geprägten Bürgerwelt, in der die »Ordnung der Dinge« (Kügelgen 1990: 346f.) noch gilt, zu orientieren. So sind nicht zuletzt um 1900, in den 1920er Jahren, den 1940er Jahren und nach 1989 weitere Texte der von Kügelgens ediert worden. Umso überraschender, dass dieser durchaus enormen Verbreitung der Texte eine doch eher geringe literaturwissenschaftliche Rezeption nahezu diametral entgegensteht. Während die bildnerischen Werke des Vaters und des Onkels, der Malerzwillinge Gerhard und Karl (1772-1832), vor allem in jüngster Zeit in den Fokus der Öffentlichkeit wie auch der Kunstgeschichte gerückt sind,

kanntschaften, hielte sie sich im Gegentheil gern vom Halse, besonders maitres de plaisirs vom Hofe« (ebd.; vgl. auch Kügelgen 1924: v.a. XVII). 2

Vgl. insgesamt zu Kügelgen: Schöner (1982, 1992, 2000) und Knittel (1996a, 1996b, 1996c und vor allem 2002: 109ff.), wo sich weitere Details zur Entstehung und zur Rezeption der JUGENDERINNERUNGEN finden.

3

Am 27. Dezember 1855 schreibt er dem Bruder: »Jetzt lese ich die ›Zeichen der Zeit, von Bunsen.‹ Dieses Buch ist selbst ein Zeichen der Zeit und trägt deren Signatur am Leibe, nämlich die tollste Confusion.«

»D IE M ACHT

NEUER

V ERHÄLTNIßE «

UND DIE

»O RDNUNG DER D INGE« | 189

lässt demgegenüber eine breitere literatur- und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung nach wie vor auf sich warten. Und noch eine weitere Vorbemerkung: Wenn hier der Begriff ›Kleinstadt‹ verwendet wird, so immer in dem – wohl konsensualen – Bewusstsein, dass es Kleinstädte als eine homogene Siedlungskategorie nicht gibt, vor allem nicht im 19. Jahrhundert. Denn es herrscht immer auch eine gewisse Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie Clemens Zimmermann unter anderem mit Bezug auf Ferdinand Tönnies’ Kategorien ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ gezeigt hat.4 Übrigens moniert Wilhelm von Kügelgen die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen seines Hoflebens selbst einmal, wenn er zum einen als Unterhändler der Herzogin in geheimer Mission nach Dessau geschickt wird, um die Bedingungen der Abdankung zu eruieren, zum anderen aber, kaum zurück, beim Stellen von ›Tableaux vivants‹ am kleinstädtischen Hofe in Ballenstedt eingesetzt wird.

A UFLAGENSTARKE A USGABEN UND DIE S EHNSUCHT DER O RDNUNG DER D INGE

NACH

Nathusius’ Erstausgabe der JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN MANNES von 1870 wird schnell ein großer Publikumserfolg, so dass nur sechs Jahre später seine achte, 1898 seine 18. und drei Jahre darauf gar die 21. Auflage zu verzeichnen ist. Als 1897, 30 Jahre nach dem Tode des Autors, die Schutzfrist für den Kügelgen-Text abgelaufen ist, folgen rasch zahlreiche Nachdrucke mit Vor- und Nachworten sowie ergänzenden Erläuterungen in anderen Verlagen.5 Zu den ersten, die sich dieser Autobiographie annehmen, gehören der Reclam-Verlag, 1898 der Cotta-Verlag

4

Die moderne Kleinstadt lässt sich demnach beschreiben »als ungleichzeitiges Element im Geschichtsprozess, die noch relativ viele gemeinschaftliche Lebensweisen aufweist, gestützt auf agrarische Produktion und Vorrang des Handwerks, wobei sie dort im Zuge eines immer stärker einebnenden Urbanisierungsprozesses verschwinden« (Zimmermann 2003: 16).

5

Der langjährige Archivar des Familienverbands von Kügelgen, Dr. Hans Schöner, hat – laut brieflicher Mitteilung vom 28. Juli 1999 – insgesamt 31 verschiedene Verlage gezählt, die die JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN MANNES bis heute wiederaufgelegt haben, zum Teil in riesigen Auflagen, wie etwa der Verlag Langewiesche-Brandt, der 1907 mit einer ersten Auflage startet und 1922 das 231. bis 240. Tausend vorlegt. Die Attraktivität der Autobiographie ist immer noch so groß, dass sie vom »Projekt Gutenberg« in den 90er Jahren auch in digitalisierter Form – basierend auf der Züricher Manesse-Ausgabe von 1993 – zugänglich gemacht wurde. Gelesen von Gert Westphal sind Kügelgens JUGENDERINNERUNGEN übrigens seit 2000 auch auf CD erhältlich.

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sowie 1899 der Stuttgarter Belser-Verlag mit einer »Geschenkausgabe«, welche nur ein Jahr später schon ihre dritte Auflage erfährt. Von nun an gelten die JUGENDERINNERUNGEN erst recht, wie Professor H. E. Kellner im Vorwort zur ersten Auflage der Belserschen Geschenkausgabe vermerkt, »als ein Lieblingsbuch der besseren Volkskreise« (Kügelgen 1899: V).6 Im Verlaufe der Zeit verschiebt sich das Rezeptionsinteresse vom erzählten Teil des Kügelgenschen Lebens, vom sprachlichen Kunstwerk, auf das weitere Schicksal des Autors. Zugleich wird der Bildungs- und damit einhergehend der immer wieder postulierte Vorbildcharakter der JUGENDERINNERUNGEN für die Rezipienten stärker in den Fokus gerückt. So betont der Herausgeber Kellner im Vorwort etwa: »Wer als alter Mann seine Jugend in so reinem und klarem Spiegel erschaut, muß auf seinem Lebenswege zur sittlichen und geistigen Vollreife gelangt sein und das, was er uns über seinen Bildungsgang mitzuteilen hat, darf den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Vorbildlichkeit erheben.« (Ebd.: V)

Das von Herausgebern und Verlagen gleichermaßen immer wieder propagierte Exemplarische der JUGENDERINNERUNGEN als »Zeit und Sittengemälde des geistigen Lebens Deutschlands überhaupt« (Kügelgen 1899: VIII) nutzen zunächst mehrere Mitglieder der Familie von Kügelgen. So geben Wilhelms Tochter Anna (1831-1919) und seine Nichte Emma von Kügelgen (1845-1920) im Jahr 1900 in Leipzig bei Richard Wöpke ein Buch heraus, das das Leben der Mutter des ›Alten Mannes‹, nämlich Helene Marie von Kügelgen (1774-1842), beschreiben will. Der Band mit dem Titel MARIE HELENE VON KÜGELGEN GEB. VON ZÖGE VON MANTEUFFEL. EIN LEBENSBILD IN BRIEFEN7 erlebt im Jahr 1950 sogar seine (mindestens)

6

Der Herausgeber geht sogar noch weiter, wenn er in seinem Vorwort betont, dass »ein solches Lehrbuch des Lebenshumors, des schönen Erbteils der Kinder Gottes, jenes Frohbewußtseins« doch »eben einem Bedürfnisse der Volksseele« entspreche und »darum Volksbuch geworden« (ebd.: VIIf.) sei. Und mit pädagogischem Zeigefinger: »So wird das Buch zugleich zu einem wertvollen Bildungsmittel für die reifere Jugend, der die Lesung desselben gar nicht angelegentlich genug empfohlen werden kann.« (Ebd.) Und noch pathetischer schließt Kellner: »So mögen denn die JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN

MANNES auch in dieser neuen Reiseausrüstung als Sendboten des

Wahren, Guten und Schönen in die Öffentlichkeit hinaustreten und allen dem Höheren zugewendeten Seelen Unterhaltung und Belehrung, Lebensfreude und Trost spenden. Mögen sie fortfahren, in ihrer stillen Weise zu wirken, / Damit das Gute wirke, wachse, fromme / Damit der Tag dem Edlen endlich komme.« (Ebd.: IX) 7

In späteren Auflagen wurde der Name richtig geschrieben: Helene Marie von Kügelgen geb. Zoege von Manteuffel. Die Herausgeberinnen verknüpfen in diesem Lebensbild

»D IE M ACHT

NEUER

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elfte Auflage. Und 1904, vier Jahre nach der ersten Auflage dieser Briefbiographie, erscheint auch von Constantin von Kügelgen (1843-1904), einem Enkel des Landschaftsmalers Karl von Kügelgen, ein Buch über Wilhelms Vater, den Porträtisten und Historienmaler Gerhard von Kügelgen (vgl. Kügelgen 1901),8 den Zwillingsbruder von Karl von Kügelgen. Letzterer wiederum konnte sich als Landschaftsmaler am Zarenhof einen Namen machen. In der Zwischenzeit werden auch Wilhelm von Kügelgens JUGENDERINNERUNGEN immer wieder neu aufgelegt. Bis zum Ersten Weltkrieg kann dann jenes »gehobene Bürgertum« mit Hilfe dieses »in unzähligen Auflagen und [...] Ausgaben« (Schöner 1992: 5) erschienenen »Lieblingsbuches« sein zu Ende gehendes Zeitalter besichtigen. Nach dem Krieg erinnert sich das Bildungsbürgertum wieder, wie Roy Pascal glaubt, an die »vor 1914 in Deutschland vielleicht beliebteste[] Autobiographie« (Pascal 1965: 101).9 Bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Kügelgens Memoiren eines der beliebtesten Konfirmationsgeschenke überhaupt. Nicht zuletzt werden sie mit Beginn ihres Bestsellerstatus zugleich auch zum Ausgangspunkt und Rechtfertigungsgrund einer Reihe von Memoiren und

nicht nur Briefe der Mutter Wilhelm von Kügelgens an verschiedene Adressaten, sondern auch Briefe der Familienmitglieder untereinander, um so die Atmosphäre einzufangen, in der Wilhelm aufgewachsen ist. »So sahen wir«, schreiben die Herausgeberinnen, »von einer vollständigen Biographie ab und gaben einem Gedanken Raum: nämlich ein Lebensbild seiner Mutter nach deren Briefen zusammenzustellen, von dem ja das des Sohnes untrennbar ist, wenn er auch nicht als Hauptperson darin auftritt.« (Kügelgen 1918: 2) Vgl. auch Elschenbroich (1982: 184-186). 8

Bereits vier Jahre nach der Ermordung des Malers Gerhard von Kügelgen hatte Friedrich Christian August Hasse (1773-1848) eine Biographie über diesen publiziert, die auch in den JUGENDERINNERUNGEN erwähnt wird. Nach dem Ersten Weltkrieg nutzt Leo von Kügelgen (1880-1931) die Popularität des Familiennamens, indem er 1919 bei Belser den Band GERHARD VON KÜGELGEN. EIN MALERLEBEN UM 1800 UND DIE ANDEREN SIEBEN KÜNSTLER DER FAMILIE herausgibt (vgl.: Kügelgen 1919, ³1924).

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Adolf Stern (1835-1907) betont im Vorwort seiner Ausgabe der JUGENDERINNERUNGEN, die ebenfalls mehrere Auflagen erreichte, unter anderem: »Die kulturhistorische Seite der ›Jugenderinnerungen eines alten Mannes‹ bringt den ungeheuren Unterschied der Lebensverhältnisse und Sitten zwischen dem Anfang des neunzehnten und dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebendig zur Erscheinung.« (Kügelgen o.J.: XIII) Diese dienen ihm dabei auch als Kontrastfolien, um entschwundenen Charakteren und Originalen nachzutrauern.

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kompilierten ›Lebensbildern‹, die der vermeintlich besonnten Vergangenheit 10 auf der Spur sind, ihr literarisches und erzähltechnisches Vorbild jedoch nie erreichen können.11 Die JUGENDERINNERUNGEN sind schließlich so weit verbreitet – 1922 liegt bei Langewiesche-Brandt, der 1907 mit einer ersten Auflage startet, das 231. bis 240. Tausend vor12 –, dass ihr Verfasser Johannes Werner zufolge »zu einer historischen Persönlichkeit geworden« (Kügelgen 1923: XV) ist. »Die Volkstümlichkeit, die Wilhelm v. Kügelgen durch seine JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN MANNES« (ebd.: XI) spätestens Anfang der 20er Jahre erlangt hat, ist für Werner Grund genug, den »Schleier«, den der Autobiograph am Ende seiner Memoiren »auf [s]ein weiteres Ergehen fallen« (Kügelgen 1992: 431) lassen möchte, ein wenig zu heben. Deshalb gibt er 1923 zusammen mit einem weiteren Familienmitglied, nämlich dem russisch-deutschen Journalisten und Übersetzer Paul Siegwart von Kügelgen (18751952), einen Band mit dem Titel LEBENSERINNERUNGEN DES ALTEN MANNES IN BRIEFEN AN SEINEN BRUDER GERHARD 1840-1867 heraus. Beim Versuch, jenen »Schatz von Geist und Gemüt, der in diesen Briefen liegt« (Kügelgen 1923: XV), zu bergen, nehmen die beiden Herausgeber überaus rigide Eingriffe in den Texten vor. Die Redaktion von Werner und von von Kügelgen geht gar so weit, dass sie sich »berechtigt« sehen, das »gesetzliche literarische Urheberrecht an dieser Veröffentlichung für sich in Anspruch zu nehmen« (ebd.: XV). Trotz dieser gravierenden und aus heutiger Sicht nicht zu rechtfertigenden redaktionellen Bearbeitungen bietet diese Textausgabe zum ersten Mal auch einen

10 Erinnert sei hier etwa an die erfolgreichen Memoiren mit dem Titel BESONNTE VERGANGENHEIT

(1920) des Chirurgen und Schriftstellers Carl Ludwig Schleich (1859-1922).

Online sind diese ebenfalls im Projekt Gutenberg abrufbar. 11 Zu den auch heute noch etwas bekannteren gehörte zweifellos u.a. bereits 1874 die Biographie JUGENDLEBEN DER MALERIN CAROLINE BARDUA. Nach wiederum rigider ›Überarbeitung‹ von Johannes Werner erschien dieses Werk im Jahr 1929 unter dem Titel DIE SCHWESTERN BARDUA. BILDER AUS DEM GESELLSCHAFTS-, KUNST- UND GEISTESLEBEN AUS

DER BIEDERMEIERZEIT. AUS WILHELMINE BARDUAS AUFZEICHNUNGEN.

Eingestanden oder uneingestanden im Titel auf Kügelgen berufen sich auch Volkmann (1924) sowie Kußmaul (1906), dessen JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN ARZTES sich auch online im Projekt Gutenberg finden. 12 Wobei angesichts dieser immensen Auflagen eine gewisse Uneindeutigkeit herrscht. Demmer (1991: 217), Elschenbroich (1982: 185f.) sowie Linder (1990: 61f.) sprechen von der 230. Auflage, während Schöner in einer brieflichen Mitteilung vom 28. Juli 1999 an mich ebenfalls 240 Auflagen zählt.

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tieferen Einblick13 in die Entstehungszeit der JUGENDERINNERUNGEN, was jedoch für die Herausgeber nur von sekundärer Bedeutung gewesen sein muss. Denn Werner schließt sein Vorwort mit dem frommen Wunsch: »Möge« Kügelgens »neues Vermächtnis an das deutsche Volk gerade in unserer trüben Zeit den vielen bedrückten feinen Seelen Erquickung und Erhebung bringen!« (Ebd.: XVI) Überhaupt ist von ›Volk‹ bei Werner auch ein Jahr später viel die Rede, wenn er nach den LEBENSERINNERUNGEN nun die JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN MANNES »nach dem Original-Manuskript« und mit vielen Anmerkungen versehen neu herausgibt. So beendet er seinen »Blick in die Entstehung der JUGENDERINNERUNGEN« mit dem pathetischen, in vielem an den Sprachgebrauch Kaiser Wilhelms II. erinnernden Ausruf: »Wenn der bescheidene, zurückhaltende Alte Mann es wüßte, was seine Persönlichkeit jetzt, sechzig Jahre nachdem er schwach und krank im stillen Kügelgenhaus zu Ballenstedt mit Bienenfleiß an seinen Jugenderinnerungen feilte, dem deutschen Volke bedeutet, und daß die Selbstbezeichnung, die er mit stiller Resignation und leiser Ironie prägte, ihm längst schon zum in Alldeutschlands Gauen volkstümlichen Ehrennamen geworden ist!!« (Ebd.: XVII)

Diese Ausgabe der JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN MANNES von 1924 versteht sich zu Recht, wie ein genauer Vergleich mit dem im Familienbesitz befindlichen Originalmanuskript bestätigt, als erste kritische Ausgabe14, deren Anmerkungsteil samt Register auch heute noch von großem Wert ist. Im darauf folgenden Jahr 1925 bringt Johannes Werner einen von »nicht nur aus Briefen W.v.K.s an verschiedene Adressaten, sondern auch aus seinen Tagebüchern, sonstigen Aufzeichnungen und Gedichten gestaltet[en]« und kompilierten Band mit dem Titel ZWISCHEN JUGEND UND REIFE DES ALTEN MANNES 1820-1840 (Kügelgen 1925)15 heraus. Damit glaubt er »den Träger und Verkünder bester deutscher Art« (ebd.: VII) vollständig dargestellt und »die bisher in der Selbstbiographie Wilhelm v. Kügelgens noch bestehen-

13 Allerdings zitierte schon Kellner im Nachwort der Geschenkausgabe der JUGENDERINNERUNGEN

aus den Briefen an den Bruder, wie auch Anna von Kügelgen in der von

Adolf Stern betreuten Ausgabe bei Hesse und Becker, Leipzig. 14 Für die vergleichende Einsichtnahme habe ich der Familie von Kügelgen in Verden an der Aller zu danken. 15 So notiert Kügelgen am 5. Dezember 1833 laut Werner: »Salmuth sagte mir gestern, er habe sich schon lange gewundert, dass der Herzog mich noch nicht gesprochen, und deshalb den Herzog erforscht« (Kügelgen 1925: 294); demgegenüber heißt es in unserer Ausgabe am Ende des Eintrags vom 3. Dezember 1833: »Salmuth sagte mir, es sei ihm auch höchst auffallend gewesen, dass der Herzog mich noch nicht gesprochen habe, es müsse ein Missverständnis vorliegen […].« (Kügelgen 1995: 132)

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de Lücke« (ebd.) geschlossen zu haben. Auswahlkriterium des »überreichen Stoffs« ist für Werner »neben dem kulturgeschichtlichen Gesichtspunkte [...] namentlich der kunstgeschichtliche« (ebd.). Entscheidend für die Ausgabe, die wie die beiden vorausgehenden Bände mit einem reichen Anmerkungsteil und vielen Abbildungen versehen ist, ist jedoch weniger das hier postulierte allgemeine historische Interesse als vielmehr das biographische Moment; und zwar in dem Sinne, dass »Kügelgen hier als ein noch mitten im Werden Stehender zu uns« spreche und nicht »von der hohen Warte des weisen Alters« (ebd.). Mit dem Erscheinen dieser vermeintlichen ›Gesamtausgabe‹ ist zweifellos der Höhepunkt der Kügelgen-Rezeption erreicht, wenngleich Otto Taube zur Zeit des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1942 bei Koehler & Amelang eine Neuausgabe der Jugend- und Lebenserinnerungen folgen lässt. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs geht die Zahl der Neuauflagen der JUGENDERINNERUNGEN deutlich zurück. Bis 1992, vermutlich aus Anlass des 125. Todestages, als der ostdeutsche Verlag Koehler & Amelang auf der Grundlage der kritischen Ausgabe von Johannes Werner die JUGENDERINNERUNGEN neu herausgibt,16 sind im westdeutschen Buchhandel meines Wissens nur die Züricher ManesseAusgabe (1970, ³1988) in der Reihe »Bibliothek der Weltliteratur«, die Ausgabe im Frankfurter Verlag von Wolfgang Weidlich (1963, ²1979) sowie die Taschenbuchausgabe im Wuppertaler Brockhaus Verlag erhältlich. Wenig bis kaum rezipiert wurde die Neuausgabe der LEBENSERINNERUNGEN, die Walther Killy 1990 erstmals vollständig und textgetreu unter dem Titel WILHELM VON KÜGELGEN. BÜRGERLEBEN. DIE BRIEFE AN DEN BRUDER GERHARD 1840-1867 – leider ohne Kommentar – ediert hat. Dagegen konnten die von Hans Schöner und mir 1994 erstmals textgetreu edierten Tagebücher und Reiseschriften aus der Zeit zwischen 1824 und 1864 unter dem Titel WILHELM VON KÜGELGEN. ERINNERUNGEN AUS DEM LEBEN DES ALTEN MANNES. TAGEBÜCHER UND REISEBERICHTE überraschenderweise innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal aufgelegt werden. Auch unsere 1995 publizierte Edition der Briefe an die Schwester Adelheid und die Freunde Wilhelm Volkmann und Ludwig Richter unter dem Titel DAS EIGENE LEBEN IST DER BESTE STOFF erfuhr erstaunlich breite Resonanz, wenngleich beide Bände mittlerweile nur noch antiquarisch zu erhalten sind. Insgesamt machen die drei letztgenannten Editionen erst das ganze Ausmaß der redaktionellen Bearbeitungen deutlich, die Johannes Werner seinerzeit vorgenommen hatte. Früh erreichen mit dem enormen Erfolg der Kügelgenschen Memoiren und der kompilierten Erinnerungsausgaben weitere Texte aus der weitverzweigten Familie, die vor allem künstlerisch und theologisch ihre Spuren hinterlassen hat, größere

16 Diese basiert, wie der »Nachbemerkung des Verlags« (Kügelgen 1992: 437) zu entnehmen ist, auf der 1959 erschienenen sechsten Auflage der Neuausgabe.

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Aufmerksamkeit und mehrere Auflagen.17 Neben dem bereits erwähnten LEBENSBILD IN BRIEFEN über Wilhelms Mutter Lila wurden auch die LEBENSERINNERUNGEN DES ALTEN MANNES, nämlich seine Briefe an den Bruder Gerhard (1806-1883) sowie die Tagebuchaufzeichnungen seiner Nichte Sally von Kügelgen (18351868),18 die mit dem deutschbaltischen Pastor Hugo Emil Kraus (1826-1908) verheiratet war, stärker rezipiert.

W ILHELM VON K ÜGELGEN – EIN B ÜRGERLEBEN ALS ADLIGER H OFMALER UND K AMMERHERR IN B ALLENSTEDT Wilhelm von Kügelgen erzählt in seinen JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN MANNES, die vermutlich zwischen 1854 und 1864 im kleinen Residenzstädtchen Ballenstedt und im nahegelegenen Schloss Hoym entstanden sind, die Zeit seiner Kindheit und Jugend zwischen 1802 und 1820.19 Die spielt überwiegend in der sächsischen Kapitale Dresden, aber eben auch in den kleinen Städten Ballenstedt und Bernburg im Harz. Mit der Auffindung der Leiche seines Vaters Gerhard, der Ende März 1820 in Dresden von einem marodierenden Soldaten erschlagen wurde, bricht Wilhelm von Kügelgen seine Memoiren eher abrupt ab, als dass er sie enden lässt: »Und hiermit mag ein Schleier auf mein weiteres Ergehen fallen« (Kügelgen 1992: 431), lautet der letzte Satz des autobiografischen Textes. Kügelgens JUGENDERINNERUNGEN treffen, wie angesichts der enormen Verbreitung evident, offenbar den Nerv der Zeit. »Die volkstümlichste deutsche Autobio-

17 Wolf Schneider etwa überschrieb im Juni 1984 seine Besprechung von DIE NACHT DER ENTSCHEIDUNG, den Memoiren von Bernt von Kügelgen, in der ZEIT mit »Wieder erinnert sich ein Kügelgen…«. 18 Im einen wie auch im andern Fall ist es die Enkelgeneration, die die Texte der Großmutter ediert. Wilhelms Tochter Anna und seine Nichte Emma stellen das Lebensbild der Großmutter Helene Marie zusammen. Die Schriftstellerin Oda Schäfer gibt das »stille Tagebuch« ihrer Großmutter Sally von Kügelgen heraus. Im Übrigen ist es auch in der durch Wilhelms Heirat mit Julchen Krummacher verbundenen Familie Krummacher die Enkelgeneration, die sich ein »Lebensbild« des Großvaters macht (vgl. Krummacher 1926). 19 Dass es Kügelgen in seiner Autobiographie auch um eine »Entwicklungsgeschichte« seiner Eltern geht, betont er in einem Brief vom 9.9.1865: »Nun hatten die Mädchen zusammen meine Jugenderinnerungen gelesen, die sich wesentlich um das Wachsthum unserer Eltern und mancher auf meine Entwickelung einflußreicher Freunde aus dem Nihilismus in den Rationalismus und aus diesem in das biblische Christenthum dreht und bewegt« (Kügelgen 1990: 953).

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graphie des 19. Jahrhunderts« wird, so Roy Pascal, rezipiert als »eine Erinnerung an entschwundene Charaktere und Verhältnisse« (Pascal 1965: 73). Der anekdotenhafte Charakter, der mosaikartige Aufbau mit sentenzen- und maximenhafter Rahmung in jeweils in sich abgeschlossenen kleinen Kapiteln und Szenen, grundiert mit einem heiteren und humorvollen Ton dürfte die Wahrnehmung der JUGENDERINNERUNGEN als »besonnte Vergangenheit« maßgeblich geprägt haben: »Es ist ein glückliches, beschütztes Leben, das hier beschrieben wird, und es konnte den Lesern als Idealbild eines einfacheren, unschuldigeren Deutschland gelten« (ebd.: 101).20 Man las aus der Autobiographie des ehemaligen Hofmalers und Kammerherrn das Glück im Winkel, den Goldfirniss einer ehemals vermeintlich besseren Zeit heraus. Über das Leben in Ballenstedt, der Klein- und Residenzstadt, erfährt die Leserschaft jedoch nicht allzu viel aus dem Text. Schließlich dauert der Aufenthalt des jungen Wilhelm im Ostharz während der Besetzung Dresdens 1812/13 nur ein paar Monate. Neben den Spielen im Garten, Landpartien und Begegnungen mit der Welt des Hofes, neben dem Leben im Barduaschen Hause,21 erinnert sich Kügelgen in seinen Memoiren vor allem an sein »Schul- und Straßenleben« (Kügelgen 1992: 159), in dem auch eine gewisse Beständigkeit der Institutionen und Ideale vor Augen führt. So schreibt er etwa: »Nach schwach bestandenem Examen führte der Scholarch uns in seine Schule ein. Diese war noch ganz nach altem Zuschnitt und mochte sich seit Albrechts des Bären Zeiten nicht sonderlich verändert haben. Ein einziges sehr großes, von den Jahrhunderten geschwärztes Zimmer vereinigte die Lateiner von mensa bis zum Cornelius Nepos mit einer Anzahl von Seminaristen, aus denen fertige Lehrer für die Kantorschulen hervorging. […] Für uns Fremdlinge hatte die öffentliche Schule noch den Vorteil, daß wir auf leichte Weise mit den eingebornen Knaben des Ortes bekannt wurden und zahlreichen Umgang fanden, der uns verhinderte, auf dem Schlosse zu verprinzeln.« (Ebd.: 160f.)

20 Gleichwohl verweist er auch auf den artifiziellen Charakter der Kügelgenschen Memoiren: »Wenn man näher hinsieht, so bemerkt man sogar in der Kunst seiner Darstellung den Willen, nicht so sehr das Erlebte zu erzählen, wie es war, als vielmehr ansprechende Bilder zu gestalten.« (Ebd.: 102) 21 Dazu: »Der Hausvater Bardua, schon ziemlich hoch in Jahren, war herzoglicher Kammerdiener. […] Da ihn indessen sein Beruf fast unausgesetzt an die Person des Fürsten knüpfte und er wenig zu Hause war, hatte die Sorge für die Familie von jeher vorzugsweise in den Händen seiner klugen Frau gelegen.« (Ebd.: 151)

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Über die Erziehung in der Kleinstadt Ballenstedt, die im Gegensatz zur Erziehung auf den Landgütern etwa des baltischen Adels22 steht und dort offenbar nach dem Riehlschen Muster des ›Ganzen Hauses‹ funktioniert, räsoniert der nun alte Mann im Rückblick: »Infolge der ungewohnten Freiheit, die wir genossen, war unsere frühere hausbackene Gesittung wunderschnell in wildes Wesen umgeschlagen. Zwar taten wir eigentlich nichts Böses, aber durch wilde Auftritte […] wurden wir so berühmt, daß alle etwaigen Vorkommnisse auf unser Konto kamen und nicht das kleinste Steinchen mehr ins Fenster fliegen konnte, ohne daß die ›Dresdner Brut‹, wie man uns nannte, in den Verdacht der Täterschaft geraten wäre. Die Eltern konnten dem nicht steuern, denn Isolierung ist in kleinen Orten ganz unmöglich; auch hatten sie in die Natur und in den außerordentlichen Reichtum unserer Erlebnisse keine Einsicht und tadelten höchstens, daß wir erhitzt aussähen.« (Ebd.: 162)

Ebenso wie das kleinstädtische Ballenstedt präsentiert sich zur damaligen Zeit »Bernburg, die Kapitale des Herzogtums« (ebd.: 297) als ein überschaubares ländlich geprägtes Städtchen mit etwa »siebentausend Einwohner[n]« (ebd.): »Über der Stadt thront malerisch auf einem Felsen das uralte Schloß, die Krone Anhalts. […] Unfern des Schlosses und mit demselben in gleicher Höhe erhebt sich die Kathedrale des Landes, die Schloß- oder Ägidienkirche, welche von einem geräumigen Rasenplatz umgeben ist. Hier liegt in fast ländlicher Einsamkeit die Wohnung des Superintendenten.« (Ebd.)

Es ist nicht nur die Überschaubarkeit der Sozialverhältnisse, sondern auch das häusliche Leben, das Spielen im Garten und in der Natur, das sowohl von Ballenstedt als auch von der kleinstädtisch-ländlich geprägten Kapitale Bernburg im Rückblick erinnert wird. Neben der im Hause Bardua vorzufindenden und auch durch sie geprägten Gemeinschaft fasziniert Kügelgen insbesondere die romantische, das Individuum beherbergende Naturidylle:

22 Die Kinder des Barons von Manteuffel genießen eine breite Erziehung. In seinen JUGENDERINNERUNGEN schreibt Wilhelm: »Mein Großvater hatte nämlich, behufs der Ausbildung seiner Kinder, Lehrer der verschiedensten Art an sich gezogen, Handwerker, Künstler und Gelehrte, die alle unter seinem Dache wohnten und dem Hause das Ansehen einer kleinen Akademie gaben. Neben wissenschaftlichen Disziplinen wurden neuere Sprachen getrieben, man malte, modellierte, kupferstecherte, drechselte, tischlerte, klempnerte und machte ganz vortreffliche Musik. Die schönen Quartette, an Weihnachten von der Familie ausgeführt, haben im Andenken der Nachbarschaft noch lange fortgelebt.« (Ebd.: 7f.)

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»Gegen Morgen sah man über Gärten weit in das Land bis auf die fernen Türme Bernburgs. Nach Abend baute sich das nahegelegene Ballenstedter Schloß hoch und stattlich auf seinem grünen Wallberge auf, und gegen Mittag begrenzten die waldigen Berge des Tiergartens unmittelbar den kleinen wohlgepflegten Garten des Hauses. […] Außer dem obberegten Hausgärtchen besaßen Barduas noch einen großen Obstgarten – von der Bienenzucht, die früher dort betrieben wurden, der ›Bienengarten‹ genannt –, welcher als Enklave des herzoglichen Tiergartens mitten im Walde lag, Dieser Garten war seines herrlichen Obstes wegen berühmt, und namentlich war er reich an Pflaumen aller Art und Gestalten. […] Waren wir satt, so schwand das Interesse an dem Garten, er wurde uns zu eng trotz seiner Größe. Wir zogen dann die nächste Umgebung vor, ein bergiges, mit Niederholz bestandenes Terrain, weite Blicke von den Höhen, und in den Niederungen trauliche Verstecke – was konnte es zum Spielen Besseres geben! Mein Bruder und ich gefielen uns so in dieser Wildnis, daß wir beschlossen, uns hier ansässig zu machen.« (Ebd.: 150ff.)

Dominiert in Ballenstedt die Naturidylle, so ist es in Bernburg im Hause des Superintendenten Friedrich Adolf Krummacher (1767-1845), seines späteren Schwiegervaters, die Beschreibung der bürgerlichen Häuslichkeit, des innigen Familienlebens, das Kügelgen in den Fokus rückt und in detaillierter Weise nacherzählt. Es ist ein Bürgerleben, das dem adligen Kügelgen zeitlebens wichtig ist, wie man aus seinen Briefen zwischen 1840 und 1867 an den in Estland als Gutsverwalter tätigen Bruder Gerhard erfährt. Kügelgen, zur Abfassung seiner Memoiren bereits ausschließlich Kammerherr des etwa gleichaltrigen und geisteskranken Herzogs Alexander Carl, ist ein scharfer Beobachter seiner Zeit. Mit seinem Bruder Gerhard tauscht sich Wilhelm insbesondere über theologische Fragen der Zeit aus. Er berichtet über musisch-kulturelle Betätigung daheim am Hof. Er referiert öfter auch bildungsorientierte Lektüren und bietet zahlreiche Beschreibungen von Ausflügen und Reisen. Dabei kommt der rurale Charakter der Kleinstadt Ballenstedt immer wieder zum Vorschein, etwa bei diversen Landpartien oder Gartenszenen. So wechselt Kügelgen in Briefen an den Bruder unvermittelt von der politischen Situation in Russland – »Dumpfe Gerüchte von Gährungen in Petersburg verbreiten sich hier, ich glaube nicht daran« (Kügelgen 1990: 346) – ziemlich abrupt zu seiner eher ländlich-dörflichen Umgebung, wie beispielsweise im Brief vom 26. März 1848: »Die Hühner machen ein solches Geschrei, daß ich kaum schreiben kann, weil ihnen die warme Sommerluft so wohltuend um den Hintern weht. Ach die Natur ist gar zu lieblich und in der Menschen Herzen sieht es dabei so böse aus. Lebe wohl mein geliebter Bruder.« (Ebd.: 347) Kügelgens Ballenstedter Bürgerleben zwischen Häuslichkeit und Hofdienst verläuft in der Tat zwischen »Furchenglück« und »Sphärenflug«, wie es im Untertitel von Hermann Glasers KLEINSTADT-IDEOLOGIE heißt (Glaser 1969). Die immer wieder auch konstatierte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Spannungsfeld einer ›Provinzialität der Kleinstadt‹ einerseits und den Auswirkungen der politi-

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schen Großwetterlage insbesondere in der Großstadt Berlin andererseits lässt sich im »Ballenstedt zur Kügelgenzeit« (Schöner 2000) in besonderem Maße feststellen. Denn die um 1830 etwa 2.500 Einwohner zählende kleine Residenzstadt in dem winzigen Duodezfürstentum Anhalt-Bernburg mit seinen rund 6.500 Untertanen trägt spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts selbst anachronistische Züge, die besonders im Nachgang zu den 1848er Unruhen in der Stadt und nach dem Tod des regierungsunfähigen Herzogs Alexander Carl sowie dem Erlöschen der Selbständigkeit des Herzogtums in den Briefen Kügelgens deutlich wird. Was das Verhältnis zwischen großstädtischem Leben – etwa in Hamburg oder Berlin – und kleinstädtischer Beschaulichkeit in Ballenstedt anbelangt, so hat sich Kügelgen, der beide Seiten in sich vereint, etwa nach einer Reise nach Hamburg erst wieder in seinem Ballenstedter Heim einzufinden – d.h.: kognitiv zu orientieren und an die Verhältnisse anzupassen. Selbst das eigene Heim ist ihm, dem das häusliche Glück und das beschauliche Ballenstedt sonst so wichtig sind, dann in den ersten Tagen zu klein. Er beschwert sich beispielsweise brieflich über seinen Ziegenbock, der ihm im Garten die Obstbäume abschält; und der auch vor Augen führt, dass zur Ordnung der Dinge im kleinstädtischen Rahmen immer auch ein kleines – jedoch immer auch zu bändigendes – Moment der Unordnung gehört. Überhaupt spielt sich, sobald es möglich ist, ein Teil des geselligen Familienlebens im Garten ab, wie Kügelgen den Bruder am 18. Juni 1843 wissen lässt: »Wir haben nun das herrlichste Wetter, die Kinder spielen im Garten, die Frauen gehen mit leichten hellen Kleidern durch die Büsche, die Rosen haben ihre Kronen geöffnet und durchwürzen den ganzen Garten.« (Kügelgen 1990: 149) Wenige Wochen vorher, am 3. April, schreibt er: »Die Knospen schwellen und brechen auf, die Blütenknospen der Kirsch- und Birnbäume sind schon farbig und weiß und die Siringo-Sträuche überziehen sich mit lieblich-grünem Flor und der Waldboden bedeckt sich mit Leberblumen, Schneeglöckchen, Waldhähnchen und gelber Vogelmilch. Unser neues Quartier wird recht hübsch und ist ziemlich fertig. Ich werde nun noch einmal so glücklich leben können, wenn ich bei Nordlicht malen und meine Erholung im eigenen Garten finden kann.« (Ebd.: 136)

Die sich wandelnden Zustände der Natur, die er insbesondere auch im häuslichen Garten findet und festhält, sind ihm immer wieder eine briefliche Mitteilung wert. So etwa auch im Brief vom 23. September 1845 an die Schwester Adelheid, in dem er seine häuslichen und beruflichen Sorgen ausbreitet, aber dann am Ende schließlich doch noch die Erzeugnisse seines Gartens schildert: »In meinem Garten wachsen Loschwitz zur Ehre Kürbisse, 33 große Früchte über einen Fuß Durchmesser, wunderschön dunkelgrün mit breiten, weißen Streifen, gezeichnet, liegen im Grase u. sonnen sich zur Reife« (Kügelgen 1995: 54).

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Es ist ein geselliges Leben, das Kügelgen, wenn es der Hofdienst zulässt, mit seiner Familie führt. Ständig sind Besuche da, die sich bei ihm einquartieren, wie er dem Bruder am 19. August 1850 unter anderem klagt: »Von Besuchern bin ich diesen Sommer geradezu aufgefressen worden und weiß auch durchaus nicht wie ich von diesem Uebelstand, den meine Casse nicht verträgt, loskommen soll.« (Kügelgen 1990: 400) Die vermeintlich abgelegene Provinz erweist sich hier doch immer wieder auch als gesellschaftliches Zentrum und als Fixpunkt, der Leute von außerhalb anzieht. Dabei werden auch mit der Familie, mit Freunden und Verwandten immer wieder gemeinsame und gut bürgerlich situierte Ausflüge in die Umgebung gemacht, wie er etwa am 17. Mai 1848 nach Russland schreibt: »Vor einigen Tagen waren wir eines Abends oben auf der Altenburg mit 24 Personen. Wir hatten ein großes Feuer, an welchem Thee gekocht wurde und auf dem duftenden Thymian des Waldbodens war ein Tischtuch ausgebreitet, um welches wir lagerten und nach der kalten Küche langten, die Alle mitgebracht hatten. Die jungen Leute sangen und spielten, wir Alten saßen am Abhange und bewunderten die Masse von Maikäfern […] Ueberhaupt ziehen wir jetzt viel in großer Gesellschaft in den Wald.« (Ebd.: 349)

Während Kügelgen mit seiner Familie meist zu Fuß in den Wald der Umgegend zieht, nutzt das Herzogspaar in der Regel Kutschen. Überhaupt trifft auf Ballenstedt zu, was Annette Kolb mit Verweis auf Helmut Jägers Beitrag zu Verkehr und Stadtentwicklung in der Frühen Neuzeit (Jäger 1996) feststellt: Die Stadt ist »in dieser Zeit [...] Fußgänger- und Kutschenstadt« (Kolb 2007: 45). Sind die erwähnten Beschreibungen meist im Kontext des Familien- und/oder Hoflebens angesiedelt, werden die Kleinstadt-Bezüge insbesondere im Gefolge der März-Unruhen 1848 deutlicher. Vernehmbar werden die engen Verhältnisse der Kleinstadt Ballenstedt, wo wohl jeder jeden kennt: »Bei uns«, schreibt Kügelgen am 20. März 1848 an den Bruder Gerhard, »herrscht die größte Aufregung und ich bin schon den ganzen Morgen herumgelaufen und habe mit dem Bürgermeister eine lange Unterhaltung gehabt, daß wir uns so schnell wie möglich als Bürgerwehr bewaffnen, um gegen mögliche Angriffe des Pöbels uns zu schützen. Der Bürgermeister ist aber ein ungeschickter Mensch wie Brei, und gesetzlich können wir nur durch ihn handeln.« (Kügelgen 1990: 338f.)

Und am 21. März 1848 heißt es unter anderem: »Ich habe diese Nacht mit geladenem Gewehr geschlafen und erwarte jetzt stündlich die Aufforderung mich in die Reihen der Bürgerwehr zu stellen.« Und wiederum einen Tag später bemerkt Kügelgen:

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»Uebrigens muß ich sagen, daß unsere Bürger, die alle in Uniform und bis an die Zähne bewaffnet waren, sich allerliebst benahmen und gegen uns Vornehmere so rücksichtsvoll und artig, so dienstfertig und bescheiden waren, als wenn Alles noch beim alten wäre. – Heute Nachmittag versammeln wir uns auf dem Rathshause, um eine Communalgarde zu bilden, zum Schutze unseres Orts« (Ebd.: 341).

Dass sich bei den Unruhen in der Tat noch nicht viel geändert hatte, wird deutlich, wenn Kügelgen am 26. März notiert: »So lief ich denn mit zurück und der Klubb brachte dem Herzog ein dreimaliges Lebehoch! […] In dem Augenblick sah ich, daß einige Häuser illuminirt wurden. In einer halben Stunde war die ganze Stadt illuminirt und die Bürger durchzogen die Straßen mit lauten Lebehochs. Die Jungens hatten sich zusammengerottet, rannten umher und brachten dem Herzog ein Lebehoch nach dem andern. Die ganze Bevölkerung war auf der Straße und bald zog auch ein Musikchor heran und es wurde bis Mitternacht randalt« (Ebd.: 343).

Trotz einiger Aufregungen hat manches in der kleinen Residenzstadt auch Krähwinkel-Züge, etwa wenn Kügelgen schreibt: »Wer von uns kann wissen, ob er nicht übers Jahr, ja über vier Wochen an irgendeiner Laterne hängt«, eine »Befürchtung, die weniger furchtsam als grotesk anmutet angesichts des Verlaufs der revolutionären Ereignisse in Ballenstedt« (ebd.: 25), wie Walther Killy auch mit Verweis auf diese Briefstelle zurecht in der Einleitung seiner Kügelgen-Briefedition betont. Krähwinkel-Züge trägt auch die Feier, die die Bevölkerung zum 25-jährigen Regierungsjubiläum des Herzogs ausrichtet, was auch dem Kammerherrn nicht entgeht. So schreibt Kügelgen am 2. April 1859 seinem Bruder Gerhard: »Die Illumination in Ballenstedt war für so einen kleinen Ort großartig genug, doch fehlte es auch nicht an kleinen liebenswürdigen Nippes. Einer hatte z.B. mit Tinte auf einen Bogen Papier geschrieben: ›Der Handschuhmacher Fuchs wünscht Heil und Segen dem vielgeliebten Dux‹. Dahinter war ein Licht gestellt. Dies Transparent war um so lächerlicher, da er, als vor Jahren die Herzogin einzog, schon ganz dieselbe Illumination gemacht hatte, nur damals statt ›Heil und Segen‹ hatte er ›reichen Ehesegen‹ gesetzt. Ein anderer hatte sich selbst in Person illuminiert. Er stand an einer Straßenecke und hatte auf der Brust ein großes Transparent mit den Worten: ›Ich habe mich hier aufgestellt, daß Niemand in die Gosse fällt.‹ Eine alte arme Wittwe hatte an ihrem kleinen Fenster die Worte transparirt: ›Ich heiße Gille und lebe in der Stille. Ich bin so alleine, der Herzog ist in Haime‹.« (Ebd.: 373)

Insgesamt sind es vor allem Begriffe wie Ordnung und Gesetzlichkeit, die besonders nach 1848 die Briefe Kügelgens nach Estland durchziehen. Killy hat in der Einleitung zu seiner Edition zudem auf einen Umstand hingewiesen, der an dieser Stelle ebenfalls skizziert werden soll und der »symptomatisch sein mag für die

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Veränderung bürgerlicher Gesinnungen überhaupt und zwar durchaus vor Reichsgründung und Gründerjahren« (ebd.: 26). Denn vor 1848 ist bei Kügelgen »nur ganz gelegentlich die Rede von jüdischen Dingen«, eine Tonlage, die sich mit den revolutionären Ereignissen jedoch ändert. Alle Welt, so schreibt Kügelgen, »kenne die Verhandlungen des preußischen Herrenhauses nur aus den entstellenden jüdischen Resumees der Judenblätter« (ebd.), was schließlich auch Killy kritisch anmerken lässt: »er bemängelt Leute, die alles auf Treu und Glauben hinnehmen, was Juden und Judengenossen in die Welt schreien, und als Wahlen in Preußen bevorstehen, vermutet er, sie fallen wieder nach jüdischem Geschmack aus.« (Ebd.) Gleichwohl, und das soll hier auch betont sein, war Kügelgen kein Antisemit. Aber in seinen Briefen zeigt sich, wie Wendungen hoffähig werden, die später »zum festen Bestand des Antisemitismus gehören«, wie Killy (ebd.: 27) kritisch vermerkt.

E DITIONS - UND R EZEPTIONSGESCHICHTE DER K ÜGELGENTEXTE ALS S IGNATUREN IHRER Z EIT Kügelgen lässt am Ende seiner JUGENDERINNERUNGEN mit dem Tod seines Vaters den Schleier über sein weiteres Ergehen fallen. Diesen Schleier lüften dann mehrere Mitglieder der Familie, nachdem die Memoiren rasch zum Publikumserfolg geworden waren. Mit den zahlreichen Ausgaben verschiebt sich das Rezeptionsinteresse vom Werk auf das Leben seines Autors. Während Anna und Emma von Kügelgen im Jahr 1900 das LEBENSBILD IN BRIEFEN ihrer Großmutter Lilla von Kügelgen, geb. Zoege von Manteuffel vorlegten, lüfteten Johannes Werner und Paul Siegwart von Kügelgen 1923 den Schleier über das weitere Schicksal von Wilhelm von Kügelgen, indem sie den Band LEBENSERINNERUNGEN DES ALTEN MANNES IN BRIEFEN AN SEINEN BRUDER GERHARD 1840-1867 herausgaben. In den kompilierten Briefen, die 1942 auf der Grundlage der Wernerschen Edition nochmals von Otto Freiherr von Taube (1879-1973) herausgegeben worden sind, und die 1990 von Walther Killy erstmals nach der Originalfassung neu transkribiert ediert wurden, zeigt sich Kügelgen, wie deutlich geworden sein sollte, als ein überaus scharfer Beobachter seiner Zeit. Aus der Zeit zwischen 1840 und 1867 sind alleine 159 mehrseitige Briefkonvolute an den im Baltikum als Gutsverwalter tätigen Bruder Gerhard 23 erhalten – gut 1000 Druckseiten.

23 Johannes Werner ist zu entnehmen, dass Gerhard u.a. »die Verwaltung des v. Uexküllschen Majorats Fickel« übernahm. »Er war schon während Wilhelms Romreise im Juni 1826 nach Estland zurückgekehrt und dann auf Neuharm, und seit April 1827 auf dem

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Wenngleich dem STILLEN TAGEBUCH von Kügelgens Nichte Sally keine allzu große Resonanz beschieden war, kommen bei dessen Publikation doch Töne auf, die in dieser Zeit auch für die Kügelgen-Editionen in Anschlag zu bringen sind. Denn bei der Edition von Sally von Kügelgens STILLEM TAGEBUCH erklärt die deutsch-baltische Schriftstellerin und Journalistin Oda Schäfer24 (1900-1988) als Herausgeberin im Jahre 1936, es sei »ein schönes Beispiel für die Kraft, mit der in vorgeschobenen Kulturbezirken deutsches Bildungsgut und deutsche Art erhalten wurden.« (Kügelgen 1936: 9) Die politische Lage zur Zeit der Publikation schwingt dabei gerade auch von deutsch-baltischer Seite eben immer mit. Es sind Töne, die auch im Jahr 1942 in den Anmerkungen des baltendeutschen Herausgebers der JUGENDERINNERUNGEN und der LEBENSERINNERUNGEN, Otto Freiherr von Taube25, zu hören sind. Taube, ein früher Anhänger der Nazis, der sich jedoch nach dem Hitler-Putsch distanzierte, gilt als Vertreter der sogenannten inneren Emigration. Einige Publikationen während der Nazizeit tragen gleichwohl stramm konservative Züge. So auch die Neuausgaben der beiden Kügelgen-Werke. Deutlich wird jedenfalls in vielerlei Bemerkungen die Verherrlichung des alten Estland; so etwa wenn Taube in seiner Einleitung der LEBENSERINNERUNGEN schreibt: »und war auch das damalige Deutschland noch nicht so überzivilisiert, so technisiert und asphalten geworden wie heute, der Mensch in Estland war doch in vieler Hinsicht noch naturnäher geblieben und damit ein altväterlicher Mensch; gleichnishaft gesprochen: er war dem goldenen Zeitalter näher.« (Kügelgen 1942b: 9)26 Überhaupt liegt Taube daran, Kügelgen als »ständisch« (ebd.: 21) denkenden Menschen vorzustellen: »Seine Gesinnung war in derselben Weise wie bei Stein weder monarchisch-

Mustergut (Merinoschafzucht) der estnischen Ritterschaft Orrenhoff tätig gewesen, wohin er auch nach seiner Vermählung am 28. August 1827 seine junge Frau führte. 1830 kauft er dann das Gut Fersenau, das er im Sommer 1836 wieder verkauft, nachdem er 1833 die Verwaltung des zu dem Adligen Fräuleinstift Finn gehörenden Gutsbetriebs übernommen hatte. In Finn hat Gerhard 37 Jahre gelebt, 1870 zog er nach Reval und kaufte sich hier ein ›Höfchen‹, das er ›Stillheim‹ nannte.« (Kügelgen 1925: 194, Anm. 1) 24 Oda Schäfer ist kurzzeitig wieder etwas aus der Vergessenheit geraten, da der Film POLL (2010) ihres Großneffen Chris Kraus an ihre Memoiren angelehnt ist. 25 Im Netz kursiert der Hinweis, Taube sei während der Nazi-Zeit mit Schreib- und Publikationsverbot belegt gewesen. Dass dies keinesfalls zutrifft, zumindest nicht mit einem generellen, zeigt nicht zuletzt die Neuausgabe der JUGENDERINNERUNGEN und der LEBENSERINNERUNGEN. Zudem hat Taube einige andere Texte in der Zeit publiziert. 26 Zum geisteskranken Herzog von Anhalt-Bernburg notiert Taube, offensichtlich aus seiner Perspektive wohlmeinend: »wie bei aller Entstellung durch die Geisteskrankheit die vornehme, durch Jahrhunderte differenzierender Zucht gestaltete Seele in diesem Fürsten immer noch durchzuscheinen vermochte.« (Kügelgen 1942b: 17)

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absolutistisch noch parlamentarisch, sondern ständisch. Also mag man sie, wie sie sich zuletzt zeigte, konservativ nennen; sie hat sich aber nicht [wie Johannes Werner meinte] aus dem Liberalismus, vollends nicht aus demokratischer Gesinnung durch eine Umwandlung entwickelt, sie ist seit jeher bei ihm dagewesen, nur später unverhüllt und geklärt zutage getreten.« (Ebd.) Auch knapp zwanzig Jahre vor dieser Ausgabe scheinen zeitpolitische Überlegungen den damaligen Herausgeber Johannes Werner bei seiner kompilierenden Edition geleitet zu haben: »Wenn der bescheidene, zurückhaltende Alte Mann es wüßte, was seine Persönlichkeit jetzt, sechzig Jahre nachdem er schwach und krank im stillen Kügelgenhaus zu Ballenstedt mit Bienenfleiß an seinen ›Jugenderinnerungen‹ feilte, dem deutschen Volk bedeutet, und daß die Selbstbezeichnung, die er mit stiller Resignation und leiser Ironie prägte, ihm längst schon zum in Alldeutschlands Gauen volkstümlichen Ehrennamen geworden ist.« (Kügelgen 1924: XVII) Geht es in den 1920er und 40er Jahren den beiden Herausgebern darum, Kügelgen als »den Träger und Verkünder bester deutscher Art« (Johannes Werner) bzw. auch das alte Estland zu verklären (Otto Taube), so geht die KügelgenRezeption nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch zurück. Während Wilhelm von Kügelgen in der DDR durchaus ein Begriff war, so war er in der BRD vielfach in Vergessenheit geraten. Bis 1992 findet sich, wie eingangs erwähnt, im Buchhandel nur die Züricher Manesse-Ausgabe, die Ausgabe im Frankfurter Verlag von Wolfgang Weidlich (1963; 1979) und die TaschenbuchAusgabe im Wuppertaler Brockhaus-Verlag. Ist es Kügelgens Vermögen, Geschichte lebendig und zur Gegenwart werden zu lassen, wie Detlef Droese in seiner Manesse-Ausgabe der JUGENDERINNERUNGEN schreibt, die auch nach 1989 neue Kügelgen-Ausgaben hervorbrachten? Oder sind es auch die Umbruchsjahre, die ihr Übriges dazu tun, dass der Rückblick auf eine ehemals gegebene Ordnung der Dinge dann doch wieder verstärkt rezipiert wird? Jedenfalls kommen auch nach der sogenannten ›Wende‹ wieder neue KügelgenAusgaben auf den Markt. Es ist vielleicht gerade auch die durch die Umbruchserfahrung erzeugte Wahrnehmung, dass die bekannte Ordnung abermals im Verschwinden begriffen sei, die nunmehr ein neues Interesse an den Texten der Kügelgens über eben jene »Macht neuer Verhältniße« (Kügelgen 1990: 808) und die damit verbundene grundsätzliche Frage nach der »Ordnung der Dinge« (ebd.: 346f.), durchgespielt eben am Beispiel des kleinstädtischen Bürgerlebens, zum Vorschein kommen lässt.

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Die Kleinstadt als Herkunftsraum Zur poetologischen Funktion der Kleinstadt in Wilhelm Raabes Prosa N ATALIE M OSER

Um sich einen ersten Überblick über das Werk von Wilhelm Raabe zu verschaffen, bietet sich nach wie vor die Lektüre eines 2007 publizierten Aufsatzes von Dirk Göttsche an. Göttsche zeichnet darin die Entwicklung von Raabes Erzählen nach und gliedert sie in drei, den Wohnorten Raabes – Wolfenbüttel, Stuttgart und Braunschweig – entsprechende Phasen. Beiläufig nennt Göttsche auch unterschiedliche Stadttypen, die in Raabes Texten vertreten sind: Im HUNGERPASTOR (1864) spiele eine »kleine[] norddeutsche[] Provinzstadt« (Göttsche 2007: 127) eine wichtige Rolle, in MEISTER AUTOR (1873) eine »Residenzstadt« (ebd.: 132) sowie eine »Vorstadt« (ebd.: 132), in PRINZESSIN FISCH (1883) ein »Harzstädtchen[]« (ebd.: 132), das auch »Bergstädtchen[]« (ebd.: 134) genannt wird, und in den AKTEN DES VOGELSANGS (1895) eine »Gartenvorstadt« (ebd.: 133). Des Weiteren ist im Hinblick auf die CHRONIK DER SPERLINGSGASSE (1856) vom »(Berliner) Altstadtraum[]« (ebd.: 123) und »neueren Stadtteilen« (ebd.: 125) die Rede. Raabes Darstellung von Städten konzentriert sich also, wie die zitierten Stadttypen andeuten, auf kleinere Stadtformate, während die Großstadt lediglich durch einzelne ihrer Bestandteile, wie etwa die Altstadt, angedeutet wird. Der einzige Roman, der gemäß der Herausgeber des entsprechenden Gesamtwerkbandes ein Großstadtroman hätte werden sollen (vgl. BA 2: 626),1 wurde nicht fertiggestellt und unter dem Titel WER KANN ES WENDEN? EINE PHANTASIE IN FÜNF BRUCHSTÜCKEN als Erzählung 1859/60 publiziert. Trotzdem finden sich im RAABE-HANDBUCH gleich zwei Unterkapitel

1

Aus dem Gesamtwerk wird nachfolgend mit der Sigle BA (= Braunschweiger Ausgabe) unter Angabe der Bandnummer und Seitenzahl zitiert.

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zur Großstadt in Raabes Texten. Zum einen verweist Andreas Blödorn auf die Deutungsgeschichte der CHRONIK DER SPERLINGSGASSE, die entweder als Zeit- oder Großstadtroman rezipiert wurde (vgl. Blödorn 2016: 59f.), zum anderen macht Julia Bertschik im Hinblick auf die frühen Erzählungen die Großstadtwahrnehmung als ein Thema kenntlich (vgl. Bertschik 2016: 291f.), das Raabe mit Rückgriff auf Großstadtdarstellungen beispielsweise bei Edgar Allan Poe zu bearbeiten versucht hat (vgl. ebd.: 291). Auf Kleinstädte in Raabes Texten wird hingegen – wie in Göttsches Aufsatz – lediglich am Rande hingewiesen, ohne dass beispielsweise der Zusammenhang von Kleinstadt – sowie damit letztlich verbunden: Raum2 – und Realismusprogrammatik reflektiert werden würde. Dies hängt zu einem Teil sicherlich auch damit zusammen, dass die Großstadt- im Gegensatz zur Kleinstadtprosa einen etablierten Forschungsgegenstand darstellt; zum anderen aber auch mit der eingangs geschilderten Vielfalt von Städtetypen, denen man in Raabes Werk begegnet und die lediglich bei einer hohen Abstraktionsstufe als Kleinstädte klassifiziert werden können. Es lässt sich daher bereits anhand dieser kurzen einführenden Bemerkungen festhalten, dass das Kleinstädtische im Werk Raabes nahezu omnipräsent ist. Die Kleinstadt scheint der ideale Schauplatz für realistische Erzählungen zu sein,3 was – so die darzulegende These – in Raabes letztem Text reflektiert wird. Die realismuskonforme Verbindung von kleinstädtischem Schauplatz und mimetischer Erzählweise wird sichtbar gemacht, indem sie in inhaltlicher und formaler Hinsicht torpediert wird. Um diese Funktion der Kleinstadt in Raabes letztem, posthum erschienenen Text ALTERSHAUSEN herausarbeiten zu können, wird in einem ersten Schritt die herkömmliche Funktion der Kleinstadt in Raabes Werk skizziert und in einem zweiten Schritt die Kleinstadtdarstellung in ALTERSHAUSEN mit Rückgriff auf das narratologische Konzept des Herkunftsraums analysiert. Vor diesem Hintergrund kann dann in einem letzten Schritt die selbstreflexive Implikation der Kleinstadtdarstellung in Raabes Spätwerk offengelegt werden.

2

Ein kurzer Überblick zur Forschung zu Raum und Literatur sowie Überlegungen zur

3

Christiane Nowak (2013) untersucht den Topos der Kleinstadt anhand exemplarischer

Relation von Raum und realistischer Literatur finden sich bei Parr (2013). Texte, die während des Zeitraums von 1900 bis 1930 entstanden sind. Für das Erzählen im 19. Jahrhundert betont sie ein Interesse für Kleinstädte, die als positiv konnotierte Alternativen zur Großstadt beschrieben werden, folgert aber hinsichtlich Raabes Werk, dass die Kleinstadt ein positiv besetzter Raum sei, was für seine mittleren (beispielsweise ZUM WILDEN MANN) und späten Texte jedoch nicht (mehr) gilt (vgl. Nowak 2013: 99).

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Klassifikation und zeitgenössische Rezeption mit Blick auf die Kleinstadt Werner Fuld betitelt Raabes Rückkehr nach Braunschweig in der 1993 erschienenen Biographie als »Rückkehr in die Isolation« (Fuld 2006: 247), womit er die Residenzstadt Braunschweig im Vergleich zur denselben Status tragenden, während Raabes Anwesenheit stark wachsenden Stadt Stuttgart abwertet.4 Letztere war bekannt für ihre Verlage und wurde deshalb auch zu einem Anziehungspunkt für Autoren. Im bereits zitierten Aufsatz von Göttsche (2007) wird Raabes Werk in drei Phasen eingeteilt, die nach dem jeweiligen kleinstädtischen Wohnort des Schriftstellers benannt sind. Die Rede von einer Wolfenbütteler, Stuttgarter und Braunschweiger Phase hat sich in der Raabe-Forschung eingebürgert, parallel dazu wird das Gesamtwerk in eine frühe, mittlere und späte Phase eingeteilt. Obwohl eine Zuordnung von Wohnort und Schreibweise kritisierbar ist, da die Einteilung auf der Vorstellung einer in Phasen ablaufenden und daher auch einteilbaren (kontinuierlichen) Entwicklung des Erzählens basiert, kann eine Gegenüberstellung von Text und Publikations- und Rezeptionskontext, der unter anderem vom Wohnort und dem lokalen Beziehungsnetz abhängt, durchaus erkenntnisfördernd sein. Ein biographisch motivierter Blick auf spezifische Räume bzw. Kleinstädte liegt jedoch nicht nur der literaturwissenschaftlichen Einteilung des Gesamtwerkes zugrunde, sondern auch zeitgenössischen Rezensionen, die auf den Topos der Kleinstadt zurückgreifend eine Verbindung von Autor und Erzähler behaupten. So beschreibt ein anonymer Verfasser in der GRENZBOTEN-Ausgabe vom 15.12.1898 Raabes historischen Roman HASTENBECK mit Rekurs auf den Terminus des Kleinstädters als einen für Raabe typischen Text: »Paul Heyses Reich ist die große Welt. Wilhelm Raabe will ein Kleinstädter sein, darauf beruht ein großer Teil seiner Kunst. Ein Stück allernächster Heimat, bis auf den Grund erforscht und aus aufgestöberten Urkunden erläutert, darin die Menschen brav und tüchtig, nicht hochfliegend, etwas philiströs; Bösewichter kommen nie vor, und was etwa ihre Stelle vertritt, ist so harmlos wie der Teufel auf den Bildern Fiesoles, dazu vielerlei Betrachtung des Schreibenden, geschichtliche Rück- und Vorausblicke, das sind die wesentlichen Bestandteile eines Raabischen Romans« (Anonymus 1898: 592).

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Fulds Wertung basiert auf der Ungleichheit der beiden Städte hinsichtlich des literarischen Lebens, das in der Verlagsstadt Stuttgart als lebhafter und für einen Schriftsteller im Hinblick auf Publikationsmöglichkeiten etc. interessanter eingeschätzt wird.

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Raabes Spezialgebiet sei, so suggeriert die Rezension, die kleine Welt und seine Kunst ein Mittel der Selbstinszenierung als Kleinstädter, nicht wie Paul Heyse als Mann von Welt. Sowohl die Systematisierung von Raabes Gesamtwerk als auch die zeitgenössische Rezeption greifen auf die Idee der Kleinstadt bzw. des Kleinstädters zurück, wenn Raabes Texte ausgehend von ihren Entstehungsorten systematisiert und die Spezifik von Raabes Erzählen mit Rückgriff auf den Topos der Kleinstadt und den Typus des Kleinstädters beschrieben wird. Kleinstadtdarstellungen in Raabes Texten Während man bei Raabe vergeblich nach reinen Dorfgeschichten sucht, findet man eine vielfältige Darstellung eines zwischen Großstadt und Dorf angesiedelten Städtetypus, der Kleinstadt. Vergleicht man Raabes Schilderungen kleinerer Städte, fällt auf, dass sie zwar auf Zukünftiges bzw. sich in der Gegenwart ankündigende Veränderungen – wie beispielsweise in MEISTER AUTOR den Bau einer Straße mit dem sprechenden Namen »Prioritätenstraße« (BA 11: 45) – hinweisen und damit Anzeichen einer Entwicklung in Richtung Großstadt andeuten. Als Muster für die Darstellung der Kleinstädte fungieren allerdings ländliche Regionen bzw. Dörfer, deren soziale Organisationsformen auch in der Schilderung der titelgebenden Gasse in der »Stadt« genannten Großstadt in Raabes Erstling DIE CHRONIK DER SPERLINGSGASSE widerhallen, während nicht einmal andeutungsweise ein Überblick über oder Einblick in das (groß-)städtische Leben gewährt wird. Nicht nur beim Versuch, die Großstadtwirklichkeit zu schildern, sondern auch im Rahmen der Beschreibungen weiterer Stadttypen kommt dem Organisationsprinzip der Nachbarschaft eine handlungsstrukturierende Funktion zu. Ansgar Mohnkern hat auf die Verwandtschaft des Konzepts der Nachbarschaft, einem über soziale Bindungen und Nähe konstituierten Beziehungsgeflecht (im Sinne von Ferdinand Tönnies: eine Gemeinschaft), mit demjenigen der Vor- oder Kleinstadt hingewiesen. Er betont, dass die Vor- oder Kleinstadt sowohl noch nicht (Groß-) Stadt als auch immer schon Stadt (vgl. Mohnkern 2017: 53) und gerade deshalb ein erfolgreiches (und indessen modernes) Organisationsmodell sei, um eine sich aufgrund des technischen Fortschritts laufend verändernden Umwelt darstellen zu können. Während Mohnkern aus einer soziologisch inspirierten Perspektive auf kleinstädtische Organisationsmodelle in Raabes Texten blickt, betont Charlotte Jolles die formale Seite der (Klein-)Stadtdarstellung. Sie zeigt, dass insbesondere in Raabes frühen Texten der Großstadt, die wiederum mehr angedeutet als ausgeführt und vor der Reichsgründung nicht beim Namen genannt wird (vgl. Jolles 1988: 59), Kleinstädte gegenübergestellt werden. Sowohl die Schilderungen der Groß- als auch diejenigen der Kleinstadt funktionieren relativ zum jeweils anderen Konzept. Im Text PFISTERS MÜHLE (1884), der gemäß Jolles Raabes positivstes Berlin-Bild aufweist

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(vgl. ebd.), wird wiederholt auf die Herkunft des Sommerfrischler-Paars aus Berlin verwiesen, um die den Hauptbestandteil des Buches ausmachenden Schilderungen der zum Ausflugslokal umfunktionierten, nun dem Abriss freigegebenen alten Mühle zu rahmen. Im HUNGERPASTOR (1864), ABU TELFAN (1868) und SCHÜDDERUMP (1870) bildet die Großstadt hingegen ein Zwischenziel, da die Protagonisten aus der Kleinstadt oder dem Dorf zwar im Laufe der Erzählungen in die Stadt aufbrechen, später jedoch auch wieder in ihre ländliche Heimat zurückkehren und damit das Muster des Entwicklungsromans bedienen. Dieser Topos der Rückkehr in die Provinz findet sich auch in ALTERSHAUSEN, wobei es sich in diesem Spätwerk um keine Heimkehr im traditionellen Sinne, sondern um einen Besuch handelt, der aufgrund der Erzählsituation bzw. der Struktur der Erzählung kein Ende findet. Überlegungen zu einer impliziten literarischen Theorie der Kleinstadt Mit Blick auf die Bedeutung und Relevanz kleinerer Städte in Raabes Werk stellt sich die Frage, ob die Texte eine implizite literarische Theorie der Kleinstadt enthalten. Christian Benne (2012) ist dieser Frage nachgegangen, allerdings im Hinblick auf Gottfried Kellers und Robert Walsers Werk. Da Kellers Werk wie auch dasjenige von Raabe dem Realismus zugeordnet werden kann und Walsers frühmodernes Erzählen in vielen Aspekten dem realistischen Erzählen des späten 19. Jahrhunderts verpflichtet ist, drängt sich eine Ausweitung von Bennes Überlegungen auf Raabes Werk und insbesondere auf ALTERSHAUSEN, das zeitgleich mit Walsers Berliner Text TIERGARTEN im Jahr 1911 publiziert wurde, geradezu auf. Da bei Keller und Walser die Gegenüberstellung von fortschrittlicher Stadt und vormoderner Provinz im Modus der Literatur reflektiert und kritisiert wird, entwickelt Benne die Idee einer impliziten (literarischen) Theorie der Kleinstadt.5 Benne beschreibt letztere als kritische Reaktion auf den Großstadt- bzw. Modernediskurs, der ein pejoratives Verständnis der Kleinstadt als Negativfolie der modernen Stadt impliziert. Er zeigt, dass Kellers Darstellung von Seldwyla in den beiden mit einigen Jahren Abstand verfassten Einleitungen von DIE LEUTE VON SELDWYLA nicht nur eine prototypische Kleinstadtskizze enthält, sondern auch aufzeigt, dass die Kleinstadt das für die Entwicklung der Großstadt notwendige Material liefert (vgl. Benne 2012: 154). Mit Blick auf Walser können je nach Schreibort unterschiedliche

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Benne hält fest, dass die Kleinstadt ein wichtiges Moment der Modernetheorie bildet, da sie als diametraler Gegensatz zur Moderne eine konstitutive Funktion innerhalb der Theoriebildung hat (vgl. Benne 2012: 152). Dies sehe man, so Benne, insbesondere in Georg Simmels Aufsatz DIE GROßSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN (1903), in dem dieser die Athener Polis als eine Art ideale Kleinstadt beschreibt (vgl. ebd.: 166).

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Akzentuierungen der Stadtdarstellung beobachtet werden; dass beide Komponenten, das Städtische und das Ländliche, vorkommen, bleibt jedoch konstant. Bennes Vergleich von Kellers und Walsers Kleinstadtdarstellungen verdeutlicht, dass auch bei Walser eine Abhängigkeit der Groß- von der Kleinstadt angedeutet wird. Die »Beobachterposition aus der kulturellen Peripherie« (ebd.: 149), die Benne als Spezifikum der beiden Schweizer Schriftsteller anführt, gilt auch für den dreißig Jahre in Braunschweig lebenden Raabe, der in der Residenzstadt Texte verfasst hat, welche die Realismus-Paradigmen aus einem realistischen Erzählen heraus in Frage gestellt haben. Die Zeichen einer Erschöpfung des realistischen Erzählens in Raabes späten Texten wurden in der Forschung mitunter auch dahingehend gedeutet, dass sich hier Anzeichen eines frühmodernen Erzählens zeigen. Dies würde im Hinblick auf die Kleinstadt-Frage bedeuten, dass sich ein Kleinstadt-Setting und moderne Darstellungsweisen nicht ausschließen. Um zu widerlegen, dass Kleinstädte mit Antimodernität gleichzusetzen sind, rekurriert Benne in seinem Aufsatz nicht mehr nur auf Keller und Walser, sondern – wenn auch nur mit einem Satz (vgl. ebd.: 151f.) – auf Raabe. Mit Blick auf Raabes Texte kann man resümierend festhalten, dass Kleinstädter, die vorwiegend als Kleinbürger (und nicht als Proletarier) dargestellt werden – und damit verbunden auch als Sonderlinge, die Grenzfiguren des (Klein-)Bürgerlichen darstellen – im Hinblick auf Konflikte Aufmerksamkeit erfahren,6 die ihnen im Rahmen realistischer Texte, zu deren Standardmaterial sie zählen, auf einer Metaebene nicht (oder nicht so ausgeprägt) zugeteilt werden. In ALTERSHAUSEN erfolgt, so soll im Folgenden gezeigt werden, sowohl bei der Figur des Sonderlings als auch beim Schauplatz der Kleinstadt eine Zuspitzung.7 Beschreiben lässt sich dies mit dem narratologischen Konzept des Herkunftsraums. Im Anschluss daran soll mit Blick auf ALTERSHAUSEN die von Benne unter der Überschrift »Theorie der Kleinstadt« anvisierte Reflexion untersucht und über die poetologische Funktion des Kleinstadt-Topos nachgedacht werden.

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In Raabes STOPFKUCHEN (1891) bildet die Verbindung von Kleinstadt und Kleinbürgertum bzw. Spießertum das Leitmotiv, um welches herum weitere Diskurse wie Kolonialismus oder Nationalismus gruppiert werden.

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Moritz Baßler deutet Ludchen als Fluchtpunkt sämtlicher Sonderlingsfiguren in Raabes Texten und das Wiedersehen von Ludchen und Feyerabend als Veranschaulichung der Aporie des Realismus (vgl. Baßler 2010: 78).

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Kleinstadtdarstellung in Altershausen Friedrich Feyerabend, der Protagonist in ALTERSHAUSEN, beschließt nach der Feier seines 70. Geburtstages in einer Residenzstadt, seine Geburtsstadt Altershausen zu besuchen, um dort das Spazieren bzw. den Eintritt in eine Lebensphase, die der Muße gewidmet ist, zu erlernen. Vor Ort trifft er auf seinen Kindheitsfreund Ludchen Bock, dessen mentaler Zustand aufgrund eines Sturzes demjenigen eines zwölfjährigen Kindes gleicht, der Feyerabend körperlich aber in nichts nachsteht. Nach einer nächtlichen Stadtbesichtigung und einem zweiten Zusammentreffen mit Ludchen folgt Feyerabend am nächsten Tag der Straße stadtauswärts, vorbei an den Gärten vor der Stadt, und trifft auf dem Haushügel der Stadt auf Minchen, eine weitere Kindheitsfreundin, die Ludchen an Kindes Stelle angenommen hat. Dem dritten Zusammentreffen mit Ludchen folgt ein viertes, bei dem sich Minchen und Feyerabend in der Laube eines Häuschens nahe der Stadtmauer ihre Lebensgeschichten erzählen. Hierauf bricht der Text ab, ohne dass die Rückkehr Feyerabends an seinen Wohnort thematisiert worden wäre, obwohl im rahmenden ersten Teil angedeutet wird, dass Feyerabend seinen Bericht erst nach der Reise begonnen hat. 8 Obwohl der sprechende Titel nur indirekt zu einer biographischen Lektüre einlädt, wurde Altershausen v.a. in der älteren Raabe-Forschung mit der Kleinstadt Stadtoldendorf gleichgesetzt, wo Raabe von 1842 bis 1845 gelebt und das Gymnasium besucht hatte. In der Werkausgabe wird zum einen vor einer Gleichsetzung von Stadtoldendorf und Altershausen gewarnt, zum anderen jedoch die Ähnlichkeit des Stadtbildes von Altershausen und demjenigen von Stadtoldendorf in den 1890er-Jahren betont (vgl. BA 20: 492). Die nicht namentlich genannte Stadt, in der Feyerabend seinen Bericht verfasst, wird hingegen ohne Einschränkung mit Braunschweig, in der Raabe von 1870 bis zu seinem Tod gelebt hatte, gleichgesetzt (vgl. BA 20: 489). In dem für die ›neuere‹ ALTERSHAUSEN-Forschung zentralen Aufsatz von Fritz Martini wird die Kleinstadtdarstellung ebenfalls thematisiert, allerdings ohne den Versuch einer Abgleichung von Werk und Leben des Autors, sondern hinsichtlich der Gegenüberstellung unterschiedlicher Stadttypen. Martini zeigt mit Blick auf die kontrastive Darstellung von Kleinstadt und Weltstädten, die Feyerabend als berühmter Neurologe und Psychologe aufgesucht hat, dass weder die Kleinstadt noch die durch die Kleinstadt symbolisierten Lebensalter Kindheit oder Alter als Idyllen dargestellt werden (vgl. Martini 1964: 68). Außerdem ähneln sich

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Zum hier nicht weiter thematisierten reflexiven Erzählanfang vgl. Detering (1990: 245252).

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die Kleinstadt Altershausen, Feyerabends Geburtsstadt, und die einfach nur »Stadt« (BA 20: 210) genannte Stadt, die den Lebens- und Wohnraum des Protagonisten bildet, da der Protagonist in beiden Städten beispielsweise Irritationen erlebt. Es gilt nun, die Darstellung der beiden Kleinstädte im Text zu analysieren. Dass räumliche Gegebenheiten allgemein von Wichtigkeit sind, signalisiert bereits der zweite Satz der Erzählung, in dem der noch nicht namentlich genannte Feyerabend als im Bett liegend eingeführt wird. Nachdem die Schreibsituation, d.h. sowohl das Schreiber-Ich als auch das be- oder erschriebene Ich, charakterisiert worden ist, wird Feyerabends aktueller Lebensraum wie folgt beschrieben: »Die Stadt […] gehörte zu denen, welche wie so manche andere im neuen wirklichen Deutschen Reich seit 1866 und 1870 aus ihrer grünen Umkleidung herausgewachsen war wie ein Junge aus seinen Hosen. Sie war ›Großstadt‹ geworden und bildete sich natürlich was drauf ein und klopfte sich dann und wann darob mit Hochgefühl auf Brust und Magen. […] Sie hatte ganz in Gärten und Wiesen gelegen, was die grüne Umkleidung anbetraf. Damit war’s nun vorbei«. (BA 20: 210)

Auf dem Wall dieser Stadt versucht der Pensionär Feyerabend das Spazieren wieder einzuüben, das er seit dem frühen Tod seiner Frau und seines Kindes nicht mehr praktiziert hatte. Er lenkt dabei seine Aufmerksamkeit auf ihm unbekannte Gestalten wie »Bummler, Arbeitslose, streikende oder ausgesperrte Arbeiter« (ebd.: 211), von deren Anblick er sich, auf Bänken pausierend, bei der Betrachtung von Kindermädchen zu erholen versucht. Feyerabend entdeckt aber nicht nur Zeugnisse der in die Kleinstadt eingezogenen Großstadtwirklichkeit,9 sondern auch Leerstellen, das sind die fehlenden Insekten und Vögel, die durch ihre Absenz von der neuen, ebenfalls ausführlich beschriebenen Stadtwirklichkeit zeugen. Gegen Ende des ersten Kapitels erfährt die Leserschaft, dass sich Feyerabend aufgrund des menschlichen »Gedränge[s]« (BA 20: 214) überflüssig fühlt. Das Fehlen von (in dem Falle: tierischen) Bekannten wird durch Erinnerungen an den Kindheitsfreund Ludchen kompensiert, woraus erst die Idee entsteht, in Altershausen das Spazieren wieder zu erlernen und dort die am Wohnort vermissten alten Bekannten zu suchen. In beiden Städten scheint folglich das Spazieren eine den räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten angemessene Fortbewegungsart zu sein, die gemäß Benne eine »spezifische Fortbewegung der Kleinstadt« (Benne 2012: 157) sei. Die Wiederbe-

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Der Umfang und die Ausmaße der Verstädterung werden auch statistisch bzw. quantitativ dargelegt, so etwa durch Verweise auf die achtzig- bis neunzigtausend Menschen, die in den Vorstädten der ehemaligen Kleinstadt leben (vgl. BA 20: 210), sowie auf unterschiedliche Zonen der Stadt (Altstadt, Neustadt, Vorstadt, Industriegebiet und Natur; ebd.: 213).

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gegnung mit Ludchen in Altershausen spielt auf das Bild der fehlenden Bekannten an, denn Feyerabend hört hinter sich eine weinerliche Kinderstimme, gerade so wie man beim Spazieren einen Vogel oder eine Grille zuerst hört, bevor man sie, wenn überhaupt, sehen kann.10 Dass durch die Begegnung mit einem übriggebliebenen Exemplar11 kein paradiesischer Zustand wiederhergestellt wird, macht die nachfolgende Charakterisierung von Ludchen deutlich. Weder Feyerabends Lebens- noch sein Herkunftsraum sind idyllisch, was zusätzlich zur Gleichsetzung von Tier bzw. Ungeziefer und Ludchen sowie zu den Anspielungen auf die Leiden im Alter durch den Hinweis, dass Feyerabend auf einer Zugstrecke unterwegs ist, die für Kriegszwecke gebaut worden ist und in Friedenszeiten lediglich dem regionalen Zugverkehr dient (vgl. BA 20: 230), verdeutlicht wird. Auch der mehrfache Hinweis auf nur spärlich vorhandene Personen wie beispielsweise die vereinzelten Passagiere am Bahnhof in Altershausen (vgl. ebd.: 232) oder die fehlenden Gäste im Altstadthotel (vgl. ebd.: 240) und die erstaunte Rückfrage eines jungen Barbiers, was man in Altershausen erleben könne (vgl. ebd.: 261), deuten auf einen Mangel hin, der das im Hinblick auf den Wohnort geschilderte Gedränge zu überkompensieren scheint. Den Plan, das Spazieren in Altershausen wieder zu erlernen, versucht Feyerabend sogleich zu realisieren, indem er kurz vor der Geisterstunde – Ludchen wird von Feyerabend als Gespenst beschrieben (vgl. ebd.: 276) – durch die Altstadt von Altershausen spaziert und am folgenden Tag die städtische Kernzone verlässt, um die ebenfalls mit Erinnerungen verbundene Umgebung der Stadt zu erkunden. Altershausen wird im Text nicht als Idylle,12 sondern als prototypische Kleinstadt mit den entsprechenden kleinstädtischen Grundstrukturen wie Stadtmauern, Kirchtürme und einem Marktplatz (vgl. Nowak 2013: 17) beschrieben. Altershausen verfügt über einen Bahnhof, ein Bahnhofs- und Altstadthotel, einen zentralen Marktplatz, ein Restaurant, ein Amtsgerichtsgebäude inklusive Nachtwächter und Wachhund, einen Bauernhof, einen Fluss, einen Teich, eine Stadtmauer, eine Stadtkirche, einen Schulhof, einen Brunnen, einen die Stadt umgebenden Kulturforst und an die Stadt angrenzende Berge (vgl. BA 20: 235). Deterings Beobachtung, dass hier eine Stadt mit »stillen Winkeln, Kleinbürgerstuben, Dorfbrunnen und

10 Die erste Erinnerung Feyerabends an Ludchen zeigt Letzteren als einen, der Feyerabend beim Lehrer als unrein, d.h. als von Läusen befallen, anschwärzt, womit eine weitere Verbindung zwischen Ludchen und Tieren bzw. Ungeziefer hergestellt wird. 11 Das Thema der Übriggebliebenen und Schutzbedürftigen wird am Beispiel des Artenschutzes durchgespielt (vgl. BA 20: 214). 12 Karoline Feyerabend, Friedrich Feyerabends Schwester und Mitbewohnerin, betont gegenüber ihrem Bruder, dass eine Idylle alles andere als idyllisch sein kann (vgl. BA 20: 215). Ähnliche Kommentare beispielsweise zu Erzählschemata, Symbolen oder Motiven auf der Figurenebene durchziehen den ganzen Text.

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Strickstrümpfen« (Detering 2016: 257) beschrieben wird, betont den kleinbürgerlichen Charakter der Kleinstadt, die der Leserschaft schrittweise, d.h. aus der Perspektive Feyerabends, präsentiert wird. Feyerabend gewärtigt beim Gang in Richtung Zentrum immer wieder ein neues Gebäude, das er mit seiner Erinnerung an die Stadt abzugleichen versucht. Während der Wohnort vor allem mit Blick auf die Bedingungen für die Wiederaufnahme des Spazierens und mit Blick auf neue Gebiete rund um das städtische Kerngebiet beschrieben wird, werden in der Charakterisierung Altershausens einzelne Gebäude der Neu- und Altstadt genannt. Dadurch entsteht ein detailliertes Bild der Kleinstadt. Die Entwicklung der Stadt, in der Feyerabend lebt, ist zwar weiter fortgeschritten als diejenige Altershausens, die Beschreibung Letzterer lässt aber keine Zweifel daran, dass sie dieselbe Entwicklung durchlaufen wird. Feyerabends Reise nach Altershausen wird als ein Akt beschrieben, der sowohl Züge einer Flucht als auch Züge eines Aufbruchs trägt. Wenn man den Ausgangs- und Endpunkt der Reise vergleicht, fällt zudem auf, dass Feyerabend aus einer Kleinstadt in eine andere Kleinstadt fährt, um dort sowohl etwas zu erlernen als auch etwas wiederzufinden. Die Reise scheint Feyerabend gleichermaßen eine Innovation wie auch eine Konservierung in Aussicht zu stellen, d.h. die Kleinstadt steht sowohl für das innovative Moment einer Großstadt als auch für das konservative eines Dorfes, womit indirekt die Oppositionslogik bei der Darstellung einer Kleinstadt angezeigt wird. Die Reise Feyerabends hat außerdem zur Folge, dass die große Welt, verkörpert durch den weitgereisten Arzt, auf die kleine Welt, die Lebenswelt von Ludchen und Minchen, trifft. Die Kleinstadt wird somit zur Schnittstelle zwischen Großstadt und Land. Ihre Verdopplung zeigt folglich an, dass der Text keine einfache Gleichsetzung von Kleinstadtdarstellung und Gesellschafts- oder Zeitkritik vollzieht, sondern die Kleinstadtdarstellung selbst zur Disposition stellt. Die Kleinstadt als Herkunftsraum In Raabes ALTERSHAUSEN fällt die titelgebende Kleinstadt mit dem Herkunftsraum des Protagonisten zusammen. Da sich der Protagonist zu Beginn der Erzählung durch seinen Wohnort gehend an seine Vaterstadt Altershausen erinnert, wird die Kleinstadt Altershausen an einer prominenten Stelle als Herkunftsraum akzentuiert. Um die Funktion des (gedoppelten) Kleinstadt-Topos – Wohn- und Geburtsort sind Kleinstädte – in ALTERSHAUSEN besser verstehen zu können, lohnt sich ein Blick auf die Analysekategorie des Herkunftsraums, der sich der von Maximilian Benz und Katrin Dennerlein 2016 herausgegebene Band LITERARISCHE RÄUME DER HERKUNFT widmet. Dieser nimmt sich in systematischer und historischer Hinsicht – der Untertitel kündigt eine historische Narratologie an – der »Erzeugung und narrative[n] Vermittlung des Herkunftsraums« (Benz/Dennerlein 2016: 2) an. Benz und

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Dennerlein betonen in der Einleitung, dass zur Bestimmung eines Raums in einem Text als Herkunftsraum mindestens ein weiterer Raum vorhanden sein muss. Außerdem weisen sie darauf hin, dass es sich beim Begriff der Herkunft sowohl um eine räumliche als auch um eine zeitliche Kategorie handelt. Herkunftsräume in Texten werden folglich nicht nur über räumliche, sondern auch über zeitliche Differenzen zu anderen Räumen bestimmt. Zusätzlich zu allgemeinen Überlegungen zum Begriff des Herkunftsraums widmen sich Benz und Dennerlein den Fragen, auf welche Weise ein Herkunftsraum analysiert werden kann und welche Erkenntnisinteressen dieser Analyse zugrunde liegen. Im Anschluss daran und im Hinblick vor allem auf die Frage der Darstellung des Herkunftsraums nennen sie folgende Leitfragen für eine Untersuchung eines literarischen Herkunftsraums: »Welche Informationen zum Herkunftsraum werden explizit genannt, welche lassen sich erschließen und wie kann man diese Schlussprozesse plausibel machen? Wie viel Wissen wird vorausgesetzt? Wie ist das Verhältnis von Menge und / oder Explizitheitsgrad und Wichtigkeit? Inwieweit wird auf außertextuelle rsp. realweltliche Räume rekurriert?« (Ebd.: 10)

Des Weiteren führen sie die Fragen auf, ob weitere (inszenierte) Medien im Text an der Darstellung des Herkunftsraums beteiligt seien (vgl. ebd.: 11) und inwiefern sich Herkunftsräume der Autorinnen und Autoren, Leserinnen und Leser, Erzählinstanzen und Hauptfiguren entsprechen würden.13 Letzteres ist im Hinblick auf die Realismus-Programmatik eine interessante Frage. Ausgehend von der Überlegung, dass der nahen Umgebung aufgrund der Überprüfbarkeit ein besonderer Wirklichkeitsgehalt zugeschrieben wird, scheint sich gerade für realistische Texte eine Parallelisierung der Herkunftsräume des Autors, Erzählers und Lesers anzubieten. Mit Blick auf Raabes Werk kann dies bestätigt werden, da sich die Herkunftsräume der Figuren und Erzähler stellenweise mit dem Herkunfts- und Lebensraum des Autors überschneiden. Ein letzter Punkt, den Benz und Dennerlein erwähnen und der für eine Interpretation von ALTERSHAUSEN als Spätwerk bzw. als letzter Text aus Raabes Gesamtwerk von Interesse ist, ist die Verbindung zwischen der Darstellung oder Inszenierung eines Herkunftsraums und der Selbstreflexion des Erzählens (vgl. ebd.: 15). Ausgehend vom Konzept des Herkunftsraums soll nachfolgend die

13 Diese Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes über den Text hinaus wird bei Benz/Dennerlein (vgl. 2016: 7) ebenfalls angesprochen, was im Hinblick auf die narratologische, implizit auch textimmanente Stoßrichtung des Sammelbandes nicht selbstverständlich ist. Heinrich Deterings Buch HERKUNFTSORTE. LITERARISCHE VERWANDLUNGEN IM

WERK STORMS, HEBBELS, GROTHS, THOMAS UND HEINRICH MANNS (2001)

wiederum widmet sich der literarischen Adaption der Herkunftsorte exemplarischer Autoren.

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poetologische Funktion der Kleinstadt in der handlungsarmen und selbstreflexiven Erzählung ALTERSHAUSEN untersucht werden. Die doppelte Relativität des Herkunftsraums kann für eine Analyse von ALTERSHAUSEN fruchtbar gemacht werden, da nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Distanz zwischen der sich langsam zu einer großen Stadt (wenn auch noch nicht Großstadt) entwickelnden Kleinstadt, in der der Protagonist wohnt, und der ebenfalls wachsenden Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist, besteht. Die Reise zum Herkunftsraum Altershausen wird als Reise im Raum und gleichermaßen in der Zeit, als Zeitreise, dargestellt.14 Das Konzept des Herkunftsraums ist über den zeitlichen Aspekt des Herkunftsbegriffs mit einem der Kernthemen der Erzählung, dem Thema der Identität, verbunden. Die Identitätsfrage wird im Text durch eine Abbildung unterschiedlicher identitätsbezogener Aspekte auf räumliche Gegebenheiten behandelt, weshalb als Grund für Feyerabends Reise nach Altershausen die Suche nach der eigenen Identität bzw. dem eigenen Ich genannt wird. Eng verbunden mit der Frage nach der Identität bzw. nach dem Subjekt ist in ALTERSHAUSEN die Frage des Schreibens und Erzählens, die im ersten, die Erzählung einseitig rahmenden Teil des Textes aufgerufen und durch die Parallelisierung von Erzählen und Spazieren fortgesetzt wird. Die vielzitierte Textstelle aus dem einführenden Teil von ALTERSHAUSEN dazu lautet: »Ich, / nun der Schreiber dieser Blätter.« (BA 20: 204)15 Anhand der Analyse der Kleinstadt Altershausen als Herkunftsraum kann gezeigt werden, dass der Text nicht lediglich eine konservative Gesellschaftskritik darstellt, sondern dass eine mehrdimensionale Kritik des Erzählen(können)s vorliegt. Insbesondere anhand zweier Prätexte, die beide einen sowohl räumlich als auch zeitlich problematisierten Herkunftsraum und -konflikt ins Zentrum stellen, lässt sich zeigen, dass sich Raabes später Text an den realistischen Parametern des Erzählens abarbeitet. Einer der wichtigsten Prätexte des intertextuell aufgeladenen Textes ALTERSHAUSEN ist die wohl berühmteste Heimkehrergeschichte, Homers ODYSSEE. Feyerabends Heimkehr wird durch Formulierungen, Szenen und Symbole explizit mit Odysseus gefahrenvoller Heimkehr nach Ithaka parallelisiert. 16 Die

14 Raum und Zeit werden von Feyerabend an einer anderen Stelle selbst parallelisiert. So ruft er sich etwa in Gedanken zu, dass er »die dumme Verkleidung durch Zeit und Raum« (BA 20: 236) abwerfen solle. 15 Deterings These, dass das Subjekt Effekt der (fragmentarischen) Erzählung ist und dieser nicht vorangeht (vgl. Detering 2016: 257), unterstreicht den Zusammenhang der beiden Reflexionen im Text, derjenigen über das Schreiben und derjenigen über das Ich bzw. die Identität. 16 Für weitere ODYSSEE-Referenzen vgl. BA 20: 233 und 295. Die Reise nach Altershausen wird auch als »Fahrt nach Traumland« (ebd.: 233) und im Hinblick auf Heines Gedicht

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Erzählung springt von der Frage, wie es um Feyerabend bestellt sei, zu Odysseus: »›Da erwachte der edle Odysseus / Ruhend auf dem Boden der lang verlassenen Heimat. / Und er erkannte sie nicht‹–« (ebd.: 232) und von dort wieder zurück zu Feyerabend. So heißt es weiter, dass Feyerabend inkognito reist, jedoch von einem ihn nicht kennen könnenden Wachhund enttarnt wird, wodurch die antike Vorlage parodiert wird.17 Altershausen wird auch als Ziel von Feyerabends Reise beschrieben, aufgrund der Gegenüberstellung zweier Kleinstädte erfährt das Konzept des Herkunftsraums jedoch eine stärkere Gewichtung als dasjenige des Ankunftsraums, zumal die Ankunft im Gegensatz zu derjenigen von Odysseus nur eine temporäre ist, da Feyerabend zu Besuch ist. Mit Blick auf die Frage nach der Darstellung des Herkunftsraums in ALTERSHAUSEN sei auf die Parallele bei der Schilderung der Ankunftsszene verwiesen, innerhalb welcher sich die Protagonisten die Frage stellen, wo sie angekommen seien.18 Im Gegensatz zur ODYSSEE prägen jedoch keine Ekphrasen die Darstellung des Ankunft- und Herkunftsraums Altershausen, sondern Beschreibungen der sinnbasierten Vergegenwärtigung des Vergangenen durch den Protagonisten. So heißt es beispielsweise: »er, der Greis, auf der obersten Stufe der Steintreppe des Rathauskellers« (ebd.: 238), d.h. es wird der Versuch einer schrittweise erfolgenden Rückgewinnung des Kleinstadtraums geschildert. Nicht die Kleinstadt selbst partizipiert am Stillstand – so ein Aspekt der sich des KleinstadtTopos bedienenden Gesellschaftskritik –, sondern die durch Instinkte und Tageszeiten gesteuerte Figur Ludchen sowie Feyerabend, der im Rückgang dem Zeitverlauf etwas entgegenzuhalten versucht und sich dabei als Idylliker oder Fortschrittskritiker zu erkennen gibt (vgl. Geulen 2008: 440). Während sich Odysseus erfolgreich den Gefahren der großen Welt gestellt hat, bei seiner Gattin angelangt ist und sein Herrschaftsreich wieder in seinen Besitz gebracht hat, erwarten Feyerabend keine Hindernisse, die er mit der Klugheit, List und Stärke eines Helden überwinden muss. Im Gegensatz zu Odysseus, der den von weiblichen oder weiblich konnotierten Wesen ausgehenden Verlockungen entsagen kann, bleibt Feyerabend bei der

als Reise nach Bimini (vgl. ebd.: 228) beschrieben, wobei der zweite intertextuelle Hinweis die Traum- bzw. Paradiesvorstellung einklammert. 17 Torsten Voß betont in seiner Lektüre von ALTERSHAUSEN den Unterschied zwischen der

ODYSSEE und ALTERSHAUSEN und resümiert, dass eine Rück- und Heimkehr Feyerabends aufgrund der fortschreitenden Zeit – Voß fokussiert dabei das Alter als Lebensabschnitt – nicht erfolgen kann (vgl. Voß 2010). 18 Cornelia Heinisch hat die Funktion von Ithaka in Homers ODYSSEE untersucht und Ithaka als Herkunfts- und Ankunftsraum beschrieben, der gleichermaßen Schauplatz, Sehnsuchts- und Erinnerungsort, aber auch ein fataler Ort sei (vgl. Heinisch 2016), da bei der Rückkehr Odysseus’ sowohl die Orientierung als auch die Erinnerung versagen und der Herkunftsraum als unbekannter fremder Raum wahrgenommen wird.

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parzenähnlichen Figur Minchen hängen. Mit anderen Worten: Feyerabend bleibt ein Reisender, der im Gegensatz zu Odysseus seinen Herkunftsraum nicht durch eine Heimkehr im starken Sinne zu einem Ankunftsraum machen kann. »Altershausen konnte ihm nur auftauchen wie das erste Kapitel der Genesis dem Geologen und Philosophen – nicht eine unbekannte, aber trotz aller Wissenschaft unbekannt gewordene Gegend« (BA 20: 231), in der Feyerabend lediglich zu Besuch sein wird. Die textinterne Totenreich-Metaphorik aufgreifend kann der reisende und nicht seinen Raum findende Feyerabend als Untoter (oder wie Ludchen als Gespenst oder Geist) beschrieben werden, der weder an Zeit noch Raum gebunden ist. Ob Feyerabend das Spazieren wieder erlernt hat, wird nicht mitgeteilt, dafür wiederholt auf das Verweilen und Zuhören (und gerade nicht Erzählen) hingewiesen. Während die Referenz auf die ODYSEE den räumlichen Aspekt des Herkunftsraums in den Vordergrund rückt und problematisiert – Feyerabend wird im übertragenen Sinne ortlos –, fokussiert die Referenz auf einen weiteren Prätext den zeitlichen Aspekt des Herkunftsraums. Es handelt sich bei diesem Prätext um Raabes 1878 erschienene fantastische Erzählung AUF DEM ALTENTEIL. EINE SILVESTERSTIMMUNG (1878),19 in der ein Gespenst zu seinem Herkunftsort zurückkehrt. Es scheint sich fast schon um eine Vorstufe von ALTERSHAUSEN zu handeln, da zwei über siebzigjährige Greise (hier jedoch kein Geschwister-, sondern ein Liebespaar) eingeführt werden, die an Heiligabend, einem christlichen Jubiläum und wichtigen bürgerlichen Feiertag, an ihr erstes, jung gestorbenes Kind zurückdenken. Fernab der Familiengesellschaft erzählen sie sich davon, bevor ihnen ihr eigenes Kind als Geist erscheint, der sich selbst als »euere Älteste und euere Jüngste« (BA 13: 374) bezeichnet. Der Geist fügt sich allerdings nicht einfach in das Familiengefüge ein, sondern konkurriert mit den lebenden Geschwistern um die Gunst und den Besitz der Eltern.20 Ein ähnliches Konkurrenzverhältnis besteht auch zwischen Feyerabend, der sich an den Verlust seines Kindes und seiner Frau erinnert (vgl. BA 20: 209f.), und Ludchen, der Feyerabends Erinnerung zu dominieren beginnt und ihn zur Reise nach Altershausen veranlasst. Ein analoges Muster bildet auf der Ebene der Erzählanordnung die Aufteilung in ein Ich, das sich als Er beschreibt, und einen auktorialen Erzähler, der ein Ich, das sich als Er beschreibt, beschreibt. Eine Konkurrenzsituation als Erzählanlass, wie sie auch in den AKTEN DES VOGELSANGS anhand des Kleinbürgers Karl Krumhardt und des Sonderlings Andres Velten

19 An dieser Stelle sei allerdings daran erinnert, dass Raabes Texte oftmals mit ähnlichen Figurenkonstellationen und Konflikten arbeiten, sodass fast jeder Text über thematisch verbundene Vor- und Folgetexte verfügt. 20 Dies stellt eine Vorstufe des Konkurrenzmodells zwischen einem besitzenden Kleinbürger und einem Sonderling in den späten Texten dar, das in den AKTEN DES VOGELSANGS in Reinform vorliegt und im Duo Feyerabend und Ludchen eine Überzeichnung erfährt.

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beschrieben wird, wird in ALTERSHAUSEN jedoch lediglich zitiert, um den Unterschied der beiden Figuren auf der räumlichen und zeitlichen Achse in Richtung Null zu treiben. Im Hinblick auf die beiden Prätexte zeigt sich also, dass die Kleinstadt zwar als Ort des moderaten Widerstands gegen die Großstadt sowie als Raum für den Entwurf von Subjektivität kenntlich gemacht wird (vgl. Hüppauf 2005: 308), im Rahmen der Verdoppelung der Kleinstadt werden diese Aspekte aber wiederum eingeklammert. Der Kleinstadt-Topos wird folglich nicht nur bedient, sondern mittels der Gegenüberstellung zweier Kleinstädte und der Spezifizierung der einen Kleinstadt als Herkunftsraum zugleich reflektiert und problematisiert.

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Die Kleinstadt stellt gemäß Christiane Nowak ein Formproblem dar, da sie für Überschaubarkeit steht, die zum einen einer pars pro toto-Darstellung Vorschub leistet, zum anderen aber auch mit dem Problem der Darstellung von Langeweile im Sinne von wenigen ereignishaften Handlungen einhergeht (vgl. Nowak 2013: 28). Die Darstellung der Kleinstadt als Bühne (vgl. ebd.: 98), die auch der Beschreibung der kleinstädtischen Kulisse in ALTERSHAUSEN zugrunde liegt, veranschaulicht die Idee der Überschaubarkeit, die auf diese Weise im Text selbst eine Abbildung erfährt und Fragen nach der Darstellung und Darstellbarkeit von Wirklichkeit thematisierbar macht. Die Frage nach der Darstellbarkeit von Wirklichkeit wird auch in den beiden Träumen Feyerabends, wovon der eine als Geschichtstraum und der andere als Nussknackertraum in die Forschung eingegangen ist, thematisiert. Der erste Traum (vgl. BA 20: 254-259) führt anhand einer in unregelmäßigen Einheiten schlagenden Stadtkirchenuhr vor, dass sich die Zeit der Geschichte von derjenigen des Individuums unterscheidet.21 Der zweite Traum (vgl. BA 20: 290-298) hingegen verweist auf ein zyklisches Zeitverständnis, da sich Feyerabend als ein alter Nussknacker erträumt, der während des Weihnachtsfestes im Elternhaus von einem neuen abgelöst wird – eine Nähe zu AUF DEM ALTENTEIL (1878) ist unverkennbar –, darüber aber nicht verzweifelt, sondern sich auf das Jetzt einlässt.22 Die zwei Träume stehen aber nicht nur für unterschiedliche Zeitkonzepte,

21 Fabian Lamparts Überlegungen zu Raabes Einbindung der nationalen Geschichte in einen historischen Roman und der Evokation eines transhistorischen Raums in DAS ODFELD (1888) ließen sich auch für die Analyse des ersten Traums von Feyerabend (d.i. der Geschichtstraum) fruchtbar machen (vgl. Lampart 2018: 157-160). 22 Zu den durch die Figuren verkörperten Zeitkonzepten vgl. Detering (2016: 256f.).

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die in der Darstellung der Hauptfiguren überblendet werden, 23 sondern auch für zwei Erzählmodi, derer sich Raabe abwechselnd bedient hat: dem historischen und dem zeitkritischen, d.h. gegenwartsbezogenen Erzählen. Der Versuch Feyerabends, zu seinen Wurzeln zurückzukehren, bildet eine Vorlage, um im Rahmen einer Erzählung, die weder dokumentarisch noch autobiographisch ist, den Fokus der Historiographie und denjenigen der Autobiographie thematisieren und reflektieren zu können.24 Während die historische Perspektive annähernd mit derjenigen des realistischen Erzählens gleichgesetzt werden kann, bildet die autobiographische beziehungsweise die subjektive Perspektive eine, die erst in der literarischen Moderne ihre volle inhaltliche und formale Entfaltung finden wird. Die Verdoppelung der Kleinstadt und die Charakterisierung der Kleinstadt als Herkunftsraum sind zentrale Bestandteile einer Kritik eines mimetischen Erzählens, das die eigene Zeitlichkeit und Räumlichkeit stillzustellen versucht, um sich vollends auf diejenigen der abzubildenden Wirklichkeit zu konzentrieren. Das Duo Ludchen und Feyerabend, aber auch die namenlose Stadt und Altershausen, widerspiegeln eine Weise des Weltbezugs, dessen Grenzen Raabe am Ende seines den Realismus durchlaufenden Erzählens aufgezeigt hat. Der Rauch, der wiederum dieselbe verklärende Funktion hat wie der Nebel in Darstellungen der Großstadtwirklichkeit, sowie die Farbe Blau25 sind Symbole, die sowohl auf die Imagination und Poesie als auch auf die blinden Flecken einer realistischen Wirklichkeitsdarstellung verweisen. Raabes Fokussierung einer Kleinstadt bzw. zweier Kleinstädte in ALTERSHAUSEN kann folglich im Rahmen eines Rückblicks auf das eigene Erzählen verortet werden, der zugleich auch Instrument einer Standortbestimmung des (Raabeschen) realistischen Erzählens ist. Raabe ist in seinem letzten (wenn auch

23 Keine der Figuren verkörpert ein Zeitmodell in Reinform, denn auch Ludchen hat sich weiterentwickelt und trägt durch den Verkauf von gefangenen Wildtieren zu seinem Unterhalt bei (vgl. BA 20: 273). 24 Aufgrund der Benennung der Figuren wird ein autobiographischer Effekt erzeugt, da Raabes letztes Kindermädchen beispielsweise den Namen der weiblichen Protagonistin Minchen Ahrens trug (vgl. BA 20: 497). Denselben autobiographischen Effekt erzeugt auch die Nähe von Raabe und Feyerabend, aber auch diejenige von Altershausen und Stadtoldendorf. Hinweise auf eine intradiegetische autobiographische Erzählsituation – Feyerabend erzählt retrospektiv von seinem Leben – problematisieren textintern das autobiographische Erzählen und laden zu einer Reflexion des autobiographischen Settings (und seiner fiktionalen Komponenten) ein. Zur Relation von Autobiographie und Fiktion in ALTERSHAUSEN vgl. Detering (1990: 245-258). 25 Feyerabend ist in einem in Blau gehüllten Zugabteil nach Altershausen unterwegs, die Weihnachtsstube im Traum wird als blaue Stube beschrieben etc.

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posthum veröffentlichten) Text als Nachlassverwalter aktiv, 26 indem er einer aus der Moderne heraus formulierten Kritik an realistischen Themen und Erzählverfahren vorausgreift und sie antizipierend implizit entkräftet (vgl. Jückstock-Kießling 2004: 33f.). Auch das Ende des Textes verdeutlicht noch einmal diesen werkpoetischen Aspekt: Die Erzählung endet damit, dass Feyerabend zusammen mit Minchen Ahrens und Ludchen in der Laube eines »Ackerbürgerhauses« (BA 20: 300) sitzt, womit die Anfangssituation des Sitzens auf Bänken bei Kindermädchen und deren Schützlingen, aber auch eine prototypische Erzählsituation in realistischen Texten reproduziert wird. Allerdings mit einem bedeutsamen Unterschied: Der prototypische Erzähler erzählt hier nicht mehr. Dass eine Kleinstadt das Ziel einer räumlichen und zeitlichen Rückkehr bildet und zugleich den Raum darstellt, aus dem der greise Erzähler nicht mehr zurückzukehren scheint, kann als poetologischer Kommentar zum eigenen realistischen Erzählen verstanden werden. Sowohl das Spazieren als auch das Erzählen ist in einer Sackgasse gefangen, was allerdings wiederum wortreich beschreiben bzw. erzählt wird.

L ITERATUR Anonymus (1898): »Meisterbücher und andre Erzählungen«, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 50/57, S. 592-596. Baßler, Moritz (2010): »Figurationen der Entsagung. Zur Verlaufslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51, S. 63-80. Bertschik, Julia (2016): »Modernisierung und Industrialisierung«, in: Dirk Göttsche/Florian Krobb/Rolf Parr (Hg.), Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler, S. 287-292. Benne, Christian (2012): »Theorie der Kleinstadt. Versuch über, mit und für Keller und Walser«, in: Ursula Amrein/Wolfram Groddeck/Karl Wagner (Hg.), Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser, Zürich: Chronos, S. 147-169. Benz, Maximilian/Dennerlein, Katrin (2016): »Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.), Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 1-17. Blödorn, Andreas (2016): »›Die Chronik der Sperlingsgasse‹«, in: Dirk Göttsche/Florian Krobb/Rolf Parr (Hg.), Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler, S. 56-62.

26 Dass Raabe in einem Brief vom 13.7.1910 an den Grote Verlag noch einmal darauf hinweist, dass der Text Fragment bleiben soll (vgl. BA 20: 476), deutet auf ein Nachlassbewusstsein bzw. eine Nachlassverwaltungsstrategie des Autors hin (vgl. Sina 2017).

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Detering, Heinrich (2016): »Altershausen«, in: Dirk Göttsche/Florian Krobb/Rolf Parr (Hg.), Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler, S. 256-259. Detering, Heinrich (2001): Herkunftsorte. Literarische Verwandlungen im Werk Storms, Hebbels, Groths, Thomas und Heinrich Manns, Heide: Boyens. Detering, Heinrich (1990): Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Fuld, Werner (2006): Wilhelm Raabe. Eine Biographie, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Geulen, Eva (2008): »Anagnorsis statt Identifikation (Raabes Altershausen)«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83/3, S. 424-447. Göttsche, Dirk (2007): »Wilhelm Raabes Erzählungen und Romane«, in: Christian Begemann (Hg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, S. 121-138. Heinisch, Cornelia (2016): »›Nichts Süßeres sonst als das eigene Land‹. Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee«, in: Maximilian Benz/Kathrin Dennerlein (Hg.), Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 19-40. Hüppauf, Bernd (2005): »Die Kleinstadt«, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Campus, S. 303-315. Jolles, Charlotte (1988): »Weltstadt – Verlorene Nachbarschaft. Über Berlin-Bilder Raabes und Fontanes«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 29, S. 52-75. Jückstock-Kießling, Nathali (2004): Ich-Erzählen. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Realismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lampart, Fabian (2018): »Nationalgeschichte und Raumpoetik in historischen Romanen von Balzac, Hugo, Alexis und Raabe«, in: Elisabeth Décultot/Daniel Fulda/Christian Helmreich (Hg.), Poetik und Politik des Geschichtsdiskurses. Deutschland und Frankreich im langen 19. Jahrhundert, Heidelberg: Winter, S. 139-161. Martini, Fritz (1964): »Wilhelm Raabes ›Altershausen‹«, in: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 5, S. 87-105. Mohnkern, Ansgar (2017): »›Die Nachbarschaft‹ – Über Raabes Soziologie des Häuslichen«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 58, S. 37-55. Nowak, Christiane (2013): Menschen, Märkte, Möglichkeiten. Der Topos Kleinstadt in deutschen Romanen zwischen 1900 und 1933, Bielefeld: Aisthesis. Parr, Rolf (2013): »Die nahen und die fernen Räume. Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe«, in: Roland Berbig (Hg.), Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin: De Gruyter, S. 53-76.

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Raabe, Wilhelm (1992): Wer kann es wenden?, in: Ders., Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. von Karl Hoppe, 2. Bd., 2., überarbeitete Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 475-518 (Text) und S. 626-635 (Anhang). [= BA 2] Raabe, Wilhelm (1973): Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten, in: Ders., Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. von Karl Hoppe, 11. Bd., 2. durchgesehene Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 5-157. [= BA 11] Raabe, Wilhelm (1977): Auf dem Altenteil. Eine Silvester-Stimmung, in: Ders., Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. von Jost Schillemeit, 13. Bd., 2. durchgesehene, teilweise erweiterte Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 365-377. [= BA 13] Raabe, Wilhelm (2001): Altershausen, in: Ders., Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. von Jost Schillemeit, 20. Bd., 2., überarbeitete Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 201312 (Text) und S. 475-499 (Anhang). [= BA 20] Sina, Kai (2017): »Schlusspoetik. Wilhelm Raabe und das Konzept ›Spätwerk‹«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 58, S. 56-68. Voß, Torsten (2010): »Narrative des Alters: Wilhelm Raabes ›Altershausen‹. Erzählerische Kompensationsstrategien des Zeit- und Präsenzverlustes«, in: Dirk Göttsche/Ulf-Michael Schneider (Hg.), Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 215-230.

Kleinstadterfahrung im Übergang zur Moderne Johannes Schlafs In Dingsda L OTHAR L. S CHNEIDER »…un net vergesse: Wetzlar« BADESALZ: WETZLAR

E XPOSITION Johannes Schlaf kommt als Autor in Aufsätzen zum Naturalismus häufig vor – aber meist als Koautor von Arno Holz; in Werken zur Literatur der Kleinstadt hingegen erscheint IN DINGSDA (Schlaf 1892)1 kaum, obwohl das späte neunzehnte Jahrhundert und der Übergang zum zwanzigsten hier eine bemerkenswerte Zeit darstellen, quasi ein Intermedium zwischen der ländlichen Szenerien sehr zugewandten Literatur des Realismus und der modernen, inhaltlich wie ästhetisch problematischen ›Landliebe‹ der Heimatkunst.2 Auch die wenigen Darstellungen, die sich dem Text selbst widmen, sind sich über die Frage seiner Qualität und Relevanz uneins: Zwar kann man mit Ulrich Erdmann QUERFURT AUF DEN SPUREN VON JOHANNES SCHLAF – so der Untertitel seiner Broschüre RUNDGANG IN DINGSDA (2006)3 – erlaufen; gleichzeitig kommt Rüdiger Bernhardt aber zu dem Schluss:

1

Da diese Ausgabe nur wenig verbreitet ist, wird im Folgenden nach der leichter greifba-

2

Selbst Christine Nowak (2013), deren Darstellung zwar auf das 20. Jahrhundert

ren Insel-Ausgabe (Schlaf 1913) zitiert. konzentriert ist, aber dennoch eine Genealogie der Gattung zeichnet, schweigt dazu. 3

Vgl. auch Erdmann (2004) sowie Popp (2002).

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»Es [Dingsda] drückt keineswegs eine besondere Zuneigung zur Heimat aus, sondern offenbart, daß an die Stelle genauer Beschreibung größtmögliche und sehr laxe Verallgemeinerung getreten ist. So geriet seine [Schlafs] Geburtsstadt in die allgemeinste Unbestimmtheit, in der nicht einmal Räumliches deutlich hervortritt: Wie ein Anhängsel weist ›da‹ auf einen Rest lokaler Bedeutung hin.« (Bernhardt 1988: 22)

Er ergänzt: »Dingsda war die allgemeine Beschreibung einer weitgehend ausgeglichenen, ja uninteressanten Landschaft. Dingsda war eine Verlegenheitslösung, um sich nicht zur Heimat, einer Stadt oder Landschaft bekennen zu müssen.« (Ebd.) Die Vermutung, dass es sich dabei auf der einen Seite um lokalpatriotisch motivierte Darstellung handele, der sich dann ein kritisches Urteil der Wissenschaft entgegenstellte, ist nicht von der Hand zu weisen, aber was besagt das schon? Ist ein Autor verpflichtet, als Charakteristik des Ortes das anzugeben, was diesen von allen anderen unterscheidet, seine differentia specifica, oder kann es für einen Ort nicht auch charakteristisch sein, dass er eben ist ›wie alle anderen‹ seiner Art? Und weiter gefragt: Was ist eigentlich die Intention des Textes – nicht die des Autors einer solchen Beschreibung? Schlaf schreibt schließlich weder einen Reiseführer, der Fremden einen Besuch nahelegen oder eine Besichtigung ermöglichen soll, noch liefert er eine Reisebeschreibung, die Erlebnisse und Erfahrungen der Begegnung mit Fremdem und Ungewöhnlichem auf unterhaltsame Art vermitteln will. Oder beabsichtigt er gar die Schilderung der Totalität einer geschlossenen, kleinstädtischen Welt und ihrer Gesetze? Er schreibt – ja was eigentlich? Vielleicht taucht der Text schon deshalb so selten in der Sekundärliteratur auf, weil er Gattungserwartungen so wenig nachkommt. Dies ist meine Vermutung. Ich werde deshalb im Folgenden zunächst einige literatur- wie auch kulturhistorische Rahmenbedingungen skizzieren und erst dann auf den Text selbst zu sprechen kommen. Die zentrale These ist: IN DINGSDA markiert einen Umbruch, der Text zeigt die Schwellenangst des Kleinstädters im Angesicht der urbanen Moderne. Dabei wird ihm die Kleinstadt zum Medium der Selbstvergewisserung und zum Remedium seiner prekären Existenz. Schon Schlafs Mitstreiter Wilhelm Bölsche hat dies bemerkt, wenn er 1892 in seiner Rezension schreibt: »Man meint, die Stadt habe ein seltsames Netzwerk, eine Art Fensterkreuz hineingeschrieben in die Pupille und der Rahmen bleibt, ob nun auch der Blick, im Sehnen einer unruhkranken, trostbedürftigen Seele, heimkehrt in die einsame Dorfwelt zu ›Dingsda‹« (Bölsche 1891: 986).

Und auch Arthur Moeller-Bruck notiert noch 1897 mit unbehaglicher Ambivalenz:

K LEINSTADTERFAHRUNG

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»Das Buch ist zu ausgeglichen im schlechten Sinne. Kein größerer Wert hebt sich hoch, um den kleineren als solchen empfinden zu lassen – es stehen zu viele Harmlosigkeiten in ihm, als daß es zu einer Größenwirkung gelangen könnte. Das einzigste, was schließlich an ›In Dingsda‹ reizt, ist wiederum die Art, in der Schlaf seine kleinen Stoffe künstlerisch bezwungen hat. Von diesem eingeschränkteren Standpunkte aus sind die Skizzen allerdings ganz einzig, ganz köstlich, und in ihrer Wirkung das beste und kühnste vielleicht, was der moderne Impressionismus in der Literatur geschaffen hat.« (Moeller-Bruck 1897: 159)

Um diese Irritation nachvollziehbar zu machen, sei zunächst ein stark schematisierender Blick auf die Tradition der Kleinstadtdarstellung geworfen.

K LEINSTADTDARSTELLUNG Obwohl bereits in den Reiseberichten der Aufklärung eine starke Tendenz zur Literarisierung zu erkennen ist (vgl. Stewart 1978) und auch die märchenhaften Schlaraffen historisch tiefer – mindestens bis zum Lale-Buch 1597 – reichen (vgl. Nowak 2013: 75), beginnen klassische Genealogien der Kleinstadtdarstellung meist mit Goethe. In HERMANN UND DOROTHEA formuliert er das Klischee der gefestigten, patriarchalisch geprägten Kleinstadt als Gegensatz zu den revolutionären Unruhen der großen Welt;4 ebenso wichtig erscheint die schematisierte Marktstadt der NOVELLE als Mitte zwischen landständiger Produktion und weitläufigem Handel zu fungieren (vgl. Goethe 1982b).5 Dass die Romantik eine eher urban orientierte

4

Dies ist jedoch bei Goethe zunächst kein systematischer, sondern ein historischer Befund, da Goethes Kleinstadt bereits eine Generation vor den verhandelten Ereignissen durch einen Stadtbrand, d.h. durch die interne Urkatastrophe städtischer Gemeinwesen verwüstet worden war. Vgl. Goethe 1982a, bes. S. 444 (= I. Gesang, Vers 175-184) und S. 449451 (= II. Gesang, Vers 107-158).

5

Goethe entwickelt hier die Idealtopographie eines kleinen Fürstentums. Interessant ist dabei die Beschreibung des Marktplatzes, der als temporäre Stadt-in-der-Stadt noch an die Struktur ungefestigter Siedlungen und an die Möglichkeit unmittelbaren Tausches – und damit an die Urgeschichte der Stadt selbst – erinnert: »›Lassen Sie uns aber durch die Stadt reiten,‹ fuhr die Dame [die Fürstin] fort, ›über den großen Marktplatz, wo eine zahllose Menge von Buden die Gestalt einer kleinen Stadt, eines Feldlagers angenommen hat. Es ist, als wären die Bedürfnisse und Beschäftigungen sämtlicher Familien des Landes umher nach außen gekehrt, in diesem Mittelpunkt versammelt, an das Tageslicht gebracht worden, denn hier sieht der aufmerksame Beobachter alles, was der Mensch leistet und bedarf; man bildet sich einen Augenblick ein, es sei kein Geld nötig, jedes Geschäft könne hier durch Tausch abgetan werden, und so ist es auch im Grunde.‹« (Goethe

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Bewegung war, ist häufig bemerkt worden. Bei E.T.A. Hoffmann ist dies deutlich; aber schon Novalis feiert die großstädtische Geselligkeit Augsburgs (vgl. Novalis 1978: 315f.). Zum eigentlichen Chronisten der kleinstädtischen Welt wird Jean Paul, der in DAS HEIMLICHE KLAGELIED DER JETZIGEN MÄNNER Krähwinkel – hier noch Krehwinkel - in die Literatur einführt (Jean Paul 1962). Weniger eindeutig wiederum ist die Lage in der folgenden Restaurationszeit: auf der einen Seite, jener des Biedermeiers, findet sich zurückgezogene Bescheidenheit, auf der anderen Seite, der des Jungen Deutschland, ironische Distanz zur kleinstädtischen Welt. Heines HARZREISE (Heine 1973)6 kann dafür stehen; Karl Immermanns REISEBERICHTE (Immermann 1973) sind vergleichbar. Der Höhepunkt der Kleinstadtdarstellung aber liegt im Realismus, sowohl in dessen programmatischer als auch in seiner poetischen Spielart. Ihre Konjunktur folgt zunächst dem Reichseinigungsprozess und später dem wilhelminischen nation building (vgl. Anderson 2006). Zum einen wurde versucht, das Reich seinen Bewohnern nahe zu bringen; zum anderen wurden die von der einsetzenden Zentralisierung dislozierten Bewohner mental gestärkt, indem ihre ›grundlose‹ Gegenwart mit biographischer Erinnerung und verbindender Tradition unterfüttert wurde. Dabei ragen zwei Werke heraus, von denen jedes eine eigene Spielart dieser literarischen Identitätsbildungsprogramme verkörpert: Fontanes Reisebericht WANDERUNGEN DURCH DIE MARK BRANDENBURG (Fontane 1987) verbindet die faktualen Beschreibungen der Reisebedingungen und der lokalen Gegebenheiten mit großstädtischer Ironie und einer deutlichen Sympathie für den altpreußischen Adel in seiner ›Landschaft‹.7 Dabei bleibt der Erzähler stets präsent und die Darstellung unterhaltsam – im Gegensatz zu den Reisebeschreibungen des Vormärz ist die Ironie jedoch wohlwollend und verliert das Ziel, über Geschichte und Gegenwart zu informieren, nie aus dem Auge. Gustav Freytags monumentaler Reichsroman DIE AHNEN (Freytag o.J. b) fingiert die Tradition einer deutschen Familie seit germanischen Zeiten und versucht dabei, durch eine – mehr oder weniger gelungene – Imitation historischer Sprachschichten ein Bewusstsein geschichtlicher Tiefe zu

1982b: 495) Zwar widerstrebt dies ihrem Begleiter, dem ›Fürst Oheim‹, der selbst bei einem Stadtbrand traumatisiert worden war (vgl. ebd.: 496), aber es wird sich zeigen, dass die Gefahr von Stadtbränden gebannt ist, weil mittlerweile »die Feueranstalten in bester Ordnung [sind]«. (Ebd.: 500) 6

Vgl. bes. die Darstellung Goslars (Heine 1973: 99-105).

7

Indem sie meist auf Adelsgeschichte und Sehenswürdigkeiten der Landschaft abheben, betonen die WANDERUNGEN den historischen Aspekt, finden aber auch zu Charakteristiken einzelner Orte, mit am prägnantesten in der Darstellung Neuruppins (1862) und Freienwaldes (1863).

K LEINSTADTERFAHRUNG

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erzeugen. Sein letzter Band trägt den bezeichnenden Titel IN DER (1880).8

KLEINEN

STADT

T OPOLOGIE , P OETIK UND H ISTORIE Damit stellt sich die Frage, wie Beschreibung und Darstellung der Kleinstadt in der Kleinstadtliteratur zu verstehen sei: Geht es um die literarische Charakteristik des Ortes oder um die Beschreibung seiner Lebenswelt? Robert E. Park, Begründer der Stadtsoziologie, bemerkte im Jahr 1925: »The city is, rather, a state of mind, a body of customs and traditions, and of the organized attitudes and sentiments that inhere in these customs and are transmitted with this traditions.« (Park 1984: 1)9 Er verweist damit auf den griechischen Begriff ›Ethos‹, der zunächst die Bedeutung von Wohnung und Wohnort hatte, bevor er bei Platon und Aristoteles als Benennung von Gewohnheit und Sitte mit ethischen Implikationen angereichert wurde (vgl. Volkmann-Schluck 1963). Im 20. Jahrhundert avancierte er bei Ruth Benedict und Clifford Geertz zum kulturethnologischen Terminus und ging schließlich weitgehend im Bourdieuschen Habitus-Begriff auf (vgl. Benedict 1934, Geertz 1987, Bourdieu 1979 und 1987). Auch Martin Heidegger verwendet ihn, wenn er in

8

Freytag beschreibt eine idealtypische Stadt im Oderbruch. Auch sie war von einem Stadtbrand heimgesucht (vgl. Freytag, o.J. ab dem 5. Bd., S. 333). Der erste Teil des Romans endet mit einem Hochzeitsfest, das zugleich für das Ende der Napoleonischen Zeit steht. Freytag sieht hier einen Sieg der »Unberühmten« (ebd.: 575), des normalen Bürgertums. Am Ende des Romans ist die Zeit kleinstädtischer Individualität allerdings vorbei; der Vater Victor Königs, des Helden des letzten Teils der Ahnen, erklärt seinem Sohn, der von einer mehrjährigen Reise zurückgekehrt ist: »Unsere Stadt ist jetzt durch Eisenbande dem Weltverkehr angeschlossen, fast jede Stunde fliegt Neues heran, mit der Einsamkeit schwindet auch das kleinstädtische Wesen; die gute alte Stadt fühlt zu ihrem Heil und zu ihrem Schaden jeden Pulsschlag unseres großen Staates und jede Bewegung fremder Nationen.« (Ebd.: 613) Die Kommunikation im materialen wie informationellen Sinne löst die Individualität der Kleinstadt auf. Victor König – von dem die Leser erwarteten, dass er als Schluss eines ›Reichsromans‹ auf das Hohenzollersche Königshaus hindeuten müsse – wird in seinem Heimatort Journalist werden. Auch Freytags Komödie DIE JOURNALISTEN spielt, so die elegant uneindeutige Formulierung, in der »Hauptstadt einer Provinz« (Freytag o.J. c: 5).

9

Im weiteren Fortgang bestimmt Park dann die Stadt als altera natura: »The city is not, in other words, merely a physical mechanism and an artificial construction. It is involved in the vital processes of the people who compose it; it is a product of nature, and particularly of human nature.« (Ebd.)

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einer Heraklit-Exegese auf die griechische Bedeutung als »Aufenthalt, Ort des Wohnens« (Heidegger 1976: 354) hinweist.10 So verstanden erscheint die ›Physiognomie‹ einer Stadt als Vermittlung zwischen der Abhängigkeit von natürlichen Gegebenheiten eines Ortes – dessen Wahl kulturell mitbestimmt ist – und ihrer Eigenschaft als Sediment der kulturellen Praxis ihrer Bewohner, deren Tradition in den historischen Schichten des Stadtbildes materialiter abgelagert ist. 11 Damit stellt sich in der Schreibung des Narratives ›Kleinstadt‹ das poetologische Problem des Verhältnisses von type und token, von Typizität und Faktizität, von poetischer ›Normalisierung‹ und exakter Beschreibung. Und dies gilt sowohl für die Topographie der Stadt als auch für das lokale Ethos – und es gilt drittens für die spezifische Perspektive des Erzählers. Es mag Glücksfälle geben, in denen alle Ebenen mehr oder weniger konvergieren, aber prinzipiell ist dieses Problem nicht zu lösen, besonders wenn die Wahl des beschriebenen Gegenstands extern determiniert wird. Auch zeigen sich Gattungspräferenzen – der Reisebericht bleibt möglichst der Faktizität verpflichtet, die Fiktion akzentuiert die Kohärenz ihrer Textwelt, die autobiographische Schilderung das personale Erleben –, und zudem sind es auf der literarischen Seite häufig Konventionsbrüche, welche eine Darstellung auszeichnen, während auf der faktographischen gerade eine gewisse Typizität dem Erlebnis Prägnanz verleiht. Man muss die Darstellung schließlich doch auch nachvollziehen können. Im Falle der Kleinstadt verschärft sich diese Situation, denn das Interesse an der Kleinstadt an sich ist meist gering, sie ist schließlich nur Eine-unter-Vielen, während die Metropole in ihrem Raum eine Singularität darstellt. Literarisch kann eine Kleinstadt nur deshalb über ihre Stadtgrenzen hinaus Geltung beanspruchen, wenn sie die Kleinstadt ist. (Ansonsten beschränkte sich die Zahl der Rezipienten tendenziell auf ihre Besucher und Bewohner.) Die Kleinstadt will Mikrokosmos sein: eine zwar kleine, aber in sich geschlossene Welt, eine Totalität menschlichen Maßes. Dieser Aspekt der Mesotes ist auch poetologisch entscheidend, denn er ermöglich es dem Erzähler, seine Welt zu ›überblicken‹, was dem modernen Großstadt-Erzähler nicht mehr gelingen wird. Für die Textwelt hat dies zwei Konsequenzen: 1. Notwendig sind kleine Szenarien, die in der Lage sind, die Gesamtheit der relevanten Aspekte des Lebens in Weite wie Schichtung zu repräsentieren. D.h. das Genre präferiert kleine Residenzen oder

10 Die Stelle verweist auf die Kunstkonzeption und die Dichtungstheorie des späten Heidegger: Im URSPRUNG DES KUNSTWERKS wird er die Konzeption kultureller Verdichtung und materialer Sedimentierung am Beispiel des griechischen Tempels erläutern, in ›Kunst und Raum‹ wird er ihn in einem allgemeinen Begriff der ›Plastik‹ fassen (vgl. Heidegger 1977, 1983a; auch 1983b). 11 Die ›Kleinstadt‹ fungiert als Chronotopos (vgl. Bachtin 2008).

K LEINSTADTERFAHRUNG

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zumindest Städte mit akademisch gebildeten und kulturell interessiertem Stadtpatriziat. 2. Um die funktionalen Strukturen an einem überschaubaren Ort nicht nur zu bündeln, sondern als geschlossenes System formulieren zu können, ist am Ort wiederum ein Netz von Beziehungen erforderlich, das erlaubt, alle handlungsrelevanten Funktionen zu zentrieren. Inszenatorisch geknüpft wird dieses Netz im 19. Jahrhundert zumeist durch Familienbande (vgl. Kafitz 1978). Dabei sind viele der kleinstädtischen Charakteristika ambivalent: Kleinstadt verspricht Geborgenheit, die aber auch als Enge empfunden werden kann; Traditionen können als Rückständigkeit daherkommen; Vertrautheit erscheint doppelbödig. Das Bürgertum tendiert zur Karikatur, ebenso der häufig ansässige Adel, der die gesellschaftliche und kulturelle Sphäre nur scheinbar überragt, ihr aber Weltläufigkeit und historische Tiefe geben sollte. Die Welt der Kleinstadt ist Ideal und Negation zugleich. Wird diese Ambivalenz positiv gelöst, wird die Kleinstadt zum Wohnort des Humors, fällt sie ins Negative, zeigt sich dies als Tragik. Deutlich wird dies auf der Bühne, weil hier ein Erzähler fehlt, der das Geschehen erläutern und gewichten könnte: Das realistische 19. Jahrhundert ist zum einen das Zeitalter der Possen und Theaterschwänke; dabei ist die Kleinstadt spätesten seit Kotzebues DIE DEUTSCHEN KLEINSTÄDTER (1803), der eine ganze Welle von Krähwinkel-Stücken einleitete (Kotzebue 1964),12 beliebter Handlungsort. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die immer wieder aufgenommenen und gespielten Schwänke DER RAUB DER SABINERINNEN von 1883 (Schönthan 2000: »Eine kleine deutsche Stadt«) und DIE SPANISCHE FLIEGE von 1913 (Arnold/Bach 2000: »Das Stück spielt in einer größeren deutschen Provinzialstadt in der Gegenwart.«). Aber die kleine Stadt ist zugleich auch Schauplatz von Tragödien wie Hebbels MARIA MAGDALENA (1844: »Ort: eine kleine Stadt«) und noch ein halbes Jahrhundert später in zwei erfolgreichen Dramen Hermann Sudermanns, HEIMAT (1893: »Eine Provinzialhauptstadt«) und GLÜCK IM WINKEL (1895: »Eine kleine Kreisstadt Norddeutschlands«). In der Prosa hingegen bleibt die Darstellung der kleinstädtischen Welt vielfach uneindeutig. Hier steht der Rezipient dem Geschehen nicht unmittelbar gegenüber, sondern die Szene wird durch einen Erzähler moderiert, der die Teilnehmerperspektiven seines Personals aus (olympischer) Beobachterperspektive narrativ – und häufig begütigend – überformt.13 Er hat – in der doppelten Bedeutung des Wortes – ›Aufsicht‹, ›Übersicht‹ und/oder den ›Überblick‹.14 Aber was wäre geschehen,

12 Vgl. Klingemann (1812); Bäuerle (1820); Nestroy (1849); dazu Klotz (1980). Schon Jean Paul liest die Kleinstadt als Theaterszene (vgl. Paul 1962: 1093). 13 In OUR TOWN, Thornton Wilders Erfolgsstück aus dem Jahr 1938, erfolgt diese Vermittlung durch die Meta-Figur eines stage managers (vgl. Wilder 1984). 14 Was sowohl handlungstechnisch – etwa durch Rahmung, die das Geschehen schließt – als auch erzähltechnisch, durch Humor, der es ins rechte Maß setzt, geschehen kann.

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wenn Effi Briest in Kessin geblieben wäre? Oder wenn Kellers Erzähler Seldwyla nicht von vornherein zum »sonnigen, wonnigen Ort« (Keller 1958: 9) erklärt hätte? Auch die Kleinstadtszenerie in Freytags VERLORENER HANDSCHRIFT (Freytag o.J. a) gehört hierher. Die volle Ambivalenz kleinstädtischen Lebens zeigt Wilhelm Raabe, am prägnantesten vielleicht 1867 in ABU TELFAN ODER DIE HEIMKEHR VOM MONDGEBIRGE (Raabe 1951), wo das provinzielle Selbstverständnis einer Kleinstadt und einer kleinen Residenzstadt an der Figur des Heimkehrers aus der Fremde prismatisch gebrochen wird.15 Es geht also nicht immer so idyllisch zu, wie es der erste Eindruck in Auerbachs LANDHAUS AM RHEIN noch 1869 versprach: »Man fuhr durch das Städtchen; aus den offenen Fenstern klang Musik, es war fröhliches Tummeln in den Straßen, die Mädchen wandelten Arm in Arm dahin, die jungen Männer vereinzelt oder in Gruppen, es gab heiteres Grüßen, Necken, Scherzen; die Alten saßen vor den Häusern, der Marktbrunnen rauschte, und weiter hinauf, die Landstraßen am Ufer entlang, war lustiges Singen.« (Auerbach 1869: 19)

E THNOLOGIE Parallel zur Literatur des Realismus – und durch Gustav Freytag auch in Personalunion – widmen sich zunächst die Kulturgeschichte und später auch die Soziologie dem Thema: Schon 1853 diagnostiziert Wilhelm Heinrich Riehl einen Niedergang der Kleinstädte infolge der infrastrukturellen Erschließung des Landes, da die Entwicklung der Verkehrssysteme an ihnen vorbei führe (vgl. Riehl 1854).16 Allerdings sei ihre Stadtkultur schon seit Ende des Dreißigjährigen Krieges in der Krise, da die mittelalterliche Balance von Stadt und Land zerstört worden sei, was

15 Vgl. Raabe (1994, S. 274f.) sowie die Erzählungen DER DRÄUMLING, WUNNIGEL, FABIAN UND SEBASTIAN, PRINZESSIN FISCH und ALTERSHAUSEN. Ein positiver Gegenentwurf nach der Jahrhundertwende ist Heinrich Manns 1909 erschienener Roman DIE KLEINE STADT

(Mann 2000).

16 Riehl schlägt vor, Erträge aus dem Eisenbahnverkehr zur Finanzierung des Landstraßenbaus zu nutzen (Riehl 1854: 56). Tatsächlich finden sich in den Reisebeschreibungen des 19. Jahrhunderts vielfach Klagen über schlechte Wege. Zudem schreibt Riehl vor der Reichseinigung; und er ist sich der Differenziertheit der natürlichen und historischen Gegebenheiten bewusst. Er versteht, so ist im Vorwort zu lesen, seine Aufgabe als »Entwurf zu einer socialen Ethnographie von Deutschland« durch »culturgeschichtliche Abstraction«. Dies bedeutet, dass für Riehl die Differenziertheit der Gegebenheiten das Problem darstellt, während die nationale Typisierung der Kleinstadt seine Aufgabe darstellt.

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zunächst zu einer Dominanz des Landes, dann aber zu einer ›ungesunden‹ Blüte kleinstädtischer Kultur im 18. Jahrhundert und schließlich zur Dominanz der Großstädte im 19. Jahrhundert geführt habe (vgl. ebd.: 66).17 Zugleich kritisiert Riehl das Entstehen von Bäder- und Tourismusstädten sowie von kleineren Industriestädten, weil sie »mit dem Gelde auswärtiger Kapitalisten erbaut« (ebd.: 74) seien und baulich deren Vorstellungen folgten. Demgegenüber bevorzugt Riehl »manches kleinstädtische, aber doch wenigstens von Natur lebensfähige Krähwinkel«, das ein »Refugium des stolzen freyen deutschen Bürgers« (ebd.) bilde. Durch »Sammlung des Geistes auf einen Punkt« (ebd.: 79) erziehe gerade die Kleinstadt ›große Männer‹, begünstige zudem politisch-soziales Bewusstsein und ermögliche eine Höhe der Kultur, die durch die zunehmende Dominanz der Großstadt bedroht werde. Schon bei Riehl stehen städtische Gemeinschaft und moderne urbane Gesellschaft im Gegensatz (vgl. ebd.: 88). 34 Jahre später, also 1887, wird diese Opposition für Ferdinand Tönnies Klassiker GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT (Tönnies 1979) titelgebend. Tönnies kennt eine Gemeinschaft des Ortes und ein lokales, nachbarschaftliches Ethos, eine ›geistige Freundschaft‹, die sich von ihren materialen Bedingungen lösen kann und zu »eine[r] Art von unsichtbarer Ortschaft, eine[r] mystischen Stadt und Versammlung« (ebd.: 13) werden. In der Verbindung von Ethos und Architektur entsteht so »ein Beharrendes, das den Wechsel viele Generationen überdauert« (ebd.: 31), das sich durch natürliche wie kulturelle Generation immer neu hervorbringt in einem Prozess, der in stilistischer, sozialer und auch individueller Hinsicht Kunstcharakter besitzt: »Die Polis, sagt Platon (in den Gesetzen), ist wie ein echtes Drama. Erhaltung ihres Selbst in Gesundheit und Kraft ist selber eine Kunst: wie der vernünftige und tugendhafte Wandel eines einzelnen Menschen Kunst ist.« (Ebd.: 33)18 Mit diesem ästhetischen und (quasi-)religiösen Charakter steht die ›Gemeinde‹ der Kleinstadt in Opposition zur zweckrationalen, intellektgesteuerten Kultur der großstädtischen Gesellschaft. Obwohl von Tönnies als beschreibend intendiert, ist sein Text häufig wertend verstanden worden, als Bekenntnis zur Gemeinschaft – und dies hieße in Konsequenz auch: als Bekenntnis zur Kleinstadt. Georg Simmels berühmter Aufsatz DIE GROßSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN aus dem Jahr 1903, der, wie Christiane Nowak gezeigt hat, sehr gut gegen den Strich als Charakteristik des Kleinstädters zu lesen ist (vgl. Nowak 2013: 59f.), urteilt anders: Im Gegensatz zur Großstadt sind das kleinstädtische und – unge-

17 Als deutsche Spezialität erscheinen Riehl dabei sog. ›künstliche Städte‹, die sich nicht aus der Landschaft heraus entwickelt hätten, sondern ihre Existenz dem Willen eines Herrschers verdankten (vgl. Riehl 1854: 67-71). Im gleichen Zug kritisiert er auch die »deutsche[] Residenzstädtelei« (ebd.: 72). 18 Der Begriff ›Kunst‹ changiert dabei zwischen techné und poiesis.

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schieden – auch das ländliche Leben der Bewohner von einem »langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes« (Simmel 1995a: 117) bestimmt; der Kleinstadtcharakter ist weniger intellektuell als »auf das Gemüt und auf gefühlsmäßige Beziehungen gestellt« (ebd.).19 Simmel erscheint die Kleinstadt hier noch als eigene, geschlossene Welt; 20 auch er greift auf das Polis-Argument zurück, wertet es jedoch um: »Das Kleinstadtleben in der Antike wie im Mittelalter legte dem Einzelnen Schranken der Bewegung und Beziehungen nach außen, der Selbständigkeit und Differenzierung nach innen hin auf, unter denen der moderne Mensch nicht atmen könnte – noch heute empfindet der Großstädter, in die Kleinstadt versetzt, eine wenigstens der Art nach gleiche Beengung. [...] Die antike Polis scheint nach dieser Richtung ganz den Charakter einer Kleinstadt gehabt zu haben. [...] Die ungeheure Bewegtheit und Erregtheit, die einzigartige Farbigkeit des athenischen Lebens erklärt sich vielleicht daraus, daß ein Volk von unvergleichlich individuell angelegten Personen gegen den steten inneren und äußeren Druck einer entindividualisierenden Kleinstadt ankämpfte.« (Ebd.: 125)

1904 geht Simmel einen Schritt weiter: Er schleift die Bastion städtischen Gemeinwesens, wenn er die Stadt intra muros als »Drehpunkt soziologischer Beziehungen« (Simmel 1995b: 148) und extra muros als Kreuzungspunkt weiter spannender funktionaler Linien charakterisiert (vgl. ebd.: 135f.). Für die Kleinstadt – oder, angesichts des von Simmel postulierten Intellektualismus: gegen sie – spricht dann lediglich noch der »sinnlichere Charakter der lokalen Nähe« (ebd.: 157).21

19 Die Begründung erfolgt im unmittelbaren Anschluss: »Denn diese wurzeln in den unbewußten Schichten der Seele und wachsen am ehesten an dem ruhigen Gleichmaß ununterbrochener Gewöhnung« (Simmel 1995a: 117) – also durch Habitualisierung, die sich dann auch in architektonischen ›Ordnungen‹ sedimentieren. 20 »Die Lebenssphäre der Kleinstadt ist in der Hauptsache in und mit ihr selbst beschlossen.« (Simmel 1995a: 126) 21 Wollte man den Gegenstand weiterführen, so wäre jetzt auf Oswald Spengler einzugehen, der die Stadt wiederum ›kulturmorphologisch‹ einschließt (vgl. Spengler 1963: 660-783). Auf Spengler beruft sich Robert E. Park (vgl. Park 1984: 1).

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I N D INGSDA 1892 ist für Johannes Schlaf ein entscheidendes Jahr: Zu Beginn noch ›konsequenter Naturalist‹, wird er sich zum Ende von Arno Holz verfolgt fühlen und das Jahr in einer Nervenklink beschließen, aus der er erst 1897 endgültig entlassen werden wird.22 Anschließend zieht er nach Weimar und 1937 schließlich in seine Geburtsstadt Querfurt. Nachdem er lange Zeit in Vergessenheit zu geraten drohte – und auch mit seiner ›Entwicklung‹ eines geozentrischen Weltbildes nicht zu reüssieren vermochte –, erfährt Schlaf erst im Dritten Reich wieder Aufmerksamkeit. Er stirbt 1941. Im Jahr 1892 war Schlaf äußerst produktiv: Neben IN DINGSDA erscheint MEISTER OELZE, sein erstes allein verfasstes Drama, das noch dem konsequenten Naturalismus zugerechnet werden kann, aber doch eigene Züge trägt. Schlaf wendet die minutiöse Beschreibungstechnik des Sekundenstils nach innen und zeichnet einen Charakter, der an seiner Schuld zugrunde geht. Auch MEISTER OELZE spielt dabei in einem »mitteldeutschen Marktflecken«, doch steht hier die dunkle Seite der Provinz im Mittelpunkt. Im gleichen Jahr erscheint IN DINGSDA.23 Es wird Schlafs größter Erfolg werden; bis ans Lebensende wird er immer wieder neue DingsdaGeschichten veröffentlichen, ohne jedoch den ersten Erfolg wiederholen zu können.24 Dabei wird seine Produktion immer konventioneller und trivialer; ästhetisch ist die Zeit über Schlaf hinweg gegangen. Die Handlung von IN DINGSDA ist rasch erzählt: Ein Ich-Erzähler, von der Großstadt verunsichert und ihrer überdrüssig, setzt sich in den Zug und besucht seine Geburtsstadt, die er fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hat. Später verbringt er dort – und in einem nahe gelegenen kleineren Ort (Schraplau) – die Sommerfrische und kehrt zum Schluss wieder in die Stadt zurück. Viel geschieht nicht – und doch geschieht viel: Der Erzähler erinnert seine Kindheit, besucht wiederholt den Friedhof und einmal eine Kirche, erwähnt drei Begräbnisse, begegnet Bewohnern der Stadt, beschreibt die Pension, in die er sich eingemietet hat, räsoniert über seinen Schriftstellerberuf und über neueste Literatur und geht in der Landschaft spazieren. In ihr erfährt er Tröstung, Erleuchtung und Kräftigung.

22 Zu Schlafs Biographie und Entwicklung vgl. vor allem Kafitz (1992: hier bes. S. 101107). 23 Die erste Auflage ist Arno Holz gewidmet, was Schlaf später tilgen wird. Eine der Skizzen wurde mit leichten Varianten vorab publiziert (Schlaf 1890); verwandte Skizzen außerhalb der engeren Dingsda-Geschichten folgten (Schlaf 1894, Ders. 1900; vgl. auch die Großstadt-Szene in Schlaf 1893). 24 Lediglich die lyrische Prosa FRÜHLING (Schlaf 1896) wird noch einmal für Aufsehen sorgen.

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Bemerkenswert ist weniger der Inhalt der Darstellung als ihre Form: Schlaf verweigert ein Gesamtbild, verweigert jede Obersicht, die ein Gesamtbild ermöglichte. Stattdessen folgen wir dem Erzähler auf seinen Wegen und bei seinen Überlegungen geradezu mikrologisch, nehmen wahr, was er wahrnimmt, vollziehen den Fluss seiner Gedanken mit, ohne dass ein qualitatives Relief ihnen Bedeutung verleihen könnte: Jedes Detail ist genauso wichtig wie das nächste, wie die Assoziationen oder die Erinnerungen (vgl. schon Moeller-Bruck 1897). Ein Firmenschild wird namentlich notiert, ebenso Namen von Bewohnern, von Gasthäusern und Gassen; Details der Landschaft und der Natur werden festgehalten. Der Text oszilliert zwischen reflektierenden Passagen und exklamatorischen Emphasen voller lebensphilosophischer Naturmystik. IN DINGSDA ist auch das Dokument einer Sprachkrise. Zehn Jahre vor Hofmannsthals Chandos-Brief (vgl. Hofmannsthal 1991) schreibt Schlaf: »So suchen wir nach Göttern und Bestimmungen; so verwüsten wir die Welt mit Bedeutungen und Symbolen.« (Schlaf 1913: 86) Aber was bedeutet das für die Kleinstadt? Das Bild der geschlossenen Stadt ist aufgelöst, geblieben ist eine Verdichtung von Erlebnissen und Erinnerungen, die für den Erzähler situativ bedeutend und biographisch prägend gewesen sein mögen, aber in dieser Qualität kaum nachvollziehbar sind. Die Funktion der Details in der Beschreibung hat sich geändert: Waren sie früher Eigenschaften des Ortes, so sind sie sind nun ›Zeugen‹, Garanten der Authentizität eines Erlebnisberichts.25 Diese Authentizität wird für den Rezipienten gerade dadurch nachvollziehbar, dass sie bei aller Konkretion abstrakt bleibt. Schlaf schreibt prototypische Kleinstadterfahrungen, die ihm aus kontingenten biographischen Gründen an diesem typischen Ort zuteil geworden sind: Es ist »ein ganz gewöhnlicher Marktflecken« (ebd.: 18). Poetologisch betrachtet markiert er damit den Übergang vom deskriptiven Ideal des Naturalismus zum genetischen Textbegriff des Symbolismus und zur Moderne: Was Schlaf schreibt, ist ›showing, not telling‹. Narratologisch gesprochen: Zwar handelt es sich weiterhin um einen intradiegetischen Erzähler, aber an die Stelle der distanzierenden Geste externer tritt jetzt interne Fokalisierung. Damit gewinnt die Kleinstadterfahrung als Erfahrung umso mehr an inhaltlicher Bedeutung, da es nicht mehr um die Beschreibung eines Erlebnisses, sondern um dessen literarische Inszenierung und deren rezeptiven Nachvollzug geht. Inhaltlich schreibt Schlaf jene Kippfigur, die schon Bölsche in seiner Rezension bemerkt hatte: Er zeigt die moderne Erfahrung des ›Unbehagens an der Moderne‹ (vgl. Taylor 1995), eine Erfahrung voller regressiver Sehnsucht nach einer heilen

25 Solcherart ›überflüssige‹ Details garantieren den Wirklichkeitseffekt der Darstellung. Vgl. Barthes (2005).

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Welt.26 Aber Schlaf ist nicht so – oder: noch nicht so – naiv, dieser Sehnsucht nachzugeben: Er weiß, dass er »ein wenig blasirt« (Schlaf 1913: 18), d.h. großstädtisch ist.27 Drei Gräber markieren die Distanz zur Welt der Kindheit. Das Familiengrab signalisiert Erinnerung, ein Selbstmördergrab an der Friedhofmauer die Tragik des Scheiterns, schließlich wird mit dem Ratsherrn und Metzgermeister Loebe die alte Welt zu Grabe getragen (vgl. ebd.: 12-16; 15; 81-83). Nur das Hintergehen von Zeitlichkeit verspricht noch Bestand: Schlaf sucht den Anschluss an die Natur und Unmittelbarkeit des Gefühls.28 Sie gipfelt im erhabenen Ich-Verlust des DichterSehers: »Und ich stammele wunderliche, wahnselige Worte vor mich hin, die ich nicht höre. Es ist, als flute etwas aus meiner Seele heraus, hinaus wie überströmendes Leben, überwallende Kraft.« (Ebd.: 27) Da Ekstase aber kein stabiler Zustand ist – auch wenn schon hier »das Blut singt« (ebd.: 86) –, bleibt ihm nur die »talfriedliche Enge der Menschen« (ebd.: 29, vgl. auch ebd.: 32) als Wohnort.

K ODA Die Versuchung ist groß, IN DINGSDA als Dokument einer persönlichen Krise abzuqualifizieren und zur Seite zu legen – doch da gibt es den Erfolg, der die beschriebene Erfahrung zur sozialen und kulturellen Tatsache des späten 19. Jahrhunderts werden lässt. Inhaltlich – nicht formal – ist Schlaf hier ein Vorläufer der Heimatliteratur, ein früher Vertreter monistischer Allseeligkeit und sogar protofaschistischer Lebensmetaphysik. Tatsächlich produziert die ekstatische Erfahrung naturalisierter Gefühle aber nur einen Kurzschluss mit der Biographie des Erzählers, seine Exaltiertheit ist Regression, der Versuch, kindliche Gefühlsunmittelbarkeit wieder zu gewinnen. Da man in der bloßen Natur aber nur mühsam leben kann, muss man doch dort leben,

26 »Ein einziges großes Fest war damals das Leben und ließ kein Reflektieren aufkommen; kein Reflektieren...« (Schlaf 1913: 19) Damit macht Schlaf aus einer psychologischen Entwicklungsstufe eine kulturelle Eigenschaft. 27 ›Blasiertheit‹ ist für Georg Simmel das Charakteristikum des Großstädters (vgl. Simmel 1995a: 122). Schon 1855 hatte Karl Rosenkranz Heines Haltung als ›Blasirtheit‹ bezeichnet und zum Charakteristikum seiner unmittelbaren Gegenwart erklärt (vgl. Rosenkranz 1855: 731-734, dessen Darstellung deutlich antisemitische Züge trägt.) Durch das ganze 19. Jahrhundert gilt ›Blasiertheit‹ dann als meist pejorativ verstandenes Signum von Urbanität. Zum Terminus selbst vgl. Petrilowitsch (1969). 28 Vgl. Schlaf (1913: 79): »Kein kluges, kaltes Beobachten, mit seinem Empfinden aufgehen mitten im Leben, es selbst sein.«

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wo die Natur zur Verfügung steht, ohne dass man ihren Härten ausgesetzt wäre: in menschlichen Siedlungen. Und wenn man verunsichert ist, muss man dort leben, wo die Erfahrung Sicherheit vorspiegelt und Vertrautheit garantiert. Für die Generation Johannes Schlafs, die von der Industrialisierung und Urbanisierung des späten 19. Jahrhunderts in die Metropolen gelockt worden war, war dies die Kleinstadt. Aber die Kleinstadt bietet schon da keine wirkliche Alternative mehr: Ihre Tradition ist vergangen; was bleibt, ist ein Ort zeitweiliger Erholung und sentimentaler Erinnerung, ist ihre Funktion als touristisches Ziel und als Remedium der Moderne.

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Fantastische kleine Stadt Alfred Kubins Die andere Seite und die Metaphysik der Kleinstadt M ARC W EILAND

E INLEITUNG Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, es ist die Zeit einer längst schon vorangeschrittenen und auch weiter voranschreitenden quantitativen und qualitativen Urbanisierung, begibt sich ein Künstler mitsamt seiner Gattin auf eine lange Reise in ein weit entferntes und bisher unergründetes Gebiet. Es ist eine Reise auf die anderen Seiten der Moderne: in eine künstlich erzeugte und doch letztlich dem Untergang geweihte Vormoderne einerseits sowie in das verborgene und letztlich unergründliche eigene Innere andererseits. Ihren Ausdruck und ihr Ziel finden diese beiden in einer kleinen Stadt. Der einzige Roman des Grafikers und Illustrators Alfred Kubin (1877-1959), DIE ANDERE SEITE (1909), markiert und verhandelt verschiedene Phasen des Übergangs – biografisch, historisch, künstlerisch und philosophisch – und greift für deren Gestaltung erzählerisch wie zeichnerisch auf Bilder und Verfahren des Fantastischen zurück. Es handelt sich hierbei, das wurde immer wieder mit Blick auf die Aufnahme des Werks durch Autoren und Künstler herausgestellt, um ein »Schlüsselwerk der literarischen Moderne« (Geyer 1995: 17), das wohl weitestgehend im Verborgenen gewirkt hat.1

1

Trotz der vielfachen und weitverzweigten Rezeptionen und Einflussnahmen des Romans, die sich etwa in den Werken von Franz Kafka, Thomas Mann, Joseph Roth, Ernst Jünger, Hermann Kasack und Christoph Ransmayr nachweisen lassen (Geyer 1995: 16f.), wurde wiederholt hervorgehoben, dass dieser mittlerweile »eher in Vergessenheit geraten[]« (Ruthner 2004: 1) sei und seine Wirkung vor allem »unter der Oberfläche ausgeübt«

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Der Text, versehen mit 51 Zeichnungen und einem Lageplan, ist als Folge einer persönlichen Krise Kubins, während der er sowohl den Tod seines Vaters als auch eine Zeichenblockade zu überwinden hatte, innerhalb weniger Wochen entstanden.2 Von ihm selbst wird er »im Wendepunkt einer seelischen Entwicklung« (Kubin 1974: 41) verortet. Mit diesem korrespondiert die Verfestigung einer zeichnerischen Stilwende, die sich bereits im Jahr 1907 ankündigte und anhand eines engen Liniensystems, mit dem Kubin traumartig-abweisende Räume, Figuren und Szenen erschuf, charakteristisch für das Spätwerk werden sollte (vgl. Hoberg 2008a: 34f.). Diese Stilwende3 entwickelte sich auch aus einer Auseinandersetzung mit und Erzeugung von Literatur. Denn zum einen war Kubin bereits mit der Illustration fantastischer Literatur beschäftigt,4 zum anderen eben in der exzessiven Arbeit am

(Geyer 1995: 17) habe – steht der Popularität der ANDEREN SEITE unter Autoren und Künstlern doch die Tatsache gegenüber, dass sie ein größeres Publikum eher weniger erreichen und ansprechen konnte (ebd.: 16). 2

Kubin schreibt in seiner SELBSTBIOGRAPHIE, einem siebenteiligen autobiografischen Abriss, der zunächst der 1911 erschienenen SANSARA-Mappe vorangestellt und schließlich über die folgenden Jahrzehnte hinweg, bis ins Jahr 1952, sukzessive von ihm weiter ergänzt wurde: »Ich war nicht im Stande, zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen. Es war, wie wenn ein vierjähriges Kind zum erstenmal die Natur abkonterfeien sollte. [...] Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten, fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschreiben. Und nun strömten mir die Ideen in Überfülle zu, peitschten mich Tag und Nacht zur Arbeit, so daß bereits in zwölf Wochen mein phantastischer Roman ›Die andere Seite‹ geschrieben war. In den nächsten vier Wochen versah ich ihn mit Illustrationen. Nachher war ich allerdings erschöpft und machte mir bange Gedanken über dieses Wagnis.« (Kubin 1974: 40f.)

3

»Ich verzichtete auf alle Abtönungen und Farben und pflegte ausschließlich die Federzeichnung. Das einfachste Mittel, Striche, Flecken und Punkte, soll den ganzen imaginären Bau der Zeichnung tragen.« (Kubin 1974: 42)

4

So etwa zu Gustav Meyrinks DER GOLEM (1915), zu dem Kubin erste Entwürfe machte, die er dann aufgrund der Verzögerung der Fertigstellung des Romans in seinen eigenen Text einarbeitete. Darüber hinaus wurde Kubin Ende 1907 vom Münchner Verleger Georg Müller, der auch DIE ANDERE SEITE veröffentlichte, mit der Illustration von Edgar Allan Poes DAS SCHWATZENDE HERZ UND ANDERE NOVELLEN beauftragt (Hoberg 2008a: 36). Schließlich entwickelte sich Kubin im 20. Jahrhundert zu einem der gefragtesten und bekanntesten Illustratoren (insbesondere auch fantastischer) Weltliteratur und illustrierte Werke u.a. von Hoffmann, Nerval, Voltaire, Dostojewski, Hauptmann, Jünger, Canetti und vielen mehr. Dabei umfasst das buchkünstlerische Werk Kubins, die Illustrationen der eigenen Texte (des Romans wie auch der autobiografischen Schriften) mitgezählt, insgesamt 2.361 Arbeiten (Schwanberg 1999: 111).

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eigenen Roman verfangen. Text und Bild sind bei ihm aufeinander bezogen und miteinander verschränkt; sie sind als Einheit zu sehen (vgl. Bisanz 1980: 7; Geyer 1995: 21, Schwanberg 1999: 100). Dies gilt in einem doppelten Sinn. Einerseits muss der Rezipient die Illustrationen in ihren narrativen Zusammenhang bringen und aus diesem heraus verstehen; andererseits ist der Text aus einer »visuell akzentuierten Perspektive heraus verfasst« (Geyer 2008: 70) und in einem hohen Maß von erzählten Bildern geprägt. Dementsprechend wird auch häufiger konstatiert: »Der Zeichner Kubin ist vom Literaten Kubin nicht zu trennen.« (Geyer 1995: 21) Verstärkt wird dies im Roman noch durch eine weitere Besonderheit. Weist doch der Ich-Erzähler, der ebenfalls als Zeichner und Illustrator seinen Lebensunterhalt verdient, starke Überschneidungen sowohl mit der Physiognomie und Biografie als auch den Lebensumständen und -auffassungen Kubins auf. So stellt dann etwa auch das dem Werk vorangestellte Frontispiz ganz offensichtlich ein Selbstbildnis dar. Abb. 1: Fotografie und Selbstbildnis Alfred Kubins

Links: Foto Nicola Perscheid (1904), Wikimedia; rechts: Kubin (1975: 2)

Aus der rückblickenden Perspektive dieses namenlos bleibenden Zeichners schildert der Text Aufbau, Struktur und Geschichte des sogenannten Traumreichs von seiner Erschaffung durch den dortigen Herrscher Patera bis zu seinem Untergang in apokalyptischen Szenen;5 wobei die Illustrationen die besondere Konstruktion und

5

Der Roman besteht aus vier ungleich gewichteten Teilen, die überschrieben sind mit »Der Ruf« (der in zwei Kapiteln sowohl die Ausgangssituation als auch die Reise ins Traumreich schildert), »Perle« (der in fünf Kapiteln das individuelle wie soziale Leben in der Hauptstadt sowie auch einige Ausflüge in deren ländliche Umgebung beschreibt), »Der

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Atmosphäre der imaginierten Räumlichkeiten mit erzeugen und verstärken. DIE ANDERE SEITE erschafft damit das spezifisch intermediale und multidimensionale Bild einer kleinen Stadt.6 Diese fungiert, gerade in einer Zeit zunehmender Verunsicherung, auch als künstlerisch gestaltete Versuchsanordnung für die Ergründung sozialer, anthropologischer und metaphysischer Fragestellungen. Ihren Ausgangspunkt nimmt die Handlung in München, wo der Erzähler mit seiner Frau (wie zeitweilig auch Kubin) lebt7 und »an einem nebligen Novembernachmittag« (Kubin 1975: 8) von einem mysteriösen Fremden aufgesucht wird. Dieser überbringt ihm die Einladung seines ehemaligen Schulfreunds Claus Patera, der vor einiger Zeit zu einem unermesslichen Vermögen gekommen ist und mit diesem fernab moderner Zivilisation auf einem »Areal von dreitausend Quadratkilometern« (ebd.) einen eigenen Staat, eben jenes Traumreich, gegründet hat. Sie folgen dieser Einladung und begeben sich in einer elftägigen Reise im mehrmaligen Wechsel von Zug und Schiff auf der Route »München – Constanza – Batum – Baku – Krasnowodsk – Samarkand« (ebd.: 27) und dann noch einmal in einer zwei- bis

Untergang des Traumreichs« (der in ebenfalls fünf Kapiteln den zunehmenden inneren und äußeren Zerfall aller Lebensbereiche der Gesellschaft heraufbeschwört) und einem »Epilog« (der schließlich eine Rahmung und Deutung der Geschehnisse vornimmt). 6

Das bisher schon mehrfach interpretiert wurde. Wird auf der einen Seite immer wieder hervorgehoben, dass der Roman »den Weg in den literarischen Kanon, geschweige denn zum breiten Publikum, bis heute nicht gefunden« (Geyer 2008: 69) habe, so findet sich auf der anderen Seite doch auch eine Vielzahl an literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Bezugnahmen und Interpretationen. Diese reichen von biografischen sowie zeit- und kunsthistorischen Einordnungen und Kontextualisierungen über psychoanalytische, lebensphilosophische, staatsallegorische, sozialkritische und satirische Deutungen bis hin zu anti-modernistischen und postkolonialen Lesarten sowie schließlich auch zu Interpretationen des Werks als Form eines selbstreflexiven Kommentars Kubins zu seinem eigenen künstlerischen Schaffen. Einen knappen Überblick über verschiedenen Deutungsangebote bietet Ruthner (2004: 4f.).

7

Dass der vom Traumreich ausgesandte »Agent für Bayern« (Kubin 1975: 37) über die autobiografischen Hintergründe des Autors hinaus nicht ganz zufällig in München gelandet ist, ergibt sich auch aus dem im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert erfolgten rapiden Wachstumsschub der Städte innerhalb des Landes: »Lebten 1871 noch 76,4 % der bayerischen Bevölkerung in Gemeinden mit bis zu 2.000 Einwohnern, waren dies 1910 nur noch 55,3 %. Von 1855 bis 1910 stieg die Zahl der Bewohner in Gemeinden mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern von 178.000 auf 742.000 und diejenige mit 100.000 und mehr Einwohnern wuchs sogar von 132.000 auf 1.053.000.« (Krapf 2013) Dieser enorme Wachstumsschub zeigt sich auch in München. Zählte die Stadt im Jahr 1880 noch 230.000 Einwohner/innen, so waren es 1910 bereits 596.000 (vgl. ebd.).

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dreitägigen Fahrt8 per Kamel- und Pferdekolonne in ein nicht genau lokalisierbares Gebiet, das hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen und nur durch ein Tor passierbar ist. Orientiert sich die Reise zunächst an realen geografischen Orten und Koordinaten, so passieren die Protagonisten nun in Form eines Tunnels eine Schwelle, die den Übergang ins Traumreich und damit auch einen Wechsel der Wirklichkeitsebenen markiert; es handelt sich hierbei um ein »gewaltiges schwarzes Loch« (ebd.: 42), das als »Tor des Traumreiches« (ebd., Hervorh. im Original) fungiert. Anfangs fasziniert und vor allem auch inspiriert von den Lebensumständen im Traumreich und insbesondere in der kleinen Residenzstadt Perle, der Hauptstadt des Reichs, entwickelt der Zeichner eine ungeahnte Produktivität. Diese ergibt sich direkt aus der Traumartigkeit der räumlichen Gegebenheiten, in denen sich zugleich die individuellen Dispositionen des Protagonisten wie auch grundlegende Annahmen von Sozialität, Zeitlichkeit und Metaphysik verdichten. Werden von Kubin doch, so Innerhofer (2016: 204), philosophische Haltungen »nicht diskursiv dargelegt, sondern in einer Folge erzählter Bilder inszeniert« – und nicht zuletzt auch visuell gestaltet.

T OPOGRAFIE

DER

T RAUMSTADT

Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierungen der Moderne, wie sie etwa auch mit der Großstadt München um die Jahrhundertwende angesprochen wird und den Hintergrund bildet, erscheint das Traumreich – zunächst einmal – als deren Gegenentwurf: als eine räumlich abgeschlossene, zeitlich statische und sozial homogene Lebenswelt. Sie wird vom Erzähler, der hier auch die Rolle eines teilnehmenden Beobachters einnimmt, im zweiten Teil des Romans beschrieben. Räumlich ist das Traumreich nicht nur schwer zu lokalisieren, sondern auch, wie der fremde Bote dem Erzähler vermittelt, durch eine »Umfassungsmauer von der Außenwelt abgegrenzt« (Kubin 1975: 9). Zugänglich ist es nur durch ein einziges Tor; und zwar bei »schärfste[r] Kontrolle über Personen und Güter« (ebd.: 9). Dabei sei dieser »strenge Abschluß« (ebd.: 20) nötig, um »den Stil der Lebensführung möglichst rein zu bewahren« (ebd.) und »das Nichthineingehörige von dem Land fernzuhalten« (ebd.: 20).9

8

Bereits auf dem Weg zur letzten Station gerät dem Erzähler, der während der Fahrt in einen tiefen Schlaf fällt, die zeitliche Ordnung aus dem Blick. Er schläft sich dabei quasi »dem Traumreich entgegen« (Kubin 1975: 41).

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Weshalb außerhalb des Traumreichs auch ein Schweigegebot über alle damit verbundenen Themen herrscht (Kubin 1975: 22).

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Zeitlich ist das Land auf Konservierung und Stillstand gestellt und ebenfalls von scharfen Abgrenzungen geprägt. Die Hauptstadt ist nicht historisch gewachsen, sondern künstlich konstruiert. Sie setzt sich aus alten europäischen Gebäuden zusammen, die Patera in ihre Einzelteile zerlegen, ins Traumreich transportieren und dort wiederaufbauen ließ. Dabei bilden die 1860er Jahre »die äußerste Grenze« (ebd.: 18). Ebensolches trifft auch auf alle anderen kulturellen Erzeugnisse – Kleidung, Gerätschaften, Kunstwerke etc. – zu, die nur im bereits gebrauchten Zustand angeschafft, eingeführt und genutzt werden dürfen. Dies ergibt sich aus dem »außerordentlich tiefen Widerwillen gegen alles Fortschrittliche« (ebd.: 9), den Patera – insbesondere »auf wissenschaftlichem Gebiete« (ebd.) – hege. In dieser Ablehnung liege gar, so der Bote in seinen Ausführungen, »der Hauptgedanke des Traumreiches« (ebd.).10 Und so konstatiert dann auch der Erzähler, dass man im Traumreich »nicht in der unsicheren Zukunft« (ebd.: 55) lebe. In Perle findet sich somit eine Gegenwelt zur typisch modernen Orientierung an bzw. Ausrichtung auf Fortschritt und Zukunft (Gerhards 1999: 48);11 die kleine Stadt erscheint als Materialisierung einer vorindustriellen Zeit. In ihr herrscht gewissermaßen ein »Zeitstau« (Peters 2008: 113). Diese Entwicklungs- und Bewegungslosigkeit der Stadt korrespondiert mit den klimatischen Bedingungen und natürlichen Gegebenheiten. Im beständig nebeligen Traumreich sind die Jahreszeiten weitestgehend »gegensatzlos« (Kubin 1975: 50),

10 Daher sei Patera auch »weit davon entfernt eine Utopie, eine Art Zukunftsstaat schaffen zu wollen« (Kubin 1975: 9). Wenngleich diese Absage an eine zukunftsgerichtete Utopie einen zentralen Bestandteil der erzählten Welt bildet, so finden sich doch einige typische narrative Elemente des Utopischen und Dystopischen. So etwa die Reise in einen bisher unbekannten Staat, der sich u.a. durch räumliche Abgeschlossenheit, zeitlichen Stillstand, soziale Kontrolle und die Rückführung des Gesamtkonstrukts auf einzelne Ideen und Axiome auszeichnet; sowie schließlich auch die schrittweise Erkundung und umfassende Schilderung aller Lebens- und Sozialbereiche von den alltäglichen Sitten über die staatlichen Verwaltungsstrukturen bis hin zum religiösen Glauben. Wiederholt wird das Traumreich deshalb als Ausbildung einer »rückwärts gewandten Utopie« (Ruthner 2004: 3) und »Raumdystopie« (Innerhofer 2016: 195) gelesen. 11 Dabei kann ab der Mitte des 19. Jahrhunderts – und gehäuft vor allem im beginnenden 20. Jahrhundert – eine spezifisch neuartige »Visualisierung und Ästhetisierung der Zukunft« (Hölscher 2016: 175) beobachtet werden, die sich insbesondere auf Großstädte und Metropolen bezieht und diese als Projektionsflächen potenziell zukünftiger Entwicklungen nutzt. Die Kleinstadt Perle erzeugt dazu eine scharfe Kontrastfolie, die auch vor dem Hintergrund einer Kulturgeschichte des Stadt-Land-Gegensatzes zu verstehen ist (siehe zu den damit verbundenen Differenzsetzungen – u.a.: traditionell/rational, heilig/ säkular, mechanisch/organisch, Gemeinschaft/Gesellschaft – Redepenning 2019).

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der Himmel ewig bedeckt und ohne Sonnenschein (ebd.: 49). Natur erscheint grau, matt und gedämpft (ebd.: 49f.).12 Damit bildet diese Farb- und Zeitlosigkeit auch motivisch einen Gegenentwurf zur anfangs nur kurz und knapp angesprochenen Biografie des Zeichners,13 die von einer gewissen Schnell- und Kurzlebigkeit geprägt war.14 Gerade die durchgehende Gestimmtheit des Raums ist für den Erzähler und Zeichner dabei jedoch von Vorzug: »Harmonisch war das Traumreich anzusehen« (ebd.: 50). Auf Harmonie zielt auch das Sozialwesen des Traumreichs ab. Gestartet mit einer Anfangsbevölkerung von 12.000 »Seelen« (ebd.: 9), zählt es mittlerweile 65.000 »Einwohner« (ebd.). Davon leben bei Ankunft des Zeichners etwa 22.000 in Perle (ebd.: 50), wobei diese Zahl zwischen 20.000 und 24.000 schwankt (ebd.: 55). Zusammengesetzt ist die Einwohnerschaft aus Bürgern, Beamten, Militärs, Gelehrten, Artisten und Künstlern (ebd.: 20). Sie alle sind, das zeigt auch der Fall des Zeichners, aufgrund einer spezifischen Selektion ins Traumreich gelangt; würden doch, so der Bote, nur diejenigen ausgewählt und eingeladen, die »durch Geburt oder ein späteres Schicksal dazu prädestiniert« (ebd.: 9) seien. Dies betreffe vor allem Menschen, die über »[e]minent geschärfte Sinnesorgane« (ebd.) verfügten und sich dadurch von den »Durchschnittswesen« (ebd.) im »Normalleben« (ebd.: 10) unterschieden. Allerdings stellt der Zeichner später dann auch fest, dass es sich insgesamt wohl um Außenseiter jedweder Art handelt. Schreibt er doch über die Bevölkerung: »Sie rekrutierte sich aus in sich abgeschlossenen Typen. Die besseren darunter waren Menschen von übertrieben feiner Empfindlichkeit. Noch nicht überhandnehmende fixe Ideen, wie Sammelwut, Lesefieber, Spielteufel, Hyperreligiosität und all die tausend Formen, welche die feinere Neurasthenie ausmachen, waren für den Traumstaat wie geschaffen. Bei den Frauen zeigte sich die Hysterie als häufigste Erscheinung. Die Massen waren ebenfalls nach dem Gesichtspunkt des Abnormen oder einseitig Entwickelten ausgewählt: schöne Potatorentypen, mit sich und der Welt zerfallene Unglückliche, Hypochonder, Spiritisten, tollkühne Raufbolde, Blasierte, die Aufregungen, alte Abenteurer, die Ruhe suchten, Taschenspieler, Akrobaten, politische Flüchtlinge, ja selbst im Ausland verfolgte Mörder, Falschmünzer und Diebe u.a.m.« (Ebd.: 52)15

12 »Saftiges Grün war nirgends zu sehen, in ein stumpfes Oliv, ein grünliches Grau waren unsere Pflanzen, Gräser, Gesträuche und Bäume getaucht.« (Kubin 1975: 49f.) 13 Hatte dieser doch bisher »so manches Bunte erlebt« (Kubin 1975: 8). 14 »Die Zeit floss dahin und mit ihr meine Jugend« (Kubin 1975: 8). 15 Mitunter sei auch nur »ein ins Auge fallendes Körpermerkmal« (Kubin 1975: 55) die Ursache für die Aufnahme gewesen: »Daher die vielen Zentnerkröpfe, Traubennasen, Riesenhöcker.« (Ebd.)

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Die sich aus diesen Charakteren – für die eine anhaltende materielle Not ausgeschlossen sei (ebd.: 9) – zusammensetzende Sozialstruktur ist streng hierarchisch. An ihrer obersten Stelle steht Patera, der von seinen Untergebenen als »absoluter Herr des Traumreichs« (ebd.: 10, Hervorh. im Original) anerkannt werde. Dieses Verhältnis findet sich auch in der städtebaulichen Struktur Perles abgebildet. Denn oberhalb der Stadt befindet sich ein »monströser Bau in ungeschlachter Größe« (ebd.: 52), der den Palast Pateras darstellt und der doch, wie sich später zeigen wird, gleichermaßen menschenleer und undurchdringlich ist.16 Abb. 2: Stadtansicht Perles

Kubin (1975: 51)

16 Innerhofer (2016: 202) schreibt dazu: »Mit seiner ins Enorme gesteigerten Architektur, vor und in der die Menschen winzig erscheinen, repräsentiert der Palast die absolutistische Macht. Doch ist er ebenso menschenleer, wie die Macht ausgehöhlt ist.« Gleiches gilt für den Ort der quasi-religiösen (und zwanghaften) Verehrung Pateras, den Uhrturm. Die Zentren der Macht sind leer (vgl. Rücker 2013: 250).

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Dabei speist sich dieses Panorama aus verschiedenen imaginären wie realen Quellen. Einerseits lassen sich bildkünstlerische Ähnlichkeiten sowohl in Anlage also auch in Motiven mit dem Gemälde GROSSER TURMBAU ZU BABEL von Pieter Bruegel dem Älteren feststellen (Lippuner 1977: 10ff.; Innerhofer 2016: 198), 17 andererseits finden sich strukturelle Parallelen zu Kubins Kindheitsstadt Salzburg (Lachinger 1999: 126ff.),18 in der auch der Erzähler des Romans seine Schulzeit verbrachte und Patera kennenlernte (Kubin 1975: 7).19 Ausgestattet mit mysteriösen magischen und hypnotischen Fähigkeiten sowie zugleich unerreichbar und doch allgegenwärtig, fungiert dieser nun, gottgleich und religiös verehrt, als allmächtige und alles durchdringende »Ordnungsinstanz« (Gerhards 1999: 49), zu der jeder einzelne Bürger in Beziehung steht. Damit verkörpert er gewissermaßen auch die Sehnsucht nach einer verloren gegangenen Einheitserfahrung, die in vormoderne und vorindustrielle Gesellschaftssysteme zurückweist.20 Bildet das Traumreich doch eine »Freistätte für die mit der modernen Kultur Unzufriedenen« (Kubin 1975: 9).21 Dementsprechend wird mit und in ihm

17 So sind etwa der Turm Bruegels und der Palast Pateras beiderseits als über der Stadt herrschend dargestellt und mit gleichen Motivreihen (Überhöhung, Unverständlichkeit, Religiosität, Apokalypse etc.) versehen; und schließlich tragen sie beiderseits auch schon ihren eigenen Untergang in sich (vgl. Lippuner 1977: 11). 18 Sind diese strukturellen Ähnlichkeiten aus dem Text selbst nur schwer herauszulesen, so zeigt sich in der illustrativen Gestalt des über Perle thronenden Palasts wie auch der Anlage von Gebäuden, Fluss, Brücke und Schloss doch eine gewisse Ähnlichkeit mit Salzburg sowie den topografischen Gegebenheiten der Stadt. Damit bieten die Illustrationen eine weitere Interpretationsebene an und ergänzen die narrative Gestalt des Werks; sie sind auch dadurch nicht lediglich als Bebilderungen des zuvor Geschriebenen – und daher dem auch nicht nachgeordnet – zu verstehen. 19 Dementsprechend ließe sich das Eindringen in das Traumland auch als Wiedererinnern an die eigene vergangene und vergessene Jugend interpretieren; war dem Zeichner nach dem Verlassen Salzburgs doch »für viele Jahre alles, was mir dort bekannt war, aus den Augen verloren« (Kubin 1975: 8). Versatzstücke des eigenen Heimatorts, wie bspw. das Salzburger Theater (ebd.: 93), findet er dann in Perle wieder. Daher lässt sich konstatieren, dass in der ANDEREN SEITE »autobiographische und geographisch-topographische Elemente von Leben und Lebenslandschaft des Autors eng ineinander verwoben [sind]« (Lachinger 1999: 122). 20 Schließlich werden den Bewohnern des Traumreichs »jene Partikularisierungserfahrungen erspart, die für moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften charakteristisch sind« (Gerhards 1999: 54). 21 Im Grunde sei das Traumreich, so Ruthner (2004: 3) ein »Zufluchtsort für inzwischen 65.000 Moderne-Verweigerer aus Europa.«

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auch ein Ausweg aus den modernen Lebens- und Sozialformen imaginiert22 – was schließlich doch wieder die grundlegenden Ambivalenzen, Unsicherheiten und Unergründlichkeiten (nicht nur modernen) menschlichen Lebens zu Tage fördert. Ihren Ausdruck finden sowohl die Versuche einer räumlichen, zeitlichen und sozialen Fest-Stellung als auch die konstitutiven Ambivalenzen, Verunsicherungen und Unergründlichkeiten in den erzählten wie auch gezeichneten Raumbildern und Architekturen. Sie sind gleichermaßen stimmungsprägend und handlungsleitend.23 Einerseits sollen sie eine bestimmte historische Epoche mitsamt ihrer Sozialordnung konservieren, andererseits werden im Laufe der Handlung ihre tieferliegenden Abgründe hervorbrechen.24 In den erzählten Architekturen der ANDEREN SEITE zeigen sich die Grenzen von Ordnung und Planung. Nehmen die Gebäude doch alsbald schon eine fantastische Gestalt an. Inszeniert wird dies anhand einer Anthropomorphisierung der Architekturen. Die Häuser erhalten menschlichen Ausdruck und subjektive Motive: »Es gab garstige Brummbären unter ihnen, wie die Molkerei da gegenüber; andere schienen frech und hatten ein loses Maul, gerade mein Café ist dafür ein gutes Beispiel. Weiter hinauf zu, das Haus, wo wir wohnten, war eine vergrämte alte Tante. Klatschsüchtig und böswillig schielten die Fenster. Schlimm, sehr schlimm war das große Magazin von M. Blumenstich, derb und jovial die Schmiede neben der Molkerei, unbekümmert, leichtsinnig das daran gebaute Häuschen des Flussaufsehers. Aber mein besonderer Liebling war der Eckbau, der am Flusse lag: es war die Mühle. Die hatte ein lustiges Gesicht: sie war weiß getüncht und trug ein moosiges Schindeldach als Kappe. Gegen die Straße zu, hoch oben, steckte ein klobiger

22 Dafür, so hält Gerhards in ihrer Monografie fest, versetze »sich der Traumreichbewohner künstlich in einen Zustand der Vergangenheit, in dem die Folgeprobleme der Moderne noch unbekannt waren« (Gerhards 1999: 47) und erprobe »Gegenentwürfe zu all jenen Faktoren […], die konstitutiv für die Moderne sind« (ebd.). 23 Lässt sich im modernen Roman eine generelle Tendenz der Vorstrukturierung von Handlung und Geschehen durch die imaginierten Räumlichkeiten der Texte feststellen (Moretti 1999: 98; Piatti 2008: 15f.), so trifft dies auf die Traditionslinien der Utopie und Dystopie noch einmal in besonderer Weise zu: insofern diese Priorisierung des Räumlichen über das Soziale – ja: die Lenkung und Regulierung des sozialen und individuellen Lebens durch die räumlichen Ordnungen – dem Genre von Anbeginn an eingeschrieben ist. In der ANDEREN SEITE zeigt sich dies am individuellen Verhalten und an den individuellen Bewegungen, die von der architektonisch-städtebaulichen Umgebung geprägt sind. So konstatiert der Erzähler: »man gewöhnte sich hier in Perle einen eigenen Gang an: leise, schwankend, unsicher, jeden Moment auf ein Mißgeschick gefasst« (Kubin 1975: 103). 24 Denn tatsächlich sind die aus Europa importierten Gebäude wohl allesamt Schauplätze von Verbrechen, Gewalttaten, Morden gewesen (Kubin 1975: 167).

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Balken in der Mauer, wie eine gute Zigarre. Ein wenig verzwickt und schlau war allerdings ihr Ausdruck um die oberen Dachluken herum. Sie gehörte zwei Brüdern. Oder gehörten die zwei ihr, gleichwie eine Mutter zwei Söhne hat?« (Kubin 1975: 69)

Kubin imaginiert hier eine »lebende Architektur« (Innerhofer 2016: 196), die dafür sorgt, dass die anvisierte Ordnung des Sozialen und Individuellen unrealisierbar bleibt und sich schließlich in ihr Gegenteil verkehrt. Ursachen dafür finden sich sowohl in der durch die fantastische Architektur25 lebendig werdenden europäischen Gewaltgeschichte als auch in der architektonisch zum Ausdruck gebrachten bzw. gespiegelten menschlichen Konstitution. Denn es lässt sich ein Entsprechungsverhältnis zwischen der Stimmung der Stadt und der Stimmung des Erzählers beobachten, dessen Schwermut sich im Raum materialisiert.26 Es handelt sich hierbei um einen ›gestimmten‹ Raum, der zur Allegorie menschlicher Ambivalenzen und Unergründlichkeiten wird.27 Hinzu kommen zwei weitere Aspekte räumlicher Unordnung und Unüberschaubarkeit. Zum einen ist die Stadt labyrinthisch unterkellert; und gerade in diesen Kellerlabyrinthen macht der Zeichner seine erste erschütternde Begegnung. Das Grauen, das sich im Laufe der Handlung immer weiter steigern und an die Oberfläche dringen wird, kommt auch aus dem Untergrund. Zum anderen ist aber auch

25 Als fantastische Architekturen können jene erzählten Gebäude aufgefasst werden, »die die Ordnung der Dinge in krisenhaft erlebter Form aufbrechen oder infrage stellen.« (Kegler 2013: 227) Dies geschieht mit je unterschiedlichen Verfahren, die allesamt eine Verfremdung des Bekannten vornehmen (ebd.). Bei Kubin finden dabei vielerlei Verfahren (vgl. zu diesen ebd.: 227f.) Anwendung. So etwa die bereits erwähnte Anthropomorphisierung unbelebter Elemente, die Intensivierung oder Aufhebung von Kontrasten, die anachronistische Bindung an das historisch Gegebene, die Repräsentation brisanter Vergangenheiten, die Zweck- und Maßlosigkeit sowie schließlich auch der ruinöse Verfall. 26 Charakterisiert sich der Erzähler zu Beginn selbst als melancholisch (Kubin 1975: 15), so findet er später im Traumreich seine Entsprechung: »Hier war Perle, die Hauptstadt des Traumreichs, errichtet. Schwermütig düster wuchs sie aus dem kargen Boden in farbloser Einförmigkeit. Viele Jahrhunderte, meinte man, müsse sie schon so dastehen. Tatsächlich stand sie kaum ein Dutzend Jahre. Der Gründer dieser Stadt wollte den Ernst der Gegend nicht stören.« (Ebd.: 50) Darüber hinaus wird auch vom Boten angekündigt, dass die Traumstadtbewohner »nur in Stimmungen« lebten (ebd.: 10, Hervorh. im Original). 27 Siehe auch Innerhofer (2016: 205): »Die Architekturbeschreibung wird zum Mittel der Darstellung des Undarstellbaren, der Sichtbarmachung des Unsichtbaren, der Veranschaulichung eines Abwesenden: des Unbewussten, Traumhaften, Irrationalen.« Auch in diesem Sinne zeigt sich schließlich eine »Entsprechung von menschlicher Disposition und Raum« (Cersowsky 1989: 92).

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dem Erzähler keineswegs zu trauen. Zwar beteuert dieser gleich zu Beginn, dass er die Schilderung der Ereignisse so »wahrheitsgetreu, wie es sich für einen Augenzeugen gehört« (Kubin 1975: 7) vornehmen wird. Allerdings muss er doch zugleich auch eingestehen, dass er von bestimmten Vorgängen gar kein Wissen haben kann: »während ich gewissenhaft meine Erlebnisse niederschrieb, ist mir unmerklich die Schilderung einiger Szenen untergelaufen, denen ich unmöglich beigewohnt und die ich von keinem Menschen erfahren haben kann« (ebd.). Durch den Epilog wird dies weiter zugespitzt. Hier berichtet der Erzähler und Zeichner von seinem Aufenthalt in einer Heilanstalt, die er nach seiner Rückkehr aus dem Traumreich aufsuchen musste.28 Das macht ihn aufgrund seiner Konstitution generell unzuverlässig 29 und wirkt sich auch auf die genuin ›realistischen‹ Formen seiner Zeichnungen aus. So etwa auf die Stadtkarte am Ende des Texts, die – im Unterschied etwa zu denjenigen Zeichnungen, die aus der Perspektive eines in die (unheimlichen und grausamen) Geschehnisse involvierten Beobachters verfertigt sind – zunächst einmal ein mehr oder minder exaktes Abbildungsverhältnis verspricht und weder von einer allzu hohen Komplexität30 noch von einer symbolischen Verdichtung oder künstlerischen Verfremdung geprägt ist. Im Vergleich von Karte und Text zeigt sich jedoch, dass der Zeichner (oder der Erzähler) Osten und Westen miteinander vertauscht hat. Heißt es in der Lagebeschreibung der Stadt doch: »Im Norden das Gebirge, im Osten der Fluß, im Westen der Sumpf« (Kubin 1975: 52). Während der Lageplan am Ende des Texts genau das Gegenteil zeigt:

28 Er konstatiert: »Mein Traumvermögen war augenscheinlich erkrankt, die Träume wollten meinen Geist überwuchern.« (Kubin 1975: 276) Das auf der Ebene der Rahmenhandlung angesiedelte Nervenleiden des Erzählers und die damit verbundenen Träume beeinflussen und prägen dann auch die Binnenhandlung; so weist etwa Cersowsky in seiner Studie zur phantastischen Literatur nach der Jahrhundertwende darauf hin, »daß sich das Traumvermögen des Erzählers nicht selten verselbständigt und die faktischen Gegebenheiten überformt.« (Cersowsky 1989: 68) 29 Erscheint das Buch, geschrieben von einem bereits »betagte[n] Mann« (Kubin 1975: 7), zunächst als Erinnerungstext, so kommen im Laufe der Handlung durch die unzähligen fantastischen Elemente doch zunehmend Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit auf. Zum Schluss des Romans scheint es gar unklar zu sein, ob sich das gesamte Geschehen überhaupt ereignet haben kann und nicht bloß auf den Einbildungen des Erzählers basiert. 30 Die doch recht überschaubare Stadt besteht aus vier Hauptteilen: dem Bahnhofsviertel, der Gartenstadt, dem Geschäftsviertel und dem französischen Viertel (Kubin 1975: 51).

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Abb. 3: »Situationsplan der Stadt Perle«

Kubin (1975: 278f.)

Dient die (literarische wie wissenschaftliche) Bezugnahme auf Kleinstädte immer wieder auch der Herstellung einer »Überschaubarkeitsfiktion« (Beetz 2017: 54), die gerade angesichts aufziehender Krisenerfahrungen, wie sie sich in der Moderne häufen, sowohl kognitive als auch praktische Sicherheit und Stabilität vermitteln soll, so findet sich dieses mitunter utopische Versprechen zunächst auch in Kubins Kleinstadtimagination angesprochen und visualisiert. Sowohl das Stadtpanorama als auch die Stadtkarte zeigen auf den ersten Blick eine problemlos überschaubare und erfassbare kleine Stadt,31 die schließlich in ihrer vermeintlichen Verstehbarkeit und Erfassbarkeit – und damit auch: Kontrollierbarkeit – in Widerstreit zu den wahrgenommenen fantastischen Erscheinungen steht, von denen der in das Geschehen versetzte Erzähler berichten wird. Dadurch geraten diese zeichnerischen Topografien in ein Spannungsverhältnis zur erzählten Fantastik.

31 Sie nehmen zugleich auch eine Rahmung Perles vor; bildet das Panorama doch die erste und die Karte die letzte Abbildung der Stadt.

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Fantastische Literatur kann als Ausdruck und Verarbeitung von Erfahrungen der Ambivalenz und Verunsicherung in Zeiten des Übergangs, sei dieser nun etwa auf politischem, kulturellem und/oder wissenschaftlichem Gebiet zu verorten, verstanden werden. Nicht zufällig erlebt die Fantastik, mit Alfred Kubin als einem ihrer Protagonisten, um die Jahrhundertwende einen zweiten Höhepunkt (Freund 1999: 7f.). Sie ist dabei mit einem epistemologischen Erkenntnisinteresse verknüpft, das insbesondere im Kontext von plötzlich einsetzenden und rasant verlaufenden Grenzverschiebungen innerhalb der diversen gesellschaftlichen Wissensbereiche nach einer neuen Orientierung sucht und, so Renate Lachmann (2002), ein ontologisches, kulturologisches sowie anthropologisches Programm verfolgt, das auf die »Konstruktion komplexer Wissensalternativen« (ebd.: 11) abzielt. Dies geschieht unter anderem, wie Tzvetan Todorov (1992) gezeigt hat, durch die narrative Erzeugung von Ambiguität. Der fantastische Text erzählt den Konflikt zweier möglicher Realitätsmodelle und fokussiert dabei menschliche Subjekte, die mit Ungewissheit konfrontiert werden und dadurch plötzlich selbst im Ungewissen stehen. Todorov schreibt: »In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt. Der, der das Ereignis wahrnimmt, muß sich für eine der zwei möglichen Lösungen entscheiden: entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind.« (Todorov 1992: 25f.)

Nach und nach häufen sich dann auch in der kleinen Stadt Perle, so der Erzähler, »unheimliche und schwer glaubliche Dinge« (Kubin 1975: 85). Der Roman Kubins inszeniert hierbei mit den Mitteln des Fantastischen das Aufeinandertreffen zweier epistemologischer Ordnungen: einer alltäglichen, die auf einem gemeinsam geteilten Erfahrungswissen basiert, und einer traumhaften, die der ersten sowohl eine diese befremdende Wahrnehmung injiziert als auch eine alternative Version der Wirklichkeit gegenüberstellt. Das Fantastische des Werks liegt dabei jedoch gerade darin, dass der Text keine Entscheidung für eine der beiden Varianten vornimmt (vgl. Todorov 1992: 26)32 und den Protagonisten wie auch die Leserschaft im

32 »Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.« (Todorov 1992: 26)

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Ungewissen hält (ebd.: 40).33 Diese Ungewissheit ist mehr oder minder umfassend. Sie umgreift die Anthropologie, Kulturologie und schließlich auch Ontologie bzw. Metaphysik der erzählten Welt. Der Prozess einer generellen Befremdung34 des Zeichners lässt sich auf individueller, sozialer und kultureller Ebene verorten. Der Roman bietet dabei aus verschiedenen Blickwinkeln eine Auseinandersetzung mit dem ›Eigenen‹ und ›Fremden‹, die in verschiedenen Etappen verläuft und sich hinsichtlich der Unverständlichkeit der Ereignisse und Zusammenhänge, und damit auch der Befremdungszustände des Zeichners, zunehmend steigert. Zunächst einmal ist da die Reise selbst, die dieser mitsamt seiner Frau in Richtung Traumreich unternimmt und auf der sie exotische Gebiete durchqueren. Dabei erscheint das wahrgenommene Fremde – das zeigt sich unterwegs im sprichwörtlichen Gewimmel in den Bahnhofshallen wie auch im Eintauchen des Paars in »TausendundeineNacht-Szenen« (Kubin 1975: 35) – allerdings bereits als durchaus bekannt; ergibt es sich doch aus den Versatzstücken eines zeitgenössischen Orientalismus und Exotismus (Ruthner 2004: 8). 35 Entsprechend baut der Erzähler in seinem Bericht auch auf das medial vermittelte (bzw.: überhaupt erst erzeugte) Vorwissen der Leserschaft durch weit verbreitete und »überall« (Kubin 1975: 29) zu findende »Reiseschilderungen« (ebd.) auf.36 Das Fremde ist hier gewissermaßen schon vorstrukturiert und erwartbar; und daher längst schon zum Eigenen geworden bzw. in seiner Bildhaftigkeit aus diesem heraus entstanden. Ein tatsächlich erstes Befremden, das eben zur sukzessiven

33 So fragt der Erzähler angesichts unverständlicher Phänomene ganz explizit: »War das Wirklichkeit oder die Angstgeburt einer überreizten Phantasie?« (Kubin 1975: 104) 34 Zu einer phänomenologisch grundierten Konzeption des Befremdens, das – im Unterschied etwa zum Konzept der (Selbst-)Entfremdung, die auch im Gesamtwerk Kubins als spezifische Erfahrung einer Krise der Moderne visuell in Szene gesetzt wird (Peters 2008: 111) – produktiv auf Erfahrung, Reflexion und Handlung ausgerichtet ist, siehe Buchenhorst (2015). Demzufolge initiiert Fremdheit als Resultat einer möglicherweise irritierenden und verstörenden Grenzerfahrung (sei sie nun real empfunden und/oder sozial konstruiert) eine kognitive wie auch praktische Tätigkeit, die sowohl zur Erweiterung der eigenen (intellektuellen, kulturellen, ästhetischen etc.) Möglichkeiten als auch zur Abwehr eines ›Andersartigen‹ führen kann – in jedem Falle aber nach einer spezifischen Reaktionsbildung verlangt. 35 Ruthner (2004), der den Roman unter postkolonialer Perspektive als fantastische Abhandlung über das Eigene und Fremde im historischen Kontext der Habsburger Monarchie liest, versteht das Traumreich als ein imaginiertes Kolonialreich, das in Zeiten der letzten großen imperialistischen Expansionsbewegungen erdacht wurde (vgl. ebd.: 7ff.). 36 So äußert der Erzähler in seinem Reisebericht: »Wie orientalische Städte aussehen, setze ich als bekannt voraus. Es ist genauso wie bei uns, nur orientalisch.« (Kubin 1975: 35)

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Änderung eigener Ansichten und Standpunkte führt, findet trotz der langen und weiten Reise erst mit dem Übergang ins Traumland statt. Es äußert sich im schauderhaften Gefühl einer Vorahnung, das die Protagonisten beim Durchlaufen des Tunnels überkommt.37 Sorgt bereits die räumliche (Un-)Ordnung wie auch die lebendige Architektur Perles für ein Befremden des Zeichners, so ist dieser Vorgang auch auf sozialer und subjektiver Ebene zu sehen. Ausgestattet »mit einem geradezu ethnografischen Blick« (Ruthner 2004: 2) auf den Alltag und die Lebensumstände im Traumreich wird der Erzähler mit der Fremdheit der anderen wie auch des eigenen Ichs konfrontiert. Hinzu kommen weitere Erschütterungen: zum einen durch die Erkenntnis, dass die gesamte Bevölkerung unter einem mysteriösen Bann Pateras steht, zum anderen durch den sich bereits schleichend ankündigenden und schließlich eintretenden Tod der Ehefrau. Als Folge dessen ist im künstlerischen Schaffen des Zeichners nicht nur eine erhöhte Produktivität, sondern auch die Entstehung »neue[r] Formgebilde« (Kubin 1975: 140) zu beobachten. Er bezeichnet diesen neuen Stil als »Psychographik« (ebd.).38 Drei Aspekte kommen bei dessen Entwicklung zusammen: Zum Ersten ein »melancholische[r] Grundton« (ebd.), der den Erzähler bereits sein gesamtes Leben lang begleitet hat und den er auch an seiner Umgebung feststellt, zum Zweiten »das Elend der Verlassenheit« (ebd.), von dem er nunmehr heimgesucht wurde, zum Dritten schließlich ein »Kampf mit dem Unverständlichen« (ebd.), der aufgrund der generellen Unergründlichkeit des Traumreichs von ihm nahezu allerorten ausgefochten wird. »Es überfiel mich ein Arbeitsdelirium; im nächsten halben Jahre produzierte ich unter dem Drucke des Schmerzes meine besten Sachen. Ich betäubte mich im Schaffen. Meine Blätter, in der düsteren und fahlen Stimmung des Traumreiches gehalten, sprachen auf verborgene Weise mein Weh aus. Fleißig studierte ich die Poesie der dumpfigen Höfe, der verborgenen Dachkammern, der schattigen Hinterzimmer, staubigen Wendeltreppen, verwilderten, nesselbestandenen Gärten, die blassen Farben der Ziegel- und Holzpflaster, die schwarzen Schlote und die Gesellschaft der bizarren Kamine.« (Ebd.: 140)

37 »Es ging vom Hinterkopf aus und fuhr das Rückgrat entlang, mein Atem stockte, und der Herzschlag setzte aus. Hilflos sah ich mich nach meiner Frau um, aber die war selbst leichenblaß, Todesangst spiegelte sich auf ihrem Antlitz, und mit zitternder Stimme flüsterte sie: ›Nie mehr komme ich da heraus.‹« (Kubin 1975: 42) 38 Er schreibt: »Ich verzichtete auf alles bis auf den Strich und entwickelte in diesen Monaten ein seltsames Liniensystem. Ein fragmentarischer Stil, mehr geschrieben als gezeichnet, drückte es wie ein empfindliches meteorologisches Instrument die geringsten Schwankungen meiner Lebensstimmung aus.« (Kubin 1975: 140) Dabei ist auch hier die Überschneidung mit der biografischen Situation Kubins offensichtlich (siehe Anm. 3).

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Die Form der Psychografik entsteht also im Zusammenspiel von äußeren und inneren Faktoren und kann als ein Versuch verstanden werden, die beständige Metamorphose sowohl der Umgebung als auch des eigenen Selbst zu fassen und zum Ausdruck zu bringen.39 Steigern sich doch die Befremdungen des Erzählers, der nunmehr unheimliche und nicht nachvollziehbare Identitätswechsel der Mitmenschen (Kubin 1975: 86) wie auch das Auftreten von Doppelgängerfiguren (ebd.: 162) zu gewärtigen hat, im Laufe der Handlung zunehmend. Eine solche Aufspaltung des Individuums nimmt er dann auch im Selbstbezug wahr: »Dennoch fand ich noch Fremdes in meinem Innern. Da fand ich zu meinem Schrecken, daß mein Ich aus unzähligen ›Ichs‹ zusammengesetzt war, von denen immer eines hinter dem andern auf der Lauer stand. Jedes folgende erschien mir größer und verschlossener; die letzten entschwanden meinem Begreifen im Schatten. Jedes dieser Ichs hatte seine eigenen Ansichten.« (Ebd.: 148)

Gerade im Zeitalter einer sich entwickelnden und wirkmächtig werdenden Psychoanalyse findet sich hier auch bei Kubin ein Menschenbild visualisiert und in Szene gesetzt, das die bis dato weitestgehend akzeptierten Annahmen über die Natur des Menschen – hinsichtlich seiner Verstehbarkeit und Bestimmbarkeit – in Zweifel zieht.40 Die Fokussierung Kubins auf Träume und Unbewusstes legt dabei nahe, dass dieser mit seinem Roman den Ansatz und das Modell Freuds – den Kubin »nachweislich gelesen« (Peters 2008: 109) habe – verfolgt. Allerdings lehnt er doch zugleich das rationalisierende Vorgehen der Traumdeutung ab, das auf eine systematische Zergliederung der Träume abhebt und mittels dieser deren verborgene Bedeutung sowohl ergründet als auch verfügbar macht.41 Bereits in den einleitenden

39 Sie korrespondiert aus der Perspektive des Zeichners Kubin auch mit der Paradoxie, die generelle Wandelbarkeit der Dinge vermittels der bannenden Fixierung des Augenblicks, die die Zeichnung vornimmt, zu fassen. So schreibt dieser in ÜBER MICH SELBST: »Ich leide gewiß auch unter dem Widerspruch, mit dem Malerei und Zeichnung behaftet sind, die bemüht sind, sich stets wandelnde Gesichte in einem starren Augenblick festzuhalten.« (Kubin 1974a: 95) 40 Dass dies für die fantastische Literatur im Allgemeinen gilt, zeigt ebenfalls Lachmann (2002). Demzufolge erscheint die Fantastik aufgrund ihrer Überschreitung akzeptierter Anthropologien auch als eine Meta- oder Anti-Anthropologie (ebd.: 9), die in Opposition zur wissenschaftlichen Erfassung des Menschen dessen »Nichtbeschreibbarkeit« (ebd.: 8) und »Nichtmetrifizierbarkeit« (ebd.) betont. 41 In seinem kurzen Text ÜBER MEIN TRAUMERLEBEN aus dem Jahr 1922 schreibt Kubin: »Die einzelnen Erscheinungen werden wir uns aber hüten zu zergliedern etwa nach irgendeinem interessanten moralischen oder psychologisierenden System, um hinter das

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Worten zu Beginn des Romans findet sich ein satirischer Seitenhieb auf die »Werke unserer so geistvollen Seelenforscher« (Kubin 1975: 7), die sich in der Form der »Erklärung« (ebd.) mit eben jenen »seltsame[n] Phänomene[n] der Einbildungskraft« (ebd.) beschäftigen, die sich im dann folgenden Bericht finden lassen. Während die analytische Beschäftigung mit Träumen eben auf deren restlose Erklärung abzielt und damit zur rationalen Ergründung und Feststellung des Menschen beiträgt, hebt Kubin, indem er seinen Zeichner auf der Suche nach einer letztgültigen Erklärung immer wieder scheitern lässt, die Unergründlichkeit des Menschen hervor, die gerade auch im traumhaften Erleben ihren Ausdruck findet. 42 Dabei betont er insbesondere die schöpferische und bildgebende Kraft des Traums,43 die letztlich auch zur einer – von der romantischen Literatur inspirierten – neuen Einheitsbildung und -erfahrung führen soll. Mit zunehmender Adaption an die Gegebenheiten des Traumreichs lockern und lösen sich für den Erzähler nunmehr die vormals festen Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier. In einem mit »Die Klärung der Erkenntnis« (Kubin 1975: 146149) überschriebenen Unterkapitel reflektiert er das bisher Erlebte und Erlittene, das mit »zahlreichen Entdifferenzierungserlebnissen« (Gerhards 1999: 50) verbunden ist und ihn zu einem ›neuen‹ Sehen und Verstehen führt.

Geheimnis ihrer Deutbarkeit zu kommen; lassen wir lieber ihre echte, ungebrochene Symbolkraft bestehen. Ich halte die unmittelbare schöpferische Vision für weit stärker und tragender als ihre weitschweifige Analyse.« (Kubin 1973: 8) Zur Auseinandersetzung Kubins mit Freud und der Traumdeutung siehe Geyer (1995: 121ff.), der dieses Zitat ebenfalls anführt und zudem auf einen Brief Kubins vom 08.11.1933 verweist, in dem dieser von dem »so widerlichen Psychoanalysieren« spricht. Dass Kubin die Traumdeutung jedoch nicht gänzlich verwirft, zeigen u.a. Gehrig (2004: 37f.) und Martynkewicz (2008: 137). 42 Dabei sei es ihm, so Kubin in seinen autobiografischen Ausführungen, schon früh um »Kenntnisse des allgemein menschlichen Wesens« (Kubin 1974: 15) gegangen – ohne allerdings dieses Wesen, das sich ja auch am und im eigenen Schaffen und Sein zeigen soll, fassen zu können: »Diese eigentliche und letzte Triebfeder meines Schaffens näher zu bezeichnen, ist mir nicht möglich, sie hängt zu eng mit meinem ganzen Dasein zusammen, das mir ja auch rätselhaft ist.« (Ebd.: 43) 43 Dass Kubin den Traum als Antrieb für sein künstlerisches Schaffen nutzt, führt er in seiner SELBSTBIOGRAPHIE aus: »Nächtliche wie auch sogenannte Tag- oder Wachträume waren für mich seit Jahren eine reiche Mine, deren künstlerische Schätze des richtigen Bergmanns harrten – der wollte ich sein.« (Kubin 1974: 44)

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»Durch den verwandten Pulsschlag verstand ich auch die niedern Wesen. Ich wußte genau: dieser Kater hat schlecht geschlafen, jener Stieglitz hegt gemeine Gedanken. Diese Spiegelungen in mir regelten nun mein Tun und Lassen. Der Lärm der Außenwelt hatte meine Nerven gerade so lange gepeitscht, bis sie für die Erlebnisse der Traumwelt reif waren.« (Kubin 1975: 148f.)

Bezeichnenderweise findet diese reflexiv vollzogene Umkehr auf dem Land statt, fungiert für Kubin doch das Ländliche »als Schlüssel zum Zeitlosen und Mythischen« (Bisanz 1980: 48).44 Die dabei in Szene gesetzte Aufhebung der Trennung zwischen Subjekt und Objekt, an deren Ende, so der Erzähler, »der Mensch als Einzelwesen« (Kubin 1975: 149) aufhöre und nicht mehr gebraucht werde, wird durch die Verbindung von Traum und Einbildungskraft, die ihm zufolge über die gleichen Strukturen verfügen (vgl. Kaltwasser 2000: 197f.), hervorgerufen.45 In ÜBER MEIN TRAUMERLEBEN schreibt Kubin dazu: »Daß der ›Schöpfer‹ des Traums und sein ›Geschöpf‹, das Traumgebilde, irgendwie in identischem Zusammenhang stehen, tritt in träumendem Zustand besonders deutlich hervor. Woher sollten auch sonst diese zahllosen Gestalten, diese eingebildeten Vorgänge, diese weiten Landschaften stammen als ›aus uns‹, d.h. einem Weltwesen, welches sich – und das ist das seltsamste daran – mit dem Leib seiner Spielfiguren zusammenfallend wähnt.« (Kubin 1973: 7)

Diese »Durchdringung« (ebd.) zeigt sich dann auch im direkt anschließenden Kapitel, das aus der Schilderung und Visualisierung eines Traums besteht, in dem »alles ineinander eingeschachtelt und miteinander verbunden« (Kubin 1975: 149) ist.46

44 Der Roman nimmt auch dabei den Stadt-Land-Gegensatz auf. »Dort die Hast, hier die Ruhe« (Kubin 1975: 144), sinniert der Erzähler – dessen Ansichten hier als diejenigen des Autors gelten können (vgl. Kubin 1974: 48) – auf einem Ausflug in die ländliche Umgebung Perles, wo er auf die mysteriösen »Ureinwohner des Traumlandes« (Kubin 1975: 143) trifft, deren »kleines Dörfchen« (ebd.) ihn an eine »ethnographische Musterausstellung« (ebd.) erinnert und die ihn angesichts ihrer ›Fremdheit‹ zur Reflexion bewegen. 45 Vgl. auch: »Immer mehr fühlte ich das gemeinsame Band in allem. Farben, Düfte, Töne und Geschmacksempfindungen waren für mich austauschbar. Und da wußte ich es: – die Welt ist Einbildungskraft, Einbildung – Kraft.« (Kubin 1975: 147, Hervorh. im Original) 46 Dieser Traum kann quasi auch als »Traum im Traum« (Brandstetter 1980: 258) verstanden werden. Auf die zentrale Rolle dieses Kapitels, das den Übergang zum dritten Teil des Romans bildet, und der damit verbundenen ganzseitigen Illustration, die als 26. von insgesamt 51 genau in der Mitte gelegen ist, weist Geyer (1995: 120) hin. Auch hier zeigt

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Abb. 4: Der Traum des Zeichners

Kubin (1975: 151)

Dabei vermitteln Beschreibung und Illustration dieses Traums nicht nur das groteske und symbolhaft verdichtete Bild einer generellen Auflösung gewohnter Begrenzungen; der von Kubin (1975: 149-153) minutiös geschilderte und detailliert visualisierte Nachttraum dient, wie Geyer (1995: 120-126) in einer genauen Analyse und unter Rückgriff auf literarische Vorbilder (E.T.A. Hoffmann) und psychoanalytische Symboliken (Freud) darlegt, sowohl der Verarbeitung des bisher Geschehenen als auch der Vorwegnahme des nun kommenden Untergangs des Traumreichs.

sich wieder, inwiefern die vom Erzähler entwickelte Psychografik gleichermaßen als Form der Bearbeitung von Befremdung wie auch als Ausdruck der Produktivität des Traumhaften verstanden werden kann.

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D ER U NTERGANG DES T RAUMREICHS Eingeleitet wird der Untergang des Traumreichs durch den Einzug der Moderne, die in Gestalt eines weiteren Milliardärs, des Amerikaners Herkules Bell, in der kleinen Stadt erscheint. Er entpuppt sich alsbald als Antipode Pateras; auch, insofern er als »Verkörperung von Materialismus und Rationalismus« (Peters 2008: 113) ein weltanschauliches Gegenbild erzeugt und nach der Herrschaft über das Reich strebt. Bildet die Kleinstadt Perle zunächst ein räumlich, zeitlich und sozial in sich abgeschlossenes Ganzes, so findet nunmehr eine Ausdifferenzierung des Gemeinwesens statt. Diese wird nicht nur durch den ebenfalls zunehmenden »Fremdenzuzug aus dem Auslande« (Kubin 1975: 162) angeschoben, sondern vor allem durch eine Individualisierung und Politisierung der Bevölkerung. Homogenität wandelt sich zu Heterogenität; kommen den Bewohnern des Landes doch nunmehr ihre jeweils differenten Ansichten, Ziele und Lebenslagen zu Bewusstsein: »Vereinigungen und Gruppen schossen wie Pilze in die Höhe. Alle wollten etwas anderes: Wahlfreiheit, Kommunismus, Einführung der Sklaverei, der freien Liebe, direkten Verkehr mit dem Ausland, noch strengere Abschließung, keine Grenzüberwachung – die entgegengesetztesten Bestrebungen traten zutage. Religiöse Klubs bildeten sich, Katholiken, Mohammedaner, Freigeister taten sich zusammen. Nach den verschiedensten Gesichtspunkten, politischen, kommerziellen und höher geistigen, spaltete sich die Einwohnerschaft Perles in Gemeinschaften, die oft nur drei Personen zählten.« (Ebd.)

Mit dieser Ausdifferenzierung geht auch eine Beschleunigung der Lebenswelt einher: »Die Zeit schien ein anderes Tempo angenommen zu haben.« (Ebd.: 164) Die zeitlose Statik weicht einem »beschleunigte[n] Geschehen« (ebd.: 170), das sich auch aus dem vom Amerikaner verfolgten »Parteikampf« (ebd.: 175) ergibt. Verbunden ist diese Beschleunigung wiederum mit einer grotesken Steigerung des Nervenleidens der gesamten Bevölkerung. Sind die Bewohner ohnehin schon von einer erhöhten Sensibilität geprägt, so wird ihr Bewusstsein vom nun erfolgten raschen Wechsel der Eindrücke gänzlich überfordert.47 Geistes- und Nervenkrankheiten sind ebenso massenhaft zu beobachten wie Zügellosigkeiten, Gewalttaten und Selbstmorde (ebd.: 169). Soziale Ordnungsentwürfe fallen dabei gänzlich in sich zusammen.

47 Es scheint gar, als fänden sich zentrale Punkte aus Georg Simmels Aufsatz über die GROSSSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN (1903) von Kubin in zugespitzter Weise auf die kleine Stadt Perle, die nach Ankunft des Amerikaners auch zum Sitz einer um sich greifenden Geldwirtschaft wird (Kubin 1975: 157), projiziert. Zur Nervosität als auch diskursiv erzeugte Mentalität um die Jahrhundertwende siehe Radkau (1998).

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Allerdings wird der Untergang des Traumreichs, dessen Schilderung im dritten Teil gut die Hälfte des Romans ausmacht, nicht allein von außen hervorgerufen. Er ist auch inhärent angelegt – findet er doch sowohl in der Ordnung des Sozialen48 als auch im menschlichen Individuum seine Ursprünge. Verweist der Erzähler schon zu Beginn des Romans auf jene »seltsame[n] Phänomene der Einbildungskraft« (ebd.: 7), von denen in der Nähe Pateras ein ganzes Gemeinwesen befallen werden kann,49 so bestätigt sich dies auch noch einmal innerhalb Perles: »Hier waren Einbildungen einfach Realitäten.« (Ebd.: 63) Im Verlauf der Handlung – der als narrative Scharnierstelle fungierende Traum im Traum kündigt es bereits an – verselbständigen sich diese Imaginationen und entwickeln ein unkontrollierbares Eigenleben. Dabei sind diese Imaginationen, so der Erzähler in seinen kontemplativen Betrachtungen, immer in doppelter Relation zu sehen: zum Sein und zum Nichts. Sie wirken gleichermaßen schöpfend und zerstörend. Das zeigt sich im allgegenwärtigen und alles durchdringenden Patera: »er wollte, unersättlich in seiner Einbildungskraft, immer alles zugleich, die Sache – und ihr Gegenteil, die Welt – und das Nichts. Dadurch pendelten seine Geschöpfe so hin und her. Dem Nichts mußten sie ihre abgebildete Welt abringen, von dieser eingebildeten Welt aus das Nichts erobern.« (Ebd.: 148)

Die Auflösung aller Begrenzungen zwischen Mensch und Tier, Lebewesen und Dingen setzt sich in den nun gestalteten apokalyptischen Untergangsszenen fort. Wird das gesamte Gemeinwesen zunächst von einem sechstägigen Schlaf ergriffen und in den »Zustand vollständiger Bewußtlosigkeit« (ebd.: 180) versetzt, so müssen die Bewohner nach ihrem Wiedererwachen feststellen, dass sie nun in »ernster Gefahr schwebten, verdrängt zu werden« (ebd.: 181) – und zwar von einem in die Stadt vordringenden und sich rasch vermehrenden Tierreich. Aale und Affen, Krokodile und Schlangen, Schakale und Wölfe bedrohen und überfallen die Menschen im Traumreich, das zugleich auch von Insektenplagen im biblischen Ausmaß heimgesucht wird.

48 Dies konstatieren u.a. auch Gerhards (1999: 59) und Innerhofer (2016: 195). Das Traumreich geht ihnen zufolge nicht an »einer feindlichen Modernisierung, Technisierung und Industrialisierung« (ebd.) zugrunde, sondern an dem Versuch, das Vergangene zu musealisieren und als irrationale Gegenwelt zur gegenwärtigen Moderne aufrecht zu erhalten. 49 Was einige Interpreten auch als Sinnbild für die Unterwerfung unter eine absolute (religiöse wie weltliche) Macht deuten, die mittels medialer Techniken eine Synchronizität der Individuen herstellt und dadurch »ein Kollektivsubjekt« (Rücker 2013: 249) erzeugt: »Kubin entwirft in seinem Roman das Phantasma der totalen Sende- und Empfangsbereitschaft.« (Gerhards 1999: 72)

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Abb. 5: Tiere werden zu den »eigentlichen Herren der Stadt« (Kubin 1975: 186)

Kubin (1975: 186)

Mit diesem »animalischen Reichtum« (ebd.: 186) korrespondiert auch ein zügelloser Verfall menschlicher Sitten, der sich in »mancher zerstörerischen Entfesselung der Triebe« (ebd.: 208) zeigt. Orgien und Vergewaltigungen, Bürgerkrieg und Kannibalismus, massenhaft Morde und Massenselbstmorde sind zum alltäglichen Ausnahmezustand geworden. Ist im Traumreich, wie der Bote zu Beginn des Romans ausführt, alles »auf ein möglichst durchgeistigtes Leben angelegt« (ebd.: 10), so erscheint nun der menschliche Leib mitsamt seinen »raffinierten Folterwerkzeugen« (ebd.: 196) als Ursprung und Quelle eines beständigen Wechsels aus Lust und Schmerz, der den Untergang vorantreibt und im rauschhaften Exzess jegliche Form menschlicher Grenzziehung und -setzung aufhebt: »Kein menschliches Wesen konnte sich dem elementaren Trieb entziehen« (ebd.: 208).50 Die Auflösung menschlicher Grenzziehungen und -setzungen umfasst dabei gleichermaßen alle Bereiche des Organischen und Anorganischen, Materiellen und Immateriellen. Speisen verschimmeln (ebd.: 187), Kleider verwesen (ebd.: 190), Häuser fallen in sich zusammen (ebd.: 202). Es ist sowohl der Verlust von »Worte[n], Begriffe[n], Buchstaben« (ebd.) als auch ein Defekt aller Uhren (ebd.: 212) zu verzeichnen. Jegliche Formgebung und Funktionsbestimmung löst sich auf. Der Erzähler beschreibt dies als Zerbröckelung der Dinge:

50 Dabei konstatiert der Erzähler angesichts des allgemeinen Taumels auch einen Verlust »freier Willensbestimmung« (Kubin 1975: 209) und äußert über seine Mitmenschen: »Es waren Automaten, Maschinen, die, in Gang gesetzt, sich selbst überlassen worden waren – der Geist mußte woanders hausen!« (Ebd.)

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»Die Zerbröckelung. – Sie ergriff alles. Die Bauten aus so verschiedenem Material, die in Jahren zusammengebrachten Gegenstände, all das, wofür der Herr sein Gold hingegeben hatte, war der Vernichtung geweiht. Gleichzeitig traten in allen Mauern Sprünge auf, wurde das Holz morsch, rostete alles Eisen, trübte sich das Glas, zerfielen die Stoffe. Kostbare Kunstschätze verfielen unwiderstehlich der inneren Zerstörung, ohne daß sich ein zureichender Grund dafür angeben ließ.« (Ebd.: 187, Hervorh. im Original)

Architektur kann – in ihrer materialisierten wie auch imaginierten Form – gleichermaßen als Medium und Gestalt des Sozialen verstanden werden. Über die Zeiten hinweg und durch die Funktionssysteme hindurch bringt sie gesellschaftliches und individuelles Leben nicht nur zum Ausdruck, sondern stabilisiert es zugleich auch (Delitz 2010, Fischer/Delitz 2009). Sie ist konstitutiv und notwendig für die je konkrete Vergesellschaftung (Delitz 2010: 317); und hält als Erinnerungsmedium nicht zuletzt auch bereits vergangene Gesellschaften anwesend und gegenwärtig (Delitz 2009: 175). Der von Kubin in Szene gesetzte Topos der sterbenden Stadt, der eben auch am Verfall ihrer Bauten sichtbar wird, verweist dabei auf eine allumfassende Desozialisierung, die durch den Wegfall eines den Menschen stabilisierenden wie schützenden Außenhalts (und Erinnerungsrahmens) eingeleitet wird und sich in surrealistischem Setting bis zur existenziellen Grenzsituation und Grenzerfahrung entwickelt. Damit verbunden ist nicht zuletzt auch eine massive Kulturkritik. Die Stationen der sich steigernden Zerbröckelung sind dabei weitestgehend »szenisch skizziert« (Hilmes 2007: 128) und »als Episoden aneinandergereiht« (ebd.). In diesen zunehmend apokalyptischen Visionen verflechten sich Text und Bild in Kubins Roman auf drei Ebenen miteinander (vgl. Schwanberg 1999: 103ff.). Zum Ersten stehen beide in formaler wie inhaltlicher Hinsicht in einem Wechselverhältnis: die jeweils geschilderten Schrecknisse werden visuell (›psychografisch‹)51 in Szene gesetzt und wirken zugleich auch aufgrund ihrer Drastik und Unmittelbarkeit auf das Beschriebene zurück. So findet sich im voranschreitenden Untergang, es fanden bereits Orgien, Massenselbstmorde und Erschießungen statt, etwa eine Illustration der sich daraus ergebenden Leichenberge, die das Vorstellungsvermögen der bisherigen Schilderungen vermutlich noch einmal übertrifft:

51 Dass die formale Entwicklung der Psychografik auch in Bezug auf die schriftstellerische Tätigkeit zu sehen ist, wird an entsprechender Stelle vom Zeichner hervorgehoben – sei dieser Stil doch »mehr geschrieben als gezeichnet« (Kubin 1975: 140).

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Abb. 6: Leichenberge in der Stadt

Kubin (1975: 249)

Ergänzt wird dies auf der dann folgenden Seite von einer narrativen Umschreibung, die eine weitere Steigerung vornimmt – nicht zuletzt dadurch, dass nunmehr auch eine gewisse Farbigkeit in der sonst durchweg nebelig-grauen Welt des Traumreichs hervorbricht: »Von dem hochgelegenen französischen Viertel schob sich langsam wie ein Lavastrom eine Masse von Schmutz, Abfall, geronnenem Blut, Gedärmen, Tier- und Menschenkadavern. In diesem, in allen Farben der Verwesung schillernden Gemenge stapften die letzten Träumer herum. Sie lallten nur noch, konnten sich nicht mehr verständigen, sie hatten das Vermögen der Sprache verloren. Fast alle waren nackt, die robusteren Männer stießen die schwächeren Frauen in die Aasflut, wo sie, von den Ausdünstungen betäubt, untergingen. Der große Platz glich einer riesigen Kloake, in der man mit letzter Kraft einander würgte und biß und schließlich verendete.« (Kubin 1975: 251)

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Zum Zweiten setzt Kubin gerade im Kontext der apokalyptischen Szenen auch Beschreibungen von vorangehenden eigenen und fremden grafischen Werken ein. So sind etwa Menschen- und Tierbilder des Romans auf frühe Zeichnungen des Autors zurückzuführen, die große motivische und thematische Ähnlichkeiten aufweisen (Schwanberg 1999: 104f.) und somit das Groteske, Grauenhafte und Sexuelle des eigenen Frühwerks fortschreiben. Auch finden sich seit 1904/05 in mehrfachen Variationen Imaginationen und Entwürfe einer sterbenden Stadt (Geyer 2008: 77). Als eine solche wird Perle ganz explizit bezeichnet (Kubin 1975: 255). Ein gleichnamiges grafisches Pendant dazu führt Geyer (2008: 77) an und verweist zugleich auf die Erwähnung dieses Motivs in einem Brief Kubins. Dabei zeigen sich in dieser Zeichnung auch gewisse Gemeinsamkeiten in Perspektivierung und Anlage des Großen Platzes in Perle – nur dass dieser in der Roman-Illustration noch als Zentrum des Patera-Kults fungiert und in der zeitlich vorangehenden Grafik bereits komplett verlassen und im Verfall zu sehen ist. Abb. 7: Großer Platz einer belebten Stadt (Roman von 1909) und einer sterbenden Stadt (so auch der Titel der Zeichnung von 1904/05)

Links: Kubin (1975: 75), rechts: Kubin in Geyer (2008: 77)

In dieser Weise ergänzen sich die Szenerien im Gesamtwerk Kubins auch gegenseitig und bilden gewissermaßen einen werkübergreifenden Imaginations- bzw. Erzählzusammenhang. Zum Dritten ist im Verhältnis von Text und Bild schließlich auf all diejenigen Charaktere, Handlungen und Geschehnisse hinzuweisen, die zwar eine zentrale Rolle im Roman spielen, sich zugleich jedoch nicht bildlich dargestellt finden (Schwanberg 1999: 105). So wird etwa Patera, von dem ganz wortwörtlich bereits

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zu Beginn des Romans ein Bild eingeführt wurde (Kubin 1975: 11f.)52 und der immerhin der Herrscher der Traumreichs sowie Jugendfreund des Zeichners ist, erst am Ende des letzten Kapitels (ebd.: 274) visualisiert; die Ehefrau des Zeichners hingegen gar nicht. Ebenso findet sich im Kontext des Mords, den der Amerikaner an einem schlafenden Grenzwächter des Traumreichs ausübt, nicht etwa ein Bild dieser Tat, sondern eines Details der Szenerie visualisiert (ebd.: 245): eine Blendlaterne, die neben dem Stuhl steht und, so könnte man wohl sagen, eben nicht genügend Licht spendete, so dass der sich heranschleichende Mörder schließlich auch nicht entdeckt werden konnte. Gerade die Abwesenheit des Visuellen soll somit zum einen Spannung erzeugen (Schwanberg 1999: 105) und zum anderen auch die Rezipienten zum Bildentwurf herausfordern. Das Zusammenspiel dieser drei Ebenen der Text-Bild-Relation bringt dann auch das Unverständnis des – nunmehr kurz vor dem Selbstmord stehenden – Erzählers und Zeichners angesichts des voranschreitenden Untergangs, der seine »Fassungskraft« (Kubin 1975: 252) bei weitem überschreitet, zum Ausdruck. Dies gilt nicht nur auf ethisch-moralischer Ebene, sondern auch auf kognitiver: Lässt sich doch für die Zerbröckelung eben kein »zureichender Grund« (ebd.: 187) anführen.

M ETAPHYSIK ( IN ) DER K LEINSTADT Die generelle Unverständlichkeit des Traumreichs kann als eines seiner wesentlichen Konstitutionsprinzipien gesehen werden. Sie wird gleich zu Beginn im Bericht des Boten, der sich mit Beschreibungs- und Verständigungsproblemen konfrontiert sieht, erstmals erwähnt und ausgeführt (Kubin 1975: 9f.).53 Diese Probleme ergeben sich zum einen aus dem genuinen Gegensatz von »Normalleben und Traumwelt« (ebd.: 10) und zum anderen – im dann fortschreitenden Verlauf der Handlung – aus der konstitutiven Unverständlichkeit und Unergründlichkeit der Phänomene, die der Erzähler immer wieder anführt (vgl. ebd.: 18, 102, 121, 140, 144, 252, 274). Beide Aspekte führen zu einer sprachlichen Nicht-Repräsentierbarkeit des Traumlands;

52 Und dessen Abbilder auch im weiteren Handlungsverlauf immer wieder erwähnt werden (z.B. Kubin 1975: 24, 244). 53 »Auf die Frage: was geschieht eigentlich im Traumlande? wie lebt man dort? müßte ich schlechterdings schweigen. Ich könnte Ihnen nur die Oberfläche schildern, aber zum Wesen des Traummenschen gehört es ja gerade, daß er in die Tiefe strebt.« (Kubin 1975: 10) Dass diese Tiefe letztlich als grundlos erscheint, wird auch vom Erzähler angesprochen: »Bis auf den Grund sah ich nie, auch später nicht.« (Ebd.: 79)

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was nicht zuletzt auch die Illustrationen sowohl motiviert als auch perspektiviert.54 Kubin, dessen Weltbild und Werk von der Annahme grundlegender polaristischer Prinzipien geprägt ist (Cersowsky 1989: 80, Schwanberg 1999: 119),55 konfrontiert hier, typisch für die fantastische Literatur, zwei »Seinsebenen« (Lachmann 2002: 12) miteinander, die aus einer sichtbaren und einer (zunächst) unsichtbaren Welt bestehen; wobei die unsichtbare zunehmend in die sichtbare vordringt und eine alternative Deutung der Erscheinungen hinsichtlich ihrer zugrunde liegenden Ursachen und Gesetze erfordert. So bildet das Eindringen in das Traumreich für den Erzähler den Beginn eines Entdeckungsprozesses, der ihm »ein ganz neues, unabsehbares Gebiet« (Kubin 1975: 70) erschließt.56 Dieses Gebiet verspricht wiederum genau das, was ihm verlustig gegangen zu sein scheint: eine allumfassende Einheitserfahrung. Menschen, Häuser, Dinge sind, das wird immer wieder betont, nach einer Idee ausgewählt, die zugleich auf das Ganze (vgl. ebd.: 20, 50) abzielt; und auch das Traumreich selbst wird als »Verwirklichung einer Idee« (ebd.: 8) deklariert. Die Entdeckung – oder vielleicht auch nur: Imagination – des verborgenen Ganzen ist verbunden mit einer ins Metaphysische gehenden Suchbewegung, die sich auf der Handlungsebene auch aus dem Staunen heraus verstehen lässt.57 Initi-

54 Die auch dadurch eine eigenständige Bedeutung erlangen, die über das rein Illustrative hinausgeht. 55 Dies gilt sowohl für die im Roman inszenierten Dualismen – u.a.: Traum/Realität, Leben/Tod, Geist/Leib, Fortschritt/Verfall, Einbildungskraft/Nichts – als auch für diejenigen philosophisch-weltanschaulichen Ansätze – u.a.: Wille/Vorstellung (Schopenhauer), apollinisch/dionysisch (Nietzsche) –, die diesen Szenen laut Forschungsliteratur zugrunde liegen und deren Einfluss von Kubin auch in seinen biografischen Schriften angesprochen wird (vgl. z.B. Kubin 1974: 16, 52). Paradigmatisch für die damit verbundenen dialektischen Denkbewegungen, die sich in nahezu eklektizistischer und synkretistischer Zusammenstellung aus einer Vielzahl (lebens-)philosophischer (Julius Bahnsen, Salomon Friedländer, Otto Weininger, Ludwig Klages) wie auch religiöser (insbesondere buddhistischer) Quellen speisen (Ruthner 2004: 5) und von Kubin zu einer »Gebrauchsphilosophie der Ambivalenz des modernen Menschen« (ebd.: 6) geformt werden, steht auch das dem Epilog vorangestellte Zitat von Julius Bahnsen: »Der Mensch ist nur ein selbstbewußtes Nichts« (Kubin 1975: 275). 56 Siehe zur Gegenüberstellung auch: »Es gingen mir hier in dem verödeten Perle Ideen auf, welche mir an den Orten der Außenwelt nie so bewußt geworden wären.« (Kubin 1975: 69) 57 So konstatiert der Erzähler etwa an einer Stelle: »Einer überraschenden Art des Staunens wurde ich fähig.« (Kubin 1975: 146) Dass es sich hierbei um einen Impuls handeln mag, der hinter die Erscheinungen drängt, lässt sich auch mit Verweis auf Aristoteles nachvoll-

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iert wird dieses wiederum durch eine Befremdung und Störung der Wahrnehmung alltäglicher Dinge und Zusammenhänge (vgl. ebd.: 146f.). Seien doch gerade im Alltäglichen und Nebensächlichen, so Kubin in seinen autobiografischen Ausführungen, »des Daseins höchste Werte« (Kubin 1974: 41) zu finden. Die fantastische Kleinstadt Perle ist ein Hort beständiger Irrtümer; in ihr lassen sich Ursachen und Wirkungen nicht in einen Zusammenhang bringen (Kubin 1975: 89), sind Naturgesetze aufgehoben (Polt-Heinzl 1999: 284): »Das bloße Sein, so und nicht anders sein, ward mir zum Wunder.« (Kubin 1975: 147) Angesichts der Zufälligkeit und Kontingenz der Erscheinungen wie auch ihres abrupten Wandels im Prozess einer ständigen Metamorphose – und ihrer damit auch wahrgenommenen Unheimlichkeit – strebt der Erzähler nach einer einheitsbildenden Erkenntnis und Erfahrung, die zumindest zeitweise und in Ansätzen realisierbar scheint: »Aber schließlich ließen alle diese Geschöpfe und scheinbar leblosen Gegenstände, wenngleich durch eine bizarre Laune zusammengebracht, in ihrer Mannigfaltigkeit doch eine unfassbare Einheit durchfühlen.« (Ebd.: 70)58 Allerdings wandelt sich diese Einheitserfahrung mit zunehmendem Untergang des Traumreichs; aus Staunen wird Schrecken. Die Aufhebung der generellen Grenzziehungen droht dabei jeglichen Rest von Individualität zu verschlingen. Der Untergang des Traumreichs stellt das Verständnis des Seins infrage und verlangt die Suche nach Ursachen. Dabei lässt sich, hält man sich an die aristotelische METAPHYSIK, im alltäglichen Verständnis und Sprachgebrauch in vierfacher Weise von der Ursache einer Erscheinung sprechen (vgl. Met. A 3, 983a 26ff.). Dem Erzähler wie auch der Leserschaft der ANDEREN SEITE bleiben jedoch sowohl die Wirk- als auch die Zweckursachen (causa efficiens, causa finalis) der Geschehnisse verborgen. Einerseits wird zwar Patera als Urheber des gesamten Geschehens deklariert, der hinter allem steckt und alles lenkt; er selbst erscheint jedoch als komplett unzugänglich und, so der Erzähler, »unergründlich« (Kubin 1975: 144). Entsprechend sind, andererseits, seine wahren

ziehen. In dessen METAPHYSIK (Met. A 2, 982b 11ff.) heißt es: »Weil sie sich nämlich wunderten, haben die Menschen zuerst wie jetzt noch zu philosophieren begonnen; sie wunderten sich anfangs über das Unerklärliche, das ihnen entgegentrat. Allmählich machten sie auf diese Weise Fortschritte und stellten sich über Größeres Fragen, etwa über die Affektionen des Mondes und die von Sonne und Sternen und über die Entstehung des Alls. Der jedoch, der voller Fragen ist und sich wundert, vermeint, in Unkenntnis zu sein.« 58 Dabei verschränken sich Kubins Arbeit am Roman abermals dessen allgemeine künstlerische Ausrichtungen mit biografischen Erfahrungen und metaphysischen Erkenntnisinteressen. In seiner SELBSTBIOGRAPHIE schreibt er: »Jetzt ergriff mich mehr das allgemeine Leben, das so mysteriös in den Menschen, Tieren und Pflanzen, in jedem Stein, in jedem geschaffenen oder ungeschaffenen Ding webt.« (Kubin 1974: 42)

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Motive und Ziele schleierhaft. Doch nicht nur das: Auch die üblichen Funktionen der Gebrauchsgegenstände und der Architekturen verkehren sich, da diese ein unkontrollierbares Eigenleben bekommen; und als lediglich passiv Erleidende sind die Bewohner des Traumreichs nicht in der Lage, selbst Zwecke zu setzen und zu Urhebern des Geschehens zu werden. Eine ebensolche Unverständlichkeit ist auch bezüglich der Material- und Formursachen (causa materialis, causa formalis) zu konstatieren. Einerseits erscheint bereits das alltägliche Leben in der Kleinstadt bestimmt zu sein von einer »undefinierbare[n] Substanz« (ebd.: 90), die sich zwar leiblich spüren, nicht jedoch verstehen lässt. Andererseits findet nicht nur eine beständige Metamorphose der Dinge und Lebewesen statt; insbesondere in den Untergangsszenen – und vor allem im finalen und ins Mythische wie Metaphysische gesteigerten Zweikampf zwischen Patera und Bell, der den Untergang des Reichs besiegelt (ebd.: 260ff.) und dem Erzähler eine genuine Ambivalenz alles Seienden vor Augen führt59 – zeigt sich eine komplette Auflösung der jeweiligen Formen, die zu einer amorphen Masse verschmelzen (vgl. ebd.: 264). Entsprechend konstatiert der Erzähler: »Ich wusste nichts mehr. – « (Ebd.: 265)

S CHLUSS : » DER

GIGANTISCHE

M ÜLLHAUFEN

EINER

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Die räumliche wie soziale Topografie der Kleinstadt Perle, Hauptstadt des Traumreichs, bildet eine fantastische Versuchsanordnung. Dabei wird sie – gleichermaßen narrativ und visuell imaginiert und in Szene gesetzt – zum Ort des Ausdrucks und der Bearbeitung biografisch-künstlerischer Erfahrungen und Fragestellungen, die ins Anthropologische und Metaphysische weisen und in ihren Gestaltungen selbst auch widersprüchlich und widerspenstig bleiben: DIE ANDERE SEITE ist nicht in sich konsistent und auf einen Nenner zu bringen. Dabei sucht Kubins Roman mitsamt

59 Kommt der Erzähler in seiner Suche nach einem »Urgrund« (Kubin 1975: 148) im Laufe der Handlung immer wieder (z.B. ebd.: 147f.) zu Annahmen dialektisch ineinander verschränkter und dynamisch miteinander agierender Dualismen – »Beherrscht unsere Natur etwa eine Art von Pendelgesetz?« (Ebd.: 132) –, so scheint ihm das im Endkampf zwischen Patera und Bell inszenierte Verschmelzen dieser polaren Prinzipien eine Bestätigung dieses Weltbilds zu vermitteln, die, insofern die Auferstehung aus den Trümmern starke Anleihen am platonischen Höhlengleichnis nimmt (siehe ebd.: 265), auch motivisch als Form der Erkenntnis in Szene gesetzt wird. Entsprechend lautet der im Epilog geäußerte letzte Satz des Romans: »Der Demiurg ist ein Zwitter« (Ebd.: 277, Hervorh. im Original). Diese metaphysische Erkenntnis wirkt sich nicht zuletzt auch auf das Selbstund Menschenbild aus: »Die wirkliche Hölle liegt darin, daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt« (Ebd.: 277)

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seinem Protagonisten auch nach einer Gegenwelt zu den ambivalenten Erfahrungen der Moderne, die unter anderem gekennzeichnet sind von einer übergreifenden Rationalisierung und Materialisierung (des Daseins), Unübersichtlichkeit und Fragmentierung (der Zusammenhänge), Entbettung und Entfremdung (des Einzelnen). Den damit verbundenen Verunsicherungen stellt die Traumstadt zunächst das Versprechen räumlicher, zeitlicher und sozialer Abgeschlossenheit und Überschaubarkeit entgegen – und nicht zuletzt auch die Hoffnung auf eine metaphysische Erkenntnis des Ganzen und Erfahrung seiner Einheit. Allerdings gelingt die FestStellung und Fest-Setzung des Gesellschaftlichen wie Individuellen durch die räumliche Ordnung der Kleinstadt aufgrund von inhärenten Gründen – unter anderem: Anthropomorphismus der Architekturen, Labyrinthhaftigkeit der Räume, Unzuverlässigkeit des Erzählers, Unverständlichkeit des Geschehens, Ambivalenz des Daseins – nicht. Die spezifische Gestimmtheit des Raums korrespondiert dabei mit der spezifisch menschlichen Konstitution des Zeichners wie auch der Bewohner. Beide – sowohl die Stadt als auch der Mensch – erweisen sich, das zeigt die erzählte wie auch visualisierte Fantastik, als ambivalent und unergründlich. Krise und Untergang sind ihnen konstitutiv eingeschrieben; die Moderne ist in ihnen angelegt. Was dabei letztlich übrig bleibt, das ist: »der gigantische Müllhaufen einer Stadt.« (Kubin 1975: 271)

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Mehr als Würste und Schlösser Die Kleinstadt bei Robert Walser J ENS L IEBICH

S PURENSUCHE

IN

W ALSERS K LEINER P ROSA

»Wie Kleinstädte im allgemeinen sind?« (IX: 86)1 Diese Frage ist der Ausgangspunkt eines Walserschen Kurzprosastücks und zugleich der vorliegenden Überlegungen, in denen auf der Suche nach einer Antwort erkennbar wird, dass eine schlicht formulierte Frage nicht immer eine einfache ist – es kommt darauf an, wem sie gestellt wird. Eine Antwort in Robert Walsers Texten zu suchen, mag für einige so naheliegend wie für andere abwegig sein. Naheliegend scheint es, da zum einen ein Erzähler Walsers die Frage selbst formuliert und zum anderen, weil der Autor auf seinen zahlreichen Spaziergängen unzählige Landschaften, Dörfer, Städte und eben Kleinstädte durchstreifte, die ihm anschließend zum Gegenstand literarischer Reflexionen wurden. Hinsichtlich seiner empirischen Erfahrungen scheint es vielversprechend, die eingangs formulierte Frage dem »König der Spaziergänger« (Seelig 1938: 193) zu stellen, wie ihn einst Carl Seelig taufte, der als Freund, Herausgeber und Nachlassverwalter mit Walser und seinem Werk bestens vertraut war. Der Ruf des »geborenen Spaziergängers«, wie es Otto Zinniker (zit. nach Sorg 2015: 152) bereits 1947 formulierte, verfestigte sich. Inzwischen gilt Walser, so William Gass im Jahr 1997, als Verkörperung der »perfekte[n] Streunerpsychologie« (zit. nach ebd.). Dies alles spricht dafür, eine Beantwortung der ›Kleinstadt-Frage‹ auf Grundlage der Walserschen Kurzprosa

1

Die Walserschen Primärtexte werden nach folgender Ausgabe zitiert: Greven, Jochen (1978) (Hg.): Robert Walser. Das Gesamtwerk in 12 Bänden, Zürich und Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Die römischen Ziffern bezeichnen den Band der Gesamtwerkausgabe, die zweite Zahl – hinter dem Doppelpunkt – die Seitenzahl(en).

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anzustreben, die Ausdruck der literarischen Verarbeitung dessen ist, was zuvor auf Spaziergängen, Wanderungen und Ausflügen mit allen Sinnen wahrgenommen wurde. Doch ist es eben diese literarische Verarbeitung, die zugleich das Vorhaben als ein abwegiges erscheinen lassen kann. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit, hier die Vielfalt, den Reichtum und das Spiel der Walserschen Sprache auch nur annähernd veranschaulichen zu können, soll in aller Kürze Charakteristisches zumindest angesprochen werden. Doch auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können, ist Emil Wiedmers 1917 in anschaulicher und treffender Weise formulierte Beschreibung der Walserschen Kurzprosa eine der bis heute gelungensten und verständigsten – hier sei nur ein kleiner Auszug zitiert: »Es [die Texte der KLEINEN PROSA] sind Aufsätze über alles mögliche, manchmal sogar über ein halbes Nichts, so unbedeutend und bescheiden erscheint uns im ersten Augenblick der Gegenstand, dem Walser seine Betrachtungen mit allem Ernst, aller Sorgsamkeit und Behaglichkeit widmet. Das Erste steht neben Hundertstem, das Tausendste und Entfernteste neben Erstem und Nächstliegendem, so verwegen und ungezügelt schweift des Dichters Phantasie im Umkreis der Dinge. [...] Walser schreibt über alles gleich gern.« (Wiedmer 1917: 107)

Betont Wiedmer unter anderem das Abschweifende, Formsprengende und das den Gegenstand der Erzählung Umkreisende, so erscheint es nachvollziehbar, dass bei einem Erzähler, der offensichtlich bewusst nicht fokussiert und dessen Erzählweise mehr dem Nebeneinander eines Bildes als dem Nacheinander eines Textes zu entsprechen scheint, auch gegenüber der Kohärenz keine Verpflichtung besteht: »Er zerhaut ihn [den epischen Faden], auf kürzere oder längere Strecken, flickt ein neues Stück ein, knüpft mit einem Male den ursprünglichen Faden wieder ein und spinnt ihn weiter, unbekümmert um Ordnung, Einheitlichkeit und derartige pedantische epische Forderungen.« (Ebd.: 108)

Anhand dieser kurzen, aber doch für einen Großteil der Kurzprosa-Texte repräsentativen Beschreibung ist leicht einzusehen, dass die ›Kleinstadt-Frage‹ nicht einfach zu beantworten sein wird. Eine kohärente und Ganzheit bildende Kleinstadtbeschreibung, gar im naturalistischen Stil, wird sich bei Walser nicht finden lassen. Besonders schwierig mutet das Unterfangen an, wenn Wiedmer mit folgender Behauptung recht behält: »Das ›Was‹ ist ihm [Walser] vollständig gleichgültig.« (Ebd.) Auf diese Einschätzung wird am Ende zurückzukommen sein, denn selbst wenn dem ›Was‹ nicht Walsers Interesse gilt und seine Erzähler es nicht klar hervortreten lassen, so ist es doch Grundlage für das ›Wie‹ der Darstellung. Und so sollte sich das ›Was‹ in der einen oder anderen zumindest schemenhaften Form abzeichnen. Darauf beruht letztlich die Annahme, die eingangs gestellte Frage, wie

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eine Walsersche Kleinstadt im Allgemeinen beschaffen ist, anhand einer kleinen Auswahl von drei Kurzprosatexten doch beantworten zu können. Untersucht werden nacheinander die Erzählungen REISE IN EINE KLEINSTADT, KLEINSTADT und DIE KLEINSTADT, wobei das Ziel freilich nicht in umfassenden Deutungen liegt, sondern sich auf das Aufzeigen und die Interpretation der für die Fragestellung relevanten Aspekte beschränkt. Somit erfährt vor allem die Darstellungsweise, das ›Wie‹ der Erzählungen, besondere Beachtung und wird jeweils in Funktion zum ›Was‹, dem Dargestellten, untersucht.

R EISE

IN EINE

K LEINSTADT

Als erstes soll die REISE IN EINE KLEINSTADT genauer betrachtet werden. Mit sechs Buchseiten ist sie nicht nur quantitativ eine der längsten Erzählungen in der Walserschen Kurzprosa, sie ist auch eine der formal und inhaltlich komplexesten. Wie bereits angekündigt steht vor allem die Darstellungsweise im Interesse der Untersuchungen, da – wie Emil Wiedmer konstatierte – das Dargestellte für Walser vermeintlich weniger relevant war. Ein zentraler und das ›Wie‹ prägender Aspekt ist die jeweilige Erzählerrolle in den Texten und ihre Funktion für die spezifische Darstellungsweise der erzählten Kleinstadt. Bereits der Titel macht im Vergleich zu den anderen beiden hier noch zu behandelnden Texten auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam: Es ist die einzige Erzählung, in der nicht allein eine Kleinstadt, sondern auch die Reise dorthin angekündigt wird. Da sie bereits an so exponierter Stelle genannt ist, braucht man auf die Erwähnung der Reise im Text nicht lange zu warten: »Nach langer Zeit des Stillgebliebenseins fuhr ich gestern wieder einmal Eisenbahn. Nur schon die Fahrkarte am Schalter einzulösen, gewährte mir Genugtuung. Mit ungemein viel Vergnügen schwang ich mich in den Schnellzug.« (XI: 63) Die einen Tag zurückliegende Reise ist Ausgangspunkt für eine literarische Verarbeitung des Gesehenen und Erlebten sowie einer damit einhergehenden Beschreibung der Kleinstadt. Zumindest wird dies vom Erzähler in einer Art ›Prolog‹ angekündigt, der jedoch zugleich Unsicherheiten und Fremdheit thematisiert. Zunächst reflektiert der Erzähler über die eigene physische und psychische Verfassung, um sich ihrer ausreichenden Stärke angesichts der bevorstehenden Arbeit zu vergewissern: »In mir ist eine anscheinend immer noch wackere Menge von Unermüdetheiten vorrätig. Indem ich mit mehr oder weniger Entschlossenheit auf eine Kleinstadtbeschreibung losgehe [...].« (Ebd.) Die Selbstvergewisserung des Erzählers offenbart zugleich seine Unsicherheit, denn die »wackere Menge von Unermüdetheiten« ist lediglich »anscheinend immer noch« und die Entschlossenheit nur »mehr oder weniger« vorrätig. Die Notwendigkeit einer guten körperlichen

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wie geistigen Kondition zum Verfassen einer Kleinstadtbeschreibung deutet bereits die vom Erzähler erwartete kräftezehrende Anstrengung des Schreibens an und ist zugleich Ausdruck der Sorge, diesen Kraftakt nicht leisten zu können. Unbegründet scheint die Sorge nicht zu sein: Wie die Fortsetzung des oben zitierten Satzes, der die Entschlossenheit zum Ausdruck bringen soll, zeigt, verliert sich die Entschlossenheit im Spekulativen des Konjunktivs: »[...] erlaube ich mir anzumerken, angesehene Witwen mit Söhnen und Töchtern kämen in kleinen Städten leicht vor, und wenn man vom Bahnhof aus gegen eine solche Art von Stadtbild hinzumarschiere, komme man womöglich an einem Dichterdenkstein vorbei, der mit seinen Poesieumwobenheiten eine Gartenanlage verziert.« (Ebd.)

Der Konjunktiv wirkt hier noch irritierend, schließlich gründet die anvisierte Kleinstadtbeschreibung auf einer tatsächlich unternommenen Reise, die zudem nur einen Tag zurück liegt und somit noch frisch in Erinnerung sein dürfte. Schnell wird ersichtlich, dass die Unsicherheiten des Erzählers noch weit größere Kreise ziehen, denn er stellt fest: »Jedes Inland ist stets zugleich auch Ausland, da jeder Einheimische, sobald er sich in fremder Leute Heimatland einheimisch machen will, als Ansiedler oder Ausländer dasteht. Eine Heimat ist für einen Fremden fremdes Gebiet.« (Ebd.) An die Unsicherheit des Erzählers über die eigene körperliche und geistige Verfassung schließt die über den zu beschreibenden Gegenstand an. Die zwar schlüssigen doch abstrakten Überlegungen zu In- und Ausland, zu Fremde und Heimat sowie zur Austauschbarkeit der Begrifflichkeiten, die nur Ausdruck verschiedener Perspektiven sind, lenken den Erzähler erneut vom eigentlichen Vorhaben ab: der Kleinstadtbeschreibung. Das Abschweifen mag auch als Versuch gesehen werden, die erwarteten Schwierigkeiten zumindest aufzuschieben. Um sich ihnen zu stellen, sucht der Erzähler seine Kräfte zu sammeln und ermahnt sich: »Fort jedoch mit Gedanklichkeiten. Ihr, Räumlichkeiten, kommt, bitte, dafür in meine Nähe! Häuser mit Arkaden aus dem ausklingenden sechzehnten und antönenden siebzehnten Jahrhundert zum Beispiel.« (Ebd.) Das etwas verzweifelte »bitte« schwächt den beschwörend anmutenden Imperativ deutlich ab und das hintenangestellte »zum Beispiel« lässt den metrisch schwungvoll aufsteigenden Satz abrupt in sich zusammenbrechen. Ob die »noch wackere Menge an Unermüdetheiten« (ebd.) für die offenbar schwierige Aufgabe genügt? Um das neue Werk beginnen zu können, stützt sich der Erzähler auf offenbar vertraute und erprobte Routinen: »Wie bisher, möchte ich mich auch hier mit geographischen und jahreszeitlichen Angaben nicht befassen, eher mit Würsten und Schlössern.« (Ebd.) Der sonderbaren Ankündigung, sich mit »Würsten und Schlössern« befassen zu wollen, folgt jedoch ein weiteres Zögern des Erzählers. Er lässt den Leser wissen, dass sein »Prosastück solid, will sagen, mittelmäßig zu werden verspricht« (ebd.: 64) und er sich selbstironisch »zur Sorte tapferer Tatmenschen [zählt], die man

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Aktivisten nennt, und für die es keinen fröhlichkeitweckenden Anblick gibt als den, den Furchtsame oder Zögernde unwillkürliche darbieten« (ebd.). Nach all dem Hinauszögern der angekündigten Kleinstadtbeschreibung scheint der Erzähler nun vielversprechend anzusetzen: »Die Kleinstadt, die ich mir zur Zeit vorstelle, in die ich Blicke zu werfen Gelegenheit bekam, besaß ein reizend gelegenes, angenehmen Baustil aufweisendes Kasino.« (Ebd.) Der Leser wird hier erneut stutzig, denn nun spricht der Erzähler von der besuchten Kleinstadt als diejenige, »die ich mir zur Zeit vorstelle« (ebd.). Ohne Hilfe der Vorstellungskraft scheint der Erzähler seine Aufgabe nicht bewerkstelligen zu können. Doch warum? Eine Feststellung Agnés Cardinals in Hinblick auf Walsers Unterscheidung von Leben und Kunst kann hier aufschlussreich sein, denn gerade diese ›Übersetzungsleistung‹ von Leben in Kunst – die Kleinstadtbeschreibung – fällt dem Erzähler so schwer: »Für ihn [Walser] unterscheiden sich Leben und Kunst nur dadurch, daß das Erleben vorerst passiv erduldet werden muß und daß sein Schreiben dann als spontane Reaktion auf das Erduldete erfolgt.« (Cardinal 1991: 79) Im Schreibprozess ist der Erzähler seinem Autor sehr ähnlich, seine Abschweifungen und Umwege erscheinen spontan; und keine Ordnung, Struktur oder Idee scheint die Einzelheiten synthetisierend zu verbinden. Auf diesen Aspekt wird noch wiederholt einzugehen sein. Der Anfang des nächsten Satzes lässt die Verwirrung um die Formulierung der ›vorgestellten Kleinstadt‹ in den Hintergrund treten. Der Erzähler kommt den Lesererwartungen auf eine Kleinstadtbeschreibung wieder deutlich näher: »Im Schloß besichtigte ich gegen Aushändigung einer Eintrittstaxe den sehenswürdigkeitenenthaltenden Rittersaal.« (XI: 64) Solche und ähnliche Informationen, wenngleich anders stilisiert, sind generell von Reisenden über die von ihnen besuchten Orte zu erwarten. Und während der zweite Satz wie ein Lobgesang auf die Schönheit der sich um das Schloss darbietenden Umgebung ansetzt, kündigt eine ungewöhnliche Formulierung erneut den Bruch ins Unerwartete an: »Aussicht, herrliche, pracht- und wundervolle, die ich von hier oben herab genoß, Dir möchte ich mindestens mit der Erlaubnis deines Landschaftsmundes eine flüchtige Zeile widmen.« (Ebd.) Die Personifikation der schönen Landschaft – durchaus nichts Ungewöhnliches bei literarischen Reiseberichten – wird ironisch mit dem ›Landschaftsmund‹ überformt, der mit der bildlichen Assoziation eines Mundes die Überleitung zum nachfolgenden Satz darstellt: »Mit ihrer Glänzigkeit und straffen Rundlichkeit bestachen mich die Würste, die sich im Schaufenster einer Schweinemetzgerei aufhielten, lebhaft.« (Ebd.) Nach dem ersten euphorischen und mit gleich drei Adjektiven die Aussicht preisenden Satz hat der Leser gewiss mit einem anderen Ausblick gerechnet. Dass sich die Überraschung für den Leser durch die Bezeichnung des Landschaftsmundes bereits angekündigt hat, ist freilich nur im Rückblick zu erkennen. In dieser Form der Textentwicklung sah schon Max Brod 1913 ein bemerkenswertes Charakteristikum der KLEINEN PROSA Walsers: »Darin sehe ich das Wesentliche dieses Buches [gemeint ist ein Band mit gesammelten Kleinprosa-

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texten, J.L.], daß es so unbeschwert, so Wort-aus-Wort-folgend, so gleichsam von sich selbst verleitet und immer einer berückenden Wunderstimme, die aus seinem Innern tönt, wie willenlos gehorchend ist.« (Brod 1913: 84) Von der Schweinemetzgerei gleitet der Blick des Erzählers zu einem weiteren Schaufenster und erspäht ein »friedliches Beisammensein« (XI: 64) von Schokolade und Käse. Dem Erzähler entgeht nicht, dass seine Beschreibung der Schauläden wohl nicht den Erwartungen der Leser an eine Kleinstadtbeschreibung gerecht wird, denn er kommentiert: »Hierüber zuckt vielleicht irgendein Leser seine Achseln, während sich ein zweiter durchaus nicht abhalten läßt, ruhig weiterzulesen.« (Ebd.) Viele Walsersche Erzähler neigen zum Kommentieren ihres Schreibprozesses und wenden sich dabei explizit dem Leser zu. Malcom Pender hat diesbezüglich auf zwei wichtige Effekte dieser Erzählerhandlung hingewiesen: »Solche Überlegungen von seiten [sic] des Erzählers zerstören nicht nur die unausgesprochene Übereinkunft zwischen Leser und Autor, daß die Geschichte nicht fiktiv ist, mit dieser Technik bringt der Autor auch die Schwierigkeiten und Probleme des Erzählens zur Sprache und unterminiert die Autorität des Textes als Bezugsfeld für die Realität der Außenwelt.« (Pender 1991: 18)

So selbstverständlich wie der Erzähler die Lebensmittel im Schaufenster einer Erwähnung für wert erachtet, so selbstverständlich ist es ihm folglich, darüber keine Rechenschaft abzulegen. Das Kleine und scheinbar Nebensächliche wird vom Erzähler mit der gleichen Aufmerksamkeit und Wertschätzung bedacht wie das Große und scheinbar Gewichtigere. Das Nebeneinander trägt zur Auflösung jedweder Dominanzverhältnisse im Text bei – besonders augenscheinlich wird es am herrschaftlichen Schloss, das für den Erzähler nicht interessanter und relevanter ist als die Würstchen im Schaufenster der Metzgerei. Die ohnehin schon mosaikartige und eine klare Erzählstrategie vermissen lassende Darstellungsweise, die durch ständige Ablenkungen und Abschweifungen des Erzählers verhindert, dass der Text als eine Darstellung der realen Welt wahrgenommen wird, zersetzt zunehmend auch die Illusion einer in sich geschlossenen fiktiven Welt. Indem immer wieder auf den eigenen Schreibprozess aufmerksam gemacht und somit die Konstruiertheit der erzählten Welt betont wird, zeigt sich ihre Instabilität. Angesichts dieser Vorgehensweise des Erzählers kann von einer ästhetischen Dekonstruktion des erzählerischen Kontinuums gesprochen werden. Besonders anschaulich wird dies unter anderem am Unterbrechen der Erzählung, um dem Leser gegenüber Rechenschaft über das Schreiben abzulegen:

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»Im übrigen findet der Hersteller vorliegender Notiz seine Lebensaufgabe, die darin besteht, die Mitwelt und Jetztzeit stets von neuem zu überzeugen, daß er, wenn er schriftstellert, dies tatsächlich tut und nicht nur flunkert oder faselt, manchmal fad, müheselig und undankbar genug, und er ruft aus: ›Wie beneide ich Menschen, die nicht kurzweilig zu sein verpflichtet sind.‹« (XI: 64)

Der Anspruch auf kurzweilige Texte, der stete Kampf um die Anerkennung des Lesers, die Mühsal und Undankbarkeit der Arbeit – all dies kennzeichnet für den Erzähler das Handwerk des Schreibenden und wird zur drückenden Last – eine Last, die erneut das Hinauszögern der Kleinstadtbeschreibung rechtfertigen mag. Auch den eigenen Schreibstil sieht sich der Erzähler gezwungen zu verteidigen: »Ich vernachlässige absichtlich, d.h. instinktiv seit einiger Zeit den sogenannten Elegantismus hinsichtlich der Schreib- und Denkweise, um ihn mir einigermaßen zu erhalten, da sich besonders alles Feine schnell abnutzt.« (Ebd.: 64f.) Die ironisch-paradoxe Bemerkung birgt einen wahren Kern. Ironisch-paradox ist die Gleichsetzung des eigentlichen Widerspruchs von ›absichtlich‹ und ›instinktiv‹ – ein absichtliches Vorgehen geschieht in vollem Bewusstsein, ein vom Instinkt gesteuertes umgeht es. Die Absage an den »Elegantismus« teilt der Erzähler mit seinem Autor, denn »[w]arm, gut und schlicht sein schätzt er höher als den schönsten und vornehmsten Stil« (Seelig 1938a: 188). Angesichts der stilistisch und thematisch sehr heterogenen Textgestaltung und der aus ihr resultierenden ›Brüche‹ ergibt sich folglich keine ›elegante, fließende Textbewegung‹. Diese mäandrische Gestaltungsweise des Textes folgt jedoch getreu den spontanen Gedankengängen des Erzählers, der sich bei allem Abschweifen und Aufschieben redlich zu bemühen scheint, die zahlreichen kleine Geschehnisse, Gedanken und Beobachtungen, die sein Leben gestalten, schriftlich festzuhalten. Agnès Cardinal hat in ihrem Aufsatz zu Widersprüchen und kulturellen Paradoxien in Walsers Werk ebenfalls auf die Schwierigkeit der Gestaltung von Erinnerungen hingewiesen. Wenngleich sie von Walser spricht, so trifft es hier auch auf dessen Erzähler zu, der ebenfalls seine erinnerte Reise aufschreiben möchte. »Diese Erfahrungsanalyse erstreckt sich über die ganze Skale seines [Walsers] persönlichen Bewußtseins: Intellektuelle Spielerei, Spekulation und Maskerade folgen auf Anekdoten und Träumereien. Beschreibungen von Gefühlszuständen und Launen, von Landschaften und Städten werden dicht ineinander verwoben.« (Cardinal 1991: 79)

Cardinal beschreibt hier sehr treffend die Vorgehensweise Walsers beim Schreiben seines Werks, das er wie »eine Art Tagebuch« (ebd.: 78) gestaltet; wodurch sich diese Beobachtung zumindest auch auf den Erzähler der REISE IN EINE KLEINSTADT übertragen lässt. So zutreffend die Beschreibung der Vorgehensweise beim Schrei-

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ben ist, so ist sie zugleich Reaktion auf etwas – doch darauf geht Cardinal nicht mehr ein. Ausgehend von der bereits eingangs formulierten Überlegung, dass das ›Wie‹ bei Walser Aufschluss über das ›Was‹ gibt, führt die mosaikhafte Darstellungsweise zur ästhetischen Dekonstruktion. Diese Dekonstruktion des erzählerischen Kontinuums kann wiederum als durchaus adäquater Ausdruck eines zweifelnden Erzählers gedeutet werden, dem es nicht möglich ist, sich die als unüberschaubar wahrgenommene Welt anzueignen. Dem unaufhörlichen In- und Übereinander der Geschehnisse des Lebens – so natürlich auch des Lebens in der Kleinstadt – ausgeliefert zu sein und sie literarisch nicht hierarchisieren und ordnen zu können, mag ein Indiz dafür sein, warum der Erzähler »ins Haus eines kleinstädtischen Kaufmannes [eilt]« (XI: 65). In dem übersichtlichen Anwesen trinkt er den traditionellen Vieruhrtee und benimmt sich »artig, manierlich, gutmütig, als sei ich nie etwas anderes als ein biederer, zuverlässiger, anstelliger, brauchbarer Bezirksbewohner gewesen« (ebd.). All dies suggeriert Überschaubarkeit, Tradition, Stabilität in einer sich verändernden Welt. Doch außerhalb des kleinen Kaufmannshauses sind die Veränderungen längst angekommen. Die Veränderungen kündigen sich bereits »während der Fahrt in die Kleinstadt« (ebd.) an, wo der Erzähler auf einen »Europäer« (ebd.) traf; im Gegensatz zum fehlenden »Elegantismus« (ebd.) des Erzählers zeichnet sich dessen »Europäismus an einer gleichsam behaglich sprudelnden Sprachgewandtheit« (ebd.) aus. Dass der Europäer wie ein »gewöhnlicher [...] Mensch« (ebd.) gekleidet war, erklärt sich der Erzähler durch den einfachen Umstand, dass eine »kleine Stadt [...] ja ebenso gut und unverkennbar in Europa [liegt] wie jede große und größte« (ebd.). Diese Feststellung mutet zunächst etwas banal an, doch die Reichweite ihrer Konsequenzen für die Erzählung ist bedeutsam. Die Kleinstadt als Teil eines viel größeren Raumes zu erkennen, bedeutet, sie nicht länger als abgeschlossenen geographischen Raum wahrzunehmen, was zugleich die Beantwortung der Frage nach dem ›Allgemeinen‹ einer Kleinstadt nicht vereinfacht. Nach dieser Erweiterung des räumlichen Horizonts ist es für den Erzähler naheliegend, die Kleinstadt auch zeitlich in einen größeren Kontext einzuordnen: »[...] doch ich komme nun, mich meines Schloßbesuches erinnernd, aufs Mittelalter zu sprechen.« (Ebd.) Allerdings wird der Exkurs ins Mittelalter ebenso abrupt unterbrochen wie er begonnen hat: »Burgen wurden nicht um des Stolzes, sondern um der Nützlichkeit willen errichten. Einmal, vor bereits vielen Jahren, stand ich vor dem Grabmal einer Gräfin.« (Ebd.) Die erwartete Folge wird abermals unterbrochen und das Grabmal einer bisher nie erwähnten Gräfin angesprochen, wobei die erste Erwähnung ihrer Person auch die letzte ist. Der Gedanke einer historischen Einordnung, die eine Kleinstadtbeschreibung abermals deutlich erschweren würde, wird sozusagen mit der Gräfin zu Grabe getragen. Das wachsende Bewusstsein für die ohnehin früh vorhergesehenen Schwierigkeiten der selbstgestellten Aufgabe führt zu einer überraschenden Offenheit des

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Erzählers. Er spricht explizit den Grund für sein ständiges Umschwenken auf tatsächliche, assoziierte bzw. erinnerte Nebenschauplätze an: »Ich erwähne das [das Grabmal der Gräfin] einstweilen, um den sich vor mir auftürmenden Schwierigkeiten zunächst auszuweichen.« (Ebd.) Das eingestandene Ausweichen mutet in den nachfolgenden drei Sätzen, die in keinerlei erkennbaren Zusammenhang zueinander stehen, gar slalomartig an: Gerührt spricht der Erzähler von der Ähnlichkeit zwischen Mädchen und Schlössern, beteuert ferner den »Damenschuhabsatzianismus« (ebd.) in »Bälde oder Kürze herzlich gern« zu berücksichtigen und versichert sich selbst, den »Salonton« (ebd.) im Kaufmannshaus spielend beherrscht zu haben. Anschließend wird das »Ritterlichkeitszeitalter« (ebd.) wieder aufgenommen. Der Versuch einer Rückbesinnung auf das eigene Thema findet keinen Halt im Strudel der Assoziationen, denn nun scheinen dem Erzähler »Worms, Ravenna, Byzanz [...] weitere erwähnenswerte Städtenamen in bezug auf mein Thema zu sein« (ebd.: 66) und »[die] Frage macht sich geltend: wie sah das Leben in den damaligen Kreisen aus?« (ebd.). Nach nur wenigen Zeilen zu immens reichen Herren, deren Einfluss der Erzähler in eben jenen Städten vermutet, stellt sich ihm eine neue Frage: »Ferner beschäftigt mich die gewiß an sich nicht uninteressante Frage, was man zu Hause auf der Wanderung, zu Land und zu Wasser, in Zelten oder auf Schiffen aß, Gesottenes oder Gebratenes?« (Ebd.) Der Frage nach dem Gesottenen oder Gebratenen geht der Erzähler nicht mehr nach, denn schon drängt sich ihm die nächste auf: »Die fragwürdige Frage taucht nun vor mir auf, welcher Sprechweise bedienten sich beispielsweise Schloßfrauen um jenen Zeitpunkt?« (Ebd.) Die Fragen werden freilich nicht beantwortet, wie der angestoßene erste Stein einer Dominosteinkette führen sie nur noch zur nächsten Frage. In Form eines Resümees formuliert der Erzähler: »Mir scheint, in kleinen Städten seien die Mädchen mädchenhafter, die Spielsachen spielerischer, die Theatervorstellungen theatralischer als anderswo.« (Ebd.: 67) Doch nur der Form nach scheint es ein Resümee zu sein, denn weder hat er zuvor die Mädchen noch die Spielsachen thematisiert. Und wenngleich er gewiss nicht über die Theatervorstellungen im Allgemeinen sprechen kann, so mag er zumindest das eine von ihm besuchte Theaterstück beurteilen können, dem nun seine Aufmerksamkeit gilt: »Irre ich mich nicht, so betitelte sich die Dichtung: ›Die Rivalen‹.« (Ebd.) Die noch geringe Abweichung vom eigentlichen Titel sowie die anschließende Beschreibung der Theaterhandlung lassen schnell erkennen, dass es sich um Schillers DIE RÄUBER handelt. Die Aufführung verdient nach Ansicht des Erzählers »die Note ›prachtvoll‹, indem sie, was Kostümierung anbelangt, in Samt und Seide glänzte und zum Teil hoch zu Roß einherritt« (ebd.). Neben den eindrucksvollen Kostümen und Bühnenszenarien finden auch die Schauspielleistungen gefallen. So »erquickte« (ebd.) die Heldin, also Amalia, »die Anwesenden durch Gediegenheit, womit ich nachgiebige Standhaftigkeit und unerschütterliches Anpassungstalent meine« (ebd.). Auch die Gebrü-

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der Moor, wenngleich auch sie namentlich nicht genannt und nur als »intelligenter Spitzbärtiger« (ebd.) (Franz) bzw. »sich auf seine Kraft stützender Vollbärtiger« (ebd.) (Karl) beschrieben werden, überzeugen den Erzähler. Bemerkenswert ist vor allem seine Deutung vom Ende des Theaterstücks – denn nur aus diesem Grund scheint es überhaupt erwähnt worden zu sein. Nach erfolgter Abrechnung kommt »der Sieger oder Unterdrückersüberwinder jubelnd und glücksstrahlend« (ebd.: 67f.) nach Hause, wo ihn seine Ehefrau empfängt und die Freude nicht teilen kann, dafür jedoch mahnende Worte findet: »[...] sie traue seinem Glück keineswegs, ihr sei es bang um ihn. Der Freiheitsheld erbleichte, denn er fühlte mit einmal tief, seine Gattin gebe etwas Wahrem geziemenden Ausdruck. In der Tat sehen sich Helden lieber in der Mühsamkeit, bei ihrer Arbeit, wenn, was sie bezwecken, noch nicht vollführt ist, als auf dem Gipfel der Zielerreichtheit, wo sie sich nicht wohlaufgeboben vorkommen.« (Ebd.: 68)

Inzwischen kann von einem Unterbrechen des Erzählflusses kaum mehr die Rede sein, denn dieser konnte sich nach den anfänglichen Verzögerungsstrategien nie entwickeln. Doch die Begeisterung für das Schillersche Theaterstück und die ›prachtvolle Aufführung‹ sind gerade am Ende der nie geschriebenen Kleinstadtbeschreibung wohl platziert. Der Freiheitsheld, der sich in der Mühsal seines Kampfes besser aufgehoben fühlt als auf dem Gipfel seines Erfolges, kann als theatralische Anspielung auf den Erzähler selbst gelesen werden. So wie sich erster »auf seine Kraft stützen« (ebd.: 67) kann, stützte sich anfangs auch der Erzähler auf seine »noch wackere Menge von Unermüdetheiten« (ebd.: 63). Die vom Erzähler zitierte Szene der RÄUBER könnte – wenn man die Gesetze der Tragödie ausblendet – zu diesem Zeitpunkt noch zum Erfolg führen; also zur erhofften Rückkehr in die bürgerliche Existenz. Doch wer das Stück kennt, weiß, dass Karl am Ende da scheitert, wo er sich seinem Erfolg am nächsten glaubt: in der vom Erzähler beschriebenen Szene. Anschließend nimmt die Katastrophe unaufhaltsam ihren Lauf: der Tod des Vaters vor Entsetzen über die Räuberexistenz seines Sohnes, die Ermordung Amalias durch ihren geliebten Karl und dessen bevorstehende Hinrichtung, da er sich der Justiz übergeben lassen möchte. Statt mit einem ›Erfolg‹ endet das Stück genretypisch in der Katastrophe. Das bisherige Nichtzustandekommen der Kleinstadtbeschreibung stellt für den Erzähler jedoch keineswegs ein Scheitern dar, denn anders als Karl befindet er sich noch immer im Kampf – beim Schreiben – und dies ist der wahre Platz des Helden.2

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Auch in anderen Walser-Texten, so zum Beispiel im Romanfragment THEODOR, wird vom Erzähler für das schwierige Handwerk des Schriftstellers ein hoher Status in

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Vom besuchten Theaterstück leitet der Erzähler zu »einem beinahe dramatisch anmutenden Auftritt« (ebd.: 68) im »obenerwähnten Kaufmannshaus« (ebd.: 68) über. Er wohnte dort einem Streit zwischen der hübschen Haushälterin und der Geschäftsvorsteherin bei. Letztere, die sich »mehr durch Tüchtigkeit als durch Vorzüge des Äußeren« (ebd.: 68) hervortat, drohte wütend ersterer einen »Denkzettel« (ebd.: 68) an, »wobei sie eine ohrfeigelige Handbewegung machte« (ebd.: 68). Der Hausherr muss ermahnend in den Streit zwischen den beiden Frauen eingreifen: »›Ereifere dich nicht‹, befahl er der Schönen, erwägend, daß die Schönheit kommandiert sein will. ›Ich hoffe, du werdest dich zu mäßigen wissen‹, wandte er sich gewandt an die andere.« (Ebd.) Zunächst scheint der »dramatisch anmutende Auftritt« (ebd.) nur die Erinnerung an einen banalen Streit zwischen zwei Frauen zu sein, der dem Erzähler durch den Theatertitel »Die Rivalen« (ebd.: 67) wieder in den Sinn kommt. Unter Berücksichtigung der Deutung des Erzählers als eines mit dem Text kämpfenden Helden können die beiden Rivalinnen auch als Personifikationen für eine Rivalität ganz anderer Art gesehen werden. Aufschlussreich ist dabei das Kompositum »Denkzettel« (ebd.: 68), denn es verbindet die Tätigkeiten ›denken‹ und ›schreiben‹, es ist das Ergebnis der Verschriftlichung von Gedanken – so wie es die Kleinstadtbeschreibung auch sein würde. Die erhobene Hand mag in diesem Zusammenhang als Hinweis auf die Schreibhand verstanden werden, die eben den ›Denkzettel‹ – im wortwörtlichen Sinn – verfasst. Der Streit zwischen den beiden Frauen, wovon die eine explizit als »hübsch« (ebd.), die andere jedoch als »tüchtig« (ebd.) beschrieben wird, kann als Allegorie des Widerstreits zwischen Inhalt / Gedanke und Form / Schrift verstanden werden. Bezeichnenderweise möchte die Tüchtige der Schönen eine Ohrfeige geben. Tüchtig war auch der Erzähler, seine Bemühungen sind deutlich, doch die angekündigte Kleinstadtbeschreibung bleibt er trotz seines Fleißes schuldig. Ein eleganter, kohärenter, fließender Text – also ein schöner Text – entsteht nicht, denn schließlich hat der Erzähler absichtlich bzw. instinktiv – das Paradox lässt sich nicht auflösen und zeigt die Unsicherheit des Erzählers – dem »Elegantismus« (ebd.: 64) abgeschworen, doch gerade hier hätte das ›Schöne‹ zu finden sein können: In den fließenden, schlüssigen Übergängen des Gesehenen und Erlebten, die zusammen ein ›schönes‹ Bild der Kleinstadt zeichnen. Am Ende der Erzählung ruft der Hausherr – also der Erzähler – die Schöne und die Tüchtige zur Mäßigung auf: »Indem sich beide Verfeindete hier vertraulich zurechtgewiesen, dort jedoch auf eine heitere, gewinnende Art aufgemuntert sahen, schienen sie wieder zufrieden miteinander.« (Ebd.: 68) Der mosaikartig gestaltete Text mitsamt seinen zahlreichen Vermeidungsstrategien des Erzählers, die allesamt darauf abzielen, die Kleinstadtbeschreibung aufzu-

Anspruch genommen, »während er gleichzeitig ständig auf die fragwürdige Natur des von ihm geschaffenen Produkts hinweist« (Pendler 1991: 18).

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schieben, sowie die kontinuierliche und mit dem allegorisch dargestellten Widerstreit zwischen Form und Inhalt auf die Spitze getriebene ästhetische Dekonstruktion des erzählerischen Kontinuums erzeugt eines dieser Sprachlabyrinthe, das Agnés Cardinal in seiner Wirkung treffend beschrieben hat: »In den Sprachgewinden des Dichters begibt sich auch der Leser auf eine Entdeckungsreise, auf der zwar jede Entdeckung immer wieder ausbleibt, bei der aber schließlich die Reise selbst zur Entdeckung wird. [...] Walser [verstrickt] sich und seinen Leser in ein Spiel mit Sprache und Deutung, dessen Regeln nie ergründet werden können, der Leser wird im selben Labyrinth der Widersprüche immer weiter herumirren, dem schon Walsers eigene schöpferische Kraft entsprang.« (Cardinal 1991: 85)

Zugleich darf nicht übersehen werden, dass das ›Ausbleiben von Entdeckungen‹ wie es Cardinal formuliert, so jedoch nicht zutreffend ist, denn gerade dieses ›Ausbleiben‹ wurde sprachlich gestaltet, worauf sie mit »Sprachgewinden« und »Labyrinth der Widersprüche« selbst hinweist. Somit ist das vermeintliche ›Ausbleiben‹ bereits Ausdruck von Entdeckungen und daher im Grunde das Gegenteil: Es ist der Versuch des Erzählers, die Omnipräsenz der das Leben gestaltenden Ereignisse in ihrem gleichzeitigen Nach-, Neben-, In- und Übereinander hierarchielos darzustellen. Die Dominanzverhältnisse der Erzählung werden weitestgehend aufgelöst, das Detail im Text dient nicht länger der alles überlagernden und ordnenden Textstruktur. In dieser Form kann die Erzählung wie eine Preisung der unzähligen Einzelheiten und Wahrnehmungen des Lebens gelesen werden – wobei keine wichtiger als die andere ist.

K LEINSTADT KLEINSTADT ist bereits augenscheinlich ein sehr auffälliger Text. Mit anderthalb Buchseiten ist er einer der kürzesten, besteht jedoch bei nur sechs Absätzen aus fünf Hypotaxen. Doch zunächst soll nur der Anfang der Erzählung betrachtet werden: »Selten sahen meine Schönheit allzeit mit Vergnügen einsaugenden Augen ein herziger und niedlicher gelegenes Städtchen« (XII: 184), heißt es dort zu Beginn. Der Erzähler hat offenbar einen sehr positiven Eindruck von der Kleinstadt, wobei sich das ›Herzige‹ und ›Niedliche‹ nur auf die Lage des Städtchens bezieht, die allerdings nicht weiter konkretisiert wird. Ob sich der positive Eindruck des Erzählers bestätigt und ›herzig‹ und ›niedlich‹ noch auf weitere Aspekte zu beziehen sind, wird noch aufzuzeigen sein.

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Auffällig und von besonderer Bedeutsamkeit ist der allwissende Erzähler. Ein solcher hat typischerweise Kenntnis von Gefühlen, Gedanken, Intentionen, Hoffnungen sowie von Vergangenheit und Zukunft. Darüber hinaus ist er nicht an einen Ort gebunden, sondern kann ›Ohr- und Augenzeuge‹ von Szenen sein, die gleichzeitig an getrennten Orten stattfinden: »Während in den Innenräumlichkeiten eines prosperierenden Handelshauses ein Angestellter unverdrossen Eintragungen in die und die Bücher machte, die ein respektweckendes Format aufwiesen, lustwandelte ein aus seiner lorbeerumkränzten Laufbahn heimgekehrter Musiker, der von neuem herzuwandern im Sinne hatte, auf einen Hügel hinauf, wo verabredungsgemäß eine schöne, aber nicht hübsche junge Frau auf den Lebenskünstler wartete, dessen Komponistenkopf tonreich von melodiösen Locken umrahmt war. Ob sie zusammen das Weite in umschlungener Vereinigtheit aufsuchen wollen, fragte er die Dastehende, die wünschte, sie stehe bald anderswo.« (Ebd.: 184f.)

Der allwissende Erzähler verkörpert keine in der erzählten Welt auftretende Figur und ist auch zeitlich und räumlich stets omnipräsent. Dabei suggeriert die hypotaktische Verschachtelung der Informationen das zeitliche Nebeneinander der Geschehnisse in der Kleinstadt, die auf formaler Ebene adäquat widergespiegelt werden. Zudem unterstützt diese Struktur des Nebeneinanders die Vorstellung von der Omnipräsenz des Erzählers, der allen Geschehnissen beiwohnt. Das Nacheinander einer textlichen Darstellung kann der vom Erzähler wahrgenommenen Wirklichkeit mit ihren sich überkreuzenden, überlagernden und parallel laufenden Gleichzeitigkeiten nicht gerecht werden. Der Versuch, die Gleichzeitigkeiten des (Kleinstadt-)Lebens annährend adäquat im Nacheinander des Textes darzustellen, führt zu einem In- und Übereinander der Informationen und damit des Textes selbst. Obwohl nun dem allwissenden Erzähler als Vermittlungsinstanz eine entscheidende Funktion zukommt, tritt er als ›Ich‹ fast völlig hinter die Geschehnisse zurück und erwähnt sich selbst lediglich ein einziges Mal zu Beginn der Erzählung. Und selbst diese Erwähnung geschieht so diskret wie möglich, indem sich das Ich nicht durch das Personalpronomen, sondern lediglich durch den Possessivartikel zu erkennen gibt: »meine Schönheit allzeit mit Vergnügen einsaugenden Augen« (ebd.: 184). Bezeichnenderweise bezieht sich der Possessivartikel auf die Augen des Erzählers und deutet somit bereits auf seine Rolle als Beobachter hin. Wenngleich sich der Erzähler diskret zurücknimmt, er im In- und Übereinander des Textes gar zu verschwinden scheint, so muss doch festgehalten werden, dass die stille Beobachterrolle nur eine scheinbare ist. Bereitwillig gibt er dem Leser intimes Wissen über die auftretenden Personen preis, so dass die Frage nach dem Grund zu stellen ist.

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Um die hier wichtige Frage nach einer Bestätigung für das ›Herzige‹ und ›Niedliche‹ zu beantworten, das sich wiederum unmittelbar auf die Deutung der Kleinstadt auswirkt, sei ein kleines Gedankenexperiment gestattet. Welchen Unterschied würde es machen, statt der vielen Erläuterungen, Vor- und Rückblenden des Erzählers eine ausschließlich auf seinen Beobachtungen basierende Erzählung zu lesen – der Erzähler also kein auktorialer, sondern ein personaler wäre? Neben dem stillen Beobachten sei ihm noch das Mithören der stattfindenden Gespräche gestattet, denn den Kern dieser Erzählung machen die Begegnungen zwischen den Männern und Frauen aus. Der Erzähler würde zunächst auf einem sonnigen Platz eine junge Frau sehen, die mit einem herablassenden Lächeln die verliebten Hoffnungen ihres jungen Verehrers zunichtemacht. Anschließend könnte er ein junges Paar auf einem Hügel beobachten, wobei der junge Mann der Frau den Vorschlag unterbreitet, mit ihm fortzugehen, woraufhin sie ihren Kopf an seine Schulter legt. Die Frau, die anfangs dem jungen Mann einen Korb gegeben hat, würde nun in einem zweckmäßig möblierten Zimmer einen Mann umarmen; und das eben noch auf dem Hügel stehende Pärchen säße in verliebter Umarmung in einem Zug und verließe die Kleinstadt. Diese vier Szenen sind der Kern der Erzählung und gewiss ließen sie sich ausschmücken, in hypotaktischen Sätzen kunstvoll ineinander verwinden und könnten aufgrund der beobachteten Zuneigungen auch als ›herzig‹ und ›niedlich‹ gewertet werden. Lediglich das ›herablassende Lächeln‹ der jungen Frau wirkt zunächst störend, doch da sie dem Augenschein nach bereits vergeben ist, mag es rückblickend mit den kleinstädtischen Werten und Moralvorstellungen wohlwollend als Ausdruck der Treue verstanden werden. Gewiss wären es ganz alltägliche Beobachtungen, doch das Niedliche und Herzige braucht das Besondere nicht. Die positive Wertung der Kleinstadt könnte somit nicht nur mit der Lage des Städtchens, sondern auch mit den beobachteten und rührenden Zweisamkeiten seiner Bewohner begründet werden. Für eine rein deskriptive Darstellung würde bereits ein personaler Erzähler genügen – warum dann ein auktorialer? Um dieser für die Darstellung der Kleinstadt sehr wesentlichen Frage nachzugehen, ist zunächst ein genauerer Blick auf das vom Erzähler Mitgeteilte notwendig, das über das Augenscheinliche hinausgeht. So spricht der Erzähler nicht allein von Männern und Frauen; er spezifiziert sie und bleibt dennoch im Allgemeinen: »ein stiller Träumerischer« (ebd.), »eine junge Gebildete, die Schriftstellerin zu werden trachtete« (ebd.), ein »Angestellter« (ebd.), ein »heimgekehrter Musiker« (ebd.), ein »Lebenskünstler« (ebd.), eine ›Bürgermeistergattin‹ (vgl. ebd.), eine »angehende Verfasserin von weite Verbreitung findenden Büchern« (ebd.: 185), ein »Literaturprofessor« (ebd.) und letztlich die Person eines »Uhrmachers« (ebd.). Es sind Hinweise auf Charakter und Gemüt sowie auf den aktuellen oder angestrebten sozialen Stand. Damit wird freilich keinen Individuen Kontur verliehen, sondern es

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werden Spielfiguren für eine kleine Sozialstudie skizziert. Somit fügt sich diese Erzählung in Hinblick auf die Figurengestaltung reibungslos in Walsers Gesamtwerk ein, so wie es Agnès Cardinal deutet: »Vergebens sucht man hier nach objektiv geschaffenen Charakterstudien und sorgfältig entwickelten Idee-Strukturen.« (Cardinal 1991: 79) Doch zurück zur Frage nach der Notwendigkeit eines allwissenden Erzählers. Dieser setzt den Leser nur nach und nach über Zusammenhänge in Kenntnis, die rückblickend das bereits Erzählte in einem anderen Licht erscheinen lassen. So beginnt die Erzählung mit der Beobachtung eines »stille[n] Träumerische[n]« (XII: 184), der »eine junge Gebildete, die Schriftstellerin zu werden trachtete, auf offenem, sonnenbeschienenem Platz bat, ihm sagen zu wollen, ob er sich in bezug auf ihre hervorragende Person Hoffnungen machen dürfe. Indem sie gütig und herablassend lächelte, antwortete sie: ›Nein, mein Schatz‹, auf welchen Bescheid hin er mit ungekünstelter Unwillkürlichkeit errötete« (ebd.).

Erst in der zweiten Hälfte verrät der Erzähler dem Leser, dass die junge Frau ihrem Verehrer nur »die Rolle einer Ablehnenden gespielt hatte« (ebd.: 185) und folglich – so darf geschlussfolgert werden – womöglich an dem ›stillen Träumerischen‹ nicht uninteressiert war. Ein Hinweis, warum sie sich dennoch gegen ihn entschieden hat, mag mit der erneuten Vorstellung ihrer Person als »angehende Verfasserin von weite Verbreitung findenden Büchern« (ebd.) zu finden sein. In diesem Satz wird kein Wunsch mehr formuliert, sondern eine Gewissheit, da der allwissende Erzähler auch die Zukunft kennt. Der Wunsch nach schriftstellerischem Erfolg, so darf weiter vermutet werden, trieb sie in die Arme des Literaturprofessors, dessen Arbeitsethos durch sein Arbeitszimmer veranschaulicht wird und in dem bezeichnenderweise die Umarmung der beiden zu beobachten ist. Mit der auffälligen Beschreibung des Raumes als ein »verhältnismäßig praktisch und vernünftig möblierte[s] Zweckhaftigkeitszimmer« (ebd.) rücken zugleich Attribute in den Blick des Lesers, die nicht mit einer romantischen Vorstellung von Literatur und Liebe in Einklang zu bringen sind und auch nicht als ›herzig‹ oder ›niedlich‹ gelten können. Praktisch, vernünftig, dem Zweck dienend – so könnte auch die Entscheidung der jungen Frau zugunsten des Professors begründet sein. Ein weiteres Indiz, dass die Entscheidung wider den einen und für den anderen wohl eine strategische war, ist der Kontrast der beiden Herren und der sie charakterisierenden Umgebung, der kaum stärker sein könnte: Dem Professor, der im »nach Aufopferung zugunsten der Menschheit duftenden [...] Zweckhaftigkeitszimmer [...] aufs nachdrücklichste [...] von hohen Pflichten und deren Erfüllungsschwierigkeiten« (ebd.) doziert, steht der »stille Träumerische« (ebd.: 184) gegen-

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über, der »auf offenem, sonnenbeschienenen Platz« (ebd.) der jungen Frau seine Liebe gesteht. Der offenbar sehr pragmatischen Entscheidung der ersten jungen Frau, die ihre Gefühle gänzlich ihrem sozialen Aufstieg unterzuordnen scheint, steht das zweite Pärchen als positives Beispiel gegenüber. Auch dieses Paar wird vom Erzähler in einer anrührenden und ihre gegenseitige Zuneigung offenbarenden Situation beobachtet. Im Gegensatz zur »jungen Gebildeten« (ebd.) entscheidet sich diese junge Frau – die Gattin des Bürgermeisters – offenbar gegen materielle Sicherheit und soziales Prestige und für ihre Liebe und eine Zukunft mit dem »Lebenskünstler« (ebd.). Erneut wird damit ein Künstlerfigur Gegenstand der Beobachtungen, doch im Gegensatz zur angehenden Schriftstellerin, die noch den beschwerlichen Weg zum schriftstellerischen Erfolg vor sich hat, begegnet der Erzähler dem Musiker bei dessen Heimkehr von seiner »lorbeerumkränzten Laufbahn« (ebd.). Der Lorbeerkranz suggeriert Erfolg und kündigt die Heimkehr eines Siegers an, doch über die Kunst des Musikers erfährt der Leser nicht viel, nur dass er am Vorabend eine Ovation erhielt, »deren Motiv die Tätigkeit gewesen sei, die er die seine und eine umstrittene nannte« (ebd.: 185). Zugleich wird sein gefälliges Äußere hervorgehoben: Sein »Komponistenkopf [war] tonreich von melodiösen Locken umrahmt« (ebd.: 184) und der Erzähler nennt ihn – in dieser Reihenfolge – einen »Musiker« (ebd.), »Lebenskünstler« (ebd.) und »Hinreißenden« (ebd.). Angesichts dieser Abfolge und seiner ›umstrittenen Tätigkeit‹ wird angedeutet, worauf Marian Holona in ihrem Aufsatz zur Sozialethik in Robert Walsers Kleinprosa eingeht: »[...] daß der Diener und Page und ebenso der Arbeiter, der Commis, der Poet, der ›Müßiggänger‹, der Strolch und der Vagabund in Walsers Werk jene soziale Gruppe bilden, die dem Besitzbürger gegenübergestellt ist. Ihr gemeinsames Merkmal ist die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit und Disfunktionalität, teilweise auch (was den Arbeiter und den Poeten betrifft) die Unmöglichkeit der Berufsbestimmung oder auch eine evidente Nutzlosigkeit, wie sie beim Vagabunden und Müßiggänger zu erkennen ist.« (Holona 1991: 153)

Trotz der gesellschaftlichen Außenseiterposition des Lebenskünstlers gibt der Erzähler hier keinen Anlass, die Hinwendung zur Bürgermeistergattin allein oder gar nur zum Teil auf dem Wunsch nach materieller Absicherung gegründet zu sehen. Am Ende sitzen beide in dem die Stadt verlassenden Zug wie »ein einziges Geschmolzenes oder Gegossenes, indem sie nicht zu wissen schienen, ob sie noch vorhanden seien, da sie sich von der Illusion nicht loszulösen vermochten, sie hätten einander vor Liebe gegessen und seien fürderhin nur noch ein Glücksbegriff, ein Hauch« (XII: 184). Doch selbst bei diesem Anblick, der durchaus mit ›herzig‹ und ›niedlich‹ beschrieben werden könnte, weist der Erzähler – nur scheinbar beiläufig – darauf hin, dass die beiden in einem »Luxuszug« (ebd.: 185) davonreisen.

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Die Zukunft des Paares, so darf der aus dem heimischen Bahnhof abfahrende Luxuszug wohl gedeutet werden, scheint zumindest finanziell gesichert. Hinsichtlich ihrer sozialen Absicherung haben die angehende Schriftstellerin und der Musiker mit ihrer Partnerwahl einen festen Halt gefunden, beide sind auch gesellschaftlich aufgestiegen. Dass beide den Typus des Künstlers verkörpern, der offensichtlich allein durch seine Kunst nicht leben kann und von Mäzenen abhängig ist, ist eine weitere Gemeinsamkeit. Die materielle Abhängigkeit zeigt sich dabei nicht allein bei der jungen aufstrebenden Autorin, sondern auch beim schon etablierten, lorbeerumkränzten Musiker. Doch dieser – und darin besteht dann doch der Unterschied – scheint trotz kitschig anmutender Übertreibung des Erzählers, sie seien »fürderhin nur noch ein Glücksbegriff, ein Hauch« (ebd.), die Gefühle der Bürgermeistergattin zu erwidern. Die »junge Gebildete« (ebd.: 184), die beim jungen Träumerischen »die Rolle einer Ablehnenden gespielt hatte« (ebd.: 185), geht eine für ihre erhoffte Künstlerkarriere förderliche Liaison ein – die nüchterne Zweckhaftigkeit der Beziehung mit dem Literaturprofessor wird, wie bereits herausgestellt wurde, deutlich vom Erzähler betont. Malcolm Pender zitiert in Hinblick auf ein anderes Prosastück eine Erfahrung Walsers, die auch in diese Erzählung Eingang gefunden hat: »Jeder Schriftsteller vereinigt zwei Menschen: den Bürger und den Künstler, womit er sich mit mehr oder weniger Glück abfindet.« (Pender 1991: 16) Berechtigt ist die Anmerkung Penders auf die Reihenfolge: erst der Bürger, dann der Künstler. Denn es ist »die Gesellschaft, welcher Gestalt auch immer, [die] einen festen Rahmen für die Tätigkeiten des Schriftstellers setzt« (ebd.). Freilich ist es sinnvoll, dieses Abhängigkeitsverhältnis nicht allein auf den Schriftsteller zu reduzieren, sondern auf die Gesamtheit der künstlerisch Tätigen auszuweiten. Die Eingangsfrage, ob das ›Herzige‹ und ›Niedliche‹ allein auf die Lage der Kleinstadt oder auch auf jene selbst zu beziehen ist, lässt sich klar beantworten. So wie die Wertung einer ›herzigen und niedlichen Lage‹ ausschließlich auf optischen Eindrücken der Umgebung beruht, so können bei einer ausschließlich personalen Erzählperspektive die beobachteten Begegnungen ebenso als Ausdruck ›herziger‹ und ›niedlicher‹ Zweisamkeiten gedeutet werden. Aufgrund der Betonung der Lage des Städtchens und der vom Erzähler an exponierter Stelle – nämlich im ersten Satz – erwähnten »Schönheit allzeit mit Vergnügen einsaugenden Augen« (XII: 184) wird die deskriptive Ebene hervorgehoben. Doch der Blick eines personalen Beobachters kann nur ein oberflächlicher sein und ist folglich oft ein trügerischer. Dies zeigt sich auch im vorliegenden Text, in dem die Allwissenheit des Erzählers Hintergründe und Hintergründiges enthüllt, die dem Auge des Beobachters, welches nur Herziges und Niedliches zu erblicken scheint, widerspruchsvoll entgegentreten. Zum einen erweisen sich die Künstler stets als von Mäzenen abhängig, zum anderen ist zumindest die »junge Gebildete« (ebd.) bereit, auf Liebe zu verzichten und zum Erreichen ihrer beruflichen Ziele Zweckbeziehungen einzugehen. Beim

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Musiker kann angesichts dieses Kontextes zumindest gemutmaßt werden, dass der sozial und somit ökonomisch vorteilhafte Status der Bürgermeistergattin ihre Attraktivität für den Musiker gesteigert hat, denn sie war »eine schöne, aber nicht hübsche junge Frau« (ebd.). Der Blick auf die sozialen Verhältnisse, die Nöte der Künstler und die notwendigen – oder für notwendig erachteten – Entscheidungen widersprechen gänzlich dem für das Auge wahrnehmbaren ›Herzigen‹ und ›Niedlichen‹. Das zunächst sehr positive Bild der Kleinstadt zeigt sich somit in dieser Erzählung als ein trügerisches.

D IE K LEINSTADT »Wie Kleinstädte im allgemeinen sind?« (IX: 86) – diese Frage sei hier erneut aufgegriffen, da sie einleitend vom Erzähler des Kurzprosastücks DIE KLEINSTADT gestellt wird, allerdings nur, um sie sogleich auf seine Art zu beantworten: »Einfach süß, um nicht zu sagen: himmlisch! Doch das klingt etwas phantastisch.« (Ebd.) Der Begeisterung für Kleinstädte, die bisher nur auf einem unbestimmten »süß« gründet, gesteht der Erzähler seiner Wertung etwas ›Phantastisches‹ zu. Dies hat seine Berechtigung, denn die folgende Beschreibung einer Kleinstadtidylle ist überwiegend im Konjunktiv formuliert. Die Wahl des Konjunktivs erscheint nachvollziehbar, da der Erzähler die dem Leser vor Augen geführte Kleinstadt nie besuchte, sie lediglich imaginiert, sie also aus der Phantasie erschafft. Doch zugleich ist die häufige Verwendung des Konjunktivs charakteristisch für die Walsersche Prosa und verdient angesichts ihrer Funktion, die hier mit den Worten Martin Jürgens kurz skizziert werden soll, für unseren Untersuchungsgegenstand gesonderte Aufmerksamkeit: »Im Medium des konjunktivischen Sprechens verlieren die Gegenstände die unbezweifelbare Positivität ihres ›so und nicht anders‹; sie erscheinen als Objekte der Möglichkeit nach; sie stehen [...] unter dem Zeichen ihrer Vorläufigkeit, gewinnen gleichsam ihre Existenz nur ›ad hoc‹, nur im Kontext des Sprechens selbst.« (Jürgens 1973: 116)

Am Ende des nur vier Seiten umfassenden Prosastücks frohlockt der Erzähler über diese nie gesehene und gerade deswegen so sehnsuchtsvoll erträumte Kleinstadt und sein dortiges – wohlgemerkt nur imaginiertes – Leben: »Was stell’ ich mir hier Idyllisches vor!« 3 (IX: 89)

3

Dierk Rodewald weist darauf hin, dass ein wesentlicher Stilzug der Bieler Prosa ihre Tendenz zur Idylle ist und bereits in frühen Stücken »harmonische Weltentwürfe probiert« (Rodewald 1970: 151) wurden. Eines dieser Stücke ist die Erzählung SELTSAME

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Was stellt sich der Erzähler nun konkret vor? Und wie wird es dargestellt? Im Unterschied zu den eingangs von Emil Wiedmer genannten und durchaus für einen Großteil der Walserschen Kurzprosa zutreffenden Charakteristika zeigt sich hier ein ganz anderes Bild, denn von dem Genannten findet sich nichts in dieser Erzählung wieder. Im Gegenteil: Der Text fällt mit einer für Walser sehr seltenen inhaltlichen Klarheit des Dargestellten und der Kohärenz der Darstellung auf. Somit scheint auf den ersten Blick ein für Walser eher untypischer Erzähler zu schreiben. Klar und stringent beschreibt er in schnörkellosen Sätzen und stets auf sein Thema fokussiert seine Vorstellungen eines Lebens in einer Kleinstadt. Dem Leser wird erzählt, wie sich das schreibende Ich in seinem »frischen Wirkungskreis denkbar klug und artig« (IX: 86) aufführe, wie es durch »Arbeitslust und besonders durch Beweise von Intelligenz schier unentbehrlich« (ebd.) würde, wie die »Kleinstadt [...] in jeder Hinsicht schön aus[sieht]« (ebd.), wie das Essen, die Stuben, die Straßen, die Natur und die Menschen beschaffen sein würden. Selbst einzelne Gebäude wie das Zeughaus, das Pfrundhaus, die zahlreiche Bücher enthaltene Stadtbibliothek sowie die aus dem beginnenden 18. Jahrhundert stammende Kirche bleiben nicht unerwähnt. Und als stünde für den Erzähler ein Behördengang kurz bevor, konstatiert dieser erleichtert: »Alle öffentlichen Bauten stehen, jede charakterisiert, nah beieinander: die Post, das Rathaus.« (Ebd.: 88) Auch für Unterhaltung und Bildung wäre in der Kleinstadt gesorgt, so dass die Phantasie des Erzählers das mögliche Leben bis hin zum fiktiven Kommentar potentiell befreundeter Menschen ausmalt: »›Du sitzest hier insofern warm, als du dich von allen Seiten mit Möglichkeiten, dich mit Wissenschaft zu befassen, förmlich umzingelt siehst‹, würde ein befreundeter Mensch lachend und zugleich ernsthaft zu mir sagen.« (Ebd.) Gerade durch die ungewohnte Kohärenz und Schlichtheit des Textes erscheint ein vom schreibenden Ich scheinbar beiläufig gezogener Vergleich auffällig: »Das Kleinstadtleben fließt wie eine Erzählung dahin« (ebd.). Doch eben dieses ungestörte und harmonische Fließen des Textes ist – wie bereits die anderen beiden Erzählungen gezeigt haben – alles andere als gewöhnlich für die Walserschen Erzähler. Dass es sich hier um einen Ausnahmefall zu handeln scheint, wird angesichts der bereits untersuchten Kurzprosatexte deutlich. Zudem ist es raffiniert platzierte Ironie, dass der Erzähler mit dem Vergleich des Fließens gerade dieses unterbricht, um wiederum auf selbiges aufmerksam zu machen. Womit sich diese Sonderrolle der Erzählung begründen lässt, ist aus ihr allein nicht ersichtlich – zeigt sich dafür jedoch umso deutlicher in der vergleichenden Schlussbetrachtung.

STADT, die im Märchenton mit »Es war einmal eine Stadt« (ebd.) beginnt und im Präteritum fortgesetzt wird (vgl. ebd.).

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S CHLUSSBETRACHTUNG »Wie Kleinstädte im allgemeinen sind?« (Ebd.: 86) Diese Frage wird zwar von nur einem Erzähler explizit gestellt, unausgesprochen ist sie jedoch die treibende Kraft eines jeden der hier besprochenen Texte. Die Textgrundlage auf drei Erzählungen zu beschränken, war zwar eine rein pragmatische Entscheidung und ging nicht ohne Kompromisse einher, dennoch konnte die Auswahl formal sehr unterschiedlicher Texte einigen Aufschluss über die Walsersche Kleinstadt geben. Indem der Fokus auf die Darstellungsweise, auf das ›Wie‹ der Erzählung, gelegt wurde, zeichnete sich auch das Dargestellte, das ›Was‹, zumindest umrissartig ab. Um nun ein Bild der ›Kleinstadt im Allgemeinen‹ zu erhalten, müssen – wie bei einem Mosaik – die durch die Einzeluntersuchungen der drei Erzählungen sich abzeichnenden Bilder zusammengesetzt werden. Der Erzähler in REISE IN EINE KLEINSTADT bemüht sich redlich, seinen nur einen Tag zurückliegenden Besuch zu Papier zu bringen; doch indem er sich allen Einzelheiten, die das Leben in der Kleinstadt gestalten, mit gleicher Hingabe widmen möchte, werden zugleich ordnende und sinnstiftende Hierarchien aufgelöst. Dies zeigt sich durch die ästhetische Dekonstruktion des erzählerischen Kontinuums auf der Textebene und inhaltlich durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die besuchte Kleinstadt scheint in ihren räumlichen und zeitlichen Bezügen dem Erzähler nicht mehr fassbar zu sein. In KLEINSTADT gelingt es zwar dem Erzähler, seine Beobachtungen zu Papier zu bringen, doch wie das Gedankenexperiment mit einem potenziell zur Anwendung kommenden personalen Erzähler zeigte, ist das ›Herzige‹ und ›Niedliche‹ des Sichtbaren trügerisch. Diese Täuschung kann jedoch nur der auktoriale Erzähler mit seiner Allwissenheit aufdecken. Das Bild der Kleinstadt entspricht nicht ihrem ›Kern‹ und so werden erneut die Grenzen unserer Möglichkeiten von Weltwahrnehmung illustriert. Lediglich dem Erzähler in DIE KLEINSTADT gelingt offenbar mit Leichtigkeit, was den anderen beiden nicht glückte: Ein klar strukturierter, widerspruchsfreier und kohärenter Text, der ein idyllisches Bild einer als ›süß‹ und ›himmlisch‹ beschriebenen Kleinstadt zeichnet. Doch bezeichnenderweise wurde das ›Himmlische‹ keinem irdischen Ort zugeschrieben. Die Erzählung gibt lediglich das imaginierte Erzählerideal einer Kleinstadt wider, ohne den Anspruch zu haben, die reale Welt sprachlich fixieren zu wollen. Der sich verändernden realen Welt gegenüberstehend scheinen die Erzähler hilflos. Sie lässt sich in ihrer Komplexität nicht mehr erfassen und in ihrer Scheinhaftigkeit nicht durchdringen, auch nicht im vermeintlich gut überschaubaren und erfassbaren Raum der Kleinstadt. Eine sprachlich adäquate Beschreibung erscheint

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unmöglich geworden. Nur in der Phantasie, so die bittersüße Erkenntnis, ist eine bürgerliche Ordnung und eine kleinstädtische Idylle noch möglich.

L ITERATUR Brod, Max (1913): »Kleine Prosa. Aufsätze«, in: Katharina Kerr (1978) (Hg.), Über Robert Walser. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 83-85. Cardinal, Agnès (1991): »Widerspruch und kulturelle Paradoxien in Walsers Werk«, in: Klaus-Michael Hinz/Thomas Horst (Hg.), Robert Walser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 70-86. Greven, Jochen (1978) (Hg.): Robert Walser. Das Gesamtwerk in 12 Bänden, Zürich/Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Holona, Marian (1991): »Zur Sozialethik in Robert Walsers Kleinprosa. Mediocritas – oder die Aufhebung des Rollenspiels«, in: Klaus-Michael Hinz/Thomas Horst (Hg.), Robert Walser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 152-179. Jürgens, Martin (1973): Robert Walser. Die Krise der Darstellbarkeit, Kronberg (Taunus): Scriptor. Jürgens, Martin (1991): »Fern jeder Gattung, nah bei Thun. Über das mimetische Vermögen der Sprache Robert Walsers am Beispiel von ›Kleist in Thun‹«, in: Klaus-Michael Hinz/Thomas Horst (Hg.), Robert Walser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 87-100. Pender, Malcolm (1991): »Gesellschaft und künstlerische Imagination am Beispiel Robert Walsers«, in: Klaus-Michael Hinz/Thomas Horst (Hg.), Robert Walser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 15-29. Rodewald, Dierk (1970): Robert Walsers Prosa, Versuch einer Strukturanalyse, Bad Homburg: Gehlen. Seelig, Carl (1938): »Der Spaziergang«, in: Katharina Kerr (1978) (Hg.), Über Robert Walser. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 193-194. Seelig, Carl (1938a): »Robert Walser. Zum 60. Geburtstag am 15. April«, in: Katharina Kerr (1978) (Hg.), Über Robert Walser. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 188-193. Sorg, Reto (2015): »Die Figur des Spaziergängers und der Spaziergang als Erzählmodell«, in: Lucas Marco Gisi (Hg.), Robert Walser Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart: Metzler, S. 152-154. Wiedmer, Emil (1917): »Kleine Sachen. Zur Kurzprosa«, in: Katharina Kerr (1978) (Hg.), Über Robert Walser. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 105-108.

»wo der Mensch in seiner Umwelt aufgeht« Zur Volkstümlichkeit in den Kleinstadttexten Otto Bernhard Wendlers J AN K OSTKA

Mit dem Schriftsteller und Pädagogen Otto Bernhard Wendler (1895-1958) beschäftigte sich bisher vor allem die lokal- und zeitgeschichtliche Forschung. In den vom Arbeitskreis Stadtgeschichte im Brandenburgischen Kulturbund e.V. herausgegebenen HEIMATKUNDLICHEN BLÄTTERN konzentriert sich Paul Schulze (2009) auf Wendlers Tätigkeit als Rektor der weltlichen Sammelschule in Brandenburg (Havel) von 1927 bis 1933.1 Er beschreibt die Vielfalt seiner kulturellen und pädagogischen Aktivitäten, zu denen der Einsatz als Festredner auf Jugendweihefeiern, die Tätigkeit als sozialdemokratischer Stadtverordneter und die Leitung der weihnachtlichen Lichtfeiern gehörten. Auf die 1933 vorgenommene Schließung der Sammelschule und Entlassung Wendlers nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums geht Charles Bridgen Lansing in seiner Dissertation BRANDENBURG AN DER HAVEL’S TEACHERS, 1933 TO 1953 ein. Lansing erwähnt die Schwierigkeiten von ehemaligen Sammelschullehrerinnen und -lehrern, im nationalsozialistischen Schulbetrieb unterzukommen (Lansing 2004: 52f.). Wendler konnte jedoch, so Norbert Hopster, trotz der Aufnahme seiner vor 1933 erschienenen Bücher in der LISTE DES SCHÄDLICHEN UND UNERWÜNSCHTEN SCHRIFTTUMS,2 »nach 1933 eifrig weiterschreiben und -veröffentlichen« (Hopster/Josting/Neuhaus

1

Vgl. zum Wirken Wendlers in Brandenburg (Havel) auch Kusior (2012: 126-130). Zu Geschichte und Charakter der Sammelschulen siehe Behrens-Cobet/Reichling (1987).

2

Vgl. Reichsschrifttumskammer (1935: 131). Im Jahr 1938 wurden drei Kinderbücher Wendlers aus der Weimarer Republik wieder zugelassen (Reichsschrifttumskammer 1938:

160).

Die

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online

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2005: 586).3 In Kenntnis seiner politischen Biografie opponierte die Brandenburger NSDAP-Kreisleitung zwar gegen Wendlers Mitwirkung an Filmen mit explizit nationalsozialistischem Charakter,4 doch diesen Widerspruch löste das NSPropagandaministerium 1942 durch eine Anweisung an die Filmproduzenten, den Autor nur noch in der Unterhaltungsbranche zu beschäftigen, wie Jan-Pieter Barbian (2015: 38) rekonstruierte. Der ALMANACH der Literarischen Gesellschaft Magdeburg e.V. legte 1997 einen Schwerpunkt auf Wendlers Engagement für Nachwuchsautorinnen und -autoren im Deutschen Schriftstellerverband nach 1951, die wiederum die »Menschlichkeit, Lauterkeit und Gradlinigkeit[!]« des Vorsitzenden des Bezirksverbands Magdeburg geschätzt hätten (Wiehle 1997: 17). Für eine Bestandsaufnahme zum Thema Kleinstadtliteratur sind aus dem Gesamtwerk Wendlers, das Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur sowie mehrere Arbeiten für den Film umfasst, vor allem vier Titel interessant: die 1931 erschienenen Romane LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK und DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE sowie das Jugendbuch JOCHEN SUCHT DEN SENDER R.O.K. aus dem Jahr 1932 und der Roman SOMMERTHEATER von 1937. Ich werde zunächst den Inhalt dieser Bücher zusammenfassen, um zu ihnen anschließend vier Thesen zu formulieren. LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK schildert die Geschehnisse in einem Kleingartenverein vom Frühjahr bis Sommer eines Jahres. Das Buch beginnt als Kriminalroman mit dem Fund des in seiner Laube erschlagenen Eisenbahners Stuhr. Während zunächst ein »fremder Landstreicher« als Täter gesucht wird (Wendler 1931a: 18), wendet sich die Handlung jedoch bald ausschließlich den Liebes- und Beziehungskonflikten der proletarischen Laubenkolonisten aller Altersklassen zu. Ihre Schicksale werden episodenhaft ineinander verwoben, ohne dass der Roman einer geschlossenen Fabel folgt. Das Finale der Jubiläumsfeier zum zehnjährigen Bestehen der Gartenkolonie verknüpft die einzelnen Handlungsstränge zu einer allgemeinen Versöhnungsszene.

3

1976 hatte Marion Lange in einem Porträt berichtet, dass Wendler Schreibverbot erhalten und über Jahre »unter polizeilichem Überwachungs›schutz‹« gestanden habe (Lange 1976: 42). Schreibverbot und Polizeiaufsicht erwähnt auch Wiehle (1997: 14); Schulze (2007: 16) das Schreibverbot. Wendler selbst erklärte 1951 in einem LEBENSLAUF, dass er bis 1935 Schreibverbot gehabt habe. »Erst 1937 ging mein Roman ›Sommertheater‹ durch die Zensur.« Er selbst sei »nur durch einige Zufälle« der KZ-Haft entgangen. (Wendler, Otto Bernhard: Lebenslauf. Burg [bei Magdeburg], 04.09.1951. BArch SAPMO NY 4192/19)

4

Wendler beteiligte sich als Drehbuchautor an den Filmen PETERMANN IST DAGEGEN! (1937) (Deutschland, R: Frank Wysbar) und JUNGENS (1941) (Deutschland, R: Robert A. Stemmle), die für die NS-Gemeinschaft KdF bzw. die HJ warben. JUNGENS ist als Vorbehaltsfilm eingestuft (www.murnau-stiftung.de/movie/465).

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Auch wenn die Referenz zu Brandenburg (Havel), in dessen Stadtteil Görden es tatsächlich eine Kleingartensparte Erdenglück gibt,5 es nicht unbedingt nahelegt, sind der Handlungsraum und die Figurengestaltung in diesem Roman kleinstädtisch. Die Plätze und Institutionen der fiktiven Stadt sind singulär und zentral. Es gibt ein Textilwarenhaus, ein Weinrestaurant sowie einen Platz am Fluss, um dort die Freizeit zu verbringen, und schließlich den zentralen Marktplatz mit dem Rathaus. Diese Orte nehmen, einmal erwähnt, auch eine feste Rolle im Handlungsverlauf ein, sie sind nicht zufällig oder verschwinden in einer Vielfalt. Die Nähe zur Natur ist hier wie in den anderen Romanen Wendlers immer gegeben. Wälder und Seen sind nur einen Spaziergang oder eine Fahrradfahrt entfernt, die Jahreszeiten beeinflussen die Stimmungen und Aktivitäten der Figuren. In LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK heißt es beispielsweise, »der Juni bringt die Müdigkeit in die Politik und die Liebe in jedes Haus« und eben so verhalten sich die Figuren (ebd.: 134). Überhaupt verdrängen lokale Angelegenheiten politische Themen oder reduzieren diese auf Fragen, welche die eigene Gemeinschaft betreffen. Im von Arbeitern, Handwerkern und Kleinhändlern geprägten städtischen Leben sind die persönlichen Beziehungen ausschlaggebend und werden in Vereinen institutionalisiert.6 Unbehaustheit gilt als Ausdruck seelischen Schmerzes und das Verlassen der Stadt als einschneidende Lebenswende. Ein wiederkehrendes Motiv ist die Abgrenzung von Berlin als Metropole, die bei Wendler gern etwas Anrüchiges bekommt. In den Figurenreden ist Berlin der Ort der leichten Mädchen und der Sinnesfreuden, die Männer, die von dort in die Kleinstadt kommen, sind in der Regel rücksichtslose Verführer und selbst die Schaufensterpuppe, die sich der Textilhändler Seligmann aus Berlin liefern lässt, hat »ein sündhaftes Geld« gekostet (ebd.: 107). Trotz des Happy Ends in LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK idyllisiert Wendler das Leben seiner Figuren keineswegs. Soziale Nöte, Suizide wegen Arbeitslosigkeit oder ungewollter Schwangerschaft werden ebenso geschildert wie die mentalen und körperlichen Folgen der Fabrikarbeit. Sie bilden den Hintergrund, vor dem die Laubenkolonisten ihre Erholungsmöglichkeit finden und eine Gemeinschaft bilden, in der jeder Genosse »Verständnis für die Lage des andern« aufbringt (ebd.: 64). Ebenfalls im Jahr 1931 veröffentlichte Wendler den Roman DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE. Dieser handelt von drei Primanern in der Stadt Vettenstedt, die auf unterschiedliche Weise die erste Liebe und ihr Scheitern erleben. Peter Nack kommt mit der Lyzeums-Schülerin Ilse Trenk zusammen, der Boxsportler Adam Balte mit deren Freundin Helene Sadrinna und ihr Klassenkamerad, der dichtende Fred Köllner, verliebt sich in die Schauspielerin Elisabeth Darragan, die aus Berlin

5

Zur historischen Laubenkolonie Erdenglück in Brandenburg (Havel) siehe: Kusior (2000:

6

Vgl. zum kleinstädtischen Sozialtypus Nowak (2013: 61-63).

27).

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vorübergehend nach Vettenstedt gezogen ist. Die drei Jugendlichen haben mit dem betont modernen und weltmännischen Rechtsanwalt Stuckenbrandt und der Prostituierten Mary zwei Außenseiter der Stadt als vermeintliche Unterstützer an ihrer Seite. Hilfe benötigen sie auch, da Ilse Trenk nach der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs sucht. Als Peter Nack den Rechtsanwalt ins Vertrauen zieht, nutzt dieser sein Wissen aus. Er bringt Ilse nach Garmisch, wo er die Jugendliche beeinflusst, ihn zu heiraten und den Kontakt mit Peter abzubrechen. Helene Sadrinna verliebt sich in einen aus Dresden hinzugekommenen Schüler, »der immer so tat, als ob er schon beim Film gewesen wäre« (Wendler 1931b: 173) und Elisabeth Darragan kehrt nach Berlin zurück, wo sie wieder Theater spielen möchte. Nach einer Auseinandersetzung mit dem ihm übelwollenden Lehrer Wuppdich nimmt sich Fred Köllner das Leben. Wuppdich muss daraufhin die Stadt verlassen, sein Nachfolger gewinnt Peter Nack für die Schule zurück. Am Grabe Fred Köllners finden dessen Mutter und Elisabeth Darragan zueinander. In ihrer Trauer nimmt sie die Geliebte ihres Sohnes als Tochter an. Adam Balte tröstet sich dagegen mit »seiner neuen Flamme«, die »ein saugutes Mädel« sei (ebd.: 249). Das Kinderbuch JOCHEN SUCHT DEN SENDER R.O.K. aus dem Jahr 19327 erzählt von der nach einigen Verwicklungen erfolgreichen Fahndung einer Jungengruppe um den Quartaner Jochen nach dem Urheber des Senders R.O.K. Dieser stört in mehreren Nächten das reguläre Rundfunkprogramm, um anzukündigen, dass in den kommenden Tagen »allerhand passieren« werde (Wendler 1932a: 23). Der Verdacht der Kinder fällt zunächst auf einen »unheimlichen Alten«, der unter den 6.000 Einwohnern der fiktiven Havelstadt Mittlenburg sofort auffällt, weil er einen »wehenden Bart« und »seltsamen Gang« sowie einen »fremdländischen gedrechselten Stock« hat (ebd.: 17). Auch die Erwachsenen meinen, der Rundfunksprecher sei »bestimmt keiner von hier« (ebd.: 36). Als schließlich aus dem Tresor der Stadtsparkasse 100.000 Mark geraubt werden, alarmieren die Kinder den örtlichen Verkehrspolizisten, der den Fremden verhaftet. Doch dieser erweist sich als harmloser Hobby-Altertumsforscher, der Sender R.O.K. meldet sich weiterhin und zuletzt wird das Geld heimlich auf den Schreibtisch des Bürgermeisters gelegt. Die Kinder sehen ihren Fehler ein und überführen den wahren Täter anhand einer Haarprobe. Es war der städtische Frisör. Weil sein Wunsch, »im Theaterverein ›Musenhof‹ eine große Rolle« zu spielen, zurückgewiesen worden war, hatte er sich entschlossen, verkleidet als Sparkassendirektor den Tresor zu leeren und als Stadtbote das Geld wieder abzuliefern, um auf diese Weise der Öffentlichkeit zu zeigen, »daß er doch ein guter Schauspieler sei« (ebd.: 87).

7

Es bleibt offen, wofür die Abkürzung »R.O.K.« steht. Zu JOCHEN SUCHT DEN SENDER R.O.K. siehe auch Hopster/Josting/Neuhaus (2005: 488).

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Der 1937 erschienene Roman SOMMERTHEATER schildert, wie das Engagement einer Theatertruppe dazu beiträgt, die eingefahrenen, aber deshalb nicht unproblematischen Verhältnisse in einer Kleinstadt ein wenig aufzubrechen. Der bankrotte Theaterdirektor Goswin Utert bringt professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler aus der Großstadt auf die Bühne des Hotels Kehrmann und löst mit seiner Inszenierung der MINNA VON BARNHELM eine so große Begeisterung aus, dass sich die Mitglieder des örtlichen Gesangsvereins, der für die sonst üblichen Laienaufführungen zuständig ist, zerstreiten. Auch die Frauen der Kleinstadt erwachen zu ungekanntem Selbstbewusstsein und werden dazu vom attraktiven und souveränen Schauspieler Aschenbrenner ermutigt. In einer der Schauspielerinnen erkennt der Studienrat und Veilchenspezialist Wilhelm Becker die Tochter seiner früh verstorbenen Jugendliebe. Erfreut, in der Kleinstadt einen Bekannten ihrer Mutter kennenzulernen, nimmt sie Becker als »Onkel« an. Für den aus der Großstadt zugezogenen Lehrer Ludwig Kromphardt bestätigen diese Geschehnisse, dass es sich lohnt, »den Scherben mit dem Traum nicht weg[zu]werfen« (Wendler 1937: 239). Er gesteht der Apothekerstocher Eva Bröcker, die allgemein Siebenschön genannt wird, seine Liebe. »Wir hatten Theater hier […] dadurch ist alles ins Rollen gekommen«, kommentiert der Oberkellner des Hotels Kehrmann das Geschehen (ebd.: 312). Zum Abschluss bestätigt der Erzähler die Vorstellung eines Durchreisenden vom beschaulichen Leben in den »kleinen Städten«: »Es gab schon Wellen, aber er hatte recht, das Leben floß ruhig dahin.« (Ebd.: 314) Diese Metapher unterstreicht den unterhaltenden Charakter des Romans: Die Ausgangslage als harmonische Schilderung einer Kleinstadt, in deren Gassen »noch unverbrauchter Atem der Erde war« (ebd.: 17), der Besuch der Schauspielertruppe als »Grenzüberschreitung« (Nusser 1991: 122) sowie das zur Ausgangslage analoge Happy End sind durch Typisierung bzw. Polarisierung, eine floskelhafte Sprache (»es gibt kein anderes Glück als das der Jugend«, Wendler 1937: 171) und die Ablösung von Reflexion durch »Emotionalisierung« (Nusser 1991: 122) gekennzeichnet. Das Werk Wendlers bietet, so lässt sich zusammenfassend festhalten, in seiner merkwürdigen Mischung aus gesellschaftskritisch-realistischer und unterhaltsamtrivialer Literatur eine ganze Bandbreite literarischer Auseinandersetzungen mit den Lebenswelten der Kleinstadt. Es steht dabei im Kontext der ambivalenten Lebensverhältnisse, die sich im Kleinstädtischen unter den Bedingungen der Moderne zeigen, und nimmt auf sie immer wieder reflektierend Bezug. Anhand von vier zentralen Thesen sei dies im Folgenden genauer erörtert:

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1.

Wendler gestaltet Kleinstädte als Kontaktzonen, in denen unterschiedliche soziale Gruppen und gesellschaftliche Entwicklungen aufeinandertreffen. In den beschriebenen vier Büchern wird der zukunftsorientierte Charakter moderner Entwicklungen mit ihren Nachteilen bzw. ausgrenzenden Wirkungen konfrontiert. Die Tendenz dieser Konfrontation folgt einer Konzeption des Ausgleichs und der Gemeinschaftsbildung, welche durch eine volkstümliche Erzählweise vermittelt werden soll. Die Volkstümlichkeit referiert auf eine regionale Kultur, deren Zerrissenheit in der Endphase der Weimarer Republik jedoch Wendlers wirkungsästhetischen Vorannahmen entgegenlief.

2.

3.

4.

K LEINSTÄDTE

ALS

K ONTAKTZONEN

Otto Bernhard Wendler gestaltete literarisch eine »Provinz«, die offen ist »für die Welt außerhalb« (Mecklenburg 1982: 44). In seinen Büchern ist der Zugang zum dörflichen und kleinstädtischen Leben aus einer großstädtischen Perspektive so charakteristisch wie programmatisch. Das Kinderbuch GODE WIND AHOI! (1933) beschreibt beispielsweise das Aufbrechen ländlich-geschlossener Lebensformen durch die Ankunft von Großstadtkindern, die mit ihren Eltern in eine Arbeitersiedlung bei Ranneberg gezogen sind, um in der dortigen Eisenbahnwerkstadt arbeiten zu können.8 Nun suchen die Jungen aus Hamburg, Köln, Berlin und Dresden Kontakt zu den Fischerjungen auf der anderen Seite des Ranneberger Sees, damit diese erfahren, »daß wir da sind« und »Ranneberg kein Bauerndorf mehr ist, sondern eine Eisenbahnersiedlung« (Wendler 1933a: 8f.). Die Handlung des Romans SOMMERTHEATER hat die Wahrnehmungen eines Paares aus der Großstadt als erzählerischen Rahmen, das von einer Hotelveranda auf den »träumenden Marktplatz« (Wendler 1937: 9) und die Idylle einer »kleinen Stadt« (ebd.: 8) blickt. In LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK nimmt der Erzähler dagegen eine ländliche Perspektive ein. Die Handlung beginnt mit dem Weg, den der aus einer Laubenkolonie vor der Ortschaft kommende Vater Dingelmann mit seinem Handwagen auf der Suche nach Pferdemist zurücklegt. Kaum in der Stadt angekommen, ärgert er sich über die »geschniegelten Herrn« von der Sparkasse und schimpft auf den »städtische[n] Reinigungswagen«, der die Straßen »blank wie ein[en] Tanzsaal« macht. Mit »Sehnsucht nach seiner Laube« verlässt er wieder die Stadt (Wendler

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Zeitgenössische Referenz ist der Ausbau des Reichsbahnausbesserungswerkes in Kirchmöser.

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1931a: 9f.). Ein Rezensent bezeichnete das Personal des Romans deshalb zurecht als »Grenzleute«, die »halb Großstädter, halb Kleinbauern« sind (P.K. 1932). In Wendlers kleinstädtischen »Kontaktzonen« (Nowak 2013: 326) treffen die Einwohner auf Großstädter und Bauern, aber auch auf Schauspieler, Zirkusleute und Vagabunden. Die Austauschprozesse mit der Umgebung, die Verflechtung von industrieller Produktion und ländlichem Leben sind so eng, dass Beziehungen zwischen Einheimischen und Hinzugekommenen, Umherziehenden und Fortgehenden zum konfliktreichen Alltag gehören und »Konstellationen von sozialen Einund Ausschlüssen« sinnfällig werden (ebd.: 116). Verwiesen sei auf die Verdächtigung eines »fremde[n] Landstreicher[s]« in der LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK (Wendler 1931a: 18) und auf die Jagd der Kinder in JOCHEN SUCHT DEN SENDER R.O.K. nach dem »unheimlichen Alten mit dem wehenden Bart« (Wendler 1932a: 17). Die Pointe, dass nicht der Ortsfremde, sondern ein Einwohner Mittlenburgs seine Mitbürger in Angst versetzte, lässt sich im Sinne von Julia Kristevas Vorschlag »die Fremdheit in uns selbst aufzuspüren« als »vielleicht die einzige Art, sie draußen nicht zu verfolgen« (Kristeva 1990: 209) interpretieren. Als Kontrast zur provinziellen Abgeschlossenheit ist in Wendlers Büchern die Attraktion des Zirkusses ein wiederkehrendes, positiv besetztes Motiv.9 »[…] in einem Zirkus lernte man immer etwas zu«, gibt der Erzähler die Gedanken Vater Dingelmanns wieder, »man sah schwarze Menschen, die gab es nicht immer, Chinesen, Indianer liefen einem auch nicht jeden Tag über den Weg« (Wendler 1931a: 169). Dass »Polaritäten von Metropole und Provinz sowie Stadt und Land« einerseits in der Literatur inszeniert, zugleich aber durch die Gestaltung der Kleinstadt als Zwischenraum wieder unterlaufen werden, wie Christiane Nowak in ihrer Untersuchung über den TOPOS KLEINSTADT IN DEUTSCHEN ROMANEN ZWISCHEN 1900 UND 1933 feststellte (Nowak 2013: 16), kann mit Blick auf das Werk Wendlers nur bestätigt werden.

M ODERNE

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Kleinstädte als Kontaktzonen gaben Wendler die Möglichkeit, den fortschrittlichen, von überkommenen Bindungen befreienden Charakter moderner Entwicklungen ebenso wie die mit ihnen einhergehenden sozialen Gefährdungen einer lokalen Gemeinschaft literarisch zu thematisieren. Dies lässt sich bei den vier eingangs beschriebenen Büchern an einer ganzen Bandbreite von Gegenständen aufzeigen. LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK beschreibt die sozialen Folgen von Industriearbeit und Wirtschaftskrise auf den Einzelnen sowie auf den Zusammenhalt der Kleingärtner. Dabei ermöglicht der Wechsel der Handlungsorte von der Stadt zur

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Beispielsweise in ZIRKUSPAUL (1932b) und DAS MÄDCHEN LANTELME (1935).

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Laubenkolonie einen »Blick von der Peripherie«, welcher nach Cornelia Klinger überhaupt charakteristisch für den »Diskurs um die Moderne« ist (Klinger 2010: 123). Dem Gedanken folgend, dass »ein krankes Volk an der Natur gesunden« müsse (Wendler 1924b), sah Wendler in der Schrebergartenbewegung einen Ausgleich für die entfremdenden Wirkungen der Industriearbeit. In seinem Artikel für die Brandenburger Zeitung DIE SCHULE ALS LEBENSSTÄTTE DER JUGEND heißt es: »Die Industrie frißt uns mit Haut und Haaren. Die Großstadt spannt uns in ihren Rhythmus. Wir können uns nicht wehren.« (Wendler 1924d) Weil in der »Natur« »die Quelle seiner Erneuerung am lebendigsten sprudelt«, ermöglichen die Schrebergartenanlagen dem Arbeitenden, seine »Sehnsucht nach Luft und Licht, nach Sonnenschein und Freude« zu stillen und das »Familienleben aus dem Rhythmus der Fabrik zu lösen« (ebd.). Diese programmatischen Erklärungen Wendlers finden sich in den Aussagen mehrerer Figuren der LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK wieder, etwa wenn der Vorsitzende der Laubenkolonie es zum Ziel der Schrebergartenbewegung erklärt, »daß auch der kleine Mann sein Stück Land habe, seine Sonne, wo er sich von der Arbeit an den menschenmordenden Maschinen erholen könne« (Wendler 1931a: 22), oder die Figur des Stadtrates darauf verweist, dass »der erdfremdeste Mensch unserer Zeit, der Industriearbeiter« sich mit der Einrichtung der Laubenkolonie »einen Weg wieder zur Erde hin gesucht« habe (ebd.: 220). Es liegt nur scheinbar nahe, diesen Roman von der »primitivistischen Opposition von Natur und Zivilisation« (Mecklenburg 1982: 65) her zu deuten, in ihm also eine Idealisierung vormoderner, agrarischer Lebensformen zu sehen. Mit der Figur des Arbeitslosen Paul Lukassowitz polemisiert Wendler gegen die zivilisationskritische Überhöhung der »Möglichkeiten eines ursprünglichen, elementaren und der Erde nahen Lebens« (ebd.). Paul Lukassowitz, der den Zwängen der Industriearbeit enthoben ist, verlässt seine Familie und geht eine vornehmlich durch Sinnlichkeit bestimmte Liebesbeziehung mit Erna Stuhr ein, der Witwe des erschlagenen Eisenbahners. Der Erzähler setzt diese Handlung in Analogie zum Naturgeschehen: »Die Sonne reifte die Erdbeeren, dörrte das Gras, der Roggen wiegte sich im Winde, die Sonne verbrannte auch das Herz des Arbeitslosen Paul Lukassowitz.« (Wendler 1931a: 112) Die Lösung aus dem »Rhythmus der Fabrik« und die Hingabe an den Rhythmus der Natur werden aber als Verkehrung geschildert, die nun gerade zerstörerisch auf das Familienleben wirkt. In einer Gedankenrede beschreibt Lukassowitz Erna Stuhr als »Orientalische«, die »mit den Augen« »himmelte«, »viel Riechzeug in die Stuben sprengte« und »immer wollte« (ebd.: 158). Im Jahr 1920 hatte der Anglist Friedrich Brie in seiner Studie EXOTISMUS DER SINNE das »Bedürfnis der Sinne nach etwas Farbigerem, Duftenderem, Zügelloserem, Wilderem, Widerspruchsvollerem, Maßloserem, Übermenschlicherem und Schönerem« (Brie 1920: 6) als Exotismus mit einer Richtung »nach dem Orient« hin beschrieben. Es handele sich dabei um ein »dauerndes

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psychisches Phänomen«, das erst »in der modernen Zeit«, namentlich der Romantik (ebd.: 17), aus Unzufriedenheit mit einer »allzu verstandesgemäßen und ›unnatürlichen‹ Kultur« (ebd.: 5) entstanden sei. Bries Interpretation des »Exotismus« deutet die Natursehnsucht im Zusammenhang mit den Entwicklungen der Moderne. Diese Wechselbeziehung thematisiert auch der Roman LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK. Die Industriearbeit und die Aufwertung der Naturerfahrung verhalten sich komplementär zueinander. Für den arbeitslosen Paul Lukassowitz, der die krisenbedingte Abwesenheit der Industriearbeit erfährt, bietet die Kleingartensparte keinen Ausgleich mehr. Sein Bedürfnis nach sinnlicher Grenzüberschreitung führt ebenfalls in eine Krise und sprengt die soziale Einbindung in eine gemeinsame Aufgabe. Die »Sehnsucht […] nach Sonnenschein« und der »Weg wieder zur Erde hin« werden deshalb von Wendler weder als gesellschaftlicher Ausweg noch als Utopie gestaltet, vielmehr weist er darauf hin, dass sie in die Entwicklungen der Moderne eingebunden sind und die Industrialisierung zur Voraussetzung haben. So bringt schließlich eben die Maschinenarbeit bei einem Großbauern Paul Lukassowitz zurück zu seiner Familie und damit auch in die Gemeinschaft der Kleingärtner. Der Roman DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE folgt der narrativen Opposition von alt und neu bzw. hergebracht und modern. Die jugendlichen Hauptfiguren stellen sich der geistigen und emotionalen Enge ihrer Heimatstadt entgegen, die nur vereinzelte Fluchträume erlaubt. Vor allem ein Buch »von der Revolution der Jugend« (Wendler 1931b: 29) in Amerika wirkt auf die Gymnasiasten mit ihrer Sehnsucht nach der »große[n] Liebe« (ebd.: 80) so anregend wie befreiend. Wenn sie im Gespräch »die Geschichten zusammensuchen«, glauben Ilse Trenk und Helene Sadrinna, dass nicht nur in Amerika, sondern »auch in Vettenstedt« »eine Revolution der Jugend« ausbricht (ebd.: 42). Bei diesem Buch handelt es sich um den Pädagogik-Ratgeber DIE REVOLUTION DER MODERNEN JUGEND des Jugendrichters Ben B. Lindsey aus Denver, das 1927 in deutscher Übersetzung erschien. Lindsey verteidigt die »Auflehnung der modernen Jugend« »gegen unser System von Verboten«, »gegen allen Aberglauben, alle Unduldsamkeit und Heuchelei« (Lindsey 1927: 19). Die Jugend, die mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft, den neuen technischen Entwicklungen sowie höheren Einkommen aufwachse, habe ein größeres Selbstvertrauen und beuge sich nicht mehr den Traditionen. Da das Geschlechtsverlangen »an sich normal und natürlich« sei (ebd.: 100), empfiehlt Lindsey, den Jugendlichen größere Gestaltungsräume für ihr Leben etwa durch Formen einer partnerschaftlichen »Versuchsheirat« (ebd.: 125) zuzugestehen, die Anwendung von Verhütungsmitteln zu erlauben und nichteheliche Familien anzuerkennen.

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Während »Kameradschaftsehe[n]« (Wendler 1931b: 174)10 unter den proletarischen Jugendlichen im Roman LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK selbstverständlich und von den Erwachsenen akzeptiert sind, »paßten« die Eltern in den bürgerlichen Familien der DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE »da auch auf« (ebd.: 46) und es gibt »Krach« (ebd.: 174), wenn Liebesbeziehungen bemerkt werden. Die Gymnasiasten müssen ihre Gefühle verbergen und leiden unter wachsender Kommunikationsnot. Adam Balte beklagt, dass seine Freunde ihm »merkwürdigerweise gar nicht zu[hören]« (ebd.: 193), wenn er erzählt, wie er von Helene verlassen wurde. Fred Köllner kann über seine Ahnung, dass Elisabeth nach Berlin zurückgehen will, nicht mit Peter Nack sprechen, denn dieser »lief fremd mit alten Zügen durch den Tag« (ebd.: 204). Für die Konflikte, die die Jugendlichen bei ihrem Versuch der »Revolution der modernen Jugend« erleben und die für Fred Köllner in den Suizid führen, taugen die am Anfang des Romans beschworenen Freundschaftsbande immer weniger. Dass hier die proletarische Gemeinschaftskultur eine Leerstelle ist, macht DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE zum tragischen Gegenstück der LAUBENKOLONIE ERDENGLÜCK. Wendler folgt nicht Lindseys Optimismus einer gesellschaftlichen »Wandlung« auf der Basis gewachsener finanzieller und technischer Möglichkeiten für die bürgerliche Jugend (Lindsey 1927: 17), vielmehr kennzeichnet er mit Gustav Radbruch und dessen KULTURLEHRE DES SOZIALISMUS (1922) diesen »Schrei nach Freiheit« als »Individualismus« und betont stattdessen (wieder mit Radbruch) ihre »Sehnsucht nach neuen Bindungen, Bindungen der Sitte, des Stils, der Kultur, der Kameradschaft, des Führertums und der Gefolgschaft« (Radbruch 1982: 47). Diese erfüllt sich für die Jungen im Roman andeutungsweise in beispielhaften Verhaltensweisen, etwa in der Unterrichtsgestaltung des neuen Lehrers, bei dem Peter Nack »jetzt viel« »arbeitete« (Wendler 1931b: 249), oder in der Großherzigkeit der Mutter von Fred Köllner. Vor allem aber erlangt Peter die Erkenntnis, dass auch eine unerfüllte Liebe »ewig« sei und das eigennützige Verhalten des Rechtsanwalts überwinden kann. »Für die Liebe gab es keine Grenzen und keine Ketten.« (Ebd.: 248) Mit JOCHEN SUCHT DEN SENDER R.O.K. wendet sich Wendler den neu entwickelten Medien zu, die das Zusammentreffen gesellschaftlich-politischer und technologisch-ökonomischer Innovationen am Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnen (vgl. Klinger 2010: 138). Der Hörfunk, dessen »regionalisierende Funktionen« die »entregionalisierende Tendenz« des Films überlagerten (Hermsdorf 1999: 193), wurde zum Massenmedium »durch das Geschick der Funk-Freaks und RadioBastler, die aus billigen Zubehörteilen brauchbare Apparate bauten und sich in Radio-Klubs zusammentaten« (ebd.: 198). Tatsächlich liegt die Ambivalenz dieser Entwicklung der Moderne in ihrem regionalen und partizipatorischen Charakter, der

10 DIE KAMERADSCHAFTSEHE ist ebenfalls ein Buchtitel von Ben B. Lindsey (1928).

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Missbrauch ermöglicht. Auf der Ebene einer Rahmenhandlung gleicht das Erlebnis mit dem Sender R.O.K. Jochens fehlendes Verständnis der Radiotechnik aus, für das er in der Schule »einen Tadel« erhalten hat. Jochen werde »nie ein moderner Mensch werden«, erklärt der Lehrer, wenn er »nichts vom Radio verstünde« (Wendler 1932a: 11). Weil er und seine Freunde sich vornehmen, das Geheimnis des Senders R.O.K. aufzuklären, ist er jedoch gezwungen, sich mit Sende- und Empfangstechnik auseinanderzusetzen. Der Rundfunk modernisiert den Alltag, betrifft aber in seinem regionalen Charakter die Hörer in Mittlenburg unmittelbar, als der unheilverkündende Sprecher des Senders R.O.K. eine Tanzmusikübertragung aus dem Berliner Hotel Adlon unterbricht, um »Tanzmusik aus Mittlenburg« zu senden (ebd.: 23). Die Zuhörer empfinden seine Durchsagen aus der heimatlichen Kleinstadt als »unheimlich«, während die schließlich wiedereinsetzende »Stimme des Berliner Ansagers« »wohlvertraut« auf sie wirkt (ebd.). Die unheimliche Anmutung wird dadurch gestützt, dass »eine Sendeantenne«, so erklärt es ein Freund Jochens, »wie eine Empfangsantenne« aussehen kann und folglich schwer zu erkennen sei. Man brauche dafür nicht einmal »einen sichtbaren Draht zu verwenden, ein Balkongitter tut dieselben Dienste« (ebd.: 33). Die Sendeanlage wird entsprechend das »Geheimnis« des »alten Hauses« genannt (ebd.: 79), in dem der Friseur Kämmke wohnt. Erst als die Kinder den versteckten Apparat finden und durch eine List dessen Funktionsweise erfahren, schwindet die Unsicherheit. Nun erhält Jochen ein Lob von seinem Klassenlehrer und bekommt »nie wieder eine Vier in Physik« (ebd.: 87). Nach der Bestrafung des Friseurs »wegen groben Unfugs und wegen Vergehens gegen das Rundfunkgesetz« eröffnet der Text die Perspektive einer Gemeinschaftsbildung, die diese Ambivalenzerfahrung integriert: »Nie aber vergaßen die Leute von Mittlenburg den Sender R.O.K.« (Ebd.) Im Roman SOMMERTHEATER führen die Figuren einen Diskurs um Laien- und Berufsschauspiel, der von der Ankunft der Schauspielerinnen und Schauspieler in der Kleinstadt ausgelöst wird. Hierbei geht es weniger um die Qualität des Spiels als um dessen Wirkung. Lis Hörske, der »Star« des Gesangsvereins, welcher in Konkurrenz zu MINNA VON BARNHELM »Die Fürstentochter und der Musikant« probt, wirkt wie von einer unabweisbaren Macht gepackt, als sie Aschenbrenner in die Großstadt folgen will, um dort Theater zu spielen. Ihrem Ehemann gegenüber insistiert sie: »Ich muß doch zum Theater, Paul! Ich kann hier nicht länger leben!« (Wendler 1937: 286) Die Befürworter des Laientheaters führen dagegen ins Feld, dass »das Leben« nach den Gesangsverein-Aufführungen wieder »seinen üblichen Gang« ginge, »weil auch die Spieler wieder brav ihre Arbeit taten« (ebd.: 200). Es mache »Spaß«, »daß Bäckermeister Hörnemann nicht nur Brote backen kann, sondern auch ulkig auf der Bühne ist« (ebd.: 129). Der »Zauber des Theaters« (ebd.: 287) löst die sozialen Bindungen, während die Laienkunst einer Gemeinschaft stiftenden Festkultur zugerechnet wird. Der Roman schildert jedoch, wie die ungebundenen Schauspieler das Leben in der Kleinstadt auf eine verwirrende, aber

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letztendlich positive Art verändern. Der erzählerische Schwerpunkt liegt dabei auf dem glücklichen Beginn der Liebesgeschichte zwischen dem Lehrer Ludwig Kromphardt und der Siebenschön genannten Apothekerstochter Eva Bröcker, deren Beiname wiederum auf das Märchen SIEBENSCHÖN von Ludwig Bechstein verweist. Der Erzähler nennt Siebenschön nicht nur wiederholt »ein Mädchen aus einem Märchen« (ebd.: 13, 15, 22, 32 u. ö.), Wendler übernimmt das Motiv der hinausgezögerten Vermählung und adaptiert den Treffpunkt an der Tanne im Märchen bzw. den Vergleich der Gestalt der jungen Frau mit dem »herrlichen Wuchs« »eine[r] junge[n] Tanne« (Bechstein 1988: 222) auf die in der Mark Brandenburg eher beheimatete Birke. Bei Wendler ist Siebenschön »rank und schlank wie eine Birke« (Wendler 1937: 12f.). Motiviert ist der Bezug auf das Märchen über den Handlungsort: Nur »in den kleinen Städten« sei es zwei Liebenden noch möglich »ein Märchen [zu] erleben« (ebd.: 314). Handelt es sich bei dem Konflikt zwischen Laien- und Berufstheater um eine Konkurrenz durch »Differenzierung« entstandener »autonomer Teilsysteme« (Seeber 2013: 538), so binden Märchenmotive die Handlung wieder an vormoderne Erzählkonventionen der »Volkspoesie«. 11

V OLKSTÜMLICHKEIT Die Konfliktfelder von Industriearbeit und Naturgenuss, von Laienspiel und Berufstheater, der Befreiung von einer restriktiven Sexualmoral und schließlich die ambivalente Erfahrung neuer Medientechniken werden in den besprochenen Büchern Wendlers nicht hinsichtlich einer die Moderne befürwortenden oder verurteilenden Position entschieden, sondern zumeist einer positiv, wenn auch nicht im einfachen Sinne glücklich sich entwickelnden Liebeshandlung im kleinstädtischen Rahmen untergeordnet. Diese Tendenz folgt dem Konzept eines volkstümlichen Erzählens, das zudem Erzählkonventionen der Unterhaltungsliteratur nutzt. Kleinstadtgeschichten bieten hierfür aufgrund der »Überschaubarkeit« und »Abgeschlossenheit« des Handlungsraums (Nowak 2013: 28), des typisierten Figureninventars und der konventionalisierten Vorstellungen von einem «ruhig dahin[fließenden]« Leben (Wendler 1937: 314) die besten Voraussetzungen. In einer Einlassung unter dem Titel DAS GROßE ZIEL: VOLKSTÜMLICHKEIT aus dem Jahr 1955 stellte Wendler der »trockene[n] Konstruktion« und den »durch Röhren und ins Gestänge« gepressten Geschichten eine Literatur entgegen, die »echte Menschen« biete, welche »arbeiten und lieben, lachen und weinen können« (Wendler 1955). Volkstümlich sei es, wie in den »alten Volksbüchern« den Helden

11 Vgl. hierzu Peter Nussers »Exkurs über die Beziehungen zwischen Trivialliteratur und ›Volkspoesie‹« (Nusser 1991: 101-104).

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»erdfeste, dickwamsige Begleiter« an die Seite zu stellen, »die eine gute Schlackwurst und ein Gemäß brabantisch Bier zu schätzen wissen« (ebd.). 12 Wendlers Verständnis des Volkstümlichen unterscheidet sich von zeitgenössischen »Überlegungen um die Bestimmung einer ›volkstümlich-sozialistischen‹ als einer alternativen Literatur« (Herlinghaus 2010: 855) durch den nostalgischen und unpolitisch gemeinten Gebrauch des Begriffs. Als Kontrast sei auf Bertolt Brechts Aufsatz VOLKSTÜMLICHKEIT UND REALISMUS verwiesen, in dem dieser sich von einem »geschichtslosen, statischen, entwicklungslosen« Volkstümlichkeits-Begriff abgrenzt (Brecht 1967: 324). Führt Brecht als Grund für die Schwierigkeit, volkstümlich zu schreiben, die »Distanz zwischen Schriftsteller und Volk« an, wofür er die »herrschende Ästhetik«, den »Buchpreis und die Polizei« als Ursache erkennt (ebd.: 322), so situiert sich Wendler in einer SELBSTDARSTELLUNG aus dem Jahr 1934 in einem ländlichen Umfeld, das von dieser Distanz unbelastet sei: »in einer kleinen Siedlung, Wald und Wasser vor der Tür«13 (Wendler 1934). Sich selbst stilisiert er als ehemals »kriegsfreiwillige[n] Jäger«, der ohnehin dem »bürgerlichen Leben« entfremdet sei. »Ich liebe den Wald, das Wasser, die Primitivität, aus der die besten und härtesten Hölzer und Menschen wachsen, den Ruch der Scholle um den deutschen Bauern, die Humore und den harten Ernst der schreibtischfernen Arbeit.« (Ebd.) Man müsse »wieder hin« zu den »edlen Stoffen« der Jugendzeit, stellte er seiner Komödie MORITAT (1931) als Vorbemerkung voran und grenzte sich von »den Stücken der Sachlichkeit, der Psychologie, der Politik« ab (Wendler 1990: unpag.).14 In einer Rede zur Morgenfeier der Arbeiterbibliothek in Brandenburg (Havel) von 1928 erklärte er, dass gerade eine Literatur der »Erschütterungen des Herzens«, der »Abenteuer der Seele und des Blutes« eine rehumanisierende Wirkung habe, weil sich durch ihre Lektüre der von »Mechanisierung, Fordisierung, Rationalisierung« ergriffene Arbeiter »selber wieder zum Menschen macht« (Wendler 1928). Den »große[n] Dichtern der Deutschen« sei es um die »Einheit des

12 Es ist so verwirrend wie charakteristisch, dass sich Wendlers Einlassungen zur Literatur und zu den Künsten inhaltlich nicht verändern, ganz gleich ob sie aus der Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus oder der DDR stammen. Ihr vordergründig politikferner Verweis auf die »Liebe« und die »echte[n] Menschen« (Wendler 1955) ermöglichte ihr Bestehen in unterschiedlichsten politischen Systemen. Man sollte hier nicht der Suggestion eines »antitotalitären Diktaturenvergleich[s]« erliegen, da jede exemplarische Falldarstellung literaturgeschichtlich kontextualisiert werden muss (Peitsch 2007: 288). Die »Ideologen des deutschen Faschismus«, so Herlinghaus (2010: 865), praktizierten »eine autoritäre Politik der Volksbeeinflussung wirkungsvoll«, »ohne daß sie ein historisches Konzept von Volkstümlichkeit entwickelt hatten«. 13 Gemeint ist Burg (bei Magdeburg). 14 Eine zeitgenössische Kritik an diesem Konzept bietet Degner (1931).

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Gefühls und um alle großen Leidenschaften des Menschen« gegangen (ebd.). Die übergeordnete Bedeutung des Liebesmotivs in Wendlers Romanen wird hierdurch begründet. Liebe »gehört« nicht nur zur Volkstümlichkeit dazu (Wendler 1955), sie bezeichnet vielmehr einen Zustand, in dem der entfremdete Mensch wieder ganz bei sich selbst sein werde. Ein Anwendungsbeispiel für die Vermittlungs- und Wirkungsweise von Literatur, wie sie Wendler entwirft, bieten seine Überlegungen zur »Kulturschule« als »Stätte«, an welcher der Mensch »den Kontakt mit der Zivilisation löst, um kulturverbunden zu sein.« (Wendler 1924d) Der themenorientierte, fächerübergreifende Unterricht vertiefe die künstlerische Bildung, wobei im Gegensatz zur »hirnverseucht[en]« »Gedichtbehandlung« »die Dichtung als allgegenwärtiger Unterrichtsbestandteil« die Kinder »einhüllen« werde, damit sie »nacherlebt« werden könne (Wendler 1924c). Die Klassenräume sollen mit Bildern ausgestattet werden, »die Sehnsucht tragen«, der Hof Platz für Bewegung und Rasenflächen zum Lagern bieten (Wendler 1924d). »Wenn Volkstänze, Volkslieder wieder organisch aus der Schule wachsen sollen, muß ein wenig Eichendorff-Romantik um uns sein.« (Ebd.) Wendler überträgt hier ein bürgerliches Bedürfnis nach Innerlichkeit und Gemütsregulierung auf das proletarische Publikum und nimmt dabei die einer kämpferischen Klassenkultur entgegenlaufende Position sozialdemokratischer Kulturpolitik der Weimarer Republik ein (vgl. Will/Burns 1982: 45). Dementsprechend dienen »Kunst und Geselligkeit« »als kompensatorische Momente« der »besseren Regeneration der Arbeitskraft« (ebd.) und Förderung des »sozialistischen Gemeinschaftsgedankens« (ebd.: 48), dessen Ausdruck nach Gustav Radbruch ein »Ineinanderrinnen bürgerlicher und proletarischer Kultur« sei (Radbruch 1982: 46). Die literaturvermittelte Aneignung einer bestimmten Region folgt dieser Tendenz. »Kultur«, so Wendler, »wächst immer da, wo der Mensch in seiner Umwelt aufgeht.« (Wendler 1924c) Dieses Aufgehen ist ein emotionales, es wird im Sinne der zitierten »Eichendorff-Romantik« durch bildliche, sprachliche und räumliche Gestaltungen geprägt, die Sehnsucht wecken, sinnlich sind und den Lebensraum abenteuerlich erlebbar machen. Da Wendler eine solche Kulturverbundenheit im Widerspruch zum industriestädtischen Charakter Brandenburgs sah – für ihn war Brandenburg keine »Kulturstadt« (Wendler 1927) –, sind die in seinen literarischen Texten explizit benannten Orte eher in der umliegenden Region zu finden, beispielsweise Reckahn und der Wendsee (Wendler 1932a: 12), der Feldweg nach Rietz (ebd.: 40), Rotscherlinde und das Strandbad Massowburg (Wendler 1933b: 5f. und 9) sowie Plauer[hof] (Wendler 1933a: 8) und Belzig (Wendler 1930: 261f.).

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R EGIONALER B EZUG Die zivilisationskritische und antimoderne Haltung, die Wendlers Programmatik kennzeichnet, bietet einen Zugang zur intendierten Wirkung seiner literarischen Texte, doch beschreibt sie deren Bedeutung nur unzureichend. Gerade das Ausschreiten der Ambivalenzen der Moderne in Verbindung mit Schreibweisen der Unterhaltungsliteratur sowie die Popularisierung sozialdemokratischer Gemeinschaftsvorstellungen antworten auf zeitgenössische Herausforderungen und gewandelte Lesebedürfnisse. In seiner Publizistik orientierte sich Wendler dagegen an der Vermittlung kulturpolitischer und schulreformerischer Positionen der Sozialdemokratie innerhalb einer bestimmten Region.15 Um ihre Funktionalität beurteilen zu können, muss dieser Wirkungsbereich in die Untersuchung mit einbezogen werden. Wendler hatte als Lehrer in Kirchmöser und Rektor in Brandenburg (Havel) einen privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit. Die Brandenburger Zeitung publizierte neben seiner Artikel-Serie PÄDAGOGIK INS BLICKFELD (1924) zahlreiche Bühnenkritiken, Feuilletons und Prosatexte Wendlers, auch Rezensionen und Werbeanzeigen wiesen auf seine Bücher hin. Bei der weihnachtlichen Lichtfeier des Jahres 1931 wurde sein Puppenspiel SIEBEN AUF EINEN STREICH zur Aufführung gebracht,16 die Märchenkomödie DER STEIN DES GLÜCKS (1926) gehörte zur Schullektüre der Sammelschule,17 mehrere Brandenburger Schulen führten Kinder- und Jugendbücher Wendlers in ihren Bibliotheken.18 Der Bereich regionaler Wirksamkeit war jedoch überaus umkämpft und von politischen Ausgrenzungsstrategien bestimmt. Anfeindungen gegen Wendler hatten nicht allein literarische Gründe, sondern richteten sich vor allem gegen seine Rolle als ›dichtender Volkserzieher‹, in der sich seine Positionen als Rektor, Schriftsteller und Stadtverordneter der SPD miteinander verknüpften. So werfen denunziatori-

15 Dass Wendlers bildungspolitischer Standpunkt als Rektor einer Sammelschule selbst im Gegensatz zu der auf »Ausgleich mit den Kirchen und ihren politischen Interessenvertretern« bedachten SPD-Schulpolitik in der Koalitionsregierung gestanden haben muss, legt die Analyse der »beiden Linien sozialdemokratischer Schulpolitik« von Wolfgang W. Wittwer nahe (Wittwer: 1980: 196). 16 Programm der Lichtfeier der Sammelschule, o. J. (1931). Nachlass Paul Schulze, Brandenburg (Havel), Privatbesitz. 17 Wendler, Otto Bernhard an Schulrat Paul Strauch: Einzelschriften, die in der Sammelschule gelesen werden. Brandenburg (Havel), 09.11.1927. BLHA Rep. 2A II Brd Nr. 169. 18 Strauch, Paul an die Regierung, Abt. II, Potsdam: betr. Eingabe des »Bürgerausschusses« in Brandenburg/Havel. Brandenburg (Havel), 10.12.1932. BLHA Rep. 2A II Pers Nr. 9284.

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sche Briefe und Berichte in Wendlers Lehrerpersonalakte 19 sowie in der Mitgliedsakte der Reichsschrifttumskammer20 Wendler Intoleranz und Standesdünkel vor. Dass diese Auseinandersetzungen, insbesondere jene mit dem aufkommenden Faschismus, keinen Eingang in sein literarisches Schaffen gefunden haben, liegt in Wendlers Bezug auf sein regionales Publikum begründet. Literarische Schauplätze mit geografischer Referenz können von der ortskundigen Leserschaft lokalisiert und mit dem von ihr erfahrenen sozialen Leben verglichen bzw. »als eine Möglichkeit unter anderen verstanden werden«, um »Impulse für sozialräumliches Zusammenleben« zu erhalten (Nell/Weiland 2014: 42). Unter dieser Voraussetzung bieten die hier behandelten Bücher Modelle für einen regional eigenständigen Umgang mit Modernisierungskonflikten an, ohne bereits durch den Bezug auf den zeitgenössischen Nationalismus affiziert zu sein. Dem »Erlebnis der Gemeinsamkeit«, um Anna Siemsen (1982: 39) zu zitieren, wird der »Zwang zu Verteidigung und Angriff« untergeordnet. Damit ein solches Schreibkonzept seine Wirkung entfalten kann, muss der Autor eine größere Glaubwürdigkeit als regionaler Repräsentant denn als Schriftsteller für sich verbürgen können. Dies prägt nicht nur seine Selbstdarstellungen (u. a. als »zufällige[r] Dichter«, Wendler 1926: 41), sondern reicht bis zur Intellektuellenskepsis in den Romanen selbst. So vertieft der Erzähler der DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE den Unterschied zwischen einer authentischen Sprache, die Vettenstedter »aus sich selbst« holten, und der aus den »Büchern« angelesenen Redeweise (Wendler 1931b: 28). SOMMERTHEATER enthält eine Distanzierung von den »Leute[n] vom Federhalter«: »Vor ihnen ziehen die Mitbürger nicht nur den Hut, sondern nehmen oft auch den Kopf noch ab.« (Wendler 1937: 133) Wendler kennzeichnet über eine Volkstümlichkeit, die sich vom Bildungsbürgertum absetzt, seine Zugehörigkeit zu den ›einfachen Leuten‹, um deren Kultur zugleich literarisch zu ästhetisieren. Für die nationalkonservativen Mitglieder des Brandenburger Bürgerausschusses war der Rektor der Sammelschule jedoch schlicht ein »Verfasser übelster pornographischer Romane und peinlicher Theaterstücke« und kein »Heimatdichter«. 21 Der Syndikus des Bürgerausschusses warf Wendler vor, das Vertrauensverhältnis zu

19 Vgl. den anonymen Bericht »Von Brandenburger Schulleitern und ›hervorragenden‹ Lehrern und Lehrerinnen« vom 11.03.1933. BLHA Rep. 2A II Pers Nr. 10121. 20 Siehe die Stellungnahme von Hans-Werner Schulze, der sich als ehemaliger Schüler Wendlers beschreibt, an den Leiter der Kreisleitung der NSDAP in Magdeburg vom 26.10.1938. BArch R 9361/V 39723. 21 Cramer, Friedrich/Der Bürgerausschuß Brandenburg (Havel) an Herrn Regierungsdirektor Dr. Schweckendieck. Brandenburg (Havel), 22.10.1932. BLHA Rep. 2A II Pers Nr. 9284.

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Lyzeumsschülerinnen und Saldrianern missbraucht zu haben, indem er »die neuesten Skandalgeschichten aus den beiden Schulen« für seinen Roman DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE verwendete.22 Die Vertreter der Schulabteilung der preußischen Regierung verstanden die »zartere[n] Bilder« und »lyrische[n] Stimmungen« »in dem mehr idyllischen Kleinstadtbuch« als Mittel, um »die masslosen [!] und anwidernd rohen Szenen« noch »schärfer und abstossender [!]« hervortreten zu lassen. Um Wendlers regionale Bedeutung abzuschwächen, schlugen sie vor, den Vertrieb der inkriminierten Bücher in Brandenburg zu verbieten. »Die Gefahr der Bücher ist […] vorzüglich dort gegeben, wo Wendler als Rektor bekannt ist, also in Brandenburg.«23 Auf Distanzaufbau zielte jedoch auch die Wendler bislang so freundlich gesinnte Brandenburger Zeitung in einer Rezension der DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE ab. Wendler wurde hier nicht mehr als »parteigenössischer Schulmann«24 sondern als Vertreter der »Dichter, Schriftsteller und Journalisten« einer »Zeit, die alles auf den Kopf stellt« mit dem Vorwurf konfrontiert, der Jugend anzudichten, sie sei »vergeilt und willig im sich Hingeben«, obwohl diese doch »viel, viel gesünder in ihren Empfindungen« sei (k.h. 1932). Da die Literaturkritik noch 1956 den »Beigeschmack der Geilheit« und die Urgewalt der »Instinkte« in Wendlers Prosa bemängelte sowie die »Grenzen der Popularisierung« anmahnte (H.B. 1956), greift der Verweis auf die politischen Auseinandersetzungen als Erklärung jedoch zu kurz. Wendlers Bücher stellen vielmehr die »Dichotomisierung von ›hoher‹ und ›niederer‹ Literatur« (Herlinghaus 2010: 848) in Frage, weil sie die ästhetisch und pädagogisch profilierte Volkstümlichkeit mit einer Populärkultur verbinden, die in den 1920 Jahren vor allem in Heftreihen Aufmerksamkeit erregte. Dass er damit tradierte Bewertungskriterien herausforderte, wird verständlich, wenn man bedenkt, dass, so Hermann Herlinghaus, »volkstümlich« seit den Grimmschen Märchensammlungen »innerhalb der ästhetisch-literarischen Begriffsentwicklung in Deutschland unter der Hoheit der gebildeten Literatur und Kunst« verblieben war (ebd.: 847). Als ein Versuch, dem »befürchteten Anerkennungsverlust bürgerlicher (Kultur-)Werte und Normen« zu begegnen (Dettmar 2012: 572) (und damit selbst wiederum »als Krisenerscheinung«, ebd.: 577), lässt sich die Indizierung populär-

22 Der Bürgerausschuß Brandenburg (Havel) an die Regierung, Potsdam z.Hd. des Herrn Oberregierungsrates Dr. Schweckendieck. Brandenburg (Havel), 20.01.1933. BLHA Rep. 2A II Pers Nr. 10121. 23 Preußische Regierung, Abt. II an den Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin: Betrifft: Rektor Otto Wendler in Brandenburg. Potsdam im Januar 1933. BLHA Rep. 2A II Pers Nr. 10121. 24 Mit »Die Red.« gekennzeichnete Einleitung zu: Wendler (1924a).

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kultureller Bücher und Zeitschriften als ›Schund- und Schmutzschriften‹ verstehen, die 1933 auch Wendlers Roman DREI FIGUREN AUS EINER SCHIEßBUDE traf.25 Der Blick auf »die empirische Existenzweise von Literatur in einer Region« (Mecklenburg 1986: 13, Hervorh. im Orig.) macht das Spannungsfeld bewusst, in dem Bücher, die literarisch zunächst wenig avanciert wirken, zentrale Fragen der Zeit zu beantworten versuchen. Wendlers Kleinstadtromane heben sich im Kontext der »Konjunktur der Kleinstadt in der Literatur um 1930« (Nowak 2013: 264) unter anderem durch ein ›Ineinanderrinnen‹ der Ästhetiken von Volkstümlichkeit und Populärkultur hervor. Jene, die dies als Trivialisierung ablehnten, nahmen die erzählte Welt der Kleinstadt bei Wendler als ein Mittel der Verzerrung bzw. der Verfälschung wahr, aber nicht als Raum, in dem Gemeinschaftsmodelle die Verwerfungen der Moderne ausglichen. Unterschiedliche Erwartungshorizonte und politische Standpunkte eröffnen also eine Varianz von Deutungen, in denen die Kleinstadt als ›Kippfigur‹ erscheint. Regionalgeschichtliche Kontextualisierungen der Kleinstadtliteratur würden vermutlich stärkere politische Auseinandersetzungen zutage fördern, als die literarischen Texte selbst zunächst vermuten lassen. Dies kann als Hinweis auf die Relevanz des regionalen Bezugs in der Weimarer Republik gelten, zeigt doch gerade die nachfolgende Einbindung Wendlers in den NS-Propagandaapparat, wie sich die Schauplätze von der Kleinstadt und der Mark Brandenburg lösen – SOMMERTHEATER stellt hier eine Ausnahme dar – und national-politischen Schwerpunkten (z.B. dem Saarland 26 oder der Reichsautobahn27) zuwenden.

25 Der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Abschrift des Beschlusses der Prüfstelle Berlin für Schund- und Schmutzschriften vom 27.06.1933. Berlin, 31.07.1933. BLHA Rep. 2A II Pers Nr. 10121. 26 Das von Wendler unter dem Pseudonym Peter Droß verfasste Kinderbuch JOHANN, EIN JUNGE VOM SAARHAMMER (1934) propagiert den Anschluss des Saargebietes an Deutschland und die Feindschaft zu Frankreich. Die Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone setzte den Titel 1947 auf die LISTE DER AUSZUSONDERNDEN

LITERATUR (Erster Nachtrag) (siehe: www.polunbi.de/bibliothek/1947-

nslit.html#dok). 27 Vgl. das von Wendler gemeinsam mit Hans Schmodde und Robert A. Stemmle für die UFA verfasste Drehbuch BRÜCKE INS LEBEN. EIN FILM VON DEN MÄNNERN DER REICHSAUTOBAHN (Berlin: A. Jankowski, o. J.). Bibliothek der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, X 380. Verfilmt wurde es unter dem Titel MANN FÜR MANN (1939) (Deutschland, R: Robert A. Stemmle).

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Die Neue Frau in der Kleinstadt Stadträume und Gender in Marieluise Fleißers Mehlreisende Frieda Geier C HRISTIANE N OWAK

D IE N EUE F RAU UND

DIE VERLETZTE

M ÄNNLICHKEIT

Als Marieluise Fleißers Roman MEHLREISENDE FRIEDA GEIER im Jahr 1931 publiziert wurde, näherte sich das Medienphänomen ›Neue Frau‹ seinem Höhepunkt (vgl. Capovilla 2001, Delabar 1999).1 1928 war Vicki Baums Roman STUD. CHEM. HELENE WILLFÜER erschienen, der als erfolgreiches Modell für das neue Frauenbild gilt. Es folgte 1931 GILGI – EINE VON UNS, der erste Roman von Irmgard Keun, die das Muster weiter ausarbeitete und, nicht zuletzt auch durch die Verfilmung des Stoffs im Jahr 1932, verbreitete. Die Protagonistin in Fleißers Roman, Frieda Geier, bewegt sich wie auch ihre Vorbildfigur Helene Willfüer, die als allein erziehende Mutter ein Studium absolviert und als Direktorin einer Fabrik Karriere macht, in geschäftlichen Männerdomänen, die bis ins Private reichen. Dies zeigt sich bereits zu Beginn des Romans. Frieda Geier wird hier mit den Händen »in ihrem unmenschlich langen Herrenmantel vergraben« (Fleißer 1972: 18) eingeführt. Sie arbeitet als fahrende Mehlverkäuferin. Ihre Kunden, die Geschäftsführer von Bäckereien, sind ausnahmslos männlich. Immer wieder wird im Verlauf des Texts auf äußere Merkmale eingegangen, die Frieda von traditionellen weiblichen Erscheinungen unterscheiden; und die auch schon einen Hinweis auf ihre innere Konstitution geben. Sowohl innerlich als auch äußerlich erscheint sie als neues Phänomen, das den herkömmlichen Geschlechterrollen nicht mehr entspricht

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In die Werkausgabe wurde der Roman unter dem Titel EINE ZIERDE FÜR DEN VEREIN. ROMAN VOM RAUCHEN, SPORTELN UND VERKAUFEN in leicht überarbeiteter Form aufgenommen.

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und auch nicht entsprechen will. In ihrem Verhalten und in ihren Meinungen spiegelt sich der Zwang, sich in der männlich dominierten Geschäftswelt behaupten zu müssen: »Das Fräulein hat den ganzen Abend noch kein Wort gesagt. Die Soldaten haben keine Annäherungsversuche an sie gemacht. Ihre Blicke sind nicht weiblich. Sie wandern von einem zum andern, ungerührt. Was hat sie für eine Absicht? Kann es das geben, dass ein weibliches Wesen hier stundenlang aushält, bloß um seine Beobachtungen zu machen? Sie trägt eine schwarze Lederjacke und abgeschnittenes Haar.« (Ebd.: 23)

Vom erzählenden Subjekt wird Frieda ihre Weiblichkeit abgesprochen, sie ist keine Neue Frau, sondern gar keine Frau, ein Wesen, das sich nicht in die bekannten Geschlechterkategorien einordnen lässt. Ihr distanziertes und unkonventionelles Verhalten ermöglicht ihr Unabhängigkeit und schützt sie; sie ist nicht den aufdringlichen Annäherungsversuchen der Soldaten ausgesetzt. Am deutlichsten werden Friedas unorthodoxe und moderne Vorstellungen in Gesprächen mit ihrem Geliebten Gustl Amricht über ihre gemeinsame Beziehung: »Sie kann in den Tod nicht leiden, wenn Männer den lästigen und undankbaren Teil der Arbeit den Frauen zuschieben aus Prinzip. ›In Amerika helfen die Männer und Frauen auch zusammen,‹ sagt sie zum Beispiel. ›Hier ist nicht Amerika.‹ Aber hier ist Frieda, die jahrelang Männerarbeit gemacht hat. Was soll das einmal werden, wenn Frieda sich auf die Heirat einlässt? Dann ade, schöne Selbstständigkeit!« (Ebd. 1972: 117)

Frieda möchte sich also nicht die »Fesseln der Ehe« anlegen lassen, sondern strebt nach einer Angleichung der Geschlechter sowie einer wechselseitigen Unterstützung. In diesem Zitat klingt aber auch eine Kritik am medialen Mythos der Neuen Frau an, denn dieser bezieht sich vor allem auf ledige, junge Frauen. Wenn die Umsetzung des Mythos in der Wirklichkeit vorstellbar war, dann doch nur in dieser beschränkten Lebensphase, in der den Frauen aus gesellschaftlicher Perspektive eine gewisse Selbstständigkeit zuerkannt wurde. Verheiratete, berufstätige Frauen wurden in öffentlichen Debatten hingegen scharf kritisiert (vgl. Nowak 2013a). Der männliche Gegenpart von Frieda Geier, Gustl Amricht, ist ein stadtbekannter Sport- und Rettungsschwimmer und Mitglied einer alteingesessenen Händlerfamilie; er kann dem Bürgertum zugezählt werden. In vielen Punkten bildet er das Gegenteil von Frieda: Er ist ökonomisch gesehen abhängig von seinen Eltern (sie haben ihm die Eröffnung seines eigenen Geschäfts ermöglicht, noch trägt sich der Laden aber nicht von selbst) und seinem direkten sozialen Umfeld, die Stadtbewohner sind allesamt potentielle Kunden. Er ist in einen Sportverein integriert, über Friedas soziale Kontakte erfährt der Leser nichts. Gustl ist ein Insider, Frieda eine Außenseiterin. Dennoch hat Gustl auch eine unorthodoxe Seite: Im Verborgenen ist

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er ein Lebemann, der sich durchaus für Außergewöhnliches interessiert. Am Ende bestimmen aber dennoch die patriarchalischen und traditionellen Werte seine Sicht auf die Beziehung zu Frieda, denn die Durchsetzungskraft und das Selbstbewusstsein seiner Geliebten überfordern ihn: »Er blickt ihr nach wie der Stier, wenn es donnert. Gustl wird eifersüchtig, wenn sich schon hieran zeigt, dass er nicht jeden Platz ausfüllt in ihrem Herzen. Daß Frieda den Unterschied zwischen mein und dein macht, wo er nur darauf brennt, ihr seinen mannbaren Schutz zu verleihn, wird ihm ewig unfassbar bleiben.« (Fleißer 1972: 126)

Gustls Verhalten wird häufig mit Tiermetaphern beschrieben, von ihm geht eine teilweise beängstigende Gewalt aus. Von einigen Interpreten wird Gustl auch als Prototyp des autoritären Charakters gelesen (vgl. Lethen 1994: 181). In dieser Gewalt, die häufig aus Unsicherheit heraus entsteht, und in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber Rivalen, fasziniert der Sportschwimmer Frieda. Gustl besitzt Eigenschaften, die Frieda gern hätte; dazu gehören z.B. seine Natürlichkeit, seine Durchsetzungskraft, sein Ansehen im Sportverein und in der Stadt. Dass Gustl wegen Frieda das Schwimmtraining vernachlässigt, ist einer der Faktoren, die zum Schwinden des Interesses der Mehlreisenden an ihrem Geliebten führt. Am Ende, nachdem sie die Beziehung zu Gustl gelöst hat, muss die Mehlreisende erkennen, dass sie in dieser »Welt von Männern erdacht« (Fleißer 1972: 49) nicht bestehen kann. Frieda verschwindet aus dem Roman, während Gustl sich im Wirtshaus in eine ordentliche Schlägerei verwickeln lässt. Diese Wirtshausschlägerei lässt sich nun als Akzentuierung einer männlichen Kultur lesen, die in ihren patriarchalischen Werten unter anderem durch weibliche Emanzipationsbestrebungen erschüttert ist und darum zu drastischen Formen der Selbstvergewisserung, die vor allem auf Körperlichkeit basieren, greift. Die ohnehin fragile Beziehung des ungleichen Paares zerbricht, die anfängliche Ausrichtung auf ein gegenseitiges Begehren trägt nicht im Alltag und die Lebensentwürfe der beiden Protagonisten sind nicht vereinbar. Erschien Gustl zu Beginn der Beziehung noch als Retter in einer verzweifelten Situation – Frieda spielte mit Selbstmordgedanken, als Gustl sie überrascht und auf seine Seite zieht – entwickelt er im Laufe des Geschehens Perspektiven, die nicht mit Friedas Vorstellungen übereinstimmen: »Jetzt ist Gustl wie eine schwere Lokomotive ins Rollen gekommen und rollt über alles weg. Es ist nicht Friedas fixe Idee, ein Nest zu bauen, sich darin einzusperren, sondern seine. Wenn es nach Frieda ginge, sie würden die längste Zeit bei der Anziehung der Geschlechter bleiben. Gustl will weiter. Er ist auf das aus, was sie den trüben Satz am Boden nennt. Er drängt nach der ökonomischen Verwertung.« (Ebd.: 142)

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Diese ökonomische Verwertung – Friedas Mithilfe im Tabakladen und die Investition ihres angesparten Kapitals sind gemeint – wird im Verlauf der Geschichte immer wichtiger. Mit dieser Einstellung des Tabakwarenhändlers und der Bezeichnung Friedas als »Zuchtwahl« für Gustl wird ein nicht sehr romantisches Bild von Liebe gezeichnet, was sich auch in der sehr nüchternen Beschreibung von intimen Szenen zeigt: »Im überwachen Licht der nahen Lampen sehen sich die Beiden in die Augen, die sie künstlich starr erhalten.« (Ebd.: 40) Hinzu kommt, dass es ständig Missverständnisse zwischen den beiden Liebenden gibt. Gustls Mutter kommt in der Geschichte eine beziehungsentscheidende Bedeutung zu. Auch das weitere soziale Umfeld – der Schwimmverein, Freunde – spielt eine wichtige Rolle für das Scheitern der Beziehung. Gustl übernimmt in vorauseilendem Gehorsam die Meinungen seiner Umgebung und handelt dementsprechend. Denn aus der Perspektive der Kleinstadt erscheint Frieda allein schon aufgrund ihres äußeren Habitus »als ein Vampir, der die ökonomische Existenz des Kaufmanns und die Vitalität des Sportlers auslaugt« (Lethen 1994: 182). Somit setzt Marieluise Fleißer ihre Figuren in den Rahmen einer Provinzliebe, in der das soziale Umfeld eine wichtige Rolle spielt.2 Die Tatsache, dass die Beziehung von Gustl und Frieda nicht in der Ehe endet, ist das eigentlich Neue an diesem Liebesroman. Die Möglichkeit einer dauerhaften und glücklichen Beziehung scheint nirgends auf – auch nicht in der Großstadt.

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UND DAS KLEINSTÄDTISCHE

Friedas Charakterisierung als Wesen im »unmenschlich langen Herrenmantel« (Fleißer 1972: 18) sowie ihre Erscheinung als »Subjekt im Panzer« (Lethen 1994: 181) – das dann gleichwohl im gesellschaftlichen Korsett seiner Zeit zerrieben wird (vgl. ebd.: 184) – zeichnet sie aus als Figur mit einem neusachlichen Habitus. Die neusachlichen Verhaltenslehren können dabei, so Helmut Lethen in seiner vielbeachteten Studie zu den VERHALTENSLEHREN DER KÄLTE, als Reaktionen auf grundlegende Transformationen gesellschaftlicher Normen verstanden werden; sie zielen dabei darauf ab, dem Individuum Anleitungen im Handeln und Denken zu vermitteln (vgl. ebd.: 36):

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Im gleichen Jahr wie MEHLREISENDE FRIEDA GEIER erschien der Roman BOLWIESER von Oskar Maria Graf. Hier wird in einem intimen Drama eine Ehebruchgeschichte verhandelt. Der Bahnhofsvorsteher Xaver Bolwieser, ein »erotischer Untertan«, kämpft gegen Gerüchte, Klatsch und Tratsch. (Schoeller 1997: 247)

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»Die Regeln der Verhaltenslehren haben die Funktion, im unübersichtlichen Gelände der Nachkriegsgesellschaft mit ihren ökonomischen Unsicherheiten und ihren gleitenden sozialen Schichtungen elementare Dinge unterscheiden zu helfen: Eigenes und Fremdes, Innen und Außen, Männliches und Weibliches. […] Sie versprechen, den Einzelnen weniger verletzbar zu machen, und raten Maßnahmen an, mit denen er sich gegen die Beschämung, die das Kollektiv im bereiten könnte, immunisieren kann.« (Ebd.)

Der Ort, an dem die neusachlichen Verhaltenslehren – verstanden »als strategisch angelegte Selbstinszenierungen« (ebd.) – sich am besten entwickeln konnte, ist die Großstadt, so Lethen, der in dieser Einschätzung dem in der Urbanisierungsgeschichte immer wieder zitierten Georg Simmel mit seinem Aufsatz DIE GROSSSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN von 1903 folgt (vgl. Simmel 1995). Der urbane Ort gibt den Raum für die Entfaltung des Habitus der Sachlichkeit. Somit repräsentiert – oberflächlich betrachtet – Friedas Verhalten das Eindringen des großstädtischen Habitus in die Kleinstadt. Ihre Äußerungen bestätigen diesen Befund; als Gustl etwa ihre Schuhauswahl kritisiert, antwortet sie: »Das verstehst du wieder nicht, die kommen jetzt auf. In der Großstadt hat man sie schon an.« (Fleißer 1972: 21) Bei einer näheren Betrachtung der Kleinstadtbeschreibung im Roman kann dieser Befund jedoch in Frage gestellt werden: Denn: Es ist nicht Frieda, die die Sachlichkeit in die Kleinstadt trägt. Die Neue Sachlichkeit hat schon längst Einzug gehalten, die Kleinstadt ist bei Marieluise Fleißer nicht der Ort, in dem ein – nach Georg Simmel – »langsamere[r], gewohntere[r], gleichmäßiger fließende[r] Rhythmus [des] sinnlich-geistigen Lebensbildes« herrscht (Simmel 1995: 117). Das kleinstädtische Seelenleben ist mitnichten »auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen« ausgerichtet (ebd.) Schon in der Eingangsbeschreibung der Stadt ist die Allgegenwart eines ökonomischen Drucks angedeutet, bei einem Spaziergang sehen die Figuren die Straßen durch die ökonomische Brille: »Sie gehen durch eine patrizische Wohnstraße mit zackigen Giebeln, die hinter dem ehemaligen Kaufhaus Ponschab geschäftlich tot ist.« (Fleißer 1972: 23) Eine idyllisch einsetzende Beschreibung eines »Kleine-Leute-Tags« auf dem Markt rückt den Existenzkampf der Handwerker, Handelsleute und Stadtbevölkerung in den Vordergrund. 3 Wenn die »Hausfrauen mit dem Korb am Arm auf die Einkaufsattacke« (ebd.: 312) gehen, bleibt von einer Marktplatzidylle nicht viel übrig, denn oberflächliche Freundlichkeit geht oft

3

Hier lassen sich Parallelen zur Stadtgeschichte des realen Ortes Ingolstadt, der Heimatstadt Fleißers, ziehen. Das reale Ingolstadt kämpfte in den 1920er Jahren mit den Auswirkungen des Versailler Vertrages, denn seine Tradition als Garnisonsstadt wurde durch die Entmilitarisierung in Frage gestellt (vgl. Rühle 1937: 133).

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einher mit Rivalität, Bösartigkeit und sozialem Druck. Diese Beschreibung findet sich in der Mitte des Romans, im zentralen Stadtkapitel, das den Text strukturiert. 4 Besonders schwer haben es in diesem sozialen Kleinstadtklima Fremde und Andersartige, was der Student aus der Großstadt Scharrer und am Ende auch Frieda Geier zu spüren bekommen. Gustls Mutter hatte ihrem Sohn geraten: »Wenn du einem Fremden was abgibst, dann nur das Schlechteste und Älteste, woran am wenigsten kaputt wird.« (Ebd.: 47) Somit sind die Figuren einer sozialen Kälte ausgesetzt, die ihr Pendant in den meteorologischen Bedingungen findet: »Ungewöhnliche Kälte herrscht in diesem Jahr. Die Donau ist zum erstenmal seit 1905 in diesem Teil des Laufes zugefroren.« (Ebd.: 217) Auch Gustls Tabakwarenladen ist von dieser außergewöhnlichen Kälte getroffen, an seinem Schaufenster bilden sich Eisblumen. Als Grund für diese soziale Kälte macht das erzählende Subjekt die Industrialisierung und den Versailler Vertrag aus. Die Stadt wurde entmilitarisiert und ihr damit eine wichtige Lebensgrundlage entzogen. Dabei wirkt sich auch die spezifische Lage und Angebundenheit der Stadt auf die in ihr herrschende Mentalität aus. Sie liegt »weit entfernt von den Industriezentren des Reichs, zahlt hohe Fracht- und Transportkosten. Sie liegt gefährlich nahe der Landeshauptstadt, deren leistungsfähige Warenhäuser ihren Geschäften durch Prospekte und Inserate systematisch Konkurrenz machen.« (Ebd.: 109)

Die Stadt hat aber nicht nur mit den Auswirkungen der Industrialisierung zu kämpfen, die Modernisierung hat auch auf kultureller Ebene Einzug gehalten; wie viele andere Paare auch haben Frieda und Gustl ihr erstes Rendez-vous im Kino. Im Roman ist auch die Kleinstadt zu einem, wie es bei Georg Simmel heißt, »Sitz der Geldwirtschaft« geworden. Dennoch existieren einige wesentliche Unterschiede zur Großstadt. Die mittelalterlichen Wurzeln sind noch sehr präsent. Die Stadt wird als »mystischer Leib« beschrieben, der von Kirchtürmen geprägt ist – ein Kino wirkt in dieser Kulisse noch recht fremd, obwohl die Institution im Jahr 1931 schon lange etabliert ist. Dieser feste und identitätsstiftende Stadtkern bietet Einigen noch Sicherheit und Rückhalt.

4

Anita Runge stellt fest, dass in MEHLREISENDE FRIEDA GEIER eine »Ablösung der göttlichen durch eine monetäre Ordnung« (Runge 2006: 20) in der Stadt stattfindet. Diese Aussage geht allerdings etwas zu weit, wenn man die Nebenhandlung um die Schwester Linchen im Kloster und die Bedeutung von religiösen Metaphern im Roman betrachtet.

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»Es gibt Familien, die Glück gehabt haben oder in einer Branche sitzen, deren Boden noch trägt. […] Sie blicken noch nicht einem kollektiven Schicksal ins Auge, das alle gleich arm machen will.« (Ebd.: 111)

In diesen Familien – die als Schutzinseln bezeichnet werden – gibt es noch einen gewissen Zukunftsoptimismus, aber auch strengere Hierarchien und Regeln: »Es gibt noch den alten Familiengottvater, der [...] belohnt und bestraft« (ebd.). Diese Familien bilden eine Art Elite in der Stadt, von deren Wohlwollen und Gunst so manches Schicksal abhängt; was schließlich dazu führt, dass die Mechanismen des Marktes sich nicht wie in der Großstadt vollständig entfalten können, sondern quasi auf einen traditionalistisch orientierten Widerstand treffen. Neben den noch sehr dominanten Familienstrukturen spielt auch das gesellschaftliche Leben in Institutionen eine wichtige Rolle: Gustls Engagement im Schwimmverein steuert indirekt viele seiner Einstellungen und Handlungen; die kleinstädtische Mentalität mitsamt ihrer spezifischen Ansichten, Normen und Werte wirkt hier als internalisiertes Handlungsmuster. Das Leben in der Kleinstadt ist also von einer eingeschränkten persönlichen Freiheit gekennzeichnet – wenn man Simmels Beschreibung in DIE GROßSTÄDTE UND DAS GEISTESLEBEN als Vergleichsfolie zugrunde legt. Blasiert und reserviert sind die Kleinstadtbürger keineswegs, denn sie wissen genauestens über ihre Mitbürger Bescheid. Der soziale Druck ist höher als in der Großstadt, was durch das Eindringen moderner Wirtschaftsprinzipien – auf die es zu reagieren gilt – verstärkt wird. Die kalte persona ist zwar auch in der Kleinstadt gefordert, ihr Realitätssinn muss sich allerdings mehr an der sozialen Umwelt orientieren als das in der Großstadt der Fall ist.

A NZIEHUNG , S TABILISIERUNG , A UFLÖSUNG In Marieluise Fleißers Roman dringen Frauen in Männerdomänen vor, großstädtisches Rivalitäts- und Konkurrenzdenken haben längst auch in der Kleinstadt Einzug gehalten. Trotzdem löst sich das soziale Gefüge nicht auf. Es wird kein urbaner Raum konstruiert. Die kleine Stadt bewahrt gewisse Eigenheiten. Warum? Sehr prägnant wird diese Spezifik der Kleinstadt im letzten Absatz des zentralen Stadtkapitels formuliert: »Wenn die Entwurzelten auf eine Schutzinsel stoßen, erliegen sie vielleicht der übermächtigen Versuchung, sich fallen zu lassen, sich hier zu vergraben, sich blindem Optimismus auszuliefern. Und doch dürfen sie auf der Insel nicht bleiben. Es ist zu spät für sie geworden, sie können nicht mehr das gewöhnliche Brot im Volkskörper sein. Ihnen bleibt nur der

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Ausweg, sein Salz zu werden. Eines Tages treibt es sie wieder hinaus. Oder sie zerstören die Insel, wenn sie nicht rechtzeitig sie verlassen.« (Ebd.: 111)

Ins Auge springt hier die Rede vom »Volkskörper«. Diese Metapher vereint vier Aspekte, die die Kleinstadtgesellschaft beschreiben: Erstens umfasst dieser Körper die materielle Seite der Stadt, die in historischen Gebäuden, Straßen und Plätzen eine Tradition stiftet. Zweitens ist der Ort aber auch verbunden mit einem nationalen Volk, das über die Stadt hinausgeht. Die Metapher schafft damit eine Verbindung zu biologistischen Diskursen, die um 1930 weit verbreitet waren (vgl. Arndt/Brodersen 2011: 7f.). Drittens nimmt die Rede vom »Volkskörper« die Bedeutung des Sports im Roman auf. Gustls Engagement im Schwimmverein spielt für seine Integration in die Kleinstadtgesellschaft eine wichtige Rolle und steht dabei stellvertretend für das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im überschaubaren Sozialraum der Kleinstadt. Viertens schlägt die Metapher vom »Volkskörper« eine Brücke zum semantischen Feld der Nahrung, das mit den im Zitat folgenden Bildern von Brot und Salz anklingt. Der Körper muss ernährt werden. Will man im Bild bleiben, dann lässt sich konstatieren, dass Frieda und die anderen Entwurzelten zur Stärkung jedoch nicht mit dem einheimischen und Gemeinschaft stiftenden, ja auch theologisch überhöhten ›göttlichen‹ Nahrungsmittel Brot beitragen, sondern eben als Salz. Als Lebensmittel ist das Salz jedoch nur in Verbindung mit Brot bzw. anderen Nahrungsmitteln und auch nur in geringen Mengen geeignet. Brot bildet die Grundlage der Ernährung, Salz ist lediglich ein Zusatzstoff. Für die Gesundheit des Volkskörpers ist daher, so die Metaphorik, das richtige Verhältnis von Brot und Salz entscheidend. Gibt es zu viele Zugezogene, werden die »Entwurzelten« irgendwann unbrauchbar, sie verlassen die »Schutzinsel« oder diese wird zerstört. Marieluise Fleißer zeichnet die Kleinstadt somit als Gemeinwesen im Ungleichgewicht und in der Krise, das durch ein angespanntes Verhältnis von »Schutzinseln« und »Entwurzelten« gekennzeichnet ist. Die Kleinstadt wird nicht mehr wie im 19. Jahrhundert als abgeschlossenes Ganzes gezeigt, sondern als mit Inseln bestückter, mehr oder weniger offener Raum. In diesem Raum bildet sich zwar noch eine Gemeinschaft, die die sozialen Normen kontrolliert, diese wird jedoch zugleich durch Entwurzelte gefährdet und aufgebrochen. Das herausragende Merkmal der Entwurzelten ist ihre Mobilität. Die Grenzen der Kleinstadt werden von Frieda Geier immer wieder überschritten; und dennoch gehört sie ganz wesentlich zur kleinen Stadt dazu. Für die entwurzelte Frieda hingegen stellt dieser Raum kein »Reich der Freiheit« dar. Es zeigt sich, dass das kleinstädtische, moderne Individuum zahlreichen Zwängen und Machtstrukturen unterworfen ist. Die kleine Stadt ist in Fleißers Roman ein Laboratorium der Moderne, in dem die Bedingungen der modernen Gesellschaft reflektiert und in komprimierter Form demonstriert werden (vgl.

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Nowak 2013a: 322ff.). So befand auch Walter Benjamin (1973: 140) in einer Rezension zu Fleißers Erzählband EIN PFUND ORANGEN: In den Texten der Autorin zeige sich, »daß man in der Provinz Erfahrungen macht, die es mit dem großen Leben der Metropolen aufnehmen können.«

L ITERATUR Arndt, Christiane/Silke Brodersen (2011): »Einleitung«, in: Christiane Arndt/Silke Brodersen (Hg.), Organismus und Gesellschaft. Der Körper in der deutschsprachigen Literatur des Realismus (1830-1930). Bielefeld: Aisthesis, S. 7-23. Benjamin, Walter (1973): »Echt Ingolstädter Originalnovellen«, in: Günther Rühle (Hg.), Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 140-142. Capovilla, Andrea (2001): »Fiktionalisierungen der Neuen Frau im Kontext der Neuen Sachlichkeit«, in: Friedbert Aspetberger/Konstanze Fliedl (Hg.), Geschlechter. Essays zur Gegenwartsliteratur. Innsbruck: Studien-Verlag, S. 96113. Delabar, Walter (1999): Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik, Opladen: Westdeutscher Verlag. Fleißer, Marieluise (1972): Eine Zierde für den Verein. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen, in: Dies., Gesammelte Werke. Zweiter Band. Roman, erzählende Prosa, Aufsätze, hrsg. von Günther Rühle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-204. Lethen, Helmut (1994): Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Nowak, Christiane (2013a): »Durchschnittsware. Individualisierungskonzepte in den Angestelltenromanen SCHICKSALE HINTER SCHREIBMASCHINEN (Christa Anita Brück) und DAS MÄDCHEN AN DER ORGA PRIVAT (Rudolf Braune)«, in: Gregor Ackermann/Walter Delabar/Michael Grisko (Hg.), Erzählte Wirtschaftssachen. Ökonomie und Ökonomisierung in Literatur und Film der Weimarer Republik, Bielefeld: Aisthesis, S. 103-119. Nowak, Christiane (2013b): Menschen, Märkte, Möglichkeiten. Der Topos Kleinstadt in deutschen Romanen zwischen 1900 und 1933, Bielefeld: Aisthesis. Rühle, Günther (1973): Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Runge, Anita (2006): »Geht die Kunst nach Brot? Geld und Gelderwerb in der frühen Prosa Marieluise Fleißers«, in: Der Deutschunterricht 58, Nr. 4, S. 1424. Schoeller, Wilfried F. (1997): »Nachwort«, in: Oskar Maria Graf: Bolwieser. München: dtv, S. 243-249.

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Simmel, Georg (1995): »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Georg Simmel: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 116-132 (= Gesamtausgabe, Band 7).

Jüdischer Patriotismus in der österreichischen Provinz Zu Franz Werfels Roman Cella oder Die Überwinder H ENDRIK C RAMER

P ATRIOTISMUS

UND

A SSIMILATION

Der Anschluss an das nationalsozialistische Deutsche Reich im März 1938 beendete die relativ kurze demokratische Phase der Ersten Republik in Österreich jäh. Während die Weltöffentlichkeit sicherlich nicht überrascht, aber dennoch geschockt reagierte, waren die Reaktionen in Österreich weitgehend positiv.1 Große Teile der österreichischen Bevölkerung begrüßten den Einmarsch deutscher Truppen mit großem Jubel oder gaben dies zumindest vor. Demgegenüber versuchten Autoren wie u.a. Joseph Roth und Franz Werfel, beide Verfolgte des Nationalsozialismus und nun endgültig um ihre Heimat gebracht, bereits die sich unmittelbar ereignende Zeitgeschichte literarisch aufzuarbeiten. Während Joseph Roth mit DIE KAPUZINERGRUFT (1938) an seinen Erfolgsroman RADETZKYMARSCH (1932) inhaltlich anschließt und am Beispiel einer Nebenlinie der Familie des Helden von Solferino vor allem die Entwurzelung eines habsburgisch sozialisierten Österreichers von der unmittelbaren Vorkriegszeit 1913 bis in den Monat des Anschlusses 1938 hinein zeigt, widmet sich Werfel mit seinem Roman CELLA ODER DIE ÜBERWINDER (1952), entstanden in den Jahren 1938/39 und erst posthum veröffentlicht, den unmittelbar von den Nationalsozialisten verfolgten Juden. Während Franz Ferdinand von Trotta, Protagonist des Rothschen Romans, den neuen Machthabern in Österreich sicherlich durch seine Verklärung der kaiserlich-königlichen Monarchie ein

1

Die Frage, inwieweit die österreichische Bevölkerung den Anschluss begrüßt und sogar gefördert hat, wird bis heute diskutiert. Die Forschungskontroverse wird nachgezeichnet von Rathkolb (2015: 515ff.).

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Dorn im Auge gewesen sein dürfte, ist Hans Bodenheim, der Protagonist von CELLA, aus nationalsozialistischer Perspektive doppelt stigmatisiert: Einerseits steht er ideologisch der habsburgischen Monarchie nahe, andererseits (und auch darüber hinaus) ist er ein assimilierter Jude. Sowohl den Umgang mit seiner Religion als auch seinen Patriotismus gilt es in diesem Beitrag, gerade vor dem Hintergrund von Bodenheims Heimatstadt in der burgenländischen Provinz, näher zu beleuchten. Leitend soll dabei die Fragestellung nach der auf den ersten Blick sich widersprechenden Religion Bodenheims und seiner monarchistisch-patriotischen Welteinstellung sein.2 Wenn Wagener (2011) der Frage jüdischer Assimilation in CELLA nachgeht, arbeitet er eine wichtige Kontingenzlinie von Werfels Prosa der Zwischenkriegszeit, die die gesamte Romanhandlung motiviert und einen Bogen von Werfels Erzählfragment POGROM (1926)3 zu dem in diesem Aufsatz zu behandelnden Roman spannt, indirekt heraus: »Die Tatsache, dass sich Juden für in die österreichische Gesellschaft integriert gehalten haben und nun, beim ›Anschluss‹ im März 1938, die bittere Erfahrung machen müssen, dass diese Annahme auf einem Irrtum beruht; dass die Assimilation letztlich gescheitert ist und dass sie für diesen Irrtum mit Verfolgung, Exilierung oder Tod bezahlen müssen. Der noch fehlende Pogrom des Erzählfragments [gemeint ist die fragmentarische Erzählung POGROM, H.C.] vom [sic!] 1926 wird sozusagen im Roman von 1939 nachgeholt.« (Wagener 2011: 110)

Vor allem auf die Figur Hans Bodenheim nimmt Wagener Bezug, wenn er auf die letztlich doch ausbleibende Assimilation der Juden in die österreichische Gesellschaft verweist. Es erscheint an dieser Stelle interessant zu fragen, wie Bodenheim als Protagonist der Handlung4 schließlich versucht, seine durchaus patriotischen

2

Die antisemitischen Tendenzen der Habsburger Monarchie können an dieser Stelle nicht

3

Die Parallelen dieses Textes zu CELLA ODER DIE ÜBERWINDER sind auf der Ebene inter-

näher betrachtet werden, es sei daher verwiesen auf: Lichtblau (2009: insbes. 46-53). textueller Verweise durchaus groß. So ist etwa der Protagonist ein Staatsbeamter und Jude, der, ähnlich dem Schicksal Bodenheims in CELLA, über seine fehlende Assimilation verzweifelt: »Ich war also Jude! Ich war ein Anderer! Ich war nicht ein Mensch wie alle!« (Werfel 1989: 98) 4

Es mag zunächst verwundern, dass Hans Bodenheim, obwohl nicht die namensgebende Figur des Romans, hier als Protagonist genannt wird. Mit Blick auf den fragmentarischen Charakter des gesamten Romans stellt Wagener (2011) dazu fest, dass die Frage nach dem eigentlichen Protagonisten des Textes nicht mit absoluter Sicherheit zu beantworten

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Bestrebungen mit seiner ihn bereits vor dem Anschluss in der österreichischen Gesellschaft – aus Sicht breiter Teile der Bevölkerung – stigmatisierten Religion in Einklang zu bringen. Es ist vor allem das Unverständnis über die ausbleibende gesellschaftliche Assimilation, das Bodenheim im Roman selbst zur Sprache bringt. So fragt er – beinahe naiv – bereits zu Beginn des Romans, was »die Unsrigen« (Werfel 1997: 15), ein Terminus mit dem er durchgehend die Juden im Roman bezeichnet, von den ›anderen‹ Österreichern unterscheide. Mit der sich nun anschließenden Darstellung jüdischen Lebens in Eisenstadt scheint es Bodenheim in beinahe verzweifelter Manier um einen Nachweis für dessen Verwurzelung in der ganzen Stadt zu gehen: So betont er beispielsweise die bis in die Zeit des Mittelalters hinüberreichende Tradition jüdischen Lebens im Burgenland (vgl. ebd.). Außerdem hätten bereits seine Eltern versucht, sich frühzeitig zu assimilieren; was sich unter anderem auch daran zeigt, dass sie aus derjenigen Gasse ausgezogen sind, die ihrer Konfession zugewiesen war (vgl. ebd.: 15f.). Dabei stellt Bodenheim in dieser einleitenden Passage auch seine eigenen Assimilationsversuche direkt zur Diskussion: Seine die Zukunft betreffenden Gedanken hätten sich in den letzten Jahren, insbesondere mit Blick auf die Lage der Juden im Deutsche Reich, doch sehr verdüstert, obwohl er sich »vom Ursprünglichen doch weit entfernt habe; schon durch [s]eine Ehe mit Gretl…« (ebd.). Dennoch bleibt er mehr oder minder optimistisch und blendet die gesellschaftlichen Entwicklungen aus. Bodenheim scheint offensichtlich, und darin drückt sich gerade auch seine Naivität aus, die gegenwärtige Situation weder historisch zu perspektiveren noch realistisch einschätzen zu können. Während er selbst in den gerade zitierten Passagen wiederholt auf die inferiore und vor allem bedrohte Lage der Juden in Eisenstadt hinweist, scheint er doch aus der bereits im vorherigen Jahrhundert aufgezwungenen Ghettobildung der jüdischen Bevölkerung in der ›Judengasse‹ keine Schlussfolgerungen für die Gegenwart ziehen zu wollen. Weder diese bereits deutlich auf die Anfänge der nationalsozialistischen Verbrechen verweisenden Zeichen noch die Einwände seiner Frau scheinen seinen Optimismus zu erschüttern oder gar zu brechen. Wenn Gretl in direkter Weise seine Instinktlosigkeit anspricht, so

sei, da über die weiteren beiden Romanteile, die Werfel eigentlich geplant hatte, zu wenig bekannt ist. Es ist daher fraglich, ob die im Titel bereits exponierte Cella zur Protagonistin des Romans avancieren sollte oder ob, wie sich bei quantitativer Messung der Redeund Handlungsanteile herausstellt, eher ihr Vater Bodenheim als Protagonist vorgesehen war. Vor dem Hintergrund dieser Quellenlage erscheint es also durchaus legitim, die Figur Hans Bodenheim als Protagonisten des gesamten überlieferten Textes auszumachen. (Vgl. Wagener 2011: 113)

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bezieht sie dies auf die gesamte jüdische Gemeinschaft in Eisenstadt, die angesichts der heraufziehenden Gefahr die Augen verschließe: »›Wie kann ein kluger und gebildeter Mensch wie du so vertrauensselig sein, so vertrauensselig…‹ ›Meine Liebe, du sprichst in Rätseln…‹ ›Spürst du denn nicht, was ich spüre, Hans?... Diese kranke Atmosphäre… Ihr, ich meine, deinesgleichen sollte doch mehr Instinkt für Gefahren haben als unsereins… Aber gerade ihr seid so instinktlos…‹« (Ebd.: 32)

Die Einschätzung Gretls trifft aber nicht nur den problematischen Patriotismus und Optimismus Bodenheims (und markiert darüber hinaus auch eine auf der privaten Ebene vollzogene Differenzsetzung zwischen ›ihr‹ und ›wir‹), sondern lässt sich auch wie eine warnende Leitdiktion Werfels lesen, der, in der Lesart Wageners (2011: 111, 113f.)5, mit CELLA ODER DIE ÜBERWINDER einen dringlichen Appell an alle jüdischen Patrioten vorbringt, die den gerade zur Zeit der Niederschrift sich vollziehenden Anschluss in Österreich erleben und diesen nicht für möglich gehalten haben. Werfels Appell zeigt dabei vor allem die fehlende politische Weitsicht auf, die, von den österreichischen Juden zur rechten Zeit angebracht, ihr Schicksal hätte wenden können. Die Gründe dafür sind mit Blick auf Bodenheim sicherlich auch in dessen Minderwertigkeitsgefühl zu suchen. Dabei ist allerdings fraglich, ob Bodenheim ein so geringes Selbstbewusstsein hat, weil er seine jüdische Herkunft durch Anpassung an die österreichisch-katholische Kirche verleugnet oder weil seine Persönlichkeit als stereotypisierter Jude ihm dies verwehrt. Dabei steht allerdings außer Frage, dass Bodenheims Minderwertigkeitsgefühle mit dessen jüdischen Wurzeln zu tun haben müssen; so heißt es etwa in selbstreflexiver Weise gegen Ende des Romans: »Ihr habt nicht einen unsichtbaren Kohlensack zu schleppen bekommen, schon bei der Geburt. Wie soll ich soweit springen, ein Mensch ohne trainiertes Selbstbewusstsein!? Man hat mein Selbstbewusstsein erwürgt von allem Anfang an.« (Werfel 1997: 269)

5

Wobei Wagener hier auch der Einschätzung Leas (1970) in Bezug auf die Intention Werfels folgt: »In the fragment as Werfel left it he is clearly denying the possibility that assimilation can solve the Jewish question. Though individual Jews may choose assimilation as the least painful path, he concludes that it is at best temporary, leaves negative psychological pressures, and does not appease and may even provoke anti-Semitism.« (Lea 1970: 114)

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Wagener folgt an dieser Stelle der zweiten Lesart und versucht die nicht gerade gefestigte Persönlichkeit Bodenheims vor allem über dessen noch vorhandenes Judentum als Stigma zu deuten (Wagener 2011: 115). Dieser Ansicht liegt die Prämisse zugrunde, dass eine vermeintlich vollständige Assimilation nur nach außen, aber keinesfalls nach innen möglich ist; es entsteht dadurch ein Bruch innerhalb der Figur Bodenheims, der zwischen seiner äußeren Erscheinung und seiner inneren Konstitution differenziert. Bodenheim verknüpft seine mangelnde Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen bzw. religiösen Gruppe mit der Provinzialität seiner Heimatstadt und sieht sich in doppelter Hinsicht als nicht mehr zeitgemäße Person an (vgl. Werfel 1997: 9). Obwohl Eisenstadt nur eine Stunde Fahrtzeit von Wien entfernt liege, sei hier das für die ländliche Provinz typische Misstrauen gegen die jüdische Bevölkerung, trotz ihrer kulturellen Verwurzelung, bereits vor dem sich anbahnenden Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland deutlich höher gewesen (vgl. ebd.: 9, 13). Dies mag aber keinesfalls als hinreichende Interpretation für die identitäre Krisensituation ausreichen, in der sich Bodenheim befindet. Sie ergibt sich vielmehr auch aus der fehlenden vollständigen Zugehörigkeit Bodenheims zu einer der beiden Konfessionen. Denn gerade durch seine Position zwischen den Religionen ist sein Minderwertigkeitsgefühl zu erklären (vgl. ebd.: 269). Werfel verweist damit wieder auf die identitätsstiftende Komponente von Religion, die er bereits in seinen essayistischen Werken der frühen 1930er Jahre thematisiert (vgl. z.B. Werfel 1992: 122ff.). Ebenfalls eng mit Bodenheims Minderwertigkeitsgefühlen verknüpft ist seine patriotische Kriegsbegeisterung und -verherrlichung. Hier ist vor allem der von ihm glorifizierte eigene Einsatz in der Armee zu erwähnen, aus dem Bodenheim sein Recht, als vollwertiger Bürger in Österreich zu leben, ableitet: Für ein großes Reich, von dem dann nur ein Rumpf übrig blieb, bin ich ins Feld gezogen und habe, ohne daß es eine Phrase ist, mein Blut vergossen, denn ich wurde zweimal schwer verwundet. Der Herrscher des großen Reiches hat mich nicht nur durch mehrere Medaillen, sondern durch sein persönliches Wort und Wohlwollen vor vielen andern ausgezeichnet. Ist es ausdenkbar, ist es menschenmöglich, daß irgendeine Macht der Welt mir mein Recht an Österreich bestreiten und mich zwingen darf, an vorsorgende Flucht zu denken? (Ebd.: 32f.)

Dabei zielt er auch darauf ab, sein Recht, als österreichischer Bürger im Burgenland zu leben, das ihm vor dem Anschluss auch noch de jure zusteht, gegen jeden Zweifel sowohl historisch als auch personenbezogen – nämlich in seiner Gesinnung

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wurzelnd – zu legitimieren.6 Wenn er an dieser Stelle von seinem Einsatz für das untergegangene Habsburgerreich im Ersten Weltkrieg spricht, so zeugt dies deutlich von seiner geistigen Zugehörigkeit zur Donaumonarchie, die auch über den Untergang des Reiches bestehen bleibt und die gleichsam seine geistige Lebensform bildet (vgl. Reffet 1996: 308f.). Dies zeigt sich etwa auch durch Bodenheims späteres Engagement für die Rehabilitierung der Habsburger als Herrscherfamilie (vgl. Werfel 1997: 98-101). Wobei er hier nicht zuletzt auch die Frage ausblendet, wie sich die vom ihm glorifizierte österreichische Monarchie und ihre Bewohner zu den jüdischen Bevölkerungsteilen gestellt haben.7 Betrachtet man die Motivation für Bodenheims Assimilationsbestrebungen und sein entschiedenes Eintreten für einen autonomen österreichischen Staat, so fällt auf, dass er sich durchaus nicht für seine eigene Person Vorteile verschaffen möchte, sondern immer auf ein höheres Ziel hinarbeitet: Primär betreibt Bodenheim dabei die musikalische Förderung seiner Tochter Cella, von deren übernatürlicher Begabung er überzeugt ist und der er in einem faschistischen Land keine Zukunft voraussagt (vgl. ebd.: 36, 67f.).8 Neben dieser Motivation ist es der in ihm tief verwurzelte Glaube, u.a. durch seinen Kriegseinsatz ein Recht auf ein Leben in Österreich erworben zu haben; womit er zugleich auch den Auftrag verbindet, sein Land in Rückbesinnung auf die ›Idee Österreich‹ zu schützen und in seiner politischen Autonomie zu bestärken (vgl. ebd.: 45, 66). Diese Neigung Bodenheims führt schließlich zu seiner Aussage: »Seit den grausamen Gesetzen des deutschen Despotismus bin ich mehr denn je österreichischer Patriot.« (Ebd.: 32) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Bodenheim durch verschiedene Assimilationsstrategien das Stigma seiner jüdischen Konfession zu überwinden sucht und danach strebt, als vollwertiges Mitglied der österreichischen Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Dazu gehört auch die Heirat einer christlichen Frau und

6

An dieser Stelle konstatiert Bodenheim in selbstreflexiver Weise auch die Funktion, die der Einsatz im Ersten Weltkrieg für Juden hatte oder für ihn zumindest haben sollte: »In den Kriegsjahren wurde das spezifische Gewicht der Unsrigen geringer. Ich denke an einen tiefen großen Bergsee, in den man weit hinausschwimmt. Das starke Wasser trägt den Körper, der sich selbst nicht mehr zur Last fällt. Gefährlich ist’s, aber herrlich. Der Krieg glich einem solchen See. Man könnte fast von sozialer Wasserverdrängung sprechen.« (Ebd.: 17f.)

7

Literarisch thematisiert wurde der Antisemitismus im Österreich der Jahrhundertwende unter anderem bereits von Arthur Schnitzler mit seinem 1908 erschienenen Roman DER WEG INS FREIE (vgl. Schnitzler 1961: 689ff.).

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Zur literarischen Verknüpfung der Musikalität Cellas mit ihrem Status als Halbjüdin siehe Bartl (1996).

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die Abkehr von allen religiösen Praktiken des Judentums (vgl. ebd.: 32). Die Wiederbelebung Alt-Österreichs erscheint ihm in der politischen Lage der 1930erJahre die einzige Möglichkeit, den nationalsozialistischen Bestrebungen, Österreich in das Deutsche Reich einzugliedern, entgegenzuwirken. Dennoch liegt Bodenheims Motivation für sein entschieden politisches Eintreten nicht nur in der von ihm als Verpflichtung empfundenen Verbundenheit zur ›Idee Österreich‹, sondern gleichermaßen in seinem wiederholt geäußerten Wunsch, seiner Tochter Cella eine Karriere als Musikerin zu ermöglichen (vgl. ebd.: 12). Sie ist also sowohl politisch als auch privat motiviert.

A NTISEMITISMUS Es fragt sich, welche Folgen Bodenheims Assimilierungsbestrebungen haben und in welcher Weise diese im Roman gedeutet werden. Dafür sind zunächst die innerfamiliären Reaktionen auf Bodenheims religiöse Identität zwischen assimiliertem Judentum und österreichisch-katholischen Tendenzen nachzuzeichnen. Wie bereits erwähnt, wirft Gretl ihrem Mann Instinktlosigkeit in politischen Angelegenheiten vor und generalisiert dieses Urteil für seine gesamte Religionsgemeinschaft (vgl. ebd.: 32). Ihr erscheint es an dieser Stelle klüger, dass ihr Mann seine Tatkraft in die Planung einer Ausreisemöglichkeit investiere und nicht versuche, den in ihren Augen ohnehin unabwendbaren Anschluss zu verhindern (vgl. ebd.). Dabei inszeniert Werfel mit dieser Szene ein Problem, das er im Folgenden auch zur Anklage erheben wird: nämlich die leichte Verführbarkeit des österreichischen Volkes. Gretl, die zwar ihrem Mann zustimmen möchte, dass letztlich die Vernunft über den faschistischen Einfluss von außen siege, steht stellvertretend für eine gewisse Doppelmoral großer Teile der Bevölkerung (vgl. ebd.). Während im öffentlichen Diskurs viele noch gegen einen nationalsozialistischen Anschluss seien (oder dies zumindest vorgeben würden), hätten sie doch indirekt bereits dessen Doktrin inkarniert und, denkt man die an dieser Stelle nur andeutungsweise vorgebrachten Bedenken Gretls weiter, auch den Antisemitismus bereits in ihr Leben integriert. Im weiteren Verlauf des Romans wird Bodenheim selbst erkennen, dass Gretl mit ihrer Prognose recht hatte (vgl. ebd.: 86f.). Für die Figur Professor Scherber zeigen sich hier die wesentlichen Charakterzüge der österreichischen Bevölkerung: »Überall Dreck, Charakterdreck, Gesinnungsdreck... Wohin man tritt, ist’s weich und gibt nach… Ich kenne meine Pappenheimer, Herr Gott noch einmal… Küßdiehand und Habedieehre und Kompliment und meine Verehrung und Habendiegnad… Die haben keine Gnad,

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glauben Sie mir’s… Öffentlich rutschen sie vor dem Kreuz, und privat haben sie schon das Hakenkreuz vorbereitet für alle Fälle…« (Ebd.: 63)

Diese Form der Doppelmoral ist es auch, die Bodenheim bei denjenigen österreichischen Bürgern ausmacht, die als Vertreter des Nationalsozialismus erscheinen. Immer wieder klassifiziert er die Nationalsozialisten als »schwache Minderheit« (ebd.: 66) gleichförmiger Individuen, die sich homogen und passiv von der nationalsozialistischen Obrigkeit verführen ließen und sich lediglich in »Klein- und Vorstädte[n]« aufhielten, »feig wie sie waren« (ebd.). Die Provinz wird damit zum Tummelplatz gefährlicher Ideologien, die sich schließlich auch in die Zentren ausbreiten. Allerdings schätzt Bodenheim deren politische Stärke wiederholt falsch ein und ordnet sie eher einer Randgruppe zu, die von ihm selbst niemals namentlich als Nationalsozialisten bezeichnet, sondern lediglich auf ein äußerliches Kleidungsmerkmal, nämlich ihre weißen Strümpfe, reduziert werden (ebd.: 41-44). Es erscheint daher, als wollte Werfel bewusst Bodenheim zu einem naiven Idealisten stilisieren, der selbst angesichts diverser Warnungen und Berichte aus Deutschland an keine ihn gefährdende nationalsozialistische Herrschaft in Österreich glauben kann und auch konsequent den vom ihm durchaus wahrgenommenen Antisemitismus nicht als Existenzbedrohung erkennt (vgl. ebd.: 16, 41f., 67f., 187f.). Unmittelbar nach dem erfolgten Anschluss an das Deutsche Reich verändert sich für Bodenheim die Situation allerdings rasant. Während der gerade beschriebene Antisemitismus zwar das geistige und politische Klima in Österreich betrifft, wird mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Wien auch die aktive Verfolgung der jüdischen Bevölkerung betrieben. Eine erste Station auf dem sich anschließenden Leidensweg bildet die Bodenheim auferlegte Straßenreinigung, die dieser scheinbar gleichmütig hinnimmt (vgl. ebd.: 151ff.). Der Glaube Bodenheims, dass die Vernunft schließlich siegen und sich bewaffneter Widerstand gegen die nationalsozialistischen Invasoren formieren werde, ist auch an dieser Stelle noch nicht gebrochen. Dies zeigt sich etwa auch, wenn Bodenheim unmittelbar nach seiner Inhaftierung ausführt: »Die in die Hauptstadt gepumpten Weißstrümpfe hatten zwar die Straßen majorisiert, aber im Innern der Häuser, Ämter und Anstalten war der Widerstand Österreichs noch lange nicht gebrochen.« (Ebd.: 160) Der Grund für die Schikane und schließlich die Inhaftierung Bodenheims liegt in seiner Zugehörigkeit zum Judentum begründet. Zur Zwangsarbeit wird er aber auch aufgrund seiner habsburgischen Uniform genötigt (vgl. ebd.: 151). Bodenheim, der gerade zuvor gemeinsam mit einigen Gesinnungsgenossen vom »Eisernen Ring« in Habsburguniform versuchte, bei der Regierung in Wien für eine mögliche Rehabilitierung der alten Monarchie zu werben, wird von den künftigen Machthabern am Bahnhof direkt als Revanchist erkannt (vgl. ebd.). Seine politische Gesin-

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nung ist offensichtlich direktes Indiz für die offizielle Zugehörigkeit Bodenheims zum Judentum. Im weiteren Verlauf des Textes wird diese Verknüpfung in den Worten der nationalsozialistischen Machthaber weiter ausgeführt: »Der Geschichtslehrer beugte sich vor und zückte eine schartiges Auflachen: ›Also die Habsburger, also die Judenkaiser, die schon seit Jahrhunderten die Ostmark versaut hatten… Mit denen sollte der Wille des Führers und die Siegesbahn unsres Volkes durchkreuzt werden…‹« (ebd.: 226). Der politisch wenig feinfühlige Bodenheim wird also von den Nationalsozialisten in doppelter Weise als Feindbild erkannt: als Jude und Anhänger der alten Monarchie. Während seiner Inhaftierung wird Bodenheim von den nationalsozialistischen Machthabern vergleichsweise wenig schikaniert bzw. misshandelt. Erst die sich anschließende Deportation in ein deutsches Konzentrationslager zeigt ihm das Ausmaß der nationalsozialistischen Verfolgung auf (vgl. ebd.: 218ff.). Während die gewaltsame Judenverfolgung nur durch die Erzählung des Kaplans während seiner Inhaftierung an ihn herangetragen wird, erscheint auf der Fahrt ins KZ der von Werfel intendierte Idealismus Bodenheims gebrochen zu werden. In dem durchaus gesellschaftlich heterogen besetzten Zugabteil befindet sich auch der aristokratische Bankier Freudenreich, der die Ausmaße der nationalsozialistischen Folter am eigenen Leib bereits auf der Zugfahrt erfahren muss. Als der Bankier wiederholt das Wachpersonal auffordert, ihn zu dem Zugleiter zu führen, da es sich bei seiner Deportation um eine Verwechslung handeln müsse, wird er körperlich gefoltert und kehrt schließlich als gebrochener Mann mit gewaltsam entferntem Bart in den Waggon zurück.9 An dieser Stelle wird Bodenheim erstmals mit dem Ausmaß der körperlichen Folter konfrontiert, in die der latente Antisemitismus schließlich mündete. Es scheint, dass er erst an diesem Punkt der Erzählung endgültig den Glauben an seine Landsleute verliert. Durch seine sich nun anschließende Rettung kann Bodenheim zwar der Verfolgung entkommen, ist aber nun im doppelten Sinne identitätslos. Während er zu Beginn des Romans durch seine Assimilationsbestrebungen keine eindeutige konfessionelle Zugehörigkeit mehr verspürt, wird nunmehr die als Ersatz fungierende patriotische Gesinnung sowie das daraus resultierende Zugehörigkeitsgefühl zum österreichischen Staat gebrochen. 9

Dabei zeigt sich in diesem Kontext nicht zuletzt auch die Hellsicht Werfels in Bezug auf die nationalsozialistischen Foltermethoden und deren Symbolgehalt. Bereits in Joseph Roths Roman TARABAS (1934) kommt es zu einer ähnlichen Demütigung, die in den Konzentrationslagern alltägliche Praxis werden sollte. In Roths Roman wird allerdings das gewaltsame Entreißen des Bartes von Tarabas bereut (Roth 1990: 583f.). Im später erschienenen Roman Werfels ist das Schikanieren von Juden bereits an der Tagesordnung.

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Abschließend lässt sich feststellen, dass Bodenheim zu Beginn des Romans eher indirektem Antisemitismus in Österreich ausgesetzt ist. Während seine gesamte Umgebung ihn eindrücklich vor den Folgen einer nationalsozialistischen Machtübernahme warnt, gibt sich Bodenheim idealistisch und versucht noch den Anschluss zu verhindern. Offensichtlich fühlt sich Bodenheim in der burgenländischen Provinz sicher vor den nationalsozialistischen Kräften in Österreich, die schon vor 1938 latent die Gesellschaft zu unterwandern versuchten. Bereits seit seiner Kindheit weiß er von der heiklen gesellschaftlichen Stellung der Juden in Österreich und explizit in seiner Vaterstadt, zieht daraus allerdings keine weiteren Schlüsse. Erst durch die Machtübernahme wird Bodenheim langsam das Ausmaß der Gefahr bewusst, in die er sich in Österreich begeben hat. Gerade durch seine Verbundenheit zur österreichischen Provinz, aus der er nicht emigrieren möchte, ignoriert er sämtliche Warnungen und versucht in Rückbezug auf die vom ihm glorifizierte Habsburger Zeit, das Schicksal seines Vaterlandes zu wenden. Er wird nicht nur aufgrund seiner Konfession schikaniert und schließlich inhaftiert, sondern auch wegen seiner Vorliebe für die alte Monarchie, deren Ebenbild ihm Eisenstadt in seiner provinziellen Erscheinung ist. Dennoch ist sein Glaube an die geistige Standfestigkeit der österreichischen Bevölkerung zunächst ungebrochen. Mit der zunehmenden und ihn immer unmittelbarer und körperlicher betreffenden Verfolgung in Folge des allgegenwärtigen Antisemitismus erkennt schließlich auch Bodenheim die Ausweglosigkeit seiner Position. Werfel vermittelt eine Deutung der zunehmenden Verbreitung des Nationalsozialismus und des sich immer weiter radikalisierenden Antisemitismus in Österreich, die er unter anderem auf die spezifische Charakteristik der Bevölkerung und die wenig stringente Politik während der Zeit des Ständestaates zurückführt. So schildert er etwa im Roman immer wieder die wirren politischen Umstände und Veränderungen, die unmittelbar vor dem Anschluss stattfinden und das Bild einer labilen Politik noch verstärken. Bodenheim kann an dieser Stelle als Chronist und, durch seine Rolle als Erzähler, auch als Kommentator der österreichischen Zeitgeschichte, die sich im kleinstädtischen Eisenstadt in vielfacher und verdichteter Weise gespiegelt findet, auftreten. Obwohl Bodenheim vergleichsweise geringen Anfeindungen ausgesetzt ist, erscheint ihm schließlich seine Flucht doch als Gnade (vgl. ebd.: 270). In Österreich hat unterdessen vorerst »[d]ie Kleinstadt [...] die Großstadt besiegt, der geschichtslose Pöbel den Geist der Geschichte, [...] der waldmenschliche Hordentrieb das skrupelhafte Gewissen der freien Persönlichkeit.« (Ebd.: 131)

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L ITERATUR Bartl, Andrea (1996): »Literarische Sympaians. Musik in Franz Werfels Stern der Ungeborenen und Cella oder Die Überwinder«, in: Sympaian. Jahrbuch der Internationalen Franz Werfel-Gesellschaft 1, S. 181-204. Lea, Henry A. (1970): »Werfel’s Unfinished Novel: Saga of the Marginal Jew«, in: The Germanic Review 45, S. 105-114. Lichtblau, Albert (2009): »Antisemitismus 1900-1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte«, in: Frank Stern/Barbara Eichinger (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien u.a.: Böhlau, S. 39-58. Rathkolb, Oliver (2015): »Erste Republik, Austrofaschismus, Nationalsozialismus (1918-1945)«, in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Geschichte Österreichs, Stuttgart: Reclam, S. 477-524. Reffet, Michel (1996): »›Cella oder die Überwinder‹ von Franz Werfel. Erster Roman über den Anschluß«, in: Karlheinz F. Auckenthaler (Hg.), Lauter Einzelfälle. Bekanntes und Unbekanntes zur neueren österreichischen Literatur, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 297-322. Roth, Joseph (1990): »Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde«, in: Ders., Romane und Erzählungen 1930-1936. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Fritz Hackert (= Joseph Roth Werke, Bd. 5), Köln/Amsterdam: Kiepenheuer & Witsch, S. 479-628. Schnitzler, Arthur (1961): »Der Weg ins Freie«, in: Ders., Die erzählenden Schriften. Erster Band (= Gesammelte Werke), Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 635958. Wagener, Hans (2011): »Franz Werfels Cella – oder Die gescheiterte Assimilation«, in: Ders./Wilhelm Hemecker (Hg.), Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 109-127. Werfel, Franz (1989): »Pogrom«, in: Ders., Die tanzenden Derwische. Erzählungen (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Herausgegeben von Knut Beck), Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 60-102. Ders. (1992): Können wir ohne Gottesglauben leben? In: Ders., »Leben heißt,

sich mitteilen«. Betrachtungen, Reden, Aphorismen (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Herausgegeben von Knut Beck), Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 105-156. Ders. (1997): Cella oder Die Überwinder. Versuch eines Romans (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Herausgegeben von Knut Beck), Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Überschaubare Nachbarschaft? Religion, Macht und Sexualität in der Kleinstadt: Eine Adoleszenz-Erzählung von Heinrich Böll mit einem Blick auf Philip Roth W ERNER N ELL

O RT

UND

Z EIT

Die Kleinstadt, die Heinrich Böll (1917-1985) in seiner 1957 erschienenen Geschichte IM TAL DER DONNERNDEN HUFE schildert, gehört ins Bilderbuch der alten Bundesrepublik. Die Erzählung führt heutige Lesende in die Wirtschaftswunderzeit der 1950er Jahre zurück, in der erstmals nach den Kriegszerstörungen des Zweiten Weltkriegs und der Not- und Umbruchszeit der unmittelbaren Jahre danach1 eine (wieder) aufkommende Behaglichkeit und Sommerferienstimmung zunächst den Ton anzugeben scheinen: »die offenen Fenster in den Häusern rings um den Platz; weiße Gardinen, das Klirren von Kaffeegeschirr, Männerlachen, den blauen Zigarrenrauch, […] dichte blaue Wolken kamen aus dem Fenster über der Sparkasse; weißer als frischer Schnee war die Sahne auf einem Stück Kuchen, das ein Mädchen im Fenster neben der Apotheke in der Hand hielt.« (Böll 1982: 131)

1

Harald Jähner hat in seinem 2019 erschienenen Erfolgsbuch WOLFSZEIT. DEUTSCHLAND UND DIE

DEUTSCHEN 1945-1955 auf die Mischung von Ansatzpunkten individueller

Selbstbestimmung und Egoismus, Ängsten und Erwartungen sowie auf eine zwischen Konformitätsdruck und sozialen Reformbestrebungen sich entwickelnde Bürgergesellschaft hingewiesen, wie sie sich zumal für die Bonner Republik in dieser Zeit beschreiben lässt (vgl. bes. Jähner 2019: 381-395).

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Dass es sich dabei um Abziehbilder aus dem Arsenal der Kleinstadtschilderungen des 19. Jahrhunderts handelt (vgl. Glaser 1969: 65-71)2, wird von Böll an späterer Stelle auch erzählerisch gestaltet, wenn Katharina, eine der drei Jugendlichen, von deren Unbehagen, Sehnsucht und auch Notlage, die Enge der geschilderten kleinstädtischen Lebensumstände verlassen zu müssen, die Geschichte erzählt, mit einem Fernrohr die Stadt beobachtet: »Stempel können so sein, dachte sie, Miniaturen oder bunte Medaillen: scharf ausgestochen waren die Bilder, rund und klar, eine ganze Serie. Sie sah […]: die Kirche mit Sparkasse und Apotheke, mitten auf dem grauen Platz ein Eiskarren: das erste Bild, unverbindlich und unwirklich; ein Stück vom Flußufer, […] grünes Wasser, Boote darauf, bunte Wimpel, das zweite Bild, die zweite Miniatur.« (Böll 1982: 141)

Böll nutzt hier das in den 1950er Jahren zumal als Merkmal literarischer Moderne beliebte Stilmittel der »erlebten Rede« (vgl. Stanzel 1959) freilich nicht nur, um die Binnenperspektive und damit die durch Reflexivität abgehobene, ja eben der Kleinstadt gegenüber »entbettete«3 Perspektive seiner Protagonistin vor Augen zu stellen: »Die Serie ließ sich beliebig erweitern: Hügel mit Wald und Denkmal; […] Weinberge« (ebd.). Das – literarisch tradierte – Bildarsenal der ›deutschen‹ Kleinstadt wird in dieser Schilderung nicht einfach nur aufgeboten, um in dieses Setting eine Geschichte fortbestehender jugendlicher Repressionserfahrungen, daraus resultierender Aggression und unterschiedlicher, auch unterschiedlich gelingender bzw. misslingender Ausbruchsversuche einzulagern. Vielmehr geht es Böll offensichtlich auch darum, in der bereits erzählerisch gebrochenen Reflexion auf die idyllisch angelegten Bilder der Kleinstadt sowohl deren Unwirklichkeit anzusprechen als auch zugleich auf eine offensichtlich den deutschen Landen im Besonderen zukommende Ungleichzeitigkeit von Entwicklungs- und Bewusstseinsständen aufmerksam zu machen, die ihrerseits als Lagerungen anachronistisch verwobener historischer und sozialer Erfahrungen zu erkennen sind.4 In dieser Weise gelingt es ihm, gerade in den vertrauten Bildern des Kleinstädtischen die ideologische Besetztheit und die zumindest ins vermeintlich Harmlose verschobene Bewusstseinslage der (west-)

2

Dort auch noch einmal besonders zur Funktion der »Mädchen im Städtchen« (Glaser

3

Zum Prozess der »Entbettung« (Disembedding) als eine der Grunderfahrung der Moderne

4

Für die mit dieser Ungleichzeitigkeit angesprochene Diskussion in der jüngeren deut-

1969: 70f.). vgl. Giddens (1995). schen Geschichte vgl. Plessner ([1935] 1974); Grebing (1986), Elias (1989), Krockow (1990).

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deutschen Gesellschaft nach 1945 anzusprechen und im Blick auf die Verdrängung der während der NS-Zeit begangenen Verbrechen diese und andere Gewaltbelastungen aus der Tiefe unterdrückter Erinnerung wieder an die Oberfläche zu bringen.5 Dass sich hierfür die Kleinstadt als Modell und erzählerischer Entwurf, zugleich aber auch als historisch signifikante und für die Erfahrungsräume der deutschen Gesellschaft dieser Zeit noch immer relevante Bezugseinheit erkennen lässt, 6 gibt der Erzählung über ihren literaturhistorischen Stellenwert auch noch einmal eine ebenso aktualisierbare wie für die Beschäftigung mit Kleinstadt-Literatur analytisch nutzbare Bedeutung.

A LLTAG IN DER K LEINSTADT In diesem Zusammenhang gehört die wiederkehrende Pflege der aus dem Krieg mitgebrachten Pistole durch Pauls Vater zu den Routinen des Samstagsabends, diese sind wiederum ganz eingebettet in die Alltagsvollzüge des kleinstädtischen Gemeinschaftslebens: »schwarz war sie, glänzend, seit zehn Jahren nicht benutzt, ein makelloses Andenken aus dem Krieg, unauffällig, zwecklos; sie diente nur der Erinnerung, zauberte Glanz auf Vaters Gesicht […]. Einmal in der Woche am Samstag vor dem Stammtisch diese Feierstunde« (Böll 1982: 129). Auch an anderen Stellen der Erzählung, so an der mit einer Ruderregatta verbundenen Geräusch-

5

In eben dieser Weise stellt er in einem späteren, seiner Heimatstadt Köln gewidmeten Text den Lesern drei »unterschiedliche« Köln vor Augen, von denen zwei in durchaus gegensätzlicher Weise dann als »Heimat« angesprochen werden können: »das Vorkriegsköln« und »das zweite Köln, das in diesem Sinn ›heimatlich‹ war, war schon ein anderes, das zerstörte Köln, in das wir 1945 zurückzogen« (Böll [1965] 1982a: 298), während das dritte, das »jetzige Köln […] vom ersten und zweiten so weit entfernt wie Frankfurt oder Stuttgart« ist (ebd.: 301).

6

»Der Ausnahmeort der Kleinstadt«, so beschreibt Bernd Hüppauf den Stellenwert der Kleinstadt seit dem 19. Jahrhundert wie auch ihren seiner Beobachtung nach anschließenden Funktionsverlust bzw. Funktionswandel, »war ein Gegengewicht zu den wachsenden Unsicherheiten und dem Verlust an Orientierungen. Sie wurde zum Schauplatz für den eminent modernen Kampf des Selbst um einen Platz in der zunehmend abstrakter strukturierten Alltagwelt der instrumentellen Vernunft. Sie bot Vertrautheit und Schutz vor den Verletzungen, die von der Modernisierung dem Einzelnen zugefügt wurden.« (Hüppauf 2005: 308) Zur Realität der Kleinstadt als einer für Menschen offensichtlich unverzichtbaren Form »kleiner Welten« vgl. Luckmann (1970b: 3f.); eine ideologiekritische Sicht auf die Geschichte und Funktion der Kleinstadt bietet Glaser (1969).

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kulisse (ebd.: 131f.), in deren Stimmenvielfalt sich Unterhaltung, sportliche Kampfbereitschaft und volkskulturell getragener Heimat-Chauvinismus7 mischen, treten die hinter bzw. unter den idyllischen Kleinstadtbildern spürbare Unruhe und latente Verletzbarkeit, eben auch Aggressionsbereitschaft der Gesellschaft, zumal dann in den Erfahrungen und Wahrnehmungen der Jugendlichen, zutage: »In den stillen Straßen, durch die er ging, standen sie [die parkenden Autos der Veranstaltungsbesucher, W.N.] zu beiden Seiten, verstärkten den Eindruck der Verlassenheit; Schmerz verursachte ihm die blitzende Schönheit der Autos, blanke Eleganz, gegen die sich die Besitzer durch häßliche Maskottchen zu schützen schienen: Affenfratzen, grinsende Igel, Zebras, verzerrt mit gebleckten Zähnen, Zwerge mit tödlichem Grinsen über fuchsigen Bärten.« (Ebd.: 132)

Die grotesken Erscheinungen des Alltäglichen stehen an dieser Stelle zunächst für die »unheimelig«8 oszillierende Strahlkraft eines kleinstädtischen, also in überschaubarer Nähe wahrnehmbaren Erfahrungsraums, der zugleich aber von ebenso imaginären wie ideologisch stark besetzten und auf die Verdrängung geschichtlicher Erfahrungen und gesellschaftlicher Konflikte zielenden Vorstellungen geprägt ist. Bilder der Kleinstadt zeigen in dieser Weise einen Ort subjektiv erfahrener, poetisch reflektierter oder ideologisch überformter Ambivalenz.9 Dem gegenüber ist allerdings auch festzuhalten, dass es die dieserart geschilderten Kleinstädte und die damit verbundenen sozialen und politischen Rahmen-

7

»Deutlicher drangen die Sprechchöre hierher, heller die Rufe, dann die Stimme des Ansagers, der den Sieg des Zischbrunner Vierers verkündete. Applaus, dann Tusch, dann das Lied: ›Zischbrunn, so an den Höhen gelegen, vom Flusse gekost, vom Weine genährt, von schönen Frauen verwöhnt…‹ Trompeten pufften die langweilige Melodie wie Seifenblasen in die Luft.« (Böll 1982: 132) Angesichts des ansonsten eher desillusionierenden Textes und seiner allenfalls in Ansätzen auf eine Überschreitung der niederdrückenden Verhältnisse ausgehenden Geschichte, dürften die in Bölls Wortwahl und Namengebung anklingenden satirischen Elemente allenfalls als Sarkasmen zu sehen sein.

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Freuds Beobachtung, »dass das Heimliche nichts als die Kehrseite des Unheimlichen bilde«, »gilt für das Leben in der Kleinstadt in exemplarischer Weise und […] konnte nur am Leben der Kleinstadt gemacht werden.« (Hüppauf 2005: 313)

9

»Ohnehin«, so schreibt Bernd Hüppauf einige Seiten zuvor, »wäre ein Bild der Kleinstadt als homogener Raum eine Täuschung. Ihre Sonderstellung hatte ihren Preis und die Literatur der Kleinstadt vertuschte ihn nicht. Sie war der paradigmatische Ort der Ambivalenz.« (Hüppauf 2005: 311)

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bedingungen des alltäglichen Zusammenlebens10 (natürlich nicht nur) im Deutschland der 1950 und 1960er Jahre auch noch gegeben hat11 – von ihrer (erinnerungs-) touristisch nutzbaren aktuellen v.a. baulichen Wiedergeburt (vgl. dazu Groebner 2018: 68-72 u.p.) einmal ganz zu schweigen. Gegenwärtig wohnt noch immer ein bedeutender Bevölkerungsanteil in Deutschland in Klein- und Mittelstädten,12 ein Umstand, der sich auch in anderen ansonsten als fortgeschritten modern anzusprechenden Gesellschaften wiederfindet13 und der das Thema der Heimat-, Regionalund Kleinstadtliteratur nicht nur zu einem Arbeitsfeld der Komparatistik, 14 sondern im Besonderen auch der (historischen) Sozialwissenschaften15 und aktuellen Stadtsoziologie werden lässt.16 In dieser Hinsicht bieten Kleinstädte offensichtlich gerade dann einen Erfahrungsraum und zugleich einen Bildervorrat an, wenn die Ambivalenzen gesellschaftlichen und individuellen Lebens unter den Bedingungen der Moderne zur Sprache kommen sollen und ggf. zur Verhandlung anstehen.17 Nicht zuletzt tragen dem auch neuere Forschungszuschnitte Rechnung,18 die zudem in einer breiteren öffentlichen Diskussion um die Gestaltungsmöglichkeiten und die »Zukunft« von Kleinstädten ihre Resonanz finden.19 Ob und in welcher Weise darüber hinaus den von Böll in seiner fiktiv entworfenen rheinischen Kleinstadt »Zischbrunn« geschilderten ambivalenten, ja bedrückenden Zuständen aus den 1950er Jahren auch aktuell noch Signifikanz zukommt, mag zunächst dahinstehen, findet allerdings in der 10 Vgl. dazu Benita Luckmanns auch heute noch lesenswerte exemplarische Untersuchung der räumlichen, sozialen und politischen Verhältnisse in einer süddeutschen Kleinstadt der 1960er Jahre (Luckmann 1970b) sowie ihre darüber hinausgehende phänomenologische Grundlegung einer solchen Analyse »kleiner Lebenswelten« (Luckmann 1970a). 11 »Über 50% der bundesrepublikanischen Bevölkerung lebt in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern« (Glaser 1969: 72). 12 »Aktuell (Gebietsstand 2017) gibt es […] in Deutschland 2.106 Kleinstädte. 24,2 Millionen Einwohner, also 29 % aller Einwohner, leben in Kleinstädten – und damit annährend so viele wie in den 79 Großstädten. Hinsichtlich der Fläche und der Anzahl sind Kleinstädte sogar der dominierende Stadttyp.« (Porsche/Milbert 2018: 7). 13 Für ein Beispiel aus der ansonsten unabsehbaren Forschung vgl. Rayside (1991). 14 Ansatzpunkte hierzu finden sich bei Koppen (1986); Hüppauf (2005); Benne (2012). 15 Vgl. dazu die Zitatensammlung, die Kleinstadt-Bibliographie und das Kleinstadt-Lexikon in Pro-Regio 3/2005. 16 Siehe u.a. Zimmermann (2003); Gräf (2004); Berking (2013). 17 Vgl. dazu bspw. das Themenheft KLEINSTÄDTE. CHANCEN, DYNAMIKEN, POTENZIALE der INFORMATIONEN ZUR RAUMENTWICKLUNG, Heft 6/2018. 18 Vgl. dazu schon Hannemann (2002); jetzt ARL (2019). 19 Siehe u.a. Spellerberg (2014); Porsche/Milbert (2018); Beetz (2017); Beetz (2018).

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von Sybille Berg jüngst vorgelegten Polemik hinsichtlich aktueller Erfahrungen und Lebensverhältnisse in kleinen Städten durchaus ein bemerkenswertes Korrelat. 20 Auch Bölls Jugendliche der 1950er Jahre leiden, wie dies Berg für das Jahr 2019 konstatiert, unter Langeweile und Ausweglosigkeit: »Langeweile während auf der Terrasse die Kaffeemaschine summte. Langeweile in der Kirche, im Gartenrestaurant, im Bootshaus, Kino oder im Café, Langeweile in den Weinbergen oben« (Böll 1982: 130). Hinzu kommen Schuldgefühle, zumal aus religiösen Bindungen, sexuelle Begehren, aber auch Gewaltphantasien21, der Konformitätsdruck der Erwachsenen in dieser Kleinstadtgesellschaft und nicht zuletzt die damit einhergehende Doppelmoral, der v.a. die weibliche Protagonistin, die den beiden vierzehnjährigen Jungen (ebd.: 134, 153) gegenüber etwas ältere, zumindest in ihrer auch körperlichen Entwicklung schon fortgeschrittenere Katharina Mirzow ausgeliefert ist. In ihrer historischen Skizze zur Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft in den 1950er Jahren spricht Julia Angster von einem »starkem Konformitätsdruck« und hebt eine »gewisse Stille« (Angster 2004: 33) der Gesellschaft der Adenauerzeit hervor, die sich freilich nicht nur hinsichtlich des Umgangs mit den Verbrechen des Nationalsozialismus’ bemerkbar machte, sondern sich der vorliegenden Erzählung auch in den Alltagserfahrungen der Kleinstadtbewohner, zumindest aus der Sicht der jüngeren Generation, wiederfinden lässt. Neben den »stillen Straßen« (Böll 1982: 132) ist es der »gefilterte Lärm«, der »schwach ins Zimmer« (ebd.: 137) drängt, wie überhaupt die Klangwelt der Kleinstadt Bölls dadurch gekennzeichnet ist, dass deren Stille noch die Wahrnehmung einzelner Geräusche und Stimmen ermöglicht: »Geflüster, Lachen unter den Kastanienbäumen« steht neben »Lärm«, der wie »gesprochener Text« im Kino »unter die Bilder strömte«: »Sprechchöre, Hurrarufe, Siegesgeheul, Trompetenklang, Lachen« (ebd.: 142). Provokativer Lärm der Gesellschaft und Erfahrungen von Intimität lassen sich so als getrennte Sphären wahrnehmen und treten im Rahmen der kleinstädtischen Nähe zugleich doch auch in Überlagerungen und in Grenzbereichen in Erscheinung: »Als er in die Toreinfahrt einbog, wurde es plötzlich still. In diesem Hof hinter dem Haus der Griffduhnes drang der Lärm vom Fluß her nur gedämpft; von Bäumen gefiltert, von alten Schuppen aufgefangen, von Mauern verschluckt, klang die Stimme […] schüchtern herauf.

20 »Nichts tun, alles hassen. Keine Arbeit, kein Geld, kein Sommer: Wer in kleineren oder mittleren Orten aufwächst, kennt den Moment, in dem Langeweile körperlich wird. Er ist die Keimzelle von Hass - und muss deshalb bekämpft werden.« (Berg 2019). 21 »›Ich möchte was zerstören‹, sagte Paul, ›aber nicht Gläser, nicht Bäume, nicht Häuser‹ […] ›Ich gehe, ich hole die Pistole meines Vaters‹« (Böll 1982: 136f.).

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[…] Der Startschuß klang wie die Explosion einer Kinderpistole, Sprechchöre wie Gesang, der hinter Mauern geübt wird.« (Böll 1982: 132)

Darüber hinaus stellen bauliche Nähe, unausgezeichnete Grenzlinien, die Verschachtelung historischer Gebäude und nicht zuletzt die nachbarschaftlich genutzten Zwischenräume auch ein Ensemble dar, das sich – ein Topos, der sich auch ansonsten in der Kleinstadtbeschreibung immer wieder findet – gerade in seiner Überschaubarkeit22 beobachten und so als Erzählung von Familien, Nachbarschaft und Geschichte auch interpretieren lässt. Dass es sich dabei, wie vielfach bei Böll, auch um eine Sozialgeschichte der ›kleinen Leute‹ handelt und die Verlustgeschichte für Jugendliche der 1950er und 1960er Jahre als Negativfolie (›lost generation‹) zugleich eine Identifikationsmöglich bietet, wird an der folgenden Aussage erkennbar: »Griffs Großvater hatte noch alle diese Schuppen, Gebäude, Mauern besessen. Griffs Vater besaß kaum noch ein Zehntel davon, und ›Ich‹, sagte Griff immer, ›ich werde nur noch den Taubenschlag besitzen, in dem mein Vater früher einmal Tauben hielt, Man kann sich bequem darin ausstrecken […] Hier oben […]« (ebd.: 133). Für die Ermöglichung von Überschaubarkeit spielt dabei natürlich die Gegebenheit bzw. Notwendigkeit eines erhöhten Standorts eine Rolle, der sowohl historisch-baulich vorhanden sein muss als auch unter narratologischen Gesichtspunkten erst einmal literarisch zu schaffen bzw. zu gestalten ist. Unterschiedlich hohe und funktionsdifferenzierte Häuser und andere Gebäude, Rathaus-, Kirchenund Wassertürme kommen hier ebenso in Betracht wie Balkone, Dächer und weitere Aussichtspunkte.23 Dabei verweisen sie ebenso auf die Bau- und Funktionsge22 Stephan Beetz spricht an dieser Stelle sehr klug und auch analytisch hilfreich von einer »Überschaubarkeitsfiktion« (Beetz 2017: 54), was sich zum einen zur Beschreibung von Kleinstädten hinsichtlich der dort beschreibbaren baulichen Gestalt und entsprechender Wahrnehmungen des sozialen Lebens nutzen lässt. Zum anderen werden damit aber auch, nicht zuletzt dann ideologisch ausbeutbare, imaginative Erwartungen und deren Realisierungsmöglichkeiten in Form von Kleinstadt-Bildern und Kleinstadt-Geschichten angesprochen. »Gegen die ›Massengesellschaft‹ gerichtet«, so rekurriert Beetz hier auf Dahrendorfs ideologiekritischen Befund, »findet der Mensch in der ›überschaubaren‹ Welt der kleinen Stadt Sicherheit und die Wahrnehmung seiner Person.« (Ebd.; vgl. Dahrendorf 1968: 80-83). 23 Zu erinnern ist auch daran, dass bereits Jean Paul (1763-1825) seinen Giannozzo als Beobachter kleinstädtisch-kleinbürgerlicher Lebensverhältnisse mit einem Heißluftballon ausstattet, der es ihm freilich nicht nur ermöglicht, die menschlichen und sozialen Verhältnisse unten kritisch zu kommentieren, sondern der ihn vielmehr auch in eine Hybris führt, die ihn zu Tode bringt. Vgl. Jean Paul (1984).

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schichte kleinstädtischer Siedlungs- und Sozialformen wie auf eine diversifizierte Einwohnerschaft und schaffen damit einen Raum, um auch eine Vielzahl von Stimmen und Narrationen, Beobachtungs-, Beschreibungs- und Analysemöglichkeiten zu Wort kommen zu lassen. Auch in ihrer landschaftlichen Einbettung zwischen Weinbergen, Wäldern und Hügeln, an einem Fluss gelegen, stellt Bölls erzählte Kleinstadt eine Zwischenwelt dar, die zugleich in ihrer Übergangslage einen Wahrnehmungs- und Hallraum bietet, in dem sich die Ansagen einer Ruderregatta (Gesellschaft) noch ebenso vernehmen lassen wie der Fluss (Natur) selbst: »Es schien […], als rieche und höre er den Fluß, von dem er vierhundert Meter entfernt war: Öl und Algen, den bitteren Rauch der Schleppzüge, das Klatschen der Wellen, wenn die Raddampfer stromabwärts fuhren, das Tuten langausheulender Sirenen am Abend.« (Ebd.) So wie Kleinstädte aus der Sicht ländlicher Räume bis heute als soziale, politische, kulturelle und ökonomische Strukturierungsfaktoren nach Außen wirken und damit auch als Aushandlungsorte der Urbanisierung (Zimmermann 2018: 73) gesehen werden können, stellen sie nach Innen zugleich auch Umsatzplätze, ja Werkstätten und Märkte dar, auf, an und in denen Versatzstücke des Ländlichen, wenn schon nicht für den Markt geschaffen, dann zumindest populärkulturell ausgearbeitet und – als Importware – zum innerstädtischen Konsum24 und zur Repräsentation von Ländlichkeit in städtischen Funktions- und Repräsentationssphären angeboten werden können (vgl. Hißnauer 2018: 248-254). Auch in dieser Hinsicht nimmt die Kleinstadt gerade in ihrer gemäßigten, begrenzten Ausdifferenzierung eine Zwischenstellung, u. U. die Funktion eines Umschlagplatzes ein. Eine kleine, zudem noch sozialen (und ggf. moralischen) Beschränkungen unterworfene Vielfalt wird hier angeboten, die allerdings angesichts der mit diesen Beschränkungen verbundenen Gleichförmigkeit statt zur Verlebendigung des Lebens auch zu seiner Verödung führen kann und zumal Jugendliche, wenn sie nicht wie die Erwachsenen in Doppelmoral und Alltagsroutine ersticken wollen, in Verzweiflung und Gewaltphantasien, schließlich zur Rebellion zu führt vermag.

24 Vgl. hierzu die Studien von Hißnauer (2018) und Mahlerwein (2018). Auch diese Aspekte werden mit Verweisen auf das Volksliedersingen und den Weinbau in Bölls Erzählung aufgenommen (vgl. Böll 1982: 130, 141).

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Es ist in dieser Hinsicht gerade die überschaubare Nähe der Kleinstadt, die diese nicht nur zu einem Experimentier- und Erfahrungsfeld des Sozialen macht, sondern zugleich einen Raum ambivalenter Gefühlslagen und Orientierungen eröffnet, in dem zumal Jugendliche sich bewegen und auf den sie sich auch dann noch beziehen (müssen), wenn sie in unterschiedlicher Weise nach Ausbruchsmöglichkeiten suchen. Alles, so scheint es den Protagonisten in Bölls Erzählung, ist nah und fern zugleich: der Vertrautheit der nachbarschaftlich kleinstädtischen Verhältnisse (vgl. Hamm 1973: 38-57) stehen in dieser Geschichte zumindest drei Gegenwelten, auch Abgründe der Selbstgefährdung und des Ausbruchs gegenüber, sodass die Ambivalenz der Kleinstadt sich auch in der Doppelbödigkeit, ja Ambivalenz der Gegenentwürfe wiederfinden lässt. Dies betrifft das Ausmalen von Traum- und Wunschwelten ebenso wie das Verhältnis zur Sexualität, die für die Jugendlichen im Rahmen ihrer religiösen Prägung v.a. als ein Erfahrungs- und Imaginationsraum zwischen Himmel und Hölle angesiedelt scheint.25 Zum Dritten geht es um die Vorstellung eines Aktionsraums, in dem sich der Bruch mit den Beschränkungen des Lebens in der Kleinstadt durch ziellose Aggression, geplante Selbsttötung, durchaus in der Art einer Opferinszenierung,26 vollziehen könnte oder zumindest ein Aufund Ausbruch aus der Kleinstadt vmöglich erschiene. Dabei stellt das im Titel der Erzählung angesprochene »Tal der donnernden Hufe« sicherlich eine zunächst altersgemäße Wunschwelt dar, einen Raum, in dem Selbstbestimmung und die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer den Ton angeben: »Einmal muß ich es sehen, das Tal […] ich muß dort sitzen […], muß sie hören, die Pferde, wie sie den Paß heraufkommen, zum See hinuntergaloppieren, hören muß ich, wie ihre Hufe in der engen Schlucht donnern.« (Böll 1982: 138) An späterer Stelle muss Paul jedoch zugeben, dass sein Erlebnis mit den donnernden Hufen der Pferde (ebd.: 138) ebenso Erfindung war (ebd.: 162f.) wie Griffs Träumerei, er reise mit seinem Onkel in die Wildnis um dort »Fische mit der Hand« (ebd.: 138) zu fangen; er wird stattdessen in einer Fischhandlung arbeiten und vielleicht mit den Mädchen »ins Kino« gehen, »vielleicht« (ebd.: 163). In Anlehnung an die jugendtypische Abenteuerliteratur ihrer Zeit werden in diesen Bildern aber auch noch andere Bezugswelten angesprochen, die sowohl in

25 »Für immer würde er am Ufer der Sünde bleiben. Vier Schritte nur trennten ihn von der Stimme, die lösen und binden konnte, sechs nur waren es bis zum Mittelschiff, wo Samstag herrschte, Frieden, Lossprechung – aber er machte nur zwei…« (Böll 1982: 130) 26 »Über die Tennisbälle, dachte er. Sie sind so weiß wie gewaschene Lämmer. Über die Lämmer hin das Blut.« (Böll 1982: 137)

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die Welt der Erwachsenen als auch in die von diesen verbotenen Zonen führen. Die »donnernden Hufe« verweisen auf die Macht der durch Tabuisierungen unterdrückten Triebbegehren. Dies sind Vorstellungen und Erfahrungen der Sexualität, die sicherlich für das hier vorgestellte Jugendalter eine maßgebliche, in den Umständen der geschilderten Kleinstadt aber eben auch entsprechend unerlaubte Sphäre darstellen, freilich gegenüber den religiös vermittelten dominierenden Vorstellungen von Sexualität als Sünde27 zugleich auch eine weitere Gegenwelt darstellen. Denn zur Welt der hier geschilderten rheinischen Kleinstädte gehört auch die für die 1950er Jahre noch zeittypische Unterdrückung jedweder sexueller Begehren,28 und es sind dessen Unabweisbarkeit ebenso wie seine strafbewehrte Verleugnung, die als tagtägliche Verführung, verbunden mit der Drohung der Verworfenheit und den daraus folgenden Höllenqualen die Jugendlichen nicht nur in ihren Bann schlagen, sondern zur Verzweiflung und Paul auf den Weg einer ersehnten Selbsttötung führen: »Tod, dachte er, Todsünde.« (Ebd.: 130) Bölls Erzählung ist in dieser Hinsicht ganz im rheinischen Katholizismus gegründet, zu dem dann auch der kritische Hinweis auf den Konformismus der Kleinstadt und die darin gründende Doppelmoral gehört. Sieht sich doch Katharina, schon aufgrund der körperlichen Reize, wie sie von einer Heranwachsenden ausgehen, nicht nur den Gerüchten ihrer Schulkameraden (ebd.: 137), sondern auch den begehrlichen Blicken gerade eben jener städtischer Honoratioren ausgesetzt, die im Übrigen als Lehrer und Apotheker (ebd.: 149) nicht nur die städtischen Anstandsnormen vertreten, sondern ihr als Fremder und Kind einer auch politisch unangepassten Frau29 das Leben schwer machen, ihre Mutter letzten Endes dazu nötigen,

27 »Sünden, dachte er, Tod, Sünden; und die Heftigkeit, mit der er die Frau plötzlich begehrte, quälte ihn; er hatte nicht einmal ihr Gesicht gesehen. Lavendelgeruch, eine junge Stimme.« (Böll 1982: 128) Ob Böll an dieser Stelle bewusst den Kolportagestil zeitgenössischer Liebesschilderungen kopiert bzw. parodiert, muss dahin gestellt bleiben. 28 Für die diesbezüglichen historischen Entwicklungen im zwanzigsten Jahrhundert vgl. Steinbacher (2011: 102-133 und Kap. 2); für einen Einblick in die Erlebniswelt von Jugendlichen in den 1950er Jahren vgl. das Interview mit dem »ersten« Dr. Sommer, dem Liebes- und Lebensratgeber der Zeitschrift BRAVO, im Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung (2008). 29 Katharinas Mutter hat offensichtlich als junge Frau die Stadt verlassen und sich dem Kommunismus angeschlossen, kehrte aber nach dem Kriege und der Erfahrung, dass auch »dieser Gott« keiner war, sowie einer offensichtlich gescheiterten Liebesbeziehung zu Katharinas Vater (Böll 1982: 144) mit ihrer Tochter in die Stadt zurück, um hier ein randständiges, zurückgezogenes Leben zu führen; auch Katharina wächst in der Folge

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Katharina aus der Stadt zu schicken. Der religiöse Rahmen bietet allerdings nicht nur die Grundlage der Verzweiflung und der Scham, die Paul während seines zu Anfang der Erzählung geschilderten scheiternden Versuchs zu beichten empfindet und die ihn dann auch auf den verzweifelten Weg bringt, sich mit der entwendeten Pistole des Vaters töten zu wollen. Auch dient der religiöse Rahmen in dieser Geschichte nicht allein der Stabilisierung von Macht und Konformität innerhalb der Kleinstadt. Vielmehr eröffnet er in Bölls Verständnis und Inszenierung dieser Zeit zugleich einen durchaus gegenläufig wirksamen Raum weitergehender, Freiheit und auch Selbstverantwortung ansprechender religiöser Vorstellungen und Denkfiguren, mit derer Hilfe Katharina versucht, Paul, den sie beim Entwenden der Waffe beobachtet hat, von seinem Vorhaben zunächst mit dem Hinweis auf dessen Sündhaftigkeit (ebd.: 150f.) abzubringen. Darüber hinaus bieten religiöse Bilder und Verweise aber auch die zur herkömmlichen Lehre gegenläufige Lesart eines religiösen Lebens- und Liebesverständnisses an, das von Selbstverachtung und Todeswunsch wegführt und darauf einstimmt, auch sexuelle Begehren als Teile eines gelingenden Lebens erfahren zu können. Denn schließlich ist es die Evidenz ihrer körperlichen Offenheit und Schönheit,30 als Katharina ihm an diesem Nachmittag ihre nackte Brust zeigt, die ihn und sie dadurch auf den Weg einer selbst zu verantwortenden Lebensführung verweist31 und für deren Erlebnis als vertraute Intimität, Freiheit und körperliche Integrität beide die Chiffre »Jerusalem« nutzen: »ich werde doch sein Jerusalem sein« (ebd.: 156)32 Bölls Rückbezug auf eine solche religiöse Fassung des Lebens bietet in dieser Hinsicht ähnlich wie die Schilderung der Kleinstadt einen durchaus ambivalenten Befund: Wie die Kleinstadt in ihrer Verschränkung von Vielfalt und allein, ohne Familienanschluss, aber auch ohne religiöse Bindung auf. »Du weißt, dass ich es nicht glaube« (ebd.: 150). 30 Als kluge, auch ihrer körperlichen Souveränität mehr oder weniger gewisse, zumindest vertrauende »Mittlerin« oder »Erlöserin« rückt Katharina damit in die Reihe der von Böll durchaus emanzipatorisch angelegten Frauenfiguren, bei deren »Reinheit« und dadurch ermöglichten Entschlossenheit zu sinnlichem Begehren es sich freilich auch um eine weitere Männerphantasie handelt. Zur Ambivalenz der Frauenfiguren Bölls vgl. Römhild (1991). 31 »… ich bin froh, daß es so schön ist.« (Ebd.: 153) 32 Jerusalem als Sehnsuchtsort und Utopie werden hier von Böll durchaus als Chiffren für Liebeserwartungen, Liebesglück und ein gelingendes selbstbestimmtes Leben geführt (vgl. dazu auch ebd.: 146, 158). Inwieweit Böll hier mit dieser Formel darauf ausgeht, christliche Diesseitsverachtung durch eine jüdische eschatologische, aber eben auch innerweltlich ausgerichtete Dimension der Lebens- und Liebesfreuden zu erweitern, kann hier nicht weiter diskutiert werden.

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Konformität, beschränkter Diversität und abgenötigter Kohäsion sowohl einen Raum der Belastung und der Gefangenschaft als auch ein Erfahrungsfeld sozialer Kontakte, für Gespräche und Kooperation bietet, so stellt auch der religiöse Rahmen zunächst für Menschen eine unaushaltbare Zumutung dar. Während aber in dieser literarischen Gestaltung der Kleinstadt die Unlebbarkeit der sozialen Verhältnisse im Vordergrund steht, stellt die religiöse Überlieferung dem gegenüber zugleich einen Bilder-, Vorstellungs- und Deutungsbereich zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich ein menschenwürdigeres Leben zumindest erträumen, wenn nicht gar fordern, gestalten und legitimieren lässt. Auf der Suche nach Orientierung zwischen der Nah- und auch Schreckenswelt der Familie und Community und einer Welt, deren transzendente Rahmung zwar noch wirkmächtig in den Ordnungen der »kleinstädtisch« angelegten Nahwelt spürbar, gerade aber auch in den damit verbundenen Routinen und Konventionen der Kleinstadt erstarrt ist, sind es – der Anlage der Erzählung folgend – anthropologisch gegebene Begehren, die, so wie sie sich im Rahmen kleinstädtischer Gegebenheiten und Verhaltensmuster entwickeln konnten, zugleich auf deren Sprengung bzw. Überwindung ausgehen. Dies gilt zumal für eine ins Transzendente gerichtete Unruhe, die sich in den Qualen des Beichtenmüssens und Nichtkönnens niederschlägt und ihren Weg aus den Fesseln religiöser Vorschriften in Richtung eines selbstbestimmten, aber auch anderen gegenüber verantwortbaren Lebensentwurfs sucht. Ebenso trifft dies auf Neugier und die Suche nach Selbsterprobung und Abenteuer zu, wie sie in Adoleszenz-Prozessen offensichtlich weltweit zu Tage treten (Elwert 1998), und die hier in Rebellion und Aggression oder aber Flucht und Aufbruch enden. Schließlich geht es nicht zum wenigsten um die Triebkraft sexueller Begehren, die allerdings gerade unter den Vorgaben christlich-katholischer Leibfeindlichkeit erst gegen diese und unter Rückbezug auf eine mit der Schöpfung bereits gegebene Lebensfreude restituiert und legitimiert werden muss. Ambivalenz der Kleinstadt findet sich schließlich auch in jenem Akt der Aggression wieder, mit dem Paul auf die Erlebnisse mit Katharina, den Aufbruch seines Freundes Griff und die Abkehr von der eigenen Selbsttötung reagiert. Denn möglicherweise, so ist Pauls Weg am Ende der Geschichte auch deutbar, kann ein solcher Aufbruch aus vorgegebenen, verkrusteten Verhaltens- und Deutungsmustern auch wieder in erneute Verzweiflung, in Ohnmacht und/oder Selbstbeschädigung münden. Statt seiner zerschießt er zwar bei der Rückkehr in die Stadt lediglich die Bierreklame eines Wirtshauses, ein Akt der Aggression, von Böll hinsichtlich der historischen Bezüge kleinstädtischer Lebensvorstellungen satirisch ausgemalt, der durchaus auch als Akt der Selbstermächtigung eben unter den Bedingungen kleinstädtischer Enge und Vertrautheit verstanden werden kann: »es tat ihm fast leid um die große, runde Waffenbierreklame, auf der zwei gekreuzte Säbel einen Bierkrug, der schäumend überlief, zu schützen schienen.« (Böll 1982: 164)

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Anachronismus und Kitschwürdigkeit der Kleinstadt werden mit dieser Bierreklame ebenso ins Bild gesetzt wie eine fetischisierte Lebensfreude im überschießenden Bier angesprochen. Nicht zuletzt lässt sich das Bild als Hinweis auf einen für das Spießertum der Kleinstadt bezeichnenden Bedarf an waffengestütztem Schutz seiner Genussfreuden verstehen, auch wenn die aufgerufenen Referenzen veraltet oder fehl am Platz erscheinen. Für das Leben in der Kleinstadt zwischen Ordnungsansprüchen und nachbarschaftlicher Vertrautheit ist freilich auch charakteristisch, dass Pauls Ausbruchsversuch ihn an das Gewebe der Gemeinde zurückführt; er gehört ja »dazu«: »›Mein Gott‹, sagte er zu dem Polizisten, ›Sie wissen doch genau, wo ich wohne.‹ ›Natürlich weiß ich’s‹, sagte der Polizist, ›komm!‹« (Böll 1982: 166)

M ACHT

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S ELBSTERFAHRUNG

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Während Katharina, dem Drängen der Mutter folgend, sich auf den Weg nach Wien zu ihrem ihr bis dahin unbekannten Vater33 begibt (ebd.: 158), und Pauls Freund Griff es immerhin schafft, sich auf die Reise zu seinem Onkel nach Lübeck zu machen, um dort in dessen Fischhandlung zu arbeiten, bleibt Paul bei seinem bezüglich der Pistole gefassten Entschluss: »Wir müssen etwas treffen« (ebd.: 161; Hervorh. im Original) hängen, auch wenn sich sein Vorhaben, aus lauter Verzweiflung sich selbst zu töten, inzwischen aufgrund der Erfahrung mit Katharina dahin gemäßigt hat, dass es nun nur noch darum geht, die Pistole einmal auszuprobieren. »Nur ein paar Scherben«, so fasst er seine Lern-, Läuterungs- und ggf. Selbstermächtigungsprozesse zusammen, »hat es gegeben, und ich habe Katharinas Brust gesehen. Sie wird wiederkommen. Und nun hat der Vater wirklich einmal Grund die Pistole zu reinigen.« (Ebd.: 165) Wenn dies nicht nur als infantiles Festhalten an einer Ersatzhandlung zu verstehen ist, so lässt es sich vielleicht so deuten, dass es Paul (und seinem Erzähler) bei dieser Aktion, der Zerstörung einer gläsernen großen Bierreklame vom Bahnhofsvorplatz aus (ebd.: 164), zumindest darum geht, etwas zu tun, um in dem ihm verbliebenen Rahmen einmal Handlungsmacht zu gewinnen. Damit öffnet sich ein drittes Handlungsfeld, das freilich auch wieder neben den Möglichkeiten der Selbstermächtigung ebenso den Abgrund der Zerstörung und Selbstzerstörung bietet. Auch hier bleibt die Erzählung wie auch schon hinsichtlich der Abenteuerwelt und der Sphäre sexueller Begehren und Erfahrungen erst einmal ambivalent, vielleicht weitestgehend sogar hoffnungslos.

33 »Er ist nett […] und er hat nie an die Götter geglaubt, an die ich glaubte.« (Böll 1982: 158) So stellt ihn die Mutter vor.

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Zunächst überträgt die Pistole, Symbol des Krieges und seiner ebenso verdrängten wie in der Verdrängung aufbewahrten Verbrechen der Erwachsenengeneration vor 1945, die Todesgesinnung der älteren deutschen Gesellschaft aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert34 auch auf die Nachfolgegeneration der nach 1945 Geborenen. Eingezwängt, nahezu erstickt zwischen aufkommendem kleinstädtischen Wohlstandschauvinismus und der von der Kirche getragenen Leibfeindschaft sowie entsprechenden Drohungen mit Verworfenheit und Höllenqualen, scheint für Paul offensichtlich erst einmal nur der Weg der Selbsttötung zu bleiben. Im Sinne eines letzten Strebens nach Handlungsmacht angesichts ansonsten bestehender und zu erlebender vollständiger Ohnmacht und Verzweiflung möchte er sich, auch aus Hass auf die besser angepassten Schwestern, über deren Tennisbällen erschießen: »Über die Tennisbälle, dachte Paul, rotes Blut über die weißen haarigen Bälle.« (Ebd.: 133) Es sind nun allerdings die Erfahrungen, auch das Gespräch, mit Katharina, die es ihm ermöglichen, sich von der Selbsttötung in Richtung eines Aktes symbolischer, aber eben doch auch wieder durchaus wirklicher Gewalt zu bewegen. Und es ist nicht zuletzt der kleinstädtische Rahmen, innerhalb dessen dies geschieht und der es ihm zugleich ermöglicht und abzufordern scheint. Werden symbolischer, imaginärer und der realer Raum der Kleinstadt unter der Perspektive »überschaubarer Nachbarschaft« modelliert, so treten zum einen die Enge, die Unvermeidbarkeit und auch die Macht sozialer Kontrolle hervor: »Mutter, die längst erfahren hat, daß ich zu Katharina hinaufgeklettert bin; alle wissen es und niemand wird verstehen, daß ich es tat und daß ich dies tat: auf die Lichtreklame schießen.« (Ebd.: 165) Zum anderen bietet der Raum der Kleinstadt aber auch tatsächlich die Nähe der Nachbarschaft und ermöglicht damit die Kommunikation und Verantwortlichkeit der beiden Freunde mit und für einander, dann auch zu Katharina. Beobachtung, Handeln und Interaktion, nicht zuletzt auch Kooperation und Reflexion entstehen so aus der Verschränktheit der sozialen Beziehungen und zugleich aus der mit der Gestaltung der Kleinstadt verbundenen Überschaubarkeit, wenn Katharina ihn, nachdem sie ihn beim Entwenden der Pistole von oben beobachtet hat, zu sich auf die Terrasse ruft. »Warum hast du mich raufgerufen?« fragt Paul; und Katharina antwortet: »weil ich sah, was du da machtest.« (Ebd.: 148) Kleinstadt erscheint in dieser Hinsicht als (Miniatur-)Modell einer Gesellschaft von Menschen, in der Zumutungen neben Sorge, Liebesbegehren neben Gewaltphantasien und zugleich deren beider Realisierungsversuche stehen. Dass Paul sich

34 Ich folge hinsichtlich der Annahme einer »älteren« Nekrophilie, zumindest der Eliten Deutschlands bis zur Nazizeit, den diesbezüglichen Studien von Krockow (1995) und Friedländer (1984).

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am Ende, nachdem die beiden anderen weggefahren sind, in einem Akt symbolischer und zugleich sinnloser Gewalt darum mühen muss, nun seinerseits Handlungsmacht zu zeigen und nach seinem Akt symbolischer Gewalt von einem Polizisten, der ihn kennt, nach Hause abgeführt wird, mag noch einmal die Ambivalenz, auch die Grenze beschreiben, wenn es darum geht, eine Gesellschaft auf der Basis von Nachbarschaften zu organisieren. »[I]rgendjemand«, so sagt Katharina, »wird uns schon gesehen haben« (ebd.: 154). Damit benennt sie Drohung und Versprechen bürgergesellschaftlicher Vergesellschaftung in einem. Vielleicht sollte es nur kindischer Trotz sein, wenn Paul auf die Frage des Polizisten, wo er denn wohne, antwortet: »Ich wohne im Tal der donnernden Hufe.« (Ebd.: 166). Vielleicht ist es aber auch das Beharren auf der Legitimität und dem Realitätsanspruch der dort vorgestellten, erträumten Gegenwelt. Im Nachhinein kann dies auch noch mit einiger historischer Signifikanz aufgeladen werden: Im Prozess, der 1969 wenige Tage nach dem Woodstock Festival gegen die sogenannten »Chicago Eight« wegen Störung des demokratischen Parteitages in Chicago 1968 stattfand, antwortete der Aktivist Abbie Hoffman (1936-1989) auf die gleiche Frage: »In Woodstock Nation. It’s a nation of alienated young people.«35 Eine ähnlich zwiespältige Auflösung, genau genommen Depotenzierung erfahren damit schließlich auch die mit dem Pistolenschießen verbundenen Allmachtsund zugleich Zerstörungsphantasien der beiden Jungen: »›Laß es‹, sagte er leise, ›laß auch die Bälle – nichts haben wir getroffen‹ ›Gelogen‹, sagte Griff, ›alles gelogen‹ ›ja alles‹, sagte Paul« (ebd.: 162). Im Maße dieser Einsicht wird der Gewaltakt, mit dem Paul zum Ende der Erzählung eine Bierreklame zerschießt, dann aber vielleicht doch auch zu einem Aufbruchssignal für Griff: »schieß schnell und das ganze Magazin leer. Wenn ich es höre […] steige ich in den nächsten Zug.« (Ebd.: 164) Wobei er aus der Perspektive Pauls auch zu einem Akteur der Selbstbestimmung, der Öffnung auf eine Zukunft jenseits der Kleinstadt wird. Überformt wird diese Ausrichtung auf eine freiere Zukunft durch die mit Katharinas Offenbarung verbundene Vertrautheit und Entgrenzung über die bislang ihn bestimmenden familiären, religiösen und sozialen Beschränkungen hinaus: »er wußte, daß es keine Angst war, eher Freude, und am liebsten hätte er das ganze Magazin in die Luft hineingeschossen und ›Jerusalem‹ geschrien« (ebd.: 164). Mit der Einlagerung seiner Erzählung in die Erfahrungswelt einer Kleinstadt am Fluss, sei es nun der Rhein oder die Mosel, und deren Gestaltung als Erfahrungsund Handlungsort für die Suche nach einem verantwortbaren Lebensentwurf unter 35 Zitiert nach Mahlerwein (2019: 264, Anm. 16). Ob es sich bei Hoffmans Antwort um das Verbleiben in einem Adoleszenztraum oder um einen gesellschaftlich beachtenswerten Gegenentwurf handelt oder um beides, wäre im Rahmen der hier vorgestellten Überlegungen ebenfalls weiter zu erörtern.

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den Bedingungen fortgeschrittener Moderne nimmt Böll nicht zuletzt Bezug auf die lange Geschichte jener »kleinen Städte« am Rhein, in deren Anlage und Ausprägung bereits Lucien Febvre den zivilisatorischen (und besonderen) Grad der Rheinlandschaft erkennen wollte. Darüber hinaus erschienen sie als »Ferment einer beinahe zweitausendjährigen Geschichte« (Febvre 1994: 46), als Kraftquellen und Laboratorien europäischer und deutscher Geschichte(n) in historischen, sozialen, kulturellen auch religiösen Mischungsverhältnissen, wie sie bei Febvre mit den Einflussquellen germanischer, römischer, christlicher Herkunft (ebd.: 93) angesprochen, wenn auch nicht umfassend genug dargestellt werden.36 Kleinstädte nehmen, wie dies im TAL DER DONNERNDEN HUFE vorgestellt wird, die in Febvres historischem Entwurf angesprochenen Traditionen auf, ggf. auch das damit verbundene Selbstverständnis und einen entsprechenden Bestand an Erfahrungen und institutionalisierter Festigung, aber auch Differenzierung im Sinne einer bürgergesellschaftlichen Ordnung.37 Zugleich tragen sie auch die andere Seite dieser Ordnung mit sich: Nötigung zum Konformismus, die Enge sozialer Beziehungen, eine Nähe, die Intimität in Obszönität wenden kann. Nicht zuletzt finden sich hier Routinen und drückende Aussichtslosigkeit, aus deren Erfahrungen dann – so wird es in dieser Erzählung im Rahmen einer Kleinstadt dargestellt – Selbsthass und Gewalt, Rebellion und Flucht. Gezeigt wird die Ausweglosigkeit eines Rennens ›mit dem Kopf durch die Wand‹, vielleicht aber auch wie die Stärkung eines Strebens nach Eigenverantwortlichkeit, nach einem verantwortungsvollen und zugleich selbstbestimmten Leben unter beschränkten Bedingungen entstehen kann und sich entwickeln könnte. Für Katharina und Paul firmiert Glück innerhalb dieser Erzählung unter der Chiffre »Jerusalem«. »›Komm‹, sagte er, Jerusalem, dachte er, ich habe es verstanden, aber ich weiß nicht, was es bedeutet.« (Böll 1982: 159).

36 So wird der für die rheinische Geschichte bedeutende Beitrag jüdischer Traditionen mit der Vernachlässigung der SchUM-Städte gar nicht weiter bedacht. 37 »In der überschaubaren Öffentlichkeit der Kleinstadt lag ein Versuch, urbane Strukturen der Kommunikation, in denen der Platz der anderen gesichert war, in die Moderne hinein zu erhalten.« (Hüppauf 2005: 301) Vgl. dazu auch die Beispiele und die Beschreibung des Handlungsrahmens bei Luckmann (1970b: 115-126).

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P HILIP R OTHS T HE C ONVERSION

OF THE

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J EWS

Philip Roths Erzählung THE CONVERSION OF THE JEWS wurde erstmals 1958 veröffentlicht und spielt ebenfalls in kleinstädtischer Umgebung, auch wenn es sich vielleicht ebenso um die Vorstadt oder den Stadtbezirk einer mittleren Provinzstadt wie Newark an der amerikanischen Ostküste handeln könnte. Hier ist Roth (19322018) aufgewachsen; und die Stadt und ihre Lebensverhältnisse bilden für viele seiner Romane und Erzählungen doch auch den Rahmen bzw. einen Hintergrund. Für die weitere Argumentation ist der mögliche Unterschied zur Kleinstadt freilich nicht ganz so wichtig, da es sich bei Roth wie auch bei Böll um die Beschreibung eines Geschehens in überschaubarer Nachbarschaft handelt, die hier durch soziale Verbindungen, Bekanntschaft und räumliche Nähe, vor allem aber durch den gemeinsamen Bezugspunkt der Community zur Synagoge bestimmt wird. Insoweit handelt es sich um eine Geschichte aus der spezifischen Erfahrungswelt jüdischer Nachbarschaften in nordamerikanischen Städten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so wie sie von Benjamin Looker als »American Jewish Experience« beschrieben werden: »a space connecting arrivals from distant shtetls and departures from suburbian ranches« (Looker 2015: 262). Unter dieser Voraussetzung wird freilich der ansonsten die Kleinstadt kennzeichnende vermeintlich »gewachsene« nachbarschaftliche Rahmen bereits in geographischer Hinsicht überschritten, da die Bandbreite der Erfahrungen und Geschichten der hier lebenden Menschen doch vom ländlichen und vorstädtischen Amerika bis zu den kleinstädtisch-ländlichen Erfahrungsräumen Mittel- und Osteuropas reicht. Hinzu kommt, dass die angesprochenen historischen und individuellen Bezugslinien nicht nur auf Einwanderungsprozesse, Flucht- und Gewalterfahrungen in unterschiedlichen generationellen Lagerungen sowie unterschiedliche Formen des Ankommens oder auch Scheiterns dies- und jenseits des Atlantik zurückverweisen,38 sondern darüber hinaus, so auch schon im Titel der Geschichte angesprochen, der historische Raum bis in die Zeit der Zwangskonversionen der Juden im Spanien des späten 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts ausgespannt wird.39 Es handelt sich, dies wird von Roth auch in seinen Essays immer wieder angesprochen,40 bei einer solchen kleinstädtischen jüdischen Nachbarschaft in Amerika also nicht nur um eine mit heterogenen Erfahrungen ausgestattete Gruppe, sondern

38 Für einen ersten Einstieg in diese transatlantischen Verbindungen vgl. Hertzberg (1996). 39 Noch immer instruktiv, materialreich und für die hier vorgestellte Interpretation anschaulich Poliakov (1981). 40 Vgl. dazu die beiden Essays AMERIKANISCHE ROMANE (Roth 2007a) und ÜBER JUDEN SCHREIBEN

(Roth 2007b).

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auch um Menschen, die sich der Vorläufigkeit und eben vor allem auch Unverbundenheit ihrer Existenz durchaus bewusst sind. Zudem haben sie auch die Gefährdung des eigenen Lebens und der eigenen Familie als Teil ihrer sozialen Lage und ihrer Geschichte in sich aufgenommen und sorgen sich insoweit im besonderen Maße dann auch um den Erhalt der Gruppe, zumal aber auch um den Schutz und das Aufwachsen ihrer Kinder und die Weitergabe des Lebens über die bestehenden Drohungen, Gefährdungen und Vernichtungserfahrungen hinweg. Dass diese heterogene Zusammensetzung und prekäre Lage einer Gemeinde im Schatten ihrer Kontingenz dann auch eine besondere Beachtung des Zusammenhalts der Familie und Gemeinde mit sich bringt, so wie sie die stabile Orientierung an einer Tradition achtet, die u.a. durch die Riten der Alltagsgestaltung41 und nicht zuletzt durch die Lehre und Autorität eines Rabbiners vertreten werden soll, liegt damit auf der Hand. Dies stellt dann auch den Rahmen dar, vor dem und in dessen Herausforderung die erzählte Geschichte ihren Sinn und Ort hat und die Erzählung einsetzt. Der Stachel, der mit der Gestalt und dem Verhalten des dreizehnjährigen Oscar Freedman (Roth 1959: 147) verbunden ist, besteht darin, dass dieser auf eine zu Unrecht erlittene Demütigung, die ihm aufgrund seiner Lern- und Wissbegier zugefügt wird, in einer Weise reagiert, die ihn ungewollt dank der Sorge der Gemeinde in eine Machtposition versetzt, die er, ohne es recht zu wissen, dazu nutzen kann und nutzt, sich nicht nur die Gemeinde gefügig zu machen, sondern diese – durchaus in der Verfolgung eines vernünftig zu rechtfertigenden Ziels – selbst wiederum zu demütigen. Argumentation und auch Erzählung, so ist Roth’ Geschichte angelegt, bewegen sich dabei im Rahmen durchaus universalistischer Ansprüche, die sich an den Zielen Vernunft, Würde und leibliche Unversehrtheit orientieren: »Promise me, promise me you’ll never hit anybody about God.« (Roth 1959: 158), lautet die aus diesem Ansatz folgende Forderung, deren Zusage es am Ende Oscar/Ozzie erlaubt, das Dach, auf das er sich zunächst geflüchtet hatte und von dem er herunter zu springen drohte, unversehrt zu verlassen. Vorausgegangen waren mehrere Streitgespräche Ozzies mit dem Rabbi, in denen Ozzie versucht hatte, seinen universalistischen Zugang zur Gleichheit aller Menschen, soweit er sich dies in seinem jugendlichen Alter zurecht zu legen suchte, mit den Besonderheiten eines jüdischen Selbstverständnisses in Einklang zu bringen: »What Ozzie wanted to know was always different. The first time he had wanted to know how Rabbi Binder could call the Jews ›The Chosen People‹ if the Declaration of Independence

41 So schildert Roth das Geschehen am Sabbath-Abend: »When his mother lit the candles she would move her arms slowly towards her, dragging through the air, as though persuading people whose minds were half made up. And her eyes would get glassy with tears.« (Roth 1959: 143)

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claimed all men to be created equal.« (Ebd.: 141) Einen Höhepunkt erreicht der Streit um Argumente und Glaubensüberzeugungen, als der Rabbi, um die Gottessohnschaft von Jesus Christus zu widerlegen, auf die Unmöglichkeit einer Jungfrauengeburt verweist. An dieser Stelle widerspricht Ozzie und fragt nach der Allmacht Gottes: »if He could create heaven and earth in six days, make all the animals and fish and the light in six days […], why couldn’t He let a woman have a baby without having intercourse.« (Ebd.: 140f.) Angeheizt durch die anderen Schüler, für die schon das Wort »intercourse« eine Grenzüberschreitung und zugleich ein Vergnügen darstellt (ebd.: 146), eskaliert der Streit. Der Rabbi schlägt Ozzie ins Gesicht, dieser reagiert mit Wut und Beschimpfung und flüchtet sich vor weiteren Schlägen auf das Dach des mit der Synagoge verbundenen Schulhauses. Erst oben auf dem Dach wird ihm seine Situation bewusst: »Louder and louder the question came to him – ›Is it me? Is it me?‹ – until he discovered himself no longer kneeling, but racing crazily towards the edge of the roof, his eyes crying, his throat screaming, and his arms flying everywhichway as though not his own.« (Ebd.: 148) Zunächst selbst im Ungewissen, was weiter zu tun ist, wird sich Ozzie erst in der Folge seiner Macht bewusst; die Feuerwehr kommt, Zuschauer aus der Umgebung, seine Mitschüler, schließlich seine Mutter, und ein Ausweg tut sich auf, als er erkennt, dass er seine Macht dazu nutzen kann, diese alle dazu zu zwingen, seine Überlegungen ernst zu nehmen: »Tell me«, so fordert er von Rabbi Binder, »you believe God can make a child without intercourse.« (Ebd.: 157) Während seine Mitschüler und andere Zuschauer die Sensation suchen und ihn zum Springen ermuntern,42 sieht Rabbi Binder seine Aufgabe nicht nur darin, ihn unversehrt vom Dach zu bringen, sondern auch darin, die in ihrer Erregung aus den Fugen geratene Gemeinde wieder zu sich zurückzuführen: »Rabbi Binder was on his knees, trembling. If there was a question to be asked now it was not ›Is ist me?‹ but rather ›Is it us? […] Is it us?‹« (Ebd.: 156) Die tragische Linie, die Roth hier auszieht, besteht darin, dass der Zwang zur »Konversion der Juden« nicht alleine von Außen ausgeübt wird, sondern dass sich die Entscheidung zu dieser Konversion gerade auch aus den inneren Motiven der dem Zwang Unterworfenen, aus dem Bemühen speist, zum einen das Leben Ozzies – auch vor den Augen seiner Mutter – zu retten und zum anderen, so die Intention Binders, die Würde und die Existenz der Gemeinde zu erhalten bzw. zu restituieren – historische Parallelen zu den Mustern und Motiven der Zwangskonversion von Juden in Spanien und anderswo im Laufe judenfeindlicher und antisemitischer Gewalt eingeschlossen.

42 »Ozzie realized all the strangeness of what these people, his friends, were asking: they wanted him to jump, to kill himself; they were singing about it now – it made them happy.« (Roth 1959: 156)

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Es bleibt auch noch ein weiterer bitterer Rest.43 Denn Ozzies Macht über die Gemeinde, die ihm seine Drohung mit der Selbsttötung unerwartet einbringt, ist nicht nur wie jede Macht an die Folgsamkeit der ihr Unterworfenen gebunden,44 sondern setzt deren aktive Mitwirkung und eine entsprechend dazu nutzbare Legitimation voraus,45 die deutlich darin besteht, Ozzie von seiner Verzweiflungstat abzubringen, sein Leben zu retten. In diesem Rahmen wird die einmal Ozzie zugetragene Macht in Roth’ Erzählung auch noch in einer weiteren Richtung zum Selbstläufer, indem Oscar durch die offenbare Leichtigkeit des Machtgebrauchs auf den Weg geführt wird, auch noch den alten Gemeindediener durch den Zwang zum Bekenntnis christlicher Glaubenssätze zu erniedrigen. Blotnik, »mumbling to himself, unaware that it was four o’clock or six o’clock, Monday or Wednesday« (ebd.: 144), lebt gleichsam wie ein Gespenst in der Gemeinde.46 Er erscheint den Schülern dabei wie ein Fremder: »To most of the students Yakov Blotnik’s mumbling, along with his brown curly beard, scythe nose, and two heel-trailing black cats, made of him an object of wonder, a foreigner, a relic, towards whom they were alternately fearful or disrespectful.« (Ebd.) Der Vorgang, so auch die Erzählung und nicht zuletzt ihr Ende bleiben zwiespältig, gerade weil nicht nur Geschichte und Gestalt Yakov Blotniks unbestimmbar erscheinen, sondern auch weil unklar bleibt, ob dieser weiß, was er tut, warum er das tut und überhaupt, was er, als er von allen anderen zum Bekenntnis genötigt wird, eigentlich sagt: »In a few moments Ozzie heard an old comical voice say something to the increasing darkness about God« (ebd.: 158). An dieser Stelle verschiebt sich die Erzählung von der Adoleszenz- und Aufbruchsgeschichte eines klugen und wissbegierigen Jungen zu einer Studie über Macht und die Gefahren ihrer Entgrenzung, sei es auf der Basis von Vernunft oder Zufall, sei es in der Reaktion auf Demütigung oder auch in der Absicht, diese zu verhindern. Sie wird zu einer Studie über den Zusammenhalt einer Gemeinde; die Kosten und ggf. der Preis

43 Insoweit sagt der Befund, es handele sich am Ende um die Wiederaufnahme eines seiner Selbst gewisseren Helden in eine Gemeinde, die nunmehr seine »Eigenständigkeit anerkennen« (vgl. Link 1993: 139) könne, etwas mehr, als der Text hergibt. 44 So wurde sie schon bei Max Weber (1972: 28) definiert. 45 Vgl. dazu die Formen der Kooperation von Machthabern und Unterworfenen bei Popitz (1986). 46 In der Erzählung ELI THE FANATIC hat Roth mit der Figur des Tzurik einen ähnlichen Charakter geschaffen, diese aber deutlicher mit der Erfahrung der Shoah und der Folter verbunden und so auch schärfer deren Funktion als Herausforderung an das Leben und Selbstverständnis US-amerikanisch-jüdischer Gemeinden nach 1945 bestimmt. Die Geschichte findet sich ebenfalls in Roth (1959: 247-298).

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eines Zusammenlebens in nachbarschaftlicher Überschaubarkeit – so wie es sich für Ozzie vom Dach der Synagoge aus als Bild einer Kleinstadt darstellt – werden nach beiden Seiten hin, zur Seite der Verletzbarkeit der einzelnen Person und zur Seite der Verwundbarkeit der Gemeinde im Ganzen, ausgezeichnet. Beide Werte lassen sich weder gegeneinander verrechnen noch sind sie ohne Weiteres zueinander kompatibel, aber offensichtlich ist das Ensemble der Kleinstadt verbunden, differenziert und zugleich widersprüchlich genug, um dieser Fragestellung einen Raum zu geben. Denn auch wenn Ozzies Wunsch, niemand solle aus religiösen Gründen »geschlagen« werden (ebd.: 158), am Ende auf vernunftorientierte und humane Maßstäbe menschlichen Zusammenlebens zurückführt,47 bleibt die wie immer auch erzwungene und aus welchen Gründen auch immer vollzogene Konversion der Juden ein beunruhigender Vorgang für die Gemeinde selbst wie auch für die Integrität jedes einzelnen.

Ü BERSCHAUBARE N ACHBARSCHAFTEN Wie in Bölls Erzählung ist es auch in Roths Geschichte zunächst ein religiöser Rahmen, innerhalb dessen das Leben der Gemeinde und die kleinstädtische Sozialität der Nachbarschaft vorgestellt werden. Ebenso sind die jugendlichen Protagonisten48 diejenigen, die diesen Rahmen in Frage stellen und überschreiten. In beiden Geschichten sind es die Suche nach Sinn und Anerkennung sowie das damit verbundene Sich-Beweisen, und zugleich sind es auch das Leiden und Unbehagen an den Mustern und Ansprüchen des Gemeindelebens, die zur Verletzung von Grenzen und zur Suche nach Auswegen nötigen. Offensichtlich stellen Bilder und soziale Rahmungen des Kleinstädtischen hier ein Bezugsfeld bereit, das zum einen nah genug, zum anderen differenziert genug ist, um die divergierenden, auch einander im Weg stehenden Anforderungen von individuellen Ansprüchen auf Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Vorgaben (die diese zugleich eben nicht nur be- oder verhindern, sondern auch formen und ggf. ermöglichen) vorzustellen und je nach Umständen auch zu verhandeln, einzufordern und nicht zuletzt im Blick auf Grenzen und Verwerfungen hin zu reflektieren. Wie bei Böll ist es auch bei Roth

47 Dieser Zwiespalt wird bei Silvey (2014: 65-67) nicht gesehen. 48 Ozzie und sein Freund Izzie sind bei Roth etwas jünger als Paul, Griff und Katharina bei Böll; entsprechend wird ihr Interesse an Sexualität schon durch Worte wie »intercourse« oder »get laid« (Roth 1959: 140) angeregt, und statt des Pistolenschießens interessieren sie sich für Baseball (ebd.: 144).

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ein Blick von Oben, im TAL DER DONNERNDEN HUFE mit dem Fernrohr von der Terrasse aus, in THE CONVERSION OF THE JEWS vom Dach der Synagoge aus, der den Einblick in die Gesellschaft, ihre Funktionszusammenhänge und Verwerfungen ermöglicht, so wie sie sich als ›überschaubare Nachbarschaft‹ in der Kleinstadt erkennen und entsprechend dann auch in der Form einer literarischen Erzählung gestalten lässt.

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Beim Verlassen der nummerierten Wege Kleinstadt in Ingeborg Bachmanns Drei Wege zum See K ARIN W OLGAST

E INE K ARTE

DER

E RKENNTNIS

Nachdem Immanuel Kant im ersten Teil seiner KRITIK DER REINEN VERNUNFT die wichtigsten transzendentalen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis dargelegt hat und im Vorhaben des Werks ungefähr halbwegs ist, hält er kurz, eine Seite lang, inne, um Bilanz zu ziehen. Diese leitet einen Abschnitt mit dem Titel »Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena« ein (Kant 1976: 287), und er gestaltet sie als ein sprachliches Bild, in dem er das bisher Erreichte als das »Land des reinen Verstandes« versinnbildlicht. Dieses habe er nun zusammen mit dem Leser durchreist, sorgfältig in Augenschein genommen, auch durchmessen und »jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt« (ebd.). Als das »Land der Wahrheit« sei es eine Insel, die »durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen« (ebd.), nämlich von einem stürmischen Ozean umgeben ist. Weil das weite Meer den Seefahrer täuschen mag, indem beispielsweise Nebelbänke und schmelzendes Eis seinem Auge neue Länder vorgaukeln können, wo sich doch in Wirklichkeit gar keine finden, fasst Kant den Ozean als den »eigentlichen Sitz des Scheins« (ebd.) auf. Im Bewusstsein des phatamorganen Risikos will Kant – denn er bejaht im Übrigen die Gestalt des Abenteurers und Entdeckungsreisenden – zusammen mit dem Leser weiter untersuchen, ob es doch noch unentdeckte Länder der Wahrheit geben sollte; aber angesichts der Gefahren ist zuvor doch noch die Karte zu rekapitulieren. Denn angesichts der Untersuchung, ob in allen Breiten des Meeres etwas zu hoffen sei, »wird es nützlich sein, zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen, und erstlich zu fragen, ob wir mit dem, was es in sich enthält, nicht allenfalls zufrieden sein könnten, oder auch aus Not zufrieden sein müssen, wenn es sonst

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überall keinen Boden gibt, auf dem wir uns anbauen könnten; zweitens, unter welchem Titel wir denn selbst dieses Land besitzen, und uns wider alle feindseligen Ansprüche gesichert halten können.« (Ebd.)

D IE W ANDERKARTE

FÜR DAS

K REUZBERGLGEBIET

Kants Metapher von der Erkenntnis als einem Kartographieren scheint Ingeborg Bachmann literarisch aufs Wort genommen zu haben. Mit dem ungewöhnlichen Hinweis auf eine durch Kursivierung auch vom übrigen Text abgehobene Karte fängt ihre 1972 erschienene Erzählung DREI WEGE ZUM SEE an, und zwar wie folgt: »Auf der Wanderkarte für das Kreuzberglgebiet, herausgegeben vom Fremdenverkehrsamt, in Zusammenarbeit mit dem Vermessungsamt der Landeshauptstadt Klagenfurt, Auflage 1968, sind 10 Wege eingetragen. Von diesen Wegen führen drei Wege zum See, der Höhenweg 1 und die Wege 7 und 8. Der Ursprung dieser Geschichte liegt im Topographischen, da der Autor dieser Wanderkarte Glauben schenkte.« (394)1

Wo Kant eine gut fundierte Karte schaffen wollte, um sich des festen Bodens der Erkenntnis vergewissern zu können, da scheint es auch in dieser Einleitung mit der Bezugnahme auf die Karte um Vergewisserung und Verlässlichkeit zu gehen. Somit hören wir vom amtlichen Herausgeber, von der Auflage und dem Jahr des Drucks sowie von den Wegenummern: Bemerkenswert akribisch ist Bachmanns Präambel nicht zuletzt als Einführung in einen Fiktionstext, dessen Charakter eben als erfundene Handlung sie vielleicht durch die Wahl des männlichen Genus als »Autor« zu stärken wünschte; der zugleich auch als eine Art Buffer vor einer autobiographischen Deutung etabliert sein mag. Auf jeden Fall sucht auch er Sicherheit durch die Karte, wobei das jetzt benutzte, an sich gängige Idiom ganz unauffällig darein eine metaphysische Dimension mitschwingen lässt, die für das Ungewisse offen ist: Wenn man einer Sache Glauben schenkt, dann hat man davor eine Wahl getroffen, hat sich entschieden, an etwas zu glauben, was mit der Implikation, sich auch anders verhalten zu können, nicht objektiv gewiss ist. Unter der Oberfläche des Einleitungstextes liegt eine gewisse Spannung zwischen der betont objektiven Gewissheit und dem Glauben.

1

Alle Textstellen aus der Erzählung werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl nach der Werkausgabe (Bachmann 1978, Bd. 2) zitiert.

B EIM V ERLASSEN DER

NUMMERIERTEN

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D IE K OMPOSITION DER K LAGENFURT -E RZÄHLUNG So wie der Ursprung der Geschichte im Topographischen liegt, so kehrt die Hauptperson zu ihrem Ursprung zurück, der dem Leser topographisch dingfest gemacht wird: Am Laubenweg am Rande von Klagenfurt liegt auf den Wald zu das Kindheitszuhause, das der verwitwete Vater, Herr Matrei, immer noch bewohnt, und das die 50-jährige Hauptperson, die erfolgreiche Journalistin und Fotografin Elisabeth Matrei, in einem Urlaub besucht. Mit dieser Gestalt liegt eine Erzählerin der dritten Person mit Innensicht vor; die Erzählperspektive liegt mit Abstand überwiegend bei ihr, in viel geringerem Ausmaß, nur in kurzen Passagen, auch beim Vater. Linear gesehen gliedert sich die Handlung nach den Versuchen, die Elisabeth zu Fuß unternimmt, um den naheliegenden See zu erreichen. Ihrem Spazierunterfangen eignet etwas Habituelles, um nicht zu sagen Rituelles, weiß doch der Vater Bescheid, wie sie sich immer am ersten Tag zu Hause »auszulaufen« pflegt: »Herr Matrei kannte das schon, daß Elisabeth sich jedesmal ›auslief‹, wenn sie heimkam, die Stadt vermied und gleich hinter dem Haus in den Wald ging« (405). Mit dem Titel und der Einleitung der Erzählung ist hinlänglich dafür gesorgt, dass kein Leser die Dreizahl verfehlen kann: Aus dem Titel werden die drei Wege ausdrücklich über die Wanderkarte in die Handlung importiert. Womit die Textoberfläche nicht prangt, ist die Siebenzahl, die tiefer liegend sich erst dem genaueren Lesen erweist. Tatsächlich begeht Elisabeth die Wege Nr. 1, 2, 5, 6, 7, 8 und 10, und zwar im Laufe der sieben Tage währenden erzählten Zeit. Abwechselnd zwischen Laubenweg und den Wegen zum See ergeben sich somit zweimal sieben Erzählabschnitte, bevor Elisabeth im siebenten Versuch und am siebenten Tag mit der Hilfe des Vaters den praktikablen Weg zum See finden kann. Eine Distinktion jener Rückgriffstruktur, die den Aufbau der Erzählung prägt und ihren analytischen, reflexiven Charakter begründet, fügt sich in die Verteilung der 2 x 7 Erzählabschnitte; und zwar dahingehend dass Elisabeth sich im Elternhaus am Laubenweg meist an ihre in Klagenfurt verbrachte Kindheit und Jugend sowie die dort wohnenden Menschen, also Familie und alte Bekannte, erinnert, wogegen sie draußen im Freien auf den Spazierwegen eher über ihr in vielen verschiedenen Großstädten geleistetes Berufsleben nachdenkt, das sie mit zahlreichen Kollegen, Freunden und Liebhabern zusammenführte. Der alle anderen dieser bunten Schar überragenden Persönlichkeit, Franz Josef Trotta, widmen sich drei längere, retrospektiv in Paris angesiedelte Abschnitte. Nach der Findung des Sees als dem kompositorischen Wendepunkt kürzt Elisabeth ihren eigentlich auf zwei Wochen geplanten Klagenfurter Urlaub dadurch ab, dass sie mit Hilfe ihres Pariser Freundes Philippe dem Vater gegenüber einen plötzlich dringenden Arbeitsauftrag fingiert. Danach erfolgt ihre Rückreise, während der sie im Flughafen durch die zufällige Begegnung mit Trottas Vetter überrumpelt ist.

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Bevor sich ihre Wege wieder trennen, steckt er ihr eine handgeschriebene Notiz zu, die sie erst bei der Landung in Paris liest, und die, wie sich erweist, durch ihren Inhalt ebenfalls überrumpelt: Vor dem Fließband auf den Koffer wartend »zog sie das kleine Blatt mit heraus, sie öffnete es und las, betäubt und ohne zu begreifen: Ich liebe Sie. Ich habe Sie immer geliebt.« (477)

Die Handlung endet in Paris, wo Philippe sie empfängt, sie sich als »Todmüde« (483) beschreibt und wo ein von ihrem Redaktionschef André geschicktes Telegramm mit einem Auftrag nach Saigon auf sie wartet. Neben den ausgedehnten Rückgriffen ist der Aufbau der Erzählung auch durch Vorgriffe gekennzeichnet: Trotta fürchtete sich, als sie den Algerienkrieg dokumentieren wollte, vor ihrem Verlust: »er liebte sie wie jemand, den man verlieren wird, verzweifelt und angstvoll« (417) – er wird sie später verlieren; Trottas Vetter besucht ihn, und Trotta zeigt große Sympathie für ihn: »Sie erinnerte sich nur an Trottas ungewöhnliche Zartheit diesem Vetter gegenüber« (422) – dieser wird später Elisabeth seine Liebe erklären; die Freunde haben sie vor dem auf Trotta ersatzweise folgenden Liebhaber Manes gewarnt, und dieser hält Elisabeth für eine mit ihm unverträgliche Frau: er hatte »ihr einmal gesagt […], mit Frauen ihrer Art habe er nie etwas zu tun gehabt, […] intelligente Frauen seien für ihn keine Frauen« (439) – er wird sie später verlassen; eine in Klagenfurt zusammen mit einem ländlich aussehenden Mann angetroffene Kindheitsbekannte namens Elisabeth Rapatz, geborene Mihailovics, sieht armselig und beunruhigend elend aus: »die Elisabeth Mihailovics hatte etwas so Ärmliches und Trauriges an sich gehabt« (424) – sie wird ein paar Tage später ermordet; usw., d.h. die Beispiele ließen sich noch vermehren, aber die erwähnten mögen hier für so viele stehen, die sich wohlgemerkt mit starker Deckungsgleichheit, also wahrhaft tragisch ironisch im Laufe der Handlung ansammeln, so viele, dass sie die Art und Weise beeinflussen, wie der Leser den am Schluss vollzogenen Vorgriff zu verstehen geneigt ist. Dessen kompositorisch ins Gewicht fallender Stellung förmlich als Schlusswort korreliert inhaltlich die Brisanz der Mission, um die es da geht: Wo Elisabeth am Laubenweg nach erfüllter Privatmission, dem gelungenen Gang zum See, sich einen dringenden Arbeitsauftrag aus den Fingern sog, um die Kleinstadt wieder verlassen zu können, da holt sie nach der Landung in Paris ein wirklicher ein, der von der Fotografin die Dokumentation des Vietnamkrieges fordert. Ihr vermeintlich unverfänglicher Vorwand weicht einer lebensgefährlichen Verpflichtung. Tatsächlich sind, wie der Leser durch Elisabeths erinnernden Rückblick erfährt, bereits etliche ihrer Kollegen beim Einsatz ums Leben gekommen: Von einem Fotografen, der den Budapester Aufstand dokumentierte und mit der Kamera in der

B EIM V ERLASSEN DER

NUMMERIERTEN

W EGE

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Hand verblutete, sowie von drei Fotografen und einem Reporter, die in Algerien bei der Arbeit sterben, und von zwei Journalisten, die in Suez getötet werden, hören wir an der einschlägigen Stelle (416), die sich damit unterschwellig einer der magischen Zahlen bedient. Trotta vertrat zur Kriegsreportage eine klar ablehnende Stellung,2 dahingehend dass er Elisabeths Trauer nicht teilen konnte. Seine Worte regten Elisabeth auf, die auf jene sieben Todesfälle hin nicht einsehen konnte, warum sie verschont bleiben sollte, und im Trotz ebenfalls als Fotografin in den Krieg, in casu nach Algerien wollte: »ich werde André bitten, dass er mich nach Algerien schickt« (417). Trotta rät ihr eindringlich ab: »Geh nicht, Elisabeth, geh nie« (ebd.). Am Ende besuchte sie erst nach dem Krieg Algerien. Analytisch gesehen erinnert dies an eine mantische Dimension, die prinzipiell in einer auf präzise Erfüllung zugeschnittenen Vorgriffsstruktur liegt, nämlich im Sinne der Vorsehung bzw. einer metaphysischen oder göttlichen Instanz; werden doch in den einschlägigen Romanen und Erzählungen die Ereignisse offensichtlich auf eine nicht mehr rational und natürlich nachvollziehbare Weise gelenkt. Den Zug ins Metaphysische unterstützt die oben nachgewiesene Zahlensymbolik insofern als die 3 und die 7 bekanntlich vor allem im Mythos und in der Religion ihre rhetorische Wirkung entfalten.3 Gerade auf die christliche Metaphysik spielt die Erzählung an jenem Abend in Paris an, als Elisabeth zufällig von Trottas Selbstmord erfährt und sich verzweifelt einem beliebigen neuen Mann, dem oben erwähnten Manes, hingibt, den sie in der Nacht ekstatisch umarmt, um in ihm, wie es heißt, »Auferstehung« zu feiern: Sie »wußte nicht, ob ihr die Tränen kamen, weil sie Trotta damit tötete oder wiedererweckte, […] und sie schlief ein, an ein Ende gekommen und zugleich an einen Anfang« (436), während Manes nie erfuhr, »wie ihr Abschied von Trotta und ihre Auferstehung durch ihn« zusammenhingen (440). Daraus wird man den Eindruck einer eigenartigen unio mystica sexuell-sakraler Natur gewinnen. Entlang der metaphysischen Lesart, die Bachmann einem somit mehrfach nahelegt, kann man sich fragen, ob Elisabeth mit ihrer Annahme des Saigon-Auftrags, die gewiss ist: »ich weiß es« (485)4, einen Opfertod, nämlich den eigenen, feiern 2

»Der Krieg, den ihr fotografiert für die anderen zum Frühstück, der verschont euch also auch nicht. […] Wenn einer mitten ins Feuer springt, um ein paar gute Fotografien nachhause zu bringen vom Sterben der anderen, dann kann er, bei diesem sportlichen Ehrgeiz, auch umkommen, daran ist doch nichts Besonderes, das ist ein Berufsrisiko, nichts weiter!« (416)

3

Vgl. die 3 Phasen und 3 Prüfungen im Märchen, im Volkslied und in der Sage, die 7 Zwerge u.ä., und im alten christlichen Weltbild die sieben Himmel, die sieben Kardinaltugenden versus die sieben Todessünden, usw.

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Dem verzweifelten Pierre, der sie von der Saigonreise abzuhalten versucht, teilt sie mit, sie werde André erst am nächsten Morgen Bescheid geben, »aber dann fahre ich. Ich

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wird. Diese Frage ist durch ein weiteres metaphysisches Wirkungsmittel verbürgt, und auch von ihm gilt, dass die Erzählung es bereits früher eingeführt hat: Als Elisabeth nach einem Spaziergang am Höhenweg zum Haus am Laubenweg zurückkehrt und sich in ihrem Zimmer müde aufs Bett legt, fällt sie in einen Schlaf, der sie bei klarem Bewusstsein träumen lässt – übrigens im allgemeinen ein Phänomen, das es bekanntlich in der wirklichen Welt gibt und das mit dem Begriff des luziden Traums erfasst wird. Diese Bezeichnung kommt in der Erzählung nicht vor, erhält aber eine sicherlich nicht von Bachmann beabsichtigte Replik in der Einschätzung Elisabeths durch den Arzt, den sie nach Manes’ Fortgang aufsucht und der sie ausgerechnet wegen ihrer »Luzidität« lobt: »Er beglückwünschte sie zu ihrer Luzidität« (438).5 Träumend im Elternhaus aber weiß sie, dass sie sich am Laubenweg befindet und gleichzeitig in Paris ist: »Im Halbschlaf fuhr sie auf, sie war Jahre zurückgefallen, und sie lag mit offenen Augen da, und hörte alles wieder, sie war zuhause und doch in Paris.« (425) Die durch den Traum vermittelte Hellsicht ist es, die einen rein realistischen Bezugsrahmen überschreitet. Die Tatsache, dass Bachmann im Laufe der Handlung den Traum so eingesetzt hat, dass die Hauptperson mit voller Gewissheit träumt, führt – ähnlich wie bei ihrer Verwendung des Vorgriffs – zu einer Beeinflussung der Art und Weise, wie der Leser jenen Traum deuten wird, mit dem die Erzählung endet. In ihre Pariser Wohnung zurückgekehrt und unter dem Eindruck des soeben erhaltenen bedrohlichen Saigon-Auftrages stehend schläft Elisabeth sofort ein.6 Wegen der bemerkenswerten Formulierungen und der Wucht des Inhaltes sei dieser letzte Abschnitt der Erzählung zur Gänze zitiert:

weiß genau, dass ich fahren werde, ich brauche keinen Entschluß zu fassen, ich weiß es schon.« (485). Die Wiederholung der bestätigenden Absicht ergibt einen hohen Grad an sprachlicher Redundanz, die ihrer Entschiedenheit Nachdruck verleiht. 5

Die Textstelle fährt aber kontrastreich fort: »Mit dem Zeugnis ›Luzidität‹ reiste sie nach Paris zurück, voller Optimismus, denn es war wirklich weiter nichts passiert, als was jedem anderen auch unweigerlich passierte. Einen Tag danach brach sie plötzlich zusammen, geriet in ungekannte Angstzustände, weil ihre Klarsicht nichts ausrichten konnte gegen die Tatsache, dass ein Mensch, mit dem sie sich schon zusammengehörig gedacht hatte, sie weggeworfen hatte,« (438). Eine starke Skepsis meldet hier die Erzählung gegen die Klarsicht an, die offensichtlich über die Realität nicht erhaben ist.

6

Die durch den Traum gewonnene Erkenntnis mag an das aus der Literatur- und Kulturgeschichte bekannte Motiv des Heilschlafes erinnern, so wie es beispielsweise in Goethes Werk vorkommt. In der idiomatisch-alltäglichen Abwandlung mit der Bedeutung, dass man sich zum Überlegen Zeit erbittet, begegnet das Motiv dort, wo Elisabeth auf einen Vorschlag ihres Redakteurs André antwortet, wie folgt: »Ich werde einmal darüber schlafen und dir Bescheid geben!« (422) Somit auch dies ein Vorgriff, und zwar auf den

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»Sie trank noch ihr Glas aus und warf sich auf das Bett. Sie mußte sofort eingeschlafen sein, als ein erster Traum sie aus ihrem Schlaf sprengte, und sie streckte die Hand nach dem Telefon aus, murmelte: Hallo! Es konnte nur André gewesen sein, aber sie hatte sofort wieder eingehängt und griff nur nach dem kleinen verknüllten Zettel, den sie unter ihr Kopfpolster schob, ehe sie einschlief, schon am Schlafrand getroffen von einem Traum, und sich an den Kopf griff und an ihr Herz, weil sie nicht wusste, woher das viele Blut kam. Sie dachte trotzdem noch: Es ist nichts, es ist nichts, es kann mir doch gar nichts mehr geschehen. Es kann mir etwas geschehen, aber es muß mir nichts geschehen.« (486)

An der Textstelle ist auffällig, dass, nachdem sie fast stante pede eingeschlafen ist, zuerst ein Traum »sie aus ihrem Schlaf sprengte«: Diese Formulierung impliziert, dass der Traum nicht zum Schlaf gehört, nicht der Schlaf ist bzw. etwas anderes beisteuert als den Schlaf; wobei das benutzte Verb »sprengen« ja eine abrupte, plötzliche, gewaltsam aufgeladene Bewegung bezeichnet. Daraus resultiert für den Leser eine gewisse Verunsicherung, was hier zur Traum- und was zur Realitätsebene gehört: Kam der Telefonanruf, sprengte doch nicht er sie aus dem Schlaf, überhaupt richtig vor? Ein zweiter Traum darauf tritt erst recht durch seinen luziden Charakter hervor. Jetzt auch »schon am Schlafrand« wird sie davon »getroffen« – so, wie jemand von einer Kugel getroffen wird. Die durch den Traum geleistete Überlegung schillert mehrdeutig und widersprüchlich von der vermeintlichen Feststellung der Unversehrtheit über die verneinte Möglichkeit hin zum Eingeständnis der Möglichkeit und zum Ausschluss der Notwendigkeit, also entlang der mit Modalverben arbeitenden folgenden Argumentlinie: es ist nichts – es kann nichts sein – es kann, aber muss nicht. Die Verneinung einer Notwendigkeit aber ergibt logisch gesehen eine Möglichkeit. Im Prinzip ist der Schluss der Erzählung offen, doch die massig vorausgegangenen Andeutungen und Vorgriffe färben ihn und werden den Leser mit der hohen Wahrscheinlichkeit rechnen lassen, dass die Frage nach der Quelle des vielen Blutes mit Elisabeths Körper zu beantworten und die Saigon-Mission ihr letzter Auftrag sein wird.

Schluss der Erzählung, wo Elisabeth schlafengeht, bevor sie am Tag darauf Andrés Saigon-Auftrag annehmen wird.

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D ER O RT

DES LITERARISCHEN

T RAUMES

Die literarische Verwendung des Traums steht unmittelbar in einer jüngeren literaturgeschichtlichen Tradition, die auf die Nachkriegszeit zurückgeht,7 als die Autoren sie vermehrt in der Gattung des Hörspiels einsetzten. Dazu führt Hans Höller aus: »Als Ingeborg Bachmann im Jahr 1951 die Arbeit an ihrem ersten Hörspiel aufnahm, hatten Günter Eichs Träume ihre große gesellschaftliche Resonanz zu bewirken begonnen: mit dem Begriff der ›Träume‹ war auf lange Zeit hin ein Darstellungsmodus gefunden, mit dem auch andere Hörspielautoren ihre poetischen Intentionen umsetzten, so daß sich, wie Werner Klose in seiner Didaktik des Hörspiels bemerkt, ›die Hörspielstudios zeitweise in akustische Traumlabors verwandelten‹.« (Höller 1987: 77)

Günter Eich benutzte bekanntlich die literarische Form des Traums, um die jüngste Vergangenheit im vollen Ausmaß der Gewalt und Unmenschlichkeit darzustellen. Die unerbittliche Schärfe des Blicks und die entfremdete Schonungslosigkeit der Inhalte, die sein 1951 ausgestrahltes Hörspiel TRÄUME behandelt und die von einer romantischen Auffassung vom Traum denkbar weit entfernt liegen, regten die damalige Öffentlichkeit auf. Zwischen die fünf Traumsequenzen des Stückes sind Gedichte geschoben, in denen die Sprecherstimme u.a. Folgendes sagt: »Alles, was geschieht, geht dich an.« (Eich 1974: 17) Und imperativisch fortfährt: »Denke daran, daß du schuld bist an allem Entsetzlichen, / das sich fern von dir abspielt –« (ebd.: 27). Mit dem Mantra: »Du bist an allem schuld«, das ein grundlegend existentialistisches Theorem abwandelt,8 rührte Eich an die empfindliche Schuldfrage der Überlebenden in der Nachkriegszeit. Bachmann gestaltete den literarischen Traum zuerst in einer Prosaskizze, bevor sie ihn 1952 im Hörspiel EIN GESCHÄFT

7

Selbstverständlich gab es, so wie es immer schon menschliche Träume gab, den literarischen Traum auch viel früher, man denke nur an die bekannten Verwendungen des Motivs in der Goethe-Zeit (Goethes Heilschlaf, Klärchens Traum in EGMONT, usw.), der Romantik (Eichendorff) oder der Jahrhundertwende um 1900 (Schnitzler: TRAUMNOVELLE,

8

FRÄULEIN ELSE).

Der Satz über die Schuld des Individuums an allem findet sich sinngemäß bei Jean-Paul Sartre wieder, der aus der Verantwortlichkeit des Menschen für sich selber seine Verantwortlichkeit für die gesamte Menschheit schloss, und als ein Kernsatz machte er in den 1950er Jahren bei existentialistisch empfänglichen Lesern weltweit die Runde. Es ist ein existentialistisches Theorem von Rang, das Eich in den TRÄUMEN als das Coda seines Gedichts setzt.

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TRÄUMEN ausführte.9 Sowohl in ihrem Prosatext als auch in ihrem Hörspiel ist der Traum der männlichen Hauptperson mit der klaren Einsicht in deren eigene Lebensverhältnisse konnotiert. In Bachmanns Hörspiel ist der Traum auf drei Träume angewachsen, die jeweils die Arbeitswelt, den Krieg und die Liebe bearbeiten. Indem Höller sich auf Sigmund Freuds Charakteristik des Traumgedächtnisses beruft,10 folgert er selber über die Relevanz eines solchen Traumverständnisses für den Umgang mit literarischen Träumen: MIT

»Dieses von Freud theoretisch skizzierte Verstehensmodell ermöglicht, literarisch bewußt gehandhabt, eine intensivierende Darstellung der Mächte, denen sich das Ich ausgesetzt fühlt. Für die Rezeption ermöglicht es eine Steigerung der Wahrnehmungsleistung, weil in den einzelnen sprachlichen Zeichen der lebensgeschichtliche und historische Sinn mitgedacht werden muß, zumal es zum Erfahrungsmodus, wie ihn die Traumsprache inszeniert, gehört, Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte zu verschränken, die innersten Bezirke des Ich mit seinen Ängsten und Träumen zu verstehbaren Symbolen zu verdichten.« (Höller 1987: 86)

So gesehen ergibt der Traum die Schnittstelle von innerer und äußerer Geschichte, und sie ist bei Ingeborg Bachmann der neuralgische Punkt.11 Bachmann selber hob die Wichtigkeit des Inneren des Menschen als des eigentlichen Ortes vor, prägnant zeigt sich dies in der Vorrede zum unvollendet gebliebenen Roman DER FALL FRANZA:

9

Höllers These, Eichs Hörspiel TRÄUME habe Bachmann zu dem Traum-Stück angeregt bzw. sie habe sich an seinen Einfall angelehnt, muss nicht unbedingt zutreffen, da Höller nur Bachmanns Hörspiel EIN GESCHÄFT MIT TRÄUMEN, nicht jedoch ihren gleichnamigen Prosatext berücksichtigt, den sie aber aller Wahrscheinlichkeit nach früher verfasste. Ferner übersieht Höller jene inspiratorische Anleihe, die Bachmann in Balzacs LA PEAU DE CHAGRIN

(1831) findet. Fast möchte man spekulieren, ob die Einflussrichtung gar

umgekehrt verlaufen sein könnte. 10 Demzufolge sei es »weit umfassender als das Gedächtnis im Wachzustand« (Höller 1987: 86). Denn der Traum bringe »Erinnerungen, die der Träumer vergessen hat« und »die ihm im Wachen unzugänglich waren« (ebd.) herauf und mache »einen uneingeschränkten Gebrauch von sprachlichen Symbolen« (ebd.). 11 So betont Höller: »Die Traumerfahrung als literarischer Darstellungsmodus ist, vom Gesamtwerk Ingeborg Bachmanns her gelesen, ein früher Entwurf dessen, was sie später theoretisch als ›Geschichte im Ich‹ und rückhaltlose Radikalität des Sich-Aussetzens verstanden hat.« (Ebd.: 85)

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»Die Schauplätze sind Wien, das Dorf Galicien und Kärnten, die Wüste, die arabische, lybische, die sudanesische. Die wirklichen Schauplätze, die inwendigen, von den äußeren mühsam überdeckt, finden woanders statt. Einmal in dem Denken, das zum Verbrechen führt, und einmal in dem, das zum Sterben führt. Denn es ist das Innen, in dem alle Dramen stattfinden, kraft der Dimension, die wir oder imaginierte Personen diesem Leidenmachen und Erleiden verschaffen können.« (Bachmann 1978, Bd. 3: 342)

In der Haltung ganz übereinstimmend lokalisiert Eich den geschichtsträchtigen Ort im Inneren des in seinen TRÄUMEN mit ›du‹ angesprochenen Menschen, dessen Gesinnung demnach als ursächlich mitauslösend gedacht werden muss; heißt es doch präzisierend – und ebenfalls mit Bezugnahme auf eine Karte – in einem weiteren Gedichtvers: »Denke daran: / Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini, / aber in deinem Herzen.« (Eich 1974: 27) Die Qualität der schließlich am Laubenweg geträumten Träume kommentieren Jørgen Monrad und Judyta Preis am Ende einer Textpassage ihres Artikels, der von ihrem Besuch in Klagenfurt handelt, den sie bewusst auf Ingeborg Bachmanns Spur unternommen hatten. Sie gebrauchen förmlich die DREI WEGE ZUM SEE als eine begehbare Erzählung bzw. eine Karte, anhand deren sie durch Klagenfurt und Umgebung spazieren, ein Vorhaben, dem die akribische Einleitung mit der Kreuzberglwanderkarte willkommen gewesen sein muss. Allerdings stellen Monrad und Preis Folgendes fest: »Die einsamen Pfadwege durch unbebautes Gelände gegen das Große Strandbad und das kleinere Bad Maria Loretto am Wörthersee, über die sie einige Jahre später in der halbwegs selbstbiographischen Novelle ›Drei Wege zum See‹ schrieb, erwiesen sich jedoch, als wir später am Tag in westlicher Richtung aus der Stadt wanderten, zwischen später errichteten Wohnblocks und Tankstellen verschwunden zu sein. In der Novelle wird der zwei-drei Tage lange Besuch einer ungefähr 40-jährigen, international berühmten Fotografin bei ihrem alternden Vater irgendwo in der österreichischen Provinz geschildert. Das Haus des Vaters, der Stadtviertel darum sowie die drei Wege zum See bilden zugleich einen Zufluchtsort und einen Ort voller böser Träume: nicht nur solcher, die aus der Kindheit herrühren, sondern auch der Alpdrücke der schmerzlichen österreichisch-slowenischen Geschichte.« (Monrad/ Preis 2012: 117)12

12 Zu berichtigen sind allerdings die hier gemachten Angaben zum Alter der Hauptperson sowie zur Dauer ihres Aufenthaltes in der Stadt, die ohne jeden Zweifel Klagenfurt ist. – Die Zitate aus diesem Aufsatz sind von mir aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzt.

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Die Beobachtung über die am Laubenweg geträumten zwiespältigen Träume trifft den Kern gut, da die Kleinstadt in Bachmanns Erzählung für zweierlei Werte steht: Grundsätzlich hängt das mit ihrer Zwitterstellung zwischen Land und Großstadt zusammen.

Z WISCHEN D ORF

UND

M ETROPOLE

»Hier auf dem Land« müsse Elisabeth bei der frischen Luft gut genährt und aufgepolstert werden, meint ihr Pariser Freund Philippe; »sie solle endlich zunehmen, er finde es beängstigend, wie sie in der letzten Zeit abgemagert sei, aber dort, auf dem Land, da werde sie sicher gut gefüttert« (451). Doch Kärntens Landeshauptstadt ist kein ländlicher Ort: »Hier, ›auf dem Land‹, wie Philippe meinte, aßen sie und ihr Vater aber nur ein wenig Aufschnitt und etwas Salat und Früchte, tranken Milch oder saure Milch, aber natürlich keine, die von einer Kuh kam, sondern aus der Landesmolkerei. Ländlich war hier nichts, es war der Stadtrand einer Provinzstadt, die zugleich eine Hauptstadt war, angeschlossen sogar an das internationale Eisenbahnnetz und Flugnetz mit je einem Zug und einem Flugzeug.« (Ebd.)

Damit kann der am Laubenweg lokalisierte Stadtrand von Klagenfurt sich andererseits aber auch nicht für die Kategorie Großstadt qualifizieren. Ungenügen an dem, was die junge Elisabeth als Klagenfurts Enge und Stillstand erlebte, wurde dadurch, dass es sie seinerzeit zuerst nach Wien trieb, dem darauf Paris, London, New York, Mailand, Venedig, Frankfurt am Main und viele andere folgten, für ihre professionelle Laufbahn entscheidend: »Als sie nach Wien gegangen war und zu arbeiten anfing, hatte sie aber schon das Fernfieber gehabt, eine lebhafte Ungeduld, Unruhe, und sie arbeitete nur so viel und auch gut, weil sie hinarbeitete auf ein Wunder, das Wunder, weit wegzukommen« (412). Dieselben Faktoren aber, von denen die junge Elisabeth damals wegwollte, erscheinen der nun mittelaltrigen als Qualitäten, zu denen sie gern nach Hause möchte. Es sieht danach aus, dass das Fernfieber und das Heimweh sich in einer dialektischen Dynamik zueinander verhalten. Die Kleinstadt ist dadurch charakterisiert, dass sie zur Einkehr und Entspannung sowohl Ruhe als auch Raum bietet, und auch Zeit scheint in der Kleinstadt reichlicher vorhanden. Demgegenüber vertritt die Großstadt Hektik, Betrieb und mit einem heutzutage nahezu omnipräsenten Wort, das im Text nicht vorkommt, weil es noch nicht vorkommen konnte: Stress. Ist Elisabeth nach Hause gereist, um den alten Vater zu besuchen, so hat sie es zugleich getan, um sich von den Strapazen der Londoner Hochzeit ihres Bruders und vor allem von den vielen Anforderungen ihres anspruchsvollen Berufes zu erholen: Hier schläft sie schnell ein, weil sie nach einer

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langen Zeit des sich krampfhaft Aufrechtgehaltenhabens endlich entspannen kann, und während des Tages geht sie die Wege, die sie »erst wieder gerne ging, seit alle Städte, die so ›super‹ waren, ihr diesen Wald anders erscheinen ließen, als den einzigen Flecken Welt, der still war, wo niemand sie hinjagte, um darüber etwas Brauchbares herauszufinden, und niemand hinter ihr herjagen konnte mit Telegrammen und Zumutungen aller Art.« (411)

Die Kleinstadt stellt die Möglichkeitsbedingungen für Eigenleben bereit, die Elisabeth – dem dienen kompositorisch die, wie oben festgestellt, vielen Rückgriffe – intensiv zur Reflexion über ihr Leben nutzt. Während der in Klagenfurt verbrachten Woche lässt sie ihr bisheriges Leben Revue passieren; und zwar derart, dass ihr Spazierunterfangen den Charakter eines eigentherapeutischen Projektes annimmt. Nach dem Erreichen des durch den See symbolisierten therapeutischen Ziels ist sie jedoch wieder unruhig, weil teils gelangweilt,13 teils durch die Arhythmie der Kleinstadt beunruhigt. Sie lässt sich durch die unvorhersagbaren Geräusche der Kleinstadt exemplifizieren, die vor der Lautkulisse der Stille wie aufschreckender Lärm, viel lärmender als Paris mit seinen nie aufhörenden vielen lauten dissonanten Geräuschen wirken: »Warum sie es so still hier fand im Laubenweg,« kann Herr Matrei nicht verstehen, »denn es gab rundherum manchmal mehr Lärm als in ihrer Pariser Wohnung, allerdings einen ganz anderen, ein Hund bellte, ein Auto fuhr um die Ecke und zehn Minuten später wieder eines, und diese unsteten Geräusche schreckten einen wirklich mehr auf als ein kompakter gleichmäßiger Lärm in einer Großstadt.« (458) Einen ferneren Grund zur Beunruhigung stellen die Natur und die physische Umgebung überhaupt, und auch in diesem Punkt behauptet sich die Zweiwertigkeit oder Doppeldeutigkeit der Kleinstadt. Ein Paradox resultiert daraus, dass die Natur am Klagenfurter Stadtrand ihr selbstverständlich einerseits vertraut ist, sie sich andererseits jedoch nicht unbedingt auskennt, so dass jene Karte über das Kreuzberglgebiet ein echtes Bedürfnis erfüllt: »Daheim war sie nicht in diesem Wald, sie mußte immer wieder neu anfangen, die Wanderkarten zu lesen« (411). Die Notwendigkeit, der autorisierten Karte Glauben zu schenken, ist umso größer, als sie nicht von allein den Weg zu finden vermag. Das tut der alteingessene Vater, traut er sich doch, auch mal von den ausgewiesenen Pfaden abzubiegen: »aber Herr Matrei,

13 Wobei hier auch an die Langeweile als eine existentialistische Grundbefindlichkeit erinnert sein mag, bildet sie doch eine der Befindlichkeiten, die für die existenzphilosophischen Denker von Kierkegaard über Heidegger bis Sartre und Camus eine Erfahrung des Seins bedeuten.

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der den Wald besser kannte als sie, verließ dann die nummerierten Wege, und sie kamen auf einem Umweg zurück, den sie nicht kannte« (410). Deswegen bedarf Elisabeth seiner Hilfe, um den Weg zum See zu finden. Dieser, der praktikable, ist nämlich ein anderer als diejenigen auf der so sehr auf Akribie und Glaubwürdigkeit angelegten Wanderkarte. Auch die Wege ändern sich: Bauarbeiten haben ohne Warnung den Weg Nr. 1, den Höhenweg über die Zillhöhe, in eine lebensbedrohliche Falle verwandelt, zumal die Abtragung eines Teils des Berges nicht ausgeschildert ist. Elisabeth, die den Weg über eine Wiese geht, entgeht knapp der Gefahr, weil sie um der Orientierung willen stehenbleibt.14 Im Anschluss daran berichtet sie ihrem Vater vom Bau einer Straße, bei dem jedoch niemand an ein Warnschild gedacht hätte: »Wirklich gefährlich sei es, wenn jemand ahnungslos vorbeilief und meinte, zum Abstieg zu kommen« (441). Ein Unterstrom des Bedrohlichen läuft somit durch die heimatliche Landschaft, aus der nunmehr ein Bauunternehmen einen »Abgrund« (440) gemacht hat. Wird die Vereinnahmung der oberhalb der Zillhöhe liegenden Wiesengegend noch durch Einheimische durchgeführt, so befinde sich, meint Herr Matrei, ganz Kärnten im Zustand der Besetzung, und zwar durch die Deutschen. Er bedauert, »daß Kärnten den Deutschen gehörte.« (466) »Die Bauern hätten«, so heißt es im Text weiter, »praktisch fast alle Grundstücke an sie verkauft, die neuen Besitzer spielten sich schon auf wie die Herren, nicht wie Gäste« (ebd.). Für den Gesinnungswandel der eigenen Landsleute hat er nicht viel übrig: »unsere Leute kuschen und glauben, es sei gut für unsere Devisen und den Fremdenverkehr. Das habe aber nichts mit Fremdenverkehr zu tun, sondern gleiche einer Okkupation« (ebd.). Versteckt unter solchen wirtschaftlich bedingten Änderungen sieht Elisabeth aber noch grundsätzlicher einen originären Wandel der heimischen Welt, der als ein phänomenologischer bezeichnet werden kann, zumal sie ihre Erfahrung dessen am geographischen Kernstück der Wanderwege festmacht. Denn in Betrachtung des Sees denkt sie: »Dieser See ist auch nicht mehr der See, der uns gehörte, sein Wasser schmeckt anders, es schwimmt sich anders darin. Er hat uns nur eine halbe Stunde im Regen gehört« (466f.). Der Wörthersee rückt durch die Feststellung, dass es sich jetzt anders darin schwimmt als früher, unter den gleichen Aspekt wie der Heraklitische Fluss, in den bekanntlich keiner zweimal steigt; und dass wie beim Vorsokraten die Ursache im Vergehen der Zeit zu suchen ist, verdeutlicht Elisabe-

14 »Im letzten Moment hielt sie inne, denn wenn sie, so in Gedanken, noch einen Schritt weitergegangen wäre, wäre sie abgestürzt, und sie sah vorsichtig, am äußersten Rand der Wiese, was da, wie ein Steilhang, den es früher nie gegeben hatte, vor ihr abbrach. Natürlich begriff sie sofort, dass nicht der Berg abgebrochen war, sondern abgetragen von Baggern. Die frische, feuchte Erde war noch zu sehen« (440).

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ths Reflexion durch den sprachlichen Wechsel der Tempusformen vom Präteritum ins Präsens und Perfekt.

D IE G ESCHICHTE

DES

O RTES

Eben diese Frage, was ihnen gehörte, öffnet eine tiefergehende Perspektive, die in die Geschichte der Gegend führt. Monrad und Preis umreißen in ihrem Aufsatz Ingeborg Bachmanns Verhältnis zum geographischen und historischen Ort ihrer Familie: »Im südlichen Kärnten, dem österreichisch-slowenischen Grenzgebiet, aus dem ihr Vater stammte, und wo die Familie die Ferien verbrachte, herrschte seit der Auflösung des österreich-ungarischen Kaiserreiches 1918 eine feindselige, nationalchauvinistische Stimmung zwischen Österreichern und Slowenen. Etliche österreichische Beamte, unter ihnen auch Matthias Bachmann, hatten sich im Laufe der 1920er in die österreichische Abteilung der NSDAP eintragen lassen, und als die deutschen Truppen am 12. März 1938 in Österreich einmarschierten, hießen sie sie mit Begeisterung willkommen.« (Monrad/Preis 2012: 116)

Gegen den ersten Satz dieses Zitates ist allerdings einzuwenden, dass Bachmann als kleines Mädchen im Rahmen einer friedlichen Koexistenz aufwuchs. Gerade das bis dahin feste Erlebnis von Frieden und Verträglichkeit ergibt die Folie der Geborgenheit, vor der die Aggression so unerwartet absticht, und erklärt den bodenlosen Schrecken, mit dem die tiefschneidende Zäsur des 5. Aprils 1938 einhergeht, als Adolf Hitler vom Balkon des Klagenfurter Hotels Sandwirt eine Rede hält.15 Der überwältigende Eindruck zügelloser Zerstörung schlägt mit einer Kraft und in einer Tiefe ein, die das (im Übrigen sicherlich hoch sensitive) zwölfjährige Mädchen nicht verkraften kann, weshalb die Bezeichnung »Trauma« als durchaus berechtigt erscheint.16 In einem 1971 gegebenen Interview erinnert sich Bachmann wie folgt:

15 Das Hotel Sandwirt findet tatsächlich in der Erzählung Erwähnung, und zwar dank seines Restaurants, in das Elisabeth ihren Vater nicht einladen kann, weil sie seit seiner Absage an Roberts Hochzeit weiß, dass er nie wieder ausgehen wird (441f.). 16 Höller zitiert Friedrich Heer, der »in dieser ersten traumatischen Erfahrung ein Grundmuster der Wahrnehmung und des Denkens der Dichterin für immer geprägt sieht: ›Denken hat für sie immer mit Schmerzerfahrung zu tun. Ist aus Schmerzerfahrung geboren‚ aus dem ersten Schrecken, aus der Todesangst, als die Hitler-Scharen in Klagenfurt marschieren‹.« (Höller 1987: 156)

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»Es hat einen bestimmten Moment gegeben, der hat meine Kindheit zertrümmert. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Entsetzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie ich ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt nie mehr hatte. Natürlich habe ich das alles nicht verstanden in dem Sinn, in dem es ein Erwachsener verstehen würde. Aber diese ungeheure Brutalität, die spürbar war, dieses Brüllen, Singen und Marschieren – das Aufkommen meiner ersten Todesangst.«17

Dieser Ort kann die Geschichte von einem Zusammenleben vieler Völker, ihrer Kulturen und Nationen erzählen, das in der Zerstörung, in Krieg und Ermordung endete, und so wie die Verfasserin ein lebenslängliches unterschwelliges Angstgefühl auf die einschneidende Erfahrung dessen zurückführt, so läuft auch in den DREI WEGEN ZUM SEE ein Unterstrom von Destruktion, Gewalt und Tod bis in die Gegenwart der Erzählerin. Einer ihrer Freunde ist bei Sorrent, unklar bleibt, ob wegen eines Unfalls, Selbstmords oder Mords, von einem Felsen gestürzt (467); Unwetterkatastrophen, Flugzeugabstürze, Hitzewelle in Italien mit Todesfällen (428), Fensterstürze, Zugunglücke, weinende Mütter und grauenvolle Slums (418) begleiten aus der Ferne und im Hintergrund die eigentliche Handlung: Wie ein untrüglich Bachmannsches Wasserzeichen zieht sich durch den Text die Spur der Destruktivität bis in die nebenbei erwähnten Nachrichten und Zeitungsnotizen, die dabei wie alle anderen Waren der Konsumgesellschaft verbraucht werden. Genau diese der Presse, dem journalistischen und fotographischen Metier innewohnende Tendenz, aus den Leiden der Menschen Sensation zu schlagen und daran zu verdienen, ist es, der Trottas kritische Haltung gilt, mit der er, wie es in einem Zitat heißt, Elisabeth »vergiftet« (416). Tatsächlich begründet die Erzählung mehrfach die Annahme eines zentralen geschichtlichen Traumas, das an der Schnittstelle der Donauländer haust. Darüber reflektiert Elisabeth bei einem Spaziergang: »sie nahm das Dreiländereck ins Aug, dort drüben hätte sie gerne gelebt, in einer Einöde an der Grenze, wo es noch Bauern und Jäger gab, und sie dachte unwillkürlich, daß sie auch so angefangen hätte: An meine Völker! Aber sie hätte sie nicht in den Tod geschickt und nicht diese Trennungen herbeigeführt, da sie doch gut miteinander gelebt hatten, immer natürlich in einem Mißverständnis, in Haß und Rebellion, aber man konnte ja von den Menschen wirklich nicht verlangen, daß sie sich von der Vernunft regieren ließen.« (444f.)

17 Zitiert nach Höller (1987: 155f.). Man möchte fragen, ob die Erwachsenen es in dem Sinn des Kindes haben verstehen können.

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Die besondere Art, wie man trotz der Konflikte doch »gut miteinander« gelebt hatte, und die hier durch das versteckte Zitat der Anfangszeile von Kaiser Franz Josephs Kriegsaufruf 1914 kontrastiert wird, beleuchtet Elisabeths Erinnerung an die unfreiwillig komische Erörterung durch Herrn Matrei, als er seine Erfahrungen mit dem Leben in Österreich-Ungarn zusammenfasste: »sie dachte belustigt an ihren Vater, der ganz ernsthaft erklärt hatte, es sei damals alles ganz und gar unvernünftig gewesen und sonderbar, und gerade das hätten alle verstanden, weil sie eben allesamt sonderbare Leute waren, und auch die Revolutionäre seien ganz erschrocken gewesen, wie es dann dieses verhaßte, aber mehr noch geliebte sinnlose Riesenreich nicht mehr gab.« (445)

Im Sonderbaren vereint war das eigenartige Staatskonstrukt der Doppelmonarchie seinen Bürgern einsehbar, so dass sein Untergang zu einem Verlust des Menschlichen parallel läuft. Als Nachlebende führt die Erzählerin die Verlusterfahrung fort, was beim Konkreten und auch wiederum im Topographischen ansetzt, denn auf den Spaziergängen beschreibt ihre Blickrichtung so etwas wie eine Sehnsuchtslinie. Ihr Blick schweift von der Zillhöhe aus in einer mit Gefühlen besetzten Richtung: »Sie schaute auf den See, der diesig unten lag, und über die Karawanken hinüber, wo geradewegs in der Verlängerung einmal Sipolje gewesen sein mußte, woher diese Trottas kamen und wo es noch welche geben mußte« (422). Aber in der Verlängerung liegt nicht nur ein örtliches Ziel, sondern der Ursprung eines ersehnten Menschen, wie am Tag darauf deutlich wird, als Elisabeth nochmals den gleichen Aussichtspunkt auf der Zillhöhe aufsucht: »sie setzte sich einen Moment, schaute kurz auf den See hinunter, aber dann zu den Karawanken und weit darüber hinaus, nach Krain, Slawonien, Kroatien, Bosnien, sie suchte wieder eine nicht existierende Welt, da ihr von Trotta nichts geblieben war, nur der Name und einige Sätze, seine Gedanken und ein Tonfall. […] nicht einmal sein Gesicht konnte sie sich mehr vorstellen, denn je besser sie ihn verstand, desto mehr verschwand von ihm, was wirklich gewesen war, und die Geistersätze kamen von dort unten, aus dem Süden: Verschaff dir nichts, behalt deinen Namen, nimm nicht mich, nimm dir niemand, es lohnt sich nicht.« (429)

Indem Elisabeth die Linie von den ehemaligen südöstlichen Kronländern auf den freiwillig aus dem Leben geschiedenen geliebten Trotta extrapoliert, versteht sie das Verschwundene, weswegen der Verstehensprozess in einem Schwund des Realen mündet, was mit Trottas stark resignativem Ethos korrespondiert, so wie er im Zitat durch die wiederholten Negationen – »nimm dir niemand«, da es sich »nicht« lohne – zum Ausdruck kommt. Deutlich erweist sich, wie die Geschichte des Ortes und Trottas Geschichte einander begleiten.

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Dabei ist auch der intertextuelle Verweischarakter klar zu erkennen. Es sind vor allem Joseph Roths zwei Romane über die letzten Jahrzehnte der Donaumonarchie und die Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg, RADETZKYMARSCH, 1932 erschienen, und DIE KAPUZINERGRUFT, 1938 erschienen, die Bachmann fortschreibt.18 Wo Roths Romanwerk aus einem Geist des Bedauerns und Vermissens vom Untergang Österreich-Ungarns erzählt, der als ein Verlust erlebten Sinns aufgefasst wird, so dass die Tendenz seiner beiden Romane sich als nationalkonservativ bezeichnen lässt, führt der Erzähler das fiktive Geschlecht von Trotta ein, um im Laufe dreier Generationen von den Bauern in Sipolje hin zum Wiener Ulanen die Entfremdung vom einstigen naturgewachsenen Lebenszusammenhang zu verkörpern. Dieser von Roth vertretenen thematischen Deutung und Aussage schließt Bachmann sich bei ihrem Fortschreiben weitgehend an. In die gleiche inhaltliche Richtung zieht ein weiteres intertextuelles Zitat aus der vorhergegangenen österreichischen Literatur, und zwar Bachmanns textliche Anleihe bei Hugo von Hofmannsthal, insbesondere bei seinem Lustspiel DER SCHWIERIGE (1921), das ebenfalls aus dem Kontext der Auflösung der Doppelmonarchie19 heraus Charaktere, allen voran die Titelgestalt Graf Hans Karl Bühl, vorführt, die mit einer hohen Sensibilität ausgestattet der nach Kriegsende einsetzenden Entwicklung hin zur technologisch gestützten und kapitalistisch rechnenden Konsumgesellschaft fremd gegenüberstehen. Während Bachmann aus dem Personal des SCHWIERIGEN lediglich zwei Nebenfiguren in die Gedankengänge herüberholt, die ihre Hauptperson beim Spazierengehen um den See ausführt20 und in denen sie Nebenfiguren bleiben, fallen die auf Roth zurückführenden Personen sehr viel schwerer ins Gewicht. So wie sie im RADETZKYMARSCH und in der KAPUZINERGRUFT die wichtigen Personen sind, so spielen sie auch in den DREI WEGEN ZUM SEE die tragenden Rollen. Es handelt sich vor allem um die folgenden: 1. Franz Joseph Eugen Trotta heißt am Ende der KAPUZINERGRUFT jener kleine Sohn, den der Vater nach Paris in die Obhut anderer schickt, da er nicht im Nachkriegs-Österreich aufwachsen soll, und von dem wir bei 18 Einen Wink gibt die Erzählung bereits auf der zweiten Seite, als Elisabeth gerade in Klagenfurt angekommen ist, das ihr zunächst verändert, kleiner scheint, »und danach erst, als […] sie einbogen in die Radetzkystraße, atmete sie auf, denn nun verhieß ihr schon alles die Nähe des Laubenwegs und des Hauses, in dem sie zuhause gewesen war« (395). 19 Mit poetischer Freiheit hat Bachmann verschiedene Personen aus Hofmannsthals Lustspiel DER SCHWIERIGE kombiniert, in dem Helene Altenwyl, ihr Vater sowie Antoinette Hechingen vorkommen. 20 »Altenwyl« fungiert in Hofmannsthals Lustspiel als ein sprechender Name, denn mittelhochdeutsch für »alte Weiler« lässt er Alteingesessenheit, Bodenständigkeit und Tradition konnotieren.

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Roth nicht mehr hören: Diese Lücke füllt Ingeborg Bachmann dadurch aus, dass sie jetzt sein Schicksal weitererzählt. Bei ihr ist Trotta Elisabeths große Liebe, jedoch als dauerhafter Lebenspartner wenig geeignet, weil resigniert und ernüchtert bis zum Lebensüberdruss. Da Franz Joseph Eugen infolge der auf Roth basierenden Genealogie ein Einzelkind ist, bedeutet der Selbstmord, den Bachmann ihn begehen lässt, das Erlöschen dieses Zweigs der Familie Trotta.21 2. Manes ist bei Roth ein slowenischer Fiaker und Maronibrater, während er in Bachmanns Erzählung Trotta als Elisabeths Liebhaber ablöst, wobei er sich im konventionellen patriarchalischen Gesellschaftssystem eingerichtet hat, so dass er Elisabeths weibliche Individualität, zumal ihre Intelligenz, nicht wahrhaben und nicht gutheißen kann. 3. Branco ist in Roths KAPUZINERGRUFT der Vetter des Ich-Erzählers Trotta, und zugleich sind die Zwillinge seiner Schwester und des Schwagers beide mit dem Namen Branco getauft;22 bei Bachmann heißt so Franz Josef Eugens Vetter, der im slowenischen Dorf Bauer geblieben ist, dort geheiratet und einen Sohn bekommen hat, wodurch er wiederum Entscheidungen und Eigenschaften verkörpert, die ihn von den drei Männern zum lebenstüchtigsten machen. 4. Elisabeth heißt in der KAPUZINERGRUFT die sich nach männlichem Vorbild emanzipierende Gattin des Leutnants Trotta, eine Figur, die als abwegig, weil unweiblich dargestellt wird. Bachmanns Elisabeth teilt mit dieser Namensschwester in puncto Profession und Leistung so sehr die Verinnerlichung männlicher Normen, dass die Gefahr einer Unterdrückung der eigenen weiblichen Identität besteht. Ein erheblicher Unterschied liegt freilich darin, dass Roths Elisabeth im Licht des Lächerlichen erscheint und ihre Beschreibung zur Karikatur tendiert, wogegen Bachmanns Protagonistin in ihrer persönlichen Konfliktlage ernst zu nehmen ist und durchaus überzeugt. Zusammenfassend gilt für die dem Rothschen Erzähluniversum entlehnten Figuren, dass sie, indem sie sich den DREI WEGEN ZUM SEE anverwandeln, Änderungen durchmachen, die in die folgenden Bachmannschen Ergebnisse resultieren: Franz Joseph Eugen Trotta teilt in der Erzählung mit seinem Vetter natürlich die Familiengeschichte, während Manes mit ihnen nicht mehr familiär, sondern nur

21 Bärbel Thau (1986: 60) schreibt dazu: »Mit Trottas Selbstmord in Wien […] vollendet Bachmann den Untergang der Familie, und signalisiert damit das definitive Ende einer Lebensform.« Es ist aber nicht ganz richtig, dass damit die Trottas aussterben, denn es bleibt ja u.a. die Linie des Vetters, die Thau übrigens selber als die lebenstüchtigere hervorhebt. 22 Die einschlägige Textstelle in der KAPUZINERGRUFT lautet wie folgt: »Die Schwester war glücklich verheiratet. Der Schwager war seltsamerweise nicht gefallen. Sie hatten zwei Kinder, zwei Buben: Zwillinge; und beide hießen sie, der Einfachheit halber: Branco« (Roth 1987: 166).

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topographisch-ursprünglich verbunden ist, dadurch dass er wie sie aus dem geographischen Gebiet des ländlichen Sloweniens stammt, in seinem Fall aus der Kleinstadt Zlotogrod. Elisabeth unterhält als Frau mit allen drei Männern eine Art Beziehung, was ihrer Figur eine sammelnde Funktion als Bindeglied verleiht. Ausdrücklich kausal begründend heißt es, dass Trotta »seiner Herkunft wegen« (415) seinen maßgeblichen Einfluss auf Elisabeth ausübt, der darin besteht, dass er sie zur bewussten Reflexion über ihren Beruf und ihr Dasein bringt. Diese Reflexion wird als ein Gift symbolisiert; ist es doch Trotta, der »sie langsam vergiftete, sie zu zwingen anfing, über ihren Beruf nachzudenken« (416) – was wiederum dazu führt, dass sie für ihre Profession verloren zu sein scheint, und eine Verwandlung ihrer Persönlichkeit erzeugt.23 Mit einem erneuten Vorgriff, hier auf Elisabeths Ende, wird Trottas besonderes Verhältnis zum Untergang hervorgehoben, einem Untergang, der durch eben jenen Ausschluss aus der Heimat bedingt ist, wobei das Exil definitionsreif mit der »Fremden als Bestimmung« gleichgesetzt wird. Zudem scheint dieses Schicksal anzustecken, denn der exilierte Trotta, lesen wir, exiliert ja Elisabeth. In Franz Joseph Eugen Trotta hallt gewissermaßen die Untergangserfahrung der Vater- und Großvatergenerationen nach, die in der Erzählung durch Herrn Matrei vertreten sind. Sprachlich kommt dies durch einen direkten Vergleich zum Ausdruck, als Elisabeth durch Gespräche mit dem Vater erkennt, dass »Trotta aber doch ein Österreicher gewesen war, in der Verneinung, wie ihr Vater« (453). Trotta und Herr Matrei haben das persönliche, mit Schmerz behaftete Verhältnis zum Untergang der Habsburger Monarchie gemeinsam, die gleiche eigene Berührtheit durch das nationale Trauma, auch wenn nur Herr Matrei die leibhafte Erfahrung machen konnte, in der Vielvölker-Donaudynastie zu leben. Die bereits oben zitierte Textstelle, wo er sich an deren einsehbare Sonderbarkeit erinnern kann (445), ergänzt er mit einer Berichtigung darüber, »daß das Jahr 1938 kein Einschnitt gewesen war, sondern der Riß weit zurücklag, alles danach eine Konsequenz des älteren Risses war, daß seine Welt, die er doch kaum mehr recht gekannt hatte, 1914 endgültig vernichtet worden sei, er habe nie gewußt, wie er in diese Zeit geraten sei, ein Beamter, in Zeiten, in der [sic] es längst keine Beamten mehr gab« (453f.).

23 Auch diese Verwandlung hängt kausal mit ihm und seiner Herkunft zusammen, weil »er, ein wirklich Exilierter und Verlorener, sie, eine Abenteurerin, die sich weiß Gott was für ihr Leben von der Welt erhoffte, in eine Exilierte verwandelte, weil er sie, erst nach seinem Tod, langsam mit sich zog in den Untergang, sie den Wundern entfremdete und ihr [sic] die Fremde als Bestimmung erkennen ließ.« (415f.)

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Die durch den Ersten Weltkrieg angerichtete Zerstörung bildet demnach die ausschlaggebende Zäsur. Vor einer solchen Folie der tiefreichenden Erfahrung des Verlustes wird auch Trottas auf Anhieb rege Angst zu verstehen sein, Elisabeth zu verlieren: Der Hintergrund ist so gesehen eine durch Generationen erlittene Erfahrung, Grund und Boden, die Heimat zu verlieren, woraus geradezu logisch ein Gefühl entsteht, nirgends zu Hause zu sein, was der seinerseits in Sipolje verbliebene Vetter Branco schließlich wörtlich zum Ausdruck bringt, indem er seinen früh ins Ausland geschickten Verwandten wie folgt charakterisiert: »Franz Joseph war in Paris nicht zuhause und dann zuletzt in Wien auch nicht, denn er hat immer gerne paradoxe Dinge gesagt, am häufigsten, er sei exterritorial« (475). Das Epitheton des Exterritorialen mag unterstreichen, dass jenes Trotta bereits prädizierte Exil ihm keine Möglichkeit gewährt, Fuß zu fassen und etwa ein neues Territorium zu gewinnen. Dabei läuft das Topographische bemerkenswerterweise zum Sprachlichen parallel:24 Er spricht Französisch wie ein Franzose, auch Deutsch wie ein Muttersprachler und dazu zwei bis drei slawische Sprachen fließend, aber, wie es heißt, »daran lag ihm nichts« (453), empfindet er doch seine Beherrschung der vielen Fremdsprachen als symptomatisch für einen »Zustand von Auflösung« (ebd.), nämlich einer Auflösung, die denkbar weit in seine Persönlichkeit greift, wie man aus seiner Selbstaussage erkennt, in die die folgende Textpassage mündet: »Ich habe herausgefunden, daß ich nirgends mehr hingehöre, mich nirgends hinsehne, aber einmal habe ich gedacht, ich hätte ein Herz und ich gehöre nach Österreich. Doch es hört alles einmal auf, es kommt einem das Herz und ein Geist abhanden, und es verblutet nur etwas in mir, ich weiß aber nicht, was es ist.« (Ebd.)

Es verblutet etwas in Trotta, so wie Elisabeth am Schluss der Erzählung sich traumwachend verbluten fühlt: Liegt hier wieder ein Vorgriff vor, so symbolisiert dieser, dass die beiden Protagonisten sich jene Lebensbedingung teilen, nirgends zu Hause zu sein, und dabei sich in ihrer Ortlosigkeit verausgaben. Die erworbene Internationalität zeigt ihre Kehrseite als eine moderne Form der Heimatlosigkeit, denn es gelingt ihm wie auch ihr nicht, sich anderswo in der Welt eine neue Heimat zu gründen.

24 So dass es naheläge, diesen Aspekt der Bachmannschen Erzählung als einen Umkehrschluss von Martin Heideggers Leitsatz zu verstehen, die Sprache sei das Haus des Seins: Demnach muss gelten, dass ein unbehaustes Sein keine Sprache hat. Heidegger hielt seinen Satz z.B. im BRIEF ÜBER DEN »HUMANISMUS« und öfters fest.

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Ganz im Gegenteil: Auch die anfangs so faszinierenden Großstädte verlieren für Elisabeth ihre Anziehungskraft und spalten sich in eine frühere und eine jetzige Fassung. Dies zeigt sich etwa am Beispiel Londons: »Sie wußte nicht, wohin ihr früheres London verschwunden war, alles, was ihr einmal gefallen hatte. Es verstörte sie die Karikatur der Großstadt in der Großstadt« (407). Die anstrengende Berufspflicht zum Reisen verdirbt ihr ferner die venezianischen Sehenswürdigkeiten: »ich hasse Reisen, weil ich immer reisen muß, für mich ist Venedig nicht das Venedig der anderen« (451). Und die Begeisterung ihrer neuen Schwägerin für das angeblich so tolle Paris muss Elisabeth schließlich stillschweigend im eigenen Namen berichtigen: »ihr eigenes Paris war weit entfernt davon, ›super‹ zu sein, aber sie war auch einmal das erste Mal in Paris gewesen, und obwohl sie es so nicht bezeichnet hätte, mußte sie unwillkürlich denken, daß vor fünfundzwanzig Jahren auch Paris herrlich gewesen war, als es noch keine Macht hatte, ihre verschiedenen Leben und so viele Menschen zu verschütten.« (405)

Die so viel bereiste Welt ergibt, mit der Last erfahrener Brüche beladen, ein Feld, das allerorts das Schmerzempfinden der Protagonistin aktiviert: »Es gab überhaupt keine Orte mehr für Elisabeth, die ihr nicht wehtaten« (ebd.). Wie oben angeschnitten hängen die Orte und die Menschen zusammen, und wie die Orte sich teilen, so teilen sich in Bachmanns Erzählung auch die Menschen. Noch muss dem Leser eine beiläufige Bemerkung gar nicht auffallen, als Antoinette Altenwyl, eine jener Nebenfiguren, die ihrerseits eine intertextuelle Replik auf Hofmannsthal25 bilden, von Elisabeth Matrei erfahren wollte, »wie es auf den Parties in Hollywood zuging oder wie Liz Taylor wirklich war und aussah«, wo einzig Elisabeths Reaktion, die »etwas erstaunt darüber« war (446),26 aufmerken lassen mag. Dann in der Kleinstadt als der Sammelstelle, aus der die Familie

25 In Hofmannsthals Lustspiel DER SCHWIERIGE sind es zwei verschiedene Frauengestalten, Helene Altenwyl und Antoinette Hechingen. 26 Ihr Staunen begründet die Erzählung mit dem unterschiedlichen sozialen Status der Fragenden und der Schauspielerin Elizabeth Taylor: »denn Leute wie die Altenwyls würden natürlich nie und nimmer auch nur einen Fuß in diese Halbwelt setzen, mit Leuten verkehren, deren Privatleben in Illustrierten abgehandelt wurde, und wenn es auch Filmschauspielerinnen und Fotomodellen allerorten gelang, in die Aristokratie einzuheiraten, so konnten solche Frauen sich kaum vorstellen, daß ein Altenwyl lieber Straßen gekehrt hätte, als sich an der Seite eines Fotomodells zu zeigen« (446).

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stammt und wo einige Bekannte aus der Kindheit immer noch wohnen, trifft Elisabeth auf ihren Spaziergängen, wie bereits erwähnt, die 33-jährige Dr. Elisabeth Rapatz27, geborene Mihailovicz, die ein paar Tage später von ihrem Ehemann ermordet wird. Einige Wochen vor Elisabeth Matreis Reise nach Klagenfurt hatte ihr Bruder in London Liz geheiratet.28 Dies ist nicht der einzige Fall von Gleichheit zwischen den Personen, denn wie gezeigt gleichen sich Herr Matrei und Trotta, dieser und sein Vetter, und diesen beiden gleicht Manes in der Herkunft. Es ist auch nicht der einzige Fall von Namensgleichheit, denn nachdem Roth in der KAPUZINERGRUFT mit Branco dem Vetter und Branco dem Zwillingspaar den Anstoß gegeben hatte, finden sich unter Elisabeth Matreis zahlreichen Liebhabern sowohl Jean Paul der erste als auch Jean Paul der zweite, »Jean Pierre, der spätere« (448), nachdem sie »mit Roger und einem anderen Jean Pierre und Jean und Luc« ausgegangen war (438), und von allen, auch »von Jean Marie« (451), wird sie bei denselben Kosenamen genannt. Das heißt, dass der Name Jean häufig vorkommt, allerdings unter den Nebenpersonen, von denen wir sonst nichts hören. Keine andere der tragenden Personen begegnet dem Namen nach in so vielen Varianten wie die Hauptperson, in der zudem, wie oben herausgearbeitet, ein Echo auf Roths Elisabeth-Figur widerhallt. Dabei wird ein Zusammenhang zwischen der so benannten weiblichen Person und dem Liebesleben deutlich, der angesichts jener Vorgriffsstruktur, die die Erzählung als glaubhaft etabliert hat, tatsächlich ominös wirkt, und zwar insbesondere im Hinblick auf die jüngst gestiftete Ehe.

D AS G ESCHWISTERPAAR VOM L AUBENWEG Die zwischen Robert und Liz eingegangene Ehe scheint in der Tat unter besonderen Auspizien zu stehen, und diese haben mit Roberts innigem Band zu seiner großen Schwester zu tun. Herr Matrei resümiert Roberts Widerwillen gegen deren Ehe-

27 Die 33-jährige Frau Dr. ergäbe autobiographisch gedeutet eine Parallele zu Bachmann selber. 28 Deren Name bringt die Erzählerin auch zur expliziten Reflexion; dachte sie doch, dass es »etwas viel war, jetzt noch eine Elisabeth zu treffen, sie war schon verstört gewesen, als Liz auf dem Registry Office mit vollem Namen genannt wurde, Elizabeth Anne Catherine, mit einem Familiennamen dazu, den Elisabeth sofort wieder vergessen durfte, weil sie ihn vorher nicht gewußt hatte und er jetzt keine Rolle mehr spielte, für die neue Frau Matrei.« (424f.)

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schließung: »Ich weiß nur, daß Robert […] mir gesagt hat, er will nicht, daß du heiratest, der junge Herr Bruder wollte das nicht erlauben« (444). Andererseits musste die Schwester seine Wahl der kommenden Ehefrau gutheißen, worüber diese sich keine Illusionen macht, gesteht sie doch Elisabeth ein, dass sie »es genau weiß, daß Robert mich – daß alles, seine Entscheidung, doch von dir abhängig war« (404). Etwas verdächtig mag es ferner erscheinen, dass Elisabeth Matrei in Verbindung mit deren Eheschließung anscheinend unerklärlich an einem Anfall von Schwäche und Übelkeit erkrankte. Gleichzeitig damit, dass die klinisch unbegründete Übelkeit aus der existentialistischen Literatur der Zwischenkriegszeit, vor allem durch Jean-Paul Sartres LA NAUSÉE (1938), bekannt ist, wo sie die Empfindung der Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins symbolisiert und somit gewissermaßen die existentialistische Krankheit per se ist,29 scheint Bachmanns Hauptperson mit ihrem Schwächeanfall psychosomatisch auf die Hochzeit des Bruders zu reagieren. Bereits in der Kindheit empfand sie ihn als das schönste Kind überhaupt, und zwar so sehr, dass sie »niemals ein Kind haben würde […], es würde ja niemals so schön und einzigartig sein wie Robert« (443), und sie fragte ihre Mutter, »ob denn Robert überhaupt ihr Kind sei, er könnte nämlich genauso gut ihres, Elisabeths Kind, sein« (ebd.). Die darin liegende Implikation sieht die reflektierende erwachsene Elisabeth in jenem Aspekt, der die leibliche, inzwischen verstorbene Mutter betrifft: »praktisch kämpften wir ja um dieses Kind« (ebd.), und dass die Mutter die Implikation verstand, beweist ihre einmalig harte Reaktion darauf: »damals muß Mama einmal die Nerven verloren haben, weil sie mir zum ersten und letzten Mal eine Ohrfeige gegeben hat,« (ebd.). Viel später klingt dasselbe Motiv gegenüber dem Liebhaber Pierre an, der um zweiundzwanzig Jahre jünger als sie ist: »Sie hätte also auch seine Mutter sein können,« (398). Ein Ödipus-Komplex mit weiblichem Vorzeichen, d.h. ein Elektra-Komplex, scheint hier angebahnt, jedoch bedenkt die erwachsene Elisabeth nicht die in Richtung des Vaters weisende Implikation ihrer damaligen Gefühlslage. Allenfalls versucht sie mit ihm über ihre Anhänglichkeit an Robert und das zwischen den Geschwistern waltende, ans Übernatürliche grenzende Einvernehmen zu sprechen, das sogar den kleinen Jungen die unangekündigte Heimkehr der bereits damals öfters reisenden großen Schwester vorausahnen ließ, und auch an dieser Textstelle fungiert der Traum als der vermittelnde Bote unwägbarer Ahnungen. Die damals am Laubenweg sich abspielende nächtliche Szene lautet wie folgt: 29 Überhaupt nimmt bekanntlich die existentialistische Literatur anscheinende Grundlosigkeiten ernst und entschlüsselt tiefer liegende Faktoren, die sich darin Bahn brechen. Vgl. beispielsweise die große Bedeutung, die bei Kierkegaard, Heidegger und Sartre dem Nichts zukommt, oder die objektive Grundlosigkeit, die Kierkegaard zufolge der Angst zugrunde liegt, wie er es in BEGREBET ANGEST (DER BEGRIFF ANGST, 1844) darlegt.

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»Einmal bin ich nach Wien nach Hause gefahren, und nicht einmal ihr habt gewußt, daß ich komme, aber nachts fand Mama Robert verheult im Dunkeln auf der Stiege, und als er zu heulen aufhörte und sie ihn ins Bett zurückgebracht hatte, sagte er zu Mama, ich weiß es doch, ich weiß, sie kommt, mir hat geträumt, daß sie kommt, und mit ›sie‹ war natürlich ich gemeint.« (443.)

Herr Matrei jedoch lehnt die Erwähnung solcher Fälle als Fantasiegespinnst ab, als Ausdruck eines fantasierenden Vermögens, für das er keine familiäre Veranlagung vorhanden wissen will: »ihr beide, Robert nämlich auch, ihr habt ja immer schon eine blühende Phantasie gehabt, von der Mutter und von mir habt ihr das bestimmt nicht.« (444) Insofern könnten jetzt Elisabeth und Robert, auch angesichts der bereits festgestellten metaphysischen Tendenz der Erzählung, als eine Art magisches Geschwisterpaar, wie etwa die vertauschten Königskinder im Märchen, anmuten, wenn nicht die Erinnerungen an Paris auch einen Besuch des damals 16-jährigen Bruders enthielten, der, nachdem er der großen Schwester über die Angebereien seiner Klassenkameraden in puncto Mädchen und das eigene Unterlegenheitsgefühl dabei erzählt hat, zärtlich wird: »An diesem Abend warf sie Robert aus ihrem Bett, der, etwas benebelt vom ersten Pernod seines Lebens, anfing, ihre Haare und ihr Gesicht zu streicheln, denn das mußte nun endgültig aufhören, oder es durfte vielmehr gar nicht erst beginnen.« (457)

Die erwachsene Elisabeth schillert bedenklich und symptomatisch in der Wortwahl ihrer Erinnerung, die einen Widerspruch eröffnet. Im logischen Widerstreit zwischen »musste endlich aufhören« und »durfte gar nicht anfangen« – leuchtet es doch ein, dass nicht aufhören und erst recht nicht ›endgültig‹ aufhören kann, was noch gar nicht angefangen hat – klafft genügend Raum, in den eine inzestuöse Andeutung sich einkeilen kann. Eine Ironie der Erzählung liegt in jener sich abzeichnenden chiastischen Konstellation, dass Elisabeth mit ihrem homosexuellen Ehemann Hugh wie mit einem Bruder umgeht, während sie für ihren leiblichen Bruder Gefühle wie für einen Gatten hegt. Aus der besonderen Beziehung zwischen Bruder und Schwester ist vor allem der Schluss zu ziehen, dass Bachmanns literarische Anleihen bei ihren Vorgängern unter den maßgeblichen österreichischen Schriftstellern sich nicht in einer Fortschreibung des großen dynastischtopographischen Themas erschöpfen, sondern dass sie offensichtlich in ihrer österreichischen Kleinstadt auch ein Geschwisterpaar angesiedelt hat, das es mit Robert Musils Ulrich und Agathe aufzunehmen vermag. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob Elisabeth eine zuverlässige Erzählerin ist. Immerhin lügt sie den Vater an, um ihre Abreise aus der Kleinstadt zu beschleuni-

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gen, und gegenüber Philippe, den sie zu diesem Zweck benutzt, ist sie nach der Heimkunft in Paris über die völlige Ermattung ihrer Gefühle für ihn nicht ehrlich.

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UND

O RIENTIERUNG

Die sprachliche Verteilung des Namens der Hauptperson auf drei weibliche Gestalten30 wie auch die weiteren Vorkommnisse von Figuren-Verdoppelung lehnen sich an die Idee der Persönlichkeitsspaltung an. Das geschieht aber fast unauffällig und keineswegs wie die Oktroyierung eines dem Text fremden Ideologems. Was die Erzählung im Unterschied etwa zu einer klinischen Studie der Schizophrenie vor allem leisten kann, ist durch den literarischen Fiktionscharakter selber ermöglicht, der uns die Innensicht in die Hauptperson gestattet sowie die Geschichte des kleinen Ortes vermittelt, aus der sie kommt und die in die Geschichte eines viel umfassenderen Raumes eingebettet ist, und zwar so, dass die Vielfalt der darüber zu erzählenden Geschichten – Bachmanns Bezug auf Hofmannsthal, Musil und Roth stellt an sich diese Vielfalt unter Beweis – eine entsprechende Variation der über die Menschen zu erzählenden plausibel macht. Vor dem räumlichen Hintergrund des Dreiländerecks und dem zeitlichen der Donaumonarchie stellt sich Mehrdeutigkeit ohnehin fast organisch ein. Was Elisabeth Matrei angeht, so ist sie mit hinreichenden Eigenschaften ausgestattet, um auf den Leser als eigenständige fiktive Gestalt zu wirken, und die in ihr aufzudeckenden Widersprüche zerstören nicht die Entität dieser Gestalt, sondern lassen sie nur um so menschlicher erscheinen. Allerdings führt die Präsenz der zwei anderen Elisabeth-Gestalten, zumal sie alle verschiedentlich jenen zentralen Lebensaspekt der Liebe fokussieren, mit dem die Protagonistin sich so schwer tut, zu einer Entschärfung der persönlichen Kontur. Das Ergebnis ist, dass der Prozess der Depersonalisierung als eine potentielle Perspektive, als eine Möglichkeit mitschwingt. Als Leser des 21. Jahrhunderts wäre man versucht, eine solche Personencharakteristik mit der Darstellung in modernen Filmen wie Christopher Nolan’s INCEPTION (2010) in Verbindung zu bringen, zumal das Thema Traum und Wirklichkeit, darunter nicht zuletzt der luzide Traum, auch in diesem zu einer Mehrschichtigkeit beiträgt, die den Ort mit umfasst. Bekanntlich haben es die DREI WEGE ZUM SEE tatsächlich in den modernen, nämlich durch Michael Haneke vertretenen Film geschafft. Nolan freilich hat die Verunsicherung darüber, wer die Person eigentlich ist, in seinen Filmen sehr viel weiter getrieben, doch scheint Bachmann

30 Wenn man den Hinweis auf Elisabeth Taylor zählen lässt, wären es gar vier.

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früh solche Desorientierungstechniken in ihren literarischen Texten vorweggenommen zu haben und damit in diesem Punkt – wie auch in einigen anderen Fällen – ihrer Zeit voraus gewesen zu sein.31 In DREI WEGE ZUM SEE geht es auch um die Methoden und die einflussnehmende Wirkung moderner Massenmedien. Auch für dieses inhaltliche Feld steht Elisabeth Matrei als Protagonistin, indem sie es erstens als professionelle Person verkörpert, denn die Journalistin und Fotografin hat ja gerade den Beruf in der Branche des Funks, Fernsehens, Films sowie der Zeitung und des Magazins zu ihrem Lebensinhalt gemacht, und zweitens indem sie in ihrem zivilen Dasein, wenn auch durch ihr professionelles Branchenwissen bedingt mit etwas stärkerer Skepsis, so doch grundsätzlich wie jeder andere Mensch auch der Beeinflussung durch moderne Medien unterliegt. Dieser zweite Aspekt macht sich nicht zuletzt in der einheimischen Kleinstadt geltend, wo Matrei bei ihrer Rückkehr nach längerer Abwesenheit zunächst auf die Berichterstattung durch die Ortszeitung angewiesen ist, deren Bild des Klagenfurter Alltagslebens sie aber so befremdet, dass sie über mögliche alternative Fassungen mit größerem Wahrheitsgehalt zu spekulieren beginnt. Ins Gewicht fällt hier schließlich das Topographische, jenes Topographische, auf das die Präambel der Erzählung sich so auffällig berief, indem sie es zum Ausgangspunkt nahm. Denn es werden ja nicht nur die Personen, sondern auch die Orte verdoppelt und die Wege dermaßen geändert und verbaut, dass die Orientierung einem – dem Leser wird es in der Hinsicht ähnlich ergehen wie den fiktiven Personen – ganz konkret erschwert ist. Die Änderung des Ortes trifft sowohl für die Kleinstadt als auch die Großstadt zu, hängt sie doch nicht zuletzt mit dem Vergehen der Zeit, weil mit dem durch die Erfahrung geänderten Erlebnis zusammen. Aber anders als die Feststellung, dass man als junger Mensch für Paris begeisterter war als später mit 50 Jahren, rührt das Unübersichtlichwerden der Kindheitswege an das Heimatgefühl, indem es dieses relativiert. Mit ihren Menschen, Häusern und Treffpunkten bildet die Kleinstadt in dieser Erzählung ein Klagenfurter Kaleidoskop. Weil die Kleinstadt damit wie ein topographisches Pendant zum Musilschen Möglichkeitssinn anmutet, mag die Erzählung rückwärts gelesen jenen im unauffäl-

31 UNDINE GEHT wird als das erste feministische Zeugnis in der deutschsprachigen Literatur hervorgehoben; EIN GESCHÄFT MIT TRÄUMEN beschreibt sowohl in der Prosa- als auch der Hörspielfassung die moderne Arbeitswelt aus einer kritischen Sicht, die viele heutige Fragestellungen vorwegnimmt und Problembereiche des Kapitalismus anvisiert; der Einfluss und die Wirkungsweise moderner Massenmedien wurden bereits weiter oben erwähnt; und schließlich beleuchtet der im Jahr 2017 erschienene Band MALE OSCURO Bachmanns aus eigener Erfahrung gewonnenen kritischen Blick auf die moderne Psychiatrie und ihren Einsatz von Psychopharmaka.

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ligen Idiom der Präambel versteckten Hinweis erhellen: Im Wissen um die Mehrdeutigkeit des Ortes hat der Autor eine bemerkenswerte Wahl getroffen, der Klagenfurter Wanderkarte über das Kreuzberglgebiet Glauben zu schenken, und die Erzählerin hat uns vorgeführt, dass sie es nötig hatte. Wie die Erzählung gezeigt hat, ist die Glaubwürdigkeit der Darstellung keineswegs selbstverständlich. Man hat DREI WEGE ZUM SEE als eine mehr oder weniger autobiographische Erzählung interpretiert,32 und in der Tat enthält sie viele Elemente, die aus dem Leben der Verfasserin wiedererkennbar und dementsprechend bekannt sind: Wie die Nebenperson Elisabeth Rapatz, geborene Mihailovics, war Ingeborg Bachmann selber mit 33 Jahren Frau Dr.; wie die Hauptperson war sie in der Medienwelt beruflich tätig, wo sie für den Funksender Rot-Weiß-Rot journalistisch und redaktionell arbeitete, für diesen und andere Sender Hörspiele verfasste, für Zeitungen und Magazine schrieb, während sie ebenfalls wie die Matrei der Erzählung zwischen den Großstädten, darunter Wien, London, Paris und Rom, hin- und herreiste; schließlich auch, man denke etwa an das Spiegel-Cover vom August 1954, Teil gekonnter medialer Inszenierungen wurde. Auch das schwierige Verhältnis, das die Matreifigur zu den Männern unterhält, lässt sich mutatis mutandis in Bachmanns realem Leben wiedererkennen. Doch nicht zuletzt der Ort, diese Kleinstadt, ist es, der dem Leser eine autobiographisch ausdeutende Interpretation zum Straucheln nahe legt. Erinnerungen aus Klagenfurt, dem Ort ihrer Kindheit und Jugend, hat sie bekanntlich durchaus mit dem eigenen Namen signiert. Oben wurde bereits ein Zitat aus einem ihrer Interviews angeführt, und viele andere Beispiele finden sich in den offenkundig autobiographischen Gattungen des Tagebuchs, des Briefs und der Rede. Die im Erzählband DAS DREISSIGSTE JAHR (1961) enthaltene Erzählung JUGEND IN EINER ÖSTERREICHISCHEN STADT kombiniert die Erzählperspektive bei der dritten Person Plural als den »Kindern« mit der ersten Person Singular, welches Ich mit Bachmann selbst zu verknüpfen der Leser umso geneigter sein wird, als der mit »K.« ausgewiesene Ort der auf die Zeit vor bis nach dem Krieg zu datierenden Ereignisse sich unschwer als Klagenfurt entschlüsseln lässt. Tatsächlich kann man, zumal wenn man die DREI WEGE ZUM SEE zuerst gelesen hat, den Kreuzberg, die Gassen sowie den Heiligen-Geist-Platz und andere Treffpunkte in K. wiedererkennen. Dadurch, dass Ingeborg Bachmann in den einschlägigen Texten im eigenen Namen spricht und schreibt, geht sie mit ihren Lesern einen autobiographischen Pakt ein, der die Lesehaltung prägt. Es scheint ein beachtenswerter Unterschied zu sein, dass sie dies in den DREI WEGEN ZUM SEE nicht getan hat. Die genannten Elemente, die Gegebenheiten ihres eigenen Lebens ähnlich sehen, hat sie hier in 32 Beispielsweise Monrad und Preis, wenn sie im oben angeführten Zitat die Erzählung als eine »halvt om halvt«, halbwegs autobiographische charakterisieren.

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einen konsistenten fiktionsliterarischen Rahmen gefügt. Die intertextuellen Verweise auf österreichische Dichtervorgänger (um nicht zu sagen: -vorbilder) unterstützen formal gesehen den literarischen Kunstcharakter der Erzählung auch dadurch, dass sie – dies gilt insbesondere für die Anleihe bei Roth, weil Bachmann aus seinem Franz Joseph Eugen Trotta einen Widersacher macht, dessen Standpunkt auf den Leser überzeugend wirkt – inhaltlich gesehen die Haltung der Protagonistin Matrei korrigieren, was deren Funktion als eine fiktive Gestalt neben anderen bestätigt. Ein weiteres Argument dafür, dass die Gattungsbezeichnung Autobiographie doch besser den erwähnten anderen Texten vorenthalten bleibt, ergibt sich, wenn man die unterschiedliche Steuerung der Lesererwartung durch den autobiographischen versus den fiktionsliterarischen Pakt bedenkt: Wo der prüfende, untersuchende Leser generell dazu tendieren wird, beim ersteren nach einer Abweichung von, beim letzteren nach einer Übereinstimmung mit dem gelebten Leben des Autors zu fahnden, da behauptet sich im konkreten Fall der Erzählung DREI WEGE ZUM SEE die zweite Leserhaltung, von der die obige Analyse sich nicht ausnimmt. Übereinstimmungen mit bzw. Ähnlichkeiten zu Bachmanns eigenem Leben kann man tatsächlich finden, aber die literarische Gestaltung lädt nicht dazu ein, dass man sie mit der Feststellung von Abweichungen würde bezweifeln können, ganz im Gegenteil machen diese den Grundbestand der Fiktion aus.

A USBLICK Kleinstadt und Großstadt, Peripherie und Zentrum gehen auch sonst in Bachmanns Werk eine dialektische Verbindung miteinander ein. Im Hörspiel EIN GESCHÄFT MIT TRÄUMEN ist es Wien, in dem der kleine Angestellte Laurenz ruhelos und unterjocht arbeitet, während er von einem Haus im kleinen Ort in den Bergen träumt. Im Hörspiel DIE ZIKADEN leben die Personen auf einer Insel, wodurch sie vom größeren Gesellschaftsgeschehen abgeschottet sind. Am Anfang des Hörspiels DER GUTE GOTT VON MANHATTAN ist die weibliche Hauptperson Jennifer gerade erst vom Land her an der Grand Central Station angekommen, als sie Jan trifft, mit dem sie eine alles verschlingende Liebe erleben wird, für die sie, weil vorbehaltlos, anfälliger ist als er. Im Roman MALINA, dessen Handlung meistenteils in Wien spielt, hat die weibliche Hauptperson sich in der Straße, wo sie wohnt, wie in einer Kleinstadt oder vielleicht sogar in einem Kleinstaat angesiedelt, und man kann ihr Gefühl der Zugehörigkeit herauslesen, wenn sie von »meinem Ungargassenland« spricht. Die Kleinstadt bzw. der kleine Ort – wobei der letztere sich, wie das Beispiel MALINA zeigen mag, womöglich sogar mitten in der Großstadt einrichten ließe –

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stehen in den behandelten Texten für das Zuhause, das, wie sich erweist, schwer anderswo ersetzbar ist. An ihr hängt eine Fundierung der Existenz, die Qualitäten wie Reflexion, Stille und Zeitbewusstsein umfasst, Qualitäten, die in der Großstadt schwierigere Möglichkeitsbedingungen haben, weil dort Störungen, Unterbrechungen und fremdbestimmte Forderungen sehr viel frequenter sind. In den DREI WEGEN ZUM SEE hat es die Hauptperson von der Kleinstadt in die große Welt getrieben, wo sie andere Wege gefunden hat als die vorgeschriebenen. Weil sie sich von der Heimat entfernt hat, benötigt sie bei ihrer Rückkehr eine Wanderkarte, um sich gehend der Natur ihrer Herkunft vergewissern zu können. Wo Kant die Karte der Erkenntnis entwarf, um die Insel der Wahrheit vor der umgebenden See zu sichern, da liegt um den See in Bachmanns Erzählung das Land der Kindheit und Jugend, als welches Klagenfurt für die Protagonistin ihre Wirklichkeitsprobe ist.

L ITERATUR Bachmann, Ingeborg (1964): Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Essays, München: Piper. Bachmann, Ingeborg (1978): Werke, Bd. I-IV, hrsg. von Christine Koschel/Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, München/Zürich: Piper. Bachmann, Ingeborg (1985): Tre veje til søen, Kopenhagen: April. Bachmann, Ingeborg (2017): Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit, herausgegeben von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni, Berlin/ München: Suhrkamp/Piper. Eich, Günter (1974): Träume, in: Hans Henrik Jacobsen (Hg.), Hörspiele I, Kopenhagen: Gyldendal, S. 16-67. Hofmannsthal, Hugo von (1979): Lustspiele (= Gesammelte Werke. Dramen IV), Frankfurt a.M.: Fischer. Höller, Hans (1987): Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus, Frankfurt a.M.: Athenäum. Kant, Immanuel (1976): Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Felix Meiner. Monrad, Jørgen/Preis, Judyta (2012): »Ingeborg Bachmann i Klagenfurt«, in: Standart 3-4, S. 116-117. Musil, Robert (1930): Der Mann ohne Eigenschaften, Berlin: Rowohlt. Roth, Joseph (1978): Radetzkymarsch, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Roth, Joseph (1987): Die Kapuzinergruft, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Schmitz-Burgard, Sylvia (2011): Gewaltiges Schreiben gegen Gewalt, Würzburg: Königshausen & Neumann.

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Thau, Bärbel (1986): Gesellschaftsbild und Utopie im Spätwerk Ingeborg Bachmanns. Untersuchungen zum ›Todesarten-Zyklus‹ und zu ›Simultan‹, Frankfurt a.M./Bern/New York: Peter Lang. Wolgast, Karin (2010): »Ein Visum für die Unendlichkeit. Die Zeit in Ingeborg Bachmanns Ein Geschäft mit Träumen«, in: Dietmar Goltschnigg (Hg.), Phänomen Zeit. Dimensionen und Strukturen in Kultur und Wissenschaft, Tübingen: Stauffenburg, S. 443-449.

F ILME Die Geträumten (2016) (Österreich, R: Ruth Beckermann) Drei Wege zum See (1976) (Österreich/BRD, R: Michael Haneke) Inception (2010) (USA, R: Christopher Nolan)

Coming-out in der Kleinstadt Ronald M. Schernikaus Kleinstadtnovelle S VEN G LAWION »kriecht nur heraus aus euren metropolen löchern, leute, und seht: der arsch der welt, er ist so nah!« RONALD M. SCHERNIKAU / KLEINSTADTNOVELLE, S. 68

V ON L EHRTE

NACH

B ERLIN

Wer den Namen der Stadt Lehrte in eine Suchmaschine gibt, findet Fotos von Schulen, vom Rathaus, von Klassenfahrten und der Freiwilligen Feuerwehr. Diese Bilder illustrieren das Profil einer typischen westdeutschen Kleinstadt, konkret einer Stadt in der Region Hannover, in der gegenwärtig rund 44.000 Menschen leben – in den siebziger Jahren waren es noch unter 40.000. 1 Lehrte wird dem Schriftsteller Ronald M. Schernikau auch vor Augen gestanden haben, als er an seiner 1980 veröffentlichten KLEINSTADTNOVELLE arbeitete, denn das war die Stadt, in der er aufwuchs. Trotzdem ist die Kleinstadt, die den Schauplatz der Novelle bildet, nicht mit der realen Stadt Lehrte gleichzusetzen, vielmehr wird das Bild einer namenlosen Musterstadt und damit eines kleinstädtischen Prototyps gezeichnet. Lehrte stand aber nicht am Anfang und sollte auch nicht das Zentrum von Schernikaus Leben bleiben. Er wurde 1960 in Magdeburg, also in der DDR, geboren, kam aber schon als Kind durch die illegale Ausreise seiner Mutter, Ellen Schernikau, in die Bundesrepublik. Diese hatte in der falschen Annahme, im Westen mit Schernikaus Vater als Familie leben zu können, die DDR verlassen,

1

www.lehrte.de/Rathaus/Zahlen-Daten-Fakten/Einwohnerzahlen-und-Gebietsflaeche.aspx (Zugriff: 09.11.2017).

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was sie schließlich stark bereute. Über Filme, Literatur und Musik nährte sie auch in ihrem Sohn die Sehnsucht nach der DDR. Nach der Schulzeit und dem Abitur in Lehrte zog dieser nach West-Berlin, später gelang es ihm, am Literaturinstitut in Leipzig studieren zu dürfen. Seiner Überzeugung treu, Emanzipation und Schriftstellerexistenz ließen sich am besten in der DDR verwirklichen, vollzog er 1989 die Rückeinbürgerung in die DDR. Das war sein Versuch, das zusammenzubringen, was ihm wichtig war und was er in einem Interview wie folgt zusammengefasst hatte: »Die drei wichtigsten Eigenschaften, die mich ausmachen, sind einmal Kommunist zu sein, dann das Schreiben und schließlich schwul zu sein. Diese drei Eigenschaften möchte ich möglichst gültig zusammenbringen.« (Frings/Kraushaar 1982: 172) Kaum richtig in der DDR angekommen, konnte Schernikau jedoch nur noch deren Untergang erleben. Bis zu seinem frühen Tod im Oktober 1991 lebte er in Hellersdorf und damit im östlichen Teil des sich wiedervereinigenden Berlins. Obwohl seinem literarischen Debüt noch einige literarische Texte und Essays folgten, blieb er als Schriftsteller besonders durch die KLEINSTADTNOVELLE im Gedächtnis. Aktuell treffen jedoch sowohl seine Biographie als auch weitere seiner Texte wieder auf größeres Interesse, was sich besonders durch die erfolgreiche Schernikau-Biographie von Matthias Frings (2009), durch eine Inszenierung des Deutschen Theaters in Berlin (DIE SCHÖNHEIT VON OST BERLIN, Uraufführung am 7.11.2014) und durch eine gut besuchte Tagung im Berliner Brecht-Haus (19.-20. März 2015) gezeigt hat.2 Eine Biographie im Aufbau-Verlag, das Deutsche Theater und das Brecht-Haus – das sind drei Beispiele aus Berlin, auch die KLEINSTADTNOVELLE erschien im Rotbuch-Verlag in Berlin. Schernikau selbst zog es nach Berlin, raus aus der Kleinstadt und hinein in ein großstädtisches Leben als Schwuler, Schriftsteller und Kommunist. Diese Bewegung lässt schon vermuten, dass es sich bei der KLEINSTADTNOVELLE nicht um einen Hymnus auf das kleinstädtische Leben handelt. Tatsächlich ist es eher ein Abgesang. Dass eine Abrechnung mit dem Kleinstädtischen ihren literarischen Ausdruck findet, ist zwar nicht neu, aber Schernikau zielt mit der Darstellung eines schwulen Coming-outs in einer Kleinstadt auf ein besonders Spannungsverhältnis: Ort und Zeit der Handlung werden nicht genannt, auch wenn z.B. am Bildungssystem mit seinen Oberstufenkursen (vgl. z.B. Schernikau 2013: 15, 19, 25)3 klar wird, dass es sich um eine westdeutsche Kleinstadt handelt und sich das Geschehen ungefähr dem Jahr 1978 zuordnen lässt – letzteres wird durch den Verweis auf den »neuen

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Zur Tagung erschien auch ein Sammelband (Peitsch/Thein 2017).

3

Im Folgenden als KN abgekürzt.

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chotjewitz« (KN 61)4 indirekt verdeutlicht (vgl. Peitsch 2017: 51). Der Gymnasiast b. verliebt sich in seinen Mitschüler leif. Auf einer Klassenfahrt nach Berlin und auch später haben beide Sex miteinander, doch leif will nicht schwul sein, beendet die Affäre und erzählt seinen Eltern davon. Diese fordern, dass b. der Schule verwiesen wird und setzen damit eine Welle von Spott, Ausgrenzung und Diffamierung in Bewegung. »alle kräfte der kleinstadt« (KN 50), also Presse, Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrerinnen und Lehrer, der Schulrektor, andere Eltern und selbst die Vorgesetzten der Mutter, »fühlen sich plötzlich als hüter einer ordnung, in der sexualität nicht vorkommt« (KN 50). Einer Klassenkonferenz folgt eine große Lehrerkonferenz und letztendlich erhält b. den Schulverweis, er verlässt die Kleinstadt, den »arsch der welt« (KN 68), und zieht nach Berlin, um dort ein neues Leben in der schwulen Subkultur zu beginnen. Ein Schwuler kann nur in der Großstadt leben – so ließe sich also das besagte Spannungsverhältnis von Coming-out und Kleinstadt auf den Punkt bringen. Dieser Punkt soll allerdings im Folgenden zu einem Fragezeichen werden. Dabei wird es darum gehen, wie dieses Spannungsverhältnis dargestellt und wie beide Pole problematisiert werden. Am Schluss steht die Frage, welchen Beitrag Schernikaus KLEINSTADTNOVELLE für eine Kleinstadtliteratur leistet.

C OMING - OUT

UND

S UCHE

NACH DEM I CH

Mit dem Umzug von der Kleinstadt nach Berlin bleibt b. literarisch nicht allein: Ein Wechsel von Ort und Lebensstil, verbunden mit einem Umzug in eine Großstadt, folgt, wie Volker Woltersdorff (1998: 79) herausgearbeitet hat, einem typischen Muster von (schwulen) Coming-out-Erzählungen. Diese entwerfen, zumindest in den 70er und 80er Jahren, besonders Westberlin »als utopische Insel oder verheißenes Land« (Woltersdorff 2005: 249), als Ort der vielen Möglichkeiten in einer großen Lesben- und Schwulenszene. Homosexuelles Leben vollzieht sich demnach in einem spezifischen räumlichen Koordinatensystem, auf einer queeren Landkarte, die sich zwischen zwei Polen entfaltet: »These are the metaphorical space of the closet, and the real (as well as symbolic) space of the gay and lesbian urban ghetto community.« (Taylor 1997: 3) Dem ersten Schritt, dem Coming-out und damit dem Herauskommen aus dem Schrank (closet) bzw. dem Verlassen einer alten heteronormativen (Un-)Ordnung, folgt mit der Integration in eine neue Gemeinschaft (community) der zweite Schritt.

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Die Zitierweise, auch der Namen, folgt der Kleinschreibung der KLEINSTADTNOVELLE.

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Was sich wie eine Erzählung von Emanzipation liest, nämlich zu sich selbst zu finden und seine Möglichkeiten auszuleben, ist jedoch nur scheinbar selbstbestimmt. Das Coming-out folgt »keinem ›inneren‹ Bedürfnis« (Woltersdorff 1998: 83), denn ihm geht die Verneinung, Bagatellisierung oder auch Ablehnung homosexuellen Begehrens voraus. Es sind Lesben, Schwule und Bisexuelle, die sich positionieren müssen, während Heterosexuelle ihre Sexualität nicht benennen oder diese sogar als ›normal‹ zur Regel erheben. Das Coming-out kommt auch nicht zu einem Abschluss, sondern unterliegt einer Wiederholungsschleife, denn bei jedem Wechsel von Ort, Arbeitsplatz und sozialem Kontext wird der Zwang des Outings erneuert und damit auch die Erfahrung, ›out‹ zu sein. Der politisch denkende Schernikau entwickelt deshalb b.s Coming-out auch nicht einfach als eine Krisenerfahrung mit positivem Ausgang. Er verwickelt Figuren und Leserschaft vielmehr in komplexe Ungleichzeitigkeiten von ›innen‹ und ›außen‹, wobei das innere Coming-out mit anderen Fragen belastet ist als die öffentliche Positionierung und gleichzeitig beides nicht voneinander zu trennen ist. Besonders deutlich wird das in dem Moment, als b. sein Schwulsein erstmalig zur Sprache bringt. Oberflächlich betrachtet verläuft das äußerst unspektakulär, in knapper Form von Frage und Antwort zwischen leif und b.: »bist du schwul? ja« (KN 29) Ebenso sparsam wird diese Stelle im folgenden Abschnitt des Textes wieder aufgegriffen: »denn natürlich ist b. schwul.« (KN 31)5 Der zweite Satz bestätigt das nur scheinbar unspektakuläre »Ja«, das in seiner tatsächlichen Vielschichtigkeit einen performativen Sprechakt bildet. Ohne einen äußeren Diskurs, der benennt, was ›schwul‹ ist, könnte b. nicht schwul sein. Darauf verweist Judith Butler: »Wo ein ›Ich‹ vorhanden ist, das sich äußert oder spricht und damit eine Wirkung im Diskurs erzielt, da ist zuerst ein Diskurs, der dem ›Ich‹ vorhergeht und es ermöglicht und in der Sprache die zwingende Stoßrichtung seines Willens bildet. […] Das ›Ich‹ entsteht vielmehr nur dadurch, indem es gerufen wird, benannt wird, angerufen wird« (Butler 1997: 310).

Deshalb kann beim Coming-out nicht zwischen innen und außen unterschieden werden: In einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wäre b. anders ›schwul‹ – oder etwas ganz anderes. Um das zu zeigen, wird b.s Schwulsein in der Konfrontation mit einem Außen entwickelt; dieses Außen ist das Wertesystem der Kleinstadt, das sein Coming-out unter erschwerten Bedingungen stattfinden lässt, denn »the question of ›who we are‹ shifts across to ›where we are‹« (Taylor 1997: 6).

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Die Ausgabe des Rotbuch Verlages beginnt jedes Kapitel mit einem Satz in Kapitälchen. Da dieses eine reine Formatierungskonvention darstellt, wird dem in der Zitierweise nicht gefolgt.

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Die KLEINSTADTNOVELLE demonstriert dabei den Prozess eines Abarbeitens an den Vorstellungen über das Schwulsein, mal ironisch, mal kämpferisch, mal ängstlich. Protagonist b. erlebt Sexualität und Geschlecht als Verunsicherung, was sich auf seine Träume auswirkt: »ich habe angst. bin weiblich, bin männlich, doppelt. fühle meinen körper sich von meinem körper entfernen, sehe meine weißen hände, die augen im spiegel, ich will nicht doppelt sein wer bin ich?« (KN 9)

Aber b. individualisiert diese Fragen nicht, sondern erkennt Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und dem eigenen Erleben und Handeln. Im Biologieunterricht sagt er über Schwule: »sie schminken sich, sie kleiden sich auffällig, sie werden zu tunten. und weiter, jetzt ganz dramatisch: wir alle haben sie dazu gemacht. die jungs verlangen gewohnheitsmäßig, daß sie bedient werden.« (KN 38) Er nimmt bewusst weiblich konnotiertes Verhalten an (vgl. KN 28), kleidet sich feminin (vgl. KN 13, 23, 32) und lebt seinen eigenen antipatriarchalen Widerstand: »ich will nicht stark sein, nicht sportlich, hab keine lust zum zuschlagen.« (KN 28) (vgl. Woltersdorff 2003: 93; Woltersdorff 2005: 228-229) Gleichzeitig versteht er, dass sein Anderssein nicht nur einem inneren Programm, sondern auch einem äußeren Zwang geschuldet ist. So weiß er z.B., dass er lügt, wenn er sich als »emanzipiert« (vgl. KN 23) bezeichnet, empfindet sich manchmal als »karikatur seiner selbst« (KN 34) und im Flirten muss er irritiert zu Kenntnis nehmen, dass auch heterosexuelle Jungen effeminiert sein können (vgl. KN 34). Seine Suche nach einer bzw. nach seiner schwulen Identität ist nicht frei von Zynismus und Traurigkeit, die sich in Sätzen wie »mir wird nichts geschenkt werden« (KN 38), »der durchschnittliche schwule hat ein gesicht wie eine sitzengelassene frau« (KN 33) oder in Fragen wie »wann wird b. aggressiv werden, wann eigenbrötlerisch?« (KN 41) ausdrücken.6 So ist Wolfgang Popp zuzustimmen, der schreibt, dass die KLEINSTADTNOVELLE »das Ringen um ein ›authentisches Ich‹ ist, das in der ›Tradition‹ des so unterschiedlichen Ringens um ein solches ›Ich‹ bei Christa Wolf und Hubert Fichte steht« (Popp 1992: 73).7 Diese Suche kann jedoch nicht zum Abschluss kommen, denn die vermeintliche Authentizität bleibt in den Grenzen des Diskurses, der sie hervorbringt. Deshalb bleibt b. ein abgekürzter Vorname.

6

Selbst dieser Traurigkeit wird immer wieder durch Humor ihre Schärfe genommen (vgl. Schütz 2015: 374; Schütz 2017: 128). Allerdings muss hier auch festgestellt werden, dass der für Schernikau typische Humor in späteren Texten stärker zutage tritt.

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Popp (1992: 72) weist dabei auch darauf hin, dass Christa Wolf und Hubert Fichte wichtige Vorbilder für Schernikau waren.

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Diese Suche nach dem Selbst wird durch das Bild des Spiegels verstärkt, das sich als Motiv durch die KLEINSTADTNOVELLE zieht (vgl. KN 9, 14, 33, 47, 56). b. betrachtet sich gerne und übt Posen ein, kann das Gefühl der Verdopplung dabei aber nicht überwinden und den Blick, den er sich von anderen wünscht, nicht aus sich selbst heraus schöpfen. Erst als er nach der Enttäuschung mit leif Abschied von erhöhten und auf Ganzheit zielenden Vorstellungen von Liebe nimmt, als er aufwacht, wie er es nennt (vgl. KN 59), erst dann hört er auf, sich so zu erkennen zu versuchen, wie er erkannt werden möchten. Stärker noch als das Spiegel-Motiv veranschaulicht aber Schernikaus Sprache diese stets scheiternde Suche nach einem Gesamtbild, nach einer Kohärenz zwischen innen und außen. Der Autor arbeitet hierfür mit einem ständigen Wechsel der Erzählperspektive, lässt b. mal als Ich erzählen, mal zur dritten Person werden und wechselt mal in den Bewusstseinsstrom. Ebenso erzählt er nicht streng linear, spielt mit kausalen Zusammenhängen, unterwandert Regeln der Zeichensetzung und irritiert zusätzlich den Lesefluss durch die konsequente Kleinschreibung. Damit kann er, so Karl-Ludwig Stenger, den »manipulative character of language« (Stenger 1981: 98) demonstrieren.8 Die Sprache macht, wie auch der Ort, die Subjekte: Das ist bis in die Form hinein Thema der KLEINSTADTNOVELLE. Mit dieser inhaltlichen und formalen Komplexität weist die KLEINSTADTNOVELLE weit über die zeitgenössische Betroffenheitsliteratur über das Schwulsein hinaus und hält dieses Niveau auch in der Darstellung der Kleinstadt. Schernikau beschränkt sich nicht auf das Klischee einer homophoben Kleinstadt, sondern entwirft ein der schwulen Thematik übergeordnetes Panorama kleinstädtischen Lebens – charakterisiert durch Grenzen, die für alle gelten. Dieser Perspektivwechsel mag ein Grund für den großen Erfolg des Buches gewesen sein, wie auch Tjark Kunstreich konstatiert: »Auch deswegen war KLEINSTADTNOVELLE eine Offenbarung; die Außenseiterposition ist ein Privileg, sie ermöglicht auch noch einen anderen Blick als den am Ausschluss leidenden.« (Kunstreich 2003: 107)

G RENZEN

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Bereits zu Beginn der KLEINSTADTNOVELLE veranschaulichen der »schulweg von fünf minuten« (KN 15) sowie die unmittelbare Nachbarschaft von Freundinnen wie leyla und lutfiye (vgl. KN 14) kleinstädtische Überschaubarkeit. Diese wird im fortlaufenden Text jedoch nicht positiv bewertet, sondern korrespondiert vielmehr mit

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Einen Blick auf Schernikaus Sprache, besonders in Hinblick auf LEGENDE, wirft auch Dietmar Dath (2017: 71-85).

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sozialer, intellektueller und politischer Beschränktheit. Da es sich dabei um b.s Bewertung handelt, drückt sich auch in dieser Darstellung das Spannungsverhältnis von innen und außen aus bzw. spiegelt sich in der begrenzten Außenwelt ein Innenleben, das nach Erweiterung und Emanzipation verlangt. So erscheint die kleinstädtische Schule als Ort eines zwanghaften Regelungs- und Ordnungswahns, was sich an den kuriosen Flugblättern des Schuldirektors (vgl. KN 17-18) oder der philiströsen Figur des Lateinlehrers zeigt. Letzterem schreibt b. eine Lebenseinstellung zu, die er mit den Worten »von recht gesetz und tradition lebt die nation« (KN 16) pointiert, was den Lehrer nur vermittelt charakterisiert, ex negativo aber das Freiheitsbedürfnis von b. unterstreicht. In ähnlicher Weise urteilt b. auch über Deutschlehrer, von denen es heißt, dass »sich keiner der germanisten, die ihn zu überwachen haben, apolitische maßstäbe zerstören lassen« (KN 20) wollen (wobei die Verwendung von »germanisten« statt ›Deutschlehrer‹ den Kontrast zwischen akademischer Weite und spießbürgerlicher Enge ironisch kontrastiert), und auch die politische Analyse des Erdkundelehrers, welcher der Klasse einen Satz wie »der sozialismus ist der größte beschiß der menschheit!« (KN 22) entgegenbrüllt, wirkt in fast absurder Weise oberflächlich. Während b. die Methoden im Literaturunterricht mit Humor erträgt (»andere besprechen ne gürtelrose, wir besprechen n gedicht«; KN 20), reagiert er auf die Aussagen des Erdkundelehrers übermäßig emotional (vgl. KN 22), was sich weniger textimmanent auswirkt, sich aber als politisches Statement an die Leserinnen und Leser der KLEINSTADTNOVELLE richtet. Neben der Schule scheint auch an anderen Orten der Kleinstadt ein fester Normenkatalog verbindlich zu sein. So stellt b. im Krankenhaus, in dem seine Mutter arbeitet, seine Schultasche so hin, dass ein Aufkleber mit einer Friedenstaube nach hinten zeigt (vgl. KN 45), und über die Hierarchien in der Kantine stellt er lakonisch fest: »ärztetisch ist ärztetisch«. (KN 45) Einzige Ausnahme in diesem raumwirksamen Netz von Regeln und Grenzen scheint die Kirche zu bilden. Zwar wird deutlich, dass b. selbst eher religionskritisch eingestellt ist (vgl. KN 35, 68), aber er sympathisiert mit dem kirchlichen Engagement seiner Freundin laura und freut sich über die erfolgreiche Jugendarbeit des Kleinstadtpastors, »die viel ist in einer gesellschaft, die alles fördert, nur kein soziales verhalten.« (KN 15f.) Die Kirche wird von b. also auf ihre soziale Funktion reduziert, was eher die Abwesenheit weiterer sozialer Räume in der Kleinstadt verdeutlicht. Die scheinbar beiläufige Erwähnung eines Suizids, der »blutspuren im gras« (KN 14) hinterlassen hat, verweist unheilvoll auf den eklatanten Mangel an Mitmenschlichkeit in der Kleinstadt. Vor dem Hintergrund dieser massiven Kritik an der Kleinstadt ließe sich allerdings diskutieren, ob diese Abrechnung aus der Perspektive eines vermeintlich Klügeren nicht auch einem adoleszenten »Grandiositätsgefühl« (Ewers 1992: 296) geschuldet ist. Ist die KLEINSTADTNOVELLE folglich (zumindest auch) ein typischer Adoleszenzroman mit einer ebenso typischen »Identitätskrise des Jugendlichen«

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(Lange 2011: 151)? Dazu passen auch manche pathetischen und altklugen politischen Kommentare,9 die »als Durchblick vermummte Weinerlichkeit« (Linck 1996: 229) ebenso wie die besonders betonte Ablösung von der Mutter (vgl. KN 77). Was die KLEINSTADTNOVELLE jedoch von einem typischen Adoleszenzroman unterscheidet, ist – neben der formalen Komplexität – die Verschiebung der Krise. Zwar lösen die Reaktionen auf b.s Schwulsein Krisen bei ihm aus, aber ebenso stark fallen die Krisen der Kleinstädter aus, die von b. ausgelöst werden. Es ist die Kleinstadt, die alle begrenzt, aber es sind die Erwachsenen, die, festgezurrt in einem Korsett des Mittelmaßes, diese Grenzen ängstlich schützen. Vor dem Hintergrund dieser Ignoranz wird auch b.s Arroganz erklärt: »b. hat durch die nichtachtung der welt gelernt, sich selbst zu überschätzen, ich als mittelpunkt der welt: ein typisch schwules aufsteigerbewußtsein.« (KN 47) Die Angst der Kleinstädter tritt am deutlichsten im Zusammenhang mit der zu einem absurden Tribunal auswuchernden Lehrerkonferenz auf, die dem Wunsch von leifs Eltern nach b.s Schulentlassung nachkommt und die an die Lehrerkonferenz im dritten Akt von Frank Wedekinds Drama FRÜHLINGS ERWACHEN erinnert. Auch hier hat der arme Schüler Melchior Gabor keine Chance, da das Urteil über ihn bereits gefallen ist, auch hier verkörpern die Lehrer antiquierte Moralvorstellungen und – das ist eine Parallele im Detail – auch hier wird die Entscheidung über das Schicksal des Schülers mit einer albernen Diskussion über ein zu öffnendes Fenster verzögert (vgl. Wedekind 2000: 354-358). In der KLEINSTADTNOVELLE entspricht letzteres einem Lehrer mit »seinen betrachtungen über baupläne und raumaufteilungen und schwarze bretter und nutzungsempfehlungen und bereichsleiter und idioten« (KN 67). Bereits vor der Konferenz spürt b. moralische Vorurteile, denn die Gespräche mit seiner Mutter verlaufen zwar »im entsprechenden mittelstandston, aber mit sichtlichem abscheu vor der sexuellen verwahrlosung der familie: die hat ja keinen mann!« (KN 51) Was sich ansonsten vor und in der Konferenz abspielt, illustriert sowohl ein pädagogisches wie auch ein intellektuelles Versagen. Ein pädagogisches Versagen, weil leif in die Diskussionen darüber, wie b. zu bestrafen sei, von den Lehrern einbezogen wird (vgl. KN 51), ein intellektuelles Versagen, weil die vermeintlichen Experten sich auf überholtes und populäres Wissen beziehen. Das wird besonders am Beispiel von b.s Biologielehrer vorgeführt:

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Axel Schock bezeichnet diese auch als »agitatorische Floskeln« (Schock 1997: 203) und verweist auf folgendes Beispiel: »nichts ist selbstzerstörerischer als die männerherrschaft, die verhältnisse belacht, die sie selbst produziert hat.« (KN 38) Zu nennen wäre z.B. auch: »da werden männer erzogen, die schwule ticken und frauen vergewaltigen, da wird systematische glücksvernichtung betrieben.« (KN 28)

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»er benutzt als grundlage nicht nur die gängigen populärunwissenschaftlichen druckerzeugnisse wie quick, bravo und readers digest, sondern stützt sich auch noch kräftig auf die eigene sozialisation, die denen nicht entgegensteht. zitat desmond morris, der menschenzoo: die fehlprägung fixiert das individuum auf etwas unnormales und lenkt das sexualverhalten von dem biologisch natürlichen ab, nämlich von einem vertreter des jeweils anderen geschlechts! ich behandle das, fügt der biologe noch wenige stunden vor der konferenz auge in auge mit b. hinzu: auch, um verständnis zu wecken für diese leute, die ja nichts dafür können, kann aber andererseits dafür auch keine propaganda machen, denn das gesellschaftliche interesse hat hier den vorrang: arterhaltung!« (KN 67f.)

In ihrem mehrfachen Versagen verkörpern die Erwachsenen in der Kleinstadt einen Stillstand. Die Bewegung, welche die kleinstädtische Ordnung durcheinanderbringt, ist letztendlich jedoch nicht b.s Coming-out, sondern sein Umgang damit. Er verletzt das wichtigste Gebot der Kleinstadt: »verschwiegenheit ist voraussetzung für die erwünschte normalität.« (KN 47) »denn b. tut alles, die elegante lösung zu vermeiden, die wäre auszahlen eines schmerzensgeldes, eine farce!, und wechseln der schule. mit der solidarität und dem einverständnis seiner mutter mobilisiert b. alle öffentlichkeit. […] und das, was der vater von b.s ehemaligem geliebten auf jeden fall verhindern will, nämlich: den öffentlichen skandal!, betreibt b. jetzt gezielt.« (KN 49f.)

Neben der Solidarität seiner Mutter erfährt b. Unterstützung von werner und rolf aus einer Männergruppe. Da diese mit dem Zug zur Konferenz anreisen (vgl. KN 61), liegt es nah, dass sie aus einer benachbarten Stadt kommen, sich außerhalb der kleinstädtischen Enge bewegen und damit auch ein moralisches Außen verkörpern. Außerdem vermutet b. noch die Solidarität seiner Lehrerin lenkel (vgl. KN 76). Der Tutor lirus, »noch schwach auf der liberalbehaarten brust« (KN 63), erweist sich hingegen als zu angepasst (vgl. KN 71-74). Weder klägliche Solidaritätsversuche noch echte Solidarität reichen letztendlich aus, um den Schulverweis zu verhindern. Zynisch konstatiert b: »arterhaltung: null punkte.« (KN 76) Auffällig ist, dass die Erwachsenen in ihren Bewertungen deutlich zwischen b. und leif unterscheiden. Bereits zu Beginn des vermeintlichen Skandals sieht leifs Mutter in b. einen Verführer (vgl. KN 49). Damit hält sie an dem Glauben fest, ihr Sohn sei eigentlich heterosexuell. Sie reproduziert gleichzeitig die paranoide Vorstellung, Homosexualität ließe sich durch Verführung verbreiten, was ihr wiederum hilft, ein Täter-Opfer-Schema zu konstruieren, das ihren Sohn entlastet. Die Interpretation, dass b. der eigentliche Schwule und leif sein Opfer sei, wird von den weiteren Akteuren übernommen: Demnach war leifs Beteiligung »ein verzeihlicher ausrutscher« (KN 51), wohingegen b.s Beteiligung mit dem Satz »verführungen

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geschehen eben immer wieder« (KN 51) kommentiert wird. Auf der Konferenz stellt man schließlich erleichtert fest, »daß der schüler leif garrett zurückgefunden hat zu normalem geschlechtsempfinden« (KN 73). In Bezug auf leif wird also davon ausgegangen, dass der schwule Sex lediglich eine Phase war, was b. zynisch als »normale pubertäre gemeinschaftsonanie« (KN 47) bezeichnet. Allerdings ist auch b. nicht frei von dieser Interpretation, geht von »den mädchen in leifs kopf« (KN 49) aus und unterscheidet zwischen sich selbst, dem Verliebten, und leif, für den der Sex reine Selbstbefriedigung gewesen sei (vgl. KN 51). Bei näherem Nachdenken kommen ihm daran allerdings Zweifel: »leif bewegt sich, leif bricht aus: ganz bißchen, ganz klein, und schon genug zu scheitern. was immer das ist: liebe; leif hats versucht, gibt nach, als b. ihn berührt. das zimmer in berlin nachm frühstück ist voll mit ihnen beiden, als sie einander umarmen. sie wissen nicht, was geschieht dort, beide sind sprachlos und verlassen und ganz nah. […] der wunsch: lieber! zu sagen. schatz. das gedrückte kissen, ein hübsches bild. wer ist leif? pech gehabt, zu spät gekommen, zu früh. ein paar zufälle lassen leif spüren, wie wenig ihn trennt von einer andren welt. als die maske bröckelt, bröckelt die welt, sie bewegt und verändert sich. wie nah ist mir leif? der sich entscheiden mußte wie ich. der kämpfte also immerhin, der es schwerer haben wird als b. vielleicht, weil dessen kampf beendet ist: kann leif glücklich sein?« (KN 58)

b., der immer weiß, dass er »in jedem fall sieger« (KN 55) in diesem öffentlich ausgetragenen Kampf sein wird, sieht plötzlich in leif das Opfer. Er erkennt, dass er selbst Klischees von ›Liebe‹ auf leif projiziert hat, der wirkliche leif aber gefangen ist in den Normen, die das Bild von Liebe zu einem solchen Klischee machen: »die illusion von gemeinsamkeit gibts noch immer nur als kinderhaben, familienausflug, auto, urlaubsfoto.« (KN 57) Ohne das Wort ›Heteronormativität‹ zu kennen oder zu verwenden, versteht b. plötzlich, dass die Normen, die Heterosexuelle scheinbar erfüllen, nicht nur eine stabile soziale Position ermöglichen, sondern auch eingrenzend wirken, dass es also auch Verlusterfahrungen mit sich bringt, wenn man als Heterosexueller »auf eine rigide Zweigeschlechtlichkeit bezogen und über die Abwesenheit homosexuellen Begehrens definiert« (Glawion 2012: 78) wird. Nicht zufällig spricht b. dabei von einer »andren welt« (KN 58), denn leif und er werden zukünftig einer anderen Ordnung von Zeit und Raum unterliegen. leif ist mit seiner Entscheidung gegen das Schwulsein am heteronormativen Ziel der ›Normalität‹ angekommen und hat damit seine Entwicklung zum ›richtigen‹ Mann abgeschlossen. Er wird den Horizont der Kleinstadt auch dann nicht verlassen, wenn er sie als konkreten Ort verlassen sollte. b. hat das Ziel verfehlt und wird nur in der Großstadt mit ihren Subkulturen und ihrer Anonymität leben können. Hier deuten sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts vielfach aufgegriffene Oppositionen an: Überschau-

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barkeit, Begrenztheit, Wahrung der Fassade versus Anonymität, Vielfalt und Versuchung, Kleinstadt versus Großstadt. Als b. das alles begreift, heißt es von ihm: »b. nimmt in diesem moment abschied.« (KN 69) Noch bevor sein Schicksal von der Lehrerkonferenz besiegelt wird, findet er seinen persönlichen Ausweg aus der Misere: Er wird nach Berlin fahren (vgl. KN 74) und damit (s)eine neue Welt betreten. Mit seinem Abschied scheint die Kleinstadt abzusterben. »die kleinstadt sehen und abschied nehmen. auf dem schotterplatz, über den b. geht, wird bald ein supermarkt stehen und eine tiefgarage, die kleinstadt wird endgültig zum trabanten der großstadt gemacht. noch steht das kleine atelier des fotografen, dessen sohn noch immer auf einem dieser sterilen farbfotos seine blöde geige spielt, und stolz ist da über die paar retuschiert grinsenden provinzschauspieler des schlicht schlechten theaters der großstadt. irgendwie stark, denkt b. doch. zwei omas, die ihm entgegenkommen, mustern ihn offen und schweigen. die verkrüppelten kinder der unter und mittelstufe bläken ihm hinterher, wenn er mittags das schulgelände verläßt, lachen ihm auch nachmittags im vorbeiradeln stumme beschimpfungen zu.« (KN 74)

Als Trabant wird die Kleinstadt nur noch auf Dienstleistung beschränkt und so kulturlos sein, dass auch weiterhin alle stolz auf schlechtes Theater sein werden, nur weil es aus der Großstadt kommt. Soziale Enge, die sich darin zeigt, dass der Fotograf in seiner Werbung auf die eigene Familie zurückgreifen muss, äußert sich schamlos im Begaffen und Beschimpfen von Menschen. Und »verkrüppelt« (KN 74) markiert hier keine behindertenfeindliche Entgleisung, sondern ein Wort für das Entsetzen über die inneren Deformationen, die Menschen erleiden, wenn sie ihre Umgebung nicht wachsen lässt. Dass das trotzdem »irgendwie stark« (KN 74) ist, zeigt, dass der Abschied für b. ein Prozess sein wird, mit dem Wissen, hier seinen Anfang genommen zu haben, und dem Willen, hier nicht bleiben zu wollen. Mit anderen Worten: b. schält sich wie eine Zwiebel – der Verweis auf Verena Stefans HÄUTUNGEN (vgl. KN 35) lässt sich diesbezüglich als eine Vorausdeutung lesen. An dieser Stelle bleibt aber noch zu fragen, warum diese Kleinstadt Gegenstand innerhalb der Gattung ›Novelle‹ wurde. Ist die Novelle vielleicht deshalb geeignet für Kleinstadtliteratur, weil die Normalität, das Mittelmaß und die Überschaubarkeit der Kleinstadt eine ›unerhörte Begebenheit‹ brauchen, damit die Autoren ein Minimum an Spannung erzeugen können? Einem ähnlichen Gedankenspiel wurde schon nachgegangen, indem gefragt wurde, was denn überhaupt die ›unerhörte Begebenheit‹ der KLEINSTADTNOVELLE sei. Überzeugend wurde dabei argumentiert, dass es aus der Logik des Textes heraus gerade nicht das Coming-out sein könnte, sondern vielmehr die Homophobie der Kleinstadt, manifestiert in der tribunalartigen Lehrerkonferenz (vgl. Kunstreich 2003: 106-108; Schachtsiek-Freitag

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1980: 9). Irritierend ist jedoch die Rede von einer vermeintlich klaren Form der Novelle, die Schernikau virtuos beherrscht habe (vgl. Frings 2009: 12; Linck 1996: 230; Ripplinger 2017: 28). Das ist wohl allzu unkritisch Schernikau nachgesprochen, der in einem Interview über die KLEINSTADTNOVELLE »diese klassische fünfteilige form, das klassische instrumentarium der novelle«10 in die Diskussion brachte. Hannelore Schlaffer, die die Novelle als »Gattung ohne Poetik« (Schlaffer 1993: 3) bezeichnet, konstatiert: »Das 19. Jahrhundert müht sich damit ab herauszufinden, was überhaupt eine Novelle sei. […] noch heute muß es dem Gefühl überlassen bleiben, ob man von Kleists Erzählungen oder von seinen Novellen spricht.« (Ebd.: 6) Vor dem Hintergrund, dass es also keine klare oder klassische Novellenstruktur gibt, schon gar keine fünfteilige, sieht Marlies Janz hier den Ironiker Schernikau am Werk, der in Interviews »schulmeisterliches Pseudo-Wissen« (Janz 2017: 224) parodiere. Auf der Grundlage von archivierten Dokumenten des Rotbuch-Verlages weist sie nach, dass Schernikau den Text zunächst mit sieben Teilen am Drama orientierte, dass sich die fünfteilige Form erst im Lektoratsprozess ergab und dass der Titel KLEINSTADTNOVELLE einem Vorschlag von Ingrid Karsunke folgte, den Schernikau aufnahm (vgl. ebd..: 220-224). Der Vorschlag Karsunkes erweist sich rückblickend als sehr treffend, beachtet man, wie in dieser Lesart dargestellt wurde, wie konstitutiv das Gegensatzpaar ›Kleinstadt versus Großstadt‹ für Schernikaus Text ist – und selbst eine ›unerhörte Begebenheit‹ lässt sich, der Leseanleitung des Titels folgend, konstatieren. Die Zuordnung der Kleinstadtthematik zur Gattung der Novelle bleibt trotzdem willkürlich. Als Legendenbildung ist folglich der Versuch zu bezeichnen, Schernikau als ein autonom schöpfendes Jung-Genie darzustellen – und das ist nicht die einzige Legendenbildung: So bezeichnet Laura Schütz das der KLEINSTADTNOVELLE vorangestellte Gedicht von Bertolt Brecht als Imitat, das Schernikaus »große Belesenheit und ästhetische Kompetenz« (Schütz 2015: 371) zeige. Brechts Gedicht LIEBESLIED AUS EINER SCHLECHTEN ZEIT, das bei Schernikau – hier ist Schütz zuzustimmen – »als poetologische Implikation für seinen eigenen Text« (ebd.: 371) dient, ist allerdings in vielen Ausgaben erschienen (vgl. z.B. Brecht 1993: 286), ein beliebtes Gedicht im Deutschunterricht und keineswegs ein Imitat. Diese Legendenbildungen scheinen nicht zuletzt ein Effekt von Schernikaus ironischem und auch eitlem Spiel mit autobiographischen Zügen zu sein (vgl. Glawion 2017: 105).11 Sie sind aber verzichtbar, wenn es darum geht, Schernikaus Bedeu-

10 http://www.schernikau.net/*/rms-revisited/ (Zugriff: 30.11.2017). 11 So schreibt z.B. Matthias Frings über den Protagonisten der Kleinstadtnovelle: »Und: b, der Held, unübersehbar Ronald, frühreif, sensibel, politisch, schwul.« (Frings 2009: 469)

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tung für die deutschsprachige Literatur herauszuarbeiten – und nicht zuletzt Schernikaus Bedeutung für eine Kleinstadtliteratur, wie es am Ende des folgenden Absatzes geschehen soll.

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Den für westdeutsche Coming-out-Erzählungen der 70er und 80er Jahre typische Umzug nach Berlin gehört für Tomas Vollhaber, auch mit Blick auf die KLEINSTADTNOVELLE, zu den »normativen Ansprüchen der Schwulenbewegung« (Vollhaber 1987: 149): »Am Ende steht Berlin, die Wohngemeinschaft mit Schwulen und das Bekenntnis: Das einzig Wichtige ist, daß wir es irgendwie schaffen, unserer Geschichte zu entrinnen.« (Ebd.: 149) J. Jack Halberstam spricht in diesem Zusammenhang von einem »metronormative narrative« (Halberstam 2005: 36f.), das queeres Leben auf großstädtisches Leben verengt. Kritisch lässt sich hier also fragen: Kann die Großstadt eine Alternative, vielleicht sogar das queere Gegenstück zur Kleinstadt sein? Oder erweist sich das Gegensatzpaar ›Kleinstadt versus Großstadt‹ letztendlich nicht doch nur als ein Emanzipation vortäuschendes Konstrukt? Nach Frank Browning produziere die Bewegung aus den Herkunftsorten in eine großstädtische Szene nur wieder ein neues »›inside‹ and ›outside‹ of sexual identity, replicating the Christian promise of the old and new testaments through which the sinner could achieve redemption by moving from the territory of the old faith to the territory of the new« (Browning 1996: 28).12 Jede Utopie eines ›neuen Landes‹ oder ›eigenes Raumes‹ führt folglich zu einer inneren Differenzierung, die neue Ausschlüsse und damit auch neue Widersprüche produziert. Lässt sich der Closet, also der Ort, in dem sich Homosexuelle vor dem Coming-out befinden, in Anschluss an Michel Foucault als eine »Krisenheterotopie« (Foucault 2015: 321f.; Foucault 2017: 12f.) verstehen, also als verbotener Ort für Menschen, »welche sich im Verhältnis zu der Gesellschaft oder dem Milieu, in denen sie leben, in einem Krisenzustand befinden« (Foucault 2015: 322), so stellt die vermeintlich emanzipative Szene mit ihren »zeitlichen Brüchen« (ebd..: 324) (also mit dem ihr impliziten Versprechen, das Alte abgeschlossen zu haben und das Neue zu beginnen), ihrem »System der Öffnung und Abschließung« (ebd.: 325) und dem illusionären Ver-

Diese Gleichsetzung einer literarischen Figur mit ihrem Autor mag sich aus der Logik einer Biographie ergeben, ist für eine Analyse des Textes jedoch wenig produktiv. 12 Dieser zunächst irritierende Vergleich gewinnt vor dem Hintergrund einer schwulen oder queeren Theologie, in der das Coming-out auch als Exodus- oder Ostererfahrung betrachtet wird (vgl. z.B. Brinkschröder 1994: 72-73), an Plausibilität.

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such, »einen anderen Raum« (ebd.: 326) zu schaffen, lediglich eine neue Heterotopie dar. Affrica Taylor bezeichnet die »community ghettos« (Taylor 1997: 10) deshalb auch als »heterotopias of compensation« (ebd.: 10). »Within the actual ghetto then, we are confronted with the pervasiveness of difference in all sectors of the ›real‹ world. Despite distant imaginings of a place of comfortable sameness, it is the internal differences that confound many on entering the ghetto community. Herein lies the paradox of these alternative community places, these ›other‹ spaces: they are sites at which the lived experience of difference within difference, renders apparent the fiction of homogeneous gay and lesbian community.« (Ebd.: 11)

In der KLEINSTADTNOVELLE ist diese Emphase des Aufbruchs deutlich herausgearbeitet. Ihr voran geht eine abschließende Versöhnung mit der Kleinstadt, die sich in Sätzen wie »ihr seid mir ganz nah jetzt, weil nichts mehr zu verlieren ist« (KN 76) oder in Rührseligkeiten wie »und da versammeln sich unter der bahnhofsuhr eben seine geliebten und die, die er dazu machte« (KN 78f.) ausdrückt. Das Pathos dieser Textstellen macht aus dem Abschied aber eine Parodie seiner selbst und erinnert an den Satz »Lass uns Freunde bleiben« am Ende einer missglückten Beziehung. Allzu deutlich hebt sich das Neue dagegen ab. »neue rollen, neue stadt. abschied. die fähigkeit, ja zu sagen zu sich und der eignen vergangenheit. die fähigkeit, nein zu sagen zu denen, die andres gelernt haben. […] b. ist aufgeregt, lächelt deshalb selbstsicher. steht auf. ich nähere mich der zukunft. bahnhof zoo, das ende. ein hübscher beginn, ein haufen dreck. die fähigkeit zu suchen. der wille zur subkultur? […] schritte in berlin, nach vorn. hier stand die gruppe, lachend. kleiner koffer jetzt, ubahn, männergruppenadresse. berliner ausgabe werner und rolf. subkultur, tanzen. lehrer. ich umarme euch.« (KN 77-79)

Der positiven Grundstimmung, ausgedrückt mit »selbstsicher«, »zukunft«, »hübscher beginn«, »tanzen« und der Feststellung, dass es werner und rolf auch in einer »berliner ausgabe« (also interessanter und emanzipierter) gebe, stehen der »dreck« und das Fragezeichen hinter »subkultur« nur zaghaft entgegen. In einem Textvergleich mit entsprechenden Passagen bei Christoph Geiser, Mario Wirz und Napoleon Seyfarth hat Volker Woltersdorff gezeigt, wie charakteristisch solche Großstadtbilder bis hinein in die schwule Literatur der 90er Jahre sind (vgl. Woltersdorff 2005: 249f.). Markant für die KLEINSTADTNOVELLE ist jedoch, dass der Text mit der Ankunft in Berlin endet, so wie die Liebesbeziehung im Text endet, bevor sie wirklich angefangen an. Als letzter Satz ließe sich auch ein märchenhafter denken, z.B. »Wenn er nicht gestorben ist, so lebt er noch heute« – nicht umsonst schreibt Tjark Kunstreich, b. werde »in Berlin zum Prinzen« (Kunst-

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reich 2003: 105). Weil das Neue nur als Hoffnung, nicht aber als Realität erscheint, bleibt das Fragezeichen, das hinter der Subkultur steht, Ausdruck einer abschließenden Skepsis. Damit deutet sich auch eine Hinterfragung der Dichotomie von ›Kleinstadt versus Großstadt‹ sowie eine letzte Ehrenrettung der Erstgenannten an. So bleibt zu fragen, ob neuere Coming-out-Erzählungen nicht sogar ein positives Kleinstadtbild entwerfen. Um dieser Frage nachzugehen, sollen abschließend drei Beispiele, die in besonderer Weise schwules Leben jenseits der Metropole darstellen, angeführt werden. Auch der Roman DIE MITTE DER WELT13 von Andreas Steinhöfel aus dem Jahr 1998 spielt in einer kleinstädtischen Umgebung und auch hier wird kein konkreter Stadtname genannt. Das Besondere des Romans ist, dass hier die Geschichte einer ersten schwulen Liebe erzählt wird, ohne dabei die typischen Muster einer Comingout-Erzählung zu bedienen. Dass Phil, der adoleszente Protagonist des Romans, sich in einen Jungen verliebt, wird von seiner Umwelt als Selbstverständlichkeit angesehen. Noch stärker wird das in der Verfilmung aus dem Jahr 2016 herausgearbeitet. Hier fehlen selbst die vielfachen Anspielungen des Romans, die Phil als einen effeminierten Jungen darstellen (z.B. das Cross-Dressing in der Kindheit oder auch der ›Tuntentest‹; vgl. MW 41, 344-349), oder die grundlegende Anlage der Figur als einen Außenseiter. Dass das Leben als Schwuler in der Kleinstadt problematisch werden könnte, wird im Roman eher beiläufig und sarkastisch-scherzhaft artikuliert, wenn Phil zu seiner besten Freundin Kat sagt: »Kat, ich lebe nicht auf dem Mond, okay? Ich weiß, dass dieses Kaff in helle Aufruhr geraten würde, wenn ich mit einem Freund aufträte – was ich tun würde, wenn ich einen hätte. Ich weiß auch, dass irgendwelche Sittenwächter sich weiße Kapuzen aufsetzen, nachts auf Kühen nach Visible geritten kommen und uns eine tote Katze an die Tür nageln würden. Und du solltest wissen, dass mir das scheißegal ist.« (MW 88)

Voraussetzung für diese zumindest rhetorische Gelassenheit ist das erwähnte Visible, ein verfallenes Landhaus, in dem Phil mit seiner Mutter Glass und seiner Schwester Dianne lebt. Visible ist für die unkonventionelle Familie eine Gegenwelt, ein Raum mit eigenen Regeln, in dem sie vor der Intoleranz und der Spießigkeit der Kleinstädter geschützt sind. In der Verfilmung wird diese Gegenwelt so stark in Szene gesetzt, dass die Kleinstadt nicht mehr problematisiert werden muss, sondern maximal als etwas schrullige (und landschaftlich schöne) Hintergrundkulisse wahrgenommen wird. Die Botschaft ist klar: Wenn du deine »Mitte der Welt« gefunden hast, dann kannst du sein, wer und wo du bist. In Hinblick auf den zeitlichen Abstand zwischen Roman und Film wird dabei auch ein gesellschaftlicher Wandel 13 Im Folgenden als MW abgekürzt.

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deutlich: Eine zutiefst homophobe Kleinstadt, die auch im Roman nur noch Gegenstand eines abfälligen Witzes ist, wäre dem Filmpublikum 2016 schon nicht mehr zu vermitteln gewesen. Dass am Ende von Roman und Film Phil zum großen Sehnsuchtsort ›Amerika‹ aufbricht, ist schon nicht mehr der Kleinstadtflucht eines Schwulen, sondern der Vatersuche des Protagonisten geschuldet. Marcus Brühls Roman HENNINGSTADT14 aus dem Jahr 2001 spielt in der fiktiven und titelgebenden Kleinstadt Henningstadt. Wie bei Schernikau mag hier die Geburtsstadt des Autors, die Stadt Siegen, als Vorbild gedient haben, trotzdem ist auch Henningstadt lediglich eine Musterstadt. Marcus Brühl spielt in seinem Roman mit einem Nebeneinander von bekannten Mustern eines Coming-outs (Herauskommen, Krise, Integration in die community) und gleichzeitigen Verqueerungen, die besonders deutlich werden, als der siebzehnjährige Protagonist Henning nach erfolgreich aufgebauter schwuler Identität mit seiner besten Freundin Isabell schläft (vgl. H 262-265) (vgl. Glawion 2005: 299-303). Auch wenn Henning eines Ausflugs nach Berlin bedarf, um seine Gefühle zu ordnen, so kehrt er doch auch wieder nach Henningstadt zurück. Die Kleinstadt, die sogar eine Schwulengruppe (vgl. H 52) und eine Schwulenkneipe (vgl. H 83) hat, ist zwar nicht frei von Homophobie, doch dagegen geht Henning mit seinen Freundinnen und Freunden demonstrieren (vgl. H 265-269). Ihm ist klar, dass es überall Schwulenfeindlichkeit, aber auch überall Solidarität und Widerstand gibt, gerade deshalb macht eine Dichotomie von ›Kleinstadt versus Großstadt‹ hier keinen Sinn mehr. Stärker noch als in den beiden Romanen verändert der Film STADT LAND FLUSS aus dem Jahr 2011 die Darstellung von Coming-out und Raum, indem hier die Handlung in den ländlichen Raum verlegt wird. Der Azubi Marko (gespielt von Lukas Steltner) und der Praktikant Jacob (gespielt von Kai-Michael Müller) lernen sich in einem Agrarbetrieb im brandenburgischen Nuthe-Urstromtal kennen und lieben. STADT LAND FLUSS ist dabei kein Film der großen Worte, die Beziehung der beiden jungen Männer, ihre Verliebtheit und ihre Unsicherheit, entwickelt sich vielmehr über Blicke und (zunächst unsichere) Bewegungen. Folgt dem ersten Sex noch Angst und schlechtes Gewissen, so wird auch hier Berlin zum Ort, an dem bei einem Ausflug aus der erotischen Anziehung eine Liebesbeziehung wird. Die beiden ›Landeier‹ bewegen sich jedoch so unsicher in der Großstadt, dass kein Zweifel aufkommen kann, wo sie hingehören: Ihre Liebe werden sie auch weiterhin zwischen Kühen und Gemüsefeldern leben. ›Schwule Orte‹, so die Botschaft, kann es überall geben. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Schernikaus KLEINSTADTNOVELLE auch als Ausdruck einer Zäsur verstanden werden kann und dass sich spätere Coming-out-

14 Im Folgenden als H abgekürzt.

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Erzählungen mit der Kleinstadt oder dem ländlichen Raum versöhnen. Wer einen Kanon der Kleinstadtliteratur entwerfen möchte und nach Traditionen und Umbrüchen sucht, der wird deshalb nicht ohne den Verweis auf Schernikau auskommen können. Und wer eine solche Kanonisierung grundsätzlich problematisiert, der kann darauf verweisen, dass die literarische Kritik an der Kleinstadt bereits bei Schernikau zaghaft hinterfragt wird, so wie auch die literarischen und filmischen Erzählungen, die folgen, ein vielfältiges Bild von der räumlichen Dimension schwulen Lebens entwerfen. So wie in HENNINGSTADT die Muttergottes auf der Seite der Schwulen steht (schließlich hat auch sie schon einiges durchgemacht) (vgl. H 170, 173), so ist es in der KLEINSTADTNOVELLE die irdische Mutter, die »mit ihm getanzt hat in seiner subkultur und mit ins kino gegangen ist, die dürftigen angebote faßbinders, praunheims und petersens nutzend« (KN 54). Indem sie, die Heterosexuelle, die Welt ihres schwulen Sohnes betritt, ändert sich nicht nur seine, sondern auch ihre. Und so verbirgt die KLEINSTADTNOVELLE bereits eine erste Idee einer Verqueerung von Räumen, denn dort, wo die »heterotopias of compensation« (Taylor 1997: 10) auch Heterosexuelle in Bewegung setzen und rückwirkend ihre Räume durcheinander bringen, verändert sich vor allem eins: Heteronormativität.

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O NLINE -D OKUMENTE http://www.lehrte.de/Rathaus/Zahlen-Daten-Fakten/Einwohnerzahlen-undGebietsflaeche.aspx http://www.schernikau.net/*/rms-revisited/

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F ILM DIE MITTE DER WELT (2016) (D, R: Jakob M. Erwa) STADT LAND FLUSS (2011) (D, R: Benjamin Cantu)

»Die Pyramide Jahr zu Jahr größer, wehe der Schotter rutscht« Einar Schleefs Sangerhausen M ARTIN E HRLER Zuhause das sind die Eltern, der Vater, die Mutter, der Schulweg, das Kino, die Dörfer, das Gestrüpp, die Stadt, die man sein Leben nicht loswird. EINAR SCHLEEF

E INLEITUNG Das von Einar Schleef hinterlassene Werk ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Der vor allem durch sein Schaffen am Theater zu Ruhm gelangte Schleef hat mit seinem Roman GERTRUD (1980/1984) sicherlich einen der denkwürdigsten Texte der deutschen Literatur geschaffen. Der Roman, aus Sicht der eigenen Mutter verfasst, ist dabei die deutlichste Annäherung des Autors an seine verlorene Heimat. Sangerhausen, die Stadt, in welcher Schleef 1944 als zweiter Sohn der Hausfrau und Aushilfsschneiderin Gertrud Schleef und des Architekten Wilhelm Schleef geboren wurde, muss dabei als der zentrale Ausgangs- und Anlaufpunkt zumindest seines schriftstellerischen und essayistischen Schaffens verstanden werden. Schon relativ früh wies Schleef dort sein künstlerisches Talent nach (seine Malereien im Kurs des Malers Wilhelm Schmied hatten bereits eine gewisse Qualität), etablierte jedoch gleichzeitig seine zeitlebens anhaltende Rolle als Außenseiter, die bereits frühzeitig durch eine schwere Tuberkuloseerkrankung im Jahr 1958 und einen verhängnisvollen Zugunfall im Jahr darauf (welcher ihn zum Stotterer machte) nahezu manifestiert wurde. So musste Schleef etwa aufgrund dieser Schicksalsschläge das 7. und 9. Schuljahr wiederholen, den Sprachfehler legte er nie ganz ab.

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Auch auf Empfehlung seines Sangerhäuser Lehrers Schmied nahm Schleef nach bestandenem Abitur 1964 ein Studium der Malerei an der Hochschule für Kunst in Berlin-Weißensee auf, musste dies aber bereits nach wenigen Monaten wegen Disziplinlosigkeit abbrechen und sich – wie es damals hieß – ›in der Produktion bewähren‹.1 1967 konnte er jedoch erneut ein Studium aufnehmen, diesmal das der Bühnenbildnerei als Schüler von Heinrich Kilger; was die Grundlage für seine spätere Zusammenarbeit mit dem Regisseur Bernhard Klaus Tragelehn bildete. Die in ihrer Zusammenarbeit 1975 entstandene Inszenierung der Strindbergschen FRÄULEIN JULIE sorgte dann für solches Aufsehen, dass vor allem für Schleef eine Weiterbeschäftigung an den Häusern der DDR kaum mehr möglich schien.2 Schleef, der ab 1976 (wieder in Zusammenarbeit mit Tragelehn) an einer Aufführung von Frank Wedekinds SCHLOSS WETTERSTEIN am Wiener Burgtheater arbeitete, nutzte die sich dadurch im Herbst 1976 bietende Möglichkeit, der DDR den Rücken zu kehren. Nach anfänglichen Schwierigkeiten etablierte sich der auch in Westdeutschland kontrovers gehandelte Schleef in der deutschsprachigen Theaterlandschaft und war bis zu seinem Tod 2001 sicherlich eine der polarisierendsten Gestalten der Branche. Der ihn bis heute ehrende Ritterschlag durch Elfriede Jelinek, in Deutschland habe es nach dem Krieg nur zwei Genies gegeben, im Westen Fassbinder und im Osten eben Schleef, macht dies vielleicht im Ansatz deutlich. Doch es gab auch nach seiner Flucht Phasen, in denen es für Schleef am Theater

1

Schleef äußerte sich wohl abfällig und beleidigend gegenüber einem Professor der Hochschule.

2

Die prominent besetzte Aufführung am Berliner Ensemble rief bereits vor ihrer Premiere heftigen Widerstand hervor. Dem Einsatz Paul Dessaus war es wohl zu verdanken, dass es das Stück überhaupt in den Spielplan schaffte. Die Inszenierung, welche in vielerlei Hinsicht radikal mit den Möglichkeiten des Theaters umging (aufgeführt auf leerer Bühne mit weißem Rundhorizont), fand ihren Höhepunkt sicherlich im Abgang Julies (gespielt von Jutta Hoffmann) über die Bestuhlung des Parketts und die Köpfe der Zuschauer hinweg. Diese Szene stellte nicht nur für das Stück selbst eine gewagte Interpretation dar, sondern, so schildert es Schleef selbst später in seinen Tagebüchern, bildete auch für ihn selbst eine Art Vorwegnahme des eigenen Schicksals: »Zunächst ist dieser Moment für mich eine Absage an die auf dieser Bühne behandelten Probleme, Pseudoprobleme der DDR, die die Darstellung eines ungeschönten DDR-Alltags verbieten. Julies Verlassen der Bühne, die nicht in den Tod, sondern in eine Ungewißheit abgeht, ist unbewußt meine Republikflucht.« (Schleef 2006: 373) Zwar war FRÄULEIN JULIE durchaus ein Publikumserfolg, wurde aber dennoch nicht in die folgende Spielzeit übernommen, was wohl einer – wenn auch nahezu geräuschlosen – Absetzung gleichkam (vgl. dazu u.a. Behrens 2003: 52ff.).

»D IE P YRAMIDE J AHR ZU J AHR GRÖßER ,

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weniger gut lief; doch gerade jene waren womöglich seine produktivsten. Bereits kurz nach seiner Ausreise, als er zunächst keine Anstellung an einem Theater der Bundesrepublik fand, begann er mit der Niederschrift seines Romans GERTRUD; und vielleicht hätte er ohne die Krisen in seiner Bühnenarbeit niemals ein solch heterogenes und umfangreiches Lebenswerk hinterlassen können, wie es heute, nahezu in Gänze erschlossen, nach wie vor zu entdecken ist. Es lotet dabei oftmals die Möglichkeiten und Grenzen der künstlerisch-narrativen Rekonstruktion heimatlicher Räume aus. Detailgetreu erschuf Schleef so über unterschiedliche künstlerische Formen und Aneignungen ein Abbild seiner Heimatstadt Sangerhausen.

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G ESCHICHTE

Die Geschichte Sangerhausens wäre schnell erzählt, war die kleine Stadt doch nie besonders bedeutend. Die in Mitteldeutschland, am Fuße des Harzes, etwa auf halber Strecke zwischen Halle und Erfurt gelegene Stadt kann zwar auf eine mehr als 1000-jährige Historie zurückblicken und hat aufgrund des Silber- und Kupferbergbaus sowie der ab Mitte des 19. Jahrhunderts günstigen Lage am Eisenbahnnetz auch eine relativ lang währende Industriegeschichte vorzuweisen, doch historisch Herausragendes spielte sich stets ›nebenan‹ ab: in Eisleben und Mansfeld, wo Luther geboren wurde, aufwuchs und schließlich starb; bei Bad Frankenhausen, wo Müntzer kämpfte und verlor, in Artern, wo Novalis wohl den HEINRICH VON OFTERDINGEN begann, oder in Schulpforte, wo Klopstock und Nietzsche lernten. Am 17. Juni 1953 spielte sich jedoch auch in Sangerhausen Bemerkenswertes ab. Freilich war am Tag des Arbeiteraufstandes auf beinahe dem gesamten Staatsgebiet der DDR, gerade den Industriestandorten, zu denen Sangerhausen ja zählte, historisch Bedeutendes zu beobachten, doch erst der Einbruch eines solchen Moments, den Schleef in einem Gespräch mit Alexander Kluge als das »einschneidende Erlebnis« seiner Kindheit charakterisierte, veranlasste den damals Neunjährigen dazu, Tagebuch zu führen und somit den ersten Schutt auf jene imaginäre Halde zu befördern, als die uns das aus dem Erzählwerk Schleefs entstandene Sangerhausen heute gegenübertritt. Schleefs Lebenswerk muss als eine kontinuierlich gewachsene Ansammlung detaillierter, aus subjektiver Perspektive geschilderter und verbalisierter Beobachtungen historisch-alltäglicher Geschehnisse verstanden werden, die in ihrer Häufung bzw. Aufschüttung auch die individuelle Biografie kennzeichnen – und ihr damit, sozusagen, eine ›formlose Form‹ geben. Wenn Gertrud im Roman auf die zunehmende Instabilität der stetig wachsenden Pyramide, der Abraumhalde Hohe Linde, hinweist, dann beschreibt sie damit auch metaphorisch den Prozess der ausufernden Textmasse, die stets Gefahr läuft, ins

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Rutschen zu geraten – ins Formlose überzugehen: »Die Pyramide Jahr zu Jahr größer, wehe der Schotter rutscht.« (Schleef 1980: 55) Abbildung 1: Hohe Linde, die über Sangerhausen thronende Abraumhalde

Einar Schleef: ZUHAUSE

Immer wieder be- und überarbeitet, kommentiert und ergänzt, bildet der Eintrag vom 17. Juni den Anfang der Tagebücher, welche ab 2004 posthum erschienen und heute neben dem Roman GERTRUD – für den sie Material liefern und in den sie mitunter wortwörtlich eingehen – und dem Langessay DROGE FAUST PARSIFAL (1997) das erzählerische Hauptwerk des Schriftstellers Schleef bilden. Das Tagebuch beginnt mit folgendem Eintrag vom 17. Juni 1953: »Auf der Straße Panzer. Vor dem Gaswerk, auf dem Bahnhof, vor der Post, auf dem Marktplatz, an den Ausfallstraßen, vor der Maschinenfabrik, vor dem Fahrradwerk MIFA, auf dem Schacht. In unserer Straße. Überall Panzer: Wo kommen die vielen Panzer her?« (Schleef 2004: 9, Hervorhebung M.E.)

Mit dem auch in Sangerhausen harsch niedergeschlagenen Arbeiteraufstand hält deutsche Nationalgeschichte Einzug in der kleinen Stadt. Doch der Aufstand in Sangerhausen kommt in den kanonisierten Berichten natürlich nicht explizit vor, er schlägt sich nachhaltig lediglich in den individuellen persönlichen Geschichten der Betroffenen nieder.

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So haben die Ereignisse vom 17. Juni 1953 auch große Auswirkungen auf die Familiengeschichte Schleefs, denn an den Tagen rund um den Aufstand sollte sich die familiäre Machtkonstellation nachhaltig ändern. Die Mutter Gertrud tritt hier aus dem Schatten des Vaters und wird endgültig zur starken und bestimmenden Figur. Im Tagebuch erfährt man warum. Nachdem eine Vorladung der sowjetischen Kommandantur an den Vater im Hause ergeht, erkennt die Mutter die Gefahr, die ihm und damit der Familie droht. Kurzerhand entschließt sie sich, ihren Mann im Herrenzimmer einzuschließen und ihn bis zum Ende des Aufstands nicht wieder zu befreien. Dem Vater, Architekt und Bauleiter, aber vor allem auch Ernährer der Familie, blieb so womöglich Schlimmeres während der Unruhen erspart, denn auch in Sangerhausen kam es zu etlichen Festnahmen. Im Roman GERTRUD liest sich die Szene wie folgt: »Die Post. Ich zur Tür. Gelber Brief. Stempel 16. Juni. Absender Kommandantur. In Berlin Ausnahmezustand. Die Leunawerke rüsten. Hier die oberen Angestellten geflüchtet. Vater kreidebleich: Bestellt 8 Uhr. Wußten was das bedeutet. Überall Panzer. Alle Ausfallstraßen. In unserer hintereinander. [...] Wollte Vati nicht weglassen. Die Firma streikt. Dochs Tage zuvor gehört. Was in Anmarsch von Berlin. [...] Willy brüllte: Ich muß da hin, sie ziehen mich zur Verantwortung, ich steh ein für den Betrieb. Und wir, deine Kinder, was wird aus uns? Bis mir die Hutschnur gerissen. Herrenzimmerschlüssel umgedreht, übern Balkon geworfen. Der Goldregen blühte. Du kommst nicht raus. Spring runter. Dann brichst du dir wenigstens hier die Knochen. [...] Verbarrikadierte die Tür, den Kellergang, meine alte Grude vor.« (Schleef 1980: 217f., Hervorhebungen M.E.) 3

Hier zeigt sich nun auch der Sprachduktus, der den gesamten Roman durchzieht. Beide Bände sind als fiktiver Monolog der alternden Mutter Gertrud in dieser verknappenden, teilweise elliptischen Syntax angelegt. Immer wieder fließen aus dem Dialektalen entnommene Vokabeln oder regionale Idiome in die Sätze ein. Angelehnt an die Technik des Bewusstseinsstroms erscheint die Sprache des Romans hier allerdings nicht als stumm-gedachte, sondern vielmehr als gesprochene Sprache. Der Leser wird so zum Gegenüber Gertruds, dem sie ihre Gedanken anvertraut. Die Germanistin Halina Hackert versteht den Text als eine poetisierte Form der oral history, die die Möglichkeiten der Alltagssprache und des Dialekts nutzt, um die Lebenswelt der ›kleinen Leute‹ detailgetreu abzubilden (vgl. Hackert 2012: 17-19). Schleefs Sprache sei, so der Regisseur Armin Petras anlässlich des 5. 3

Die Sprache des Romans ist hier auch gleichzeitig die des neunjährigen Schriftstellers, finden sich im Roman doch deutliche (im Text hervorgehobene) Parallelen zum ersten Tagebucheintrag Schleefs.

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Todestages in der Berliner Zeitung »die sprache der maurer, der bauern, der mütter, der kleinbürger. Sprache die alles können muss außer glänzen. Die sprache muss funktionieren beim arbeiten, beim einkaufen, beim reparieren, [...] seine sprache beschreibt nicht gefühle, sondern dinge. Sie ist immer konkret.« (Petras 2006: 18) Was im Tagebuch unerwähnt bleibt, wird im Roman deutlich: Dort kommt nun auch der Vater zur Sprache, äußert sich knapp über die Vorkommnisse rund um den 17. Juni und macht den tiefen Einschnitt, den der Tag in der Familiengeschichte hinterlassen hat, deutlich. Gertrud zitiert ihn im Roman mit den Worten: »Hast mir die Ehre genommen, wär lieber [mit den Aufständischen, M.E.] mit.« (Schleef 1980: 219) Vom Tagebuch zum Roman vollzieht Schleef einen Wechsel der Perspektive. Er spricht nun durch die Figur der Mutter, gleich einem Palimpsest scheinen aber immer wieder die Tagebuchaufzeichnungen durch.4 Das geschilderte Ereignis macht deutlich, wie Schleef in seinem Roman verfährt. Große Geschichte ist hier stets als Familiengeschichte aufgearbeitet, »er greift sie dort auf, wo sie sich mit der Biographie Gertruds [...] kreuzt« (Hackert 2012: 14). Generell scheint GERTRUD überhaupt nicht ohne die Tagebücher und Briefe denkbar, bilden sie zum einen doch stets Material und Quellen für historische Daten und Fakten, darüber hinaus aber einen beinahe unerschöpflichen Fundus kleinerer und größerer Alltagsdarstellungen und narrativer Versatzstücke. Die große Geschichte lässt sich somit nicht als die Geschichte Sangerhausens begreifen; ihre Größe wird erst in ihrer Verwobenheit in die Individualgeschichte der Familie Schleef, vor allem aber in die der Mutter Gertrud, ersichtlich. Ihr bewegtes Leben verknappt sie im Roman in folgender Aussage: »Meine Kindheit fiel ins Kaiserreich, der Sportplatz in die Weimaraner, die Ehe auf Hitler unds Alter in die DDR. Wohin mein Kopp. Viermal Deutsches Reich, das 5. ist 2 Meter lang. Das 1000-jährige Gottes erleb ich nimmer.« (Schleef 1980: 215)

Gertrud, 1909 geboren, wird zum Sinnbild dieser Umbrüche und bewegter deutscher Geschichte. Die Frau, die einstmals deutsche Jugendmeisterin im 100-MeterLauf war, versucht nun, ihren harten Alltag in Sangerhausen zu meistern. Die Schilderung dieses Lebens wird zur history from below, zur ›Geschichte von unten‹;

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Schleef hat seine Tagebücher fast ständig bearbeitet und die Einträge überarbeitet. Später fertigte er, auch aus Verlustängsten, digitale Abschriften an. Seine frühen Tagebücher lässt er die Mutter noch vor seiner Ausreise unter den Kohlen im Keller des elterlichen Hauses verstecken, wo sie bis 1990 liegen und dann von ihm wieder ausgegraben werden.

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und die verhandelte Stadt- bzw. Kollektivgeschichte Sangerhausens und seiner Bewohner zu einer historisch bedeutsamen Alltagsgeschichte der DDR. Schleefs Buch zeigt ungeschönt und nahezu unpolitisch das Leben in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Brutalität und Armut, aber auch die Beharrlichkeit und Stärke der Mutter Gertrud kann dabei paradigmatisch für weite Teile der Gesellschaft einer DDR gelten, deren gescheitertes System spätestens seit Mitte der 1970er Jahre immer deutlicher zum Vorschein kam. Der Roman ließe sich damit, den Überlegungen des Literaturwissenschaftlers Horst Domdey folgend, in der Traditionslinie einer Widerspruchsliteratur der DDR verorten, in welcher nun vermehrt Figuren auftreten, »die sich von der Sphäre der Obrigkeit abwenden« (Domdey 1983: 36). Diese Literatur stehe nicht mehr im Zeichen einer »Fürstenaufklärung«, die den Aufbau der neuen Gesellschaft kritisch-konstruktiv begleite, sondern verweigere den Blick in die Zukunft, die über »Wintervorsorge (Einwecken, Kartoffeleinkellern) und [die] mütterlichen Sorgen um das berufliche Fortkommen der Söhne hinausginge« (ebd.: 57). Beiden Bänden des monumentalen Romans stellt Schleef ein Zitat aus dem HEINRICH VON OFTERDINGEN voran: »... und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ, mit der seltsamen Ahnung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.«

Diese paradox anmutende Idee, eine faktisch stattfindende Entfernung und Überwindung als Annäherung zu verstehen, muss als leitmotivisch für Einar Schleefs Roman GERTRUD begriffen werden, kann darüber hinaus aber auch für weite Teile seines Schaffens gelten, in denen Sangerhausen als konkreter Ort immer wieder auftaucht; sei es im mit dem Kodak-Fotopreis ausgezeichneten Fotoband ZUHAUSE (1981), im kurzen Prosastück HEIMKEHR (1993) oder in der Theatertetralogie TOTENTROMPETEN (1995-2002). Eine Trennung von seiner Heimat hat für Schleef wohl nie wirklich stattgefunden. Zwar verließ er die kleine Stadt bereits recht früh, zunächst um in Berlin zu studieren, ehe er sie mit seiner Ausreise in den Westen gar ganz hinter sich ließ, doch können seine Arbeiten stets als die imaginäre – im Novalis Zitat angedeutete – Reise zurück interpretiert werden. So schreibt Schleef noch in einem seiner ersten Briefe an die Mutter vom 7. September 1964: »Ich glaube, daß ich Sangerhausen, dieses ganze Gefühl und die Schule endlich überwunden habe. Nach der Nacht kommt der Morgen« (Schleef/Schleef 2009: 14). Doch ob es jemals wirklich zu einer »Überwindung« gekommen ist, muss zumindest bezweifelt werden.

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So verfolgt er mit seinem Romanprojekt nicht nur eine alternative Geschichtsschreibung, sondern auch eine persönliche Annäherung an seinen Herkunftsort. 5 Es ist die (Re-)Konstruktion einer, spätestens mit der Ausreise aus der DDR, verlorengegangenen Heimat. Sangerhausen bleibt trotz der räumlichen Trennung das wichtigste Sujet Schleefs, da die Stadt, so Schleef einmal in einem Interview, zeitlebens der einzige Ort sei, den er wirklich kenne und an dem er sich wirklich auskenne.

K LEINE S TADT – G ROßE F ORM Der zweibändige Roman, für den Schleef sogar noch einen dritten geplant hatte, ist in seiner Form sicherlich einzigartig in der deutschsprachigen Literatur. Auf knapp 900 großformatigen und eng bedruckten Seiten entfaltet Schleef ein gewaltiges Panoptikum deutscher Geschichte, die er über den Monolog Gertruds konsequent mit der Regionalgeschichte Sangerhausens und der Familiengeschichte der Mutter verwebt. Der Roman gibt zwar eine chronologische Struktur vor, indem die Jahre 1970-1980 jeweils als eigene Kapitel aufgeführt sind, doch bieten diese nur eine minimale Orientierung, da der Monolog zu weiten Teilen stark assoziativ und ana-

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Auch in aktuelleren Werken geht es vermehrt um eine (Wieder-)Aneignung heimatlicher Räume, die mitunter – sowohl inhaltlich als auch formal – an Schleefs Sujet anknüpfen. So berichtete Timo Feldhaus in der Zeitschrift DE:BUG anlässlich der Vorstellung popliterarischer Heimat- und Deutschlanderkundungen von der Buchvorstellung von Rainald Goetz’ ELFTER SEPTEMBER 2010, einer fotografischen Dokumentation der Nullerjahre: »Goetz ist aus den Trümmern seines langjährigen Romanprojekts wieder auferstanden und in seinem sagenhaften, auch sagenhaft souveränen Performance-Vortrag im Berliner Suhrkamp-Haus, auf einem Stuhl stehend, schwitzend, springend, fabulierend endgültig in den Zenit der Jetztzeit und des Hierseins zurückgekehrt. Die Leidenschaft, an der so genannten Aktualität teilzunehmen, wie Joseph Roth das einmal schrieb, sie war hier so ansteckend wie selten zuvor. Goetz präsentiert all das auf seinem Körper, die Präsenz, den Stress, die Panik, die Verworrenheit, die Dialektik, die Zartheit, das Über-Now, das Soziale, das Asoziale, den Riss. Während seines kurzen Vortrags nimmt er einmal einen Fotoband zur Hand. Aus den 70er Jahren von Einar Schleef, erklärt Goetz. Er heißt ›Zuhause‹ und es wäre für sein neues Buch neben dem Autor Rolf Dieter Brinkmann der größte Einfluss. Wenn er das hoch hält, dann schauen drei der vier in diesem Artikel abgebildeten Autoren [Rafael Horzon, Moritz von Uslar, Ingo Niermann], weil sie da im Publikum stehen, auf dieses Wort, auf den Schleef’schen Buchband und lesen dort: Zuhause. Und auch ihre Bücher handeln irgendwie, irgendwie ganz schön doll, von Heimat. Zuhause sein. In Deutschland.« (Feldhaus 2010: 59)

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chronistisch aufgebaut ist: So ist der Großteil des Texts die minutiöse Schilderung des Alltags der Mutter, die nach dem Tod des Vaters und der Flucht beider Söhne alleine in Sangerhausen lebt. Das Anstehen nach Lebensmitteln, die Gänge zum Friedhof, der eigene körperliche Verfall und die Sehnsucht nach menschlicher Nähe stehen hier gleichberechtigt neben großer Geschichte; Individual- und Kollektivgeschichte sind untrennbar miteinander verwoben. Schleefs Materialien zum Roman speisten sich jedoch nicht nur aus seiner Erinnerung, sondern gleichfalls »aus den mündlichen – zum Teil auf Kassette gesprochenen – Erinnerungen seiner Mutter, ihren Briefen und seinen Fotografien und Tagebuchaufzeichnungen« (Hackert 2012: 29). Darüber hinaus sind knapp 150 Briefe und Briefauszüge sowie Zeitungsausschnitte und Behördenbriefe in nahezu unveränderter Weise in den Roman eingegangen (vgl. ebd.). Dem ersten Band ist ein recht übersichtliches, aber unvollständiges Personenverzeichnis beigelegt, und auf einem Faltblatt findet sich eine Art kommentiertes Fotoalbum der Familie Schleef. Der zweite Band führt wiederum ein nun vollständiges Personenverzeichnis mit sich. Aufgeführt sind über 400 Personen; und sogar vorkommende Tiere. Die Übersicht ist insofern etwas verwirrend, da sie die Personen aller Zeitebenen, also auch historische und zeitgeschichtliche, in alphabetischer Reihung neben die im Roman handelnden Personen stellt. Darüber hinaus bietet der zweite Band einen durch den Autor ergänzten Stadtplan der Stadt Sangerhausen. Wichtige Handlungsorte sind hier hervorgehoben und in einer Art Legende verzeichnet. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei diesem Material nicht ausschließlich um Orientierungshilfen für den Leser handelt, sondern um wesentliche Mittel, die den Produktionsprozess des Romans begleiteten. Schleef selbst arbeitete mit diesen Hilfsmitteln, ließ sich von der Mutter unter anderem jenen Stadtplan zuschicken, um Wege und Handlungsabläufe auch topografisch korrekt in die Struktur der Stadt ›hineinschreiben‹ zu können. Reale Namen und Daten wurden von Schleef dabei nicht geändert. Seine Bücher, die zunächst unter der Hand nach Sangerhausen gelangten, sorgten dort teilweise für erheblichen Ärger. So schrieb auch die Mutter an ihren Sohn: »Daß das einer druckt und dafür Geld bezahlt. Wieviel verdienst du daran, an uns, deinen Eltern, deinem Bruder, du kannst von Glück sagen, daß deine Schwägerin dir nicht den Prozeß gemacht hat, so lumpig wie du über die hergemacht hast.« (Schleef 2009a: 141)

Die Idee des Stadtplans schien Schleef nicht loszulassen. Als eine Art Nacharbeit zu GERTRUD entstand so ein ca. 250qm großer, von Schleef konzipierter, auf Holzplatten gemalter und mit Kommentaren versehener begehbarer Stadtplan Sangerhausens. Dieser wurde im Rathaus Schöneberg zusammen mit anderen Ausstellungsstücken wie Büchern, Kleidung und Fotografien im Jahr 1987 ausgestellt.

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Abbildung 2: Ausstellung mit begehbarem Stadtplan im Rathaus Schöneberg 1987

Ausstellung EINAR SCHLEEF: GERTRUD – FAMILIENLEBEN IN DER PROVINZ.

Gerade die Kartierung erscheint als brauchbares Mittel, um das ›Textmonstrum‹ GERTRUD zu bezwingen. Über die sichtbare oder sogar begehbare Topografie wird der ausufernde Erzählstrom in seine kleinstädtischen und damit auch irgendwie überschaubaren Grenzen zurückbefördert. Die Visualisierung von Ungleichzeitigkeiten, etwa wenn die heutige Bahnhofstraße auf der gemalten Karte ebenfalls noch die Namen Ernst-Thälmann-Straße, Adolf-Hitler-Straße und Hindenburgstraße trägt, verdeutlicht im Hinblick auf die Lektüre des Romans dessen Vielschichtigkeit und Historizität, ja, es verdeutlicht die verschiedenen Schichten Schotter, die auf der ›Pyramide Sangerhausen‹ lagern.

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Abbildung 3: Die den beiden Bänden beigelegten Faltblätter

Fotografie M.E.

Die Kartierung scheint generell ein Phänomen der Kleinstadtliteratur zu sein. So finden sich Karten von Sherwood Andersons Winesburg oder Faulkners Yoknapatawpha County mit der zentral gelegenen Kleinstadt Jefferson City. Auch Uwe Johnson fertigte wohl eine Karte von seiner fiktiven Kleinstadt Jerichow an, die jedoch nie veröffentlicht wurde. Und auch im Text von GERTRUD findet sich eine Art topografischer Überblick der Stadt, den die Mutter von einer Anhöhe bei Pfeiffersheim, nordwestlich der Stadt gelegen, in folgender Weise schildert: »Gucke zur Stadt. Links Blankenheimer Höhe, versperrt Eisleben, nur Antennen. Rechts die Aue. Schachthalde, Oberröblingen, Kiesgrube Edersleben, ehemals Spenglers Fundrevier. [Gustav Adolf Spengler (1869-1961) grub dort ab 1931 das komplette Skelett eines Mammuts aus; das im nach Spengler benannten Museum ausgestellte Skelett ist seit jeher eines der Wahrzeichen der Stadt, M.E.] Das dreckige Allstedt. Schornsteine Artern. Ganz klein der

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Wendelstein, nimmt Memleben in Schutz. An klaren Tagen leuchten die Türme von Naumburg. Sangerhausen finsteres Mittelalter, zusammengedrängt, ringsherum Neubaublocks, wachsen bis zum nächsten Ort. Unser Haus. Metzdorfs Ecke. Katholische Kirche mitten drin. Nicht gewußt, daß die Stasiantenne so hoch reicht. Jakobikirche auf einer Erhebung, Rathaus und Marktplatz im Schatten, alle Straßen nach ihr ausgerichtet. Die Siedlungen andere Ordnung, sich den Bodenwellen bequemen.« (Schleef 1980: 84f.)

Ein Stück weiter findet sich dann eine Passage, die näher ins Detail zu gehen scheint. Der Blick richtet sich jetzt, an die letzten Zeilen der ersten Übersicht anschließend, auf die Stadt selbst: »In der Stadt engem Gewerche hat ein Mensch da Platz. Hinter mir scheppert die Halde, hoch schleift das Förderband. Abraum. Von hier, entfernt, sieht die Stadt anders aus, inne verstrickt. Rauch der Bahnhofskessel, Qualm vom Taubenberg. Abdeckerei. Die Maschinenfabrik quast. Die MIFA. Eine Dreckschicht über den Häusern. Meine Gardine merkts. Das Gaswerk stillgelegt, Thälmannstraße dem Fernverkehr freigegeben. Müssen wir nicht ersticken, mir kein Straßenname der Westsiedlung bekannt, geschweige andere Richtung. Nur fremde Gesichter, der Bordstein 50 Zentimeter breit, rempeln einander, aber sehen uns nicht.« (Ebd.: 85)

In Kombination beider Textstellen wird die Topografie der Kleinstadt in ihren Auswirkungen auf die Bewohner sichtbar. Den engen und beengenden Altstadtkern, der noch die mittelalterliche Ordnung zu besitzen scheint, umwuchern die DDRtypischen Neubausiedlungen. Diese widerstreben der alten Ordnung, sodass es den Anschein hat, die Stadt franse an ihren Enden aus und werde unübersichtlich. In der dem zweiten Band beigelegen (historischen) Stadtkarte sind die Neubausiedlungen und Erweiterungen teilweise noch nicht verzeichnet. Nur in der Kernstadt, in der die Familie auch stets wohnte (die sieben Wohnhäuser der Familie sind verzeichnet), scheint für die Mutter Gertrud und auch für den Schriftsteller Einar Schleef eine zielgerichtete Orientierung möglich. Sangerhausen und seine Umgebung erscheint hier auch als Ort, der wenig Rücksicht auf sein eigenes Äußeres gibt. Das Haus der Familie wurde teilweise aus Trümmern errichtet und blieb bis zuletzt unverputzt6, die Neubebauung fügt sich nicht den alten Beständen an, die Fabriken legen einen Mantel aus Dreck und Ruß

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So findet sich in dem Album, das dem ersten Band beigelegt ist, unter anderem ein Foto des letzten Wohnhauses der Familie Schleef, kommentiert mit den Worten: »Ich wohne Mogkstraße 24 in Vatis schlimmsten Bau«.

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über die Stadt. Aber auch die Bewohner, zum großen Teil Berg- und Fabrikarbeiter erscheinen in den Schilderungen Schleefs als schmucklos und rau. 7 Abbildung 4: Straßenszene aus Sangerhausen, aufgenommen 1970-1975.

Einar Schleef: ZUHAUSE8

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Sichtbar wird dies auch im Fotoband ZUHAUSE (1981), der einer Visualisierung des Gertrudschen Kosmos gleichkommt. Bei einem Kinobesuch, bei welchem Schleef den Film KUMAR TALKIES (1999) des indischen Regisseurs Pamkaj Rishi Kumar sieht, fühlt er sich durch diesen in seine eigene, Schleef nennt sie dort »indische«, Kindheit zurückversetzt. Er schildert in seinem Tagebuch die heimatliche Armut, die sich auch im mütterlichen Pragmatismus bei der Wahl der Kleidung, widerspiegelt: »›Indisch‹ heißt einfach, Kopftuch, dicke Strickjacke, Männeranzugjacke oder dicke Joppe darüber, drunter Rock, darüber Schürze, unter beidem lange Männerhose, Trainingshose, hohe Schuhe, besser ›feste Schuhe‹ oder einfach Stiefel, die so bekleidete Frau ist das Gespenst des Nachkriegs, geistert durch meine Erinnerung.« (Schleef 2009b: 213f., vgl. dazu auch Hackert 2012: 216f.) Eine interessante Schilderung der Mansfelder Bergarbeiter liefert darüber hinaus das literarische Fragment IM BERG (1983) von Franz Fühmann.

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Die Fotografie ist auch dem zweiten Band von GERTRUD (1984) vorangestellt.

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A USBLICK

UND

F AZIT

Geht man mit Christian Benne davon aus, dass die literarische Kleinstadtforschung noch nicht einmal in den Kinderschuhen stecke (vgl. Benne 2012: 149), dann liegt die Vermutung nahe, die Gründe dafür in einer gewissen Unbestimmbarkeit des Gegenstandes zu suchen. Kleinstadtliteratur lässt sich nicht irgendwo zwischen Dorfgeschichte und Großstadtroman verorten, sondern tritt als überaus ambivalentes Textphänomen auf. Trotzdem, so die heuristische Annahme, sind genau die zwei gegenläufigen Kenngrößen – einerseits das Dorf (respektive das Land und die Provinz) und andererseits die Metropole (respektive die Großstadt) die passenden Vergleichsgrößen. Dabei geht es weniger um eine motivgeschichtliche und gattungstypologische Einordnung – denn auch das Erzählen vom Dorf mündet nicht zwangsläufig in der Dorfgeschichte – als vielmehr um die Frage ihrer Funktionalisierung. Die Kleinstadt gilt und galt, so Bernd Hüppauf, »über einen langen Zeitraum hinweg [als] ein Ort des Widerstands gegen den Internationalismus der Moderne« (Hüppauf 2005: 303), müsse aber trotzdem als »komplementärer Weg« in selbige verstanden werden (ebd.: 304). Ihre Bewohner sind nicht in den vermeintlich strikten Traditionen und Restriktionen einer dörflichen Lebenswelt verankert, sondern profitieren von der stetigen und institutionell veranlassten Modernisierung bei nahezu gleichbleibender räumlicher Enge. Die Gefahren (und Freiheiten) der großstädtischen Anonymität und Blasiertheit sind ihr dabei ebenso fremd wie die der bäuerlichen Rückständigkeit. Das klingt vorerst nach einem ziemlich idealen Flecken, doch selten zeigt die Literatur sie als diesen vermeintlich harmonischen Ort, der die Kleinstadt doch sein könnte. Da sie sowohl Ort der Moderne als auch der konservativ-traditionalistische Hort des Kleinbürgers ist, verkörpert sie in dieser Unentschiedenheit ein Spannungsfeld, vor dessen Hintergrund sich die Zustände eines Phänomens erkunden lassen, das womöglich ähnlich unbestimmbar und heterogen daherkommt wie die Kleinstadt selbst: der Alltag. Und so finden sich bei Schleef und vielen anderen Vertretern der Kleinstadtliteratur vermehrt Schilderungen eines zunächst oftmals als trist und mittelmäßig erscheinenden Alltagsgeschehens,9 welches erst auf den zweiten Blick seine Erzählwürdigkeit preiszugeben scheint. Dies dient auch als Schlüssel zum Ver-

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Zu denken wäre hierbei auch an die große amerikanische Tradition der Kleinstadtliteratur. Schon Ilja Ilf und Jewgeni Petrow berichteten in ihren 1936 erschienenen Reisebeschreibungen aus Amerika, der in der deutschen Übersetzung passenderweise DAS EINGESCHOSSIGE

AMERIKA heißt, dass man, wenn man etwas Typisches für die USA suche,

es in den Kleinstädten fände (vgl. Ilf/Petrow 2014: 129-138).

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ständnis der verschiedenen lokal und regional verankerten Wahrnehmungen, Sprachen und Mentalitäten. Dabei sind diese Alltagsschilderungen insofern von besonderer Bedeutung, da sie selten historische Kulminationspunkte zum Thema haben oder in einem linearen Handlungsstrang auf diese zulaufen, sondern vielmehr die oftmals übersehenen Phasen des Dazwischens in detaillierter Weise in den Fokus nehmen – denn häufig zeigen sich doch genau dort die feinen Haarrisse einer vermeintlich funktionierenden Gesellschaft. Sangerhausen ist in Schleefs Texten auf bemerkenswerte Art und Weise in der von Hüppauf angesprochenen Dialektik gefangen. Der nahezu unvermeidliche Weg einer Gesellschaft und ihrer Individuen in die Moderne gestaltet sich unter den historischen (und literarischen) Bedingungen der Kleinstadt als eine ständige Ausverhandlung zwischen Aufbruch und Stagnation. Vor allem unter Zuhilfenahme poetologischer Mittel wie z.B. des Bewusstseinsstroms (wobei es sich hier wohl eher um einen ›Sprechstrom‹, ein nicht enden wollendes ›Gebrabbel‹ der Mutter Gertrud handelt) wird diese Ambivalenz les- und somit nachvollziehbar. Die ausufernde Poetik muss somit als künstlerischer Gegenentwurf zur dann doch auch immer wieder bedrückenden Enge der Kleinstadt verstanden werden. Schleefs Sangerhausen, das ist am Ende wohl ein die topografischen und politischen Ausmaße dieser Stadt weit übersteigendes und überwucherndes, ein beinahe unüberschaubares Konvolut an Texten, Fragmenten, Notizen, Bildern, Fotografien und Tonbandaufnahmen. Es ist Heimat des Schriftstellers, Heimat seiner Familie, die Quelle seines künstlerischen Schaffens. Darüber hinaus ist es wohl einer der am genausten dokumentierten Orte deutscher Literatur.

L ITERATUR Behrens, Wolfgang (2003): Einar Schleef. Werk und Person, Berlin: Theater der Zeit. Benne, Christian (2012): »Theorie der Kleinstadt: Versuch über, mit und für Keller und Walser«, in: Ursula Amrein/Wolfram Groddeck/Karl Wagner (Hg.), Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser, Zürich: Chronos, S. 147-168. Domdey, Horst (1983): »Abkehr von der Fürstenaufklärung«, in: Paul Gerhard Klussmann/Heinrich Mohr (Hg.), Probleme deutscher Identität. Zeitgenössische Autobiographien. Identitätssuche und Zivilisationskritik, Bonn: Bouvier, S. 3565. Feldhaus, Timo (2010): »Deutsche Söhne. Guck dich mal um«, in: De:Bug 146, S. 58-61. Fühmann, Franz (1991): Im Berg. Texte und Dokumente aus dem Nachlaß, Rostock: Hinstorff.

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Hackert, Halina (2012): Sich Heimat erschreiben. Zur Konstruktion von Heimat und Fremde in Einar Schleefs »Gertrud«, Berlin: Kadmos. Hüppauf, Bernd (2005): »Die Kleinstadt«, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. Und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 303-315. Ilf, Ilja/Petrow, Jewgeni (2014): Das eingeschossige Amerika. Eine Reise mit Fotos von Ilja Ilf in Schwarz-Weiß und Briefen aus Amerika, Berlin: Die andere Bibliothek. Petras, Armin (2006): »die sprache der steine… und wir haben keine. Zum fünften todestag des künstlers einar schleef«, in: Berliner Zeitung vom 21.7.2006, S. 18. Schleef, Einar (1980): Gertrud, 1. Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (1981): Zuhause, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (1984) Gertrud, 2. Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2004): Tagebuch 1953-1963 Sangerhausen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2006): Tagebuch 1964-1976 Ostberlin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2009a): Tagebuch 1981-1998 Frankfurt am Main – Westberlin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2009b): Tagebuch 1999-2001 Berlin – Wien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schleef, Gertrud/Schleef, Einar (2009): Briefwechsel 1. 1963-1976, Berlin: Theater der Zeit.

Hilbigs Meuselwitz Von der schwierigen Beziehung zwischen einer Kleinstadt und ihrem größten Dichter B IRGIT D AHLKE fern brennt gras zwischen eisenbahnschwellen und vögel taumeln im glutdunst besessen lauern die kohle das wasser unterm gras auf das feuer WOLFGANG HILBIG: DAS MEER IN SACHSEN (WHW 1: 83)

»D AHEIM «? Als Max Wolfgang Hilbig am 31. August 1941 in Meuselwitz, einem Industriestädtchen im sächsisch-thüringischen Braunkohlerevier vierzig Kilometer südlich von Leipzig, geboren wird, ist der Vater an der Front. Die Mutter bewohnt ein Zimmer im Haus ihrer Eltern. Kazimierz Startek, der Vater seiner Mutter, war vor dem Ersten Weltkrieg aus einem Dorf im Bezirk Bilgoraj in der Nähe von Lublin nach Meuselwitz gekommen. Da der Großvater als Bergmann unter Tage arbeitete, hatten die Familienangehörigen während des Krieges das Recht, bei Fliegeralarm in die Kohlenschächte zu flüchten, die sicherer waren als Luftschutzbunker. Im Nachhinein wird der Autor diesem Umstand eine symbolische Dimension verleihen: »So bin ich schon als Zwei- oder Dreijähriger Hunderte Meter tief unter die Erde gefahren, auf dem Höhepunkt der Luftangriffe mehrfach in einer Nacht; und ich weiß nicht, was prägender auf mich gewirkt hat: die Unruhe dieser Zeit, die später, notwendig vielleicht, zur

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Unbeweglichkeit geführt hat, oder die bewegungslosen Familienverhältnisse, die irgendwann in Unruhe umschlugen.« (Hilbig 1994: 11)

Auch wenn Hilbig die längste Zeit seines Lebens, die er überhaupt an ein und demselben Ort lebte, in seiner Geburtsstadt Meuselwitz verbrachte, hat er für die Kleinstadt nie wirklich Heimatgefühle aufbringen können. Dem Begriff Heimat begegnete er skeptisch. Die Gegend, in der man geboren sei, könne man sich schließlich nicht aussuchen, und ein moderner Autor solle den ideologisch belasteten Begriff eher vermeiden. Konkret nach Meuselwitz gefragt, antwortet er, daheim sei es ihm immer unheimlich erschienen. Ein Schlüsselsatz.

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IM

U MGANG MIT »M.«

Seine Geburtsstadt ist als »M.« in die deutsche Literatur eingegangen. Natürlich ist die Fiktion »M.« nicht mit der von 12.000 Einwohner/innen bewohnten Stadt Meuselwitz an der Schnauder zu verwechseln. Und natürlich nehmen die Meuselwitzer/innen bis heute auf diese feine Differenzierung keine Rücksicht. Der kleinstädtische Stolz kümmert sich wenig um Prämissen literarischer Fiktionalisierung, dazu braucht es nicht einmal die lang anhaltende Leseschule des sozialistischen Realismus. Die meisten Meuselwitzer/innen finden Hilbigs Texte allesamt unverständlich und die Spuren ihrer Stadt darin viel zu unvorteilhaft. Noch der BüchnerPreisträger Hilbig wird von ihnen nicht als Dichter von Rang wahrgenommen, sondern als Heizer, schrulliger Einsiedler und Trinker (hatte er doch lange mit seiner Alkoholkrankheit zu kämpfen). Dem Interesse der internationalen HilbigGemeinde an Ort und Landschaft seiner Herkunft stehen sie ambivalent gegenüber: stolz, empfindlich und abschätzig zugleich. Als ich im September 2011 auf Einladung der Bibliothekar/innen der Meuselwitzer Stadtbibliothek meine HilbigBiographie (Dahlke 2011) in der wunderschön rekonstruierten Orangerie von Meuselwitz vorstellte – die Veranstaltung war dem 70. Geburtstag des Autors gewidmet und Teil eines Stadtfests – war der Saal voll. Die über neunzigjährige Mutter und Hilbigs Tochter saßen in der ersten Reihe, die Stadtprominenz war ebenso vertreten wie frühere Schulkameraden und Sportfreunde, der Direktor der Schule, Arbeitskolleg/innen und Freunde. Noch vier Jahre nach seinem Tod nahmen viele im Publikum nur ungläubig zur Kenntnis, dass ihrem Mitbürger große Literaturpreise gewidmet wurden, dass Filmemacher und Fotografen allein wegen ihm in ihre Stadt kamen. Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2007 hatten die Kleinstadt und ihr bedeutendster Dichter nicht zueinander gefunden. Nur zweimal war es zu Lesungen in der Meuselwitzer Stadtbibliothek gekommen. Dabei war es eben diese kleine Bibliothek gewesen, deren zur DDR-Zeit beeindruckend gute Ausstat-

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tung ihm den ersten Zugang zur Welt der schönen Literatur ermöglicht hatte. Als die Stadt ihm nach der Verleihung des Büchner-Preises im Jahr 2002 eine Ehrenmedaille stiften wollte, hatte sich Hilbig gefreut. Wegen einer Äußerung zum Irakkrieg zog sich die Einladung zur Übergabe so lange hin, bis der Autor sie ignorierte. Erst nach seinem Tod nahm die Tochter die Medaille in Empfang. Die ersten siebenunddreißig Jahre seines Lebens hatte Hilbig, außer wenn er auf Montage war, in der Wohnung seiner Mutter in Meuselwitz, Rudolf-BreitscheidStraße 19b gewohnt. Das für Bergarbeiter bestimmte Doppelhaus im Besitz der Bergbaubehörden wurde 2005 abgerissen. Jugendfreunde Hilbigs um Volker Hanisch und Dieter Kalka hatten seit 2001 versucht, die Stadtoberen für eine Gedenktafel vor Hilbigs Geburtshaus zu gewinnen. Eine Lehrerin der Grundschule führte Hilbig-Gedichte mit Drittklässlern auf, um Schulleitung und Eltern für eine Gedenktafel an Hilbigs ehemaliger Schule zu gewinnen. Sie wurde schließlich privat finanziert. Die vorläufig letzte Provinz-Posse war der Brief der Stadtverwaltung vom 12.01.2017, die auf eine Initiative der seit 2011 bestehenden HilbigGesellschaft zur Schaffung eines Gedenkortes erst ein Jahr mit Ignoranz reagierte und schließlich zu folgendem Beschluss kam: »Ihr Anliegen zur Errichtung eines Gedenksteines für Wolfgang Hilbig wurde durch die Stadtverwaltung unter Hinzuziehung des Stadtratausschusses für Kultur, Umwelt und Soziales besprochen. Wenn der Gedenkstein durch die MIBRAG gesponsert werden würde, erlaubt es die Haushaltssituation der Stadt Meuselwitz derzeit nicht, für die Vorbereitung des Standortes, das Setzen des Steines und die Gravur der Gedenkplatte finanzielle oder materielle Mittel bereitzustellen. Die geschätzten Kosten belaufen sich cirka [sic] auf 1270,00 Euro.«

Die Hilbig-Gesellschaft hatte den Braunkohlenförderverein MIBRAG dafür gewonnen, einen Gedenkstein zu stiften, sie war bereit, sich um Einweihung und Gravur zu kümmern.

B IOGRAPHISCHE F AKTEN Nach der achten Klasse hatte Hilbig von 1956 bis 1959 in der Lehrwerkstatt der Meuselwitzer Werkzeugmaschinenfabrik den Beruf des Bohrwerkdrehers erlernt. Das Facharbeiterzeugnis ist auf den 31. August 1959 datiert, seinen 18. Geburtstag. In der häuslichen Enge verfügte er nie über ein eigenes Zimmer, auch nicht während der Pubertät. Lange schlief er im Doppelbett neben der Mutter, nach dem Tod der Großmutter neben dem Großvater. Marianne Hilbig, obwohl Mitglied der SED, schickte den Jungen zum Konfirmandenunterricht. Eine Ausgabe des Neuen Testaments und einiger Psalmen, 1953 von der Evangelischen Haupt-Bibelgesell-

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schaft herausgegeben und mit einem Konfirmandenspruch für ihn versehen, findet sich in Hilbigs Nachlassbibliothek. Im Interview mit Günter Gaus äußerte der Autor 2003, der Pfarrer sei der erste gewesen, der ihm eine Zukunft als Schriftsteller vorausgesagt habe, nach der Lektüre einer Strafarbeit: einer kleinen Abhandlung zum Auszug der Israeliten über das Rote Meer. Die SELBSTVORSTELLUNG, um die Hilbig 1991 anlässlich seiner Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gebeten wurde, ließ er mit der Enge seiner Herkunft beginnen: »Meinen Vater habe ich nicht kennengelernt, er wurde schon 1942 bei Stalingrad als vermisst gemeldet, und ich wuchs in der Wohnung meiner Großeltern mütterlicherseits auf, mit meiner Mutter zusammen, die nicht auszog, weil sie auf die Rückkehr ihres Mannes wartete: sie wohnt noch heute in derselben Wohnung, wenn ich dort zu Besuch bin, schlafe ich noch heute in dem Bett, in dem ich wahrscheinlich auch geboren wurde« (Hilbig 1994: 11).

Im April 1962 wurde Hilbig für eineinhalb Jahre zur Nationalen Volksarmee eingezogen. Ein Brief des Wehrpflichtigen an die Mitglieder seines Sportvereins führte am 19.12.1962, ein halbes Jahr, nachdem er geschrieben wurde, zu einem ersten Ermittlungsauftrag des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Schwejksche Beschreibung seines Armeealltags in Wolfen eröffnet neun Mappen mit Berichten über Hilbig, die sich heute im Berliner Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes befinden. Der Einundzwanzigjährige legte es darauf an, sich nicht einschüchtern zu lassen. Sarkastisch beschreibt er Verhaltensweisen seiner Vorgesetzten, in denen er Traditionen der Wehrmacht wiedererkennt. Der Brief endet eulenspiegelnd mit einem Verweis auf Überwachung und Denunziation: »Sollte aufgrund dieses Briefs festgestellt werden, daß ich Gedanken hatte, die in den Bereich des Strafergänzungsgesetzes Paragraph 19, Abschnitt 1, Ziffer 2 fallen, so bitte ich, den Staatssicherheitsdienst nicht zu benachrichtigen. Ich nehme das hiermit alles zurück.« (Hilbig 1962)

In den frühen siebziger Jahren traf sich in Meuselwitz eine Gruppe Schreibender. Für Lutz Nitzsche-Kornel, den späteren Lektor Volker Hanisch und für den Liedermacher Dieter Kalka stellte Hilbig schon damals eine Autorität dar, nicht nur, weil er der Älteste in diesem Kreis war. Auch mit dem erst sechzehnjährigen Abiturienten Tom Pohlmann ging Hilbig auf eine freundlich-gleichberechtigte Art um. Solche Anerkennung war umso wichtiger, als in einer Kleinstadt wie Meuselwitz Gedichteschreiben als feminin galt, wie Tom Pohlmann im Gespräch mit Karen Lohse formulierte (Pohlmann 2008: 130). Die kleinstädtische Mentalität bildet eine der wesentlichen Rahmenbedingungen des Hilbigschen Schreibens. In dem stets

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überschaubaren kulturellen Raum brauchte es eine Menge Courage, etwas zu tun, das nicht allgemein üblich war. Man hörte Jimi Hendrix, Leonhard Cohen und Bob Dylan und las eingeschmuggelte Westliteratur. Hatte jemand im Antiquariat ein Exemplar eines in der DDR nicht gedruckten Werks ergattert, ging es von Hand zu Hand. Mitte der siebziger Jahre zogen mehrere Leute aus dem Meuselwitzer Kreis zum Studium nach Leipzig, während Hilbig durch seine Arbeit an die einengende Kleinstadt mit ihrem hohen Grad an sozialer Kontrolle gebunden blieb. In dem Gedicht ABWESENHEIT von 1969 heißt es: »wie lang noch wird unsere abwesenheit geduldet keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind wie wir in uns selbst verkrochen sind in unsere schwärze nein wir werden nicht vermisst wir haben stark zerbrochne hände steife nacken ⎯ das ist der stolz der zerstörten und tote dinge schaun auf uns zu tod gelangweilte dinge ⎯ es ist eine zerstörung wie sie nie gewesen ist« (WHW 1: 51)1

Die lokale Apathie wird hier zur Metapher des existenziellen wie auch sozialen Daseinszustands. Zum Geist dieser Zeit gehört in einer Kleinstadt der DDR erschwerend auch noch ein enormer Konformitätsdruck. Dies zeigt sich etwa in einer Mitteilung des Volkspolizei-Kreisamts Leipzig vom 17.3.1973 an den Leiter des Werkzeugkombinats Fritz Heckert, Betrieb Meuselwitz, über eine Ordnungsstrafe in Höhe von 50 Mark: »Der in Ihrem Betrieb als Heizer beschäftigte Bürger Hilbig entwendete am 16.03.1973 im Messehaus am Markt, 701 Leipzig, Markt 16, das Buch ›Orlando‹ vom Stand eines kapitalistischen Ausstellers. […] Sie werden ersucht, das Verhalten des Hilbig in Ihrem Betrieb auszuwerten.« (BStU, MfS, AOPK Leipzig, Nr. 302/88, Band 1, Blatt 000095)

Dazu gehören – weniger witzig – die vielen Spitzelberichte von Arbeitskollegen, Nachbarn, selbst Angestellten der Kirchenverwaltung Altenburg (BStU, MfS, 0082). 1

Im Folgenden wird mit dem Kürzel ›WHW‹ auf die Werkausgabe, herausgegeben von Bong/Hosemann/Vogel (2008ff.), verwiesen.

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»Aktennotiz. Altenburg, 21.11.77. Am 18.11. hatte der IMV Musikant auf der DE angerufen und verlangte einen Rückruf von Unterzeichneten. [sic] […] Der IMV teilte folgendes mit. Er hat am 13.11. gegen 17.50 auf der Post in Meuselwitz beobachtet, daß der Hilbig Wolfgang einen Einschreibebrief als Eilsendung an die Adresse Karl Corino Frankfurt/Main Postfach 3111 aufgegeben hat. Der IMV war mit dem H. allein am Schalter. Der Brief wurde gewogen und hatte Übergewicht aber normales Format. Kraske, Hauptmann«. (BStU, MfS, AOPK Leipzig, Nr. 302/88, Band 1, Bl. 000108)

Am 22.3.1992 stellte Hilbig einen Antrag auf Einsichtnahme in die ihn betreffenden Akten. Im Nachlass findet sich eine handschriftliche Liste mit Aktenzeichen des Archivs der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes und mit den Pseudonymen von mehr als 20 IM aus Meuselwitz, Altenburg, Leipzig und Berlin. Die Fragezeichen und Anmerkungen Hilbigs (»Wer ist …?«) lassen vermuten, dass er sich Klarheit darüber verschaffen wollte, wer aus seinem näheren Umkreis unter den Spitzeln war (Akademie der Künste, Wolfgang-Hilbig-Archiv, Signatur 687, nicht datiert). Dass er diejenigen zur Rede gestellt hätte, ist eher unwahrscheinlich. Konflikte direkt auszutragen, war nicht seine Art. Bis 1980 hatte der Autor im Schichtdienst als Heizer gearbeitet und nachts geschrieben, bis 1978 im Kesselhaus der Gießerei Bünauroda und in Mumsdorf, im Betriebsteil 6 der Meuselwitzer Maschinenfabrik. 1976 waren sieben Gedichte von ihm in der westdeutschen Zeitschrift L76 erschienen, unmittelbar darauf waren sie samt Gespräch mit dem Autor im Hessischen Rundfunk in Karl Corinos Sendung TRANSIT. KULTUR IN DER DDR zu hören. Auch sein Debüt erschien schließlich 1979 nur im Westen, unter dem sprechenden Titel ABWESENHEIT. Da war seine Abwesenheit in der DDR noch immer nur unter Eingeweihten ein Thema; das sollte sich erst mit Franz Fühmanns Kontaktaufnahme zu Hilbig ändern. Kurz nachdem 1980 auf dessen Vermittlung hin acht seiner Gedichte in der Zeitschrift SINN UND FORM erschienen, beantragte Hilbig eine Steuernummer und konnte nach zwei Jahrzehnten Arbeit in der Industrie ab November als freischaffender Autor leben. Auf die Publikation im Westen reagierte der DDR-Staatsapparat mit Restriktionen: Die Überwachung wurde intensiviert und nach Feierlichkeiten zum 8. Mai 1978 wurde er unter dem falschen Vorwand, er habe eine DDR-Fahne verbrannt, verhaftet. In der kleinstädtischen Ereignislosigkeit bot dies den nötigen Skandal, um unabhängiges Denken/Schreiben und unangepasstes Verhalten zu kriminalisieren. Nach der Entlassung am 27. Juni wurde die Anklage unter Zahlung einer Haftentschädigung von 2000 Mark fallengelassen. Dieselben 2000 Mark wurden ihm dann ein Jahr später wieder abgenommen, wegen »Devisenvergehens«. Angesichts des Charakters der Öffentlichkeit in der DDR dieser Zeit lässt sich vorstellen, dass ins kollektive Gerüchte-Gedächtnis der Kleinstadt vor allem die Haft als angeblicher

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Fakt einging, nicht jedoch deren politische Hintergründe und auch nicht die Rehabilitierung des Verhafteten.

E IN FOTOGRAFISCHER B LICK AUF DAS M EUSELWITZ DES D ICHTERS 1983, als Hilbig der Brüder-Grimm-Preis der westdeutschen Stadt Hanau zugesprochen wurde, wollte ein Westfernsehsender für ein Porträt des Dichters in der Kleinstadt drehen. Er bekam keine Erlaubnis. Als Ersatz wurde eher zufällig der damals noch unbekannte Leipziger Fotograf Dietrich Oltmanns angesprochen, er lebte in der Leipziger Nachbarschaft Hilbigs und hatte den Dichter eben erst kennengelernt. Im November 1983 reiste er mit Hilbig für einen Tag in dessen Mutterstadt. Obwohl Oltmanns zu diesem Zeitpunkt erst wenige Gedichte Hilbigs gelesen hatte, entwirft seine Fotodokumentation WOLFGANG HILBIG IN MEUSELWITZ 1983 ein biographisches Stimmungsbild, dessen innere Verwandtschaft mit Lyrik und Prosa des Autors nicht zu übersehen ist. Hier trafen zwei Künstler aufeinander, die eine Perspektive teilten. Oltmanns hebt an den Häusern der Gegend hervor, dass sie verfallen, er semantisiert ihre Industriebauten als Ruinen und ihre Ebenen als Brachen. Schienen sind verrostet und führen in ein beunruhigendes Nirgendwo, Aschehalden und Schuttberge erzeugen den Eindruck, die Gegend sei von Menschen längst verlassen. Die Reihe der 23 Schwarz-Weiß-Bilder rekonstruiert Arbeitswege des Autors auf eine Weise, welche die Einsamkeit des Gehenden szenisch nachvollzieht. Der Fotokünstler versucht, Stadt und Landschaft aus Hilbigs Perspektive zu betrachten. Man sieht nicht nur den Schreibplatz am Küchentisch, sondern auch den Blick aus der Enge der mütterlichen Wohnung hinaus zum Stadtrand der Industriesiedlung. Weite Ebenen, überwachsene Feldwege, tote Gleise und riesige Rohrleitungen ergeben eine moderne Landschaft der Melancholie. Die Bildreihe bleibt nicht Illustration von Literatur, sie wird selbst Metapher, künstlerische Verdichtung einer Atmosphäre.

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Abbildung 1 und 2: 1983 in Meuselwitz

Dietrich Oltmanns: WOLFGANG HILBIG IN MEUSELWITZ, 1983

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Auch nachdem Hilbig 1985 in den Westen übersiedelte, zunächst nach Hanau, dann nach Nürnberg, besuchte er seine Mutter regelmäßig. In seinen Stasi-Unterlagen sind unzählige Ein- und Ausreisen akribisch protokolliert, sein Reisepass enthält dreißig Stempel über die Ein- und Ausreise.

»M.« So wenig Meuselwitz und »M.« identisch sind, so wenig ist der imaginäre Ort beliebig austauschbar, ist doch darin die persönliche Erfahrung einer Sozialisation in der Nachkriegsprovinz ebenso enthalten wie die bildmächtige Kreativität und die Lust des Autors an der literarischen Übertreibung. Sicher hat die Tagebaulandschaft von Böhlen oder von Regis-Breitingen in der Nähe Altenburgs in Hilbigs Texten prägendere Spuren hinterlassen als seine Geburtsstadt im engeren Sinne. In bizarrer Anschaulichkeit erscheinen darin verlassene Braunkohlehalden, versumpfende Reste von Wäldern, Dörfern und Städten, zerstörte Fabriken und stinkende Flusskloaken. Hilbigs literarische Phantasie nimmt atmosphärische Kindheitserinnerungen auf und schwärzt sie lustvoll. Die wuchernde Natur verkörpert eine Vitalität, die der Autor den menschlichen Helden seiner Schattenszenarien niemals zugesteht. Bereits seine erste Kurzgeschichte AUFBRÜCHE (1968) wurde von Motiven durchzogen, die sich nicht mehr verlieren sollten: dem toten Kanalarm in verwilderter Landschaft, der zaudernden und von Müdigkeitsanfällen immer wieder unterbrochenen Bewegung des Erzählers sowie dem Versinken in Tagträume vom Aufbruch, um der Ödnis des Vergessens zu entkommen. In dem Langgedicht mit dem schön paradoxen Titel DAS MEER IN SACHSEN (1977) kontrastiert Hilbig die Zwangsläufigkeit mächtiger äußerer Ereignisse mit menschlichen Handlungsalternativen. Der Beschreibung von schicksalhaft hingenommenen Erdrutschen und politischen Stürmen sind lapidare Kommentare nachgestellt: »es ist ruhe doch sachsen / sinnt gottes sonntag zu ändern«. Hilbig lädt die versehrte Industrielandschaft auf, indem er geologische Katastrophen des Tertiärs aufruft, welche »das meer in die kohle in sachsen« gepresst hätten (WHW 1: 81). Historische Katastrophen werden in die Natur- und Ruinenlandschaft eingetragen: »wellenkämme des abraums« kreuzen sich mit dem »sperrfeuer / vorüberflammender frontscheiben», verödete Tagebaue und Kohlestaub mit »luftschutzbunker« und »kriegsruinen«. Das Gedicht kreist um die Folgen menschlichen Eingreifens in die Natur und um die Vorahnung einer kommenden Katastrophe. »Geschwätzig vor Trauer« lautet die Eingangszeile in der im selben Jahr entstandenen Erzählung ÜBER DEN TONFALL (WHW 2: 70). Trauer zu artikulieren, darin sieht der von Nachtschichten übermüdete schreibende Heizer dort seine Aufgabe, ohne dass wir erfahren würden, worum zu trauern wäre.

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In DAS MEER IN SACHSEN könnte es die Trauer um eine uneingelöste Alternativgeschichte der Region sein, um die Passivität seiner Bewohner. In der Gestalt von Kohle (als Speichermedium) und Wasser ragt Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Geöffnete, aber nie geschlossene Klammern im Text weisen auf den rein rhetorischen Charakter des Gedankenspiels vom Aufbegehren gegen die angeblich gottgewollte Ordnung hin, mehrfach werden Varianten einer anderen Natur- und Sozialgeschichte angedacht, nie werden sie zu Ende geführt. Abbildung 3: Brikettfabrik in Meuselwitz 1983

Dietrich Oltmanns: WOLFGANG HILBIG IN MEUSELWITZ, 1983

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Dokumentiert sind Bombenangriffe der Alliierten auf Meuselwitz am 30. November 1944 und am 20. Februar 1945, wobei 250 Einwohner ums Leben kamen und die gesamte Altstadt zerstört wurde. Ziel waren vermutlich die Betriebe des Rüstungskonzerns der Hugo-Schneider-AG (HSAG) am Stadtrand. Dort arbeiteten Häftlinge des KZ Buchenwald, die in einem Außenlager gefangen gehalten wurden. Nach Kriegsende, als erst die amerikanische, dann die sowjetische Armee den Ort besetzte, fand man in einem stillgelegten Tagebau die Überreste von 136 Lagerhäftlingen und Zwangsarbeitern. Die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlässt im überschaubar kleinteiligen Landschaftsraum Spuren, die unvermittelter nachwirken als in größeren topographischen Einheiten. Die vom Kind direkt und indirekt erlebten Vorgänge sind, ebenso wie das angstbesetzte Schweigen der Erwachsenen, unübersehbar in Hilbigs Dichtung eingegangen. In der Erzählung DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (1994) findet Waller − ein Autor mit Schreibblockade − sich selbst und, wie es heißt, auch seinen Text erst auf der Müllhalde am Rande der Stadt wieder. In der Nähe der Müllmänner, deren Arbeit »der dauernde Umgang mit dem Material der Vergangenheit« (WHW 3: 249) ist, bekommt der orientierungslose Schriftsteller wieder Boden unter die Füße. Er hat »immer das Gefühl, auf verbrauchter Materie zu gehen, auf ausgebrannten Stoffen, auf Schlacken, auf Asche, auf Abraum« (ebd.: 210). Im Versuch, dem alles beherrschenden Vergessen um ihn herum entgegen zu arbeiten, wird er ihnen immer ähnlicher. Mit zunehmendem Alter wird Hilbig, wie viele Autoren, immer unvermittelter auf die Welt seiner Kindheit zurückkommen. Eine der späten Erzählungen, ORT DER GEWITTER (2002), erzählt von der Kindergruppe »unserer Straße«: »Es mangelte zu dieser Zeit an Männern in der Stadt, die meisten der Kinder waren vaterlos, viele von ihnen blieben es für immer; die Zeit, die nicht vergehen wollte, lag auf ihnen wie ein Gewicht, das ihrem Wachstum hinderlich war. Was allein von der Langeweile befreien konnte, das war jenes Wachsen, das Großwerden, das alle anderen schon seit unberechenbarer Zeit erreicht hatten und worüber sie kein Wort mehr verloren. […] Väter, deren Stolz es war, daß man ihnen nachwuchs, gab es nicht.« (WHW 2: 613)

Der Autor beschreibt das Einzelkind, das im Bett des Vaters schläft, während es von ihm nur ein verblichenes Porträtbild mit Stahlhelm kennt. Der Stellvertreterposition ist der Junge erwartungsgemäß nicht gewachsen, die Verwechslung mit dem Vater wird in DIE WEIBER (1987) als verhängnisvoll beschrieben. Das Ich, das sich, wie es dort heißt, seiner selbst zu erinnern sucht, kehrt am Ende eines assoziativen Erzählstroms räumlich zu einem Müllberg und gedanklich zum Ausgangspunkt der eigenen Geburt zurück. Die alptraumhafte Szene lässt bereits die Geburt des IchErzählers als bedrohliche Verwechslung erscheinen. Als Gebärende, und das ist in unserem Zusammenhang von Interesse, wird die Stadt (!) imaginiert:

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»Dort unten, im Süden, meine Stadt, die meinen genialen Eisprung inszenierte. Die mich ausspie in der Hitze des Sommers, mit dem Schauer eines durstigen Schreis, mit dem Aufklatschen eines Blindgängers in den Schlamm, ich war es, der geboren wurde in einem Platzregen von grünem Fruchtwasser… meiner Stadt aber wurde mein Vater geboren, […] während die Geburt mich verschlang und würgte, würgte, drosselte, nach mir biß und mich dennoch endlich ausspie… die Geburt meines Vaters verwechselte ihren Auswurf, ich war es, den sie erbrach« (WHW 3: 101f.).

Die surrealistisch anmutende Sequenz versammelt mehrere für Hilbigs Texte zentrale Motive: Müll, Durst, Schlamm, Wasser, Grün. Statt geboren wird ausgespien und erbrochen. Noch im Aufbegehren ist der so gewaltsam Ausgeworfene an Stadt und Vater gebunden und bedient sich der väterlichen Symbole: »Verdammte Stadt, ich werde dich mit dem Schwanz meines Vaters besingen, verdammtes Land, ich werde dich mit mir übergießen, ich werde deine Mauer anwichsen, ich« (ebd.: 102).

Noch bis weit in die siebziger Jahre hinein waren Reste der Ruinen des nach Eintreffen der Roten Armee 1945 gesprengten Lagers bei Meuselwitz stehen geblieben, unmittelbar nach Kriegsende hatten sich einheimische und Umsiedlerkinder darin erbitterte Kämpfe geliefert. Der Prosatext DIE EINFRIEDUNG (1979) enthält eine Passage, die beschreibt, wie der Krieg bis in die Spiele der Kinder hineinwirkt. In der Schule wird ihnen im Namen einer Erziehung zum Frieden alle Mündigkeit ausgetrieben, draußen rotten sie sich »zu neuen, kindlichen Kriegen« gegen die Flüchtlingskinder zusammen (WHW 2: 94). Kriegsruinen, die von der Natur überwuchert werden, formen den Horizont der Kindheit. Der Frieden trägt die Spuren der vorangegangenen Gewalterfahrungen aller. Ein Motiv, das sich bis in Hilbigs letzte Gedichte zieht, ist der unheimliche, rätselhaft kontaminierte Wald, »darin ich aufwuchs wie ein Tümpelkraut« (WHW 1: 181). Bereits die Nachlass-Erzählung SCHLÄFRIGES GRAS (1968), welche mit dem Satz »Wir sind eine müde Generation« anhebt, lässt den Ich-Erzähler über den Dächern der Stadt Rauch wahrnehmen, »fette(n), süßliche(n) Rauch«, den kein anderer sieht (WHW 2: 644). »Eine lange Reihe trauriger Menschen, […] Männer, Frauen mit kahlgeschorenen Köpfen, alle in gestreiftes Leinen gekleidet, alle einen gelben Stern auf der Brust« (ebd.: 645) sieht nur er schweigend und schattenhaft durch die Straße ziehen, auf der Leute schlendern und lachen. Im Traum wird ihm die Überlagerung beider Zeiten und Erfahrungswelten sichtbar, doch nur er bemerkt »etwas Furchtbares, den Grund allen Grauens vielleicht« (ebd.). Die Ahnung davon, dass die Gegenwart von den Verbrechen der Vergangenheit vergiftet ist, führt dazu, dass dem Protagonisten einer Erzählung von 1984 mit dem sprechenden Titel FESTER GRUND eben jener Grund in eine unaufhaltsame Schräglage gerät, sich ihm

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die Zukunft schließlich als Abgrund zeigt. Die Rampe, das Haar und der Müllplatz werden zu Allegorien und Metaphern eines historischen Gedächtnisses, das seinen Ausgangspunkt im regional und biographisch Konkreten nimmt: Die alte Abdeckerei, die in der gleichnamigen Erzählung von 1991 thematisiert wird, gab es wirklich; die in den siebziger Jahren abgerissene Tierkörperverwertungsanlage befand sich am Rande von Meuselwitz. In der literarischen Verdichtung gibt der Autor der Abdeckerei den Namen eines stillgelegten Kohlenschachts in der Nähe, Germania II. Die Übertragung des Wortes »deportiert« auf den Schlachtplatz für Tiere macht aus dem grausigen Erinnerungsort der Kindheit einen Ort nationalsozialistischer Verbrechen. Wer Verdrängtes gegen vielfältige Widerstände zutage fördern will, wird von dem damit verbundenen Kraftakt für immer gezeichnet. Die nächtlichen, scheinbar ziellosen Traum-Expeditionen führen ihn in eine Landschaft »voll eines Wissens um Vergangenheiten, die für begraben galten« (WHW 3: 195). Sie, die Vergangenheiten, hinterlassen Spuren, verwandeln den Erzähler, lassen ihn rasant altern: »Es war, als müsse ich mich mühsam aus solchen Nächten zurückverwandeln, so als sei ich in rasender Eile alt geworden, in ein Alter verwandelt worden, das ich nicht hinnehmen durfte: dort in dem Wäldchen, wo die Opferstatt der deportierten Tiere lag, war ich in einen Mitwisser verwandelt worden, in den Teilhaber eines Tausendjährigen Reichs und seiner Historie, jetzt war ich selbst einer dieser traumlos lebenden, verstockten Greise« (ebd.: 167).

Über die Rhetorik des Alterns wird Schuld in den Körper des Protagonisten hineingeschrieben, er altert viel zu schnell, sein Körper ›wird‹ Zeit. Der Erzähler spürt einen Zwang, zum vergessenen Kindheitswissen zurückzukehren, umso mehr, als seine Umgebung nichts wissen will: »Niemand wußte, was die Schatten gewesen waren« (ebd.: 197). Dieses »Niemand wußte« wird so oft wiederholt, bis es als Formel der Leugnung erkennbar wird und der Erzähler urteilt: »Sie wußten es«, »alle wußten sie« (ebd.: 199). Da »Niemands Sippe« nicht einmal von ihrem Unwissen weiß, gibt sich der Schreibende den Auftrag, dem Wissen der Landschaft seine Stimme zu leihen. Die Bewegung führt ihn »in die Nacht der Kohle, mit den Wassern schreibend in die Nacht der Kohle, unsichtbar, und flüsternd, zirpend in die Finsternisse, mit den Wassern wissend, wie der sterngestirnte Stierfluß flüchtend, dünend unterm Dach der finsteren Wolkendecke, weit ins Ferne fließend.« (Ebd.: 200)

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»D AS V ERHÄNGNIS ,

DAS ICH

M.

NANNTE «

So ironisch die Rede von »M.« als »Verhängnis« auch anmutet, dem Kenner von Hilbigs Werk wird sie einleuchten. Die Zerrissenheit zwischen Fluchtreflex aus der Kleinstadt und Verbundenheit mit seiner Herkunftslandschaft, zwischen Sehnsucht nach Ankunft und erfahrener »Abwesenheit« begleitet Hilbig seit der Jugend. In der Erzählung DER NACHMITTAG von 1995, aus der diese Zeile stammt, wird eine Rückkehr erzählt, die im Augenblick ihrer Realisierung zurückgenommen, bedauert wird. Der durch bedrückende Flashbacks mäandernde Text zeichnet eine Negativspirale nach, die immer enger und erstickender wird. Der Ich-Erzähler berichtet von seinen unzähligen Versuchen, »das Verhängnis, das ich M. nannte, in Wörter und Sätze zu zerlegen, um zu einer Klarheit darüber zu kommen« (WHW 2: 538). Immer wieder scheitert er daran, so muss er konstatieren. Warum er dennoch wieder und wieder nach M. zurückkehrt, wird in einer Liebeserklärung an den heimischen Küchentisch deutlich, die man aufgrund ihres sachlichen Tons beinahe übersieht: »Wenn ich die Stadt M. aufsuchte, dann wollte ich nichts, als so schnell wie möglich zurückkehren unter eine brennende Lampe, die über einem Küchentisch hing, in einer winzigen verqualmten Wohnküche, die mir von Kindheit an bekannt war.« (Ebd.)

Was folgt, ist die liebevolle, jedoch keineswegs verklärende Beschreibung des Blicks aus den Fenstern zum Hof, der abblätternden Tapeten, des qualmenden Kohleofens, der porösen Leitungsdrähte der Lampe über dem Tisch. Diese seine »alte Höhle« ist vom Vorgang des Schreibens nicht zu trennen. Nur schreibend ist er dort für eine kurze Zwischenzeit zu Hause. Sobald der Schreibfluss stockt, kehrt er an diesen Küchentisch zurück und der Zirkel aus Sehnsucht und Fluchtimpuls beginnt von neuem. »[...] es ist etwas so Bekanntes in dem seifigen Geschmack der Luft, das mich gar nicht auf die Idee kommen lässt, meinen Weg in die Stadt hinein als Rückweg zu bezeichnen: ich denke nicht an ein Wiederkommen, ich bin niemals fort gewesen. Nein, ich habe die Stadt nie wirklich verlassen, ich bin manchmal bloß aus ihr geflüchtet: in Wahrheit war es die Stadt, die mich nie wirklich verlassen hat. Die Stadt hat mich für immer besetzt gehalten mit ihrer farblosen Verwüstung [...]. Hier ist dieses unabänderliche Gefühl von Abwesenheit herangewachsen, das ich erst richtig zu spüren bekam, wenn ich mich anderswo, mit dem halbwegs festen Entschluß zu bleiben, niedergelassen hatte. Es machte sich bemerkbar als ein Leben ohne Hintergrund, es war ein Zustand von Abgeschnittenheit, ein Zustand ohne Vergangenheit, doch ich hatte es an den Nachmittagen in der Kleinstadt gelernt, mich von der Vergangenheit abgeschnitten zu fühlen. Die Zeit bestand hier in zäher Unabänderlichkeit, die Nebel-

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bänke des Herbstwetters, zusammengeflossen unter einem erdfarbenen Himmel, schienen in Jahrzehnten nicht entweichen zu wollen. Und immer mehr Rauch schien sich aus der durchnäßten Tiefebene in die flachen Wolken zu ergießen, die am Nachmittag schon nächtlich waren.« (WHW 2: 535)

L ITERATUR Bong, Jörg/Hosemann, Jürgen/Vogel, Oliver (2008) (Hg.): Wolfgang Hilbig: Werke. Bd. 1: Gedichte, Frankfurt a.M.: Fischer. Dies. (2009) (Hg.): Wolfgang Hilbig: Werke. Bd. 2: Erzählungen und Kurzprosa, Frankfurt a.M.: Fischer. Dies. (2010) (Hg.): Wolfgang Hilbig: Werke. Bd. 3: Die Weiber/Alte Abdeckerei/ Die Kunde von den Bäumen. Frankfurt/Main: Fischer. Dahlke, Birgit (2011): Wolfgang Hilbig, Hannover: Wehrhahn. Hilbig, Wolfgang (1962): »Brief an die Turnerinnen und Turner der BSG Motor Meuselwitz«. BStU, MfS, AOPK Leipzig, Nr. 302/88, Bd. 1, Bl. 000070000080. Ders. (1994): »Selbstvorstellung (1991)«, in: Uwe Wittstock (Hg.), Wolfgang Hilbig, Materialien zu Leben und Werk, Frankfurt/Main: Fischer, S. 11-13. Ders. (2003): »Zur Person«. Fernsehsendung von und mit Günter Gaus. ORB 15.1.2003. Akademie der Künste, Berlin, Wolfgang-Hilbig-Archiv, Signatur Nr. 710. Pohlmann, Tom (2008): Gespräch mit Karen Lohse, in: Karen Lohse, Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biographie, Leipzig: Plattner, S. 129-130.

Ich danke Dietrich Oltmanns herzlichst für die Genehmigung zum Abdruck der Fotografien aus seiner Bildserie WOLFGANG HILBIG IN MEUSELWITZ, 1983.

Die Wahrheit der Provinz Christoph Hein und Bad Düben K ATRIN M AX

E INLEITUNG : D IE K LEINSTADT DER DDR-G ESELLSCHAFT ?

ALS

L EERSTELLE

Beschäftigt man sich als Literaturwissenschaftler mit einer auf den Kontext fokussierten Fragestellung, dann besteht eine mögliche Annäherung an das Thema darin, das allgemeine Schrifttum des untersuchten Zeitraums zu sichten. Dieses Vorgehen eröffnet einen Zugang zu den kulturellen Konzepten, den mentalen Einstellungen und Haltungen. Im hier vorliegenden konkreten Fall – der Darstellung der Kleinstadt im Werk Christoph Heins, dessen Handlung vornehmlich in der DDR spielt – gilt es folglich die Frage zu klären, welcher Begriff und welche Konzepte von Kleinstadt innerhalb des historischen Kontexts DDR anzutreffen sind. Die Konsultation der verschiedenen Lexika, Sachbücher, Nachschlagewerke usw. erbrachte dabei allerdings einen überraschenden Befund. Es fand sich nämlich so gut wie nichts zur Kleinstadt. »So gut wie nichts« heißt in diesem Fall: Ganz vereinzelt ist nachzulesen, dass man Städte einer Größe »bis 20.000 Einwohner« als Kleinstadt bezeichnen könne ([o.A.] 1976: 109).1 Auch in Wörterbüchern wie dem DUDEN taucht die »Kleinstadt« auf (Klien 1974: 237). Sonst allerdings findet sie keine Erwähnung. Daraus ist ersichtlich, dass der Begriff ›Kleinstadt‹ zwar bekannt war und man ihn in seiner umgangssprachlichen Verwendung (Städte bis 20.000

1

Mit der Setzung der Obergrenze bei 20.000 Einwohnern bezog man sich offensichtlich auf die Einteilung, wie sie seit den Statistiken des Deutschen Kaiserreiches (seit 1871) üblich ist. Allerdings erfolgt nach unten keine weitere Abgrenzung mehr für Landstädte (2.000 bis 5.000 Einwohner).

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Einwohner) als üblich und gebräuchlich auffasste. Bei der Beschreibung soziogeographischer Strukturen wird er indes nicht verwendet. Das fällt umso deutlicher auf, als die für die DDR-Gesellschaft postulierte Sozial- und Klassenstruktur mit der Opposition Stadt – Land operiert. Die DDR war laut Selbstverständnis ein Arbeiter- und Bauernstaat; und entsprechend wird nicht nur auf städtische und ländliche Siedlungsformen verwiesen, sondern es finden sich auch Artikel, die auf beides bezogen sind und dabei Gemeinsamkeiten wie Unterschiede (mit Blick auf die sozialistische Utopie) herausarbeiten. Bemerkenswert hinsichtlich der sozio-geographischen Bezüge ist, dass die Stadt dabei immer als Großstadt beschrieben wird (vgl. Berger 1978: 646-651; Böhme 1973: 834f.; [o.A.] 1976: 109-113). Dort hat die Arbeiterklasse als das proletarische Milieu ihren Lebensraum, während die »Klasse der Genossenschaftsbauern« auf dem Land siedelt (Böhme 1973: 404-406, 412f.). Als weitere Bevölkerungsgruppe wird in der DDR-Gesellschaft die als ›Intelligenz‹ bezeichnete soziale Schicht der Akademiker bestimmt. Diese ist ebenfalls der Großstadt zugeordnet (vgl. ebd.). Einzig die im Kontext des Kleinbürgertums beschriebene soziale Schicht der Handwerker erfährt keine eindeutige räumliche Festlegung (vgl. Böhme 1973: 332f.). Sie spielt für die beschriebene Sozialstruktur der DDR allerdings ohnehin eine untergeordnete Rolle (vgl. Hofmann 2003 und 2010; Max 2018). Was die Erläuterungen zur Stadt durch das Schrifttum der DDR betrifft, ist das Konzept der Großstadt maßgeblich. Dies führt so weit, dass keine Differenzierung von Klein-, Mittel- und Großstädten erfolgt, sondern die Stadt in ihren Strukturen als Großstadt konzipiert und somit lediglich im Kontrast zum ländlichen Siedlungsraum beschrieben ist. Exemplarisch sei auf den Eintrag »Stadt und Land« des KULTURPOLITISCHEN WÖRTERBUCHES verwiesen, der die Unterschiede historisch herleitet und von der »Rückständigkeit des Landes« im Vergleich zur Stadt spricht, welche durch Schlagworte wie »Monopolkapital« und »Großbourgeoisie« als Großstadt gekennzeichnet ist und auch in der eigenen sozialistischen Gesellschaft weiterhin als solche gedacht wird (Berger 1978: 648f.). Dass sich die Vorstellung von der Stadt als Großstadt im Kontext DDR nicht nur theoretisch, d.h. bezogen auf die verwendeten Konzepte und Begriffe ausdrückte, sondern auch ihren Niederschlag in der lebensweltlichen Realität fand, ist beispielsweise im Städtebau erkennbar. Neubauten waren auch in Kleinstädten von der Großstadt aus konzipiert. Im Gegensatz zur alten Bundesrepublik finden sich heute noch in Kleinstädten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Wohnsiedlungen

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in Typenbauweise, also Plattenbauten, die den Prämissen des sozialistischen Städtebaus folgten, ohne den Besonderheiten der Kleinstadt Rechnung zu tragen. 2 Die Kleinstadt als Kategorie wird also im DDR-Kontext hinsichtlich der Konzepte einer sozialistischen Gesellschaft nicht verwendet. Weder wird sie im schriftlich Fixierten für die postulierte Sozialstruktur des eigenen Landes erwähnt, noch finden bei der städtebaulichen Planung die Besonderheiten der kleinstädtischen Strukturen Berücksichtigung. Dass die Kleinstadt in diesem Sinne eine Leerstelle darstellt, erweist auch ein Blick ins Lexikon. Die DDR-Version von MEYERS NEUEM LEXIKON hat keinen Eintrag zur Kleinstadt (vgl. [o.A.] 1973: 559). Lediglich der zweiseitige Artikel zur »Stadt« erwähnt mehrere Möglichkeiten zur weiteren Differenzierung, wobei die Kleinstadt in äußerster Verknappung mit »Klein-S. (2.000 bis 20.000 Ew.)« als Möglichkeit der Unterscheidung nach »Einwohnerzahl und Bedeutung (Größe)« ohne weitere Erläuterung aufgeführt ist ([o.A.] 1976: 109, Hervorhebung im Original). Gerade die Erwähnung der »Bedeutung« hätte hier einer Erklärung bedurft. Stattdessen suggeriert der nachfolgende Eintrag zum »Städtebau« mit seiner Vielzahl von Bildern, dass die Stadt im Sozialismus in der Tat vornehmlich als Großstadt aufzufassen ist (ebd.: 112). Im Gegensatz dazu führt die zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik herausgegebene Ausgabe von MEYERS LEXIKON die Kleinstadt unter einem eigenen Eintrag und bestimmt ihr Wesen wie folgt: »5.000 bis 20.000 Einwohner, Mittelpunktssiedlung ohne Differenzierung einzelner Stadtviertel; Konzentration der meisten Geschäfte an einem zentral gelegenen Platz« ([o.A.] 1975: 770). Diese Beschreibung entspricht nicht nur dem, was wir heute noch für die Kleinstadt als kleinsten gemeinsamen Nenner heranziehen können, sondern sie stellt auch das dar, was ebenso in der DDR innerhalb der Bevölkerung alltagssprachlich unter ›Kleinstadt‹ verstanden wurde. Die Leerstelle ›Kleinstadt‹ im Konzeptuellen fällt umso mehr auf, wenn man sich die tatsächlichen Siedlungsstrukturen der DDR ansieht. Auf der Grundlage der Zahlen aus den STATISTISCHEN JAHRBÜCHERN der DDR lässt sich ermitteln, dass ein großer Teil der Bevölkerung tatsächlich in Kleinstädten lebte. Darüber hinaus ist als weiterer Befund festzuhalten, dass sich die Siedlungsform der Klein- und Mittelstadt als stabile Größe erweist. Während für den Anteil der Bevölkerung in »Landgemeinden« zwischen 1950 und 1989 ein Rückgang von 29 Prozent auf 23,5 Prozent (jeweils Anteil der Gesamtbevölkerung) zu verzeichnen ist und der Bevölkerungsanteil für Städte ab 100.000 Einwohner kontinuierlich zunimmt: von 20,7 Prozent im Jahr 1950 auf 27,1 Prozent im Jahr 1989 (Anteil der Gesamtbevölkerung), sind die Zahlen für die Klein- und Mittelstädte äußerst stabil. Ungefähr die 2

Das betraf auch Bad Düben. Böttcher spricht in diesem Zusammenhang von einem »völlig veränderte[n] Stadtbild« (Böttcher 2007: 114, vgl. ebd.: 79, 95, 103, 107, 126).

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Hälfte der DDR-Bevölkerung lebte im Zeitraum von 1950 bis 1989 in Städten mit bis zu 100.000 Einwohnern. Bis zum Jahre 1987 waren es jeweils knapp über 50 Prozent. Fasst man Kleinstädte als Städte bis 20.000 Einwohner auf, machen die Bewohner dieser Siedlungsform jeweils ungefähr 30 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Setzt man (in Entsprechung zu neueren Einteilungen) die Obergrenze für die Kleinstadt bei 50.000 Einwohnern an, sind es über 40 Prozent, die in der DDR in Kleinstädten leben.3 Angesichts dieser Zahlen ist zu konstatieren, dass die kleinstädtische Siedlungsform bis zum Ende der DDR eine bedeutende Größe war. Ungeachtet aller Aussparung der Kleinstadt im theoretischen Schrifttum und in der Konzeption der sozialistischen Gesellschaft sowie unabhängig davon, dass die Besonderheiten der Kleinstadt bei der städtebaulichen Planung so gut wie keine Berücksichtigung fanden, stellte sich die lebensweltliche Realität von mindestens der Hälfte der Bevölkerung so dar, dass sie tatsächlich in Klein- und Mittelstädten lebte und sich ihr Alltag im Rahmen der dort vorhandenen Strukturen abspielte. Das Leben in der Kleinstadt wurde jedoch nicht bevölkerungspolitisch thematisiert, wovon nicht zuletzt die Präsentation der Zahlen in den STATISTISCHEN JAHRBÜCHERN zeugt, da die Angaben der »Stadtgemeinden« nach »Gemeindegrößengruppen« mit anderen Unterteilungen operiert ([o.A.] 1990: 7f.). Die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Lebensraum der DDRBevölkerung und der dabei fehlenden theoretisch-konzeptionellen Positionierung ist offensichtlich. Sie zieht die Frage nach dem ›Warum?‹ nach sich. Hierauf ist freilich keine einfache Antwort zu geben. Vielmehr wären komplexe Untersuchungen zu sozialhistorischen und geographischen Strukturen der DDR nötig. Mit Blick auf das von offizieller Seite favorisierte Ideal des Zusammenlebens in der sozialistischen Gesellschaft ist jedoch davon auszugehen, dass die in der Kleinstadt vorherrschenden Strukturen und Organisationsformen nicht den erwünschten Formen des sozialistischen Miteinanders entsprachen. Anders als im theoretischen und kulturpolitischen Schrifttum findet sich in den literarischen Texten der DDR eine Vielzahl von Thematisierungen zum Leben in der Kleinstadt. Die Akzente werden hier unterschiedlich gesetzt. Ebenso, wie Texte zur Situation auf dem Land und zum Leben in der Großstadt vorkommen, wird auch die Kleinstadt in einer ganzen Reihe von literarischen Texten zum Schauplatz des erzählten Geschehens. Hierbei ist freilich nicht von einem Abbildcharakter der tatsächlichen Lebensrealität in der historischen DDR auszugehen. Literatur ist nicht

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Alle in diesem Absatz genannten Zahlen sind selbst errechnet auf der Grundlage der in den STATISTISCHEN JAHRBÜCHERN der DDR mitgeteilten Zahlen (vgl. exemplarisch die Übersicht bei [o.A.] 1990: 7).

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als einfache Widerspiegelung der Verhältnisse anzusehen. Dennoch lässt die Art und Weise der literarischen Vermittlung Rückschlüsse auf den historischen Kontext zu. Dessen relevante Fragen, Themen und Probleme werden durch die Literatur verhandelt; und insofern ist es aufschlussreich, dass die Kleinstadt in der Literatur der DDR keine Leerstelle bildet, sondern im Gegenteil für eine ganze Reihe unterschiedlichster Texte von Belang war. Ein Autor, bei dem die Kleinstadt im Laufe der Jahre immer wieder eine Rolle spielte, ist Christoph Hein. Die Handlung gleich mehrerer seiner Erzähltexte ist in der Kleinstadt angesiedelt, als deren historische Vorlage Bad Düben ermittelt werden kann. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern durch die literarischen Texte der Kleinstadt bestimmte Merkmale zugeschrieben werden. Erfolgt gerade durch die literarische Gestaltung eine bestimmte Deutung der Kleinstadt (im Sinne einer Funktionalisierung)? Und sind dadurch Rückschlüsse auf die Spezifik der Kleinstadt im historischen Kontext DDR möglich? In Anlehnung an den Titel »Die Wahrheit der Provinz« geht es außerdem darum, ob die Literatur eine andere Geschichte als die offizielle Geschichtsschreibung erzählen kann, ob es folglich eine ›Wahrheit‹ gibt, die über das offizielle Schrifttum hinausgeht. Außerdem ist zu thematisieren, ob diese ›Wahrheit‹ etwas mit den Besonderheiten der Kleinstadt (hier im Titel als Provinz bezeichnet) zu tun hat.

A LLGEMEINES : C HRISTOPH H EIN UND B AD D ÜBEN Christoph Hein zählte bereits in der DDR zu den bekannten und viel gelesenen Autoren. Durch seine Theaterstücke, vor allem aber als Autor von Erzähltexten wurde er von einem breiten Publikum wahrgenommen. Spätestens mit seiner Novelle DER FREMDE FREUND (1982) erlangte er über die Grenzen der DDR hinaus Beachtung.4 Auch nach der politischen Wende 1989/90 hat Hein weiterhin sehr erfolgreich Texte geschrieben und publiziert. Dabei sind bestimmte thematischinhaltliche wie formale Kontinuitäten in seinem Werk festzustellen. Die Kleinstadt als Bezugspunkt ist ein solches immer wiederkehrendes Element. Hierin sind durchaus Bezüge zur Biographie des Autors zu sehen. Der 1944 im schlesischen Heinzendorf geborene Pfarrerssohn Christoph Hein kam infolge des Zweiten Weltkrieges als Kind mit seiner Familie als Flüchtling nach Bad Düben. Dort verbrachte er sodann seine Kindheit, verließ die Stadt aber 1958, um im Westteil Berlins sein Abitur zu absolvieren. Der Großstadt blieb er danach weiterhin verbunden – neben

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Der Text wurde im folgenden Jahr (1983) in der Bundesrepublik publiziert, dort aus Gründen des Titelschutzes als DRACHENBLUT.

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Berlin wurde Leipzig zu einer weiteren Station in seinem Lebenslauf. Vor allem in seinem erzählerischen Werk finden sich immer wieder Bezugnahmen auf Bad Düben als den Ort seiner Kindheit. Zu Bad Düben selbst ist zu sagen, dass es sich um eine Kleinstadt in Sachsen handelt. Zur Zeit der DDR hatte sie zwischen 6.000 und 8.200 Einwohner (vgl. [o.A.] 1971: 313; [o.A.] 1977: 147). Nach der Wende 1989/90 gingen die Einwohnerzahlen zunächst zurück. Inzwischen ist der Trend jedoch wieder gegenläufig. Derzeit hat Bad Düben knapp über 8.000 Einwohner (was allerdings auch den Eingemeindungen geschuldet ist, vgl. Kabelitz/Liesaus 2016). Der Ort liegt am Fluss Mulde, am Rand der Dübener Heide. Außerdem führt die Bundesstraße B2 auf dem Abschnitt von Leipzig nach Berlin durch den Ort, was für das Selbstverständnis des historischen Bad Düben wie für die Stadtdarstellungen in den Texten Christoph Heins eine Rolle spielt. Unter anderem die Lage bedingt die Bedeutung Bad Dübens. Hier ist zum einen der Tourismus zu nennen. Insbesondere zur Zeit der DDR war der Ort inklusive seiner Umgebung (Dübener Heide, Rotes Ufer der Mulde, Burg) ein beliebtes Ausflugsziel (vgl. Hartmann/Kundisch/Mrozik 1969: 77-79; [o.A.] 1977: 147). Zum anderen sind medizinische Aspekte erwähnenswert: Bad Düben ist seit 1948 staatlich anerkanntes Kurbad (vgl. Böttcher 2005: 63). Literarische Texte beziehen sich nicht erst seit Christoph Hein auf den Ort. So greift Kleists MICHAEL KOHLHAAS auf historische Ereignisse der Gegend zurück: Der Pferdediebstahl fand in Wellaune, einem Nachbarort Bad Dübens, statt, und der sich anschließende Rechtsstreit des Cöllner Pferdehändlers Kohlhase mit dem Junker Günter von Zaschnitz wurde 1533 auf der Dübener Burg verhandelt (vgl. Hartmann/Kundisch/Mrozik 1969: 78). Wie wird die Kleinstadt Bad Düben nun aber bei Christoph Hein dargestellt? Zunächst sei gesagt, dass der Name »Bad Düben« in den Texten nicht vorkommt. Aufgrund bestimmter Merkmale kann aber eine Identifizierung erfolgen. Das ist unter anderem aufgrund der konkreten Ortsbeschreibungen möglich, insbesondere bezogen auf die wiederkehrenden Darstellungen von Brücke, Marktplatz und Burg. Für die Texte DER FREMDE FREUND / DRACHENBLUT (1982), HORNS ENDE (1985) und LANDNAHME (2004) ist so der Verweis auf das historische Bad Düben erkennbar. Anders als die erwähnten Großstädte (Berlin, Leipzig) und anders auch als bestimmte andere Orte, die ihren tatsächlichen Namen behalten haben (Spora in LANDNAHME und VON ALLEM ANFANG AN), wird das historische Bad Düben in diesen Texten umbenannt. Bad Düben wird in HORNS ENDE zu Bad Guldenberg, in LANDNAHME zu Guldenberg und im FREMDEN FREUND zu G. Die Namen sind hier jeweils zwar ähnlich, aber doch immer anders konturiert. Sie weisen dadurch in

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eine bestimmte Richtung für die Textinterpretation, was nicht zuletzt den Wortbedeutungen und Konnotationen der neuen Städtenamen geschuldet ist.5 Es gibt bei Christoph Hein auch Texte, die topographisch versetzt sind. Innere Merkmale und Ähnlichkeiten zu den Texten, die sich auf Bad Düben beziehen, legen dabei ebenfalls die Vermutung nahe, dass es um diese Stadt geht. Jedoch erfolgt eine andere Lokalisierung. Beispielsweise wird in VON ALLEM ANFANG AN (1997) Spora als Nachbarort bezeichnet. Die nächstgelegene Kleinstadt wäre dann Meuselwitz. Die Kleinstadt, in der die titelgebende Protagonistin aus FRAU PAULA TROUSSEAU (2007) ihre Kindheit verbrachte, wird ohne genauere Ortsbeschreibung lediglich in Sachsen lokalisiert. Die Thematisierung der Wismut erweckt dabei den Eindruck, dass es um eine Stadt eher südlich von Leipzig geht.6 Unabhängig davon, wie der jeweilige Ort im Text benannt ist, finden sich bestimmte übergreifende Merkmale. Die Kleinstadt wird in ihrer Struktur und in ihrem sozialen Gefüge tatsächlich als Kleinstadt beschrieben und wahrgenommen, und zwar sowohl für jene Zeiträume, die während der DDR spielen, als auch für jene nach der Wende. Dabei werden die Oppositionen betont: Die Kleinstadt ist sowohl gegen das Dorf bzw. das Land als auch gegen die Großstadt deutlich abgegrenzt. Hinsichtlich der Erzählstrukturen fällt ferner auf, dass jene Handlungen, die in der Kleinstadt spielen, einen zeitlichen Schwerpunkt haben. Vornehmlich sind es die 1950er Jahre, die den historischen Bezugsrahmen für die Kleinstadterzählung liefern. Damit geht oft einher, dass die Kleinstadt aufgrund der in den einzelnen Texten mitgeteilten Geschichten der Protagonisten vorzugsweise jener Ort ist, an dem die Kindheit verbracht wurde. All dem Genannten eignet damit etwas Klischeehaftes an. Der jeweilige Text selbst durchbricht jedoch die dadurch evozierten Vorannahmen und stellt diese in Frage. Wie das konkret geschieht, soll im Folgenden anhand von vier Themenschwerpunkten gezeigt werden.

5

HORNS ENDE weist damit eine religiöse Komponente auf, da nach Verrat, Schuld und Opfer gefragt wird (vgl. Kiewitz 1995: 229-234). Dass die Kleinstadt im FREMDEN FREUND G. heißt, ist nicht zuletzt als Hinweis auf die in der Novelle verhandelte Sexualitätsthematik aufzufassen (vgl. Max 2014: 83-93; Max 2016: 247-253).

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Die geographische Markierung ist in beiden Fällen möglicherweise als intertextuelle Bezugnahme zu lesen: die Wismut in FRAU PAULA TROUSSEAU (2007) verweist auf Werner Bräunigs posthum 2007 erschienenen Roman RUMMELPLATZ, Spora (und damit Meuselwitz) in VON ALLEM ANFANG AN (1997) auf Wolfgang Hilbig. Auch in LANDNAHME

(2004) wird Spora mehrfach erwähnt. Guldenberg als Handlungsort hat in diesem

Text jedoch deutliche Züge von Bad Düben.

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K LEINSTÄDTISCHES :

INNERE UND ÄUßERE

S TRUKTUR

Christoph Heins Texte vermitteln zumindest vordergründig ein ganz bestimmtes Bild von der Kleinstadt. So entsteht leicht der Eindruck, dass die Welt hier sprichwörtlich noch in Ordnung ist oder zumindest sein soll. Auffällig ist das zur Schau gestellte Selbstverständnis der Bewohner, in einer stabilen sozialen Ordnung zu leben. Zwar hat in der Tat jeder Einzelne ein auf individuelle Art und Weise äußerst problematisches Verhältnis zu seiner Stadt (vgl. hierzu insbesondere die Schilderungen der einzelnen Erzähler in HORNS ENDE). Als zivilisatorische Formation verspricht diese jedoch große Stabilität. Die Kleinstadt weist klare Strukturen auf. Diese sind singulär – und damit nicht vervielfacht wie in größeren urbanen Lebensräumen. Es gibt das Rathaus, die Schule, den einen zentralen Platz mit Ladengeschäften, die Apotheke, den Park für den sonntäglichen Spaziergang, die Burg als das Museum der Stadt, den Bahnhof, die Arztpraxis usw. Entsprechend eindeutig ist das soziale Gefüge. Erwähnt werden der Bürgermeister, sein Stellvertreter, Lehrer für die einzelnen Schulfächer (i.S.v. Bereichen), ein Arzt und ebenfalls ein Apotheker, zwei Pfarrer (je einen für die evangelische und die katholische Konfession), verschiedene Ladenbesitzer und Handwerksmeister. Auch die beiden Letztgenannten sind nach Bereichen differenzierbar. Dopplungen führen zu Problemen und werden – so sie denn doch einmal auftreten – durch verschiedene Maßnahmen zu beseitigen versucht.7 Die jeweiligen Vertreter der genannten Berufe und Tätigkeiten sind dadurch auf ihre sozialen Rollen festgelegt. Sie beeinflussen bzw. bestimmen im Rahmen der dadurch gewährten Optionen das Schicksal der Stadt. Daneben gibt es die Randständigen, die als Bewohner ebenfalls die Struktur der Kleinstadt mit konstituieren, wie Künstler (z.B. der Maler in FRAU PAULA TROUSSEAU) oder Behinderte (z.B. Marlene Gohl in HORNS ENDE). Außerdem gibt es noch jene, die nicht dazugehören und von denen sich die Bewohner bewusst abgrenzen. So formiert sich das soziale Gefüge Kleinstadt. Hier können jene ohne Integrationsbedürfnis von denen unterschieden werden, für die die Kleinstadt zur neuen Heimat werden soll. Zur ersten Gruppe ist sogenanntes ›fahrendes Volk‹ zu

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Sehr deutlich gezeigt wird dies in LANDNAHME anhand der Flüchtlingsfamilie Haber. Der Vater wird massiv und auch mit Mitteln der Gewalt daran gehindert, im Ort eine zweite Tischlerei zu etablieren. Die durch die Umsiedler bewirkte Dopplung der Spitznamen bei den Kindern (»Holzwurm«) führt entsprechend gleich im Prolog zu einer fatalen Verwechslung, die maßgeblich für die Textinterpretation ist (vgl. Wirtz 2008/09: 38f.; Max 2017: 250-254).

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zählen: die »Zigeuner« (in HORNS ENDE)8 sowie die Montagearbeiter aus der Großstadt (in LANDNAHME). Zur zweiten Gruppe gehören vorrangig die als »Umsiedler« bezeichneten Kriegsflüchtlinge aus den vormals deutschen Ostgebieten (Familie Haber in LANDNAHME), aber auch aus der Großstadt in die Provinz Strafversetzte (Horn in HORNS ENDE). Die Kleinstadt erscheint bei Hein als historisch gewachsen und in ihren Funktionszuweisungen stabil. Sie wirkt statisch und erinnert an vormoderne Städte und deren Ständeordnungen. Von Innovation wird nichts erzählt. 9 Es überwiegt die Deutung der Kleinstadt als eines fixen sozio-geographischen Gefüges. Die politische Wende, wie sie sehr ausführlich in LANDNAHME erzählt wird, bestätigt dies noch. Durch Re-Installierung von Vorkriegsverhältnissen überdauert die Kleinstadt in ihren Strukturen die Zeiten (vgl. Hein 2004: 343-345). Was von außen kommt und integriert werden kann, wird durchaus eingegliedert. Von allem Andersartigen und Fremden aber grenzt man sich ab. Bezogen auf die Integration ist hierbei bemerkenswert, dass es gerade die Strukturen des Staatswesens DDR sind, die auf die Organisationsformen der Kleinstadt abgebildet werden können (Bürgermeister, Stellvertreter, Rat des Kreises, Rat des Bezirkes usw.). Das neue sozialistische System mit seinen ebenfalls singulär-eindeutigen Strukturen scheint in diesem Sinne so neu nicht. Im Gegenteil, es fügt sich sehr gut in die bisherigen Strukturen der Kleinstadt ein. Wesentliche Änderungen der geographisch-politischen Organisationsform Kleinstadt erfolgen dadurch nicht, es werden höchstens Modifizierungen vorgenommen.

O PPOSITIONEN : S TADT – L AND , K LEINSTADT – G ROßSTADT Sowohl der großstädtische als auch der dörfliche Lebensraum werden bei Christoph Hein in Opposition zur Kleinstadt erzählt. Das Dorf ist in seinen Texten der Ort, an dem Individuation erfahren werden kann. Hier erfolgt eine Identitätsstiftung, und das geschieht vorrangig durch Arbeit. Die Arbeit wird dabei auf zweierlei Weise perspektiviert. Erstens gilt sie als nicht zu hinterfragender Zweck des Lebens. Das wird zum Beispiel anhand der Eltern Peter Dallows in DER TANGOSPIELER dargelegt (vgl. Hein 1989: 80f.). Auch die Wirtsleute, bei denen die Ich-Erzählerin Claudia in DER FREMDE FREUND ihren Urlaub am Achterwasser verbringt, gehören

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Zur Deutung der Zigeuner im Sinne einer Zivilisationskritik vgl. Preußer (1991: 51-54). Bezogen auf HORNS ENDE hat bereits Hammer (1987: 1361) auf die »totale Festschreibung der Welt« in der Kleinstadtgesellschaft Bad Guldenberg hingewiesen.

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in diese Kategorie. Über die Selbstverständlichkeit der Arbeit als per se sinnstiftendem Lebensinhalt für die Wirtsleute berichtet Claudia: »Neben ihrer Arbeit in der Genossenschaft haben sie noch ihre private Viehhaltung. Kühe, Schweine und Hühner. Deshalb müssen sie jeden Tag um fünf aufstehen und haben bis acht Uhr abends zu tun. Ich glaube, sie arbeiten des Geldes wegen so viel, aber genau weiß ich es nicht. Vielleicht können sie sich ein anderes Leben überhaupt nicht vorstellen. Ich fragte sie einmal, aber entweder verstanden sie meine Frage nicht, oder sie wollten nicht mit mir darüber sprechen. […] Wahrscheinlich fragte ich sie damals, weil es mir irgendwie absurd erschien. Aber sie sind ja mit ihrem Leben zufrieden, und manchmal beneide ich sie darum, um diese Zufriedenheit.« (Hein 1982: 74f.)

Zweitens offeriert das Landleben auch den Raum für alternative Lebensentwürfe, welche mittels Arbeit realisiert werden können. In FRAU PAULA TROUSSEAU zieht die Protagonistin aufs Land, um ihre Utopie als Schaffend-Tätige im Bereich der Kunst zu leben. Dort hat sie Freunde und Bekannte, die »nicht fremdbestimmt arbeiteten« (Hein 2007: 300). Auf dem Land wohnen die »Aussteigertypen, die irgendwie alternativ leben wollten« (ebd.: 357). Der ländliche Lebensraum als Ort der Individuation und Selbsterfahrung birgt in der DDR allerdings Konflikte. Insbesondere die Kollektivierung der Landwirtschaft ab den späten 1950er Jahren ist eine solche konfliktbeladene historische Situation, welche die individuelle Entfaltung der Landbewohner in hohem Maße einschränkt. Ausführlich erzählt wird dies bei Christoph Hein unter anderem im Roman LANDNAHME (vgl. Hein 2004: 178f., 255). Solche gravierenden strukturellen Eingriffe wie jene der mehrfachen Änderung der Bodenverhältnisse (erst Enteignung und Bodenreform, danach Kollektivierung) finden sich für die Kleinstadt nicht. Abgesehen von einigen Modifizierungen bleibt hier bezüglich der Strukturen das meiste wie vorher bestehen. Neben dem Land gibt es als zweite Opposition die Großstadt. Ganz allgemein gesprochen lässt sich für die Texte Christoph Heins die Tendenz feststellen, dass aus der Großstadt Lebensentwürfe in die Kleinstadt hineingebracht werden, die deren Klarheit und Einsträngigkeit in Frage stellen. Die Großstadt ist einerseits Verheißung auf ein aufregenderes, interessanteres Leben. In VON ALLEM ANFANG AN ist das immer wieder Thema, und in logischer Konsequenz geht die Hauptfigur Daniel am Ende voller Hoffnungen nach Westberlin. Er erklärt: »und was mich an der Kleinstadt […] aufs Äußerste verbitterte, war der sich stets gleichende Ablauf des alltäglichen Geschehens, die vollkommene Ereignislosigkeit« (Hein 1997: 188). In LANDNAHME ist der Werdegang der Erzählerin Katharina Hollenbach erwähnenswert. Sie zieht vom Dorf Spora zunächst in die Kleinstadt Guldenberg. Dort kann sie den von ihr gewünschten Lebensstil indes

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nicht umsetzen. Nach der Lehre zieht sie weiter in die Großstadt: erst nach Leipzig, dann nach Berlin. Sie erklärt, so sei sie »schließlich dort angelangt, wo ich hinwollte, während Friederike [ihre Schwester, K.M.] in Guldenberg blieb« (Hein 2004: 264). Die mit der Großstadt in Verbindung gebrachten Vorstellungen von Glamour und Aufregung verdichten sich in der Figur Babsy. Die junge Frau »erschien« eines Tages »auf ihrem weißen Motorroller und in einem roten Kleid auf dem Markt« (ebd.: 271). Nicht nur ihr Äußeres ist auffällig, denn ihr Kleid wurde »Jahre später« erst »modern und hieß Minikleid, aber damals gab es das nicht« (ebd.). Auch in ihren Ansichten und in ihrem Lebensstil unterscheidet sich Babsy deutlich von den Kleinstadtbewohnern (u.a. durch den Umgang mit der Polizei, durch Missachtung der Etikette, durch Musikgeschmack und Freizeitverhalten, vgl. ebd.: 271-277). So hinterfragt sie deren Lebensweise, indem sie Alternativen aufzeigt. Andererseits ist die Großstadt bei Christoph Hein aber auch der Ort zivilisatorischer Entfremdung. Während in der Kleinstadt durchaus auch eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben artikuliert werden kann und die Lebenssituation dort des Öfteren als nicht befriedigend empfunden wird, ist es die Großstadt, in der existentielle Krisen durchlebt oder grundsätzliche Entfremdungserfahrungen gemacht werden. An erster Stelle ist hier Claudia aus DER FREMDE FREUND zu nennen. Deren geschilderte Wohn- und Arbeitssituation in Berlin wurde und wird zivilisationskritisch als Darstellung eines im höchsten Maß entfremdenden Lebens gelesen (vgl. exemplarisch Grunenberg 1992; Preußer 1991; Lücke 2002; darüber hinausgehend vgl. Krauss 1992: 211f.). In HORNS ENDE ist es der Großstädter Horn, der scheitert und seinem Leben durch Suizid ein Ende setzt. Die anderen Kleinstadtbewohner verharren in ihren unbefriedigenden Lebenssituationen – meist durch Versuche, sich zu arrangieren. Als weiterer Aspekt ist zu nennen, dass die Großstadt jener Ort ist, aus dem Konflikte in die Kleinstadt importiert werden. Insbesondere historische Ereignisse werden so auch in die Kleinstadt hineingetragen. Dies betrifft zum Beispiel die Proteste im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953. In DER FREMDE FREUND und in LANDNAHME werden diese durch Bauarbeiter aus Leipzig in G. bzw. Guldenberg ausgetragen. Ein weiteres Beispiel für den Import von Konflikten aus der Großstadt ist Horn, der Historiker aus HORNS ENDE. Er zeigt sich kritisch bezüglich der Ereignisse im Zusammenhang mit dem ungarischen Volksaufstand 1956. Daraufhin wird er von seiner Tätigkeit als Historiker an der Universität Leipzig entbunden und in das Heimatmuseum nach Bad Guldenberg strafversetzt. Von nun an stellt er seine unbequemen Fragen an die Geschichte im provinziellen Milieu und verbreitet dadurch Unruhe in der Kleinstadt. Beide historischen Ereignisse verweisen auf den zeitlichen Schwerpunkt: die 1950er Jahre.

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V ERZEITLICHUNG ? – D IE 1950 ER J AHRE Ein weiteres Merkmal der Kleinstadtdarstellung bei Christoph Hein ist die zeitliche Verortung in den 1950er Jahren. Es wird von der rekonstituierten Ordnung nach dem Krieg im Zeichen des Sozialismus erzählt. Dabei kommen auch historische politische Ereignisse zur Sprache. Diese sind entweder lokal von Interesse, wie der Neubau der Brücke über die Mulde (1958/59); sie können nationales Ausmaß haben (17. Juni 1953) oder gar international von Belang sein (Ungarnaufstand 1956). All diese Ereignisse werden im Kontext der beschaulich anmutenden Kleinstadt erzählt. Weniger als das ›Was?‹ ist hierbei das ›Wie?‹ relevant: Zum einen werden die Geschehnisse als von außen kommende Störungen geschildert. Zum anderen fällt die Art der Darstellung auf, da historisch Verbürgtes modifiziert und anders konturiert wird. Dies soll im Folgenden anhand der Ereignisse im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 dargelegt werden. Das historische Geschehen in Bad Düben, wie es überliefert ist, konzentrierte sich auf den Dübener Marktplatz (vgl. Roth 1999: 143-144; Fritzsche 2007: 7). Dort verliefen die Proteste unter anderem so, dass ein mehr oder minder provisorisch ins sozialistische Gewand gekleidetes Denkmal dieser Holzverkleidung mit der hölzernen Friedenstaube entledigt wurde, sodass das alte Kriegerdenkmal von 1888 wieder zum Vorschein kam (vgl. die Abbildungen bei Böttcher 2005: 10; Fritzsche 2007: 7; Max 2016: 245f.). Christoph Hein greift dies in DER FREMDE FREUND und in LANDNAHME auf. Recht ausführlich werden darin die Vorgänge mit dem Denkmal geschildert. In beiden Texten sind nicht die Bewohner der Stadt die Austragenden des Protests. Im FREMDEN FREUND ist vielmehr zwei Mal von Unbekannten die Rede, und in LANDNAHME sind es die Bauarbeiter aus Leipzig, die mit dem Beil die Holzverkleidung entfernen, das Kriegerdenkmal hervorholen und so – bildlich gesprochen – das Kriegsbeil ausgraben. In DER FREMDE FREUND heißt es: »An jenem Tag stürzten die Jungen mitten im Unterricht an die Fenster und schrien: Die Panzer kommen, die Panzer kommen. […] Wir rannten zum Marktplatz. […] Das Rohr des Geschützes war […] gegen das alte, verwitterte Kriegerdenkmal gerichtet, das wir in diesen Tagen zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Am Vortag hatten Unbekannte das Holzgerüst mit der großen ausgesägten Friedenstaube und dem Fahnenschmuck zusammengeschlagen, unter dem das alte Monument verborgen war.« (Hein 1982: 144f.)

Und in LANDNAHME: »Sie begannen den weißen Holzkasten mit der Friedenstaube, auf dem zuvor der Fahnenschmuck gehangen hatte, zusammenzuschlagen. […] Von der Friedenstaube war nicht viel

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übrig geblieben. […] Ein graues viereckiges Monument, das unter dem Kasten verborgen war, sah ich zum ersten Mal und ging näher heran. Es war ein Denkmal für die Gefallenen des Weltkriegs, des ersten Weltkriegs, wie man den Zahlen der Todesjahre entnehmen konnte« (Hein 2004: 170).

Die Deutung im FREMDEN FREUND ist im Kontext der Novelle schlüssig vorzunehmen. Es sind klare Bezüge zu einem der Hauptthemen der Novelle vorhanden: Zivilisation wird durch Verdrängung und Verschweigen überhaupt erst ermöglicht, alles Störende muss somit verdeckt oder ausgeblendet werden. Dieses Störende drängt allerdings immer irgendwann an die Oberfläche, sodass jegliche Form zivilisatorischer Ordnung im Grunde nicht funktionieren kann: »Ein radioaktiver Müll […], der unendlich wirksam bleibt […]. Wir haben uns auf der Oberfläche eingerichtet« (Hein 1982: 116f.). Die Ereignisse des 17. Juni greifen dies innerhalb der politischen Ebene auf und setzen es anschaulich ins Bild, indem das Kriegerdenkmal von seiner den Frieden proklamierenden Holzverhüllung befreit wird. In LANDNAHME erfolgt die Konturierung der historischen Ereignisse etwas anders. Vor allem fallen bei diesem Roman die Abweichungen zu den historischen Daten auf. Erstens ist das Kriegerdenkmal dort nicht auf den DeutschFranzösischen Krieg bezogen, sondern auf den Ersten Weltkrieg. Zweitens sind die Arbeiter aus Leipzig deshalb am 17. Juni vor Ort, weil sie die Brücke über den Fluss wieder aufbauen sollen. Hier erfolgte eine Vordatierung auf 1953 (die historische Muldebrücke wurde 1958/59 errichtet, vgl. Fritzsche 2007: 25-27; Böttcher 2005: 40f.). Im Kontext des Œuvres Christoph Heins und der darin zum Tragen kommenden Geschichtsauffassung lässt sich dies so deuten, dass die historischen Ereignisse zwar Relevanz haben und allgemein wiederkehrende Prinzipien verdeutlichen (wie die Problematik des Verdrängens im FREMDEN FREUND), dass sie aber nicht isoliert bedeutsam sind oder gar sinnstiftendes Potential haben. Geschichte ist damit austauschbar. Sie wiederholt sich, ohne dass man etwas aus ihr lernt. Auf den DeutschFranzösischen Krieg folgt der Weltkrieg (so wird er auf dem Denkmal benannt), die Beschriftung aber ist spätestens 1939 in ihrer Singularität hinfällig usw. Wiederholung und Austauschbarkeit der Ereignisse zeigen sich auch in HORNS ENDE, wo der zum Kleinstadt-Museumsleiter degradierte Horn die Siedlungsgeschichte der Stadt mit seinem Parteiaustrittsverfahren vergleicht (vgl. Hein 1985: 88f.). Dadurch, dass es in der Vergangenheit ein Pendant gibt, erfolgt indes kein Bedeutungszuwachs. Ebenso verschließt sich die Geschichte einer Wertung. Das wird unter anderem in LANDNAHME verdeutlicht, da die Erbauer der Brücke des Friedens in derselben Kleinstadt zugleich handgreiflich werden, wenn sie auf dem Marktplatz mit einer Axt das Provisorium mit der Friedenstaube zerstören. Sichere

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Werturteile sind somit nicht möglich.10 Das betrifft auch die Ansichten über die Kleinstadt. Deren Strukturen versprechen Klarheit und Sinnstiftung – das ist jedoch bestenfalls aus Sicht eines Kindes so zu sehen.

K INDHEIT

IN DER

K LEINSTADT – E RINNERN , P ERSPEKTIVEN

Dieser Aspekt birgt die Möglichkeit der biographischen Lesart, da der Autor seine Kindheit in den fünfziger Jahren in Bad Düben verbrachte. Bezogen auf die Frage nach der literarischen Funktionalisierung der Kleinstadt sind hierbei aber weniger die inhaltlichen Bezüge zur Autorbiographie von Interesse, als es die Art der Darstellung ist. Kindheit in der Kleinstadt wird bei Christoph Hein des Öfteren aus der Retrospektive der Erwachsenen beschrieben. Erwähnt seien als Figuren, für die das der Fall ist, Claudia im FREMDEN FREUND, Thomas in HORNS ENDE, Paula in FRAU PAULA TROUSSEAU oder auch Thomas in LANDNAHME. Es trifft dabei allerdings nicht zu, dass die Kleinstadt als Ort der Sehnsucht gezeichnet wird bzw. dass sie als idealisierte Lebensform oder gar als Idylle beschrieben ist. Vielmehr werden die auf irgendeine Art im Erwachsenenalter erfahrenen Defizite der eigenen Persönlichkeit in einen kausalen Zusammenhang mit der Kindheit in der Kleinstadt gebracht. Dabei sind wiederkehrende Muster erkennbar. Diese entsprechen jenen Verfahren, die die Kleinstadt als soziales Gefüge konstituierten. Sie wiederholen sich nun innerhalb der individuellen Werdegänge der Protagonisten. Stabilität durch Ab- und Ausgrenzung sowie Klarheit und Ordnung durch bewusst gewählte Singularität und damit Simplifizierung sind sowohl für die soziale Formation Kleinstadt erkennbar als auch für die in ihr Heranwachsenden. Die Kindheit in der Kleinstadt verlief analog zu dem, was diese Siedlungsform ausmacht. In der individuellen Entwicklung ist das an bestimmten Handlungsstrategien und eingeübten Verhaltensweisen erkennbar. Insbesondere solche Verfahren wie das Verschweigen, das Überdecken von Problemen, aber auch die selektive Wahrnehmung und das klare, eindeutige Urteilen sind es, die hier prägend waren. Die Protagonisten spüren als Erwachsene die Problematik ihrer Existenz. Das bekannteste Beispiel hierfür ist DER FREMDE FREUND, in dem die Ich-Erzählerin Claudia an den Ort ihrer Kindheit G. fährt, um dem Unbehagen in ihrem Leben auf die Spur zu kommen. Ihr Versuch, durch den Rückblick eine Verbesserung ihrer

10 Indem der 17. Juni in LANDNAHME derart das Geschichtsverständnis Christoph Heins spiegelt, sind die geschilderten Ereignisse weit weniger banal, als es die Forschung vermutete (vgl. Albrecht 2008/09: 52; Braun 2004: 111; Ehlers 2008: 104).

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gegenwärtigen Situation zu erfahren, scheitert jedoch. Der Text verdeutlicht, dass es dabei auch einen Zusammenhang zur Kleinstadt G. gibt. Scheinbar durch Ordnung und klare Struktur einen Halt bietend, sind es gerade die kleinstädtischprovinziellen Verhältnisse während ihrer Kindheit, die den Grundstein für Claudias spätere Entfremdung legten (vgl. Max 2014: 83-93). Ähnliches trifft auf andere Texte zu. Erwähnt sei FRAU PAULA TROUSSEAU, in der die Szene mit dem Maler und die formulierte Frage nach der Wahrheit der Kunst auf die Bedeutung der Kleinstadt für den Werdegang der Protagonistin verweisen (vgl. Hein 2007: 524526, zur Erläuterung vgl. Ludwig 2011: 197). Die Analogien sind nicht nur zwischen der sozialen Formation Kleinstadt und der psychischen Konstitution der in ihr aufgewachsenen Individuen auszumachen. Sie erstrecken sich auch auf die Erzähltechnik selbst. Dabei wird ebenfalls ausgegrenzt, übergangen und weggeblendet. Die Inhalte werden nicht immer zuverlässig übermittelt. Das ist vorrangig dem Umstand geschuldet, dass die Erzähler nur über fragmentarische Erinnerungen verfügen. DER FREMDE FREUND mit der IchErzählerin Claudia macht dies besonders deutlich. Aber auch in jenen Texten, wo mehrere Erzähler ein multiperspektivisches Erzählen realisieren sollen, ist das Bedürfnis nach Vereindeutigung erkennbar. Jeder der zu Wort kommenden Erzähler präsentiert nur seine Sicht der Dinge – und tut dies aus seiner Erinnerung. Die Romane HORNS ENDE, LANDNAHME und FRAU PAULA TROUSSEAU sind hier zu nennen. In der Zusammenschau der Erzähler hat das nicht nur Lücken der Erzählung zur Folge, sondern auch Widersprüche. Diese werden zudem nicht durch die übergeordnete Erzählinstanz aufgelöst.11

F AZIT : T RÜGERISCHE K LEINSTADTIDYLLE Die Kleinstadt stellt sich in den behandelten Texten gerade aufgrund ihres spezifischen Zuschnitts als Ort dar, der den zugehörigen Individuen ein zufriedenes Leben verheißt. Dieses Versprechen kann jedoch nicht erfüllt werden, und den Texten selbst ist zu entnehmen, warum nicht: Die für Christoph Hein typische Verzahnung historisch-politischer Ereignisse und individueller Lebensgeschichten lässt sich auch auf zivilisatorische Strukturen übertragen. Die Mechanismen der Aus- und Abgrenzung, des Übersehens und Übergehens bedeutsamer Fakten, des Ignorierens notwendiger Zusammenhänge sowie die unzulässigen strukturellen Simplifizierungen sind es, die die Weiterexistenz der Kleinstadt in ihrem vormodernen Zuschnitt

11 Vgl. bezogen auf die Verwechslung in LANDNAHME Wirtz (2008/09: 38f.) sowie Max (2017: 250-254).

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nach 1945 überhaupt noch ermöglichten. Das wird zum einen recht plakativ umgesetzt, indem beispielsweise das, was stört, ausgegrenzt ist (und vor den Grenzen der Stadt auf der Bleicherwiese campiert 12) oder zugedeckt wird (wie das Kriegerdenkmal). Zum anderen finden sich komplexe literarische Umsetzungen der Thematik. Hinsichtlich der Erzähltechnik erweist sich das unter anderem in dem Umstand, dass trotz aller Multiperspektivität weder ein zuverlässiges noch ein vollständiges Bild vermittelt wird. So führt das Œuvre Christoph Heins vor, dass das Ausgeschlossene und Weggeblendete dennoch immer Relevanz hat. Das bezieht sich nicht nur auf das Formale und die Erzähltechnik, sondern auch auf die übermittelten Inhalte. Es betrifft insbesondere die Kleinstadt und deren Strukturen, die auf Ausgrenzung und Übergehen beruhen. Die Texte zeigen, dass der Anspruch auf eine singuläre Wahrheit, wie ihn das kleinstädtische Idyll nahelegt, in einer modernen, pluralen Gesellschaft nicht eingelöst werden kann. Die Kleinstadt bietet somit keinen Raum für Sentimentalitäten. Als scheinbar solide zivilisatorische Struktur kann sie die damit im Zusammenhang stehenden Bedürfnisse ihrer einstigen wie gegenwärtigen Bewohner auch nicht mehr bedienen. Sei es Integration, sei es Identitätsbildung, seien es erfüllende Erinnerungen – trotz aller Verheißung bleiben diese Wünsche letztlich unerreicht. Hier schließt sich der Kreis zu den eingangs angestellten Überlegungen. Der Staat DDR operierte – seinem Selbstverständnis gemäß – ebenfalls mit simplen Strukturen und eindeutigen Zuschreibungen (zum Beispiel was die Klassentheorie betrifft). Dabei fanden sich Mechanismen der Ausgrenzung wie der unzulässigen Verkürzung. Letzteres betrifft auch jenen Umstand, dass die Stadt in der DDR vom Konzept her nur als Großstadt gedacht wurde. Das aber bedeutet, dass die Lebensrealität von ungefähr der Hälfte der Bevölkerung keine Beachtung fand. Zivilisationskritische Aspekte bei Christoph Hein werden so auch über die Kleinstadt vermittelt. Die Texte nehmen eine Einordnung der DDR in die Geschichte vor, was die Relativierung dieses Staates hinsichtlich seiner historischen Bedeutung zur Folge hat. Die DDR erscheint dadurch, dass sich altbekannte Strukturen auf sie und in ihr abbilden lassen, als weit weniger revolutionär, als sie es laut Selbsteinschätzung ihrer Protagonisten zu sein wünschte. Durch die Parallelisierung mit kleinstädtisch-provinziellen Strukturen offenbart sich vielmehr ihr reduzierter, um nicht zu sagen kleinbürgerlicher Charakter.13

12 Zur Bleicherwiese im historischen Bad Düben vgl. Böttcher (2005: 43). 13 Vgl. Max (2018), inwiefern die DDR-Gesellschaft Tendenzen zum Kleinbürgerlichen aufweist und wie das durch die literarischen Texte thematisiert wird.

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L ITERATUR Albrecht, Terrance (2008/09): »Geschichte und Erinnerung in Christoph Heins Prosawerken Landnahme, Horns Ende und Der fremde Freund«, in: Literatur in der Moderne. Jahrbuch der Walter-Hasenclever-Gesellschaft 6, S. 49-66. Berger, Manfred et al. (²1978) (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin: Dietz. Böhme, Waltraud et al. (²1973) (Hg.): Kleines politisches Wörterbuch, Berlin: Dietz. Böttcher, Hans-Joachim (2005): Bad Düben (= Archivbilder), Erfurt: Sutton. Böttcher, Hans-Joachim (2007): Bad Düben (= Bilder aus der DDR), Erfurt: Sutton. Braun, Michael (2004): »›da fremdelt man mit Fremden…‹. Zum Vertriebenendiskurs in Christoph Heins Roman Landnahme (2004)«, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 37, S. 103-116. Ehlers, Hella (2008): »Deutscher Guldenberg. Erzählen zwischen ›kleiner‹ und ›grosser‹ Welt in Christoph Heins Roman Landnahme«, in: Martin Hellström/ Edgar Platen (Hg.), Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur (V), München: Iudicium, S. 90-107. Fritzsche, Lutz (2007): Bad Düben in den 50er und 60er Jahren, Horb am Neckar: Geiger. Grunenberg, Antonia (1992): »Geschichte als Entfremdung. Christoph Hein als Autor der DDR«, in: Klaus Hammer (Hg.), Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Materialien, Auskünfte, Bibliographie, Berlin/Weimar: Aufbau. S. 67-83. Hammer, Klaus (1987): »Christoph Hein: Horns Ende«, in: Weimarer Beiträge 33, S. 1358-1369. Hartmann, Hans/Kundisch, Ehrhart/Mrozik, Ewald (1969): Leipziger Ausflugsziele, Leipzig: Brockhaus. Hein, Christoph (1982): Der fremde Freund, Berlin/Weimar: Aufbau. Hein, Christoph (1985): Horns Ende, Berlin/Weimar: Aufbau. Hein, Christoph (1989): Der Tangospieler. Erzählung, Berlin/Weimar: Aufbau. Hein, Christoph (1997): Von allem Anfang an, Berlin: Aufbau. Hein, Christoph (2004): Landnahme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hein, Christoph (2007): Frau Paula Trousseau, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hofmann, Michael (2003): »Struktur- und Milieuwandel in Ostdeutschland«, in: Joachim Fischer/Hans Joas (Hg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 242-256. Hofmann, Michael (2010): »Das sozialstrukturelle Erbe der DDR – Sozialistisches Establishment und traditionelle Volksmilieus«, in: Joachim Klose (Hg.), Wie

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schmeckte die DDR? Wege zu einer Kultur des Erinnerns, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, S. 70-80. Kabelitz, Kathrin/Liesaus, Heike (2016): »Eilenburg peilt 16 000 Einwohner an – Bad Düben klettert über 8000er-Marke«, in: LVZ online, URL: http://www.lvz.de/Region/Bad-Dueben/Eilenburg-peilt-16-000-Einwohner-anBad-Dueben-klettert-ueber-8000er-Marke (27.11.2017). Kiewitz, Christl (1995): Der stumme Schrei. Krise und Kritik der sozialistischen Intelligenz im Werk Christoph Heins, Tübingen: Stauffenburg. Klien, Horst (1974) (Hg.): Der Große Duden. Wörterbuch und Leitfaden der deutschen Rechtschreibung, Leipzig: Bibliographisches Institut. Krauss, Hannes (1992): »Schreibend das Sprechen üben oder: ›Worüber man nicht reden kann, davon kann die Kunst ein Lied singen‹ oder: ›Als Kind habe ich Stalin gesehen‹ – Zur Prosa Christoph Heins«, in: Axel Goodbody (Hg.), Geist und Macht. Writers and the State in the GDR, Amsterdam: Rodopi, S. 204-214. Ludwig, Janine (2011): »›Die Kunst wird Sie nicht retten‹: Christoph Heins Frau Paula Trousseau als tragischer Kunst-Roman«, in: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 10, S. 186-209. Lücke, Bärbel (²2002): Christoph Hein. Der fremde Freund. Drachenblut, München: Oldenbourg. Max, Katrin (2014): »Über das Verschwinden der Utopie und den Missbrauch in der Geschichte. Individuelle Erfahrung und politisches Schicksal in Volker Brauns Unvollendete Geschichte und Christoph Heins Der fremde Freund«, in: KulturPoetik 14, S. 70-93. Max, Katrin (2016): »Den Aufstand erzählen. Christoph Heins Deutungen des 17. Juni 1953 in Der fremde Freund (1982) und Landnahme (2004)«, in: Friederike Günther/Markus Hien (Hg.): Geschichte in Geschichten, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 237–262. Max, Katrin (2017): »Integration als Camouflage? Karnevaleske Rollen und biologisch-geographische Verschiebungen in Christoph Heins Roman Landnahme (2004)«, in: Thomas Hardtke/Johannes Kleine/Charlton Payne (Hg.), Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Göttingen: V & R Unipress, S. 239-255. Max, Katrin (2018): Bürgerlichkeit und bürgerliche Kultur in der Literatur der DDR, Paderborn: Fink. [o.A.] (1971): Meyers enzyklopädisches Lexikon, Bd. 3, Mannheim u.a.: Bibliographisches Institut. [o.A.] (1973): Meyers neues Lexikon, Bd. 7, Leipzig: Bibliographisches Institut. [o.A.] (1975): Meyers enzyklopädisches Lexikon, Bd. 13, Mannheim u.a.: Bibliographisches Institut. [o.A.] (1976): Meyers neues Lexikon, Bd. 13, Leipzig: Bibliographisches Institut. [o.A.] (1977): Reiseführer DDR, Berlin: Tourist Verlag.

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»Im perspektivischen Niemandsland« Zum Paradigma der Kleinstadt in österreichischen Gegenwartserzählungen U RSULA K LINGENBÖCK

Der folgende Beitrag untersucht am Beispiel von Birgit Birnbachers WIR OHNE WAL (2016), Harald Darers HERZKÖRPER (2015), Karin Peschkas FANNIPOLD (2016), Isabella Straubs DAS FEST DES WINDRADS (2015) und Anna Weidenholzers DER PLATZ DES HUNDES (2010, 22011) das Paradigma der Kleinstadt in Erzählungen österreichischer Gegenwartsautor/innen. Auf eine provisorische realreferentielle Lektüre der Texte folgen grundlegende methodische Überlegungen, in denen raumtheoretische und narratologische Ansätze sondiert und für eine Untersuchung von Kleinstadterzählungen modelliert werden sollen. Entsprechend der (Neu)Vermessung des Raumes durch den spatial turn wird Raum – sowohl in seiner physisch-materiellen Spezifizierung, seiner Lokalisierbarkeit (Topografie) und Relationierbarkeit (Topologie) als auch in seiner sozialen Dynamik und kulturellen Performanz – als Wahrgenommenes und mit Bedeutung Versehenes, mithin auch als Konstruktion (vgl. Hallet 2009: 85) verstanden. Der umfangreichste Teil der Untersuchung diskutiert vor diesem Hintergrund die multimodale Konzeption von Kleinstadt in narrativen Texten sowie charakteristische Modalitäten ihrer Wahrnehmung und Vermittlung aus der Sicht einer durch aktuelle Raumtheorien modellierten strukturalistischen Narratologie. Die zentrale These ist, dass Kleinstadt in kulturellen Repräsentationen wesentlich über das Moment multipler Perspektivierungen konstituiert wird. Abschließend wird danach zu fragen sein, inwieweit aus den literarischen Gestaltungen von Kleinstadt bei Birnbacher, Darer, Peschka, Straub und Weidenholzer ein ›Kleinstädtisches‹ im Sinne einer erst noch zu konturierenden Konzeption von smalltownship abstrahiert werden kann.

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T OPOGRAFIEN

UND T OPOLOGIEN DER LITERARISCHEN K LEINSTADT Sowohl in der geografischen Lokalisierung als auch in der Detailgenauigkeit der Beschreibung zeigen österreichische Kleinstadterzählungen große Unterschiede.1 In Straubs DAS FEST DES WINDRADS wird über die Kombination zweier realer Toponyme (der realgeografisch mehrfach nachweisbare, sprechende Name Oed wird mit einem topografisch indizierten Straßennamen der Wiener City zu »Oed am Tiefen Graben« amalgamiert) eine fiktive Örtlichkeit konstruiert. Kontextualisiert wird sie über die von einem Fluss namens Wulch durchzogene Region des Flachlandes, die als zersiedelte Kulturlandschaft beschrieben wird. Topologisch justiert ist Oed durch Verkehrswege (insbesondere die Bahnstrecke Wien – San Marino, die über die Route des Zuges und seine Zwischenhalte abgebildet wird) sowie durch benachbarte Orte (Niederoed, Mundschuh) der Textwelt, die eine fiktive Kartierung des südöstlichen (Nieder)Österreich ergeben. Peschkas Roman spielt in einem fiktiven, sowohl geografisch als auch stadtsoziologisch zu seinen (ebenfalls fiktiven) Nachbarorten (Koffenhofen, Gebhartsleutern) und dem toponymisch belegten Ried relationierten Ort namens Laurinz. Bei Birnbacher weist die lose Konstellation von wenigen prototypischen städtebaulichen Elementen und ihren Benennungen (Breitenfelderstraße, Linzergasse, Bergstraße, Ortsteil Liefering) auf die Stadt Salzburg. Bei Darer und Weidenholzer bleiben die Schauplätze und Handlungsräume namenlos. Insgesamt sind die literarischen Kleinstädte österreichischer Gegenwartsautor/innen von geringer außertextueller (realtopografischer bzw. -topologischer) Referenzqualität.

R ESET

UND METHODISCHE

V ORÜBERLEGUNGEN

Die exemplarische Annäherung über geografische Parameter (allein) vermag weniger zu einem aussagekräftigen Ergebnis für die erzählte Kleinstadt zu führen; es geht vielmehr darum, zentrale Fragen eines fiktionalen Sprechens von Raum (etwa: Wie kommt Raum in den Text und wie verhalten sich Texträume zu außertextuellen Räumen?) zu akzentuieren, die seit Längerem über erzähl- und mimesistheoretische Zugänge – bzw. aktuell die Annäherung beider (z.B. Nell/Weiland 2014) – diskutiert werden. Die strukturalistische Narratologie, wie sie unter Rückgriff auf Lotman (1972) für die literarische Raumdarstellung funktionalisiert wurde, be-

1

Zu Topografie und Topologie im literarischen Text vgl. exemplarisch Hallet (2009) sowie Neumann (2015); zur referentiellen Stadtkonstitution vgl. Mahler (1999).

»I M

PERSPEKTIVISCHEN

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schreibt die Vertextung von Raum über die Selektion von Elementen aus dem raumphysiologischen Paradigma (hier: der Kleinstadt) und deren Projektion auf die syntagmatische Ordnung der Narration (vgl. u.a. Nünning 2009), wo sie als Schauplatz und/oder Handlungsraum funktionalisiert werden. Nell/Weiland (2014: 22f. bzw. 32f.) gehen einen Schritt weiter, indem sie die strukturalistischen Parameter mit Paul Ricœurs primär für die Vertextung von Zeit (vgl. Nünning/Sommer 2002) entworfenem Theorem von der dreifachen Mimesis (Präfiguration, Konfiguration, Refiguration) überblenden, um den Raum als relationale Kategorie zu beschreiben. Als problematisch erweist sich die fehlende Isomorphie beider Konzepte dann, wenn z.B. die Relation zwischen erzähltem Raum (als syntagmatische Formatierung) und seinen realweltlichen Präfigurationen der paradigmatischen ›Ebene‹ – ein Begriff, der aufgrund eines übergangshaften Moments von Paradigma und Syntagma zu überdenken wäre – zugeordnet wird oder wenn für eine Explikation der Mimesis II (Konfiguration) die ›Ebenen‹ von Paradigma und Syntagma, die durch die Operationen Selektion und Kombination charakterisiert sind, um eine dritte, als diskursiv konzipierte und über die Operation der Perspektivierung des erzählten Raumes durch Erzähl- und Wahrnehmungsinstanz und deren Vermittlung gekennzeichnete ›Ebene‹ ergänzt werden (vgl. Nünning 2009: 39f.) – wohl auch, um den erzählten Raum für (s)eine Rezeption und damit für Ricœurs Mimesis III (Refiguration) zu öffnen (vgl. Nell/Weiland 2014: 32f.). Es ist stattdessen zu fragen, ob nicht Perspektivierung (etwa als narrative Konstellierung) mit Kombination zusammenzudenken ist und als eine Operation des Syntagmas bestimmt werden kann. Indem die folgende Untersuchung von Raum und Kleinstadt in österreichischen Gegenwartserzählungen auf eine syntagmatische Qualität von erzähltem Raum fokussiert, nimmt sie eine Einschränkung auf die textuelle Dimension (vgl. für Mimesis II Ricœur 22007: 88), die auch in der nach wie vor problematischen empirischen Grundierung von kognitiven Ansätzen (vgl. etwa jene von Nünning/Sommer 2002, Hartner 2012 oder Hallet 2009) begründet ist, bewusst in Kauf. Einer konstruktivistischen Raumtheorie folgend, gilt das Interesse insbesondere der Bedeutungskonstitution in Kleinstadterzählungen. Eine Bezugnahme auf bereits vorliegende Raumvorstellungen außerhalb des Textes, wie sie Hallet für bedeutungszuschreibende Akte prinzipiell zu Recht veranschlagt, soll hier aus oben genannten Gründen nicht weiter ausgeführt werden. Eine modifizierte intersubjektive Dimension von Signifikationsprozessen (Hallet 2009) soll aber insofern in die Diskussion kommen, als das Frageinteresse sowohl der Kleinstadt als konkretem und spezifiziertem Konstrukt, wie es in kulturellen Repräsentationen (hier: Kleinstadterzählungen) zu finden ist, als auch einem abstrakten und universellen ›Kleinstädtischen‹ gilt, das im Folgenden – als Analogbildung zu authorship und in terminologischer Abgrenzung zu den von Ethnologie und Anthropologie entwickelten Oppositionen von place/s vs. space/s (vgl. Appadurai 2010) und tope/s vs.

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scape/s (vgl. Augé 32012) und ihren jeweiligen theoretischen Implikationen – als smalltownship bezeichnet werden soll. Smalltownship meint ein positionsungebundenes und in diesem Verständnis ›globales‹, aufgrund seiner kompositorischen Qualität systemisch perspektivierbares ›Kleinstädtisches‹, das in unterschiedlichen Figurationen von Kleinstadt präsent wird. Teil und Ganzes, Prozess und (dessen) Resultat zugleich, ist smalltownship wie seine Konkretisationen innerhalb von dynamischen und rekursiven Entwürfen zu denken (vgl. für Landschaftsentwürfe Kaufmann 2005: 34).

L ITERARISCHE K LEINSTÄDTE

ALS ERZÄHLTE

R ELATION

Das Konzept vom sicht- bzw. begehbaren Raum fortdenkend und insofern modifizierend, als erzählte Räume als von Figuren – im Falle des/der Vermittelnden ist auch von nicht-figürlichen Instanzen auszugehen – multisensorisch wahrgenommene bzw., sofern sie durch Bewegung »eröffnet und (aus)gerichtet« (Böhme 2009: XVII) sowie durch Nutzung definiert werden, frequentierte Räume in diegetischen wie mimetischen Darstellungsmodi betrachtet werden müssen (vgl. Dennerlein 2009: 116), sollen erzählte Kleinstädte zunächst stark exemplarisch über die Figurenwahrnehmung und -bewegung charakterisiert werden. In einem weiteren Schritt soll der entscheidende Blickwechsel zum wahrnehmenden/frequentierenden Subjekt bzw. zur wahrnehmenden/frequentierenden Instanz, seiner/ihrer Aspekthaftigkeit und Perspektivität vorgenommen werden, um schließlich auf die Perspektivierung als narrative Operation sowie Multiperspektivität als narrative Strategie gegenwärtiger österreichischer Kleinstadterzählungen zu fokussieren. Wahrnehmung und Frequentierung werden dabei sowohl als Raum dekodierende als auch als Raum konstruierende Operationen verstanden (für das Sehen vgl. Stemmler 2004: 67). Relationen 1: Aspekte der Figurenwahrnehmung und -bewegung Für die erzählte Kleinstadt sind – neben auditiven, olfaktorischen und taktilen – insbesondere visuelle und kinetische2 Momente bzw. ein Zusammenspiel beider konstitutiv. Die Tektonik und Morphologie ihrer Gebäude, ihrer Flächen und Verkehrswege sowie deren Dimensionierung und Positionierung zueinander formieren sich im An-Blick durch fixe und/oder auch mobile (beobachtende) Instan-

2

Hier verstanden als physische Bewegung im Raum, seltener auch des Raumes im Sinne eingelagerter beweglicher Räume bzw. Vehikel; für eine Konzeption des Blicks als Bewegung mit Bezug auf de Certeau vgl. Stemmler (2004).

»I M

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zen. Die Landschaft um Oed beispielsweise wird aus dem Fenster des (zunächst fahrenden) Zuges gesehen: Durch die Rahmung in Einzelbilder fragmentiert und zu filmartigen Sequenzen montiert, hat sie prospektive Funktion für die Ortschaft. Die Annäherung an die Kleinstadt von außen ist im untersuchten Sample die Ausnahme, und auch das Zoom-In bei Straub bekommt einen durch die Kapitelgrenze strukturell verdeutlichten Riss: Greta erwacht in der Pension Bergruh in Oed, die erste Wahrnehmung des Ortes erfolgt wieder durch einen – diesmal statischen – Blick aus dem Fenster. In der Folge wird Oed als Ansiedlung mit Gasthof, Apotheke, Tankstelle, Café, Gemischtwarenhandlung, Blumenladen, Friedhof, (kaputtem) Windrad und Mehrparteienhäusern beschrieben, deren Nicht-Urbanität einerseits durch das Fehlen von Institutionen (Krankenhaus) und stadt-architektonischen Attributen (Hauptplatz und -straße) explizit gemacht, andererseits durch die Weltläufigkeit von Nobelwohngegend und (wenn auch historisch motivierten und damit als Chiffre der Unzeitgemäßheit lesbaren) Nummernstraßen (stilbildend im New Yorker Stadtteil Manhattan) konterkariert wird. Einer stilisierten Physiologie des Außenraumes, die durch den Standplan beim Fest des Windrads – also medialisiert, auf die Fläche reduziert und zum (im Festakt schließlich performierten) Modellraum exterritorialisiert (vgl. Nitsch 2015: 36) – abgebildet und vermittelt wird, stehen konkrete und detaillierte Beschreibungen des Innenraums gegenüber. Im kontrastiven Raumkonzept des Romans liegen die Gegenorte Oeds nicht nur in einem städtisch und mondän codierten Anschauungsraum, sondern mit der zwar am Ort eingesparten (vgl. Straub 2015: 291), aber in der Exklave der Burnout-Oase fortlebenden Klinik, mit Laufhaus (!), Bahnhof im Neojugendstil und Tiefgarage ausstaffierten Nachbarort Mundschuh und dem zwischen beiden liegenden Niederoed, das weder für die Land- noch für die Bauwirtschaft geeignet sei (vgl. ebd.: 149), auch innerhalb des (eigenen) Handlungsraums: In der zweifachen Abgrenzung entwirft der Text eine durch Siedlungsformen und deren Nutzbarkeit skalierte und mit der fiktiven Topologie nicht isomorphe Raumstruktur, die Oed zwischen (s)einer besseren Variante Mundschuh und dem No-Go Niederoed positioniert. Die Architektur des Raumes in den untersuchten Erzählungen speist sich aus einem kleinen Repertoire an versatzstückhaft gebrauchten Elementen (konstitutiv für alle sind Privaträume, Gastbetriebe, Arbeitsstätten, öffentliche Räume / Straßen), die in ihrer Spezifität unterschiedlich detailliert beschrieben und zu modellhaften Räumen von Kleinstadt konfiguriert werden. Erweitert werden sie um die Heterotopien im Sinne Foucaults (2006) wie Soziale Wohngemeinschaft, Krankenhaus, Friedhof und Bordell sowie um Nicht-Orte im Verständnis Augés (32012), Transiträume wie den Bahnhof oder suburbane Möglichkeitsräume (der mittlerweile zugeschüttete Tiefe Graben als Raum subversiver Ambitionen bei Straub, die Schottergrube als rechtsund sanktionsloser Raum bei Darer).

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Kleinstädte werden unter anderem über das Vorhandensein innerstädtischer öffentlicher Verkehrsmittel sowie über ihre Anbindung an regionale Verkehrsnetze bzw. deren Fehlen charakterisiert. In Oed ist die Eisenbahn Passante, sie geht vorbei. Sofern öffentliche oder auch private Verkehrsmittel die Kleinstadt anschneiden, führen sie zwar temporär aus ihr hinaus – bis auf eine Ausnahme (Hermine, die in Weidenholzers Text aufs Land fährt) – in eine andere, über das Vorhandensein von Behörden, Sozial- und Bildungsinstitutionen als strukturstärker markierte Stadt, aber immer wieder auch in sie zurück: Eine Überschreitung der Grenze ›Kleinstadt‹ im Sinne Lotmans (1972) findet bestenfalls in den durchweg gewaltsamen Transgressionen vom Leben zum Tod wie etwa Antonias Selbstmord in WIR OHNE WAL, dem Mord an Rocko in HERZKÖRPER oder dem Paragleit-Unfall der Protagonistin in FANNIPOLD statt. Die Bewegung der wahrnehmenden Figur bzw. Instanz im oder durch den kleinstädtischen Raum bzw. seine Teilräume (vgl. dazu auch das Konzept multipler Räume bei Löw 2001: 43) erfolgt – durch die überschaubare Infrastruktur der Kleinstadt zugleich erzwungen und ermöglicht – meist zu Fuß: Andere explorierende Operationen sind weitgehend obsolet. Dabei wird der Handlungsraum ›Kleinstadt‹ über die Raumpraktiken des Gehens und der Platzierung (wenn nicht neu, so doch wieder) strukturiert: in (durchaus konflikthaften) Aushandlungen öffentlichen und privaten (am Beispiel des Obdachlosen Rocko in Darers HERZKÖRPER und des Bettlers Havel in Birnbachers WIR OHNE WAL) Raumes, über materiell-körperliche (wie z.B. der Clique in WIR OHNE WAL und in HERZKÖRPER) oder auch symbolische Raumnahmen (wie sie etwa die Überschreibungen bereits vorhandener kultureller und sozialer Einschreibungen durch die unbeholfenen Vandalenakte der Protagonistin in FANNIPOLD vor Augen führen). Die Bewegungen der Figuren führen nur zu einem kleinen Teil von einem Ausgangs- zu einem vorher definierten Zielpunkt, meist erfolgen sie ohne funktionale oder teleologische Vorgaben im Sinne eines wayfaring (Ingold 2007 u.ö. nach Wilhelmer 2015: 36ff.). Inwiefern diese Raum- und Bewegungskonzepte auch als Erzählkonzepte fungieren, wird noch zu diskutieren sein. In jedem Fall sind sie als Folge einer räumlichen und sozialen Enge, ihrer Routinen und Obsessionen, die sie in ihrem Vollzug zugleich auch reproduzieren, Teil eines Sets alltäglicher Handlungen. Relationen 2: Aspekte der Vermittlung. Stimme und Modus Sowohl die (visuelle) Wahrnehmung des Raumes als auch die Bewegung im Raum sind durch Aspekthaftigkeit und eine mehr oder minder starke Gerichtetheit gekennzeichnet. Beides lenkt die Aufmerksamkeit auf die wahrnehmende bzw. sich bewegende oder bewegte Figur bzw. Instanz und wurde für die Erzählung und das

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Erzählen unterschiedlich modelliert (Überblick und Kritik u.a. bei Hartner 2012). Trotz (auch berechtigter) Kritik3 soll im Folgenden an Genettes (21998) systematischer Unterscheidung von wahrnehmender und erzählender Figur bzw. Instanz sowie deren (also auch der wahrnehmenden Figur bzw. Instanz) Lokalisierung inner- oder außerhalb des Erzählten festgehalten werden. Eine Vernachlässigung ›ideologischer‹ Parameter eines heuristisch konzipierten und systematisierten Wahrnehmens und Erzählens (wie sie u.a. von Schmid 2008 aufgegriffen wurde) scheint durch eine Betonung der Figur bzw. Instanz als wahrnehmende und vermittelnde, wie sie für die Figurenperspektive und mit Blick auf die dargestellten Inhalte von Nünning (1989 im Anschluss an Pfister) vorgenommen wurde, zumindest relativierbar. Im Zentrum der folgenden Lektüre steht die Differenzierung von wahrnehmenden und erzählenden Instanzen als wesentliche Momente der Signifikation von erzählter Kleinstadt, die anschließend mit Konzepten von Multiperspektivität korreliert werden soll. FanniPold und Das Fest des Windrads Karin Peschkas und Isabella Straubs Romane entwickeln ihre Schauplätze und Handlungsorte über zwei Handlungsstränge. FANNIPOLD erzählt zum einen in chronologischer Aufeinanderfolge die Ereignisse eines Tages (des 15. Aprils): Fannis Tandemflug vom Start über die (Bruch)Landung im Wald, das Auftauchen von Nergis und Kreshnik, die Bergung der Verunfallten bis zu Fannis Tod. Die extraund heterodiegetisch erzählte Handlung wird im Konzept eines alternierenden Erzählens durch die Erzählung des Alltags in Laurinz unterbrochen. Ebenfalls extra- und heterodiegetisch vermittelt, werden in einem erst im weiteren Verlauf chronologischen Entwurf – vorab erzählt werden (in dieser Reihenfolge) der 8. (Tag der Lüge) und 9. März sowie der 7. Februar, der ein erstes Bild einer ökonomisch schwachen4 Kleinstadt bzw. eines kleinstädtischen Milieus entwickelt, das durch die Routinen von Familie, Beruf und Frauen(!)stammtisch, durch Sparsamkeit, Pflichtgefühl und festgefügte Rollenbilder geprägt wird, und über das nicht nur Fannis vorgetäuschte Krebserkrankung, sondern auch ihre Vandalismus- und Sabotageakte motiviert werden – 28 Tage aus dem Leben Fannis im Zeitraum vom 7. Februar bis zum 14. bzw. (je nach Zuordnung des 1. Kapitels) 15. April erzählt. 3

Siehe z.B. Mahler (1999: 21), der als entscheidendes Kriterium für die Modalisierung den »Abstand zwischen dem Standpunkt der Wahrnehmung und dem wahrgenommenen Objekt« definiert.

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Die Auslagen und Geschäfte stehen leer, die wenigen Menschen wohnen in billig gebauten suburbanen Sackgassen-Siedlungen mit vollgestellten, winzigen Eigengärten, die Straßen sind schlecht konzipiert und spärlich beleuchtet, die Häuser uniform.

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Beide Erzählungen sind intern und überwiegend durch Fanni fokalisiert, die Kleinstadt wird aber auch in einem zweiten Sinn von innen, d.h. durch die Wahrnehmung ihrer Bewohner/innen und damit durch den ›eigenen‹ Blick, perspektiviert. Ebenso konsequent heterodiegetisch und extradiegetisch vermittelt, werden die beiden Erzählstränge im FEST DES WINDRADS durch zwei unterschiedliche Figuren intern fokalisiert: Greta Kaminsky, die sich auf der Reise nach San Marino befindet und durch ein technisches Gebrechen ihres Zuges nach Oed verschlagen wird, und Jurek Bach, der in Oed und Umgebung Taxi fährt und lockere Beziehungen unterhält. Über ihre soziale Herkunft und ihren primären Lebensraum5 wird die traditionelle Binäropposition von Land und Stadt aufgerufen und in einem weitgehend parallel geführten, chronologischen Erzählen – die wenigen Kapitel, in denen Jurek und Greta (ein erstes Mal in Teil 1, Kapitel 10) aufeinandertreffen, fügen sich durch die dominierende Fokalisierung nahtlos in das streng alternierende Erzählprinzip – in ihrer Konflikthaftigkeit entwickelt. Seinen Bewohnerinnen und Bewohnern erscheint Oed als Konglomerat aus veralteter Bausubstanz und gleichermaßen einfallslosen wie billigen Neubauten (vgl. z.B. das Panoptikum ›Mehrfamilienwohnblock‹, Straub 2015: 262), gezeichnet von Landflucht und Grundstücksspekulationen infolge reicher Investoren und korrupter Behörden sowie von der Monotonie eines immer gleichen Alltags fremd-vertrauter Lebewesen auf engstem Raum bestimmt. Einer von Generation zu Generation weitergegebenen, meist resignativen Geringschätzung aus der eigenen Perspektive6 steht die offene Ablehnung Gretas gegenüber, für die der Ort, in dem sie sich nach ihrer Flucht aus dem liegen gebliebenen Zug zwangsweise aufhält, außerhalb jeder Zivilisation liegt: Sie äußert sich in klischeehaftem Hohn gegenüber dem abgeschiedenen, rustikalen und rückständigen, ungepflegten, langweiligen und kleinkarierten, aber auch unheimlichen Ort und dem sozialen Satus seiner Bewohner/innen, im Erfinden von Anekdoten und

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Für Greta ist es die Großstadt Wien, die – selbst nicht Schauplatz der Handlung – einerseits über soziale Distinguiertheit, eine vor allem an der hippen Architektur ablesbare und mit Kultiviertheit in eins gesetzte Modernität sowie über ihre Attraktivität als Wirtschaftsstandort, andererseits über ihr Zuhanden-Sein charakterisiert wird, das sich in der Vorstellung einer gewissen Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit ausdrückt; so nimmt etwa Greta die Stadt vom erhöhten Standpunkt ihres Büros und in der vermeintlichen Gewissheit einer bevorstehenden Beförderung als »blinkende Spielzeugstadt« (Straub 2015: 33) wahr. Für Jurek hingegen sind es – abgesehen von längst vergangenen episodischen Aufenthalten in Wien und New York – Niederoed, in das er Miram zuliebe zurückgekehrt ist, und – nach dem Auszug aus seinem Elternhaus – Oed, dessen ›Stadtfeeling‹ sich auf den Ausblick auf Mülltonnen im Innenhof reduziert (vgl. Straub 2015: 130).

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»Oed verspricht dir nichts, also kann es dich auch nicht enttäuschen« (Straub 2015: 169).

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Schauergeschichten (vgl. ebd.: 154), mit denen sie in ›ihrer Welt‹, aus deren Perspektive sie Oed wahrnimmt und an der sie es misst, zu reüssieren gedenkt, aber auch in Abscheu und absurden Ängsten7 vor dem ›Anderen‹. Der Gegenwart in Oed hält sie eine reale bzw. erinnerte Vergangenheit und eine imaginierte Zukunft in Wien entgegen. Dennoch wird die Reise für Greta, die als einzige Figur aus dem untersuchten Sample ihre Einstellung zur Kleinstadt (hier: zum Positiven) verändert, auch Anfangspunkt eines Selbstfindungsprozesses. Der Platz des Hundes und Wir ohne Wal Eine Multiplizierung des Wahrnehmens zeigt sich in den Texten von Anna Weidenholzer und Birgit Birnbacher. DER PLATZ DES HUNDES umfasst acht, durch die jeweiligen Protagonist/innen und somit intern fokalisierte, hetero- und extradiegetisch wiedergegebene Erzählungen. Sie erzählen, die zentralen Ereignisse des Tagesablaufs mehrfach (oft antizipierend) darstellend, von Herrn Leopold, der in der »Zwischenzeit« (Weidenholzer 22011: 7) lebt, täglich für sich und seinen Hund (den es nicht mehr gibt) kocht, ins Gasthaus geht und mit den Motten spricht; von der Kellnerin Siri, die gern ins Innere der Menschen schauen möchte, Haare sammelt und archiviert, eine Liste möglicher Todesarten führt, und Simon, den sie liebt und an Lisa verliert; von Toni, der Taxi fährt, Löwenzahn oder Erdäpfel isst, regelmäßig einen Swingerclub besucht, auf Kontaktanzeigen antwortet und für eine Reise nach New York spart; von Herta, die wöchentlich ihren verstorbenen Mann Karl auf dem Friedhof besucht und mit dem Postbus zum Rendezvous fährt; von Hermine und ihrer Hündin Kavka, die mittwochs Lotte auf dem Landfriedhof besuchen und Tomaten pflanzen; von Franz Xaver Aumüller, der auf das abendliche Treffen mit Beate und Tobias wartet, Fotos in Dekadenstapel ordnet und dabei mit der Biografie des Großvaters konfrontiert wird; vom Schulwart Ferdinand, der Sessel und Sätze wegräumt und die meisten seiner Wörterbücher aufgrund von politischer Unpopularität der Sprache in seinem Kasten verbirgt; von Elsbeth, die Mangalitzaschweine mag und über Psychotherapie und Yoga zu sich zu finden versucht. Auch die zehn Kapitel von WIR OHNE WAL werden unterschiedlich fokalisiert, allerdings fallen Modus und Stimme in den durchwegs intradiegetischen, homodiegetischen Erzählungen zusammen. Es erzählen: (a) Anna, die gemeinsam mit Marika das Projekt »Oberton« (den titelgebenden und ebenso ungenützten wie unbemerkt wieder verschwundenen Wal) am Himmel über der Stadt installiert hat, vom Besuch ihrer in Zürich beruflich und bis vor kurzem auch privat erfolgreichen 7

So z.B. in der Angst, sich mit »körperlichen oder geistigen Defekten« (Straub 2015: 30) anzustecken.

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Schwester (Jo)Hanna; (b) Marko, der gemeinsam mit Ivan eine Tankstelle überfallen hat, von seiner Festnahme, seinem Aufenthalt in der Wohngemeinschaft für straffällig gewordene Jugendliche, von der Gerichtsverhandlung, der Willkommens-Fete der Clique am Sprungturm des Freibads und seiner Trennung von Sanela; (c) B., weiblich, Wunschberuf Architektin und leicht gehbehindert, von ihrem Krankenhausaufenthalt und den massiven Verletzungen, die sie beim Brand ihrer Wohnung erlitten hat; (d) Sanela, die unter einer dissoziativen Identitätsstörung leidet, zusammen mit Manuel und Andreas zur Gruppentherapie geht, von Frau Marianne beraten wird und seit kurzem eine eigene Wohnung hat; (e) Ella, die mit Noras Freund David, der vom Verschwinden und Wiederauftauchen des Bettlers Havel berichtet, unterwegs ist und Zeugin wird, als David auf offener Straße verprügelt wird; (f) Marika Grader, die zusammen mit Theresa über den lang zurückliegenden Missbrauch durch Norbert, den Sohn der Nachbarin, spricht; (g) Nora, die als Heimhilfe mit dem mehrfach behinderten Lutz zusammenlebt, von ihrem Nackt-Club-Besuch mit Maleg und ihrem – nur mit Mantel und Stiefeln bekleidet – Zusammentreffen mit Ella und David; (h) Antonia Grader, Marikas und Theresas Mutter, von ihrem Selbstmord aufgrund des unbemerkt gebliebenen Missbrauchs ihrer Töchter; (i) Eve, die Exfreundin von Markus, vom Studententreff in Erkans Imbissbude und von der Errichtung der Terminals für das Global-Dialogue-Projekt; (j) Lautsprecher, der von Laura für den Tod ihres Hundes verantwortlich gemacht wird, vom Verstreuen der Asche auf dem Stadtberg. Anna Weidenholzers und Birgit Birnbachers Kleinstädte sind wesentlich über ortsbezogene soziale und kulturelle Strukturen sowie über die Werthaltungen und Handlungen ihrer Einwohner/innen erfassbar und mithin als Milieus (vgl. Frey 2012: 509) charakterisiert. Ihre exzentrischen und zum Teil liebenswerten Bewohner/innen werden als vom Leben Benachteiligte, durch materielle Armut, vor allem aber durch Einsamkeit (häufig als Folge eines Verlusts) reduzierte und auf sich selbst Verwiesene dargestellt. Sprach- und handlungsunfähig, sind sie durch vorgezeichnete Wege und in den Routinen des täglichen Lebens gefangen; sie stehen – mitten in der Kleinstadt – am Rande einer Gesellschaft, deren Beobachtende und Beobachtete sie sind. Der Erfolg tritt nur als Abwesendes, das Mögliche nur als Unterlassenes zu Tage (Weidenholzer). Sie erscheinen einerseits als sozial, aber auch durch physische und psychische Beeinträchtigungen Depravierte, als durch sexuellen Missbrauch und andere Formen von Gewalt Beschädigte; andererseits kommen sie als Täter (Drogenkonsum, körperliche Auseinandersetzungen) in Konflikt mit der Gesellschaft, mitunter auch mit dem Gesetz (Birnbacher). Ihr multiples Scheitern wird explizit mit der Konfiguration ›Kleinstadt‹ = »Scheißstadt« (Birnbacher 2016: 93) korreliert, die als negative Konstante – »hier hat sich nichts verändert, darum gehen ja alle nach Wien« (ebd.: 6) – ihre Bewohner/innen nicht nur in ihren Wahrnehmungen und Empfindungen stumpf macht, sondern sie

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auch nach und nach in ihrer Körperlichkeit absorbiert (ebd.: 79 bzw. 57). Trotz ihrer substanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Inattraktivität übt die Kleinstadt eine unüberwindliche Kraft auf die Protagonist/innen aus, die als Zurückgelassene bzw. Zurückgebliebene inszeniert werden. Herzkörper Die komplexeste Form des Erzählens von Kleinstadt in der österreichischen Gegenwartsliteratur findet sich in Harald Darers Roman HERZKÖRPER, der zum einen die Handlung um Andi, Chris, Boro und vor allem Rocko (im Folgenden und der Erzählabfolge entsprechend Handlung II), zum anderen die Geschichte um Maria Satori (Handlung I) erzählt.8 Beide Handlungsstränge werden (sofern man die Aufspaltung von Handlung II nach unterschiedlichen Erzählern als BinnenPhänomen betrachtet) im Wesentlichen alternierend erzählt. Handlung I erzählt das mehrere Stunden eines Tages (vom Morgen bis zum Abend) dauernde Zusammentreffen von Maria Satori, knapp 40, Juristin und Rektorin einer großen Fachhochschule für Sozialberufe, mit der Journalistin Simone Remschnik. Sowohl das ›offizielle‹ Interview (es folgt auf kurze heterodiegetische, intradiegetisch variabel durch Maria und Simone fokalisierte Erzählungen mit expositorischer Funktion) als auch das darauffolgende Gespräch mit zunehmend persönlichem Charakter, in dem Maria deutlich mehr Redeanteil zukommt, wird – in der Wiedergabe des Dialogs – intern und vorwiegend durch Maria fokalisiert. Handlung II erzählt die Ereignisse zweier aufeinanderfolgender Tage (Samstag und Sonntag) über unterschiedliche Textsorten: hetero- und extradiegetische, durch Boro, Chris, Andi, Rocko und vereinzelt Rampitsch; intern fokalisierte Erzählungen, homo- und intradiegetische und durch die jeweiligen Erzähler (Chris, Rampitsch, Boro und Andi) fokalisierte Gedächtnisprotokolle (Analoges gilt für Rampitschs Aussage), den hetero- und extradiegetischen, extern fokalisierten AbschlussBericht Helmut Töschls, schließlich die intern fokalisierten, ungeordneten Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle des sterbenden Rocko. Anders als Handlung I erfolgt das Erzählen in Handlung II nicht chronologisch. Wie in WIR OHNE WAL wird auch in HERZKÖRPER die Kleinstadt, raumdeterministische Theorien fortschreibend, zum bestimmenden Faktor für ihre Menschen – in Maria Satoris analytischem Zugang ebenso wie in den Alltagspraktiken der (vorwiegend jugendlichen) Bewohner/innen. Ohne familiäre oder berufliche Verbindlichkeiten, schlagen Andi, Chris und Boro ihre reichlich vorhandene Zeit mit Alkoholexzessen, ›Spielen‹, für die sie selbst die perversen Regeln aufstellen, 8

Einer Unterscheidung von Haupt- und Nebenhandlung widersprechen Autonomie und unklare Gewichtung der Narration.

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öffentlichen Provokationen und Sachbeschädigungen tot. Frustriert, gelangweilt und träge bewegen sie sich streunend und suchend durch den kleinstädtischen und suburbanen Raum, den sie – auch gewaltsam – besetzen. Bis auf die wöchentlichen Treffen der Clique und die ritualisierten, sadistischen Quälereien des Obdachlosen Rocko, ihres »Zeitvertreib[s]« (Darer 2015: 169), der mit seiner »Fremdheit« kokettiert und über Selbstverletzungen Arbeitsunfähigkeit vortäuscht, folgt ihr Leben keiner Struktur. Als Rocko tot aufgefunden wird, können sie – wie auch die übrigen Einwohner – keine Angaben machen. Wie in Birnbachers WIR OHNE WAL (dem Kapitel »aber wir (Ella)«) wird auch bei Darer der – im Hinblick auf das hierarchische Gefüge der Kleinstadt – ›eigentliche‹ marginal man (dort der Bettler Havel, hier der Obdachlose Rocko) über eine zugeschriebene (Havel) oder tatsächlich eingelöste (Rocko) Hilfsbereitschaft zum moralischen Helden in einer brutalen und ignoranten kleinstädtischen Welt stilisiert. Auch wenn sie an keiner Stelle direkt auf diese Bezug nimmt und auch raumzeitlich weder konkret noch in Relation zu ihr explizit verortet wird, kann Maria Satoris Erzählung – als gesellschaftliche Analyse (kleinstädtischer) Gegenwart entsprechend den Faktoren Ursache/Wirkung – als Prämisse für ein künftiges oder auch immer wiederkehrendes Vorgängiges der Kleinstadt, aber auch als sozialwissenschaftlicher Kommentar zu einem bereits Geschehenen gelesen und auf die Parallelerzählung (Handlung II) bezogen werden. Was Maria, die sich selbst eine Herkunft aus nicht näher erläuterten komplizierten Verhältnissen attestiert, theoretisch auslotet – der Mensch als von (negativen) Vorgaben Geformter, als den Akzidenzien eines »sinnlosen Glücks bzw. Unglücks ohnmächtig [A]usgeliefert[er]« (ebd.: 180) und auf diese Reagierender –, entwickelt Handlung II an einem konkreten ›Fall‹. Andi, Chris und Boro, aber auch Rocko performen ›ihren‹ Determinismus: Indem sie die Ursache für ihre »Multiproblemlagen« (ebd.: 132) der Kleinstadt zuschreiben und damit externalisieren, delegieren sie mit der Verantwortung für ihre unbefriedigende Situation 9 auch jene für ihre (vergebliche) Revolte gegen ein kleinbürgerliches Establishment (überwiegend »Einfamilienhäusler und Kleinfirmler«, ebd.: 77), dessen Reaktionen notorisch ausbleiben. Ein Bewusstsein für ihr Verhalten entwickeln sie ebenso wenig wie sie einen Ausgang aus ihrer Misere (»Hölle«, ebd.: 154) finden – auch Rocko nicht, der als einziger (zumindest auch) über eine, in Handlung I als notwendige Voraussetzung für eine Veränderung definierte, positive Erinnerung verfügt. Was Maria Satori über ihre Klienten sagt – nämlich, dass sie weder über Empathie noch über binäre Oppositionen, sondern im »multiperspektivischen Diskurs« (ebd.: 42) fassbar würden –, versucht der Roman über ein Erzählen aus verschiedenen Perspektiven strukturell einzulösen.

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»[A]lles besser als das hier« (Darer 2015: 87).

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Relationen 3: Aspekte der Perspektive/n – Multiperspektivität Die vorangegangene Analyse hat für alle Texte des Samples eine Pluralisierung von Wahrnehmungs- und Erzählinstanzen gezeigt.10 Wenn im Folgenden von multiperspektivischem Wahrnehmen und Erzählen die Rede sein soll, so trägt die Präzisierung auf terminologischer Ebene dem Rechnung, was der Sache nach bereits in der Typologie der Multiperspektivität bei Nünning/Nünning (1999) grundgelegt ist: einer Differenzierung von ›Perspektive‹ in die Operationen von Wahrnehmen und Erzählen als deren wesentliche Konstituenten. Der Einführung eines dritten Moments, das durch unterschiedliche Textsorten und deren Kombination Perspektive erzeugt und das Nünning/Nünning (1999: 376) als Analogbildung zum multiperspektivisch fokalisierten und zum multiperspektivisch erzählten Text im »multiperspektivisch strukturierten Text[]« zu bündeln versuchen, folgt die vorliegende Untersuchung aufgrund der ungenauen methodisch-systematischen Passung nicht; die Textsorte/n (als Komponenten) und Collage (als Verfahren), wie sie Darers HERZKÖRPER zeigt, werden stattdessen ebenfalls über Modus und Stimme (= Perspektive) bzw. deren Wechsel fassbar gemacht. An der unterschiedlich beurteilten und für eine Abgrenzung zu Polyphonie bzw. Polyperspektivität funktionalisierten inhaltlichen Bestimmung von Multiperspektivität als Wiedergabe »d[e]sselbe[n]« durch »zwei oder mehrere Erzählinstanzen auf der extradiegetischen und/oder der intradiegetischen Erzählebene« bzw. durch »zwei oder mehrere[] Fokalisierungsinstanzen bzw. Reflektorfiguren« (ebd.: 375) soll im Wesentlichen festgehalten, das gemeinsame Erzählte aber insofern modifiziert werden, als das auf Handlung fokussierte »Geschehen« (ebd.) dem Frageinteresse des Beitrags entsprechend für das ›Objekt‹ Kleinstadt als physisch-räumliche und sozial-kulturelle Konfiguration gewendet werden soll. DAS FEST DES WINDRADS verfügt über zwei (jeweils hauptsächlich) wahrnehmende Instanzen, DER PLATZ DES HUNDES, WIR OHNE WAL und HERZKÖRPER über deutlich mehr. Alle untersuchten Kleinstadt-Erzählungen sind intern fokalisiert, erzählt werden sie zu einem überwiegenden Teil von extra- und heterodiegetischen (Straub, Weidenholzer) Erzählerinnen und Erzählern bzw. Reflektorinnen und Reflektoren; Ausnahmen bilden die Romane von Birnbacher und Darer, die zur Gänze (WIR OHNE WAL) oder teilweise (HERZKÖRPER) homodiegetische Erzähler/innen aufweisen. Anders als die Romane von Straub und Darer, deren erzähltes Gesche-

10 Die Handlungsstränge in Peschkas Roman – von denen einer, nämlich die Komplementärerzählung »Im Wald«, nicht für die Signifikation von Kleinstadt genützt wird – werden zwar durch die dieselbe Figur (Fanni), aber in unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Situierung fokalisiert, was als (Binnen)Differenzierung des Blicks gesehen werden kann.

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hen (linear oder auch nicht) kontinuierlich auf einen akzentuierten Abschluss zuläuft – hier die mit Rockos Todesfantasie kontrastierten Ermittlungsergebnisse bzw. die Beendigung des Gesprächs von Maria Satori und Simone Remschnik, dort das titelgebende und zum kollektiven Aufbruch Oeds stilisierte Fest des Windrads – sind die 8 bzw. 10 Erzählungen in DER PLATZ DES HUNDES bzw. WIR OHNE WAL als episodenhaftes bzw., mit Betonung des formalen Elements, als Short-Cuts-Erzählen (Terminus und Abgrenzung siehe Potsch 2014: 108ff.) konzipiert: Anstatt Handlung in einem traditionellen Sinn zu entwickeln, bilden die Erzählungen Ereignisketten und bleiben strukturell insofern offen, als sie weder auf ein Ziel hin erzählen noch eine ›Lösung‹ bereitstellen. Sie funktionieren sowohl für sich als auch, im Kontext des Erzählbandes (Weidenholzer) bzw. des Romans (Birnbacher), mit- und füreinander. Verknüpft sind die einzelnen Erzählungen sowohl bei Weidenholzer – DER PLATZ DES HUNDES ist damit trotz seines gattungssetzenden Untertitels ebenso sehr (nicht: so wenig, vgl. Polt-Heinzl 2016) Roman wie WIR OHNE WAL – als auch bei Birnbacher über die Figuren und ihre je unterschiedliche Konfiguration, stärker noch über den Handlungsraum bzw. Schauplatz. Auch wenn sie nicht zu einem Master-Plot zusammengeführt werden, gewinnen die von Fragmentierung und Partikularisierung gekennzeichneten Einzel-Erzählungen im Sinne von Komponenten »additional power from each other« (Phillips, zit. nach Potsch 2014: 115) für eine physisch-strukturelle als auch sozial-kulturelle Qualität von erzählter Kleinstadt: Die zunächst isolierten Straßen und Orte der Stadt werden in den Erzählungen dimensioniert, lokalisiert und für die Figuren, die – beabsichtigt oder zufällig, bei Weidenholzer häufig auch nur ein einziges Mal – aufeinander treffen, mehr oder minder stabile Beziehungen unterhalten und wieder auseinander gehen, funktionalisiert. In Erzählungen raumzeitlicher Kontingenz werden sie als Orte des Aufenthalts und Transits, als Schnittpunkte und Wege zu Knoten und Konnexionen in einem Begegnung erst ermöglichenden kleinstädtischen Raum. Der charakteristischen und über rhizom- (vgl. Deleuze/Guattari 1977) bzw. meshwork- (vgl. Ingold 2011: 63ff.) Strukturen Raum konstituierenden Figurenbewegung des wayfaring entspricht auf formaler Ebene ein zur Gänze oder mindestens teilweise, weder in seiner chronologischen noch kausalen Abfolge determiniertes, durch die (auch physische) Realisation des Publikats in einer seiner möglichen räumlichen Anordnungen konkretisiertes und in diesem Sinn offenes Konzept des Erzählens aus mehreren Perspektiven. Dem relationalen Konzept von (hier: erzähltem) Raum korrespondiert ein relationales Konzept von Narration, das wesentlich über multiple Perspektivierungen konstituiert wird. Für ein Perspektivenprofil11 der untersuchten Texte

11 Wie es unter dem Begriff der Perspektivenstruktur auch von Nünning/Nünning (1999: 383) vorgeschlagen wurde.

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scheint eine Differenzierung dessen, was wahrgenommen/erzählt wird, notwendig: wird es als »Geschehen« (vgl. Nünning/Nünning 1999: 383) gefasst, so zeigt die Erzählung – sofern überhaupt Geschehen wahrgenommen/erzählt wird –,12 signifikante Unterschiede in der Perspektivierung und weist damit auf ein offenes Perspektivenprofil (vgl. ebd.: 59); wird es dagegen als multimodale Konfiguration von ›Kleinstadt‹, mithin als (freilich dynamisch zu denkendes) ›Objekt‹ definiert, stehen die Perspektiven der einzelnen Erzählung/en in einem additiven bzw. korrelativen Verhältnis zueinander und konvergieren, der geschlossenen Perspektivenstruktur (vgl. ebd.: 61) entsprechend, in einem mehr oder minder organischen und überwiegend negativen Bild der erzählten Kleinstadt. Diese Beobachtung trifft auch auf Straubs Roman zu, der die beiden Wahrnehmungs- und Erzählperspektiven vor allem graduell unterscheidet. Die tendenziell geschlossene Struktur multipler Perspektiven erfüllt für das Erzählen von Kleinstadt ganz spezifische Funktionen. Für Weidenholzer, Birnbacher und Darer ist eine Technik des Erzählens charakteristisch, die über die Dynamik von »Zersplitter[n] und Verknüpf[en]« (Potsch 2014: 9) beschrieben werden kann: In der mehrfachen Perspektivierung schafft ein aspekthaftes, fragmentiertes, in einem alternierenden Entwurf sukzessives und diskontinuierliches Erzählen jene Distanz, die eine Überschau der erzählten Kleinstadt ermöglicht. Aus der Totalität der Kleinstadt lösen sich Figuren, die – zwar innerhalb des räumlichen, nicht aber des sozialen und funktionalen Systems stehend – umso stärker als Vereinzelte, als lost in smalltown, wahrnehmbar werden. Obwohl die unabhängig von der Diegese des Erzählens durchwegs interne Fokalisierung die Subjektivität des Erzählten betont, wird sein Wirklichkeitsstatus für die erzählte Kleinstadt (ganz anders als für das erzählte Geschehen) über die Multiperspektivität nicht zur Disposition gestellt, sondern konsolidiert: Indem (Peschkas FANNIPOLD einmal ausgenommen) keine der Figuren über quantitative oder qualitative Relationierungen protegiert wird und damit eine dominante perspektivensteuernde Funktion bekommt, hat die negative Sicht der Kleinstadt als ›wahr‹ zu gelten. Unzuverlässiges Erzählen, wie es häufig mit Multiperspektive korreliert wird (z.B. bei Menhard 2009, Nünnning 2015), kommt auf der Ebene des Erzählens von Kleinstadt (im Unterschied zur Erzählung von Geschehen) nicht in den Blick. Was für die konkrete erzählte Kleinstadt bei Birnbacher, Darer, Peschka, Straub und Weidenholzer festgestellt wurde, soll abschließend für ein bislang lediglich postuliertes und in den Begriff des smalltownship gefasstes, abstraktes ›Kleinstädtisches‹ funktionalisiert werden.

12 Genau genommen kann nur für Darers HERZKÖRPER (Handlung II) und für einzelne Episoden aus DER PLATZ DES HUNDES und WIR OHNE WAL sowie (ebenso punktuell) für DAS FEST DES WINDRADS davon gesprochen werden.

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S MALLTOWNSHIP Eine Zusammenschau des untersuchten Samples macht deutlich, dass sich smalltownship als Konfiguration relativ konstanter architektonischer, funktionaler, sozialer und ideologischer (rückständig, alternativlos, eingeschränkt, konform) Merkmale beschreiben lässt. Mit Ausnahme von Oed im FEST DES WINDRADS, das als Hybridkonzeption (zumindest auch) rural und darüber hinaus auch regional markiert ist – als »österreichischer Wechselbalg« (Straub 2015: 121) »vereine [es] das Schlechte von der Stadt und das Schlechte vom Land« (ebd.) – zeigen alle erzählten Kleinstädte (wenn auch stark reduzierte) urbane Kodierungen. Dementsprechend ist die Kleinstadt bei Birnbacher, Darer, Peschka und Weidenholzer nicht über den Antagonismus von Stadt und Land, sondern über jenen von – ausschließlich imaginierter und als Gegen- bzw. Sehnsuchtsort des Schauplatzes bzw. des Handlungsraumes funktionalisierter – Stadt und Nicht-Stadt zu beschreiben, als deren Repräsentation eben nicht das Dorf, sondern die Kleinstadt figuriert. Stärker als über siedlungsspezifische Oppositionen ist die erzählte Kleinstadt durch Positionierungen und Relationierungen (wie innen und außen) bzw. – mit Blick auf die von den Bewohnerinnen und Bewohnern weder hinterfragte noch als veränderbar gedachte räumliche und soziale Zugehörigkeit – ein erlittenes prekäres (Dr)Innen und ein zu diesem in reziprokem Verhältnis stehendes idealisiertes und ersehntes (Dr)Außen charakterisiert. Die organisch-hermetische Qualität der literarischen Kleinstadt und ihre zentripetalen Kräfte werden in der durchwegs internen Fokalisierung der Erzählungen abgebildet bzw. durch diese erst hervorgebracht. Eine zwischen wahrnehmender/frequentierender Figur/Instanz und Objekt entstehende und über multiple Perspektivierungen potenzierte, relationale Raumkonstitution wird durch ein deterministisches anthropologisches Konzept von Raum überschrieben; die wenigen Versuche, Räume neu zu formatieren, bleiben ohne Erfolg. Das Titelzitat vom »perspektivischen Niemandsland« (Birnbacher 2016: 36), das die erzählte Kleinstadt metaphorisch als unwirtlich, außerhalb des Interesses stehend und über das Fehlen einer Aussicht auf die Zukunft charakterisiert, kann auch als strukturelle Kennzeichnung – als Niemandsland, das als Dazwischenliegendes Anteile an Stadt und Nicht-Stadt hält, aber zu keinem von beiden gehört, wird die erzählte Kleinstadt zum liminal space, in dem die Klassifikation einer eindeutigen Zuordnung aufgehoben ist und wie er in der Figur der Grenze (Lotman 1972), des Zwischenraums (de Certeau 1988) oder auch der Zone (Fludernik 1999) modelliert wurde – und darüber hinaus als Aussage über das Erzählen von Kleinstadt gelesen werden: Indem sich Kleinstadt zwischen wahrnehmender/frequentierender Figur/Instanz und wahrzunehmendem/-genommenem Objekt konstituiert und als solche über mehrere Narrator-/Reflektorfiguren vermittelt wird, erweisen sich für das untersuchte Sample zeitgenössischer österreichischer Erzählungen Perspektive und, als deren

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Potenzierung, Multiperspektivität sowie ein hinsichtlich des Erzählens von Kleinstadt weitgehend geschlossenes Perspektivenprofil als zentrale Momente für ein durchweg negatives Bild von Kleinstadt.

L ITERATUR Primärliteratur Birnbacher, Birgit (2016): Wir ohne Wal, Salzburg/Wien: Jung und Jung. Darer, Harald (2015): Herzkörper. Roman, Wien: Picus. Peschka, Karin (2016): FanniPold. Roman, Salzburg/Wien: Otto Müller. Straub, Isabella (2015): Das Fest des Windrads. Roman, Berlin: Aufbau. Weidenholzer, Anna (22001): Der Platz des Hundes. Erzählungen, Wels: mitter. Sekundärliteratur Appadurai, Arjun (2010): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press. Augé, Marc (32012): Nichtorte. Übersetzt von Michael Bischoff, München: Beck. Böhme, Hartmut (2005): »Raum – Bewegung – Topographie«, in: Ders. (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. IX-XXIII. Burdorf, Dieter/Matuschek, Stefan (2008) (Hg.): Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität, Heidelberg: Winter. Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977): Rhizom. Aus dem Französischen übersetzt von Dagmar Berger, Berlin: Merve. Dennerlein, Katrin (2009): Narratologie des Raumes, Berlin: de Gruyter. Dirksmeier, Peter (2009): Urbanität als Habitus. Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land, Bielefeld: transcript. Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (2015) (Hg.): Handbuch Literatur & Raum, Berlin: De Gruyter. Fludernik, Monika/Gehrke, Hans-Joachim (1999) (Hg.): Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg: Ergon. Foucault, Michel (2006): »Von anderen Räumen«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 317-327. Frey, Oliver (2012): »Städtische Milieus«, in: Frank Eckardt (Hg.), Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden: VS, S. 503-525.

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Kleinstadt/Kleinstaat Zu einem Doppeldiskurs in der Schweizer Gegenwartsliteratur C HRISTOPH S TEIER

V ON S ELDWYLA NACH O LTEN ,

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Im Chronotopos der Kleinstadt verhandelt die Schweizer Literatur spätestens seit Gottfried Kellers SELDWYLA-Novellen (vgl. Keller 2000) nicht einfach die Lebensbedingungen in einem Kleinstaat (vgl. Benne 2012), in dessen Selbst- und Fremdzuschreibungen Paradigmen der Überschaubarkeit wie Idylle, Inselstatus oder Naturnähe (vgl. Haupt 2004: 200ff.) traditionsmächtig verstellen, dass die Schweiz zu den am frühesten und gründlichsten globalisierten Industrienationen zählt (vgl. von Matt 2009: 16f.). Zur Debatte steht vielmehr immer auch der umstrittene diskursive Status (vgl. Lauer 2005) der Schweizer Literatur selbst. Als ›kleine‹ (vgl. Deleuze/Guattari 1979), zumal in vier Landessprachen binnendifferenzierte Literatur (vgl. Kamm u.a. 2010) sieht sich die Schweizer Literatur in weiten Teilen jenen Konfliktfeldern ausgesetzt, die auch die Chronotopoi der Kleinstadt und des Kleinstaats bestimmen: Kritisch zu führen ist einerseits ein DISKURS IN DER ENGE (Nizon 1973), dessen beklagte oder auch bejahte Begrenztheit (vgl. Haupt 2004: 217) andererseits immer schon von der peripheren Bezogenheit auf die ›großen‹ Literaturen bzw. Kulturen der jeweiligen Landessprache unterlaufen wird.1 Dass jede Rede von Zentrum und Peripherie in Zeiten globaler Vernetzung ebenso fragwürdig erscheint wie die Vorstellung primär nationalstaatlich oder kulturell determinierter

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Dass die damit eng verbundene »Sehnsucht nach Metropole« indes auch ein deutsches (Nachkriegs-)Phänomen ist, das der historisch wirkmächtigen diskursiven Überblendung von Moderne und Metropole bei gleichzeitiger Abwertung kleinstädtischer Provinz »zur Brutstätte des falschen Bewusstseins und der Konvention« (Benne 2012: 149f.) aufsitzt, legt Christian Benne überzeugend dar.

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Identitäten, rückt den Diskurs zunächst ins Zwielicht des Überkommenen, erweist sich angesichts der institutionalisierten Praktiken, die Zugehörigkeiten und Verkehrswege im Namen des Kleinstaats eben doch unausgesetzt ein- und ausschließend regeln, jedoch als stets aktuelles Problem. Das notorische bzw. notorisch bestrittene UNBEHAGEN IM KLEINSTAAT (Schmid 1963) findet auf diese Weise in der literarischen Verhandlung der Kleinstadt eine poetologische Reflexionsfigur ersten Ranges. So stehen im Folgenden drei aktuelle Zugänge zur Debatte, die im Schreiben über die Kleinstadt das Schreiben im und über den Kleinstaat auf je unterschiedliche Weise reflektieren und gerade in ihren divergenten Rekursen auf ›den‹ Schweiz-Diskurs zeigen, dass es diesen im Sinne einer kohärenten Projektionsfläche nicht gibt: Die »Mythen« der »Alpen«, der »Eidgenossenschaft«, des historischen »Sonderfalls«, des literarischen »Gegendiskurses« oder der friedfertigen »Multikulturalität« (Barkhoff/Heffernan 2010: 20ff.), um nur jene zu nennen, die die helvetischen »Mythenrevisionen« (ebd.: 13) der letzten drei Jahrzehnte einigermaßen unbeschadet überstanden haben, koexistieren in ebenso produktiver wie fragiler Selbst(bild)widersprüchlichkeit. Diese findet sich in den untersuchten Texten teils explizit, teils performativ reflektiert. So ist die auch in Deutschland sehr erfolgreiche Olten-Prosa von Alex Capus zwar dicht am positiven Image der Schweiz als ebenso offener wie traditionsbewusster, ebenso bodenständiger wie geschäftstüchtiger Demokratie mit überschaubaren Grenzen orientiert, gerät jedoch gerade dort, wo die in vielen Hinsichten spezifisch schweizerische Kleinstadt Olten zum unspezifisch-westeuropäischen Modellfall stilisiert wird, rasch an die Grenzen des heiteren Sowohl-als-auch: Olten ist eben nicht überall, unter der gelassenen »Alles bestens«-Rhetorik (Capus 2016: 105) arbeiten die sozioökonomischen Fliehkräfte der »flüchtigen Moderne« (Bauman 2003). Dem Spiel auf Zeit, in dem Capus sein »privates Kuhdorf« (Capus 2016: 143) nicht nur erhält, sondern zinsträchtig von Olten-Buch zu Olten-Buch bewirtschaftet, stellt Lukas Bärfuss in seinem 2014 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Roman KOALA einen DISKURS IN DER ENGE (Nizon 1973) im doppelten Sinne gegenüber: Der Suizid des in der Kleinstadt Thun verbliebenen Halbbruders stellt und verstellt die Frage nach dem Aufwachsen in einer Schweizer Garnisonsstadt im Kalten Krieg. So werden die restringierten »Lebenschancen« (Dahrendorf 1979) des Außenseiters zwar mehr als kenntlich gemacht, vom allegorisch-universalistischen Abschweifen auf die australische Siedlungsgeschichte jedoch zugleich überschrieben. Ironischerweise folgt Bärfuss’ vordergründig kritischer Kleinstadt-Roman in dieser etwas »voreilige[n] Vergeistigung« (Nizon 1973: 45) einem von Paul Nizon bereits vor über vier Jahrzehnten als typisch helvetisch deklariertem Diskursmuster, während Capus’ scheinbar affirmativer Kleinstadt-Roman in einer chiastischen Verkehrung – wenn

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auch nolens volens – die Bruchstellen jeder im Zeichen der Kleinstadt aufgerufenen Rhetorik der Bewahrung lesbar macht. Vermittlungen derartiger Kleinstadt-Verklärung und -Verdammung finden sich hingegen in der im letzten Jahrzehnt vielbeachteten Schweizer Spoken WordSzene: Während die vornehmlich in Schweizer Mundart verfassten Sprechtexte sich einerseits an ein dezidiert klein(staatlich)es Publikum wenden, den ökonomisch eigentlich unverzichtbaren deutschen Buchmarkt also ignorieren,2 schreiben sie sich sowohl formal wie performativ mehrheitlich in die Tradition ebenjener Avantgarde ein, die es in der Schweiz historisch gesehen meist schwer hatte (vgl. Rusterholz/ Solbach 2007: 184ff.). So gilt das Interesse der hier exemplarisch vorgestellten Texte der Performer Jurczok 1001 und Ariane von Graffenried den Übergängen, Mischformen und Randgebieten, die die Kleinstadt wie den Kleinstaat exemplarisch als interdiskursiven Möglichkeitsraum ausweisen, der gerade nach dem vielbeschworenen Ende der großen Erzählungen noch gesellschaftlich relevante narrative Modellbildungen erlaubt. Dabei sind es vor allem die Attribute des Prekären und der Unhaltbarkeit bei gleichzeitiger Persistenz, die Kleinstadt und Kleinstaat sowie ihre Literaturen an der Schwelle zum »Fantom« (Caduff/Sorg 2004) oder auch zur »Heterotopie« (Foucault 2013) nicht zwangsläufig zu Gegenentwürfen, wohl aber zu Prüfsteinen der »flüchtigen Moderne« (Bauman 2003) qualifizieren.

»A LLES BESTENS «? Z UM K APITAL DER I DYLLE A LEX C APUS ’ O LTEN -P ROSA

IN

Neben historisch und topographisch weit ausgreifenden, gründlich recherchierten Stoffen, die von einem in Afrika wieder zusammengesetzten deutschen Dampfschiff am Vorabend des Ersten Weltkriegs (EINE FRAGE DER ZEIT, 2007) bis zur publikumswirksamen Fiktionalisierung der eigenen deutsch-französischen Familiengeschichte (LÉON UND LOUISE, 2011) reichen, bildet die Stilisierung seiner Heimatstadt Olten zum literarischen Mikrokosmos den zweiten Schwerpunkt im Schreiben des Schweizer Erfolgsautors Alex Capus. Im gut zwanzig Titel zählenden Prosawerk bilden der Episodenroman MEIN STUDIUM FERNER WELTEN (2001), die Miniaturensammlungen DER KÖNIG VON OLTEN (2009) und DER KÖNIG VON OLTEN KEHRT ZURÜCK (2011), die Erzählbände ETWAS SEHR, SEHR SCHÖNES (2009)

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Einen Sonderfall stellt in dieser Hinsicht der auch fürs Kino verfilmte Mundart-Roman DER GOALIE BIN IG (2010) des Spoken Word-Künstlers Pedro Lenz dar, der nach dem großen Publikumserfolg auch in hochdeutscher Übersetzung, besorgt durch den Schweizer Lyriker und Rapper Raphael Urweider (vgl. Lenz 2012), erschien.

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und MEIN NACHBAR URS. GESCHICHTEN AUS DER KLEINSTADT (2014) sowie der jüngste Roman DAS LEBEN IST GUT (2016) eine topographisch wie poetologisch weitgehend homogene, autofiktional geprägte Werkgruppe. Capusʼ in diesen Texten entworfene, eher humoristisch als ironisch geprägte Ethnologie der Kleinstadt steht dabei in keinem Spannungs-, sondern in einem gegenseitigen Begründungsverhältnis zu seinen rechercheintensiven Erkundungen der Südsee (REISEN IM LICHT DER STERNE, 2005) oder des Wilden Westens (SKIDOO, 2012): Wie schon der wiederholte Hinweis, in Frankreich geboren zu sein, in Basel studiert, aber immer in Olten gewohnt zu haben, eröffnet Capus’ Selbstinszenierung als literarischer Globetrotter eine Schreibposition, die ihn über die regionale Begrenzt- und Beschränktheit seines Sujets erhebt. Eben diese Zwitterfigur des kleinstadtverbundenen Globetrotters markiert nun einen paradigmatischen Bruch mit dem selbst noch in seiner vehementen Zurückweisung seit den 1990er-Jahren (vgl. Haupt 2004: 190ff.) überpräsenten Schweizer »Kleinstaat«- und »Enge«-Diskurs des 20. Jahrhunderts: Unter den Bedingungen der globalisierten Spätmoderne bleibt den heimatkritischen unter den Schweizer Dichterinnen und Dichter nicht länger nur der folgenlose Eskapismus in Heimatverachtung (vgl. Schmid 1963: 185ff.), Größenphantasien (vgl. ebd.: 116ff.), »voreilige Vergeistigung« (Nizon 1973: 45) oder das Exil, vielmehr gehört eine topographische Doppelexistenz Capus’scher Prägung »im reichsten und friedfertigsten Land der Erde« (Capus 2016: 39) praktisch zur Norm: »Und weshalb sollte man die Welt erobern wollen, wenn easyJet einem sowieso jede nur denkbare Weltengegend zum Preis von drei oder vier Stundenlöhnen zu Füßen legt?« (Ebd.) So haben Capus’ Oltener zwar »vielleicht mal ein Jahr in Dubai gearbeitet oder ein Semester in Sheffield oder Berkeley studiert«, doch »so richtig aus dem Städtchen fortgezogen« (ebd.) ist keiner.3 Während also der Schweizer Kleinstaat längst zum bloßen, wenn auch privilegierten Knotenpunkt eines internationalen Verkehrsnetzes geworden ist, dessen Zentren wie »Zürich, New York Berlin« (ebd.) Capus’ Erzählern austauschbar scheinen, wird die zwischen den Schweizer Großstädten gelegene Kleinstadt Olten, ihrerseits bedeutender Zugverkehrsknotenpunkt und von uniformer Gentrifizierung bedroht, zum Hort einer singulären histoire de longue durée stilisiert: »Ich liebe Menschen, die bleiben, meine Freunde sind mir kostbar. Das Zusammensein mit

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Ähnlich Stamm (2015: 318): »Die meisten Mitglieder meiner Familie haben irgendwann in ihrem Leben im Ausland gearbeitet, heute leben wieder alle in der Bodenseeregion, im Umkreis von sechzig Kilometern.« Zur »Angleichung ländlicher Lebenswelten« an städtische Verhältnisse durch den »Ausbau der Kommunikationsnetze und der Mobilität« vgl. Schöbel (2011: 50), Nell/Weiland (2014: 28ff.).

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ihnen scheint mir oft wie mit Silberfäden durchwirkt, die nur die Zeit gesponnen haben kann.« (Ebd.: 40) Doch nicht nur die Menschen, die den schriftstellernden Ich-Erzähler Max in DAS LEBEN IST GUT (2016) in seiner Bar besuchen, sondern auch die täglich durchschrittenen »Wirkstätten meiner Vergangenheit« (ebd.: 217) sorgen dafür, dass Olten als »die durchschnittlichste Stadt des Universum« (Capus 2014: 72) zum raumzeitlichen Kontinuum wird, das Max vor dem Untergang retten will und dem sein Autor nach zahllosen Erkundungen in kleinen Prosaformen 4 nun erstmals die große Bühne eines Romans zugesteht: Wie sein Erfinder durch einige Erfolgstitel zu Geld gekommen, hat Max einige günstig an »Künstler, Studenten und Musiker« (Capus 2016: 140) vermietete Wohnungen im ehemaligen Eisenbahnerviertel sowie die Bar in der Altstadt erworben. Letztere versteht er als Bollwerk gegen Globalisierung, Gentrifizierung und Digitalisierung: »Ohne Bars und Kneipen, behaupte ich als Citoyen, ist die res publica undenkbar.« (Ebd.: 37) Das Ansinnen eines alten, nun in der Finanzhauptstadt Zürich operierenden Bekannten aus dem Arbeitermilieu, die Liegenschaften für »drei Millionen« zu kaufen, durch Neubauten zu ersetzen und damit vor dem nächsten, unvermeidlichen Finanzcrash die eigenen »Schäfchen ins Trockene« (ebd.: 145) zu bringen, lehnt Max empört ab und muss sich deshalb einen weltfremden Nostalgiker schimpfen lassen: »Das hier ist die Stadt. Hier muss man in die Höhe bauen. […] Du kannst doch nicht mitten in der Stadt dein privates kleines Kuhdorf bewahren.« (Ebd.: 143) Der Inselcharakter dieses privaten Bohème-Idylls inmitten einer zunehmend zersiedelten Landschaft, die die Grenzen der Kleinstadt längst aufgehoben hat,5 wird im kurzen, humoristischen Folgekapitel nochmals unterstrichen: Nachdem ein angetrunkener Stammgast die Bar mit seinem amerikanischen Besuch verlassen hat, imaginiert Max den Irrweg der beiden in ein beliebiges »Schlafdorf jenseits der Stadtgrenze« (ebd.: 147). Hinter dem von Bahngleisen, Discountern und Gastarbeiter-Plattenbauten zersiedelten »Niemandsland« (ebd.: 148) der Agglomeration stranden die beiden Pensionäre in einem fremden Haus, das dem eigenen so ähnlich sieht, dass sie sich der Hausbar bedienen, ohne überhaupt zu bemerken, »zwar im richtigen Viertel, aber im falschen Dorf« (ebd.) gelandet zu sein. Der Schweizer 4

Poetologisch reflektiert findet sich das Verhältnis von Kleinstadt und kleiner Form in DER KÖNIG VON OLTEN: Dem Aperçu, »dass Grossstädte wie Zürich oder Berlin auch nichts weiter sind als zehn- oder hundertmal Olten hintereinander« (Capus 2009: 99) folgt die das Bändchen beschließende Hoffnung: »All diese Fingerübungen zusammengenommen – das ist doch eigentlich ein ganz ordentliches Lebenswerk.« (Ebd.: 114)

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Zur Diskussion dieser ›rurbanen‹ Schweizer Landschaften, die aus raumplanerischer und landschaftsarchitektonischer Perspektive die vermeintliche Trennung und Gegenüberstellung von Stadt und Land angesichts der Ausbildung hybrider räumlicher Strukturen in Frage stellen, siehe etwa Eisinger/Schneider (2005).

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Kleinstadt steht folglich, zumindest im »Espace Mittelland«, entgegen der touristischen Suggestion kein dörflicher oder gar ländlicher Rückzugsraum gegenüber. Gewachsene Strukturen findet der Erzähler nicht in den auf »Kartoffeläcker« (ebd.) gestellten Wohnsiedlungen, sondern im Beziehungsnetz seiner Kleinstadt. Dieses ist allerdings nicht ganz nostalgisch, wie Max’ »privates kleines Kuhdorf«-Projekt suggeriert: Zur topographischen Erinnerungsfunktion der Oltener Straßen, Häuser und Menschen gehört eben auch, dass sie einen Wandel indizieren, der jedoch bei Capus stets mit der Konnotation des Beständigen versehen wird: »Ich bedaure keineswegs, dass das alles vorbei und vorüber ist. Meine Jugendliebe ist kürzlich Großmutter geworden, […] und im Sommerbrunnen baden in schwülen Sommernächten jetzt andere junge Leute.« (Ebd.: 218) Diese heiter-gelassene Verschränkung von Wandel und Bestand, die sich nicht nur in Capusʼ jüngstem Roman bevorzugt der narrativen Mittel der iterativen Frequenz und der Anekdote bedient, Singularität also immer mit dem Index der Wiederholung und des Allgemeinen versieht, gibt wichtige Hinweise auf den narrativen Möglichkeitsraum der Kleinstadt: Beschränkt genug, um die krisenhafte Verpflichtung des Romans auf »Totalität« (Lukács 2009: 37) zumindest noch in den Schwundstufen des Reigens oder Panoramas fortleben zu lassen, durchlässig genug, um der genealogischen Enge der Dorfgeschichte ein nach vorne gerichtetes, mit Leerstellen versehenes Erzählen gegenüberzustellen. Nach vorne gerichtet ist dieses Erzählen bei Capus jedoch nur, um die Zukunft stillzustellen, jeden künftigen Tag als einen wie diesen erscheinen zu lassen. In DAS LEBEN IST GUT liefert die längere Abwesenheit von Maxʼ Frau deshalb nicht allein die ohnehin schwach ausgeprägte narrative Zeitachse und den äußeren Anlass, das eigene Leben in exemplarischen Begegnungen zu skizzieren, vielmehr füllt dieser narrative Akt der Bestandsaufnahme die aktuelle, vor allem aber jede denkbare künftige Lücke, die eine Veränderung hinterlassen könnte: Das erzählerisch entworfene soziale Netz der Kleinstadt wird so dicht gewebt, dass es Tod und Abwesenheit zu verdrängen in der Lage ist. Im Rahmen dieses narrativ geschützten Mikrokosmos gedeihen dann folgenlose humoristische Gedankenspiele der Art, die allmorgendlich durch die »soziale und wirtschaftliche Wasserscheide« (Capus 2014: 63) der Bahngleise säuberlich getrennten Berufspendlergruppen würden durch unbemerkte Gleisänderungen an fremde Wirkungsstätten gebracht. Wobei die »Sozialarbeiter« aus der Provinz selbstredend das Zürcher Bankenwesen ebenso »aufmischen« würden wie die »Banker« den »Bundesbeamten etwas über effizienzorientiertes Arbeiten erzählen« (ebd.: 64) dürften. Wie sehr gerade dieser gezwungenen Heiterkeit der von ihr verdrängte Tod eingeschrieben bleibt, wird abschließend zu diskutieren sein. Für den Moment bleibt festzuhalten, wie effektiv die Kopplung eines überschaubaren, an den Grenzen aber scheinbar offenen Schauplatzes mit einer diese Offenheit neutralisierenden iterativen Frequenz die Kleinstadt zu einem narrativen Kosmos quali-

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fiziert, der jede Veränderung im doppelten Sinne aufzuheben vermag. Dass diese genuin erzählerische Leistung in nervösen Zeiten auf dankbare Abnehmer trifft, vermag nicht zu überraschen; und so avancierte Capusʼ Roman zum meistverkauften Schweizer Buch des Jahres 2016. Die im europäischen, aber zunehmend auch im Schweizer Kontext alles andere als gewöhnlichen materiellen und politischen Grundlagen dieser »Alles bestens«Haltung (ebd.: 105) streift Capusʼ Roman nur am Rande, aber – bereits in dieser scheinbaren Marginalisierung – durchaus paradigmatisch. Vom »reichsten und friedlichsten Land der Erde« und dem beruhigenden Polster von »drei Millionen« Franken war bereits die Rede, vor allem aber meint Max im Ausland mehrfach die Erfahrung gemacht zu haben, ihm »als Schweizer« komme »kraft meiner Herkunft gleichsam Diplomatenstatus zu« (ebd.: 168): »Mein roter Reisepass […] weist mich aus als Repräsentanten von Frieden, Gesetzestreue und Neutralität sowie als informellen Botschafter von UNO, IKRK, Nestlé, Omega, Maggi und Olympischem Komitee.« (Ebd.) Diese betont heterogene Liste, ihrerseits eine gekürzte Version des Auszugs aus einem Lehrbuch für Einbürgerungswillige, das im Prosaband MEIN NACHBAR URS unter dem Titel »Erkennungsmerkmale der Swissness« (Capus 2014: 42f.) ironisch zitiert wird, deutet an, dass »Gesetzestreue« zumindest für einige der genannten Großunternehmen und Organisationen vielleicht nicht an erster Stelle stehen könnte. Korruption und zweifelhaftes Geschäftsgebaren gehören denn auch für Max als offenes Geheimnis zur ökonomischen Grundausstattung des Kleinstadt- und damit eben auch des Kleinstaat-Bewohners, der aber stets nur die anderen für »Mitglieder einer wie auch immer gearteten mafiösen Vereinigung« (ebd.: 101), sich selbst jedoch für einen »unbestechlichen Außenseiter« (ebd.: 102) hält. Dieser exkulpatorische Humor, der seit dem ersten Olten-Buch MEIN STUDIUM FERNER WELTEN (vgl. Capus 2001: 189ff.) alle für ähnlich korrupt und ähnlich verblendet erklärt, endet indes bei den Honoratioren der Kleinstadt und ihren Immobiliengeschäften. Diese werden durchaus anklagend kolportiert (vgl. ebd.: 183ff.), doch letztlich liegt dem Erzähler auch bei dieser rhetorischen Geste des »J’accuse« vor allem an der Verteidigung seiner Inselhaltung. Erscheint sie ihm doch legitimiert durch harte Arbeit: »Mag sein, dass es eine Schwäche von mir ist, den Kampf gegen sie nicht aufzunehmen, aber ich habe mir das Privileg hart erarbeitet, mit Leuten, mit denen ich nichts zu schaffen haben will, auch wirklich nichts zu schaffen zu haben.« (Ebd.: 185) Auf diese Weise erklärt sich der schreibende Barbesitzer indes zum politischen Frührentner, der sich seine Inselexistenz rechtschaffen verdient habe und nun von den Zinsen seines akkumulierten Kapitals seine Neutralität oder auch Indifferenz finanziert. Ob es sich dabei um einen ironischen Kommentar zum aktuellen, (auch) von den wirtschaftlichen Verwerfungen des 21. Jahrhunderts noch verschonten Schweizer Selbstverständnis handelt, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden. Max jedenfalls hält sein Leben für zu

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»kurz«, um gegen Feinde zu kämpfen, die ohnehin »niemals aussterben« (ebd.), und feiert stattdessen seine funktionierende »Verdauung«, die »Freiheit von Schmerzen«, »wohlgeratene Söhne« und »keine finanziellen Sorgen« (ebd.: 105) als Garanten eines glücklichen Kleinstadtlebens, dem die Geschicke des Kleinstaats bis auf weiteres nicht zu nahe treten mögen. Das mag noch eine Weile gut gehen, allein künstlerisch führt es nicht weit: Schreiben mag der politische Frührentner nämlich nicht mehr, kann er doch »die Schlichtheit des Belanglosen nicht mehr von der Einfachheit des Schönen unterscheiden« (ebd.: 163). Doch selbst wo diese ästhetische Unterscheidung noch gelänge, wäre der dahinterliegenden, freilich keineswegs allein helvetischen Misere das Urteil längst gesprochen. Denn in der Sehnsucht nach dem kleinen »Häuschen, gerade groß genug, um sich darin zurückzuziehen und zu hoffen, das Leben werde darüber hinwegziehen, so, wie ein Bauer im Sommer hofft, das Gewitter ziehe vorbei, und der schwere Hagel gehe nieder auf ein anderes Feld« (Bärfuss 2002: 125), hatte Lukas Bärfuss bereits 2002 eine finstere Allegorie helvetischer Inselfantasien inmitten einer weiterhin unberechenbaren, aber zunehmend vernetzten Welt gezeichnet. Das Buch, eine Novelle, trug den Titel DIE TOTEN MÄNNER, und so entbehrt es nicht der Ironie, dass der Erzähler von DAS LEBEN IST GUT sich trotz des genau gegenläufigen Titels auf kurz oder lang auch zu diesen zählen dürfte.

»I N DIESER G EGEND GEHT MAN STUMM DURCHS L EBEN « – F LUCH ( T ) DER K LEINSTADT IN L UKAS B ÄRFUSS ’ K OALA Lukas Bärfuss’ Suizid-Roman KOALA erzählt die Geschichte zweier Halbrüder, deren gegensätzliche Biographien nicht erst im Überleben des autofiktional angelegten Erzählers, sondern bereits raumsemantisch lesbar gemacht werden: Während der leistungsverweigernde, etwas ältere Bruder von der Geburt bis zum Freitod der Garnisonsstadt Thun verhaftet blieb und ein bescheidenes Leben als Hilfsarbeiter führte, hat es der Erzähler in Zürich zu literarischen Ehren gebracht und kehrt als Kleist-Festredner in seine von sprachloser Enge geprägte »Heimatstadt« (Bärfuss 2014: 18) zurück. Während er erst später erfahren wird, dass das in der Halböffentlichkeit einer kulturellen Tischrunde missglückte Treffen mit dem namenlosen Halbbruder das letzte gewesen sein wird, ist ihm der lokale Sprach-Habitus (vgl. Bourdieu 1982) auch nach einem Vierteljahrhundert umgehend präsent: »Wortschatz reduzieren, die Sätze verklumpen lassen. Er wird alles vermeiden, was geschmeidig, anmutig oder gebildet erscheinen könnte. […] Viele Worte, so hat er als Kind gelernt, verliert allein der Hausierer […]. In dieser Gegend geht man stumm durchs Leben,

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höchstens die Mädchen dürfen schwatzen, bis auch sie früher oder später erwachsen werden und sich in das Schweigen zu finden haben.« (Ebd.: 18f.)

Dieses Schweigen, das auch den von keinem Abschiedsbrief, aber peniblen Vorbereitungen begleiteten Heroin-Tod des Halbbruders in der Badewanne auszeichnet, wird den Erzähler auf der Frage nach einem Warum bis zur Siedlungsgeschichte Australiens treiben, wo er im Koala, dem Pfadfindernamen des Bruders, eine Allegorie für dessen allerdings kaum programmatisch zu nennende Verweigerung findet (vgl. ebd.: 60ff.). Umso programmatischer steht hingegen die Leistungsgesellschaft in Verdacht, Selbstgenügsamkeit und mangelnder Produktivität immer schon mit Gewalt und Ausrottung begegnet zu sein. Dieser fast totemistische Zug ins Universelle mündet in der Diagnose heilloser Vergeblichkeit und »Einsamkeit« als »Preis« und »Strafe« (ebd.: 37) von »Ehrgeiz« (ebd.: 60) und Selbstoptimierung. Aus einer sozialgeschichtlich determinierten Enge wird damit ein transzendentales Verhängnis, dem mit keiner wohlmeinenden Milieutheorie noch beizukommen wäre, wie sie etwa Pedro Lenz’ populärer Drogen- und Kleinstadtroman DER GOALIE BIN IG (2010) anbietet. Die vermeintliche Siegergeschichte des Überlebenden sieht sich dabei auch topographisch entwertet – Akzidentelles wie Herkunft oder Beruf verliert angesichts der globalen Perspektive gezielt an Gewicht. So hatte der Erzähler bereits bei einem der raren Besuche des Bruders in Zürich bemerkt, dass er »den Reiz der eigenen Stadt mindern« zu müssen meinte, »damit er nicht glaubte, ich hielte mich für etwas Besseres, seit ich in der großen Stadt lebte.« (Ebd.: 45) Rückschauend fürchtet der Erzähler allerdings, er habe mit der stereotypen Aufzählung von Großstadtstressoren wie »die Hektik, die Unhöflichkeit, die Unverbindlichkeit« (ebd.) – denen Bärfuss im Folgeroman HAGARD (2017) ganze Kapitel widmen wird – den Bruder lediglich in dessen Meinung bestärkt, »wie böse die Menschen waren und wie wenig sich das Leben lohnte.« (Ebd.) Des Bruders »armselige, mickrige Existenz in einer lausigen Kleinstadt« (ebd.: 39) sieht sich durch dieses wiederholte Abstellen auf den Menschen anstelle eines Individuums jeder biographischen und damit eben auch jeder topographischen Kontingenz entledigt: Nicht die Enge und Ereignislosigkeit der gesichtslosen Kleinstadt, sondern die aporetische Wahl »zwischen der Angst und dem Tod« (ebd.: 168) haben in dieser Lesart sein Schicksal besiegelt. Wo als einzige »Medizin gegen die Angst« (ebd.) nur »Ehrgeiz« (ebd.: 167), »Fleiß« und »Arbeit« (ebd.: 168) bleiben, wird die »Faulheit« zur Provokation, denn »sie kämpfte nicht, und was nicht kämpfte, durfte nicht leben.« (Ebd.: 169) Ironischerweise verweist nun genau diese Universalisierung auf Kosten einer genaueren Analyse des Kleinstadtmilieus auf einen Fluchtreflex, den Paul Nizons DISKURS IN DER ENGE bereits in den 1970er Jahren als typisch helvetischen Kleinstaatreflex charakterisierte: Als gängige Reaktion auf die vorgebliche schweizeri-

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sche »Ereignislosigkeit, Gräue, das Einerlei« und als Effekt des introjizierten »Gespenst[s] namens Neutrum« (Nizon 1973: 61) identifizierte Nizon neben der Flucht ins Ausland vor allem das Ausweichen auf »mystisch-esoterische Wege« (ebd.: 62) als »voreilige Vergeistigung« (ebd.: 45). Als eine solche ist die totemistische Identifizierung von Bruder und Koala sicher zu sehen, wobei das exzessive, die Romanform sprengende Abschweifen des Erzählers auf die gewaltvolle australische Siedlungsgeschichte als performative Umsetzung des den Selbstmord umgegeben Schweigegebots Hinweise darauf gibt, dass die Erzählinstanz – wie bei Bärfuss üblich (vgl. Steier 2017) – als unzuverlässige Figur zu lesen ist, ihre fragwürdige Welterklärung also der kritischen Wertung dezidiert ausgesetzt wird.6 Eine solche kritische Würdigung würde dann nicht zuletzt in den universalisierten aporetischen Tugenden wie »Fleiß« und »Arbeit« die Leitattribute der Schweiz als selbsternannter ›Willensnation‹ erkennen. Ideologiekritisch gewendet führt Bärfuss also gerade im Versuch des Erzählers, jeden Gedanken an eine spezifisch schweizerische Kleinstadt- und Kleinstaatbiographie zugunsten einer universalistischen Perspektive zu unterdrücken, ein helvetisches Diskursmuster vor. Vor diesem Hintergrund lohnt dann eben doch der Blick auf jenes »Kaff«, jenen »Ort, der dazwischenlag« (Bärfuss 2014: 46) und der dem Bruder sehr wohl historisch und kulturell determinierte »Lebenschancen« versagt hat, deren genauerer Erkundung der Erzähler jedoch die Flucht in die allegorische Koala-Geschichte vorzieht. Was also hat der Bruder in gut vier Jahrzehnten in der Schweizer Kleinstadt Thun (nicht) erlebt? Einer Garnisonsstadt im Kalten Krieg, »wo es nichts gab außer Soldaten und Fabriken« (ebd.: 72), wo der Junge durch Scheidung und einen delinquenten Stiefvater, aber auch durch Haschischhandel und frühe Halbinvalidität aufgrund eines Arbeitsunfalls (vgl. ebd.: 46ff.) als Außenseiter aufwächst, wo alles eingefahren scheint, sich in Tat und Wahrheit jedoch »schnell« (ebd.: 72) verändert? Besonders dem Kalten Krieg und dem ökonomischen Strukturwandel trägt Bärfuss’ Erzähler Rechnung. Vor allem »die Russen« und der drohende Atomkrieg, aber auch die »Kommunisten« der RAF sorgen in den 1960er- und 70er-Jahren auch Jahrzehnte nach der »Geistigen Landesverteidigung« für ein Klima, in dem man »wehrhaft« (ebd.: 74) zu bleiben und niemandem zu trauen habe. Die Präsenz der Soldaten im Kleinstadtbild hält diese latente Bedrohung über die mediale Dauerpräsenz hinaus »spürbar, sichtbar« (ebd.) und raubt sowohl der Kleinstadt wie dem Kleinstaat die Scheinsicherheit politischer Neutralität: »Der nächste Krieg

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Für diese Lesart spricht, dass der zuvor wortreich verfluchten »Arbeit« (Bärfuss 2014: 182) im Text das buchstäblich letzte Wort bleibt, wodurch sich auch die poetischhermeneutische Hochleistungsdisziplin der Literatur als letztlich vergebliche »Medizin gegen die Angst« (ebd.: 168) von der Kur zum Symptom umcodiert sieht.

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würde der letzte sein« (ebd.), die Schweiz ein nicht mehr politisch neutrales, sondern rein geographisch determiniertes Ziel im europäischen Westen. Wie sein Großvater weigert sich der Bruder jedoch, »eine Arbeit in den Werkstätten der Armee« (ebd.) anzunehmen und eine derart entfremdete Existenz zum Beitrag zur »Abwehr der roten Gefahr« (ebd.) zu stilisieren. Eng mit dieser Weigerung verbunden ist der in einem veritablen Requiem auf untergegangene Handwerksbegriffe wie »das Kummetkissen, die Reifelmaschine, das Halbmondmesser und der Lederhobel« (ebd.: 72) beklagte Strukturwandel, der selbstständige Handwerker wie den Großvater an die Fließbänder der Kriegsfabriken treibt: »Die ganze Welt veränderte sich, aber es schien, als würden die Möglichkeiten, hier ein Leben zu führen, immer kleiner.« (Ebd.: 73) Sowohl das Klima der Angst mit seinen widersprüchlichen Folgen eines rückwärtsgewandten »Landesverteidigungs«-Patriotismus und eines zynischen Materialismus (»Dem Menschen war nicht zu trauen, wer an das Gute glaubte, war dumm. Jeder wollte etwas, und jeder wollte es lieber heute als morgen«, ebd.: 74f.) als auch die schwindenden Möglichkeiten selbstständiger Arbeit jenseits der »Werkstätten der Armee« verweisen also auf eine spezifische zeithistorische Konstellation in einer Schweizer Garnisonsstadt der 1970er- und 80er-Jahre, deren begrenzte »Lebenschancen« gerade nicht durch Geborgenheit und Solidarität kompensiert werden und deren soziales wie auch politisches Klima vom prekären Status eines Kleinstaats inmitten unkontrollierbarer geopolitischer Konflikte nachhaltig verunsichert ist.

»A GGLO « SIND IMMER DIE ANDEREN . K LEINSTADT P ERFORMANZEN IN M UNDART UND S POKEN W ORD Vom langen Nachhall der »Geistigen Landesverteidigung« ist demgegenüber in der Schweizer Spoken Word-Szene kaum etwas zu hören. Ihr Sujet ist eine Gegenwart, die unter Entgrenzung in ganz anderer als in geopolitischer Hinsicht zu leiden beginnt. Präsentiert sich doch die heutige Schweiz als Land der überschaubaren Kleinstädte – rund drei Viertel der knapp 150 Schweizer Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern haben weniger als 20.000 Einwohner – lediglich auf dem Papier. Realiter bilden relativ isolierte Kleinstädte die große Ausnahme und sind meist in Gebirgsregionen zu finden, während sich vor allem im sogenannten »Espace Mittelland« im Abstand von wenigen Autominuten Kleinstadt an Kleinstadt reiht. So werden nicht nur die Randzonen und benachbarten Gemeinden und Kleinstädte der wenigen Schweizer Großstädte, sondern auch die von Dörfern, Neubaugebieten und

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Industriezonen zersiedelte Zwischenräume der Kleinstädte selbst umgangssprachlich und eher pejorativ als »Agglo« bezeichnet.7 Der Begriff adressiert einen Grenzraum, der sowohl einen mischgenutzten Stadtrand und kleinere Satellitenstädte als auch zersiedelte Zwischenräume einschließt. Paradigmatisch ist dabei der Bezug auf ein Zentrum, das die Agglo zur Peripherie degradiert. Diese findet sich eher selten, wie zuletzt in Jens Steiners Schrottplatz-Schelmenroman MEIN LEBEN ALS HOFFNUNGSTRÄGER (2017), zur vorstädtischen Idylle romantisiert. Es dominiert der pejorative Unterton, wobei die Konnotationen des Stadtrands und des verödeten Niemandslands auch auf die Bezeichnung kleinerer Nachbarstädte als Agglo abfärben. In diesem Sinne stehen letztlich alle Schweizer Kleinstädte oder auch ganze Kantone jenseits der wenigen wirtschaftlichen Zentren im Agglo-Verdacht. Für das hier fokussierte Thema relevant ist dabei die Bezogenheit auf die Großstadt und deren fließende Grenzen, die die Agglo von der vielleicht noch idyllischen Provinz unterscheidet. Die binnenstädtische Reputationskonkurrenz der Quartiere wiederum findet im Agglo-Verdikt zugleich ihre Fortführung und Befriedung, insofern das Konkurrenzdenken perpetuiert, die Stadt in der Abgrenzung nach außen jedoch zur Einheit wird. Diese ermächtigende und zugleich unifizierende Funktion des Agglo-Verdikts, das als gleitendes Raster von jedem noch so marginalen Standpunkt aus ein abgewertetes Außen figurieren kann – Agglo sind immer die anderen –, steht in einem ambivalenten bis paradoxen Verhältnis zum Schweizer Kleinstaat-Diskurs: Einerseits sieht sich das »Heidiland«-Image durch das ironische bis wehmütige Beklagen der von »Zersidlig« als »Ändlosstreife« (von Graffenried 2017: 147) zerstörten Landschaft bedroht, andererseits wird der je eigene Standort durch die Abgrenzung von der Agglo symbolisch erhöht. Von den Größenphantasien, die Karl Schmid (1963) vor mehr als einem halben Jahrhundert als typisches Symptom des »Unbehagen[s] im Kleinstaat« diagnostizierte, bleiben dabei nur Schwundstufen übrig. So zieht beispielsweise die Spoken Word-Autorin Sibylle Ciarloni die Pointen ihrer Gedicht-Trilogie IN MÖBELHÄUSERN (2013) aus imaginierten Begegnungen mit Stars wie Javier Bardem, Sharon Stone und David Bowie in AggloEinrichtungshäusern, während der Dichter Martin Bieri in seinem ambitionierten Band EUROPA, TEKTONIK DES KAPITALS (2015) unter anderem den unscheinbaren Firmensitzen internationaler Konzerne in unscheinbaren Schweizer Klein- und Vor-

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Vgl. stellvertretend das Editorial des NZZ FOLIO 1/2012, einem der Agglo gewidmeten Themenheft: »Als undefinierbarer Siedlungsbrei ergiesst sich die Agglomeration durchs ganze Mittelland. Wer dort wohnt, ist ein Hunzenschwiler, Niederwiler, Oberwiler oder Walliseller. Für den Zürcher, Berner oder Basler ist der jedoch vor allem eines: ein Agglo« (Heller 2012). Siehe darüber hinaus auch die Beiträge in Kreis (2015).

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städten wie Zug oder Baar ein zweifelhaftes Denkmal setzt. Ausführlicher erörtert seien hier zum Abschluss mit Ariane von Graffenried und Jurczok 1001 jedoch zwei Protagonisten der Schweizer Spoken Word-Szene, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven am Projekt einer zeitgemäßen Poetik und Ästhetik des Schweizerdeutschen beteiligt sind (vgl. Sterchi 2016). So widmet die Berner Sängerin und Autorin Ariane von Graffenried der Agglo in ihrem jüngsten Text- und Gedichtband BABYLON PARK eine eigene Sektion (vgl. von Graffenried 2016: 136-161). Das erste Gedicht, COIFFEUR D’AILLEURS (ebd.: 136-140), ruft mit dem »coiffeur albanais« (ebd.: 136), in dessen armseligen Salon «Kosova RTK 1« (ebd., 137) läuft, zunächst ein Agglo-Klischee auf, wobei es am Ende das zwischen Schweizer Mundart, Standarddeutsch und Fremdsprachen wechselnde lyrische Ich ist, das in der einfachen Szenerie unter einem Schwall existenzieller Fragen zu kollabieren droht (vgl. ebd.: 140). Komplexer als dieser Vorstadt-Blues kommt hingegen der zweite, auf Berndeutsch verfasste Prosatext der Sektion daher, der unter dem Titel FIUMKUNSCHT (ebd.: 141-143) die eskalierenden Dreharbeiten zu einem dokumentarischen Film »über das Agglo-Läbe i dr gottvergässne Agglo« (ebd.: 141) ironisiert. Der zu diesem Zweck aus der Großstadt zu seinen Agglo-Eltern heimgekehrte Regisseur arrangiert dabei vom Vorgarten bis zu den Bewegungen der Eltern alles zum Agglo-Klischee um, woraufhin die im kleinstädtischen Kulturleben bestens verankerten Senioren und ihre herbeigeschafften Freunde statt Mozart-Konzerten »i dr Agglo-Chiuche« nun mit Kaninchen, »Reizwösch« und »e Fläsche Jack Daniels« die typischen »RTL 2«-Proleten geben oder in der Heimsauna eine »Agglo-Swingerclub-Szene« (ebd.: 142) nachstellen müssen. Nach einigen ins Absurde driftenden Aufführungen mit erschossenen Hauskaninchen an Katzenleinen und ähnlichem bühnentauglichem Trash reist das Filmteam an weitere Drehorte »i dr Schwiz u o no ds Öschtriich« (ebd.: 143), wobei das Ausweichen auf Österreich wie schon der Verweis auf den deutschen Fernsehsender abermals eine Relativierung des spezifisch schweizerischen der Szenerie reklamiert. Die letzte Szene ist dann allerdings den Eltern und ihren »Agglo-Fründinne« gewidmet, die sich beim Seidenmalkurs erleichtert darüber zeigen, dass sie »nümm müesse Kunst« (ebd.) machen. Während sich hier die Konstruktion der Agglo vom gar nicht so zentralen, sondern eher von Agglo-Flüchtlingen bevölkerten Zentrum aus ironisiert findet – am Ende ist eher der verlorene Sohn die klischeebedürftige Witzfigur –, figuriert die Zürichsee-Agglo Wädenswil beim Schweizer Spoken Word-Pionier Jurczok 1001 als durchaus tragische Miniaturausgabe der Drogenmetropole Zürich. Sein elegisches Sprechstück BAHNHOF (2009) entwirft in knapp vierzig kurzen Strophen plus Refrain das Bild einer kiffenden Jugendclique in den späten Achtzigerjahren, die am titelgebenden Bahnhof ihre Tage im Wartezustand verbringt, ehe der Suizid eines Kollegen den ersten »Ernschtfall« (ebd.) markiert. Die in der Performance

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zunehmend hypnotisch gerappte Elegie setzt raumsemantisch präzise ein mit einer S-Bahnfahrt, die Jurczoks primär großstädtisches Publikum in die Agglo eskortiert und die Koordinaten der Szene iterativ absteckt: »Vergiss d’ Bronx, vergiss s’ Ghetto stiig us, Mann, mi sind ahchoo S8 Wädischwiil Kanton Züri, i de Agglo das isch de Bahnhof, de Träffpunkt de chlii Platzspitz da gsehsch, wär vo Züri chunt die Chliine afixt« (Ebd.)

Mit dem kleinen »Platzspitz« wird der historische Ort der Handlung indiziert, galt doch der gleichnamige »Needle-Park« (Grob 2009) hinter dem Zürcher Hauptbahnhof zwischen 1986 und 1992 als einer der bekanntesten Fixertreffpunkte Europas. Die S-Bahn-Linie erscheint folglich als Tentakel oder auch Vene, die die drogenverseuchte Großstadt mit der kleinstädtischen Agglo in kaum einer Viertelstunde verbindet. Die Strophen folgen dementsprechend einer Eskalationslogik, die vom harmlosen Kiffen und Flirten über eine zunehmend sexualisierte, gewaltsame Sprache zu den ersten Abtreibungen, Verhaftungen und schließlich zum Selbstmord des Freundes führt. Dass diese jenseits der spektakulären Drogenkrise der 1980er Jahre angesiedelten Alltagsprobleme einer zwischen Langeweile und redundanten Ausbruchsphantasien befangenen Agglo-Jugend, die sich am Bahnhof täglich einreden kann, das große Leben warte andernorts, sein eigentliches Thema sind, stellt das Sprechstück in der vorletzten Strophe klar – der Fotoautomat wartet schon auf die nächste Generation, die sich im Stillstand fixiert: »de Fotichaschte warted uf e noii Generation wo de Stuel ufedräht und en Stutz inerüehrt« (Jurczok 1001 2009)

Die Spannung von halbherziger Ausbruchsphantasie und lethargischer Zirkularität, zwischen den mit Zürich, aber auch den »Deejays us London« (ebd.) verbundenen Größenphantasien und der gleichzeitigen Sehnsucht nach dem kleinen »Chreis« (ebd.) verweist noch einmal auf die Kleinstaat-Diagnosen Nizons und Schmids, während das Gefühl, zugleich perspektivlos eingesperrt und doch gesellschaftlichen Fliehkräften unterworfen zu sein, an Bärfuss’ KOALA oder Pedro Lenz’ DER

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GOALIE BIN IG erinnert. Anders als in Capus’ Olten-Prosa bleibt Jurczoks Coming of age-Personal jedoch die Illusion verwehrt, in der eben nicht kleinstädtisch geschlossenen, sondern von potenziell toxischen Verkehrswegen durchzogenen Agglo wenigstens »d’Ziit anhalte« (ebd.) zu können – dies misslingt selbst dann, wenn man sie unter Verzicht auf jede Aspiration »gnueg lang abewürgt« (ebd.). Ähnliches dürfte für die Schweizer Gegenwartsliteratur gelten, die sich mehrheitlich dem von Hugo Loetscher geprägten »Konzept der Pluralen Heimat« (Dewulf 2013: 123) in einem globalisierten Kleinstaat verpflichtet sieht, der eben deshalb nicht weiter isoliert oder gar als ›Sonderfall‹ zu betrachten sei. Wie in Ansätzen deutlich wurde, wirken indes die Schatten der als historisch abgewehrten Diskurse des Unbehagens und der Enge ebenso weiter wie gerade dort, wo im Zeichen von Kleinstadt und Kleinstaat ein Allgemein-Menschliches adressiert wird, einige spezifisch helvetische Voraussetzungen dieser Haltung sichtbar werden. Sich mit der Schweiz nicht primär als Schweiz zu beschäftigen, scheint deshalb angesichts der verheerenden Leistungsbilanz der kapitalen Erzählungen von Volk und Nation im 19. und 20. Jahrhundert (vgl. Koschorke 2015: 189ff.) prima facie nicht die schlechteste (Ent-)Haltung darzustellen, dürfte mittelfristig in einer Episteme des situierten Wissens (vgl. bereits Haraway 1988) und der ›entangled history‹ (vgl. Midell/Naumann 2010) jedoch zu einem Anachronismus des frühen 21. Jahrhunderts werden: Wie bereits die gleitenden bzw. jedem Versuch einer definitiven Setzung entgleitendem Grenzen des Kleinstadt-Diskurses gezeigt haben, werden kleine oder mittlere Organisationseinheiten durch ihre vernetzte Situierung in einer größer skalierten »Geschichtsregion« (Troebst 2010) nicht nivelliert, sondern gewinnen innerhalb dieser Figuration überhaupt erst ihre – eben nicht auf Dauer fixierbare – Gestalt. Kleinstadt wie Kleinstaat sind in dieser Perspektive weder Auslaufmodelle noch restaurative Utopien, sondern ermöglichen als feste, aber heteronome Größen gerade im europäischen Kontext »ein facettenreiches Nebeneinander von teils konträren Milieus und Tendenzen statt einer forcierten Synthese, die weder gedacht noch gelebt werden kann.« (Koschorke 2015: 193)

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Von Dorfpunks zu Fahrradmods Musikalische Sozialisation und Kleinstadt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts J ANWILLEM D UBIL Ich komme von der Ostsee, ich war SH-Punk. SH steht

für

Schleswig-Holstein.

Dies

ist

eine

Geschichte von Ufern. An die Wellen schlugen. Sie kamen aus England, […] sprangen aufs Festland über, setzten die Großstädte unter Wasser und flossen von dort aus weiter, um später in der Provinz zu verebben. Jahre später. 1975 in England ausgebrochen, 1981 bei uns verebbt. In uns. Ein Jugend-tsunami. ROCKO SCHAMONI: DORFPUNKS

V ON URBANEN

UND RURALEN

O HREN

Der Terminus der musikalischen Sozialisation bezeichnet das »Vertraut werden und das Erlernen des Umgangs mit Musik« (Lenz 2013: 165). In dieser Phase gelten »die Urteils- und Meinungsbildung […] und die Herausbildung von Musikpräferenzen« (ebd.) als »Konstituenten des […] Sozialisierungsprozesses« (ebd.). Die »kulturellen musikalischen Codes« (Müller 1998: 59), die Heranwachsende »auf der Suche nach Identität und Orientierung« (ebd.) selektieren und internalisieren, werden dabei nicht nur von »Elternhaus, Peers, Schule und Medien« (Lenz 2013: 165) als »Sozialisierungsinstanzen« (ebd.) determiniert, sondern auch von jeweils individuellen »Lebenssituationen und Erfahrungen« (Müller 1998: 59). Folglich ist die Genese des musikalischen Bewusstseins abhängig von dem Milieu, in dem sie sich vollzieht, weshalb von signifikanter Bedeutung ist, ob sie in einem urbanen oder ruralen Raum ihren Ausgang nimmt.

514

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Eine Großstadt offeriert dem Heranwachsenden als »Plattform für Erlebnispluralismus, Simultanität und Dynamik« (Wende 2007: 296) ausgebildete Infrastrukturen, in denen Ton- und Informationsträger ebenso verfügbar sind, wie musikzentrierte Szenen mit »spezifischen Versammlungsorten, Treffpunkten, Verkehrsräumen« (Hitzler/Niederbacher 2010: 21) und organisierte Veranstaltungen, auf denen »unterschiedliche Unterhaltungsangebote nach szenetypischen ästhetischen Kriterien kompiliert oder synthetisiert werden« (ebd.: 21f.). Diametral dazu wird die Sozialisation in dörflichen oder ländlichen Räumen gerade von der Abwesenheit respektive Unerreichbarkeit dieser Angebote konstituiert, deren Absenz durch einen Mangel an lokal präsenten Gleichaltrigen, die das Interesse an der präferierten Musik teilen, intensiviert wird. Zwischen diesen beiden Extremen ist die Kleinstadt positioniert, die über rudimentär ausgebildete Strukturen und überschaubare Szenen verfügt, die sich mit wenigen Treffpunkten und Partizipierenden dem urbanen Raum gegenüber jedoch stets ›defizitär‹ verhalten und wahrnehmen. Gleichsam ist aber gerade dieses Milieu in den neueren literarischen Darstellungen musikalischer Sozialisation überaus präsent.

M USIKALISCHE S OZIALISATION UND Z UGEHÖRIGKEIT

LITERARISCHE

Die Frage, worin nun die Attraktivität der Kleinstadt für diese Narrationen besteht, bedarf zu ihrer Beantwortung des Rekurses auf den Gattungszusammenhang, in dem die jeweiligen Publikationen stehen: Erzählungen von musikalischer Sozialisation lassen sich als Subgenre des Adoleszenzromans, dessen konstitutive Merkmale sie teilen, charakterisieren. Gemein ist ihnen neben der Konzentration auf »individualisierte Lebensläufe« (Kolk 2007: 6) auch die Fokussierung auf »Jungsein als selbstgestaltete Lebensphase mit Risiken wie Entwicklungspotentialen zugleich« (ebd.) und die Problematisierung »kultureller Neudefinition von Lebensphasen« (ebd.). Erzählt wird in beiden Fällen von einem Protagonisten, der »meist isoliert […] auf der Suche nach Orientierung« (Gast 2014: 7) in eine »von Elternhaus und Schule nur unzulänglich berücksichtigten Krise« (Kolk 2007: 6) gerät, in der »allenfalls die Freundschaft mit Gleichaltrigen« (ebd.) ein Refugium bietet. Wie die übergeordnete Gattung kennt daher auch das Subgenre vornehmlich zwei Narrative: Den »radikalen Protest […] ebenso wie die Entdramatisierung des Generationenkonflikts« (ebd.) als »Normalisierung der Spannung zwischen individuellem Anspruch und sozialen Realitäten« (ebd.). In der Literatur ist die Adoleszenz folglich eine Lebensphase, in der sich der Heranwachsende »zwischen zwei Welten gefangen fühlt« (Gast 2014: 16), ein Motiv, das der Kleinstadt als Raum, in dem sich »sowohl städtische als auch dörfliche

V ON D ORFPUNKS ZU F AHRRADMODS

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Lebensbedingungen« (Hannemann 2002: 270) durchdringen, ebenfalls grundlegend eingeschrieben ist. Der Antagonismus zwischen den für die Gattung charakteristischen Risiken und Entwicklungspotentialen wird entsprechend in den Möglichkeiten und Beschränkungen reflektiert, die kleinstädtische Strukturen prägen und den Protagonisten herausfordern, sich einen individuellen Zugang als Voraussetzung seiner Sozialisation zu erschließen. Obgleich die Verbindungen zwischen kleinstädtischem Raum und Adoleszenzroman seit Genese der Gattung bestanden, bildeten sich musikalische Sozialisationsgeschichten erst in den auslaufenden 1990er Jahren in einer Quantität, die von einem Subgenre zu sprechen legitimiert, aus. Die sukzessive Entfaltung lässt sich hier auf zwei literarische Entwicklungen zurückführen, die ihr maßgeblich den Weg bereiteten: Die anhaltende Konjunktur des Adoleszenzromans seit Beginn der Dekade (vgl. Lang 2012: XII) und der Advent der kurz vor der Jahrtausendwende aufkommenden Popliteratur (vgl. Porombka 2007: 599), die ein jugendliches Publikum adressierte (vgl. Kämmerlings 2011: 136), sich an den Paradigmen der populären Musik orientierte und »Pop, Mode, Lifestyle« (ebd.: 57) konsequent zu Kulturthemen erhob. Anschließend kam bedingend hinzu, dass die Literatur der frühen 2000er Jahre parallel zu gesellschaftlichen Entwicklungen in der entsprechenden Altersgruppe zunehmend »irgendwann im Goldenen Zeitalter der siebziger oder achtziger Jahre« (ebd.: 137) stehengeblieben schien: Zu den »Zeichen der Zeit« (ebd.) zählten neben Retro-Partys, Nostalgie-Revuen und Vintage-Moden auch »die vielen, vielen zeitlosen Kindheitsgeschichten« (ebd.: 137f.), die in dieser Phase erschienen. In ihnen zeichnete sich ein »Versagen der Metropole« (ebd.: 169) ab, aus dem ein »Provinzialismus« (ebd.) resultierte, der die »mikroskopisch genaue Vermessung allerkleinster Herkunfts- und Lebenswelten« (ebd.: 170) zu einer »der stärksten Strömungen der deutschsprachigen Literatur« (ebd.) avancieren ließ. Je beschränkter »die Verhältnisse der eigenen Heimat« (ebd.: 169) darin ausfallen, »desto mehr scheinen sie sich automatisch und unüberformt zum literarischen Stoff zu eignen« (ebd.). Gerade der Umstand, dass bereits der »schroffe Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie« (ebd.) als »eine Beschreibung wert« (ebd.) klassifiziert wurde, präferierte die Kleinstadt dem dörflichen Raum gegenüber, da das Urbane in Letztgenanntem bereits so weit aus dem Fokus gerückt schien, dass es sich nicht einmal mehr als Kontrast eignete.1

1

In neueren Dorfgeschichten zeichnet sich inzwischen allerdings eine gegenläufige Entwicklung ab, die zunehmend die Verschränkung urbaner und ruraler Räume fokussiert.

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D ER K ORPUS

DES

S UBGENRES

In einem literarischen Klima, in dem sich die populäre Musik thematisch etabliert und die Provinz eine Vormachtstellung erlangt hat, entstehen nun in vergleichsweise zügiger Abfolge eine ganze Reihe von Erzählungen, die von der musikalischen Sozialisation ihrer Protagonisten erzählen. Als Vorreiter kann dabei das Werk Andreas Michalkes gelten, der bereits in seiner seriellen Anthologie ARTIGE ZEITEN (1991-97) autobiografische Episoden aus seiner Jugend als Punk im niedersächsischem Harsefeld publizierte und diese unter dem programmatischem Titel SMALLTOWN BOY (1999) in erweiterter Form kompilierte. Seinem Ansatz folgten PUNKROCK! (2002) von Fabian Stolz und DORFPUNKS (2004) von Rocko Schamoni, bevor sich das Subgenre mit HIP UND HOP UND TRAUERMARSCH (2006, Jaromir Konecny), KURZ VOR DEM ARSCH DER WELT LINKS AB (2011, Kalle Stille), Michael Goehres Trilogie JUNGSMUSIK (2011), HÖLLENGLÖCKEN (2013) und STRASSENKÖTER (2016), Wolfgang Conradts METAL TANGO (2015) und METAL WALTZ (2016) sowie FAHRRADMOD (2015, Tobi Dahmen) und DER KREIS (2016, Andreas Maier) diversifizierte.2 Gleichsam hat sich innerhalb dieses Korpus aus einem Bündel von Merkmalen ein subgattungstypologischer Kern herauskristallisiert, der im Wesentlichen auf fünf zentralen Charakteristika fußt: 1. Die Kleinstadt als Insel: Der Wohnort der Heranwachsenden wird als abgeschiedener, in sich geschlossener Raum inszeniert, der nur punktuell über eine Anbindung an die übrige Welt zu verfügen scheint. Die internen Infrastrukturen sind existent, in Bezug auf die Bedürfnisse des Protagonisten aber nur rudimentär ausgebildet, da die kleinstädtische Wirtschaft »durch den ortsansässigen gewerblichen Mittelstand« (Hannemann 2002: 271) geprägt ist. 2. Personelle Limitierung: Die Sozialisation vollzieht sich in einer bestehenden respektive entstehenden Szene, die lediglich eine geringe Anzahl von Mitgliedern aufweist. Diese Gruppe ist als Gegenpol zu den gesellschaftlichen Strukturen, in die der Heranwachsende hineingeboren wurde, konzipiert, wobei die niedrige personelle Stärke ihre Position als lokale Außenseiter pointiert.3

2

Diese Aufzählung ist gleichsam ein Desiderat, da es einzig jene Erzählungen berücksichtigt, in denen die musikalische Sozialisation nicht allein motivisch, sondern als die Handlung konstituierend eingesetzt wird. Adoleszenzromane, die Bandgründungen und den Eintritt in kleinstädtische Szenen nur punktuell thematisieren, lassen sich in ihrer Vielzahl bibliografisch kaum aufschlüsseln.

3

Urbanen Szenen geht dieser deviante Charakter aufgrund ihrer Größe und Kommerzialisierung konstitutiv weitestgehend ab (vgl. Hitzler/Niederbacher 2010: 22).

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3. Individuelle Aneignung: Die Musik und ihre Begleitumstände können nicht aus den bestehenden Zentren in die Kleinstadt importiert und dort übernommen werden, da sie nur fragmentarisch in den neuen Raum gelangen. Entsprechend wird die subjektive Auslegung fokussiert, die Punk, Metal oder Hip-Hop in der Kleinstadt erfährt. 4. Die Großstadt als Sehnsuchtsort: Obgleich der urbane Raum bisweilen als konformistisch diskreditiert und die Sozialisation auf dem Land als »riskanter und bedeutsamer beschrieben wird als in der Stadt, in der Subkulturen zur Alltagswahrnehmung gehören« (Kleiner 2015: 180) fungiert er dominant als Gegenentwurf, in dem die Defizite der Provinz (die tatsächlich oder einzig in der Vorstellung des Heranwachsenden bestehen) aufgehoben sind. Dabei wird ein Übermaß dessen imaginiert oder konstatiert, was im jeweiligen Lebensumfeld schmerzlich vermisst wird. 5. Nostalgische Tendenzen: Die Erzählung zeigt in der Regel eine autobiografische Färbung, ist retrospektiv erzählt und dahingehend konzipiert, dass sich das Lebensalter des Protagonisten dem des Autors während des geschilderten Zeitabschnitts angleicht. Im Korpus sind es dabei vornehmlich zwei Texte, die aufgrund ihrer Repräsentation dieser Merkmale als für das Subgenre repräsentativ gelten können: DORFPUNKS, dem aufgrund seines kommerziellen Erfolges (vgl. Kämmerlings 2011: 170) in Verbindung mit einer gleichnamigen Verfilmung (D 2009, Lars Jessen) als breitrezipiertes Exempel eine Schlüsselstellung unter den Sozialisationserzählungen zukommt, und FAHRRADMOD, eine mehr als ein Vierteljahrhundert umspannende Chronik lokaler Modkultur.4 Die Erzählung über »den Glanz, den Subkultur in 4

Die Mod-Bewegung ist eine englische Jugendkultur, die 1959 entstand (vgl. Deibel 2012: 7) und 1964 bis 1967 ihren Höhepunkt erreichte (vgl. Feldman 2009: 9), bevor sie in der zweiten Hälfte der 1970er erneut auflebte. Ihre Anhänger, die Mods, zeichneten sich durch eine Vorliebe für Soul und Rhythm & Blues (vgl. Weight 2013: 38) sowie jamaikanischen Ska (vgl. Perone 2009: 3) und englischen Beat aus und entstammten primär der Arbeiterklasse respektive der unteren Mittelschicht (vgl. Feldman 2009: 5). Durch einen modernistischen Stilwillen und Wohlstand suggerierende Kleidung strebten die Mods eine Marginalisierung ihres Standes an (vgl. Weight 2013: 27), charakteristische Insignien der Szene waren daher Maßanzüge (vgl. Perone 2009: 3) und durch Umbauten modifizierte italienische Motorroller als präferiertes Fortbewegungsmittel (vgl. Deibel 2012: 1). Internationale Popularisierung erfuhr die Mod-Bewegung mit dem Film QUADROPHENIA (GB 1979, Franc Roddam) (vgl. Feldman 2009: 1), ab 1980 entwickelten sich wie in

anderen europäischen Nationen auch in Deutschland eigenständige Szenen (vgl. Thurschwell 2018: 3), deren Zentrum zumeist im Ruhrgebiet zu lokalisieren war.

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Provinzstädte zaubern kann« (Meyer-Pröpstl 2017: 51), steht gleichzeitig beispielhaft für die starke Präsenz von Comicerzählungen im Korpus – auch ARTIGE ZEITEN, SMALLTOWN BOY und PUNKROCK! sind der grafischen Literatur zuzuordnen.5

»L EIDENSBRÜDER UNTER DER L ANGEWEILE «: D ORFPUNKS

GEWALTSAMEN

K NUTE

DER

Schmalenstedt ist ein fiktiver Ort an der Ostseeküste Schleswig Holstein (vgl. Kleiner 2015: 180), der circa 5.000 Einwohnern aufweist6 und sich an die reale Kleinstadt Lütjenburg anlehnt. Hier lebt Rodney Dangerfield, eine fiktionalisierte Version des Autors Rocko Schamoni (vgl. Derlin 2012: 9), der in den Jahren von 1980 bis 1984 zunächst als Schüler und anschließend als Töpferlehrling seine musikalische Sozialisation als Punk durchläuft. Er integriert sich damit in eine Bewegung, deren Selbstverständnis als »gelebte Gesellschaftskritik gegen (spieß-) bürgerliche Lebensformen und -normen« (Ferchhoff 2011: 231) besonders im Kontext der Kleinstadt, die mit eben diesen Werten konnotiert ist, einen signifikanten Bruch mit Umfeld und Elterngeneration darstellt (vgl. Kleiner 2015: 180). Die Individualisierung als Punk innerhalb der begrenzten Möglichkeiten des Raums geht folglich mit spezifischen Herausforderungen einher, an die sich die Anstrengungen Rodneys, die lokale Szene, die sich zunehmend in größere Städte zu zerstreuen beginnt, zusammenzuhalten, anschließen. Schmalenstedt selbst ist dabei aufgrund seiner prekären provinziellen Lage zwischen der Landeshauptstadt Kiel und der Großstadt Hamburg primär als ein durch Mangel geprägter Raum charakterisiert. Musikalische Bewegungen gelangen nur mit Verspätung (vgl. Schamoni 2004: 7) und selbst dann nur in Form von

5

Die Darstellung des Comics basiert auf »Verkürzung oder Überzeichnung« (Dittmar 2011: 139), die Figuren und Objekte dahingehend abstrahieren, dass sie »immer dezidiert subjektiv« (Schröer 2016: 269) sind, so dass »Erinnerungen und innerer Zwiespalt kongenial dargestellt werden können« (Schikowski 2014: 242). Für ein Subgenre, das »insbesondere auch den Werdegang und das Herausschälen der individuellen Subjektivität bzw. Identität thematisiert« (Schröer 2016.: 264), ist die Bild und Text kombinierende Erzählform in der Folge prädestiniert, da gerade ihre »individuelle zeichnerische Handschrift […] etwas sehr persönliches« (ebd.: 269) darstellt.

6

Hier und im Folgenden werden die Aussagen der Texte selbst als maßgeblich behandelt. Ob sie historischen Quellen dabei entsprechen oder von ihnen abweichen hat aus dieser Sicht keine Relevanz.

V ON D ORFPUNKS ZU F AHRRADMODS

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Fragmenten in den Ort, üben dort aber dennoch eine immense Faszination auf die unwissenden Heranwachsenden aus (vgl. Menke 2010: 57), weshalb sich Rodney bereits auf ihrer Grundlage einer Szene verschreibt, die ihm weitestgehend unbekannt und in der Kleinstadt komplett inexistent ist: »Ich musste Punk werden. Ohne eigentlich etwas darüber zu wissen – es gab da zwei BravoArtikel und die vage Ahnung, wie cool man als Punk sein würde –, fällte ich diese Lebensentscheidung.« (Schamoni 2004: 48)

In der Folge müssen die wenigen verfügbaren Informationen in extenso ausgeschöpft werden: Als maßgebliche Quelle für neue Musik fungiert die werktägliche Radiosendung MUSIK FÜR JUNGE LEUTE, die Rodney mitschneidet und für die Schmalenstedter Punks dupliziert (ebd.: 142). Bücher aus der Bibliothek sowie die im Einzelhandel erhältlichen Musikmagazine, die aber nur unregelmäßig entsprechende Artikel publizieren, erweisen sich als essentielle Verbindung zur Außenwelt (vgl. Menke 2010: 63). Gleichsam führen Berichte von den vitalen Szenen in Hamburg, Berlin oder Düsseldorf dem Töpferlehrling die eigene Abgeschiedenheit vor Augen, so dass er nach der Lektüre einer Sammlung von Interviews mit Musikern und Produzenten konstatiert: »Ich beneidete sie alle um ihren Glam, um ihre Möglichkeiten, an der großen Action teilzunehmen, weil sie nicht in einer Kreisstadt hinter einer rotierenden Scheibe Matsch zu Röhren formen mussten.« (Schamoni 2004: 169)

Mit dem infrastrukturellen Mangel geht in DORFPUNKS auch eine Begrenzung des Personenkreises einher, der die Szene in Schmalenstedt konstituiert. Diese Limitierung wird einerseits konstant betont, dabei aber stets positiv konnotiert, wie sich etwa anhand der Charakterisierung jener fünfköpfigen Clique, die sich zu Beginn des Sozialisierungsprozesses um Rodney formiert, exemplifizieren lässt: »Wir waren so ziemlich die coolsten Punks, die Schmalenstedt zu dem Zeitpunkt hatte, fand ich. Viel Konkurrenz gab es ja auch nicht.« (Ebd.: 56) Als die Gruppierung 1983 ihren zahlenmäßigen Zenit erreicht, wird zunächst auf den Anachronismus verwiesen, dass dieser erst »sechs Jahre nach dem Höhepunkt in England« (ebd.: 100) stattfand. Synchron zeigt sich aber auch der Stolz des Protagonisten, diese Quantität unter den widrigen Umständen der Kleinstadt überhaupt erreicht zu haben: »wenn alle zusammen waren, zählten wir etwa vierzig Leute. In einem Fünftausendseelennest ist das ziemlich massiv.« (Ebd.) Die Szene ist dabei nicht nur hinsichtlich ihrer personellen Stärke, sondern auch in Bezug auf die Orte, an denen sie sich manifestiert, ausgesprochen limitiert. Tagsüber halten sich die Punks »in Ermangelung ernsthafter Freizeitangebote an die

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Schmalenstedter Jugend« (ebd.: 68) zumeist auf dem Marktplatz auf, wo sie bewusst die »kriegerischen Auseinandersetzungen« (ebd.) mit den übrigen Einwohnern provozieren, die sich von dem Auftreten der Gruppe abgestoßen fühlen. Die Abende verbringen sie im »Meier’s«, einem umgebauten alten Hof in einem abgelegenen Waldstück, der von Rodney als »Magnet in der Nacht« (ebd.: 51) und »bäuerlicher Discostern, zusammengebacken aus Musik, Alkohol, Sex und Schlägereien« (ebd.) verklärt wird. In Folge dieser lokalen Limitierung ist die kleinstädtische Szene durch ihre Abhängigkeit von Einrichtungen, die in keinem erkennbaren Zusammenhang zu ihrer Kultur stehen, charakterisiert: Da der Alkoholkonsum für die Clique eine Grundlage ihrer Funktionalität als Punks darstellt,7 ist ein einzelner Schmalenstedter Schnapsladen für sie unverzichtbar, während ihre beiden Treffpunkte letztlich kommutabel sind: »Wenn man in diesen Jahren nach Ladenschluss an Alkohol kommen wollte, gab es in der ganzen Stadt nur eine Adresse: Käthe. Die Tankstellen führten damals ausschließlich Treibstoff. Käthe hatte, aus für mich unerfindlichen Gründen, immer auf, und von Holsten Edel über Kröver Nacktarsch bis hin zu Springer Urvater stand einfach jede flüssige Billigdroge in ausreichenden Mengen im Regal. […] Ohne Käthe wäre Punk in Schmalenstedt so nicht möglich gewesen.« (Ebd.: 85)

Dieses Inseldasein protegiert gleichsam die individuelle Ausprägung der kleinstädtischen Punkszene: In Folge der Beschränktheit der eigenen Mittel und der Abwesenheit lokaler Vorbilder wird es obligatorisch, »alles zu verwenden und miteinander zu verbinden, was zur Konstitution einer eigensinnigen Identitätskultur und Ästhetik beiträgt« (Kleiner 2015: 180). Diese »Rekombination bestehender Zeichen« (Menke 2010: 61) bringt lokale Phänomene hervor, die als Novum zu klassifizieren sind und belegt, dass der Punk nicht nur die Kleinstadtjugend verändert, sondern die Kleinstadtjugend letztlich auch den Punk. Das Resultat ist eine Szene, die ihre urbanen Pendants nicht imitiert, sondern sich ihnen gegenüber als genuin zu behaupten vermag. Obgleich für die Punk-Sozialisation paradigmatisch, ist dieses Phänomen nicht auf andere Subkulturen zu transferieren: Die in DORFPUNKS spezifizierte Aneignung wird maßgeblich durch das der Szene immanente »Do it yourself (D.I.Y.)«-Ethos (vgl. Ferchhoff 2011: 231) bedingt, das den Anspruch formuliert, »dass jeder etwas selbst machen kann (und sei es mit bescheidensten Mitteln)« (Hitzler/Niederbacher 2010: 121). In der Folge lässt sich ein gesteigerter Rekurs auf Symbole und Moden,

7

Vgl. bezüglich der Funktion des Alkohols in DORFPUNKS: Menke (2010: 59).

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die sich ohne größeren handwerklichen respektive finanziellen Aufwand realisieren lassen, identifizieren: Die auffälligen – nicht selten durch ihren laienhaften Schnitt gekennzeichneten – Frisuren, die »bewusst schäbige Kleidung« (ebd.) und die Umdeutung von Alltagsgegenständen wie »Hundehalsbänder[n], Sicherheitsnadeln, Vorhängeschlösser[n] und Ketten« (ebd.) zu »Mode-Accessoires« (ebd.) zeugen von einem dem Punk immanenten »gewollten Dilettantismus« (Kleiner 2015: 180) der »aus der Einsicht in die Beschränktheit der eigenen Mittel« (Hitzler/ Niederbacher 2010: 121) resultiert. Das provinzielle Schmalenstedt fungiert nun als Folie, auf der diese Charakteristika bis in ihre Details ausformuliert werden: Rodney modifiziert seine Frisur, indem er die Haare mit einer Nagelschere abschneidet, als Punk-affine Kleidung wählt er »alte Schlafanzughosen, Bundeswehrstiefel und zerrissene T-Shirts« (Schamoni 2004: 48). Gleichzeitig wird der niedrigschwellige Zugang zur Subkultur selbst als Anlass des zwischenzeitigen exponentiellen Anwachsens der lokalen Szene pointiert: »Man brauchte nicht viel, um dabei zu sein, man musste nur die Codes lernen und ein bisschen mutig und zeigefreudig sein. Geld spielte keine Rolle, sozialer Status oder Intelligenz waren egal, Schönheit oder Sportlichkeit überflüssig. Wir waren Ausgestoßene von eigenen Gnaden. […] Wir waren Leidensbrüder unter der gewaltsamen Knute der Langeweile. Der Spießigkeit einer Kleinstadt.« (Ebd.: 54)

Als abschließendes Beispiel ist diesbezüglich die Gründung Rodneys erster Band zu exponieren, für die abermals kein separater Aufwand betrieben, sondern lediglich neu kombiniert wird, was bisher ungenutzt im eigenen Umfeld bereits existiert: Ein »altes Schrottschlagzeug« (ebd.: 59) und ein als Verstärker umfunktioniertes Radio reichen aus, um ein leeres Zimmer im Elternhaus in einen Proberaum zu transformieren. Auch für die Rekrutierung der einzelnen Mitglieder ist nicht ausschlaggebend, die zur Punkmusik passenden Instrumente zu beherrschen (oder auch nur besitzen), vielmehr bildet die Bereitschaft zu partizipieren bereits das einziges Auswahlkriterium: »Nachmittags trafen wir uns alle in dem Zimmer, jeder hatte ein Instrument dabei. Ich spielte Schlagzeug, Dietrich Trompete, David Gitarre, die anderen irgendwas.« (Ebd.) Die anschließenden Konzerte finden in Ermangelung geeigneter Auftrittsmöglichkeiten entweder in alten Hotelruinen (ebd.: 181) oder im Schmalenstedter Soldatenheim statt, das eigentlich einen Gegenraum zur Szene darstellt und in dem dreißig begeisterten Punks vierhundert die Band ablehnende Wehrdienstleistende gegenüberstehen (ebd.: 66). Das Verhältnis Schmalenstedts zu den urbanen Räumen wird in DORFPUNKS ambivalent gezeichnet: In Kiel erfährt Rodney 1980 sein musikalisches Erweckungserlebnis auf einem AC/DC-Konzert, in dessen Folge er die Konzerthal-

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le als »Wallfahrtsort« (ebd. 43) und die Wirkung der Musik als »purer Strom, gefährlich, prollig, unangreifbar« (ebd.) rezipiert. Als Punk scheinen ihm die urwüchsige kleinstädtische und die gut informierte urbane Szene später aber zunehmend unvereinbar: »Irgendwie entstand nie ein engerer Draht zu […] den Kielern, die waren so straight, hatten alle Regeln drauf, hießen Kiki, Pogo, Ratte und Sid und hätten im Leben niemals ABC gehört. Wir waren für sie so was wie sonderbare Kunstpunks oder so, denn wir hielten uns nicht an die strengen Kleidercodes. Wir stanken nach Feuer, trugen zerrissene Gabardinehosen und hörten Tapes, auf denen direkt hinter den Pistols Kajagoogoo kam.« (Ebd.:164)

Dem vergleichbar wird London als Wiege des Punks zunächst mythisch verklärt. Als Rodney im Rahmen eines Schüleraustauschs 1981 nach England reist, erhält diese Grenzüberschreitung aber einen zunehmend desillusionierenden Charakter: Der Protagonist ist sich des Umstands nicht bewusst, »dass das Ding hier schon längst wieder out war« (ebd.: 63) und sucht in seiner provinziellen Unwissenheit aufgrund der ausbleibenden Präsenz britischer Punks fälschlicherweise Anschluss an eine Gruppe gewaltbereiter Skinheads, deren Szene ihm bis dato komplett unbekannt ist: »Wir wussten nicht, was Skinheads sein sollten und hielten sie für Punks mit besonders kurzen Haaren.« (Ebd.) Dabei wird gerade seine Ahnungslosigkeit als Ursache dafür inszeniert, dass Rodney von der englischen Gruppierung zwar schikaniert, nicht aber physisch angegriffen wird: »Die Jungs staunten nicht schlecht, spielten aber mit, weil sie nicht verstanden, warum wir nicht vor ihnen geflüchtet waren.« (Ebd.) In der Folge fällt er dennoch ein vernichtendes Urteil über die Heimat des Punks: »Dieses England hier konnte man vergessen, es hatte seine besten Momente offensichtlich hinter sich. […] Nun war ich Pilger, und ich war in Jerusalem gewesen. Aber Jerusalem stand nicht mehr.« (Ebd.: 64)

Einzig Berlin, »das London Deutschlands« (ebd.: 106) wird ungebrochen positiv konnotiert, das Eintauchen in die vitale Szene wirkt auf Rodney »wie das Betreten eines neuen Kontinents« (ebd.). Dagegen wirkt Hamburg als Raum, in die Schmalenstedter Clique zunehmend abzuwandern beginnen, während der Protagonist vergeblich versucht, die sich auflösende Szene zusammenzuhalten, wie eine Bedrohung für den provinziellen Status Quo. Die späte Erkenntnis, dem Heimatort entwachsen zu sein – »Ich fragte mich: Was hat Hamburg, was Schmalenstedt nicht hat? Und ich musste mir die verstörende Antwort geben: Alles.« (Ebd.: 190) – markiert nicht nur Rodneys endgültige Abkehr von der Kleinstadt, sondern auch das

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Ende der Erzählung. Der Protagonist verteidigt seine Haltung gegen die äußeren Widrigkeiten, muss Schmalenstedt aber dafür hinter sich lassen.

E IN G LANZ

IN DER

P ROVINZ : F AHRRADMOD

Im Gegensatz zu dem fiktionalisierten Ansatz von DORFPUNKS handelt es sich bei FAHRRADMOD gleichermaßen um einen Adoleszenzroman und eine Autobiografie. Der Comic beginnt im Jahr 1987 und schildert die Sozialisation seines Autors in der im Ruhrgebiet liegenden Kleinstadt Wesel, deren Einwohnerzahl mit 30.000 spezifiziert wird (vgl. Dahmen 2015: 34). Dabei umfasst die Erzählung nicht einzig die Jugend- und Lehrjahre des Protagonisten, sondern schlägt in einer Rahmenhandlung den Bogen zu seinem Leben als Erwachsener, dem es unter Mühen gelungen ist, seine jugendliche Passion mit der Existenz als Familienvater zu synchronisieren. In vielerlei Hinsicht gleicht FAHRRADMOD dennoch der Art und Weise, in der DORFPUNKS die Merkmale der Gattung ausgelegt hat: Der heranwachsende Tobi und seine Freunde erschließen sich die Modkultur über Jahre hinweg nur über zwei Quellen, den Fotoband MODS (1979, Richard Barns), der wie ein Schatz gehütet wird (ebd.: 50), und den Film QUADROPHENIA, dessen Vorführung im Schulunterricht ein einschneidendes Erlebnis für die Weseler Jugend darstellt (ebd.: 62). Zudem bildet auch hier eine Radiosendung, PROFESSOR BOP’S RADIOSHOW, die aufgenommen und vervielfältigt wird, das musikalische Substrat der Szene (ebd.: 36). Was für die Schmalenstedter Punks Marktplatz und »Meier’s« waren, sind für Tobi »Zur alten Post«, die einzige örtliche Disco inklusive der gegenüberliegenden, alkoholverkaufenden Tankstelle (Abb. 1), sowie die von der katholischen Jugend ausgerichteten Partys in einem Pfarrheim, auf denen es den Mods gelungen ist, die Verantwortlichkeit für die Auswahl der Musik zu erlangen (ebd.: 77).

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Abb. 1: Tristesse und Gleichförmigkeit: Die Treffpunkte der Weseler Szene Grauin-Grau.

Dahmen (2015: 159)

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Der Unterschied liegt nun maßgeblich darin begründet, dass sich die Codes, »die man beherrschen sollte, um dazuzugehören« (Meyer-Pröpstl 2017: 51) nicht mehr wie im Punk vergleichsweise mühelos herstellen lassen, da sich die Mods als exklusive Szene begreifen. Wer an ihr teilhaben möchte, muss sich, den Vorbildern der genannten Quellen entsprechend, selbst optimieren (vgl. Dahmen 2015: 65), wobei die akkuraten Haarschnitte und die stilvolle, möglichst maßgeschneiderte Kleidung einen Kapitalaufwand verlangen, der einen mittelständischen Heranwachsenden finanziell überfordert. Gleichsam lässt sich der entsprechende Bedarf an Anzügen, Jacken, Hemden, Hüten und Schuhen mittels des begrenzten Sortiments des lokalen Einzelhandels nicht decken, Abhilfe zu schaffen verspricht einzig ein Second Hand Laden, in dem sich je nach Angebot und nur mit Glück die gewünschte Kleidung zum günstigen Preis erwerben lässt. Allerdings symbolisiert das Geschäft selbst die defizitäre diesbezügliche Stellung Wesels, wenn ein Freund Tobi gegenüber den Laden charakterisiert: »Der ist riesig, aber da stinkt’s, das glaubst du nicht!« (Ebd.: 130) Dabei ist es der Umstand, dass die Objekte der Begierde sowohl unerschwinglich als auch unauffindbar sind, der eine individuelle Aneignung der Vorbilder befördert: Da die Quellen nicht einfach übernommen werden können, werden ihre einzelnen Elemente dahingehend analysiert, ob sie sich innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen neu konstruieren lassen. Dieser Einfallsreichtum bricht in Wesel mit dem ansonsten vorherrschenden Dogmatismus der Mods; denn je einfallsreicher die Notlösungen ausfallen, desto größer ist der Respekt, den die Szene ihrem Urheber entgegenbringt. Aus einer umfangreichen Ansammlung solcher Artefakte setzt Tobi schließlich seine Mod-Montur zusammen (Abb. 2), wobei sich besonders die Herstellung eines geeigneten Hutes als innovatives Vorgehen erweist: »Wichtig war, dass der Hut sehr hoch war und eine schmale Krempe besass. Nicht zu kriegen natürlich. Ich schnitt dann bei einem Hut meines Vaters die Krempe ab. Das Ergebnis wurde unerwartet respektvoll bewertet.« (Ebd.: 132)

Anders als in DORFPUNKS fungiert die Großstadt in FAHRRADMOD ungebrochen als Sehnsuchtsort. Klar konnotierte Gegenräume dieser Art sind vornehmlich Köln und Düsseldorf, deren Fachhändler jene mod-affinen Schallplatten führen, die im entsprechenden Einzelhandel in Wesel schmerzlich vermisst werden (ebd.: 74). Der Rückgriff auf die urbane Infrastruktur, der immer dann unverzichtbar wird, wenn es ein spezifisches Kleidungsstück zu erwerben gilt (ebd.: 65), ist auf diese Weise elementar für die Szene, kann für die Heranwachsenden aber nicht eigenständig gelingen. Stattdessen sind sie darauf angewiesen, dass der Transport von ihren Eltern oder im Rahmen eines Schulausflugs hergestellt wird. Während DORFPUNKS also

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das Verhältnis der Räume selbst problematisiert, betont FAHRRADMOD den Übergang zwischen ihnen als eigentliche Schwierigkeit. Abb. 2: Die Garderobe des Mods spiegelt seine kleinstädtische Patchwork-Identität

Dahmen (2015: 132)

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Entsprechend ist London für Tobi auch der Wallfahrtsort, als der er in DORFPUNKS dekonstruiert wird: Mehrfach reist der Protagonist dorthin; wobei es von der Elterngeneration affirmierte Anlässe wie Sprachurlaube und Jugendfreizeiten bedarf um die Grenzüberschreitungen zu legitimieren. Die englische Hauptstadt ist hier durch ein scheinbar unbegrenztes Angebot an in Wesel nicht erhältlichen Devotionalien (ebd.: 84), die Offerte an den Konzerten populärer Künstler zu partizipieren, sowie das Schlüsselerlebnis, sich zum ersten Mal als Teil einer voll ausgeformten Szene zu fühlen (ebd. 172), charakterisiert.

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Neben den divergierenden Ausformungen der zentralen Charakteristika der Subgattung exemplifizieren DORFPUNKS und FAHRRADMOD auch, dass ihre retrospektive Erzählweise keineswegs einzig der Orientierung an vergangenheitsfixierten Strömungen der deutschsprachigen Literatur geschuldet ist, sondern im Gegenteil vielmehr eine Notwendigkeit darstellt, um im 21. Jahrhundert von musikalischer Sozialisation erzählen zu können. In der Gegenwart haben Kleinstädte ihren Inselstatus – zumindest in dem Maße, wie er für das Genre relevant ist – längst verloren, da »Subjektivierungs-, Pluralisierungs- und Globalisierungsprozesse« (Hitzler/ Niederbacher 2010: 11) die traditionellen »Gemeinschaften wie Familie, Nachbarschaft, Kirchengemeinde etc.« (ebd.) grundlegend verändert haben und damit die Oppositionen zwischen urbanen und provinziellen Räumen hinfällig werden ließen. Die durch den Ausbau des Internets forcierte sukzessive Vernetzung und Digitalisierung des Alltags Heranwachsender (vgl. Kämmerlings 2011: 84) hat ein »Waren(über)angebot« (Hitzler/Niederbacher 2010: 12) ebenso befördert wie eine Gesellschaft, in der jegliches Interessengebiet unabhängig vom eigenen Standort »jederzeit sichtbar und verfügbar« (Kämmerlings 2011: 199) geworden ist. Gleichsam ermöglicht dieses Vernetzen das Konstituieren einer globalen, obgleich lediglich virtuellen Szenezugehörigkeit. Einzig die Option der physischen Teilhabe durch den Besuch spezifischer Veranstaltungen unterliegt zumindest in ihren Grundzügen noch denselben Herausforderungen, mit denen sich die Kleinstadtjugenden in Schmalenstedt und Wesel einst konfrontiert sahen. Rückblickend erscheint es paradoxerweise aber, als wäre es in den 1980er und 1990er Jahren »sogar besser möglich« (ebd.: 84) gewesen, sich einer musikalischen Szene zu verschreiben:

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»Musikgeschmack hatte etwas von Kennerschaft, von Insidertum, und mit einer riesigen Sammlung obskurer Vinylplatten oder CDs war das leichter als in Zeiten von iTunes […], wo jeder mit ein paar Klicks einen noch so ausgefallenen Musikgeschmack befriedigen kann.« (Ebd.)

Dass die Subgattung, wie sie ihr Korpus gegenwärtig darstellt, gleichsam nur bedient werden kann, indem sie in vergangenen Dekaden verortet bleibt, limitiert die musikalischen Stile und Szenen, die sie zu thematisieren vermag. Entsprechend wird sich in Zukunft zeigen müssen, ob sich das Genre durch beständige Repetition bei sukzessiver Entfernung von der Lebenswelt der Adressaten obsolesziert oder ob es ihm gelingt, in Auseinandersetzung mit dem digitalen Aufwachsen innovative und für das adoleszente Publikum relevante Formen zu entwickeln.

L ITERATUR Deibel, Christiane (2012): »March of the Mods«: The Internationalisation of a British Cultural Phenomenon, Marburg: Tectum. Derlin, Katharina (2012): »Es muss eine Ambivalenz und ein Bruch her«. Formen und Funktionen der Selbstinszenierung bei Rocko Schamoni, Marburg: Tectum. Dittmar, Jakob F. (2011): Comic-Analyse, Konstanz: UVK. Feldman, Christine Jacqueline (2009): »We are the Mods«: A Transnational History of Youth Subculture, New York: Peter Lang. Ferchhoff, Wilfried (2011): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, Wiesbaden: VS. Gast, Nicole (2014): Erwachsenwerden im deutschen Pop-Roman. Der Reifungsprozess des Protagonisten in Faserland, Soloalbum & Co., Hamburg: Disserta Verlag. Hannemann, Christine (2002): »Die Herausbildung räumlicher Differenzierungen – Kleinstädte in der Stadtforschung«, in: Martina Löw (Hg.), Differenzierungen des Städtischen, Opladen: Leske + Budrich, S. 265-278. Hitzler, Ronald/Niederbacher, Arne (2010): Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, Wiesbaden: VS. Kämmerlings, Richard (2011): Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit ‘89, Stuttgart: Klett-Cotta. Kleiner, Marcus S. (2015): »Popliteratur am Rande«, in: Thomas Hecker/Marcus S. Kleiner/André Menke (Hg.), Popliteratur. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler, S. 159-180. Kolk, Rainer (2007): »Adoleszenzliteratur«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 5-6.

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Lang, Günther (2012): »Vorwort«, in: Ders. (Hg.), Erwachsen werden. Jugendliche Adoleszenzromane im Deutschunterricht, Baltmannsweiler: Schneider, S. XIIXIII. Lenz, Friedemann (2013): »Soziologische Perspektiven auf musikalische Sozialisation. Übersetzungsprobleme«, in: Robert Heyer/Sebastian Wachse/Christian Palentien (Hg.), Handbuch Jugend – Musik – Sozialisation, Wiesbaden: Springer, S. 157-185. Menke, André (2010): Die Popliteratur nach ihrem Ende. Zur Prosa Meineckes, Schamonis, Krachts in den 2000er Jahren, Bochum: Posth. Meyer-Pröpstl, Christian (2017): »Pop und Comics. Von Frank Zappa zu Nick Cave«, in: Musikexpress 9, S. 44-51. Müller, Renate (1998): »Musikalische Sozialisation und Identität. Ergebnisse einer computergestützten Befragung mit dem klingenden Fragebogen«, in: Mechthild von Schoenebeck (Hg.), Entwicklung und Sozialisation aus musikpädagogischer Perspektive, Essen: Die blaue Eule, S. 57-74. Porombka, Stephan (2007): »Popliteratur«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 598-599. Schikowski, Klaus (2014): Der Comic. Geschichte, Stile, Künstler, Stuttgart: Reclam. Schröer, Marie (2016): »Graphic Memoirs – autobiografische Comics«, in: Julia Abel/Christian Klein (Hg.), Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler, S. 263-275. Thurschwell, Pamela (2018): »Introduction: Dressed right for a beach fight«, in: Dies. (Hg.), Quadrophenia and Mod(ern) Culture, Cham: Palgrave McMillan, S. 1-12. Weight, Richard (2013): MOD: From Bebop to Britpop, Britain’s Biggest Youth Movement, London: Bodley Head. Wende, Waltraud (2007): »Großstadtdichtung«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 296.

K ORPUS Dahmen, Tobi (2015): Fahrradmod, Hamburg: Carlsen Maier, Andreas (2016): Der Kreis, Berlin: Suhrkamp. Michalke, Andreas (1991-97): Artige Zeiten, Bd. 1-7, Berlin: Reprodukt. – (1999): Smalltown Boy, Berlin: Reprodukt. Conradt, Wolfgang (2015): Metal Tango, o.O.: CreateSpace. – (2016): Metal Waltz, o.O.: CreateSpace. Goehre, Michael (2011): Jungsmusik, Berlin: Satyr.

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– (2013): Höllenglöcken, Berlin: Satyr. – (2016): Strassenköter, Berlin: Satyr. Konecny, Jaromir (2006): Hip und Hop und Trauermarsch, München: cbt. Schamoni, Rocko (2004): Dorfpunks, Reinbek: Rowohlt. Stille, Kalle (2011): Kurz vor dem Arsch der Welt links ab, o.O.: d.i.my. Stolz, Fabian (2002): Geschichten aus den Neunzigern, Bd. 2. Punkrock!, Weimar: Schwarzer Turm.

Autorinnen und Autoren

Baum, Detlef, Prof. Dr., geboren in Hechingen/Hohenzollern, Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen und Saarbrücken, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Projekten der Obdachlosenforschung an der Universität Trier, Promotion 1977, Wissenschaftlicher Assistent an der TU Berlin, Institut für Soziologie; Habilitation 1986, Geschäftsführer einer Jugendhilfeorganisation (1983-1990), Lehrtätigkeit an der Universität Mainz und der Kath. Hochschule Mainz, Professor für Soziologie an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung Köln (1990-1992), Professor für Soziologie an der Hochschule Koblenz (1992-2012). Von 2011 bis 2014 Leiter eines Projekts zum Aufbau eines Forschungsteams für Stadt- und Regionalforschung an der Universität Ostrava/Tschechien, Fakultät für Soziale Studien. Publikationen u.a.: DIE STADT IN DER SOZIALEN ARBEIT. EIN HANDBUCH FÜR SOZIALE UND PLANENDE BERUFE (Hg., Wiesbaden 2007), LEHRBUCH STADT UND SOZIALE ARBEIT. STADTSOZIOLOGISCHE GRUNDLAGEN SOZIALER ARBEIT (Weinheim 2018). Beetz, Stephan, Prof. Dr., geb. 1966, Studium der Sozialarbeit/Sozialpädagogik in Potsdam und der Soziologie an der TU Berlin, Promotion an der HU Berlin, wissenschaftliche Forschung und Beratung an verschiedenen universitären und außeruniversitären Einrichtungen (u.a. IfG Berlin, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, HS Neubrandenburg, Thünen-Institut), langjährige Tätigkeit in der Erwachsenenbildung, seit 2009 Professur an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Mittweida. Arbeitsschwerpunkte: ländliche Entwicklung, (Wohnungs-) Genossenschaften, Gemeinwesenarbeit, Jugendliche Lebenswelten. Publikationen u.a.: DÖRFER IN BEWEGUNG. EIN JAHRHUNDERT SOZIALER WANDEL UND RÄUMLICHE MOBILITÄT IN EINER OSTDEUTSCHEN LÄNDLICHEN REGION (Hamburg 2004), HANDWÖRTERBUCH ZUR LÄNDLICHEN GESELLSCHAFT IN DEUTSCHLAND (hg. zus. mit K. Brauer u. C. Neu, Wiesbaden 2005) sowie zahlreiche Beiträge zur Situation und Entwicklung ländlicher Räume.

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Cramer, Hendrik, wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Vortrags- und Publikationstätigkeit zu den Forschungsschwerpunkten: Zeitschriftenliteratur des 18. Jahrhunderts, Literatur und Zensur im Vormärz, Klassische Moderne (v.a. Franz Werfel) und Literatur der Arbeitswelt nach 1945. Dahlke, Birgit, PD Dr. phil., 1960 in Berlin geboren, Literaturwissenschaftlerin und seit 2016 Leiterin der neu eingerichteten ›Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf‹ an der Humboldt Universität Berlin. Promotion 1994 an der FU Berlin, Habilitation 2003 an der HU Berlin. Neben zahlreichen Aufsätzen publizierte sie folgende Monographien: CHRISTA WOLF: ANTIFASCHISTIN – HUMANISTIN – SOZIALISTIN (2019), WOLFGANG HILBIG (2011), JÜNGLINGE DER MODERNE. JUGENDKULT UND MÄNNLICHKEIT IN DER LITERATUR UM 1900 (2006) und PAPIERBOOT. AUTORINNEN AUS DER DDR – INOFFIZIELL PUBLIZIERT (1997). Drews, Kevin, Studium der Germanistik und Geschichte in Bochum und Berlin. 2015-2018 Mitglied des Doktorandenkollegs Geisteswissenschaften der Universität Hamburg und assoziiertes Mitglied der PhD-Net »Wissen der Literatur« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dissertation über Walter Benjamin und Salomo Friedlaender/Mynona. Seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg. Publikation: Kevin Drews/Ann-Kathrin Hubrich et al. (Hg.): DIE FRAGE IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN. HERAUSFORDERUNGEN, PRAKTIKEN UND REFLEXIONEN. Berlin: Frank & Timme 2019. Dubil, Janwillem, Studium der Neueren deutschen Literatur- und Medienwissenschaft, der Älteren deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft und der Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Doktorand der Neueren deutschen Literatur- und Medienwissenschaft bei Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich mit dem Promotionsvorhaben »Theorie und Praxis der Comicverfilmung«. Publikation diverser Aufsätze, zuletzt: »What’s so funny about Love, Peace and the American Way? Konstitution und Wandel von Werten zwischen jüdischen Wurzeln und amerikanischem Traum am Beispiel der Comicfigur Superman«, in: Pädagogische und didaktische Schriften, Band 15. Ehrler, Martin, Studium der Germanistik, Skandinavistik und Komparatistik in Greifswald und Leipzig. 2015-2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Experimentierfeld Dorf an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, seit Oktober 2018 Kollegiat im Graduiertenkolleg ›Modell Romantik‹ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Publikationen u.a.: TOPOGRAFISCHE LEERSTELLEN. ÄSTHETISIERUNGEN VERSCHWINDENDER UND VERSCHWUNDENER DÖRFER UND LANDSCHAFTEN (hg. zus. mit Marc Weiland, Bielefeld 2018).

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Elsaghe, Yahya, Prof. Dr., seit 2001 Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Universität Bern. Studium der klassischen und deutschen Philologie in Zürich, München, Freiburg i. B. und Basel. Promotion 1990, Habilitation 1997. Verschiedene Forschungs- und Lehrtätigkeiten an der University of California in Berkeley, der University of Queensland, der FU Berlin sowie eine Förderprofessur des Schweizerischen Nationalfonds an der Universität Zürich. Aufsätze zur deutschsprachigen Literatur von Christian Reuter bis W. G. Sebald, Editionen von Schriften Gottfried Kellers und Johann Jakob Bachofens. Monographien u.a.: UNTERSUCHUNGEN ZU HERMANN UND DOROTHEA (1990); DIE IMAGINÄRE NATION. THOMAS MANN UND DAS ›DEUTSCHE‹ (2000); MAX FRISCH UND DAS ZWEITE GEBOT. RELEKTÜREN VON ANDORRA UND HOMO FABER (2014). Glawion, Sven, Dr. phil., Literatur- und Genderwissenschaftler, Promotion im Fach Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2016: Vertretungsprofessur an der Universität in Brasília, dort jetzt Visiting Scholar; forscht, lehrt und publiziert zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Gender Studies und Queer Theory. Klingenböck, Ursula, Dr. phil., Ass.-Prof. für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Neuere und neueste Literatur, Literaturvermittlung. Publikationen u.a.: »Und außerdem ist es mir egal, was meine Bücher bedeuten.«: Inszenierung von Werk und Autorschaft am Beispiel von Thomas Glavinic, in: Martin Gerstenbräun-Krug/Nadja Reinhard (Hg.): Paratextuelle Politik und Praxis. Interdependenzen von Werk und Autorschaft, Wien: Böhlau 2018, 293-311; ZUHANDEN – VORHANDEN – ABHANDEN. Die Metamorphose der Dinge am Beispiel von Evelyn Grills Der Sammler, in: ZfdPh 133 (2014), 239-260; Text-Packungen. Überlegungen zum Paratext und seiner Funktion, in: Ute Seiderer/Michael Fisch (Hg.): Hülle und Haut. Verpackung und Umschlag: Techniken des Verkleidens und Umschließens, Berlin: Rotbuch 2014, 86-108; Lebens-Bilder. Überlegungen zum biographischen Narrativ bei Birgit Weyhe, in: Susanne Hochreiter/Ursula Klingenböck (Hg.): Bild ist Text ist Bild. Narration und Ästhetik in der Graphic Novel, Bielefeld: transcript 2014, 121-148. Knittel, Anton Philipp, Dr. phil., Leiter Literaturhaus Heilbronn in Personalunion mit Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn; Studium der katholischen Theologie und der Germanistik in Tübingen und Wien. 1985-1995 wiss. Mitarbeiter am Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Tübingen, 1991-1993 wiss. Assistent am Deutschen Seminar der Universität Tübingen, 1996-1998 persönlicher Referent des Rektors der Universität Konstanz, 1998-2000 wiss. Mitarbeiter am Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn, 2000-2019 stv. Pressesprecher der Stadt Heilbronn. Publikationen: ERZÄHLTE BILDER DER GE-

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WALT.

DIE STELLUNG DER ›ÄSTHETIK DES WIDERSTANDS‹ IM PROSAWERK VON PETER WEISS (1996); ZWISCHEN IDYLLE UND TABU. DIE AUTOBIOGRAPHIEN VON CARL GUSTAV CARUS, WILHELM VON KÜGELGEN UND LUDWIG RICHTER (2003). Mithrsg. einer zweibändigen Edition der Briefe, Tagebücher und Reiseschriften Wilhelm von Kügelgens (1994, 1995; 2. Aufl. 1996); Mithrsg.: HEINRICH VON KLEIST. NEUE WEGE DER FORSCHUNG (2003; 2. Aufl. 2009); zahlreiche Beiträge zur Literatur des 17. bis 21. Jahrhunderts. Kostka, Jan, Dr. phil., Promotion 2013 am Institut für Germanistik der Universität Potsdam, derzeit wissenschaftlicher Volontär im Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte. Publikationen zur Literatur des 20. Jahrhunderts, u.a.: DAS JOURNALISTISCHE UND LITERARISCHE WERK VON KLAUS SCHLESINGER 1960 BIS 1980, Berlin 2015. Liebich, Jens, Dr. phil., Promotion 2019 im Cotutelle-Verfahren an den Universitäten Nantes und Rostock mit der Arbeit POETIK DER INTERAKTION. ZUR GENESE EINER ›VERWANDELTEN WELT‹ IN RAINER MARIA RILKES AUFZEICHNUNGEN DES MALTE LAURIDS BRIGGE. Nach Lehrtätigkeiten an der Université de Nantes (20102015) sowie der Universidade de Coimbra (2015-2019) erfolgte im WS 2019/20 die Aufnahme eines Lehramtsstudiums in den Fächern Deutsch und Französisch für Gymnasien in Rostock. Forschungsinteressen: Literarische Moderne, Dramen und Dramentheorien, Literatur- und Kulturtheorie, Narratologie sowie Literaturverfilmungen und Literaturdidaktik. Max, Katrin, PD Dr. phil., Vertretungsprofessorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Leipzig. Studium sowie Promotion (2007) in Leipzig, danach Mitarbeit in einem DFG-Projekt am Institut für Medizingeschichte der Universität Würzburg, wissenschaftliche Assistentin am Institut für deutsche Philologie (2010-2016) in Würzburg; 2016 Habilitation ebenda. Publikationen u.a.: BÜRGERLICHKEIT UND BÜRGERLICHE KULTUR IN DER LITERATUR DER DDR (2018); TENDENZEN UND PERSPEKTIVEN DER GEGENWÄRTIGEN DDRLITERATUR-FORSCHUNG (2016); NIEDERGANGSDIAGNOSTIK. ZUR FUNKTION VON KRANKHEITSMOTIVEN IN »BUDDENBROOKS« (2008). Mohnkern, Ansgar, Dr. phil., M.A.-Studium Germanistik und Philosophie in Bonn, 2011 Ph.D. in Deutscher Literatur an der Yale University mit einer Arbeit zu Goethe (überarbeitet erschienen als METAPHER, WIEDERHOLUNG, FORM. ZU GOETHES UNBEGRIFFLICHKEITEN, Bielefeld: Aisthesis 2012), seit 2012 Assistant Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität von Amsterdam. Publikationen u.a.: KULTURELLE ANATOMIEN: GEHEN (Heidelberg: Synchron 2017, hg. gem. mit D. Hahn und R. Parr).

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Moser, Natalie, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Potsdam; im Wintersemester 2019 und Sommersemester 2020: Vertretung der Professur für Neuere deutsche Literatur/19.–21. Jahrhundert am Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Publikationen: DIE ERZÄHLUNG ALS BILD DER ZEIT. WILHELM RAABES NARRATIV INSZENIERTE BILDDISKURSE (2015) sowie Aufsätze u. a. zu den Forschungsschwerpunkten Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, Realismus-Theorien, Zeit- und Ende-Diskurse. Nell, Werner, Prof. Dr., geboren in St. Goar am Rhein, 1998-2019 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Ontario), Kanada; Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). John-G.-Diefenbaker Award des Canada Councils of the Arts 2017; Forschungsgebiete: Literatur in transnationalen Prozessen, vergleichende Regionalitätsstudien, Literatur und Gesellschaft. Publikationen u.a.: IMAGINÄRE DÖRFER. ZUR WIEDERKEHR DES DÖRFLICHEN IN LITERATUR, FILM UND LEBENSWELT (2014, gem. mit M. Weiland); VOM KRITISCHEN DENKER ZUR MEDIENPROMINENZ? ZUR ROLLE VON INTELLEKTUELLEN IN LITERATUR UND GESELLSCHAFT VOR UND NACH 1989 (2015, gem. mit C. Gansel); ÜBER LAND. AKTUELLE LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF DORF UND LÄNDLICHKEIT (2017, gem. mit M. Marszałek u. M. Weiland). Nowak, Christiane, Dr. phil., geb. 1978, studierte Neuere deutsche Literatur, Politikwissenschaft, Publizistik und Deutsch als Fremdsprache an der FU Berlin. Promotion am GCSC der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Großstadt- und Angestelltenkultur in der Weimarer Republik, Kinder- und Jugendliteratur. Publikationen u.a.: MENSCHEN, MÄRKTE, MÖGLICHKEITEN. DER TOPOS KLEINSTADT IN DEUTSCHEN ROMANEN ZWISCHEN 1900 UND 1933 (2013). Schneider, Lothar, Dr. phil., apl. Prof. am Institut für Germanistik der JustusLiebig-Universität Gießen. Publikationen u.a.: REDEN ZWISCHEN ENGEL UND VIEH. ZUR RATIONALEN REFORMULIERUNG DER RHETORIK IM PROZEß DER AUFKLÄRUNG (1994), REALISTISCHE LITERATURPOLITIK UND NATURALISTISCHE KRITIK. EINE UNTERSUCHUNG ÜBER DIE SITUIERUNG DER LITERATUR IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS UND DIE VORGESCHICHTE DER MODERNE (2005). Steier, Christoph, Dr. phil., geboren in Bielefeld, Studium der Literatur- und Kommunikationswissenschaft in Erfurt, Dublin und Zürich, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Promotion mit einer Studie zu POETOLOGIEN DES HUNGERNS VON DER GOETHEZEIT BIS ZUR GEGENWART (Würzburg 2014), Mitherausgeber von Sammelbänden u.a. zu Nachkriegskörpern,

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Rhetorik der Übertragung, Max Frisch und E.T.A. Hoffmann; Aufsätze zu Tieck, Kafka, Benn, Bachmann, Regler, Bärfuss, Mora u.a. Ulrichs, Lars-Thade, Dr. phil., geboren in Hildesheim. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evangelischen Hochschule Rheinland Westfalen Lippe in Bochum; Studium der Philosophie, Deutschen Philologie und der Neueren Geschichte in Göttingen. Historische Forschungsschwerpunkte in der frühen Neuzeit, der europäischen Aufklärung sowie in der kantischen und nachkantischen Philosophie; systematische Forschungsschwerpunkte in der Ideen- und Kulturgeschichte, der Subjektivitätstheorie sowie der Philosophie des Geistes. Wichtigste Publikationen: BILDUNG ALS KUNST. FICHTE, SCHILLER, HUMBOLDT, NIETZSCHE (2010, gem. mit J. Stolzenberg); DIE ANDERE VERNUNFT. PHILOSOPHIE UND LITERATUR ZWISCHEN AUFKLÄRUNG UND ROMANTIK (2011); SUBJEKTIVITÄT UND AUTONOMIE. GRUNDPROBLEME DER PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE NACH KANT (2013, gem. mit S. Lang); »Autonome Subjektivität. Begriffsexplikation in Schellings und Hegels genetischer Subjektivitätstheorie« (2016); »Die Grundlage der praktischen Philosophie als Begründung des Real-Idealismus. Kommentar zu § 5 der WL 1794/95« (2019). Weiland, Marc, Dr. phil., geboren in Lutherstadt Eisleben. 2014-2019 wiss. Koordinator des Forschungsprojekts Experimentierfeld Dorf an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; seit 2019 wiss. Mitarbeiter an der BauhausUniversität Weimar. Studium der Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Philosophie in Halle, Veszprém und Kingston/Ontario. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der philosophischen und literarischen Anthropologie, der Literatur des 20. Jhs. und der Gegenwart sowie der literarischen Dörflichkeit und Ländlichkeit. Publikationen u.a.: IMAGINÄRE DÖRFER (2014, mit. W. Nell), ÜBER LAND (2017, gem. mit M. Marszałek u. W. Nell), TOPOGRAFISCHE LEERSTELLEN (2018, gem. mit Martin Ehrler), DORF. EIN INTERDISZIPLINÄRES HANDBUCH (2019, gem. mit W. Nell), MENSCH UND ERZÄHLUNG. HELMUTH PLESSNER, PAUL RICŒUR UND DIE LITERARISCHE ANTHROPOLOGIE (2019). Wolgast, Karin, Dr. phil., Lehrerin in der freien Erwachsenenfortbildung Kopenhagen (FOF, Folkeuniversitetet København), Alexander von Humboldt-Alumna und Vorsitzende des dänischen Humboldt-Klubs. Mehrere Publikationen im Bereich der deutschen und österreichischen Literatur und Philosophie, besonders über Bachmann, Hofmannsthal, Reinhardt, Rilke und Schnitzler. Zimmermann, Clemens, Prof. Dr., Historisches Institut der Universität des Saarlands in Saarbrücken. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte von Stadt und Land, Geschichte der Staatspraxis sowie der Sozial- und Kulturpolitik, individuelle, gruppenspezifische und wissenschaftliche Wahrnehmungen neuer

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Technologien und Medien. Mitherausgeber u.a. der INFORMATIONEN ZUR MODERNEN STADTGESCHICHTE, der ZEITSCHRIFT FÜR AGRARGESCHICHTE UND AGRARSOZIOLOGIE sowie der BEITRÄGE ZUR STADTGESCHICHTE UND URBANISIERUNGSFORSCHUNG. Publikationen u.a.: KLEINSTADT IN DER MODERNE (Hg., 2003); DIE GESCHICHTE DES DORFES (2006, gem. mit W. Troßbach); DIE ZEIT DER METROPOLEN. URBANISIERUNG UND GROßSTADTENTWICKLUNG (2015); STADT-LANDBEZIEHUNGEN IM 20. JAHRHUNDERT (2015, Hg. gem. mit F.-W. Kersting); CINEMA BEYOND THE CITY (2016, Hg. gem. mit Judith Thissen).

Literaturwissenschaft Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Thorsten Carstensen (Hg.)

Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart., Dispersionsbindung 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)

Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0

Jürgen Brokoff, Robert Walter-Jochum (Hg.)

Hass/Literatur Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte 2019, 426 S., kart., 2 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4645-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4645-4

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 1 2019, 190 S., kart., 5 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4459-3 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4459-7

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