Religion in der globalen Moderne: Philosophische Erkundungen 9783737003193, 9783847103196, 9783847003199


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Religion in der globalen Moderne: Philosophische Erkundungen
 9783737003193, 9783847103196, 9783847003199

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Religion and Transformation in Contemporary European Society

Band 7

Herausgegeben von Kurt Appel, Christian Danz, Isabella Guanzini, Richard Potz und Sieglinde Rosenberger

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Hans Schelkshorn / Friedrich Wolfram / Rudolf Langthaler (Hg.)

Religion in der globalen Moderne Philosophische Erkundungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0319-6 ISBN 978-3-8470-0319-9 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, des Rektorats der Universität Wien sowie des »Forum Zeit und Glaube. Katholischer Akademiker/innenverbands der Erzdiözese Wien«. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: RaT-Logo (Gerfried Kabas, Wien). Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Rudolf Langthaler, Johann Schelkshorn, Friedrich Wolfram Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I. Religionsphilosophie in interkultureller Perspektive Volker Gerhardt (Berlin) Das Göttliche als Sinn des Daseins. Reflexion über das Verhältnis von Gott und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Thomas Rentsch (Dresden) Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes . . . . . . . . . .

45

Raffll Fornet-Betancourt (Bremen) Interkulturalität und Religion. Zur interkulturellen Interpretation der Krise des Christentums in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Franz Gmainer-Pranzl (Salzburg) »universale salutis sacramentum« (LG 48). Katholizität als Modell diskursiver, responsiver und polyloger Universalität . . . . . . . . . . . .

75

II. Zur europäischen Tradition Jens Halfwassen (Heidelberg) Gott als Intellekt: Eckhart als Denker der Subjektivität

. . . . . . . . . . 109

Edith Düsing (Köln) Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik und Fichtes philosophische Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

6

Inhalt

Wolfgang Treitler (Wien) John Henry Newmans Zustimmungslehre. Ein Argumentationsweg für heute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Hans Gerald Hödl (Wien) Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Gegenentwurf zur christlichen Weltinterpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

III. Neue Ansätze im 20. Jahrhundert Hartwig Bischof (Wien) Philosophie mit Meerblick. Maurice Merleau-Ponty und die Religion

. . 183

Hans Schelkshorn (Wien) Albert Camus’ Appell an die Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Michael Staudigl (Wien) Über die Unhintergehbarkeit des »absoluten Lebens«. Zur praktischen Bedeutung von Michel Henrys Lebensphänomenologie . . . . . . . . . . 217

IV. Interkultureller Dialog – konkret Jameleddine Ben Abdeljelil (Wien) Vernunft und Glaube: Ansätze einer (islamischen) Religionsphilosophie bei Ibn Ruschd – Averroes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Wolfgang Gantke (Frankfurt am Main) Die Bedeutung Aurobindos für eine interkulturelle Philosophie . . . . . . 267 Ursula Baatz (Wien) Der Buddhismus – (k)ein Atheismus. Eine Dekonstruktion . . . . . . . . 283 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Rudolf Langthaler, Johann Schelkshorn, Friedrich Wolfram

Einleitung

Die jüngste Phase der Globalisierung birgt für die religiösen Traditionen in den verschiedenen Weltregionen enorme Herausforderungen. Die Verdichtung der globalen Kommunikationsnetze und die Intensivierung von Migrationsströmen haben die religiösen Landschaften in allen Teilen der Erde tiefgreifend verändert. Die neue Weltlage hat nicht nur dazu geführt, dass sich die verschiedenen religiösen Traditionen kaum mehr aus dem Weg gehen können und stärker als bisher gegenseitigen Infragestellungen ausgesetzt sind. In vielen Kulturen sind darüber hinaus durch Migration und transkulturelle Prozesse auch neue plurireligiöse Konstellationen entstanden. So stehen sich in fast allen Weltreligionen fundamentalistische und modernitätsoffene religiöse Gruppen konfliktreich gegenüber. Die zahllosen Verbindungen zwischen religiösen und säkularen Momenten, die sich in der globalen Moderne in den letzten beiden Jahrhunderten herausgebildet haben, hat in der Religionssoziologie in jüngerer Zeit eine neue Debatte über die Säkularisierung ausgelöst. Die säkulare Moderne, vor allem europäischen Zuschnitts, ist nicht mehr unhinterfragt das normative Modell für andere Kulturen, sondern erscheint plötzlich als Sonderweg der Menschheit. Vor diesem Hintergrund stellt sich heute für die europäische Religionsphilosophie mehr denn je die Aufgabe, den engeren Bereich der westlichen Moderne zu überschreiten, ohne ihre Errungenschaften leichtfertig aufzugeben. Unter diesem Vorzeichen veranstaltete das »Forum Zeit und Glaube« eine Vortragsreihe mit dem Titel »Religion und Kirche in der globalen Moderne«. Eine Auswahl der Vorträge wird in diesem Sammelband einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

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1.

Rudolf Langthaler, Johann Schelkshorn, Friedrich Wolfram

Religionsphilosophie in interkultureller Perspektive

Eine erste Reihe von Beiträgen bezieht sich auf aktuelle Grundlegungsfragen innerhalb der europäischen Religionsphilosophie, die jeweils vorsichtig auf interkulturelle Perspektiven hin geöffnet werden. Volker Gerhardts Beitrag »Das Göttliche als Sinn des Daseins. Reflexion über das Verhältnis von Gott und Natur« nimmt zunächst einen (durch das DarwinJubiläum im Jahr 2009 bedingten) Ausgang von einigen grundlegenden Überlegungen zum Thema »Darwin und die Gottesfrage«. Gleichwohl verbindet Gerhardt in seinem Beitrag diesen kontingenten Anlass mit sehr grundsätzlichen systematischen Erkundungen, die nicht nur die nach wie vor weit verbreiteten Ansichten zum Thema »Darwin und die Gottesfrage« korrigieren möchten. Die zunächst zwar an Darwins Auseinandersetzung mit der Theologie orientierten Überlegungen münden vielmehr ein in Analysen zum »Begriff des Sinnes«, mit denen Gerhardt durchaus ein systematisches Anliegen verknüpft, in dem offenbar naturphilosophische Aspekte mit Perspektiven einer philosophischen Anthropologie verbunden werden. Näherhin wird darin der Aufweis intendiert, »wie eng die Leistungen des Sinns zunächst mit dem natürlichen, dann dem kulturellen Vollzug des Lebens verbunden sind«. Diesen Ansatz entfaltet Gerhardt in jener »Analyse des Sinnbegriffs« zur Skizze einer siebenstufigen »Sinnpyramide«. Die sie abschließende siebente Stufe wird als der »existenzielle Sinn« ausgewiesen und als »Sensorium für das Göttliche« bestimmt. Auf der Basis der dieserart eröffneten »Universalität des menschlichen Sinnhorizontes als Bedingung für das Verstehen überhaupt«, die so als das eigentliche Resultat jener entwickelten »Sinnpyramide« erscheint, möchte Gerhardt das »Göttliche« als jenen umgreifenden »Sinnhorizont des Lebens« ausweisen, in dem jene differenzierten Sinndimensionen vereinigt zu denken sind. Die darauf abzielenden Überlegungen will Gerhardt als einen Versuch verstanden wissen, über diese Analyse »der sieben in sich zusammenhängenden Stufen des Sinns« zugleich eine Klärung des »epistemischen Status des Glaubens« in Abgrenzung von wissenschaftlichen Ansprüchen zu leisten. Von der Überzeugung, dass die »Wiederholung der expliziten systematischen Reflexion auf die Frage nach Gott in der Philosophie und im Blick auf gesellschaftliche und interkulturelle Diskurse nötig, ja unverzichtbar geworden« ist, lässt sich Thomas Rentsch in seinem Beitrag »Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes« leiten. Eine solche Erneuerung kritischer philosophischer Reflexion sei freilich nur in mehreren Schritten einlösbar : Vorab werden »Substitute und Surrogate des Absoluten« benannt, die bei »den wichtigsten Philosophen der Moderne« in Erscheinung treten; daran knüpft Rentsch Hinweise auf eine »negative Theologie«, die zunächst freilich die Distanzierung falscher und irreführender Formen, Gott zu denken, zu leisten hat (demgemäß

Einleitung

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werden in »sieben Schritten einer zeitgemäßen modernen negativen Theologie… objektivistische, quasi-naturwissenschaftliche, subjektivistische, psychologische, relativistische, entfremdungstheoretische, funktionalistische, fiktionalistische und moralistische Zugänge zur Gottesfrage zurückgewiesen«). Sie fungieren so als notwendige Vorbereitung für jene beanspruchte erneuerte »negative Theologie« und bilden so auch den Hintergrund für die von Rentsch anschließend unternommene Begründung seiner zentralen These: »An der Grenze der philosophischen Vernunfterkenntnisse beginnt das Verstehen der Rede von Gott«. Damit ist erst der Weg eröffnet für die von Rentsch intendierte Freilegung der drei Transzendenz-Aspekte, die näherhin als »unhintergehbare Aspekte der Sinnkonstitution einer menschlichen Welt« ausgewiesen werden (die »ontologisch-kosmologische Transzendenz«, die »Transzendenz der Sprache [des Logos]« und die »existenziell-interexistenzielle Transzendenz«). Die darauf abzielende »Sinngrund«- und »Sinngrenz«-Reflexion versteht sich so als der »erste Schritt der Sinnexplikation einer philosophischen Theologie«, auf deren Basis sodann das mit »Gott« Gedachte (als der »absolute Sinn-Grund«) ausweisbar sein soll. Damit will Rentschs Beitrag auch »zur Klärung der Grammatik der Rede von Gott« beitragen und sich dabei so als Entfaltung einer »Theologie der Transzendenz in der Immanenz« verstehen. Raffll Fornet-Betancourt untersucht in seinem Beitrag »Interkulturalität und Religion« die vieldiskutierte Krise des Christentums in Europa aus der Perspektive der interkulturellen Philosophie. Im Konkreten stellt Fornet-Betancourt die in Europa aufbrechende Trennung zwischen Philosophie und Religion in den weiteren Kontext der Erfahrungen anderer Kulturtraditionen, in denen philosophische Reflexion und Religion in einer organischen Beziehung zu einander stehen. Die Verbannung des Christentums aus der Öffentlichkeit, die eine Exkulturation darstelle, muss nach Fornet-Betancourt als Konsequenz einer unkritischen Anpassung an die hegemoniale und eurozentrische verengte Moderne verstanden werden. Im Bann der Herrschaft der wissenschaftlich-technischen Vernunft kommt es zu einer fatalen Intellektualisierung der Religion (Hegel), zu Anbindungen an eine individualistische Subjektphilosophie (Descartes). Kurz: In der Krise des Christentums spiegeln sich die Krisen der Moderne, genauer ihres Welt-, Vernunft- und Subjektverständnisses. Um sich aus der Umklammerung durch die hegemoniale Moderne befreien zu können ist nach Fornet-Betancourt das europäische Christentum auf einen Dialog mit religiösen, und auch christlichen Lebensformen anderer Kulturen verwiesen, insbesondere auf die lateinamerikanischen Theologien der Befreiung. Franz Gmainer-Pranzl greift in seinem Beitrag »›universale salutis sacramentum‹ (LG 48). Katholizität als Modell diskursiver, responsiver und polyloger Universalität« das brisante Problem des Universalitätsanspruchs des Christentums auf. In Abgrenzung zu jüngeren kirchlichen Entwicklungen, in denen der

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Begriff »katholisch« beinahe zu einen »Synonym für Modernitätsverweigerung« geworden ist, skizziert Gmainer-Pranzl aus einer fundamentaltheologischen Perspektive eine modernitätsoffene Idee des »Katholischen«, die an zentrale Motive des 2. Vatikanischen Konzils anknüpft, insbesondere die Lehre vom universalen Heilssakrament der Kirche. Darin drückt sich nach Gmainer-Pranzl kein triumphalistischer Selbstbehauptungswille, sondern vielmehr die Bereitschaft aus, auch aus Kritik und selbst aus Anfeindungen Impulse für die Reform des Christlichen zu schöpfen. Aus diesem Grund muss die »katholische Identität« des Christentums heute in Auseinandersetzung mit den wichtigsten Strömungen der Gegenwartsphilosophie reformuliert werden. Zu diesem Zweck greift Gmainer-Pranzl drei philosophische Ansätze auf, nämlich Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns, Bernhard Waldenfels’ Relativierung von Ordnungen durch die responsive Differenz des Fremden und Franz-Martin Wimmers Konzept einer interkulturellen Philosophie, in dem ein Polylog zwischen sämtlichen Denktraditionen gefordert wird. Diese drei Perspektiven werden schließlich in die Konzeption einer kenotischen Universalität integriert, die eine grenzenlose Offenheit meint, ohne die nach Gmainer-Pranzl Universalität in einem christlichen Sinn heute nicht mehr gedacht werden kann, soll Universalität nicht zum einem Machtanspruch pervertieren.

2.

Zur europäischen Tradition

Eine zweite Gruppe von Beiträgen bezieht sich auf exemplarische Entwürfe aus der Geschichte der europäischen Religionsphilosophie. Der erste Artikel ist Meister Eckhart gewidmet, der in der Tradition der »negativen Theologie« ohne Zweifel eine herausragende Stellung einnimmt. Indes, mit einer solchen geläufigen Verortung und der damit verbundenen Würdigung der Ontotheologie Eckharts will sich Jens Halfwassen in seinem Beitrag gerade nicht begnügen. Die schon in dessen Titel »Gott als Intellekt: Eckhart als Denker der Subjektivität« anklingende These möchte Eckharts Denken nicht nur in Rückverweis auf subjekt-theoretische Motive im Neuplatonismus als einen bedeutsamen Beitrag zur »Philosophie der Subjektivität« ausweisen, der dabei die antiken Nus-Theorien in produktiver Weise aufnimmt; in besonderer Bezugnahme auf die (in der ersten Pariser Quaestio von 1302/03 über die Frage: Utrum in Deo sit idem esse et intelligentia«, die sich auch gegen Thomas von Aqun richtet) Eckhart’sche These, dass »Gott Intellekt und Denken… und das Denken selbst die Grundlage des Seins selbst ist«, vertritt Halfwassen vielmehr die ungleich radikalere Auffassung, dass diese bei Eckhart zutage tretende, in der gesamten Geschichte der Philosophie« »beispiellose Wendung« so verstanden werden darf, dass Eckharts Denken damit den

Einleitung

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»Grundgedanken des spekulativen Idealismus« von der »reinen Subjektivität, die sich aus absoluter Spontaneität selbst setzt und zu sich selbst vermittelt, in der Sache vorweggenomen habe. Meister Eckhart dürfe deshalb aus guten Gründen als der »erste Philosoph, der eine absolute Subjektivität denkt«, angesehen werden und somit auch als »Begründer der Metaphysik der Subjektivität« gelten. Halfwassens Beitrag macht wohl in besonderer Weise deutlich, wie auch gegenwärtige innovative Bemühungen um eine philosophische Theologie auf die gründliche philosophiegeschichtliche Kenntnis der unerschöpften Tradition verwiesen sind und eine bloße Gegenüberstellung von philosophiehistorischen und systematischen Ansprüchen als problematisch erscheinen muss. Der Beitrag von Edith Düsing (»Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik und Fichtes philosophische Antwort«) vergegenwärtigt die für die Geschichte der jüngeren Religionsphilosophie auch in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht höchst bedeutsame Kontroverse zwischen Fichte und dem von Jacobi gegen dessen Religionsphilosophie erhobenen NihilismusVorwurf. Ausgehend vom frühen Atheismus-Streit wird darin die in Fichtes Denkweg kaum auflösbare, von Anfang an sich durchhaltende Grundspannung von Vernunft und christlicher Offenbarung nachgezeichnet; dabei ist Edith Düsing in besonderer Weise um den Nachweis bemüht, wie sehr jener Jacobische Nihilismus-Vorwurf den vom mittleren und späten Fichte durchschrittenen Denkweg geprägt und ihn zuletzt, eben in Annäherung an neuplatonische Motive, zu einer Art »Augustinischer Wendung« geführt hat. Diese beim späten Fichte hier unverkennbar in den Vordergrund tretenden Motive einer »negativen Theologie« zielen letztendlich freilich auf eine spekulative Theologie ab, die näherhin als »Metaphysik des Einen göttlichen Seins und seines Verhältnisses zum Endlichen Ich« Gestalt gewinnt. Düsings Beitrag, der naheliegenderweise den Beiträgen »Zur europäischen Tradition« zuzuordnen ist, macht freilich deutlich, welchen unverzichtbaren – systematisch orientierten – Beitrag diese Tradition auch für gegenwärtige Konzeptionen einer »negativen Theologie« bzw. zur Begründung einer philosophischen Theologie leistet. »John Henry Newmans Zustimmungslehre. Ein Argumentationsweg für heute?« lautet Wolfgang Treitlers Fragestellung. Den von der anglikanischen Kirche zum Katholizismus übergetretenen, 1879 durch Leo XIII. zum Kardinal ernannten, 2010 durch Benedikt XVI. seliggesprochenen Theologen und Schriftsteller John Henry Newman zeichnet Treitler vor dem Hintergrund einer Zeit der Unruhe, nicht nur politisch, sondern auch im Philosophischen: »Nach der großen Zusammenschau von allem im Absoluten, die Hegel vollzogen hatte, zerfiel dieses System in viele Splitter.« Mit seinem »Essay in Aid of a Grammar of Assent« nimmt Newman die dogmatische These des ersten Vatikanischen Konzils und seiner Konstitution Dei Filius auf, dass »Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den

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geschaffenen Dingen gewiss erkannt werden kann«. Newman wollte eine rational vollziehbare Zustimmung zum Glauben an Gott entwickeln, die »weder dem Zwang einer rein logischen Folgerung und ihrer ›begrifflichen Zustimmung‹ erliegt, noch einem Taumel vernunftfremder Attraktion und Faszination verfällt«. »Folgerungssinn« (»illative sense«), nennt Newman den Kerngedanken dieser Zustimmungslehre, eine persongebundene Rationalität, deren Evidenz nicht an logisch formaler Folgerichtigkeit hängt sondern an der vorlogischen Wirklichkeit des Glaubens an Gott. Den Weg zur Anerkennung Gottes bahnt der »illative sense« durch das Gewahrwerden einer anthropologischen Instanz: des Gewissens. Die zentrale Einsicht dieser Zustimmungslehre und der Unterschied zu Dei Filius liegt darin, dass das Christentum nicht begriffliche Zustimmung fordert; »es geht vielmehr um Indiziensuche und folglich Bewährung dessen, wofür einem das Licht aufgegangen ist, wofür man sich entscheiden will und worauf man sich verbindlich verstehen will«. der »illative sense heute«, so die These Treitlers, kann negativ gewendet in der biblischen Überlieferung gefunden werden, als Bestreitung der Sinnlosigkeit (analysiert wird diese am Schicksal Jean Am¦rys), die »in ihrem Kern die Bilderlosigkeit des Erhabenen« mit sich trägt. Hans Gerald Hödl stellt in seinem Beitrag »Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Gegenentwurf zur christlichen Weltinterpretation« in einer äußerst textnahen Deutung Nietzsches Wort »Gott ist tot« in den Zusammenhang seiner »dionysischen Philosophie«. In einem ersten Schritt werden der theoretische Hintergrund von Nietzsches Religionskritik und die wesentlichen Zusammenhänge seiner Rede vom Tod Gottes im veröffentlichten Werk freigelegt. Entgegen einer in der Literatur weit verbreiteten Annahme wird nach Hödl von Nietzsche »Tod Gottes« nicht verkündet, sondern im Sinne einer Diagnose festgestellt. Im zweiten Schritt entfaltet Hödl die Implikationen und Konsequenzen dieser Diagnose, die Nietzsche sowohl auf deskriptiver als auch auf normativer Ebene zieht. Die normativen Vorschläge Nietzsches sind, wie Hödl in besonderer Weise hervorhebt, im Blick auf dessen Sprach-, Erkenntnis- und Moralkritik jeweils als Vorschläge zu verstehen. Nietzsche würde sich nach Hödl als Autor in einen simplen Selbstwiderspruch verstricken, wenn er die von ihm mit erkenntniskritischen Mitteln radikal in Frage gestellte Möglichkeit ontologisch begründeter Normativität dort, wo sein Denken von der deskriptiven zur normativen Ebene übergeht, wieder einführen würde. Nietzsche ist nach Hödl diese Problematik bewusst gewesen und er hat sie daher in seinem Konzept einer dionysischen Philosophie nicht unberücksichtigt gelassen.

Einleitung

3.

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Neue Ansätze im 20. Jahrhundert

Eine weitere Gruppe von Beiträgen setzt sich mit verschiedenen Autoren des 20. Jahrhunderts auseinander und befragt ihre Entwürfe nach ihren unabgegoltenen Potentialen. »Alles Denken ist Denken wie das Meer gesehen wird« – diesen Satz nennt Hartwig Bischof in seiner Studie (»Philosophie mit Meerblick. Maurice MerleauPonty und die Religion«) gleichzeitig Zusammenfassung und Motto für das gesamte philosophische Unternehmen von Maurice Merleau-Ponty. Dabei gehe es um den Entwurf einer Ontologie, bei dem die Negativität zum Bestandteil des Seins avanciert (»Der Blick aufs Meer ähnelt dem Blick auf Gott«). Als eine der vordringlichsten Aufgaben der Philosophie nennt Merleau-Ponty »das Wiedererlernen der Wahrnehmung«. Er kommt zum Schluss, dass jegliche »Formalisierung immer nur eine nachträgliche ist, [was] beweist, dass sie auch immer nur dem Anscheine nach eine vollständige ist und alles formale Denken in Wahrheit sich nährt aus intuitivem Denken.« Der Leib ist Ausdruck der gesamten Existenz, nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie in ihm sich realisiert. Von diesem zentralen Phänomen des inkarnierten, verkörperten Sinnes her sind nach Bischof die Äußerungen Merleau-Pontys zu religionsphilosophischen Fragestellungen zu verstehen. »Die Leibwerdung Christi ändert alles. Nach der Leibwerdung Christi ist Gott im Äußeren gewesen.« Mit seiner Kritik, dass die Christen zumindest teilweise eine Rückwendung der Inkarnation in nunmehr abermals enthobene himmlische Sphären vollzogen hätten, wendet Merleau-Ponty sein Programm einer immanenten Metaphysik auch auf den christlich-religiösen Bereich an. Bischof resümiert: »Ganz gleich, wie man den Weg von Merleau-Pontys Hochschätzung der Inkarnation Gottes als historischem Ereignis zu seinem Entwurf einer Ontologie als ›Fleisch‹ im Einzelnen interpretieren mag oder zu welchem roten Faden man sich dabei durchringen mag, die positive Kritik von Merleau-Ponty scheint im theologischen Diskurs noch nicht wirklich angekommen zu sein.« Im Zentrum des Beitrags von Hans Schelkshorn »Albert Camus’ Appell an die Christen« steht die Rede »Der Ungläubige und die Christen«, die Camus 1946 vor den Dominikanern in Paris gehalten hat. Im Unterschied zu den frühen Werken über das Absurde, in denen eine radikale Kritik am Christentum vorherrscht, nähert sich Camus in dieser Rede in einer auffällig offenen Haltung, die, wie Schelkshorn aufzeigt, auf die persönlichen Begegnungen mit aufgeklärten Christen und Theologen während des 2. Weltkriegs zurückgeht. Um keinem areligiösen Pharisäertum zu erliegen, hält Camus den Christen nicht ihr eigenes anspruchsvolles Ethos der Bergpredigt entgegen, sondern fordert von den Christen allein die Erfüllung allgemeiner Menschenpflichten, nämlich im sokratischen Geist, d. h. ohne selbstgefälligen Dogmatismus, »wahr zu sprechen«

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und sich in solidarischer Weise mit allen Ungläubigen für die Verminderung des Leids Unschuldiger einzusetzen. Vor diesem Hintergrund kritisiert Camus in aller Schärfe die Allianzen der Kirche mit faschistischen Mächten. In der Rede vor den Dominikanern verlässt jedoch Camus nach Schelkshorn das problematische Feld eines metaphysischen Atheismus und fordert noch vor der philosophischen Postmoderne und dem späten Habermas einen offenen Dialog zwischen Ungläubigen und Christen als Ferment für den Aufbau und die Stabilisierung einer demokratischen Ordnung oder, in Camus’ Worten, einer »civitas des Dialogs«. Mit einer markanten Position der neueren Phänomenologie setzt sich Michael Staudigl in seinem Beitrag »Über die Unhintergehbarkeit des ›absoluten Lebens‹. Zur praktischen Bedeutung von Michel Henrys Lebensphänomenologie« auseinander. Michel Henry nimmt, wie Staudigl zeigt, eine radikale Transformation der klassischen Phänomenologie vor, die das ursprüngliche Selbst stets von der Transzendenz her dachte (Intentionalität, In-der-Welt-sein, u. a.) und damit in seiner Ursprünglichkeit verfehlte. Nach Henry ist das ursprüngliche Selbst und folglich auch das intentionale Bezogensein durch eine »reine Selbstaffektion des Lebens bestimmt«, die »sich im Gefühl an sich selbst offenbart«. Diese transzendentale conditio der Humanität beschreibt Henry mit religionsphilosophischen und auch christlichen Kategorien. Da die Gabe des Lebens nicht abgewiesen werden kann, ist das Leben absolut bzw. göttlich. Insofern sich der Mensch der Selbstaffektion und Offenbarung des Lebens verdankt, spricht Henry in einer christologisch inspirierten Wendung seines Denkens von der »Sohnschaft« bzw. vom »Fleisch«. Henry greift zwar nach Staudigl ein offenes Problem der klassischen Phänomenologie auf, dennoch ruft sein Ansatz ernsthafte Bedenken hervor, insbesondere stellt sich die Frage, ob »uns diese Rückfrage ins Ursprüngliche nicht in einen ›Mystizismus der Immanenz‹« hineinführt, die in ihre eigene Nacht eingeschlossen ist, auf immer unfähig, zur Sprache und zur Welt zu kommen«. Diesen zentralen Einwand gegenüber Michel Henrys Phänomenologie prüft Staudigl im Licht seiner ethisch-politischen Analysen. Nach Henry müssen sowohl die Reduktionismen des modernen Szientismus als auch der Nihilismus der Moderne, der nicht nur die totalitären Ideologien hervorbrachte, sondern auch die neuzeitlichen Moralphilosophien auf untergründige Weise durchdringt, von der epochal bedeutsamen Verdrängung der Sakralität des Lebens innerhalb der europäischen Zivilisation her verstanden werden. Vor diesem Hintergrund sind nach Henry, wie Staudigl herausstellt, selbst die normativen Grundkategorien der Moderne, nämlich Freiheit und Gleichheit, letztlich »leere Begriffe, weil sie für dieses Denken nicht mehr das Rätsel sind, das sich in der unabweisbaren Gabe des Lebens in jedem Lebendigen stellt …, die all ihren möglichen ›symbolischen Stiftungen‹ vorausgeht.«

Einleitung

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4. Interkultureller Dialog konkret In einer letzten Serie von Beiträgen finden sich schließlich unmittelbare Auseinandersetzungen mit einzelnen religiösen Traditionen bzw. auch Religionsphilosophien außerhalb Europas. »Vernunft und Glaube: Ansätze einer (islamischen) Religionsphilosophie bei Ibn Ruschd – Averroes«, so lautet das Thema des aus Tunesien stammenden Jameleddine Ben Abdeljelil. Das Werk des arabischen Gelehrten und Richters Ibn Ruschd / Averroes (geboren 1126 in Cordoba, gestorben im Exil in Marrakesch 1198), als »Kommentator« schlechthin des Aristoteles ab der Mitte des 13. Jh. im christlichen Europa bekannt und geschätzt, war nicht nur unentbehrlich für die Kenntnis des Aristoteles sondern enthielt durch eine Reihe pointierter Thesen Sprengstoff für die theologische Dogmatik, wie die Geschichte des sog. Averroismus beweist. Ibn Ruschds eigenständige Abhandlungen, in denen er zum Problem des Verhältnisses von Glaubens- und Vernunftwahrheiten Stellung nimmt, sind entweder erst später oder gar nicht ins Lateinische übertragen worden. Abdeljelils Skizze einiger Positionen Ibn Ruschds sowie seiner Kritik an Al-Ghazali bzw. der Mutakallimun will deren Komplexität und teilweise Widersprüchlichkeit herausarbeiten. Eine Schlüsselrolle kommt dabei Ibn Ruschds Unterscheidung verschiedener Auffassungsweisen – entsprechend den intellektuellen Fähigkeiten und psychischen Neigungen – zu, nach denen sich Diskursformen, Überzeugungsmethoden und Arten der Beweisführung zu richten hätten: Menschen, die bloß rhetorischen Ausführungen zugänglich sind, stehen »Dialektiker« und schließlich Anhänger evidenter (philosophischer) Interpretation gegenüber. Es geht ihm darum, die Gültigkeit des philosophischen Wissens gegenüber dem Glauben zu sichern. Die Philosophie vertritt die Wahrheit auf Grund der wissenschaftlichen Demonstration, die Religion auf Grund einer Offenbarung in anschaulichen Symbolen. Beide Wahrheiten müssen in Einklang miteinander stehen. Abdeljelil verfolgt die Argumentation Ibn Ruschds in herausragenden Streitpunkten, wie der Lehre von der Ewigkeit der Welt, des Verhältnisses Gottes zur Welt, der Auseinandersetzung um die Realität der Allgemeinbegriffe. Als Charakteristikum gilt in besonderem Maß seine Intellekttheorie, in der er das Emanationsschema aufgegeben hat. Die Einheit des Intellekts bedeutet nach ihm nichts anderes als die Universalität der Prinzipien der reinen Vernunft und die Einheit der psychologischen Beschaffenheit der ganzen menschlichen Art. Der »aktive Intellekt« ist letztlich nichts anderes als unsere Erkenntnis vom Universum (der »Welt«). Bei aller Betonung der gesellschaftlichen und moralischen Funktion der Religion in der Frage der Eschatologie gibt es nach Ibn Ruschd keine individuelle Unsterblichkeit. Auch in der religionspolitisch heiklen Frage der Unsterblichkeit der Seele beharrt Ibn Ruschd ge-

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Rudolf Langthaler, Johann Schelkshorn, Friedrich Wolfram

genüber Al-Ghazali auf der strengen Trennung zwischen religiösem und philosophischem Bereich. Wolfgang Gantke skizziert in seinem Beitrag »Die Bedeutung Aurobindos für eine interkulturelle Philosophie« die religionsphilosophischen Dimensionen des wohl bedeutendsten neohinduistischen Denkers des 20. Jahrhunderts. Der szientistisch verengten Verstandeslogik innerhalb der westlichen Philosophie stellt Aurobindo in aller Entschiedenheit ein Unendlichkeitsdenken entgegen, in dem traditionelle Motive des indischen Denkens (Advaita-Gedanke, Lehre von der Wiederkehr des Gleichen) mit westlichen Motiven, insbesondere der Idee der Evolution, in kreativer Weise verbunden werden. Im Ausgang vom mystischen Einheitsgedanken bringt Aurobindo den indischen Inklusivismus, in dem die verschiedenen spirituellen Wege der großen Weltreligionen als Erscheinungsweisen des Göttlichen gewürdigt und so vor fundamentalistischen Verengungen bewahrt werden, in neuer Weise zur Geltung. Darüber hinaus deutet Aurobindo, wie Gantke aufweist, die im Hinduismus negativ bewertete Reinkarnationslehre positiv um, so dass die Verwandlung des Menschen auf Erden (und nicht in jenseitigen Welten) zum eigentlichen Heilsziel aufrückt. Ohne manche Probleme zu verschweigen, wie z. B. die selbstverständliche Identifikation des Einen mit Gott, sieht Gantke in Aurobindos Denken einen bedeutenden Beitrag für eine interkulturelle offene Weltphilosophie. In ihrem Beitrag »Der Buddhismus – (k)ein Atheismus. Eine Dekonstruktion« geht Ursula Baatz der immer wieder ventilierten These nach, dass der Buddhismus eine Gestalt des Atheismus darstelle. Die »Dekonstruktion« dieser weit verbreiteten These setzt historisch an. Bereits der Begriff »Buddhismus« ist nach Baatz in vielerlei Hinsicht ein europäisches Konstrukt, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den englischen Kolonisatoren geprägt worden ist. Während etwa der Kirchenvater Clemens von Alexandrien im 2. Jhdt. den Buddha noch als einen heiligmäßigen Menschen bezeichnete, wurden im Mittelalter Buddhisten als Götzendiener verdammt und später als »Atheisterey« qualifiziert. Im 19. Jahrhundert kommt es im europäischen bzw. nordamerikanischen Denken, wie Baatz in ihrer historischen Rekonstruktion ausführt, zu einer überraschenden Aufwertung des Buddhismus, der nun als eine aufgeklärte, humanistische und mit den Naturwissenschaften verträgliche Weltanschauung oder Ethik gilt. Diese Ansicht wird vor allem in Sri Lanka und Japan Teil des antikolonialen und antiwestlichen Diskurses und von einheimischen Buddhisten als das Spezielle des Buddhismus dargestellt. Für atheistische Religionskritiker wie Friedrich Jodl oder später Ernst Bloch bleibt allerdings nach Baatz der Buddhismus trotzdem eine, wenngleich humanistisch und atheistisch orientierte »Religion«, eine Deutung, die von Helmuth v. Glasenapp mit Verweisen auf den Pali-Kanon zu stützen versucht. Dabei lässt v. Glasenapp, wie Baatz kritisch vermerkt, die unterschiedlichen Bedeutungen von »Gott« in der jüdisch-

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christlich-islamischen Tradition und im Pali-Kanon außer Acht. Die Dekonstruktion der atheistischen Deutung des Buddhismus endet mit Raimon Panikkar, der der atheistischen Religionskritik eine reinigende Wirkung auf die Vorstellungen von »Gott« zuschreibt und Aloysius Pieris, der zwischen zwei zentralen Konzepten von Buddhismus und Christentum, nämlich »Nirvana« und »Gott«, deutliche Parallelen sieht. Wir danken dem Rektorat der Universität Wien, der Österreichischen Forschungsgemeinschaft sowie dem Forum Zeit und Glaube. Katholischer Akademiker/innenverband der Erzdiözese Wien für die Zusage eines Druckkostenzuschusses, sowie der Forschungsplattform »Religion and Transformation in Contemporary European Society« für die Aufnahme des Bandes in ihre gleichnamige Reihe beim Verlag V& R unipress.

I. Religionsphilosophie in interkultureller Perspektive

Volker Gerhardt (Berlin)

Das Göttliche als Sinn des Daseins. Reflexion über das Verhältnis von Gott und Natur

Der nachfolgende Text besteht aus zwölf Punkten. Die ersten drei kann man als nachträgliche Verbeugung vor Charles Darwin verstehen, an dessen philosophisch bis heute immer noch unterschätztes Lebenswerk im vergangenen Jahr in vielfältiger Weise erinnert worden ist. Sein Beitrag zur kulturellen Evolution der Religion hat dabei, so weit ich sehe, keine Aufmerksamkeit gefunden.1 Alle Welt sieht in Darwin nur den Theoretiker, der dem Glauben an Gott den Boden entzogen hat. Ich bin vom Gegenteil überzeugt, sofern wir Glauben nicht mit Wissen verwechseln und ihn als die humane Kraft verstehen, das Wissen in praktizierter Übereinstimmung mit unserem Selbst- und Weltbegriff zu verstehen. Die sich anschließenden sechs Punkte sind der systematischen Analyse der mit und an Darwin erzielten Einsicht gewidmet. Sie konzentrieren sich auf den Begriff des Sinns, der in seinem notwendig universellen Gebrauch eines Grundes bedarf, für den es keine würdigere Bezeichnung als die des Göttlichen geben kann. In der Analyse des Sinns kommt es mir darauf an, wenigstens anschaulich zu machen, wie eng die Leistungen des Sinns zunächst mit dem natürlichen, dann mit dem kulturellen Vollzug des Lebens verbunden sind. In den drei abschließenden Punkten geht es um die Frage des Glaubens, die in den letzten Jahren zu einem beliebten Debattenthema geworden ist. Die daran beteiligten Zeitdiagnostiker gestehen dem Menschen auch im Zeitalter der so genannten Säkularisierung ein Recht zur Religionsausübung zu, scheinen aber nicht zu wissen, woran man als aufgeklärter Zeitgenosse überhaupt noch glauben kann. Dazu möchte ich eine Anregung geben, damit der Glaube, für den man derzeit weltläufig plädiert,2 nicht notwendig nur die Sache der Anderen bleibt. 1 Der Tenor der zahlreichen Arbeiten über Darwins Beitrag zur Religionsgeschichte wird in einem der jüngsten Aufsätze zum Thema kenntlich: Von Sydow, Momme: »Darwin – A Christian Undermining Christianity? On Self-Undermining Dynamics of Ideas Between Belief and Science«, in: Knight, David M. / Eddy, Matthew D.: Science and Beliefs: From Natural Philosophy to Natural Science, 1700 – 1900. Burlington 2005, S. 141 – 156. 2 Siehe dazu: Wenzel, Uwe Justus: Was ist eine gute Religion? Zwanzig Antworten. München 2007.

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1. Stationen eines Glaubensverlustes. In einer biographischen Notiz aus dem Jahre 18793 hat Charles Darwin protokolliert, wie er den Glauben an Gott verlor. Als Schüler, Student und junger Wissenschaftler habe er wie selbstverständlich dem anglikanischen Glauben vertraut, in den er hineingeboren worden war. Noch während seiner Weltumseglung sei er mehrfach von den tüchtigen Offizieren auf der Beagle ausgelacht worden, weil er Gott als unbezweifelbare Autorität in moralischen Fragen angesehen habe. Dann aber seien ihm selbst Zweifel an der moralischen Zuständigkeit des alttestamentarischen Gottes gekommen. Denn dieser Gott zeige Gefühle wie ein »rachsüchtiger Tyrann«, die von einem Christen unmöglich geschätzt werden könnten. Alsbald aber sei ihm auch die christliche Botschaft selbst unglaubwürdig erschienen, weil die Evangelisten von Wundern berichten, die gegen die Naturgesetze verstoßen, und weil ihre Berichte weder zeitlich noch sachlich mit einander vereinbar seien. So habe sich allmählich auch sein Glaube an die Offenbarung Gottes in Christus abgeschwächt, obgleich er die Moral des Neuen Testaments weiterhin bewundert habe. Diese Moral nennt er beautiful.4 Gleichwohl sei er nicht bereit gewesen, den Glauben an Gott als den Schöpfer aufzugeben, auch wenn er sich wenig Gedanken über dessen Eigenart als personales Wesen gemacht habe. Lange Zeit habe ihn einfach the old argument of design überzeugt, das von der zweckmäßigen Natur auf einen vernünftigen Urheber schließt. Doch auch davon habe er sich mit den Jahren befreien müssen, denn man könne einfach nicht mehr von einem »Plan« (design) im Aufbau des organischen Lebens sprechen. Die Vielfalt des Lebens folge den feststehenden Gesetzen der Natur. Hier herrsche, so müssen wir den Hinweis verstehen, die Mechanik. Von einer Teleologie könne keine Rede sein. Das gelte auch, wie er, Darwin, alsbald habe einsehen müssen, für die Gesetze, nach denen sich Empfindungen und Gefühle einstellen. Gleichwohl sei seine Überzeugung von der Überlegenheit des menschlichen Geistes so groß gewesen, dass er Gott als »erste Ursache« angenommen habe. Bis zur Niederschrift des Manuskripts vom Ursprung der Arten sei er »Theist« gewesen. Den theistischen Glauben an Gott als einen gänzlich abstrakt gefassten Urheber des Ganzen hat Darwin alsbald aber auch verloren. Warum? Weil er einsehen musste, dass es die menschlichen Kräfte übersteigt, bis zu den Anfängen allen Daseins zurückzugehen: The mystery of the beginning of all things is insoluble by us; and I for one must be content to remain an Agnostic.5 3 Darwin, Charles: »Religious Belief«, in: Neve, Sharon / Messenger, Sharon (Ed.): Autobiographies. London / New York 2002, S. 49 – 55. 4 Ebd., S. 50. 5 Ebd., S. 54.

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Darwins Vokabular ist nicht das einzige Indiz dafür, dass der sehr persönliche Bericht eine Folge von Stationen des Glaubensverlusts aufzählt, die aus einem Repetitorium neuzeitlicher Religionskritik stammen könnten. Die Parallelen zu allgemeinen Erscheinungen der Abkehr von Theologie, biblischer Überlieferung und Christentum sind offenkundig. Sie scheinen von Darwin aber als Folgen individueller Einsichten erlebt worden zu sein. Tatsächlich hat die autobiographische Notiz, die Darwin so wichtig war, dass er sie 1881 noch einmal überarbeitete, existenziellen Charakter. Das wird am Ende seines kleinen Textes immer deutlicher. Als jemand, der nur sagen kann, dass er von Gott nichts zu wissen und nichts zu sagen vermag, tröstet sich Darwin nämlich damit, dass der Mensch genügend eigene Antriebe und Fähigkeiten hat, um das für ihn Richtige zu tun. Wann immer er sich aus eigenem Impuls bemühe, als soziales Wesen anderen Gutes zu tun, gibt es Andere, die seine Liebe erwidern. Man brauche also nur der inneren Richtschnur seines Gewissens zu folgen und Anderen mit Liebe zu begegnen, so erlange man in der Liebe der Anderen die höchste Befriedigung, die auf Erden möglich sei. Wie Darwin abschließend bekennt, hat ihn sein persönlicher Impuls dazu getrieben, sein Leben der Wissenschaft zu widmen. Dabei habe er zu seinem Bedauern nicht immer alles tun können, was er seinen Mitmenschen schuldig gewesen sei. Er entschuldigt sich dafür unter Hinweis auf seine angegriffene Gesundheit und die schwache Konstitution seines Geistes. Sein Ziel sei es gewesen, alles für das Wohl der Menschheit zu geben: I can imagine with highest satisfaction giving up my whole time to philanthropy, but not a portion of it.6 Damit hat er nicht nur den Sinn seiner wissenschaftlichen Arbeit und das persönliche Ziel seiner Lebensführung benannt. Er hat den Zweck des menschlichen Lebens überhaupt darein gesetzt, für einander da zu sein. 2. Der Glaube an den Menschen. Darwins autobiographische Skizze ist exemplarisch nicht nur für das 19. Jahrhundert, auch nicht nur für die bis heute fortschreitende wissenschaftliche Aufklärung, sondern für jeden, der sich fragt, was die Erkenntnis der Wissenschaften für ihn selbst bedeutet. Der moderne Leser wird den immer radikaler werdenden Positionen der Selbsternüchterung Darwins bequem folgen können. Selbst den »Agnostizismus« kann er teilen, wenn darunter das Eingeständnis zu verstehen ist, nichts Faktisches von Gott zu wissen. Dazu sind die Kräfte des Menschen in der Tat zu schwach. Wenn Darwin jedoch gemeint haben sollte, man müsse deshalb auf die Rede von Gott verzichten, weil es dem Menschen unmöglich sei, ein positives Wissen über ihn zu erlangen, dann müssten wir ihm entgegen halten, dass bereits im 6 Ebd., S. 55.

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Anspruch auf ein solches Wissen ein gravierendes Missverständnis über Gott liegt. Denn hat man Gott erst zu einem Gegenstand des Faktenwissens gemacht, hat man ihm das Göttliche seines Wesens bereits genommen. Darwins biographische Skizze endet mit dem ethischen Bekenntnis zur Philanthropie. Mit ihr verbleibt er auf der durch Kants kategorischen Imperativ vorgegebenen Linie. Der Imperativ verlangt, dass jeder Mensch sich und seinesgleichen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck ansieht.7 Wer den Menschen in dieser Weise als »Zweck an sich selbst« begreift, der hat seinsgleichen so zu achten, als werde in jedem Einzelnen die Menschheit exemplarisch. Zwar enthält der kategorische Imperativ kein Liebesgebot; ihm genügt, dass der Mensch die Menschheit in jedem Mitmenschen achtet. Wer aber die Kraft und den inneren Reichtum hat, von der Achtung zur Liebe überzugehen, der tut den Schritt von der bloßen Ethik zur praktizierten Mitmenschlichkeit, so dass er die Gebote persönlich gar nicht mehr nötig hat. Mit der Ausrichtung des Handelns auf philanthropische Ziele findet für Darwin die Rede über Gott ein Ende. Dort, wo am Anfang seines Weges zunächst der Gott des Alten, dann der des Neuen Testaments gestanden hat, steht jetzt der Mensch – und ist exakt derselben Erwartung ausgesetzt: nämlich den Menschen zu seinem Besten anzuleiten. Der alt und weise gewordene Darwin glaubt an den Menschen so wie er in seiner Jugend an Gott geglaubt hat – und es ist nicht die Spur von Überheblichkeit in dieser Transposition vom himmlischen Vater auf den irdischen Bruder. Denn die Hinwendung zum Menschen erfolgt ja auf der Linie, die der Mensch im göttlichen Willen zu erkennen glaubt. Gesetzt, man könnte noch mit dem Autor sprechen, wäre ihm der Vorwurf nicht zu ersparen, seine eindrucksvolle Selbstaufklärung ein wenig zu früh abgebrochen zu haben. Er müsste sich sagen lassen, dass Platon, Aristoteles, Anselm, Thomas, Nikolaus von Kues oder Kant mit ihren philosophischen Theologien dort überhaupt erst einsetzen, wo er, Darwin, mit seinem ignorabimus ein nachvollziehbares, aber voreiliges Ende setzt. Die Theologie wäre gar nicht nötig, wenn Gott ein Wesen wäre, dem man in der Ordnung der Natur einen festen Platz geben könnte, auf den man notwendig stößt, wenn man nur weit genug geht. Es wäre auch verfehlt, Gott als die Lösung der Rätsel zu begreifen, die das Wissen noch offen lässt. Nur wenn Gott ein Gegenstand des Wissens wäre, wäre es zwangsläufig, dass Darwin, nachdem ihm die Einsicht in die evolutionäre Mechanik des Lebens gelungen ist, am Ende ohne Glauben dasteht. Doch, wie gesagt, Darwins Schluss ist voreilig. Er weiß offenbar nicht, was mit seiner Auszeichnung des Menschen und der Menschlichkeit verbunden ist. Er hat sich nicht klar gemacht, was es heißt, dass sich ein Mensch die Menschheit zum Ziel seines Handelns setzt. Er scheint auch die Bedingung nicht zu kennen, 7 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, 429.

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die erfüllt sein muss, damit ein solcher Einsatz als verbindlich angesehen werden kann. 3. Hoffnung auf günstige Konditionen. Es ist leider nicht zu leugnen, dass wir heute gegenüber der Zeit Darwins über einen zweifelhaften Erkenntnisvorteil verfügen: Wir haben eine genauere und umfänglichere Kenntnis davon, in welchem Ausmaß sich der Mensch selbst schaden kann. Er könnte eines Tages zu jenen in der Evolution gelegentlich schon aufgetretenen Lebewesen zählen, die sich durch ihre eigene Lebensweise die Existenzgrundlage entzogen haben. Seine Sonderstellung könnte rückblickend darin bestehen, dass er zahlreiche andere Arten mit in den eigenen Untergang gerissen hat. Die stillschweigende Unterstellung Darwins, dass der Mensch auch im entwickelten Zustand der Zivilisation in die Natur passt, ist im Gang des 20. Jahrhunderts durchaus fragwürdig geworden. Mit Blick auf die Natur vermag niemand zu sagen, ob der Mensch das Beste für sie ist. Die Befürchtung, dass er sich als Unglück für die Evolution auf der Erde erweist, ist längst zum ersten Rohstoff für die science-fiction-Industrie geworden. Das gute Gewissen, mit dem sich Darwin noch zur Humanität bekennt, ist uns abhanden gekommen. Und wer realistisch ist, muss zugestehen, dass es nicht allein in der Macht des Menschen steht, die Entwicklung zum Besseren zu wenden. Dabei steht nicht in Frage, dass die Wohlwollenden unter den Menschen, die Philanthropen also, alles tun sollten, um mit Hilfe ihres Wissens ihre Zivilisation zu sichern. Aber wer geradewegs überzeugt ist, das Ziel zu erreichen, sofern er nur hinreichend für das Wohl des Menschen sorgt, der überschätzt seine Handlungsmacht beträchtlich. Zwar sollte jede erdenkliche Anstrengung unternommen werden, die Kräfte zur Sicherung einer humanen Zukunft einzusetzen. Aber den Erfolg kann niemand garantieren. õ la longue bleibt dem Menschen nur die Hoffnung, dass ihm die Umstände, über die er selbst im Einsatz seiner besten Kräfte nicht verfügt, günstig sind. Also geht der Mensch in seiner Hoffnung – nicht anders als in allen seinen Leistungen – über den Selbstbezug auf die eigene Gattung hinaus. Er ist in Wahrnehmung, Erkenntnis und Handlung auf die Natur bezogen, die er als unabhängig von sich selbst begreift. In dem, was er für sich erwartet, bezieht er immer auch die Gunst der Umstände ein, die er nicht direkt bestimmen kann. Wissen und Technik mögen seine Handlungsmacht über alle bisher gegebenen Grenzen erweitern: Dennoch wird er weiterhin in einer Welt zu leben haben, in der er von Kräften abhängig ist, über die er nicht disponieren kann. Dies bedenkend, wird vollends offenkundig, dass Darwin die Dekonstruktion seines Glaubens zu früh abgebrochen hat. Sein Lob der Philanthropie, an der ich

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sachlich nicht das Geringste auszusetzen habe,8 ist auf Annahmen gegründet, die nicht durch bloßes Wissen abgesichert sind. Das tritt dort besonders anschaulich hervor, wo er von der glücklichen Erfahrung der Liebe spricht.9 In der Liebe fallen der Instinkt, wie Darwin sagt, der emotionale Impuls und die intellektuelle Einsicht zusammen. Aber ist damit schon gesichert, dass tatsächlich auch das Gute, das mit dem Ziel der Philanthropie umschrieben ist, gefördert wird? Kann sich der Lebensanspruch des Menschen damit begnügen, etwas für einzelne Menschen zu tun? Ist es bedeutungslos für ihn, dass er in einem Zusammenhang lebt, den er als »Kultur«, »Natur«10 oder gar als »Welt« bezeichnet? Ist es ihm überhaupt möglich, sich auf die Selbsterhaltung seiner Gattung zu beschränken, ohne auf den Zusammenhang von Individuum, gemeinschaftlicher Kultur und sachhaltiger Welt zu achten? Kann es uns gleichgültig sein, ob der Mensch und die von ihm erkannte Natur zusammen bestehen können? Muss man nicht mindestens erwarten können, dass die Natur dem Menschen auch künftig Entwicklungschancen lässt? Und ist es absurd zu hoffen, diese Entwicklung möge die Welt, so wie wir sie allein in der Perspektive kalkulierbarer Handlungsmöglichkeiten kennen, nicht nachhaltig verändern? Die Fragen illustrieren, dass der Mensch in einem über ihn hinausgehenden Zusammenhang steht, den er gleichwohl in seinem Sinn deuten muss, wenn er Wert darauf legt, sich als Philanthrop zu verstehen. Darauf bezieht sich der nächste Punkt, der uns in der Folge erlaubt, den von Darwin unterstellten Kontext zu benennen, in seiner Bedeutung ausdrücklich zu machen und auf einen mit dem Wissen nicht nur kompatiblen, sondern von ihm in praktischer Konsequenz geforderten Glauben zu beziehen. 4. Individuum, Kultur und Natur in der einen Welt. Die Art (species) ist auch nach Darwin das Insgesamt von Eigenschaften, die sich in einzelnen Exemplaren mehr oder weniger vollständig, mehr oder weniger deutlich ausprägen. Zwar gibt es die Art (oder Gattung) nur, sofern es die sie exemplifizierenden Individuen gibt, aber gleichwohl ist es richtig, dass sich ohne den in der Spezies 8 Gerhardt, Volker : »Die Unabdingbarkeit der Humanität. Philosophiekolumne«, in: Merkur, Heft 63/719 (2009), S. 324 – 332. 9 Das ist, wie man weiß, nicht unter allen Lebensumständen der Fall. Die Ungleichheiten in den Lebensbedingungen können durch Gemeinschaften ausgewogen werden, die von jenen getragen werden, denen im Interesse ihrer eigenen Menschlichkeit daran liegt, ihre Nächstenliebe weiter zu geben. Darin liegt ein Argument für Glaubensgemeinschaften, welche die Selbstgewissheit ihres eigenen Lebenssinns ihren Nächsten vermitteln möchten. 10 Ich gebrauche den Begriff hier im Sinn der von uns als objektiv gegeben angesehenen Natur. Man kann auch von »Welt« oder »Wirklichkeit« – u. U. auch von »Sein« – sprechen. Diese Ergänzung gilt auch für die Ausführungen in den ersten Abschnitten des vorliegenden Textes.

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gelebten Zusammenhang die Kompetenzen nicht bilden könnten, die ein Individuum auszeichnen. Insofern ist es nicht falsch, die Menschheit fördern zu wollen, obgleich man immer nur einzelne Menschen antrifft, denen man helfen kann. So wird der Mensch nur zum Menschen, wenn er von Menschen geboren, erzogen und begleitet, wahrgenommen, beurteilt und bewertet wird. Wie kommt es aber dazu, dass ein einzelner, von lauter einzelnen Menschen umgebener Mensch sich nicht damit begnügt, einzelnen Menschen zu helfen? Warum würde es ihm, gefragt, warum er das tut, selbst nicht ausreichen, darauf die Antwort zu geben, dass es ihm »Spaß« mache und dass er schon immer dem »Reiz« erlegen sei, etwas Extravagantes zu tun? Der ernsthaft Antwortende, der Darwin mit Sicherheit gewesen wäre, müsste sich versucht sehen, erstens zu sagen, warum es sinnvoll ist, vom Abstraktum der Menschheit zu sprechen. Zweitens müsste er deutlich machen, was ihn dazu bringt, seine eigenen Leistungen zu Gunsten anderer Menschen als einen Gewinn für die Menschheit anzusehen. Drittens schließlich müsste er kenntlich machen, was ihn eigentlich erwarten lässt, dass die gute Tat sich im Gang der Ereignisse nicht verliert, so dass es am Ende nicht gleichgültig ist, ob er sie getan, verhindert oder bewusst unterlassen hat. In diesem dritten Punkt geht es also um den geschichtlichen Erfolg des Einsatzes für den Menschen. In den Antworten des Philanthropen muss demnach Folgendes deutlich werden: Erstens muss er Etwas an sich selbst als wesentlich ansehen – wichtiger jedenfalls als irgendein Anderes an sich. Wenn er atmet, ist ihm Luft wichtiger als die Speise; wenn er sich orientieren will, haben die Sinne Vorrang; wenn daraus ein Vorschlag für das Verhalten einer Gruppe folgen soll, haben Vernunft und Urteilskraft zu dominieren. Und wenn einer von sich als einem helfenden Individuum spricht, kommt es darauf an, dass er weiß, wer er selber, wer seinesgleichen und was die mögliche Hilfe ist. Folglich muss er sich die Fähigkeiten, zu erkennen, zu vergleichen und zu urteilen zuschreiben; er muss überzeugt sein, dass die darin liegende Befähigung zur Vernunft zu seinem personalen Kernbestand gehört, auf den niemand verzichten kann, der sich als Mensch begreift. Schließlich muss er in diesem Selbstbegriff eine Leistung erkennen, in der die einzelnen Menschen derart wechselseitig auf einander bezogen sind, dass sie sich selbst als Teil einer menschlichen Gemeinschaft begreifen. Wer dazu in der Lage ist, versteht seine eigene Vernunfttätigkeit als Teilhabe an einer Vernunft, die im Erkennen, Vergleichen und Urteilen der sozial und sachlich miteinander vermittelten Individuen zum Ausdruck kommt. Zweitens muss der Einzelne überzeugt sein, dass sich die realen UrsacheWirkungs-Beziehungen nach Zwecken steuern lassen. Denn er selbst handelt absichtsvoll und muss darauf vertrauen, dass die Anderen seine Zwecke verstehen. Das setzt voraus, dass jeder Einzelne den Zweck auch aus eigener Posi-

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tion begreift, dass er sich selbst als Mittel zu dessen Realisierung verstehen kann und überdies in der Lage ist, sein eigenes Handeln als Beitrag zu Gunsten der Menschheit anzusehen. Natürlich kann man auch Tiere füttern und große Genugtuung empfinden, wenn man die Blumen gießt. Aber dem Menschen zu helfen setzt ein Bewusstsein von einem Zusammenhang voraus, in dem man sich gegenseitig und in einem sachhaltigen Weltbezug als seinesgleichen verständigen kann. Drittens muss der Philanthrop annehmen dürfen, dass dieser artspezifische Zusammenhang vernunftgeleiteten Gebens und Nehmens nicht auf den Augenblick des Verstehens beschränkt bleibt und reale Wirkungen zeitigt, die der Population der Menschheit günstig sind. Er muss darauf setzen können, dass der dankbare Blick des Anderen nicht schon alles ist. Er hofft vielmehr, dass sich durch sein Tun der Zustand der Menschheit bessert. Natürlich ist man bei einer einzelnen Gabe oft schon zufrieden, wenn sie den Schmerz lindert und den Hunger stillt. Aber als Philanthrop, der wünscht, dass Andere seinem Beispiel folgen, muss er auf den fortgesetzten Erfolg seines Handelns rechnen. Andernfalls wäre es schon zuviel, auch nur das geringste Wort darüber zu verlieren, und eine Erziehung zur Menschlichkeit wäre ein verfehltes Vorhaben. Kurzgefasst zielen die drei Antworten auf die vernünftige Person, die sich nach eigener Einsicht entscheidet, auf die von der Vernunft geleitete Gemeinschaft sowie auf den tatsächlichen Erfolg im Gang der Geschichte. Und von allen dreien behaupte ich, dass sie ohne die Annahme einer vernünftigen Organisation des Ganzen, in dem sich Personen, menschliche Gemeinschaften und die von ihnen angenommene geschichtliche Perspektive befinden, an ihrem Selbstverständnis irre werden. Noch kürzer : Jeder Einzelne benötigt einen Sinn, in dem er sich selbst, seine Gemeinschaft und seine Welt als einen Zusammenhang begreift, der eine innere Einheit darstellt. Damit bin ich beim Begriff des Sinns, dessen Stellung einer genaueren Betrachtung bedarf, ehe ihm die Last einer Demonstration der Präsenz des Ganzen in jedem selbstbewussten Akt eines Teils aufgebürdet werden kann. Dieses sinnerfüllte Ganze ist es, was in Übereinstimmung mit der Tradition des Begriffs, göttlich genannt werden kann. 5. Sinn als Medium des Erlebens. Das uns ganz umfangende, allen Eindruck und Ausdruck tragende und allem überhaupt erst Wert gebende mediale Element ist der Sinn. In ihm erfahren wir uns selbst und alles, was Bedeutung für uns hat. Das gilt auch für das Göttliche, das für uns einen Sinn haben können muss. Dazu muss es unseren Sinnen gegenwärtig sein, muss unser Gefühl ansprechen und darüber hinaus einen (sich nicht widersprechenden) Sinn haben, den wir verstehen und auf den wir uns ausrichten können.

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Die Vieldeutigkeit des Begriffs des Sinns ist erheblich,11 und man braucht nur wenige Varianten des Sinns von Sinn herauszugreifen, um deutlich zu machen, dass er ein Vermögen bezeichnet, welches nicht auf die manchmal abschätzig bewerteten Leistungen des vernünftigen Sinnverstehens beschränkt ist. Man kann den Sinn als das uns ganz umfangende, allen Eindruck und Ausdruck tragende und allem überhaupt erst Wert gebende mediale Element des lebendigen Daseins bezeichnen. In ihm erfahren wir nicht nur uns selbst und alles, was Bedeutung für uns hat. Man kann auch sagen, dass sich in dieser Selbsterfahrung nur eine Selbstbezüglichkeit fortsetzt, die wir aus dem Lebensvollzug des Organismus kennen. Als »Sinn« bezeichnen wir zunächst und vor allen Dingen die rezeptive Leistung, die durch ein Sinnesorgan wie die Haut, die Nase, das Ohr oder das Auge erbracht wird. Sie ist eng mit der Beschaffenheit des Organs verbunden, das selbst schon als »Sinn« angesehen wird. Um die Wurzel des Sinns in der organischen Natur des Menschen kenntlich zu machen und um gar keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass die physiologischen Vorgänge unmittelbar in physikalische Prozesse eingelassen sind, nenne ich den ein Sinnesorgan kennzeichnenden Sinn den physischen Sinn. Auch wenn es sich bei den Sinnesorganen um Organe eines Leibes handelt, deren Stellung, Zusammensetzung und Leistung nicht anders als physiologisch genannt werden können, sind es doch stofflich-physische Entitäten, die physikalische Einwirkungen in organisches Geschehen übersetzen. Insofern lässt es sich rechtfertigen, den in ihnen materialisierten Sinn als physikalisch zu bezeichnen. Das ist die erste, die elementare Stufe des Sinns, der auf einer Anordnung physischer Elemente beruht. In seinem Ausgangspunkt leistet der Sinn den Austausch mit den physischen Vorgängen der umgebenden Welt. Das rechtfertigt die Rede von einem physischen Sinn, der freilich nur im direkten Bezug auf ein den Reiz auslösendes physisches Datum vorkommt. Sinn auf der ersten Stufe wäre demnach das Sinnesorgan, in dem der Organismus den Austausch mit seiner Umgebung bewältigt und in einheitliche Eindrücke umsetzt. Mit diesem Vorgang, an dessen Anfang die physische Einwirkung und die physische Beschaffenheit des Sinnesorgans stehen, befinden wir uns jedoch schon auf der zweiten Stufe des Sinnverständnisses. Die Übersetzung einer Berührung in eine Erregung ist eine Transformation in einen Sinn, der ermöglicht, dass ein singulärer Vorgang (vielleicht nur ein winziger Nadelstich) einen den ganzen Körper alarmierenden Schmerz verursacht. Diese Leistung ist dem Organismus als ganzem zuzuschreiben. Deshalb sprechen wir von der physiologischen Ebene des Sinns. 11 Siehe dazu: Gerhardt, Volker : »Sinn des Lebens«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 9). Berlin / Basel 1995, Sp. 815 – 824.

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Der physiologische Sinn fungiert als Mittler zwischen physischem Anlass, physiologischer Organisation und psychischer Reaktion. Dabei nehmen wir an, dass es der Organismus mit seiner sensorischen Empfänglichkeit, nervösen Leitungs-, Verarbeitungs- und Reaktionsfähigkeit ist, der den Sinn zumindest bis an die Schwelle des Bewusstseins heranträgt, um ihn dann im Bewusstsein zu sich selbst kommen zu lassen. Da auch das Bewusstwerden des Sinns im zentralnervösen Geflecht des Gehirns eine organische Leistung ist, kann man den Organismus selbst als den Operator des Sinns ansehen. Seine physiologische Leistung bewältigt den Übergang von der physischen Konstitution zur psychischen Disposition, die als Träger sozialer Kommunikation anzusehen ist. Man geht nicht zu weit, wenn man mit Blick auf diesen zweiten Punkt den Organismus als den Träger von Sinn bezeichnet und dies insofern, als er in sich selbst schon durch Sinnregulatoren gesteuert ist. Die Bedeutung von Sinn in diesem zweiten Verständnis ist zentral. Sie schließt alles ein, was der zentralnervöse Organismus aus dem empfundenen Sinn (also dem Reiz) an »Bedeutung« für das umweltbezogene Verhalten gewinnt. Der Sinn koordiniert die Reaktion, die einem Organismus eine gezielte Reaktion erlaubt. So kann er meiden, was ihm Schmerz verursacht, kann die Plätze aufsuchen, an denen sich Nahrung oder Geschlechtspartner befinden, oder Orte bevorzugen, die ihm größtmögliche Bewegungsfreiheit oder Ruhe bieten. Hier liegt der Sinn im Vollzug (oder in der Unterlassung) einer Aktivität, die als einheitlich, stimmig und passend – und insofern als sinnvoll – erlebt werden kann. Der Sinn besteht in der gelingenden Einfügung des Verhaltens in die Umwelt des betreffenden Organismus. Die An- und Einpassung ist in diesem Fall das entscheidende Kriterium für den Sinn, der nicht gegeben wäre, wenn sich jede Reaktion des Organismus als unangemessen, gleichsam als falsch und somit tödlich erweisen würde. Also ist es zutreffend, die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt als den eigentlichen Träger von Sinn anzusehen.12 Da er auf der Verarbeitung der Reize beruht und in ihrer Umsetzung in ein Verhalten besteht, das dem spezifischen Steuerungsprogramm des Organismus entspricht, spreche ich von einem operativen physiologischen Sinn. In der koordinierenden Verhaltenslenkung des Vollzugs (oder der Hemmung) kann ein Sinn für jene liegen, die davon als die Nächsten betroffen sind. Das ist eine dritte Variante von Sinn. Schon auf der elementaren Ebene der Bewegung kann etwas als gewöhnlich oder ungewohnt, als bedrohlich oder vertraut für seinesgleichen erfahren werden. Es hat somit einen Sinn für die 12 Ich widerspreche damit einer Auffassung Adornos, der das Physiologische als »somatische, sinnferne Schicht des Lebendigen« – übrigens höchst undialektisch – disqualifiziert (Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966, S. 358).

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Artgenossen, wie unter Umständen auch für diejenigen, die durch das Verhalten anderer geschützt oder gefährdet werden können. Auf dieser Ebene ist der Sinn bereits symbolisch vermittelt. Er liegt im geäußerten Reiz, in der situativen Veränderung und Verfärbung, die als Zeichen wirksam werden, die als Signal des ganzen Organismus aufgefasst werden und für Reaktionen der Artgenossen sorgen. Träger des Sinns ist streng genommen nicht das Individuum, auch nicht seine spezielle Einfügung in die Umwelt, sondern die Art, die Spezies, die in den Individuen exemplifizierte Gattung. Der Ausdruck, die gesetzten Zeichen und Signale sind zwar in ihrem physischen Auftritt an das Verhalten des einzelnen Wesens (an das gesträubte Nackenhaar, den wedelnden Schwanz oder die Duftnote eines bestimmten Tieres) gebunden. Aber der Sinn, der auf diese Weise übermittelt wird, steht nicht in der Verfügung des einzelnen Tiers, sondern er ist aus der Evolution der Spezies hervorgegangen und damit an die Gattung geknüpft. So ist es auch, um vorzugreifen, bei den sprachlichen Zeichen der Menschen und ihrem begrifflichen Substrat. Sie haben, wie alles gesellschaftlich Wirksame, ihren Ursprung im generativen Prozess der immer schon sozial bestimmten Evolution der Spezies. Als Träger des Sinns in der gemeinten dritten Bedeutung ist daher die generative Gemeinschaft der Individuen anzusehen. Operator des Sinns ist die Gattung, obgleich, wie alles im Leben, von Individuen dargstellt und ausgeführt wird. Deshalb ist es angebracht, von einem generativen Sinn zu sprechen. 6. Die soziale und die psychische Dimension von Sinn. Die stets nur im naturgeschichtlichen Längsschnitt hervortretende Generationenfolge wird im aktuellen Lebensvollzug der ihr zugehörigen Einzelwesen zur Gesellschaft. Die genetisch angelegten Verhaltensdispositionen werden in Aufgaben und Rollen ausgeprägt und führen zu sozialen Strukturen der Regulierung des kollektiven und des individuellen Lebensvollzugs. Hier kommt die soziale Dimension des Sinns zum Tragen. Der soziale Sinn ist wesentlich auf die Rollen und Aufgaben bezogen, die sich vornehmlich in tierischen und menschlichen Gemeinschaften ausbilden. Es geht um die Verständigung im Augenblick, sobald Kooperation und Arbeitsteilung auch unter erlebtem Zeitdruck gelingen sollen. Dazu werden Zeichen benötigt, die sich nach Rollen, Hierarchien und Problemlagen differenzieren lassen. Die bereits im generativen Kontext erwähnte symbolische Kommunikation wird dabei zu einer Notwendigkeit. Der Weg zur Sprache, der in der Gattung seinen Ausgangspunkt hat, wird zu Zeichensystemen intentionaler Bewegungsfolge, schließlich auch der Lautgebung ausgebaut. Träger des auf diese Weise mitgeteilten Sinns ist die durch ein gemeinsames Verhalten verdichtete soziale Gemeinschaft von Angehörigen einer Spezies.

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Wird der aktiv und reaktiv erfahrene Sinn in Erlebnisqualitäten übersetzt, in denen es um ganzheitliche Verhaltensdispositionen geht, haben wir die Ebene affektiver Steuerung durch Einsatz einer psychischen Analogie des handelnden Wesens erreicht. Sinn ist dann fünftens das, was einer in der Typik seiner vorherrschenden Eigenschaften individuell zum Einsatz bringt. Man kann es als die psychologische Dimension des Sinns bezeichnen. Jemand ist zornig oder verzagt, impulsiv oder von nachhaltiger Energie. Der Sinn in dieser Bedeutung steuert Eindruck und Ausdruck eines Individuums und bindet sein mit bestimmten Auslösern verknüpftes Verhalten. Die Individualisierung in Verhalten und Kommunikation tritt in der Selbststeuerung der einzelnen Wesen hervor. Daran sind zwar die physischen, physiologischen, generativen und sozialen Faktoren der Sinnproduktion beteiligt. Aber ihr Spezifikum liegt in der vom sich selbst erfahrenden einzelnen Wesen gesteuerten Äußerung. Sie kann somit psychisch genannt werden, obgleich die Rahmenbedingung dieses Sinns durch eine sich in verschiedene Rollen ausdifferenzierende Gruppe vorgegeben werden. Dieser an den sozialen Austausch gebundene, aber die spezifische Leistung und Stellung der Individuen zum Ausdruck bringende Sinn ist zwar zunächst wesentlich sozial. Er gehört demnach der vierten Stufe zu. Zugleich aber ist er Ausdruck der individuellen Empfänglichkeit für die Eigenart bestimmter Situationen und der damit verknüpften individuellen Konstellationen. Also spielt er in die psychische Dimension hinein. In der für die Entfaltung des menschlichen Sinns zentralen psychischen Anlage des Sinns artikulieren sich die erlebten Einheiten des Gefühls. Im Gefühl teilt sich das Individuum seinesgleichen in den in ihm vorherrschenden Stimmungen mit. Es zeigt Motive, die das aus ihnen getragene Verhalten erwartbar machen. Darin liegt die Rationalität des Fühlens, mit dem Doppelaspekt aus Selbstwahrnehmung und Mitteilung. Es ermöglicht die Typisierung elementarer Formen von Liebe, Mitleid oder Hass, Freude, Furcht oder Ekel. Doch so stereotyp die Verhaltensformen auch sein mögen: Sie eröffnen die Chance zur Individualisierung in einer erlebten Verbindung von Innen und Außen. Inmitten des sozialen Gebrauchs des erlebten und gefühlten Sinns bestätigt sich damit seine vorrangig psychische Qualität. Sie zeigt sich gewiss nicht nur am Menschen, findet aber an und in ihm die reichste Entfaltung. Die Präsenz der individuellen Stimmung erlaubt eine situative Differenzierung, in der sich habituelle Eigenarten bilden. Es kommt zu Stilen, die an Funktionen, aber gelegentlich auch nur an Individuen gebunden sind. Damit eröffnen die Gefühle die Möglichkeit, in spezifischer Weise auf Distanz zu sich und seinesgleichen zu gehen. Sinn auf dem individual-seelischen Niveau ist distanzierte Gegenwart. Sie beruht auf einer psychischen Konzentration des Erlebens, das im Status der Mitteilung gegenwärtig ist. Im Gefühl, das längst

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nicht so blind und zufällig ist, wie man gerne glaubt, kommt die Selektivität des Individuums in einer bereits hoch kultivierten Umgebung zum Tragen. Hier kann auch eine kleine soziale Einheit zum Träger des Sinns avancieren, exemplarisch ist das Liebespaar, das seine eigene Sprache erfindet. Entscheidend aber ist, dass Empfindung, Trieb, Leidenschaft und Gefühl dem Individuum selbst gegenwärtig sind, so dass eine Distanzierung nicht nur gegenüber Anderen, sondern auch gegenüber sich selbst möglich ist. 7. Sinn als Träger von Bedeutung. Der sechste Sinn von Sinn liegt in der Bedeutung, die etwas der Sache nach für ein verständiges Wesen hat. Dabei tritt uns der begrifflich erfasste Sinn als die Bedeutung des begriffenen Gegenstandes entgegen. Ich verbinde mit dem, was derzeit unter meinen Händen ist, nicht nur den begrifflichen Sinn eines Notebooks. Ich sage vielmehr, dies ist ein Notebook. Der Leser nimmt das, was ich auf diese Weise schreibe, nicht nur als Text wahr, sondern er liest den Text, auch wenn er auf Papier anders erscheint als auf dem Display. Die Bedeutung einer bezeichneten Sache scheint mit der Sache eins zu sein. Vor allem, wenn wir sagen, die Bedeutung zielt auf einen Sachverhalt, scheinen der Sinn und das, was er benennt, zu verschmelzen. Den in der Bedeutung aufgehenden Sinn kann man semantisch nennen. Man sollte allerdings gleich ergänzen, dass er auch logisch genannt werden kann, weil er den begrifflichen Zugriff auf Dinge und Ereignisse einschließt. Er stellt uns die Welt – einschließlich unserer selbst – als Etwas vor, das diesen Sinn an sich selbst zu haben scheint. Obgleich kein Zweifel sein kann, dass der vom Organismus nicht weniger als von den generativen und sozialen Strukturen getragene Sinn seine eigene, dem erkennenden Individuum zugehörige Verfassung besitzt, erscheint er doch wie der Wesenskern der Sache selbst. Ähnlich wie in der Leistung des Sinnesorgans physische Vorgänge und organische Funktion ineinander greifen, so spielen die Sachverhalte der Welt und der sie bezeichnende Sinn in einander über. Diese – gleichsam objektive und subjektive – Stellung des Sinns ist von Bedeutung, wenn es um den Sinn geht, den wir mit dem Göttlichen verbinden: Das, was wir aus den individuellen Konditionen unserer Handlungserwartungen als Sinn des Ganzen erfassen, kommt uns, ähnlich der Erkenntnis von Sachverhalten, im Glauben wie eine objektive Beschaffenheit der Welt entgegen. Die sachhaltige Bedeutung, von der im Kontext semantischer und logischer Leistungen von Sinn die Rede ist, muss nicht an die artikulierte Sprache gebunden sein. Es kann auch die Bedeutung sein, die in Vorstellungen und Begriffen liegt, selbst wenn sie nicht zu sprachlichem Ausdruck kommen. Der semantisch-logische Sinn indiziert auf vielen Ebenen das, was er meint. Er ist das Amalgam der Sache, die er bedeutet. Folglich ist er nicht (auch nicht aus den unter skeptischem Verdacht stehenden Tiefen des Selbst stammenden Akten)

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»von außen« auf Sachverhalte gerichtet. Er bringt sie vielmehr in seiner die Bedeutung stiftenden und logisch sichernden Leistung hervor und verbindet sich mit ihnen zu einer Sphäre der Bedeutung. So kann auch der geglaubte Gott ohne das Bewusstsein einer subjektiven Beschränkung mit dem Ganzen des Daseins einig sein. Der semantisch-logische Sinn hat einen epistemischen Rang. Denn in der soziomorphen Form, in der er Individuen durch ihren Bezug auf die in Sachverhalten gegenwärtige Welt in der Form von Problemen verbindet, liegt die Aufforderung zu ihrer exakten Bestimmung, weil nur über sie ein kooperatives Handeln möglich ist. Es liegt vornehmlich an der semantischen Produktivität des Sinns, wenn die Philosophie konstitutionell zum Idealismus, zum Transzendentalismus oder zum Diskursismus neigt. Versteht man den logisch-semantischen Sinn hingegen vor dem Hintergrund der ihn tragenden Pyramide vom Physischen über das Physiologische, Generative und Soziale bis hin zum Psychischen aufsteigenden Leistungen von Sinn, verflüchtigen sich die Formalismen schnell. Der Sinn ist in materialer Weise an die Evolution des Lebendigen gebunden. Er verlässt diesen ihn tragenden Zusammenhang auch in seinen subtilen Formen des Bezeichnens und Erkennens nicht. Auch die noch folgenden Leistungen des Sinns: das Verstehen und Erschließen, das gefestigte Wissen und der überzeugte Glaube sind in diesen Entwicklungszusammenhang aus Natur und Kultur eingebunden. Deshalb wäre es eine Verkennung des Sinnverstehens, wollte man die Überzeugungen, die das alltägliche Handeln anleiten und die das Wissen tragen, prinzipiell von den Überzeugungen trennen, auf denen der Glauben beruht. Die semantische Bedeutung des Sachverhalte konstituierenden und epistemische Probleme erzeugenden Sinns zu erfassen, fällt unter den Bedingungen des auf Subjektivierung der Weltsicht fixierten Zeitgeistes schwer. Gleichwohl zweifeln wir unter Handlungsbedingungen nicht daran, dass ein Ziel, welches wir vor Augen haben, tatsächlich das Ziel ist, um das es uns geht. Entsprechendes gilt für ein physisches Objekt, wann immer wir es korrekt bezeichnen. Sinn kann damit der Gegenstand sein, den einer vor sich hat. Im Sinn als gegenständliche Bedeutung kommt es zur Transposition einer empfundenen und erlebten Befindlichkeit in die Auffassung eines objektiven Sachverhalts, der in eine Verhaltenslage eingebunden ist, die Dispositionen zu Reaktionen in einem gegebenen Kräftefeld enthält, zu dem der begriffene Sachverhalt in Beziehung steht. Der Sinn ist nicht nur in mir, er steuert auch nicht nur die immer schon auf Andere und anderes bezogene Situation, sondern er kann als der Sinn von dem erfasst werden, was da vor sich geht. Auf dieser sechsten Ebene der gegenständlichen Bedeutung ist der Sinn zunächst das, was wahrgenommen wird, geht aber unmerklich über in das, was

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mitgeteilt werden kann und dabei in seinem begrifflichen Status bewusst werden kann. Wahrnehmung also ist das wesentliche Moment der gegenständlichen Erfassung von Sinn, aber sie erfolgt immer schon unter den Konditionen der Mitteilung. Und die erscheint in ihren dominierenden objektiven Leistungen (Leistungen, die nicht unter dem Vorbehalt einer ausdrücklichen Subjektivierung des Mitgeteilten stehen) wie der Aufweis von dem, was ist. Der semantischlogische Sinn scheint aus den Sachen selbst zu entspringen. Nur deshalb kann er uns so selbstverständlich werden, dass der Sachverhalt mit seiner Bezeichnung identisch zu sein scheint. Gesetzt, die Beschreibung erfasst ein wesentliches Moment der logisch-semantischen Leistung von Sinn, dann ist Erkenntnis Partizipation am Erkannten. Sie nimmt etwas auf und behält es gleichsam zu einem eigenen Zweck, der aber selbst nur in der möglichen Weitergabe bestehen kann. Der Verstand setzt diese Leistung fort, indem er die Kommunikation ausdrücklich macht. Er sichert die Bindung des Sinns an das durch ihn in einem Sinnzusammenhang konkret Bestimmte eines Wissens. Träger des Sinns sind institutionalisierte Sachverhalte, der Kontext einer Wissenschaft, einer Verwaltung, eines Vereins, aber auch einer Religionsgemeinschaft, die sich auf für alle verbindliche Regeln des Sprechens von Gott und Gottesdienst geeinigt hat. 8. Der existenzielle Sinn. Der siebente Sinn, wenn ich das abkürzend so sagen darf, liegt in dem, was sich vernünftig verstehen, was sich einsehen, als ein Ganzes erschließen und bewusst als dieses Ganze an- oder hinnehmen und somit anerkennen lässt. Es ist der Sinn, der eine Ordnung wiedergibt, in der ich die Welt und mich selbst derart verstehe, dass ich mich in ihr im vergewisserten Einvernehmen mit meinesgleichen bewegen kann. Dieser Sinn ist der Richtungs-, Orientierungs- und Ordnungssinn. Er zeigt uns etwas an, das für die Beziehung zwischen mir, meinesgleichen und der Welt von Bedeutung ist. Er leitet das bewusste Handeln an und ermöglicht den Aufbau von Institutionen, die ihrerseits in der Lage sind, Personen Festigkeit zu geben. Im Zusammenspiel von Person und Institution bilden sich die Erwartungen aus, die das individuelle Dasein überschreiten und fortwirkende, durch Generationen getragene Leistungen erhoffen lassen. Das geschieht im Medium eines den Menschen mit seinesgleichen sachhaltig verbindenden Sinns, der zur Verpflichtung wird, sobald er als die Bedingung der eigenen Leistung erkannt wird. Dieser Perspektiven öffnende und sie zugleich individuell und institutionell spezifizierende Sinn lässt uns darauf vertrauen, dass die Wissenschaft fortschreitet, die Aufklärung nicht abbricht, das Recht weiter in Geltung bleibt, die Kunst nicht plötzlich als wertlos verfällt, die Tugend nicht verloren geht, der Anspruch auf Wahrheit in Geltung bleibt und dass selbst noch die Enkel unserer Enkel eine Zukunft haben. Der Sinn wird bei allen, die ihre Aufgabe im Beruf und

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ihre Rolle im Leben wichtig nehmen, wirksam. Er muss zumindest angenommen werden, wenn jemand sein Wort gibt, Verantwortung übernimmt, von anderen Verantwortlichkeit verlangt, Erziehung und Bildung zu vorrangigen Aufgaben erklärt, die Forschung für unverzichtbar hält, eine zum showbusiness verkommene Politik kritisiert und Banker verächtlich findet, die ihren Beruf verfehlen, weil sie das ihnen vertrauensvoll überlassene Geld nicht im Interesse ihrer Kunden mehren, sondern verspielen. Jede Kritik an den Verhältnissen setzt diesen Sinn voraus; kein Vorsatz, es besser zu machen, kommt ohne ihn aus. Die Massierung von Beispielen soll zeigen, wie dicht das Gewebe ist, das der Richtungs-, Orientierungs- und Ordnungssinn nicht nur in jedem Einzelnen, sondern auch im Weltverhältnis menschlicher Gemeinschaften erzeugt. Er gibt die Sicherheit, auf eigene Maximen zu setzen, er garantiert die Regeln, die uns Altes bewältigen und Neues angehen lassen, er öffnet Dimensionen künftigen Handelns, aber schließt auch Vorhaben ab – aus Gründen, die in ihm beschlossen liegen. Denn, und das ist die allgemeine Funktion dieses Selbst, Gemeinschaft und Welt sachhaltig verknüpfenden Sinns: er gibt uns die Gründe, die unsere Ansichten und Meinungen allererst zu verlässlichen und wahrheitsfähigen Überzeugungen machen. In diesem auf Gründen beruhenden Sinn schließt sich der Kreis des Lebens, weil er uns intellektuell das erschließt, was in der Natur als bloßer Zwang erscheint, nämlich die Notwendigkeit. Mein Lehrer Kaulbach sprach von »Sinnnotwendigkeit«, um den Ertrag der höchsten Leistungen der Vernunft zu bezeichnen.13 Für Darwin hat das Ideal der Philanthropie den Status einer solchen Sinnnotwendigkeit. Sie verpflichtet den Einzelnen, auch wenn sich kein Anderer daran hält, bei seiner Einsicht zu bleiben, solange er sie für richtig hält. Es ist wesentlich diese das Handeln begründende, das Leben lenkende und das Dasein ausrichtende Leistung, die mich auf der letzten Stufe der sich natürlich, sozial und kulturell entfaltenden partizipativen Leistungen organischer Wesen von einem existenziellen Sinn sprechen lässt. In der inneren Schlüssigkeit der mit begründeter Überzeugung festgehaltenen Notwendigkeit gewinnt der existenzielle Sinn die Verbindlichkeit, die er auf den elementaren Stufen seiner physischen, physiologischen, generativen, sozialen, psychologischen und semantisch-logischen Entfaltung immer schon hat. Nun aber kann er als Strukturmerkmal einer Person, einer Institution, vielleicht auch einer ganzen Kultur so selbstverständlich werden, dass er als Naturmoment des historisch entfalteten Geistes erscheint. Zu ihm müssen auch die religiösen Überzeugungen gerechnet werden. Wie tief sie verwurzelt sind, zeigt sich darin,

13 Kaulbach, Friedrich: Philosophie des Perspektivismus (Bd. 1). Tübingen 1990, S. 72, 90, 138 ff.

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dass Darwin, obgleich er meint, seinen Glauben an Gott zu verlieren, in Wahrheit aber nur das Objekt seines Glaubens ändert. 9. Die Pyramide des Sinns. Die siebente Stufe des Sinns setzt die anderen voraus. Die Vernunft des regulierenden und orientierenden existenziellen Sinns beruht auf der basalen psycho-physischen Leistung von Sinn und Sinnlichkeit. Aber erst der existenzielle Sinn ist in der Lage, Zwecke und Ziele zu verfolgen, Erwartungen und Hoffnungen zu hegen oder nach einem Sinn des Daseins, einem Sinn des Lebens oder gar von einem Sinn von Sein zu sprechen. Die von Anfang an im Sinn angelegte Reflexivität erlaubt es schließlich sogar, den »Sinn von Sinn« zu benennen: Der Sinn von Sinn bringt die bereits in den einfachsten Formen des Lebens angelegte kommunikative Verfassung des Organischen zum Ausdruck. Alles Lebendige trennt sich von seiner Umgebung ab, bleibt aber dennoch mit ihr verbunden, um überhaupt als Ganzes von partiell aufgenommenen Stoffen leben zu können. Der Organismus ist Teil seiner Umwelt, mit der er sich über den Einheit stiftenden Sinn seiner Sinne verständigen muss. Er besteht zunehmend selbst aus Teilen, die, damit sie kooperieren können, kommunikativ mit einander verbunden sind. Aber da jedes einzelne Wesen notwendig mit seinesgleichen verwoben ist, ja selbst nur ein Teil in einem generativen Ganzen darstellt, bedarf es eines ihn mit Anderen und anderem verbindenden Sinns. Am vorläufigen Ende der Entwicklung begreift sich der in Kulturen lebende Mensch als Teil einer Gemeinschaft und als Element einer zur Welt erweiterten Umwelt. Er erkennt, dass die Partizipation an den Einheiten seines Daseins zu einer zunehmend von ihm selbst verantworteten Aufgabe gehört, die er nur durch konzentrische Integration seiner vielfältigen Sinnproduktionen bewältigen kann. Der Sinn von Sinn besteht somit in der Herstellung von Verbindung zwischen Teilen, die sich durch Eigenaktivität von einander trennen und damit umso stärker auf vermittelte Beziehungen zu dem angewiesen sind, wovon sie sich abgrenzen. Damit ist angedeutet, dass sich der existenzielle Sinn an der Spitze einer Sinnpyramide befindet, die tief in unablässig Sinn produzierenden, kommunizierenden, konservierenden und revolutionierenden Prozessen des Lebens gründet. Und die Frage ist, worin dieser Sinn gipfelt, der sich in immer weiter ausgreifenden Schleifen sinnstiftender Reflexivität in jenem Ganzen äußert, auf das wir notwendig selbst bezogen sind – wann immer wir uns ausdrücklich als Teil der Natur, der Wirklichkeit, des Seins oder als Element der Welt verstehen. Da wir buchstäblich alles, was wir für einsichtig halten, in rückbezüglichen, Teile mit Ganzheiten und Ganzes mit Teilen verbindenden Denkbewegungen in das Begreifen einholen, da es nichts gibt, was außerhalb des konzentrischen

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Empfindens, Erlebens und Verstehens von Sinn einen Anspruch, überhaupt »etwas« zu sein, erheben könnte, ist es nicht nur ein naheliegender, sondern am Ende sogar unabweisbarer Gedanke, dass auch das Ganze des Daseins alles, was es umfasst, auf den, der es zu denken versucht, zurückspiegelt, so dass er, in äußerster Entfernung von sich selbst, in der Totalität von allem Anderen seiner selbst, sich selber erfährt. Im Ganzen des Daseins steht er vornehmlich sich selbst gegenüber. Die Welt ist das alter ego des sich in ihrer Einheit suchenden und sich in seiner Einheit findenden Selbst. 10. Der Konsens mit der Welt. Dass wir uns nicht vor der Unendlichkeit der Welt entsetzen, dass sie uns, trotz ihrer erhabenen Übermacht, nicht ständig in Angst und Schrecken versetzt, sondern als »Kosmos« und »Universum« begriffen werden kann, dass sie als »Wohnplatz« nahezu gemütlich als »unsere Welt« oder gar als die »Heimat« des Menschen (Novalis) angesprochen werden kann, deckt die Entsprechung auf zwischen dem Sinn, in dem wir sie zu fassen suchen, und dem Sinn, in dem sie sich uns präsentiert. Es ist diese schier unglaubliche Korrespondenz von erfassendem und erfasstem Sinn, die uns in unserem ganzen Welt- und Selbstverständnis trägt. Diese Entsprechung zwischen Selbst und Welt können wir als »Zufall« für unerklärlich halten. Wir können sie aber auch – gleichsam technisch – als »Fügung« oder als »Geschick« bezeichnen, stellen jedoch augenblicklich fest, dass die Termini eine existenzielle Färbung erhalten, uns irgendwie auf das Schicksal verweisen und eher mit der »Gunst« oder dem »Glück« einer unaussprechlichen Stimmigkeit verbunden sind. Wir erfahren, dass wir mit allen unseren in der Vielfalt der Sinne und des Sinns angelegten Fähigkeiten und trotz der konstitutiven Widerständigkeit unserer sich notwendig abgrenzenden Existenz dennoch »in die Welt passen« (Kant). Die Einpassung hat ihr technisches, in der Naturgeschichte ständig verbessertes und (im Kampf der Arten, in der Konkurrenz der Individuen und der in Katastrophen fortschreitenden Entwicklung der Natur) zugleich fortlaufend gestörtes Moment. Es geht eben auch um die durch Anpassung erzeugte Einfügung in das Biotop der geophysischen Natur. Sie trägt uns, sie leitet uns, wird aber auch fortwährend riskiert, um neue Formen der Einheit eines dadurch herausgeforderten Organismus mit seiner Umgebung herauszubilden. Aber es geht um mehr, um etwas, das, wenn ich richtig sehe, auch durch die Mechanismen der kulturellen Evolution nicht erklärt werden kann. Nämlich um das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem als sinnvoll erlebten Zusammenhang, um einen, wenn ich so sagen darf, Konsens mit der Welt – so als gehöre sie als Welt zu unserer Person wie der Leib zu unserem Selbst. Dieser Konsens des Individuums mit dem Ganzen, der die Voraussetzung dafür ist, dass wir einzelne Ereignisse als Widerfahrnisse, als Widerspruch, als

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Unglück oder Unrecht erleben, bezieht alle Dimensionen des Sinnerlebens ein. Er umfasst den Menschen in seiner physischen, physiologischen, generativen, sozialen, psychischen und semantisch-logischen Selbsterfahrung und gewinnt im Horizont seines existenziellen Sinnverlangens eine personale Kontur. Dann steht dem Einzelnen das Ganze so gegenüber, als sei es auf ihn selbst bezogen, so dass er es ansprechen, anrufen, auffordern und anklagen oder ihm dankbar sein kann. Dieses im Horizont existenzieller Sinnerfahrung gegenwärtige Ganze hat die Qualität des »Göttlichen«. Tatsächlich ist in der existenziellen Erfahrung eines Sinns, den wir im Ganzen finden, das Göttliche gegenwärtig. Der Mensch, der sich als Teil einer (wie auch immer beschaffenen) Einheit des Ganzen erfährt, ist das Sensorium für das Göttliche.14 Und der Glaube ist die sich im Licht dieser existenziellen Erfahrung ausbildende souveräne Einstellung zum Wissen.15 In der Einführung und Erläuterung dieses Organs für die Einheit von Ich und Welt wurde somit längst über das Göttliche gesprochen. Deshalb können sich die letzten beiden Punkte auf die Frage beschränken, worin denn das Göttliche in der Einheit von Ich und Welt besteht und was das Spezifikum des religiösen Glaubens ist. 11. Die Universalität des menschlichen Sinnhorizonts. Jeder der handelt oder spricht, jeder, der Pläne macht oder die Pläne anderer vereitelt, jeder, der die Kunst genießt, erst recht jeder, der sie schafft, jeder, der schenkt, liebt oder hofft, tut alles dies im Vertrauen auf einen tragenden Sinn, in dem er sich individuell ins universelle Ganze fügt. Die allgemeine Form, in der sich die Sinnerwartung äußert, lässt sich als »Sinnhorizont« bezeichnen – ein Ausdruck, den wir der neuzeitlichen Hermeneutik verdanken. Der Sinnhorizont steckt den Rahmen ab, in dem wir überhaupt etwas bedeutsam finden können. Er ist das Äußerste, in dem selbst das Fremde seinen Ort finden muss und in dem das Vertraute seinen Platz hat. Der Sinnhorizont ist die Bedingung für das Verstehen überhaupt. Wir müssen ihn annehmen, wenn wir überhaupt etwas verstehen wollen. Auf ihn lässt sich unter keinen Umständen des menschlichen Lebens verzichten – es sei denn, man gibt sich selber auf oder man findet alles gleichermaßen uninteressant. Ohne ihn verliert alles Reden, Handeln und Verlangen seinen Sinn. Ohne ihn wird alles 14 Erwähnt seien hier nur: Gerhardt, Volker : »Die Vernunft des Glaubens«, in: Slenczka, Notger (Hg.): Die Vernunft der Religion. XVI. Werner-Reihlen-Vorlesung am 20./21. November 2007, Berliner Theologischen Zeitschrift (BThZ), 25/Beiheft (2008), S. 26 – 34; ders.: »Warum glauben?«, in: Röser, Johannes (Hg.): Mein Glaube in Bewegung. Stellungnahmen aus Religion, Kultur und Politik. Freiburg / Basel / Wien 2008, S. 245 – 191; ders.: »Gott als Sinn des Daseins«, in: Christ in der Gegenwart (17 u. 18) 2009. 15 Dazu: Gerhardt, Volker : »Glauben als Einstellung zum Wissen«, in: Christ in der Gegenwart (25 u. 26) 2010.

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egal. Dann kommt es auf nichts mehr an, weder auf die Einheit eines sinnvollen Handelns noch darauf, ob das eigene Tun eine mögliche Bedeutung im Zusammenhang des Daseins hat. Und schließlich: Niemand kann bestreiten, dass es diesen Horizont des Denkund Wünschbaren, in dem das Gedachte einen auf ihn selbst bezogenen Sinn erhält, tatsächlich gibt. Nur dürfte jedem offensichtlich sein, wie unsinnig es wäre, trotz dieser unbestreitbaren Leistung, trotz dieser evidenten Wirksamkeit, die Existenz dieses Horizontes »beweisen« zu wollen. Wir haben ihn, und wir haben ihn nötig, solange uns unser Dasein etwas bedeutet.16 Er ist, kurz gesagt, die Bedingung jeder möglichen Beweisbarkeit und er bleibt bestehen, wenn die Beweise scheitern. Ich sage nun, dass es dieser Horizont ist, den wir als das Göttliche bezeichnen. Er ist der Rahmen, für alles, was immer geschehen und für uns Bedeutung gewinnen kann. In ihm tut sich das Vergangene auf, er bietet den Raum zum Verständnis der Gegenwart. Er begrenzt unsere Aussicht auf das Kommende. Er bietet alles das, wovon Nietzsche sagt, dass es verloren geht, wenn »Gott tot« ist.17 Doch es gibt keine Verbindlichkeit in der theologischen Ausdeutung der geographisch-kosmologischen Metapher des Horizontes. Wer will oder wem es reicht, der kann deren Beitrag zur Sicherung des Sinns auf die pragmatische Orientierungsleistung im Lebensfeld beschränken. Kein theoretisches Argument reicht aus, um eine religiöse Deutung des Sinnhorizonts allgemein gültig zu machen. Hier versagen Theologie und Philosophie nicht anders als in den nicht erst an Kant gescheiterten Gottesbeweisen. Das Göttliche würde seine alles tragende und zugleich alles überbietende Stellung verlieren, wenn man es dartun könnte wie einen Sachverhalt oder wie eine logische Funktion. Wohl aber haben wir in der Formel von einem allen Sinn erst in einen existenziellen Sinn überführenden Horizont einen nicht widersprüchlichen Modus der Beschreibung des Göttlichen. Die üblichen Attribute Gottes, die Allmacht, die Allwissenheit und Allgüte, ausgenommen vielleicht nur die von Kant eingeführte »Allgenugsamkeit«,18 verkleinern Gott auf die Dimension eines Übermenschen, auf eine Macht unter Mächten. Dieser Gefahr entgeht die Rede vom 16 In den Notizen, die Adolf Eichmann sich 1961 vor und während des Prozesses machte, findet sich die Feststellung: »ich hielt das Menschsein für sinnlos« (nach Meier, Martin: Das Böse in der Welt oder Aktenzeichen 40/61. Über Hannah Arendts Vorlesungen über Ethik und Moral, in: NZZ 29. 4. 2006). Martin Meier sagt etwas später in einer denkwürdigen begriffsgeschichtlichen Verwendung von »Nihilismus«, also des Begriffs, der jeden Sinn leugnet: »Sowohl in den Nürnberger Prozessen als auch später im Verfahren gegen Eichmann brach das sprachlose Entsetzen über so viel Nihilismus auf.« 17 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 125 (KSA 3). Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino (Hg.), München / New York 1999, S. 480 ff. 18 Kant, Immanuel: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Akademie Ausgabe Bd. 2. Berlin / New York 1968 [1763], S. 15 ff.

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Sinnhorizont. Das Missverständnis, ihm den Status einer Person zu geben und ihn dadurch zum mit sich uneinigen Gegenstand zu machen, ist ebenfalls vermieden. Eröffnet ist hingegen die Möglichkeit, ihn als Grund, Ordnung oder Zweck zu deuten.19 Dass er dabei, wie oben dargetan, eine »Sinnnotwendigkeit« darstellt, die es nicht erlaubt, ihn als »bloß subjektiv« einzustufen, gibt ihm eine Dignität, die ihn über die rein sachlich eingegrenzte Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis erhebt. Wenn das Bild vom Horizont einen theologischen Rang erhalten soll, dann muss klar sein, dass es keine rein epistemische Bedingung benennt. Wie die Kunst gibt es das Göttliche nur für den, der sich darauf versteht. Man muss es nötig haben, man muss es suchen und sich zu ihm erheben. Wer das Sinndefizit im alltäglichen Dasein nicht spürt, wem es reicht, dass alles so ist, wie es ist, und wer es vergeblich, fragwürdig oder vielleicht auch gefährlich findet, in den gegebenen Sinnbezügen des Daseins mehr zu suchen, als was sich darin an lebensdienlichen Regulativen und faktischen Leistungen findet, der kann kein Verständnis für den Wunsch aufbringen, schon im Glauben an Gott an eigner Bedeutung zu gewinnen. Wenn Kant die Pflicht als »heilig« bezeichnet, obgleich sie nach seiner Begründung eine vollkommen säkulare Größe ist, wenn wir heute die Würde des Menschen als »unantastbar« und sein Gewissen als »sakrosankt« ansehen, dann zeigt sich im Religiösen das Verlangen nach Auszeichnung der eigenen Größe. Ehe sich der Zeitgeist über den »Speziesismus« empört, der auch im Religiösen einen Vorteil des Menschen sucht, sollte man daran erinnern, dass der Mensch im Göttlichen seine Grenzen erfährt und bis zur Demut beeindruckt werden kann. Die Dialektik des Glaubens, der erhöht und erniedrigt, muss bei der Anlage des existenziellen Sinns und bei der Ausdeutung der Rede vom Sinnhorizont in Anschlag gebracht werden. Tun wir es, dann haben wir, wie ich glaube, eine neue Form eines epistemischen Zugangs zum Glauben gefunden, der die Nähe zum Wissen nicht vergessen macht, aber dennoch darauf basiert, dass wir gerade deshalb glauben müssen, weil das Wissen allein unser Verlangen nach einem uns mit dem Ganzen des Daseins verbindenden Sinn nicht erfüllen kann. 12. Gott als innere Form. Suche ich nach einem Begriff für den unverzichtbaren Sinnhorizont meines Erlebens, der zugleich der Sinnhorizont des im äußersten Fall vorstellbaren Ganzen ist, dann weiß ich keinen besseren Begriff zu nennen als den des Göttlichen. Was immer Gott sein und bedeuten mag: Für mich ist er 19 Gerhardt, Volker : »Gott und Grund«, in: H. Deuser / D. Korsch (Hg.): Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin. Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (Bd. 23). Gütersloher Verlagshaus 2004, S. 85 – 101.

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mindestens dieser Horizont, in dem sich alles findet, was es überhaupt für mich geben kann. In ihm sind alle möglichen Sinndimensionen des Daseins vereinigt. Ob wir vom Sinn der Geschichte, vom Sinn der Kultur, des Lebens, der Moral oder der Wahrheit sprechen: Stets bewegt sich das, worum es geht und gehen kann, in den tradierten Bahnen des uns von Anfang an vertrauten Begriffs Gottes. Ich wüsste nicht, was uns veranlassen sollte, einen anderen Ausdruck zu wählen. Die Frage ist freilich, ob der Begriff auch die systematischen Lasten tragen kann, die ihm mit den Leistungen des Sinns aufgebürdet werden. Um das zu prüfen, brauchen wir eine philosophisch verfahrende Theologie und eine theologisch aufgeschlossene Philosophie. Beide können allein durch ihre historische Erbschaft eine Rede von Gott und dem Göttlichen entfalten, die zu klären erlaubt, was das Ganze, in dem wir uns und unsere Welt begreifen, uns eigentlich bedeutet. Der Philosophie kommt dabei vorrangig die Aufgabe zu, den epistemischen Status des Glaubens zu klären. Dazu habe ich in der Analyse der sieben in sich zusammenhängenden Stufen des Sinns einen neuen Versuch unternommen. Es scheint so zu sein, dass der Sinn unter allen Bedingungen die Einheit des durch den Prozess des Lebens Getrennten zu wahren sucht: Er verbindet die physiologischen Vorgänge mit den physischen Determinanten der Umwelt; er stellt die rezeptive und reaktive Einheit im Verhalten des Organismus her ; er verknüpft die Exemplare der Spezies unter einander und schafft operative Einheiten des individuellen und des kollektiven Verhaltens unter Bedingungen sozialer Differenzierung; er ist das Medium des psychischen Selbsterlebens, welches Distanz und Konsens zwischen Individuen stiftet, und allemal wesentlich für die innere Kohärenz des sich abgrenzenden Individuums mit seiner Umwelt ist. In der als objektiv begriffenen logisch-semantischen Leistung des Sinns kommt es schließlich zu den als objektiv angesehenen Sachverhalten, zu denen sich das Individuum selbst rechnen, über die es in genuiner Kenntnis ihrer Eigentümlichkeit wie über sich selbst verfügen kann. Begriff und Sachverhalt verschmelzen und geben damit die Einheit vor, die auf der höchsten Ebene des Sinns zur existenziellen Bedeutung gelangt. Auf ihr ist es nicht mehr möglich, eindeutig zwischen subjektiver und objektiver Leistung des Sinns zu unterscheiden. Folglich ist das Göttliche, das hier in der umfänglichsten Einheit des Sinnhorizonts alles in Verbindung mit allem umfasst, weder eine willkürliche noch eine subjektive Annahme. Es ist dasjenige, das wir annehmen müssen, wenn wir uns ganz verstehen wollen. Diese Ernsthaftigkeit im Verhältnis zu uns selbst und zur Welt freilich ist es, die als unverzichtbare Prämisse des Glaubens unterstellt werden muss. In dieser systematischen Bemühung wäre die Philosophie schlecht beraten, wenn sie die älteren Reden von Gott überhören würde. Sie müssen uns min-

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destens so viel wert sein wie der Kopf der Nofretete, die jetzt im Allerheiligsten der Museumsinsel im verdunkelten Raum, aber sonnengleich durch Punktstrahler erleuchtet, unter einer Glaskuppel steht und tagtäglich von Tausenden von Besuchern andächtig flüsternd umstanden wird, so als sei es das entschleierte Bildnis von Sais, das Schöne, Gute und Wahre zugleich, das hinter aller Bedeutung steht. Hier führt uns die Inszenierung der Kunst die Gegenwart von etwas unfassbar Höherem, Größerem, uns ganz Durchdringendem vor Augen, das man, auch ohne religiös zu sein, »göttlich« nennen kann. Zugleich demonstriert die performative Präsentation im dramatisch illuminierten Museumsraum, in dem die Menschen kaum zu flüstern wagen und sich nur durch Gesten und Blicke verständigen, dass es auch unter den Bedingungen der angeblich zu kalten und gottfernen Moderne noch Ehrfurcht vor dem Göttlichen gibt. Also muss es auch der Wissenschaft möglich sein dem Göttlichen ein menschliches Wort zu verleihen. Dabei leistet sie viel, wenn sie ältere und älteste Sinnschichten der Verkündigung Gottes freilegt und sie im Bewusstsein der Tradition zu deuten sucht. Aber sie hat auch den Sinn in seiner systematischen Reichweite als die mediale Vermittlung zwischen Welt und Mensch zu untersuchen. Der Sinn ist die uns tragende Einheit von Mensch und Welt, die wir in einer uns ganz durchdringenden und zugleich material wirksamen Weise benötigen, um überhaupt in einer für uns bedeutsamen Weise tätig sein zu können. Nur im Sinn kommt es zum Ernst unseres Selbst- und Weltverhältnisses.20 Es wäre der blanke Un-sinn, die Allgegenwart und die »Allgenugsamkeit« des Sinns bestreiten zu wollen. 20 Thomas Mann hat diesem Moment des Religiösen in seiner Nachbemerkung zur Gedenkfeier für Bruno Frank den folgenden Ausdruck verliehen: »Unser Freund wollte sich nicht anmaßen, ein religiöser Mensch zu sein, und hat den Namen Gottes nicht leicht oder nie im Mund geführt. Aber wenn, wie ich glaube, Religion wesentlich das Gegenteil der Nachlässigkeit und Vernachlässigung, wenn sie Gewissenhaftigkeit und wachsame Aufmerksamkeit ist auf Veränderungen im Bilde der Wahrheit, Gehorsam gegen den Willen des Weltgeistes, kurz, was man Gottesklugheit nennen könnte, dann war Bruno Frank ein religiöser Mensch und ist in Gott gestorben.« (29. 9. 1945; in: Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Essays VI. Frankfurt am Main 2009, S. 89 f.) Auf den Bezug zur Rede von der »Gottessorge« und der »Gottesvernunft« in Joseph und seine Brüder kann hier nicht eingegangen werden. Verwiesen aber sei auf eine briefliche Erläuterung Thomas Manns in einem drei Jahre später geschriebenen Brief: »die Klugheit des Menschen […], seinen Willen mit demjenigen Gottes zu vereinen und nicht in Zuständen verharren zu wollen, ›über die Er mit uns hinaus will‹« (9. 2. 1948 an Heinz-Winfried Sabais; vgl. Kommentar zu Essays VI, Frankfurt am Main 2009, S. 103). – Was Thomas Mann das Religiöse als Künstler bedeutet, kommt in einer Tagebuchnotiz vom Jahresende 1943 zum Ausdruck, die er in Die Entstehung des Doktor Faustus wiedergibt: »Ein schweres Kunstwerk bringt, wie etwa Schlacht, Seenot, Lebensgefahr, Gott am nächsten, indem es den frommen Aufblick nach Segen, Hilfe, Gnade, eine religiöse Seelenstimmung erzeugt.« (Essays VI. Frankfurt am Main 2009, S. 455).

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Da der Sinn nicht nur bis ins Innerste unseres Inneren hinabreicht, sondern auch dort noch gegenwärtig und wirksam ist, wo wir uns abmühen, dass Entfernteste, Äußerste und Grenzenlose der Welt zu erfassen, bietet es sich geradezu von selber an, in dem, was uns diesen buchstäblich alles umfassenden Sinn eröffnet, gewährt und auf ganz und unbegreifliche Weise sogar auf Dauer stellt, das Göttliche anzunehmen. Über den Sinn hinaus kann niemand denken, empfinden oder fühlen. An ihn zu glauben ist ein Akt kindlichen Vertrauens. Aber er ist mehr : Er ist der rationale Ausdruck des Verlangens, das, was mindestens alle unsere bewussten Lebensvorgänge trägt, das, was wir allein schon deshalb nicht begründen können, weil es Grund unserer Gründe ist, nicht einfach nur als selbstverständlich hinzunehmen, sondern es mit allen Zeichen unserer existenziellen Aufmerksamkeit als dasjenige hinzunehmen, das uns in allen vernünftigen Erwartungen und dennoch wider sie, so trägt, dass wir uns, wie man im Leben der Menschen sieht, darauf verlassen. Glaube ist ein von der Vernunft getragenes Gefühl, das der Vernunft die Sicherheit gibt, die sie aus eigener Kraft nicht gewinnen kann. Wenn es gelingt, uns das Göttliche als den leitenden Sinn unseres ernsthaften Handelns begreiflich zu machen, dann entlastet uns bereits die Logik unserer Einsicht davon, ihn weiterhin in etwas Äußerem zu suchen. Damit können wir Gott auch von allen Substanz- und Instanzhypotheken befreien. Denn wir erfahren bereits an und in uns selbst, dass er innerlich wirksam ist und dennoch das Äußerste umfasst. So verstanden, könnte das Göttliche als Sinnhorizont unseres Daseins auch als die innere Form unseres ernsthaften Handelns begriffen werden, als ein Prinzip, das alles von innen her steuert und dennoch, wie der Sinn, äußerlich wirksam ist. Es ist, wie der Sinn, eine das Ganze erzeugende Kraft, an der wir teilhaben, in der wir uns erkennen, die uns befreit, uns aber auch eine ernsthafte Richtung gibt, und in der wir uns schließlich, als die, die wir sind, auch aufgehoben fühlen können. Dann können wir am Ende vielleicht auch verstehen, warum Platon das Göttliche als dasjenige bezeichnet, das der Seele am nächsten steht.21 Beides, Seele wie Gott, sind die innere Form, die das Ganze für uns selber hat. Und es ist kein Wissen, das wir von ihm (wie von einem Objekt) haben, sondern eine Gewissheit, von der wir hoffen, dass sie ebenso sicher ist, wie die Gewissheit unserer eigenen Existenz.

21 Platon: Nomoi V, 726a.

Thomas Rentsch (Dresden)

Negative Theologie, Transzendenz und Existenz Gottes

Lange Zeit schien die Frage nach Gott aus dem Zentrum des philosophischen Diskurses an den Rand gewichen zu sein. Religionsphilosophie und das Gespräch zwischen Philosophie und Theologie waren bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts intensiv entwickelt. Dafür stehen Namen wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, Karl Rahner, Ernst Bloch, Paul Tillich und Karl Jaspers. Nachdem aus vielen Gründen seit Mitte der 60er Jahre andere Themen in den Vordergrund rückten, ist mittlerweile die Wiederholung der expliziten systematischen Reflexion auf die Frage nach Gott in der Philosophie und im Blick auf gesellschaftliche und interkulturelle Diskurse nötig, ja unverzichtbar geworden.1 Die Gründe für diese Unverzichtbarkeit sind, ganz kurz gefasst: Erstens das immense weltpolitisch bedeutsame Erstarken religiöser Fundamentalismen auf christlicher wie islamischer Seite, zweitens das von Habermas so genannte Phänomen des Postsäkularismus. Bei letzterem Phänomen handelt es sich um ein treffendes Schlagwort für die Tatsache, dass sich auf Dauer die existentiellen, ehemals metaphysischen Grundfragen nach dem Sinn des Lebens und nach Gott nicht abweisen und verdrängen lassen. Vor wenigen Jahren noch hatte derselbe Habermas das »nachmetaphysische« Zeitalter angekündigt, verkennend, dass es von den metaphysischen Grundfragen und ihrer Bedeutung für die Praxis keinen Abschied in der Reflexion geben kann, werden sie nun ontologisch, bewusstseinsphilosophisch oder sprachanalytisch behandelt, versuchsweise gelöst oder theoretisch für unsinnig erklärt. Für die Beantwortung unserer Frage muss in Erinnerung gerufen werden, dass philosophische Theologie für weit über 2000 Jahre im Zentrum philosophischen Denkens steht: von Platon und Aristoteles bis zu Kant und Hegel. Und: weder weltgeschichtlich noch ideologiepolitisch haben sich säkulare Gesamtdeutungssysteme im 20. Jahrhundert dauerhaft an die Stelle von Weltreligionen setzen können, obwohl sie dies mit allen Mitteln versucht haben. Aber auch in 1 Die im Folgenden entwickelten Grundgedanken finden sich umfassend ausgeführt in: Rentsch, Thomas: Gott. Berlin / New York 2005.

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befriedeten rechtsstaatlichen Demokratien blieb bei vielen Menschen ein Bewusstsein davon erhalten, dass über letzte Fragen des Sinns und des Lebensverständnisses auch nach wissenschaftlicher und politischer Aufklärung noch eigener Klärungsbedarf besteht. Aus verdinglichungskritischer und entfremdungstheoretischer Perspektive ist viel eher zu konstatieren, dass die säkulare Moderne mannigfaltige Formen von Ersatzreligionen, von Kulten und quasimythischen Projektionen auf alle Ebenen: der Kulturindustrie, des Konsums, des Sports und der Lebensführung hervorgebracht hat, deren irrationale Tendenz religiösen Fetischismen und Entfremdungsphänomenen nicht nachsteht. Auf dem blühenden Markt der Esoterik und Magie berühren sich diese postsäkularen Phänomene denkbar konkret. Zu den Prolegomena einer Erneuerung kritischer philosophisch-theologischer Reflexion zähle ich auch Substitute und Surrogate des Absoluten, wie sie in der Philosophie an entscheidenden Orten der Systematik bei den wichtigsten Philosophen der Moderne auftreten. Im Rückblick ist dies nicht weiter überraschend, wenn man sich die Struktur genuin philosophischer Sinngrenz- und Sinngrundreflexion vergegenwärtigt. Man könnte nach dem – mit Heidegger formuliert – modernen »Schwund« und »Fehl« Gottes, nach den prominenten Anti-Theologien von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud von einem latenten Systemzwang sprechen, den Ort des Absoluten, Gottes, dennoch zu besetzen. Solche Substitute des Absoluten in der modernen Reflexion sind das »Sein« Heideggers, das »Mystische« und Unsagbare Wittgensteins, das »Nichtidentische« Adornos, die »ideale Kommunikationsgemeinschaft« bei Apel und Habermas, die »Differenz« und die »Spur« bei Derrida. Es lässt sich an diesen je eigentümlichen Basisbegriffen der philosophischen Reflexion bei näherer Betrachtung genau zeigen, dass und wie sie theologische, metaphysische Traditionen beerben und produktiv weiterdenken, oft, ohne diese Kontinuität selbst kritisch in ihre Reflexion einzuholen. Das gilt im Kern für drei von mir transrational genannte unhintergehbare Aspekte der Sinnkonstitution einer menschlichen Welt, die ich auch als Transzendenz-Aspekte bezeichne: Dass überhaupt etwas ist, dass wir sprachlich Sinn artikulieren können, dass wir in Strukturen der Einmaligkeit existieren und selbst einmalige Individuen sind. Die Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne artikulieren jeweils bestimmte Phänomene der Sinnkonstitution, die mit diesen Transzendenz-Aspekten verbunden sind. Sie gelangen jedoch nicht zu einer Perspektive, die die vorgängige Einheit und Ganzheit der Transzendenz (ihre Gleichursprünglichkeit) und die damit ermöglichte Einheit und Ganzheit einer menschlichen Welt denkt. Entweder wird die ontologische Differenz isoliert gedacht, oder die Transzendenz des Logos, oder die begrifflich unerfassbare Individualität. Aber : die Sinnkonstitution einer menschlichen Welt lässt sich nur dann begreifen und begrifflich erfassen, wenn die irreduzible Einheit und Gleichursprünglichkeit

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der genannten Transzendenz-Aspekte begriffen wird. Das bedeutet für die Philosophie auch: Grenzen und Einheit der Vernunft neu, in einer Transzendenz-Perspektive zu denken.

1.

Philosophische Theologie I: Negative Theologie

Auf diesem Hintergrund kann die Erneuerung philosophischer Theologie in einem ersten grundlegenden Teil, einem pars destruens, als ein kritisches Unternehmen systematisch präzisiert werden. In diesem kritischen Teil werden alle sinnvollen religionskritischen Potentiale systematisch konzentriert und rekonstruiert, um eine neue negative Theologie zu entwickeln. Diese negative Theologie bereitet eine vernünftig erneuerte philosophische Theologie vor und enthält sie indirekt bereits. Denn wenn wir falsche, partiale und irreführende Formen, Gott zu denken, abweisen, dann erschließt sich im Ansatz bereits ein sinnvolles Gottesverständnis. Negative Theologie ist philosophisch »mehr als die halbe Miete«. Die in der Tradition und Moderne verbreiteten Missverständnisse lassen sich auf der Ebene der religiösen Praxis, auf der Ebene der Theologien wie auf der philosophischen Ebene ausmachen. Sie gehören so in gewisser Weise zum Verständnis der Gottesfrage hinzu. Ein erstes Missverständnis ist das theoretisch-wissenschaftliche Verständnis der Rede von Gott z. b. auf der Ebene der Physik und der physikalischen Kosmologie. Die Rede von Gott und die Orientierung an Gott lassen sich nicht als fundiert in empirisch verifizierbarem oder falsifizierbarem wissenschaftlichem Tatsachenwissen verstehen. Die gegenwärtigen Bemühungen, die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie wieder mit den Ergebnissen der physikalischen Kosmologie zu verbinden, sind irreführend und beruhen auf begrifflichen Konfusionen. Kurz: Jede Engführung Gottes und der Rede von Gott auf naturwissenschaftlich messbare Fakten in der Welt ist kategorial verfehlt. Ebenso verfehlt ist daher z. B. die biblizistisch-fundamentalistische Meinung, es sei religiös geboten, gegen die Ergebnisse der Evolutionstheorien zu Felde zu ziehen. Die philosophisch sinnvolle Orientierung an Gott steht gleichermaßen gegen bloß mythisch »fundierten« Aberglauben als auch gegen Pseudo-Naturwissenschaften, die als Mythenersatz auftreten. Naive und primitive Gottesbilder bestimmen allerdings vielfach die Vorstellungen von Theisten wie Atheisten. Eine neue religiöse Aufklärung wäre erforderlich, um sie zu überwinden. Dabei muss bewusst sein, dass der Zustand der religiösen Kultur und Bildung vielfach aus verschiedenen Gründen (kulturelle Brüche, Traditionsverlust) sehr rückständig ist. Daher überrascht es auch nicht, dass neben den oberflächlich-theoretischen, objektivistischen Gottesvorstellungen ebenso subjektivistische Vorstellungen

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verbreitet sind. Während die einen Gott für wissenschaftlich beweisbar halten, pochen die anderen auf Wunder, Mirakel, Visionen, besondere Eingebungen und exzeptionelle Erfahrungen. Die Gotteserkenntnis hat es in der Tat, so lehrt die Tradition, z. B. Augustinus, mit vertiefter menschlicher Selbsterkenntnis zu tun. Ferner bewegen sich religiöse Orientierungen in der Tat auf der Ebene von Einsichten von denkbar fundamentaler Tragweite und Lebensbedeutsamkeit. Aber existentielle Ernsthaftigkeit und persönliche Glaubensgewissheit lassen sich gerade nicht auf der Ebene des Subjektiven begreifen. »Ich glaube an Gott.« – Religiöser Subjektivismus ist außerstande, den Wahrheitsanspruch, den Wahrhaftigkeitsanspruch und den Geltungsanspruch solcher Sätze und ihres Lebensbezugs verständlich zu machen. »Ich habe das Gefühl, dass Gott die Welt erschaffen hat.« »Ich spüre, dass es Gott gibt.« – solche Sätze artikulieren nicht den in religiösen Bekenntnissen gemeinten Sinn. In modernen westlichen Demokratien ist die Meinung verbreitet, Religion sei Privatsache. Die damit verbundenen Konnotationen der Beliebigkeit verfehlen die eigentlich gemeinte Sache, die eine Sache existentieller, persönlicher Ernsthaftigkeit, eine Sache freier Wahl der Lebens- und Sinnorientierung ist. Es geht um höchst anspruchsvolle Lebensorientierungen, die nicht in subjektiven Gefühlen und privaten Vorlieben oder Gleichgültigkeiten gründen können, sondern nur in transsubjektiven Wahrheitsansprüchen, die recht verstanden eine tiefe Subjektivität erst ermöglichen. Dieser Punkt lässt sich religionskritisch ebenfalls gegen Formen eines Offenbarungspositivismus oder die Beanspruchung privater Zugänge zu Gott durch besondere Erkenntniskräfte wenden. Vernunftkritisch betrachtet ist es genau umgekehrt: Um bestimmte Erfahrungen und Gefühle als relevant im Blick auf die Gottesfrage und die Erkenntnis Gottes überhaupt einschätzen, artikulieren und beurteilen zu können, sind bereits Gedanken über Gott mit Wahrheitsanspruch unbedingt nötig, die sich nur in ganzen Sätzen artikulieren können. Diese Sätze müssen allgemein verständlich und selbst beurteilbar sein. Die großen monotheistischen Buchreligionen bestätigen dies auf die denkbar eindrücklichste Weise. In den Texten der Propheten Israels, in den Predigten Jesu, in den Theologien des Paulus und Johannes, in den Suren des Koran wird eine komplexe Rede von Gott mit Wahrheits- und Geltungsanspruch auf höchstem kulturellem Niveau entwickelt. Diese Rede und der mit ihr praktisch und grammatisch verbundene Sinn ist die Basis für mit ihr verbundene religiöse Erfahrungen, und nicht etwa die Besonderheit oder die bloß subjektive Evidenz dieser Erfahrungen. Die intersubjektiv verständliche und mit der Alltagserfahrung verbundene religiöse Rede von Gott beansprucht intersubjektive Wahrheit und Gewissheit. Es ist in diesem Zusammenhang besonders bezeichnend, dass gerade in Traditionen der Mystik, in denen außergewöhnliche Einsichten und Durch-

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bruchserfahrungen zentral sind, eine öffentlich zugängliche, intersubjektive Sprache der Vermittlung solcher Einsichten verwendet wird – sogar, um den Sinn des Schweigens begreiflich zu machen. Das gilt für einen christlichen Mystiker wie Meister Eckhart, es gilt aber z. B. auch für islamische Mystiker der Sufi-Tradition. Sie lehren: »Sprich zu uns nicht von Visionen und Mirakeln, Denn solche Dinge haben wir lange hinter uns. Wir erkannten sie alle als Illusionen und Träume, Und tapfer, unentwegt, gingen wir an ihnen vorbei.«2 Bedenken wir, was eine solche inmitten einer großen Religion formulierte Religionskritik im Blick auf heute auch im Westen verbreitetes modisches Verlangen nach spirituellen, esoterischen, ekstatischen Sondererfahrungen bedeutet. Um den Gottesgedanken auf glaubwürdige Weise zurückzugewinnen, muss es aus philosophischer Sicht möglich sein, Aberglauben und Scharlatanerie der Sinnvermittlung von einem authentischen Gottesverhältnis zu unterscheiden. Das aber ist auf einer bloßen Gefühlsebene, im Medium des Subjektivismus, unmöglich. Ein weiteres Missverständnis im Blick auf die Gottesfrage besteht in einem kulturellen Relativismus. Dieser liegt einem aufgeklärten und liberalen Selbstverständnis mit geschichtlicher Bildung und in einer Welt der Globalisierung natürlich besonders nahe. Und ist es nicht gerade zu von überwältigender Evidenz, dass die Gottesvorstellungen der Religionen einer diachronen wie synchronen Relativität unterliegen, dass sie Produkt und Teil geschichtlicher Gesellschaftssysteme sind, ebenso wie aufgeklärter Atheismus oder profane Gleichgültigkeit in religiösen Dingen im modernen säkularen Staat? Aber diese Perspektive ist aus philosophischer Sicht unbefriedigend, unzulänglich und oberflächlich. In der Frage nach Gott und nach lebenstragender Wahrheit kann ich als Philosophierender nicht, wie der Ethnologe, der Soziologe, der Historiker, eine bloße Beobachterposition einnehmen. Relativismus ist nur ein Subjektivismus im großen Stil, ein Bild, das sich aus der Beobachterperspektive ergibt. In lebensbezogenen, praktischen Belangen – auch z. B. im Bereich der Ethik und der Moral – müssen wir in der philosophischen, kritisch-hermeneutischen Reflexion eine Teilnehmerperspektive, eine Perspektive persönlicher Betroffenheit und gerade darum eine Perspektive der Orientierung an Wahrheitsansprüchen, an allgemeiner Vernunft und Geltung einnehmen. Gottesverständnisse wie überhaupt religiöse Lebensformen lassen sich relativistisch nicht begreifen. Es ist unmöglich, sie von außen und objektivistisch zu rekonstruieren. Ebenso letztlich abzuweisen sind entfremdungstheoretische Analysen des menschlichen Gottesverständnisses, wie sie in den schon klassischen Ansätzen von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud ausgearbeitet wurden. Der Glaube 2 Vgl. dazu ebd., S. 25 ff.

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und die Orientierung an Gott lassen sich nicht einseitig als Wunschvorstellung, Symptom von Todesangst, Schuldkomplexen und Projektionen des Unbewussten, als Reflex ökonomischer Verhältnisse verstehen. Selbst, wenn solche Aspekte bei der Religionsentstehung eine Rolle spielten, selbst, wenn gegenwärtige Religionen starke Entfremdungstendenzen aufweisen – auf sie ist das Gottesverständnis nicht reduzibel. In diesem Zusammenhang ist es zunächst wichtig, grundsätzlich festzustellen, dass es Religion und Gottesglaube in der Tat von Beginn an auch mit den tiefsten Ängsten und Kümmernissen und mit der Todesangst zu tun haben – mit der Endlichkeit des Menschen, mit den unumstößlichen Gegebenheiten seiner Wirklichkeit: mit Schuld und Scheitern, mit irreversiblem Versagen, mit den Grenzen des Lebens. Die entfremdungstheoretischen Deutungen bezeugen wider Willen die Dignität der Gottesperspektive, wenn sie deren Verbindung mit Angst, Verfehlung und Tod hervorheben. Die Geschichte der Abschaffung der Sklaverei, die Geschichte der modernen Emanzipationsbewegungen und z. B. der Befreiungstheologie in den armen Ländern der modernen Welt zeigen, wie stark Formen der Überwindung von Unterdrückung und Armut und Formen der Solidarität mit den Schwachen in den religiösen Traditionen selbst angelegt sind. Die Perspektive der Gleichheit aller vor Gott und die praktischen Konsequenzen des Gottesglaubens wurden in der Geschichte des Abendlandes in die gesellschaftliche Gestaltung des kulturellen und zivilisatorischen, rechtlichen und normativ urteilenden Bewusstseins aufgenommen und unabhängig von ihrer Entwicklungsgeschichte produktiv, ja revolutionär weiterentwickelt. Das biblische Bilderverbot und die Schöpfungslehre – der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen – begründen ineins mit der Botschaft von der Menschwerdung Gottes den unendlichen Wert der einzelnen, einzigartigen Personalität und Individualität jedes Menschen. Die irreversible weltgeschichtliche Bedeutung dieses universalistischen Prozesses steht im Zentrum der europäischen und mittlerweile globalen Entwicklung. Die Entfremdungstheorien der Moderne ignorieren diese Freiheitsgeschichte der Sinntraditionen auf holzschnittartige Weise. Ein weiteres Missverständnis der Frage nach Gott und der damit gemeinten Lebensorientierung besteht in einer funktionalen Sicht. Religionen haben aus soziologischer Sicht stabilisierende Funktionen für die gesellschaftliche Praxis und das individuelle Leben. Insbesondere werden große Lebensereignisse: Geburt, Taufe, Erwachsenwerden, Heirat und Tod in ihnen rituell begangen und so bewältigt. Diese funktionale Sicht ist wiederum als äußerlich und oberflächlich zu bezeichnen. Die Dimension, auf die die Gottesfrage weist, lässt sich nicht funktional einholen. Die Überwindung eines instrumentalistischen Gottesverständnisses gehört zum Kern einer glaubwürdigen religiösen Praxis. Man könnte paradox formulieren: Authentischer Sinn »funktioniert« erst dann, wenn er eben nicht um seiner Funktion willen, sondern um seiner selbst willen

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gesucht und begriffen wird. Bereits authentische interpersonale Verhältnisse – Freundschaft, Liebe, wechselseitige Achtung und Anerkennung – gelingen nur so. Auch tragfähige moralische Lebens- und Praxisformen sind ihrem Wesen nach nur nichtinstrumentalistisch zu verstehen. Um so mehr gilt für ein Gottesverständnis, dass in seinem Zentrum nicht-funktionale Welt- und Selbstverständnisse stehen. Die Gottesperspektive hat es demgegenüber mit unerklärlichem und ungeschuldetem Sinn zu tun, mit der Wahrnehmung des Unerklärlichen, das Geschenkcharakter besitzt. Ein weiterer zu kritisierender Ansatz, Gott zu denken, denkt ihn in der Form einer Hypothese, einer Vermutung, einer Fiktion oder eines so genannten Postulats. Solche Ansätze konzentrieren sich in einer Religionsphilosophie des Alsob, die im Anschluss an Kant entwickelt wurde. Insbesondere in Verbindung mit einer Kritik an der Leistungsfähigkeit der Gottesbeweise – nach Kant können wir weder Gottes Existenz theoretisch beweisen, noch sie widerlegen – lässt sich die Gottesperspektive als eine Art lebensdienliche, hilfreiche Annahme verstehen. Auch ein augenzwinkernder Agnostizismus: »Ich probiere es doch einmal, schaden kann es ja nicht« wird von Manchen vertreten. Es gibt in der zeitgenössischen Religionsphilosophie sogar wahrscheinlichkeitstheoretische Ansätze, so den von Swinburne. Er gelangt bei seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass bei Würdigung aller bekannten Tatsachen hinsichtlich Schöpferkraft, Allmacht und Güte der Existenz Gottes eine Wahrscheinlichkeit von über 50 % zukommt. Das genügt, um definitiv an ihn zu glauben. Auch solche Denkweisen halte ich für tiefgreifend verfehlt. Ich kann als Christ nicht sagen: »Ich lebe so, als gäbe es Gott, seine Liebe und Gnade.« Oder als Moslem: »Ich vermute einmal, Allah sei der Allerbarmer.« Es ist demgegenüber eindeutig, dass wir es bei der wahrhaftigen Orientierung an Gott mit letzter Wirklichkeit zu tun haben, dass die konkret mit dieser Orientierung verbundenen Geltungsansprüche unbedingt sind und sich weder als Fiktionen noch als Hypothesen verstehen lassen. Und es ist auch ganz klar, dass eine philosophische Theologie es im Zentrum mit unserem Wirklichkeitsverständnis zu tun haben muss. Sie muss auf die Frage antworten, wie sich unsere Wirklichkeit letztlich begreifen lässt. Ebenso ist es verfehlt, der Rede von Gott einen nur praktischen, ethischen Sinn zu geben. Dies ist so rational wie verlockend. Können wir das Gottesverständnis auf vernünftige Praxis beziehen, dann können wir alles Übrige, Mythologie, Metaphysik, transzendente Illusionen eliminieren. Aufklärung, Vernunft und praktische Frömmigkeit wären vereinbar bis zur Identität. Offenbarungspositivismus, Exklusivansprüche einzelner Religionen, theologischer Dogmatismus und klerikale Herrschaft wären überwindbar. Es ist für unsere Thematik zentral, dass dieses Wunschkind westlicher Zivilisation und Säkularisierung, wenn es auch Wahrheitsmomente enthält, dennoch verfehlt ist.

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Vielmehr ist im Folgenden zu zeigen, dass eine grundlegende Differenz von philosophischer Theologie und praktischer Philosophie, von Gott und dem Guten, Gott und dem Gerechten, Gott und dem Glück besteht. Mehr noch: Erst, wenn diese Differenz wirklich präzise deutlich wird, tritt die genuine Ebene des Transzendenzbezugs, des Absoluten und einer spezifisch philosophisch-theologischen Dimension von Wahrheit und Geltung in den Blick. Denn der Kern religiöser Sprache besteht nicht in ethischen Forderungen, sondern in transethischen, das Sein betreffenden Kategorien, die die ethische Dimension aber freisetzen. Die Frage nach Gott hat es mit Grenze, Grund und Sinn unseres Seins und mit unserem Welt- und Selbstverständnis im Ganzen zu tun. Mit diesen sieben Schritten einer zeitgemäßen modernen negativen Theologie sind zunächst objektivistische, quasi-naturwissenschaftliche, subjektivistische, psychologische, relativistische, entfremdungstheoretische, funktionalistische, fiktionalistische und moralistische Zugänge zur Gottesfrage zurückgewiesen. Entscheidend ist, dass wir neben der Zurückweisung Vertreter dieser Verständnisse mit ihren Gründen und Motiven zugleich rekonstruieren und ihrerseits verstehen können sollten. Die zurückgewiesenen Auffassungen führen Wahrheitsaspekte mit sich, die in späteren Schritten im Hegelschen Sinne aufgehoben werden müssen, ohne dass man bei ihnen stehen bleibt. Es handelt sich um Partialaspekte. Um sie angemessen zu verstehen, benötigen wir eine philosophische Theologie, eine Theologie, die eine begründete Antwort auf die Frage nach Gott für die Gegenwart gibt.

2.

Philosophische Theologie II: Transzendenz

In der philosophischen Theologie muss eine völlige Drehung und Umkehrung funktionaler und instrumenteller Sichtweisen erfolgen. Eine Orientierung an Gott im authentischen Sinne kann auch weder als ein Fürwahrhalten absurder Tatsachen begriffen werden, noch als ein bloßes Vermuten, es könne ja vielleicht so sein. Eine solche Orientierung kann nur eine lebenstragende Grundgewissheit sein, ein sinneröffnendes und Hoffnung gewährendes Grundvertrauen. Die Tradition unterschied hier sehr präzise zwischen der Sicherheit, der securitas in weltlich-empirischen, und der gewissmachenden Grundgewissheit, der certitudo in existentiellen, personalen, geistlichen Dingen. Meine zentrale These lautet: An der Grenze der philosophischen Vernunfterkenntnis beginnt das Verstehen der Rede von Gott. Da, wie Hegel lehrt, eine Grenze zu denken, heißt, sie zu überschreiten, gelangen wir so zunächst zu einem Transzendenzverständnis inmitten der humanen Welt und ihrer Sinndimensionen. Dieses Transzendenzverständnis ist konstitutiv mit unseren Mög-

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lichkeiten des Transzendierens, des Überschreitens und somit auch des Vorgreifens auf Sinn verbunden.

2.1.

Die Transzendenz des Seins (der Welt) (Die ontologisch-kosmologische Transzendenz)

Ein erster, grundlegender Transzendenzaspekt, der sich uns bei solchem selbstreflexivem Transzendieren zeigen mag, ist die Existenz der Welt. Der Transzendenz-Aspekt ist keine Erfahrung, er kann sich nur an und in unseren alltäglichen Erfahrungen ›indirekt‹ zeigen – wenn man auf ihn überhaupt jemals aufmerksam wird. Dass die Welt überhaupt ist, dass es überhaupt etwas gibt und nicht nichts – das kann man nicht direkt erfahren und nicht als normale Tatsachenbehauptung mitteilen. Direkt erfahren und mitteilen kann man Erlebnisse und Tatsachen in der Welt. Die Ebene des Dass der Welt ist auch nur behelfsmäßig als »Ebene« zu bezeichnen. »Ebenen« im wörtlichen Sinne lassen sich räumlich lokalisieren und einander zuordnen. Die Ebene des Dass der Welt, ontologisch die des Seins des Seienden, übersteigt, überschreitet alle solchen Ebenen. Das Sein der Welt, das Dass des Seins, übersteigt und überschreitet unsere Erkenntnis und Erfahrung völlig und grundsätzlich. Dass die Welt ist, können wir weder erklären noch von irgendwelchen innerweltlichen Tatsachen ableiten. Wenn wir selbst auf diese definitive Grenze unserer Erkenntnis und unserer eigenen Existenz stoßen, erreichen wir mit der Sinngrenze auch einen Aspekt des realen, konkreten Sinngrundes unserer Welt und unserer selbst. Die Unerklärlichkeit des Seins – dass überhaupt etwas ist, die völlige Unverfügbarkeit, die transpragmatische, weder räumlich noch zeitlich zu begreifende Vorgängigkeit des Seins und mithin auch des Universums mit Milliarden Galaxien bildet einen Grund allen möglichen und allen wirklichen Sinns – faktisch und praktisch. Es gibt, anders gesagt, keine Immanenz ohne ontologisch-kosmologische Transzendenz. Die Struktur der Transzendenz lässt sich als einzigartiger Prozess explizieren. Die traditionelle theologische und religiöse Sprache verwendet daher in unserem Zusammenhang aus guten Gründen den Begriff der Schöpfung. Unserer Analyse entspricht es, wenn nicht nur von einer Schöpfung aus Nichts (creatio ex nihilo) die Rede ist, sondern ebenso von einer permanenten Schöpfung (creatio continua). Denn so wird das authentische Wunder nicht auf irreführende Weise verortet, verräumlicht oder verzeitlicht. Es zeigt sich die konstitutive Verbindung von (absoluter) Unerklärlichkeit, Unerkennbarkeit (Negativität) und Sinn: Denn alle Ausmalungen des Schöpfungsvorgangs in realistischen Bildern oder auch in szientifischen Modellen (Urknall) unterlaufen auf simplifizierende, naive, in-

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nerweltlich-innerseiende Weise den völlig unerklärlichen ontologisch-kosmologischen Transzendenzprozess. Transzendenz ist mithin nicht als ein abstraktes Jenseits im Himmel begreifbar, sondern als ein wahrhaft kreativer Prozess des Hervorgangs der unendlich komplexen und differenzierten Wirklichkeit allen Seins ›aus Nichts‹. Die Rede von der Schöpfung als einzigartigem Wunder und andauerndem Prozess – »Gott sah, dass es gut war« – ist eine diesem Aspekt absoluter Transzendenz gerecht werdende Vergegenwärtigungsweise. Bereits am Aufweis dieses Transzendenzaspektes wird im übrigen sichtbar, wie reduktionistisch, um nicht zu sagen beschränkt, funktionale oder entfremdungstheoretische Religionsphilosophien oder Transzendenzverständnisse sind. Dass Seiendes ist, das hat keine noch irgend von uns zu eruierende ›Funktion‹, dass die Welt überhaupt geworden ist und ständig wird, entspringt wohl kaum unseren Entfremdungserfahrungen oder illusionären Projektionen. Kurz: ein Wunder im strengen Sinne ist schlechterdings nicht erklärbar und hat überhaupt keine Funktion. Der Begriff des authentischen Wunders lässt sich zwar in Beziehung zu bestimmten religiösen Sinntraditionen und auch zu existentiellen Erfahrungen des Einzelnen setzen. Der philosophisch-sinnexplikative Status des Begriffs hat aber zunächst negativ-sinnkriteriale Bedeutung im Kontext einer erkenntniskritischen Analyse der absoluten Grenze unseres Erkennens und Erklärens, einer Analyse mit Wahrheits- und Geltungsanspruch. Wir können hier vom unsagbaren Geheimnis der Wirklichkeit erkenntniskritisch begründet sprechen und negativ-sinnkriterial den unausschöpflichen, unabschließbaren Charakter der Wirklichkeitserfahrung in jedem Augenblick mit Wahrheits- und Geltungsanspruch aufweisen. Dass diese Dimension in existentiellen Erfahrungen, in personalen Beziehungen, in Erfahrungen des Erhabenen in der Natur, in meditativer Praxis auf besondere, intensive Weise aufleuchtet, zugänglich wird und gestaltet werden kann, das zeigt nur, dass Transzendenz vorgängig ist und stets augenblicklich neu eröffnet wird, wenn man nur auf sie aufmerksam wird. Die Verstellung und Verdeckung authentischer Transzendenz durch eigene menschliche Gerätschaften und Vorrichtungen ist ein Thema, auf das ich hier nicht eingehen kann. Es sind aber keine exzeptionellen Sondererfahrungen, in denen absolute Transzendenz der erläuterten Art gründet oder gar besteht. Vielmehr sind die Transzendenz-Aspekte des Seins der Wirklichkeit ganz fundamentale Züge all unserer Welterfahrung und der Alltäglichkeit unseres Lebens, die aufgrund ihrer übergroßen Nähe und Selbstverständlichkeit in diesem oft verdeckt und verborgen bleiben.

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2.2.

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Die Transzendenz der Sprache (des Logos)

Die Sprache ermöglicht unsere Sinngrenzreflexion und ineins die Sinngrunderkenntnis. Dass – und wie – wir sprechen können, ist eine unerklärliche, uns vorgängige Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit unserer humanen Welt. Dass wir Sätze verwenden können, wahre Behauptungen treffen und bestreiten, Urteile über gut und böse, schön und hässlich fällen können, das ist eine uns und unsere Welt einschließlich unserer Vernunft und Selbsterkenntnis real ermöglichende Dimension, die wir nicht erklären oder von anderem ableiten können, ohne sie selbst schon verwenden und in Anspruch nehmen zu müssen. Gleichwohl ist das Wunder der Sprache und der sprachlichen Erschlossenheit der Welt wiederum nichts außergewöhnlich oder übernatürlich Mysteriöses, sondern ebenso alltäglich, jedermann bekannt, universal zugänglich wie auch die Transzendenz des Seins und aller Wirklichkeit. Den Hervorgang der Sinnbedingungen unserer Welt konnten wir bereits als kreativen Prozess charakterisieren. Der Prozess führte inmitten der materiellen Endlichkeit zur Entstehung des Lebens, des menschlichen Selbstbewusstseins und der Sprache. Das heißt: das kreative Transzendieren und seine realen Möglichkeiten setzten sich in die menschliche, kreative Entwurfspraxis hinein fort. Die uns real ermöglichende Transzendenz des Seins und der sich prozessual auf einzigartige Weise ereignende Weltprozess führen zum Hervorgang sprachund handlungsfähiger Wesen, der Menschen. Zur prozessualen Transzendenz des Seins und der Existenz der Welt tritt der Transzendenzaspekt des Logos. Ohne die reale Möglichkeit, ganze Sätze in ganzen, als Einheit vorverstandenen Lebenssituationen zu formulieren und zu begreifen, ohne die reale Möglichkeit, Behauptungen aufzustellen, zu begründen und nach wahr oder falsch zu beurteilen, wäre unsere humane Existenz undenkbar. Weder ein Sinn von Sein noch eine humane Welt wäre ohne kommunikative Selbsttranszendenz auch nur möglich. Wie bereits die Analyse der ontologischkosmologischen Transzendenz, so erschöpft sich auch die Analyse der Transzendenz der Sprache nicht in der Unerklärlichkeit ihrer Existenz, sondern sie setzt sich fort in der uns und unsere gesamte Weltwirklichkeit auch mit ermöglichenden, permanenten Sinneröffnung. Auch das Wunder der Transzendenz der Sprache mit all ihren Sinneröffnungspotentialen ist in der Alltäglichkeit verborgen, anwesend-abwesend. Die Verdeckung und Verstellung der Transzendenz geschieht in den vielen Formen des Missbrauchs der Sprache, die als Täuschung und Lüge durch sie mit ermöglicht sind. Wir benötigen zur Freilegung des sprachlichen Transzendenzaspekts keine Mythisierung oder Idealisierung. Wohl jedoch müssen depotenzierende, unterbestimmte, reduktionistische, formalistische Verständnisse kritisch als par-

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tial erkennbar werden. Dann wird einsichtig, dass die Sprache zum nicht objektivierbaren Sinngrund unseres gesamten Seins gehört, zu den transpragmatischen Sinnbedingungen unserer Existenz.

2.3.

Die anthropologisch-praktische Transzendenz (Existentiell-interexistentielle Transzendenz)

Wir sind Sinn entwerfende und Sinn antizipierende Wesen. Es sind kommunikative Lebensformen, die auch unser praktisches Selbstverhältnis konstituieren und formen: einem Anderen zuhören, jemandem helfen, sich miteinander beraten, an jemanden denken, auf jemanden warten, jemandem etwas beibringen, Freundschaft und Liebe. Kommunikative praktische Lebensformen sind durch Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauen, gegenseitige Hilfe und die Bemühung um Klarheit und Verständlichkeit möglich – die Verfehlungen und defizienten Modi werden so mit ermöglicht. Um uns zu den Transzendenz-Aspekten unseres Lebens bewusst zu verhalten, ist ein vertieftes Verständnis von Transzendenz und ihrer Bedeutung für die Sinnkonstitution unverzichtbar, – ein Verständnis, welches traditionell in der religiösen Erziehung vermittelt werden soll, das aber auch für jede Form eines Lebens in konkreter Sittlichkeit und in moralischer Verantwortung nötig ist. Sobald wir zu uns selbst werden – in kommunikativer Praxis –, stellt sich die Frage nach einem grundsätzlichen Selbst- und Weltverständnis und nach der selbst verantworteten Lebensführung. Es wird – mehr oder weniger explizit – bewusst, dass nur ich meine Handlungen tun kann, dass mir letztlich niemand meine Entscheidungen abnehmen kann, dass ich, anders gesagt, unbedingt selbst verantwortlich bin. Zu den transpragmatischen, auch transethischen Sinnbedingungen unseres Lebens gehört, dass wir dessen singuläre Totalität nicht als ganze vergegenständlichen, »erkennen« oder gar in aller Tiefe seiner wenig oder kaum bewussten Schichten durchschauen können. Nur von unserer zeitlich-endlichdiskursiven, je gegenwärtigen Lebenspraxis aus, die wir von der antizipierten Zukunft her verstehen, können wir Aspekte unseres bisherigen Lebens erinnern, thematisieren, reflektieren und beurteilen. Unsere praktische Selbsterkenntnis ist endlich und begrenzt wie unsere empirischen und theoretischen Erkenntnismöglichkeiten. Es ist gerade diese pragmatische, konstitutive Nichtobjektivierbarkeit, die unsere personale Integrität und die Perspektive autonomen Transzendierens eröffnet und ermöglicht. Solange wir leben, sind wir augenblicklich noch im Entwurf einer konkreten Lebenssinngestalt begriffen, die aus nichts Vergangenem kausal determiniert gedacht oder abgeleitet werden kann. Selbsterkenntnis im praktischen Sinne, auch wenn sie Erfahrungen des Versa-

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gens, des Scheiterns und des Bösen aus der Vergangenheit einbezieht, steht in dieser offenen, nicht objektivierbaren Dimension. Unsere praktische Möglichkeit der Selbsttranszendenz beruht somit auf der Unerkennbarkeit unserer selbst bzw. unseres Wesens in einem objektivistischen, abschließbaren Sinne. Die Transzendenz unserer selbst und unserer eigenen Existenz erschließt uns die Potentiale ekstatischen Transzendierens unserer Selbst- und Situationsverständnisse. Existentielle Transzendenz als Sinngrenze allen Erkennens bildet den Sinngrund personaler Freiheit und Würde. Der Sinngrund selbst ist nur negativ zu erfassen. Die Unableitbarkeit und Uneinholbarkeit der existentiellen Transzendenz lässt sich aber im Kontext interexistentieller Transzendenz in ihrer wirklichen Tragweite angemessen analysieren und begreifen. So wie wir uns selbst nicht objektivieren können, so ist uns auch der Andere nicht verfügbar und kann uns gerade so in seiner eigenen personalen Würde begegnen. Wir stoßen mit diesen Analysen auf die sinnkonstitutiven Grenzen unserer Existenz und des Mitseins mit Anderen. Sie ermöglichen die unbedingte Achtung und Anerkennung der Mitmenschen als Personen mit irreduzibler Würde ebenso wie ein authentisches Selbstverhältnis in Freiheit und als Freiheit. Die transpragmatische und transethische Dimension der Nichtobjektivierbarkeit, der Unverfügbarkeit und Entzogenheit gründet und trägt personale und moralische Verhältnisse. Die Rede von der »Unantastbarkeit« des Menschen in seiner Würde artikuliert diesen Transzendenzaspekt. Die praktische Anerkennung der existentiellen und interexistentiellen Transzendenz als der unbedingten Grenze und den Grund unseres eigenen Transzendierens eröffnet erst die nahe, reale Möglichkeit eines freien, verantwortlichen und moralischen Selbstverständnisses. Transzendenz in der Immanenz bedeutet nicht, dass Transzendenz in Immanenz aufginge oder verschwände, auf sie reduziert oder von ihr abgeleitet werden könnte. Vielmehr ist Immanenz in ihrer Tiefendimension nur aus der Transzendenz zu begreifen. Transzendenz als bloß abstraktes Jenseits wird der Realität des Transzendenzgeschehens in unserem Leben ebensowenig gerecht wie ein Lebensverständnis, das um das Wunder des unableitbaren, dennoch wirklichen Sinns des Seins der Welt, der Sprache und des eigenen Lebens gebracht würde.

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3.

Philosophische Theologie III: Die absolute Transzendenz und die Existenz Gottes und der Status des Wortes »Gott«

Dennoch ist der Aufweis der Transzendenz-Aspekte mitsamt ihrer dynamischprozessualen Struktur der Sinneröffnung, die auf Zukunft, Erfüllungsperspektiven und einen Horizont authentischen, integren Menschseins in der Wirklichkeit weisen, nur der erste Schritt der Sinnexplikation einer philosophischen Theologie. Diese Theologie kann nicht, wie dogmatische Theologien einzelner Religionen, schon von Gott und seiner Offenbarung ausgehen. Entscheidend für die Explikation und Entfaltung einer genuin systematischen theologischen Perspektive ist im Blick auf die aufgezeigten Transzendenz-Aspekte die Einsicht in ihre Gleichursprünglichkeit. Diese führt zur Perspektive einer Einheit, genauer : der Einzigartigkeit des Seins des Sinnes. Der Artikulation dieser Perspektive dient die Rede von Gott, der Orientierung an dieser Perspektive dient der praktische Lebensbezug zu Gott. Dieser Zugang wird möglich, wenn wir uns die Gleichursprünglichkeit der bisher explizierten Aspekte der Transzendenz vergegenwärtigen. Die unerklärliche, unfassbare, aber sich ständig realisierende Transzendenz des Seins, der Welt, der Sprache und unserer eigenen Existenz mitsamt ihrem prozesshaften Hervorgang und ihrer Gegenwart bildet eine für uns zwar intern differenzierbare und auch differenzierungsbedürftige, aber völlig untrennbare Einheit, die wir keinesfalls summativ oder additiv begreifen oder depotenzieren können. Die Gleichursprünglichkeit der bisher aufgezeigten Aspekte der Transzendenz erweist sich in der vorgängigen Einheit jeder Lebenssituation und jedes praktischen Sinnentwurfs, in denen die Aspekte zusammenspielen und so konkreten Sinn überhaupt erst ermöglichen. Die Einheit ihres Zusammenspiels ermöglicht so unsere eigenen Sinnentwürfe, den Entwurf eines leitenden Selbstverständnisses und einer praktischen, existentiellen Sicht des ganzen Lebens. Das Sein der Welt, die Dimension sprachlichen Sinns und unser eigenes, aus dem Transzendenzprozess auf unbegreifliche Weise hervorgegangenes Sein und Selbstverständnis bilden eine unvordenkliche Einheit, die sich in jeder Lebenssituation zeigt und die unsere endliche, freie und vernünftige Praxis ermöglicht. Diese Einheit wurde traditionell ontologisch, metaphysisch, mystisch, transzendental- und bewusstseinsphilosophisch auf metasprachliche Weise zu artikulieren versucht. Mit Wittgenstein (und wohl auch Heidegger) können wir sagen, dass sich diese Einheit eigentlich auf unsagbare Weise zeigt. Es lässt sich jedoch in praktischer Perspektive aufweisen, dass wir uns durch die Horizontbildung und die antizipierenden Sinnentwürfe als auf Einheit bezogene, auf Einheit angewiesene Lebewesen verstehen und verstehen müssen.

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Wir sind Lebewesen singulärer Totalität, einmaliger Ganzheit. Unser je individuelles Leben ist eine einmalige Ganzheit. Aber diese Ganzheit ist kein statischer, räumlich zu objektivierender »Käfig« der Identität, sondern ein dynamischer Prozess des Werdens zu sich selbst, der selbst in jeder Situation weit über sich hinausweist in die Welt und in die kommunikative gemeinsame Praxis. Die ursprüngliche und vorgängige Einheit dieser sinneröffnenden Transzendenz nannte die Tradition das Eine, das Absolute oder Gott. Es wird verständlich, dass Gott als namenloser Grund allen Seins sowohl negativ-theologisch in der Perspektive der absoluten Unerkennbarkeit und eher dem Nichts angenähert gedacht, andererseits mit maximalistischen Hyperformeln zu erfassen versucht wurde. Philosophische Theologie kann diese traditionellen Versuche aufgreifen und in der Perspektive der sinnkritischen Grenzreflexion durchaus mit Vernunftanspruch reformulieren. Die sinnexplikative Analyse philosophischer Theologie kann auf dem Hintergrund des bisher Ausgeführten den Status des Wortes »Gott« genauer bestimmen und so auch zur Klärung der Grammatik der Rede von Gott beitragen. Die außergewöhnliche Grammatik des Wortes »Gott« wurde immer wieder zu erfassen versucht. Ersichtlich handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Prädikat wie »groß«, »mächtig« oder »Liebe« – allerdings werden Gott solche Eigenschaften zu- oder abgesprochen (»unsichtbar«, »allgegenwärtig«). Gleichwohl werden mit dem Wort »Gott« Unterscheidungen getroffen. So ist Gott nicht die Welt oder ein Teil der Welt, kein »Gegenstand« der Erfahrung. »Gott« ist aber auch kein gewöhnlicher Eigenname wie »Peter« oder »Paul«. Das Wort bezeichnet kein Individuum im üblichen, innerweltlichen Sinne. Wenn wir KernSätze religiöser Rede betrachten, die im Zentrum von Bekenntnissen stehen, zum Beispiel: »Ich glaube an Gott, den Schöpfer der Welt« und »Ich glaube, dass Gott Schuld vergibt«, dann wird deutlich, dass Gott als handelndes Subjekt vorgestellt wird, dem die Eigenschaften der Allmacht und der Liebe zukommen. Andererseits sind die bildlichen Vorstellungen anthropomorpher Art – Gott »sieht«, »spricht«, »handelt«, »liebt« – stets dann missverständlich, wenn wir solche Ausdrucksformen zu eigentlichen und realistischen Vorstellungen etwa von einem großen Menschen verselbständigen. Der praktische Geltungssinn der Ausdrucksformen ist dennoch sinnvoll und vernünftig verstehbar. So bedeutet »Gott sieht alles« zum Beispiel: Ich bin stets unbedingt verantwortlich, mein ganzes Leben steht im Horizont von Vernunft und Freiheit, nur so kann ich ein authentisches Selbstverständnis entwickeln und zu mir selbst werden. Aber, wie schon Wittgenstein bemerkt, sind konkrete Vorstellungen von den »Augen« Gottes oder gar seinen »Augenbrauen« abwegig und irreführend. Das darf weder zur Abwertung kindlichen Glaubens in seiner genuinen Au-

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thentizität noch zur hochmütigen Diskreditierung naiver Frömmigkeitsformen führen, die beide gelungenere Lebensformen sein können als verbreitete Formen eines »aufgeklärten« Materialismus und Zynismus. Dennoch muss der philosophische Anspruch dahin gehen, die Rede von Gott so zu verstehen, dass wir auch die Wirklichkeit Gottes, die Dimension seines schöpferischen Wirkens, seines Handelns, und die Einzigkeit Gottes denken und explizieren können. Dies wird möglich, wenn wir das Wort »Gott« selbst als einzigartiges Wort verstehen – als eigene Wortart mit nur einem Wort, das wie ein Name für den Grund des sinnerschließenden, sinneröffnenden Transzendenzgeschehens steht. Damit ist verbunden, dass über die Grenze des Dass der Welt (des Seins des Seienden), des gleichursprünglichen Dass des Seins des Sinns der Sprache und des unerklärlichen Dass unserer eigenen, konkreten Existenz hinaus nichts gedacht werden kann. Alles jedoch, was wir sind und erfahren, ist nur möglich und wirklich in, mit und durch das einzigartige, vorgängige, prozessuale Transzendenzgeschehen, welches uns Vernunft und Freiheit, Wahrheit und Gutes eröffnet. Diese Stiftung, Eröffnung und Schöpfung aber, dieser Hervorgang ist real und konkret. Die Transzendenzdimension erschließt die innere Unendlichkeit der Wirklichkeit, sie ermöglicht unser eigenes Transzendieren – auf selbst unfassbare, unerklärliche Weise, denn alles Fassbare und alles Erklärliche wird durch sie erst möglich. Auf diese Weise wird deutlich: Der einzigartige Name »Gott« bezieht sich auf das unfassbare, authentische Wunder des Seins und des Seins des Sinns, welches den Ursprung des gesamten Universums ebenso einbegreift wie jeden konkreten, gelebten Augenblick in unseren je einzigartigen Lebensvollzügen. Philosophische, kritisch-hermeneutische und sinnexplikative Theologie kann bis zu dieser einzigartigen Seins-, Sinn- und Schöpfungsdimension vorstoßen, von der wir, recht verstanden, in jedem Augenblick leben: Im Atmen und Fühlen, im Sehen und Hören, in den Erfahrungen der Erfüllung und Versagung, in den Modi kommunikativer Hilfe und wechselseitiger Anerkennung, in den Möglichkeiten des Denkens. Gott darf nicht mit unseren Vorstellungen, Gedanken, Erfahrungen identifiziert werden, die allesamt den absoluten Sinngrund schon voraussetzen. Deswegen ist auch die Rede von der Abwesenheit Gottes sehr berechtigt und sinnvoll. Wenn Menschen in ihrer durch Gott ermöglichten Praxis die Orientierung an Vernunft und Freiheit, an Wahrheit und Liebe verlieren oder bewusst in Lüge, Hass und Mord pervertieren, dann büßen sie die von Gott gegebene Sinnperspektive ein. Das böse Handeln ist bereits selbst die Strafe. Es ist identisch mit der Ferne Gottes für diejenigen, die den unbedingten Sinn ihres Seins verderben. Indem wir »Gott« als Eigennamen des einzigartigen Dass des Seins des Sinns explizieren, können wir neben den negativ-theologischen Explikationstraditionen auch die Eminenztraditionen in ihrer Berechtigung verstehen. Insbe-

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sondere die Überstiegs- und Hyperformeln des Neuplatonismus artikulieren ja die erkenntniskritische Einsicht in die Grenze unseres Erkennens, die wir als Grenze und ineins als sinnermöglichenden, sinneröffnenden Grund unserer Welt, unserer Existenz und unserer eigenen Entwürfe expliziert haben. Auch die traditionellen theologischen Feststellungen über Analogien lassen sich sinnvoll verstehen. Gott ist »wie ein guter Vater« – ohne die uns real ermöglichenden Sinnbedingungen und ihre noch jetzt wirksame Macht wären wir gar nicht. Gott ist »wie das Licht« – der Grund, das Dass des Sinns des Seins ist selbst nicht sichtbar, aber alles wird sichtbar, erkennbar, wahrnehmbar, erfahrbar und kommunizierbar durch ihn, durch den sinneröffnenden Transzendenzprozess. Begreifen wir als wirklich nicht krude Gegenständlichkeit: Steine, Atome, Dinge, szientifisch reduzierte Quantitäten, sondern begreifen wir das Wirkliche als die konkrete Lebenswirklichkeit, in der Menschen im höchsten Maße vernünftige, freie, Sinn erfahrende und entwerfende Wesen sind und sein können, dann ist uns Gott nirgends näher als in authentischer existentieller und interexistentieller Praxis: wenn wir uns selbst transzendieren in Richtung auf authentische Sinnund Geltungsansprüche in der gemeinsamen Wahrheitssuche, in Richtung auf Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Solidarität auch mit schwachen und hilfsbedürftigen Mitmenschen. Die uns mit diesen Richtungen erschlossene konkrete Lebenswirklichkeit lässt sich mit guten Gründen als die wahre, eigentliche Wirklichkeit bezeichnen, und somit Gott als ens realissimum. Jede Hoffnung, jeder Satz und jede Bewegung – noch in der bösesten Absicht – lebt von dem sie tragenden, schon vorgängig erschlossenen Sein und Sinn der Welt, der Existenz und der Sprache und von der Antizipation des Gelingens und der Erfüllung. Haben wir die Sinneröffnung durch absolute Transzendenz erkannt – die transpragmatischen, transethischen und transrationalen Sinnbedingungen, die in ihrer einzigartigen Gleichursprünglichkeit unser eigenes Sein hervorgehen ließen und es in jedem Augenblick neu ermöglichen – dann haben wir uns selbst in unseren wesentlichen Möglichkeiten erkannt. Somit ist auch die christliche Lehre von dem Menschen als Bild Gottes auf diesem Hintergrund neu und vernünftig verstehbar. Der sinnkonstitutive, einzigartige Transzendenzprozess reicht bis in die leiblich-sinnliche Konkretion menschlicher Existenz in ihrer Leidbedrohtheit, in die Wirklichkeit der Angst und der Sterblichkeit. Das entwickelte Gottesverständnis ist universalistisch. Es bezieht die Entstehung und Entwicklung des gesamten Universums ebenso ein wie die Entstehung und Geschichte der Erde, der Menschheit und jedes einzelnen Menschen. Gott ist ein Gott aller Menschen – er ist in absoluter Transzendenz völlig unverfügbar. Gott lässt sich so als Grund der Wirklichkeit authentischer Interpersonalität begreifen. Dieser Grund bleibt selbst unverfügbar, eröffnet und erschließt je konkret den Horizont freier und vernünftiger Praxis und so einen praktischen zukünftigen Sinnhorizont, aus dem her wir unsere gegenwärtigen konkreten Lebens-

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situationen verstehen und gestalten können. Da die Wirklichkeit Gottes als absoluter Transzendenz inmitten der Immanenz im erläuterten Sinne alle konkrete Wirklichkeit hervorgehen lässt und trägt, da nicht wir diese Wirklichkeit geschaffen haben, sondern da wir uns, recht verstanden, dieser Wirklichkeit mit allem was wir haben und sind, verdanken, können alle Aspekte unserer Welt, unserer Existenz und unserer Praxis zu Paradigmen der Transzendenz werden. Religion und Theologie können wir auf diesem Hintergrund als Aufklärung über Transzendenz bzw. als Aufklärung über sinnkonstitutive Unverfügbarkeit definieren, insbesondere als praktische Einübung in angemessenes, sinnvolles Verhalten gegenüber bzw. angesichts absoluter Transzendenz. Der afunktionale Sinn des Heiligen lässt sich aus der Sicht philosophischer Theologie in seiner Tiefenrationalität begreifen und, wo dies nötig ist, rehabilitieren. Gerade weil kein funktionales, subjektiv oder objektiv vergegenständlichendes Verhältnis zu Gott, zum Absoluten, zur gleichursprünglichen Transzendenz möglich ist, sind diejenigen kulturellen Formen im Recht, die diese absolute Entzogenheit und Unverfügbarkeit bewusst machen und bewusst halten. Die Dimension absoluter, sinneröffnender Transzendenz ist kein Bereich der Beliebigkeit, sondern ein umfassender und grundlegender Bereich mit genuinen Geltungskriterien, eine Dimension, die sich allen eröffnet, die niemandem gehört und die niemand für sich funktionalisieren kann und darf. An der Grenze philosophischer Vernunfterkenntnis, die bis zur Entfaltung einer Theologie der Transzendenz in der Immanenz – auch und gerade im Blick auf ihre lebensermöglichende und lebenssinnkonstitutive Wirklichkeit und Wirksamkeit – reicht, beginnt das Verstehen und Begreifen der Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit der großen monotheistischen Weltreligionen und ihres authentischen, irreduziblen Wahrheitsgehaltes wie auch ihrer ideologischen und pervertierten Formen. Säkularisierung, westliche Moderne und technisch-wissenschaftliche Zivilisation sind solange sinnvoll, wie sie authentische religiöse Lebensformen freisetzen und nicht versuchen, sich auf illusionäre und ideologische Weise an ihre Stelle zu setzen. So können sich die gleichermaßen komplexen wie unverzichtbaren Traditionen des Verstandes, der Vernunft und der religiösen Tiefenaufklärung und Verkündigung erneut produktiv ergänzen. Die Dialektik von Vernunft und Transzendenz gehört zur Vernunft selbst und darf nicht in eine künstliche, dualistische Entzweiung von bloß säkularer Rationalität und bloß fundamentalistisch, fideistisch oder kirchenmystisch zugänglicher Offenbarung aufgespalten werden. Wo das produktive Ergänzungsverhältnis von religiöser und profaner Vernunftperspektive einseitig aufgelöst wird, muss es neu entwickelt und mit Leben erfüllt werden – auch durch wechselseitige Kritik.

Raffll Fornet-Betancourt (Bremen)

Interkulturalität und Religion. Zur interkulturellen Interpretation der Krise des Christentums in Europa

1.

Einleitende Bemerkungen

Aus der Sicht der interkulturellen Philosophie soll ich heute Abend über die Krise der Religion, genauer, über die gegenwärtige Krise des Christentums in Europa reden. Aber worüber redet man eigentlich, wenn man über die Krise der Religion in Europa redet? Was heißt hier Religion? Was heißt da Europa? Und was soll der Hinweis darauf bedeuten, dass hier aus der Sicht der interkulturellen Philosophie darüber gesprochen werden soll? Die Beantwortung dieser Fragen würde allerdings je einen eigenen Vortrag beanspruchen. Wenn ich also zum Thema des heutigen Vortrags kommen will, muss ich sie hier als offene Fragen stehen lassen. Einen Hinweis auf die Perspektive, von der ich aus den Versuch der Beantwortung unternehmen würde, möchte ich dennoch geben, und zwar als Hinweis auf die Grundvoraussetzungen der noch folgenden Überlegungen. Mit Blick auf die Geschichte der religiösen Erfahrungen der Menschheit wird vorausgesetzt, dass Religion mit jenen letzten Dingen zu tun hat, die Menschen dazu bewegen, als Suchende zum letzten Sinn hin unterwegs zu bleiben. Religion – so die Voraussetzung – wäre demnach konstitutiv für den Prozess der Subjektwerdung eines sinnvollen Lebenslaufs. Stimmt diese Annahme, so wäre davon auszugehen, dass, wer von der Krise der Religion spricht, von einer Krise spricht, die – wenn man mir den Ausdruck gestattet – uns nicht »kalt lassen« kann. Denn es geht doch nicht um eine Krise, die sich »irgendwo da draußen« abspielt, sondern um eine Krise, deren eigentlicher Austragungsort wir selber sind, als Personen, als Welt, als Geschichte. Eine Konstellation des Menschlichen, eine Gestalt der Welt und ein Geschichtshorizont werden kritisch, wenn die Krise der Religion festgestellt wird. Das gilt meiner Meinung nach in ganz besonderer Weise für das Christentum, das ja von Anfang an welt- und kulturgestaltend gewirkt hat. Daher erklärt sich übrigens die Tragweite der Debatte um die Konsequenzen der Krise des Chris-

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tentums für die zukünftige Bestimmung der geistigen Verortung Europas in der Welt. Ich werde weiter voraussetzen, dass die Krise des Christentums, gerade weil es – wie eben angedeutet – eine Religion ist, die sich als weltgestaltende Kraft entwickelt hat, eine Krise darstellt, die von ihren »Rändern« her betrachtet werden muss, also nicht isoliert werden darf, als wäre sie allein die Krise einer weltlosen Spiritualität. Dazu aber später. Zu den Grundvoraussetzungen des heutigen Vortrags gehört schließlich die Annahme, dass die Krise des Christentums heute in Europa eine Entwicklung darstellt, die sehr viel mit der Art und Weise zu tun hat, wie in der europäischen Geistesgeschichte das Verhältnis zwischen Philosophie und Religion bzw. zwischen Glaube und Wissen verstanden und der Prozess der Säkularisierung gedeutet und institutionalisiert worden ist. Diese Annahme geht, wie man ahnen kann, ihrerseits auf eine interkulturelle Sicht zurück, die die Grundperspektive für die Betrachtung des Themas des heutigen Vortrags bildet und zu der hier nur ein knapper Hinweis gegeben werden kann. Für unsere Frage besagt diese Grundperspektive, dass die europäische Erfahrung der Trennung zwischen Philosophie und Religion mit den Erfahrungen jener anderen Kulturtraditionen konfrontiert wird, die diese Trennung nicht vollziehen bzw. anders damit umgehen, da sie vielmehr von der organischen Beziehung beider Bereiche ausgehen.

2.

Zur Interpretation der Krise des Christentums

Die Krise des Christentums – wie ich bereits sagte – muss von ihren »Rändern« her betrachtet werden, da es ja eine Religion ist, die es verstanden hat, Welt- und Menschenbild zu verändern. Für meine Darlegung folgt nun daraus, dass ich die Krise des Christentums in Europa heute als Krise in drei zentralen Bereichen (»Ränder«) der europäischen Entwicklung deute: Welt, Vernunft und Subjektivität.

2.1.

Die Krise der Welt

Dass die Krise des europäischen Christentums eine »Krise der Welt« ist, meint allerdings nicht nur die Krise jener »weltlichen« Bereiche, die man seine natürlichen Einflusszonen nennen kann, wie z. B. die kirchliche Institutionsform oder die christliche Gewerkschaftsbewegung. Denn die »Ränder«, die hier als Gestalt einer Welt gemeint sind, beziehen sich vor allem auf die Grenzen, an denen die Interaktion zwischen verschiedenen »Inkarnationen« des Christen-

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tums mit all jenen strukturellen und institutionellen Formen stattfindet, die seit der kapitalistisch geprägten mitteleuropäischen Moderne und der Ausweitung des Ansatzes der westlichen Wissenschaften und Technologien das neue Zentrum der Welt konfiguriert haben. Diese Entwicklung bedeutet aber mehr als eine Verschiebung der Mitte der Welt, denn sie markiert den Punkt der Entstehung der modernen Welt, die dazu bestimmt ist, sich in den neuen WeltZusammenhang zu verwandeln, in dem das Christentum seine Formen der Weltwerdung neu wird gestalten müssen. Sicher ist andererseits die Geschichte des Christentums von ihren Anfängen her eine Geschichte der Interaktion an den Grenzen, die sich genau mit seinem Auftauchen zwischen seinem Weltprojekt und der je etablierten Kulturkonstellation ergeben. Man denke z. B. an die Inkulturationen des Christentums in der griechischen Kultur oder im Bereich des römischen Imperiums. Aber das Entscheidende an den »Rändern« der Krise besteht genau darin, dass es eine Krise ist, in welcher der Prozess einer historischen Erfahrung ihren zumindest vorläufigen Höhepunkt zu erreichen scheint, die in der Geschichte des Christentums bis dahin unbekannt war und gerade mit der Moderne in der angesprochenen Version ihrer vorherrschenden Kultur beginnt. Es ist die Erfahrung, dass nicht das Christentum die Welt in die Krise stürzt, sondern im Gegenteil die Welt es ist, die das Christentum in die Krise stürzt, und zwar genau durch die Entwicklung eines Zivilisationsprojektes, das methodisch und systematisch die Verbannung des Christentums aus der Öffentlichkeit betreibt. In diesem Sinne, so kann man zusammenfassend festhalten, handelt es sich um eine Krise der Exkulturation. Die »Ränder« der Krise des Christentums in Westeuropa sind als Grenze zu sehen, an denen zwei Krisen aufeinandertreffen: Einerseits die Krise des Christentums in seiner eigenen Weltwerdung, d. h. die Krise seiner Inkulturation durch die Säkularisierung der von ihm geprägten Welt; und andererseits die Krise der neuen gesellschaftlichen Konstellation. Diese Ambivalenz in der gegenwärtigen Krise des Christentums in Westeuropa scheint mir umso wichtiger, als ihre Betrachtung verständlich macht, dass diese heutige Krise gleichwohl auch ein Ergebnis der christlichen Praxis ist. Nachdem das Christentum wegen der Exkulturation, der es in der entstehenden modernen Gesellschaft ausgesetzt ist, in einer Krise steckt, versucht es nämlich dieser Krise dadurch zu entkommen, dass es einen Ort in der neuen Ordnung sucht, und zwar durch eine modernisierende Reform.1 1 »Reform« wird allerdings hier weder in einem technischen Sinne gebraucht, noch auf das protestantische Christentum reduziert. Vielmehr soll damit lediglich die allgemeine Perspektive, die zum Versuch der Reinkulturation unter den Bedingungen der neuen soziokulturellen Konstellation führt, angezeigt werden. Zudem ist hier noch anzumerken, dass es –

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Und im Anschluss an die Interpretation Hegels könnte man sogar behaupten, dass diese »Reform« im Inneren des Geistes des Christentums das Kernstück ist, das die Entwicklung der geistigen Konstellation der »neuen Zeiten« beschleunigt. Sie ermöglicht doch den Durchbruch des Prinzips der sich ihrer freien Spiritualität bewussten Subjektivität.2 Gerade im Licht dieser Entwicklung erscheint die aktuelle Krise des Christentums zum großen Teil als Ergebnis der Konsequenzen, die sich aus der Haltung der Anpassung an die neue Zeit ergaben. Aber ich betone diesen Aspekt, weil es der Hintergrund ist, vor dem der Vorschlag verstanden werden soll, den ich hier mache: die gegenwärtige Krise des Christentums in Europa in den Blick zu nehmen, ohne sie von ihren »Rändern« zu isolieren. D. h. wir sollen sie deshalb als einen Bestandteil dessen betrachten, was hier Krise der Welt genannt wird. Denn falls die gegenwärtige Krise des Christentums in Europa – wie hier angenommen wird – auch aus den Folgen zu erklären ist, die seine Art, in dieser Welt gemäß der vorherrschenden Logik der Moderne Gestalt anzunehmen, zeitigte, dann muss anerkannt werden, dass es eine Krise ist, in der sich ebenfalls die Krise der Weltkonstellation widerspiegelt, in der es einen neuen Ort suchte. Mit diesem Interpretationsvorschlag will ich allerdings nicht andeuten, dass die gegenwärtige Krise des Christentums in Europa letztlich auf seinen Bemühungen beruht, auf die Herausforderungen der modernen Kultur zu antworten und so »auf der Höhe der neuen Zeiten« zu sein. Es geht vielmehr darum, den Horizont für das Aufwerfen folgender Frage zu skizzieren: ob in dem zweifellos notwendigen Dialog mit der Kultur der europäischen Moderne sich das Christentum in der Dynamik seiner Entwicklung als Religion nicht doch grundlegende Prinzipien der anthropologischen Revolution zu eigen gemacht hat, welche die besagte Kultur impliziert,3 und die daher Prinzipien sind, die seine Botschaft auf das Maß dieser konkreten menschlichen Typologie einebnen und somit in seinen Erfahrungsmöglichkeiten wesentlich einschränken. Gefragt werden soll also, ob sich das Christentum unter dem Druck, mit der europäischen Moderne einen Dialog zu führen, um sich dadurch in der neuen aufkommenden Hegemonie einen Platz zu sichern, in eine europäische bzw. eine

wie bekannt ist – zu dieser Zeit auch die restauratorische Antwort der »Gegenreform« gegeben hat. Davon sehe ich hier jedoch ab, weil mir in diesem Zusammenhang allein daran liegt, die modernisierenden Bemühungen hervorzuheben. 2 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm F.: »Die Reformation«, in: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Werke (Bd. 20). Hg. von Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1971, S. 49 ff. 3 Vgl. dazu Fornet-Betancourt, Raffll: »Zur philosophischen Kritik der Globalisierung«, in: ders. (Hg.): Kapitalistische Globalisierung und Befreiung. Frankfurt am Main 2000, S. 55 – 80; sowie die dort angegebene Literatur.

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eurozentrische Religion verwandelt hat, d. h. in eine Religion, die ihr eigenes interkulturelles und interreligiöses Erbe einengt. Mit anderen Worten: es ginge darum zu klären, ob sich in der gegenwärtigen Krise des Christentums nicht die Krise der zunehmenden Verengung, der Isolierung und des Kommunikationsmangels widerspiegelt, die für die Menschheit überhaupt die eurozentrische Konstellation der Welt bedeutet. Es geht, kurz gesagt, um die Frage nach den religiösen Kosten der eurozentrischen Fixierung des modernen Christentums. Und diese Frage, wie angedeutet, kann uns helfen, die Analyse der gegenwärtigen Krise des Christentums in Europa dadurch zu differenzieren, dass wir genau zu klären suchen, ob es sich um eine Krise religiöser Erschöpfung überhaupt oder eher der kulturellen Ausdrucksform handelt, für die es sich entschieden hat. Gerade aus dieser Perspektive heraus kann die interkulturelle Philosophie die gegenwärtige Krise des Christentums in Europa als ein Phänomen wahrnehmen, in dem sich die Krise seiner kategorialen Neuanpassung an die Rationalität der hegemonialen Moderne offenbart. Das führt uns aber zum nächsten Punkt.

2.2.

Krise der Vernunft

Mit »Krise der Vernunft« – dies sei vorweg gesagt – wird wohl eine Entwicklung angesprochen, die hier nicht näher analysiert werden kann, weil dies eine Rekonstruktion der Geschichte der Beziehungen zwischen Philosophie und Christentum erfordern würde.4 Ich muss mich hier auf das Wesentliche für unsere Frage beschränken. Zusammenfassend geht es um die Entwicklung der intellektualisierenden Rationalisierung des Christentums in dem Sinne eines Prozesses, der sich nach den Parametern der zur letzten Instanz erhöhten modernen Vernunft vollzieht. Dieser Prozess bewirkt unter anderem eine Verschiebung christlicher Traditionen bzw. der grundlegenden Bezugspunkte des Selbstverständnisses des Christentums genau in dem Maße, als er eine kategoriale Revolution darstellt, die durchgeführt wird, und vor dem »neuen Geist«, dem »modernen Zeitgeist« zu beweisen, dass Religion – zumal die christliche – keine Ausdrucksform »primitiver« Gesellschaften, »geschichtsloser« Völker oder »archaischer« Verbände ist, kurzum, kein vorwissenschaftliches bzw. prärationales Phänomen. Vor dem Hintergrund des neuen Paradigmas unternimmt das Christentum eine komplexe Aktivität theoretischer Neubegründung, die im Durchgang durch die Rationalisierung der Metaphysik schließlich in die Intellektualisierung des 4 Vgl. hierzu Verweyen, Hansjürgen: Philosophie und Theologie. Darmstadt 2005; und Bucher, Alexius J. (Hg.): Welche Philosophie braucht die Theologie? Regensburg 2002.

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Christentums selbst als Religion von Inhalten, die für die Vernunft »akzeptierbar« sind, ihren Höhepunkt erreicht. Mit dieser Entwicklung werden das symbolische Erbe sowie das Glaubenserbe des einfachen Volkes zu »überwindbaren Problemen«, die am Ende ausgegrenzt werden. Ein repräsentatives und einflussreiches Beispiel für diese Anstrengung der Intellektualisierung ist die Religionsphilosophie Hegels, die mir hier zur Veranschaulichung dieser Entwicklung dienen soll. Denn sie fungiert wohl als Orientierung, um den Kern dieses Prozesses zu konfigurieren, dessen letzte Konsequenzen wir heute in der gegenwärtigen Krise des Christentums in Europa spüren. Anders gesagt: es ist nicht so sehr Hegels Theorie des Christentums als vielmehr die Orientierung, die sie skizziert, um den Geist des Christentums in der Dialektik des Fortschritts der modernen Vernunft zu »inkarnieren«, was ich hier zu einem besseren Verständnis dieses Aspektes der gegenwärtigen Krise des Christentums in Europa in Erinnerung rufen will. Und welcher Art ist diese Orientierung? Meines Erachtens ist es die Perspektive, eine Wende in der Beziehung der Epoche zum Christentum zu begründen, indem dieses zu einer Religion gemacht wird, deren Notwendigkeit von der Philosophie entfaltet, und das heißt, erklärt werden kann und muss, insofern sie Wissenschaft der Vernunft ist.5 Bedenken wir zudem, dass Hegel diese Perspektive als Antwort auf die Herausforderung einer Epoche erschließt, die, wie er selbst betont, sich dadurch auszeichnet, »von allem und jedem, von einer unendlichen Menge von Gegenständen zu wissen, nur nichts von Gott«6, so kann man besser verstehen, dass Hegels Perspektive einer Antwort darauf ausgerichtet sein muss, die Erkenntnis Gottes und der Religion mit der Dynamik der wissenschaftlichen Erkenntnis wieder zu verbinden, deren Ausweitung die Notwendigkeit religiöser Erkenntnis geradezu auszulöschen scheint. Mit anderen Worten: Die Methode besteht darin, den Platz der Religion im rationalen Wissen aufzuweisen. So erklärt Hegel, weshalb die christliche Religion keine andere Wohnstätte haben kann als die moderne Vernunft. Das Element, in dem sich das Christentum wohl fühlt und wirklich zuhause ist, ist das rationale und das spekulative Element. Denn dieses, und kein anderes, ist das Medium, wo es diese freie Beziehung der reflexiven Subjektivität mit dem absoluten Geist entfalten kann, die das Wesen der christlichen Religion ist. Mit diesem Ansatz ist Hegel, trotz aller Kritik, eine Quelle für eine Grundeinstellung, die einen Prozess der Intellektualisierung des Christentums in Europa anregt, dem selbst seine Kritiker Tribut zollen. Dieser Prozess bahnt sich bis 5 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm F.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Werke (Bd. 16). Hg. von Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main. 1969, S. 14 ff. 6 Ebd., S. 42 ff.

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heute seinen Weg, indem er dem Christentum das Siegel einer aufgeklärten Religion aufdrückt, die als Religion kritischer und »erwachsener« Menschen, offensichtlich im Sinne der hegemonialen Moderne, die Religion ist, die sich »dem Zeitalter der Vernunft« der Gesellschaften mit wissenschaftlich-technischer Kultur anpasst. Aus der Sicht der interkulturellen Philosophie liegt hier der Grund dafür, dass in der Folge dieser Entwicklung das Christentum dem Geist seiner eigenen Katholizität widerspricht; ein Widerspruch, in dem sich auch zeigt, dass die Krise der Vernunft zu einer Krise der communio führt.

2.3.

Krise der Subjektivität

Wie ich bereits gesagt habe, versucht das Christentum, sich auf die Höhe der Moderne zu begeben, indem es sich von ihrem Horizont aus neubegründet. Dazu war es notwendig, dass sich das Christentum als eine Religion der Freiheit und der Autonomie für erwachsene Menschen definiert. Und gegen dieses Bemühen menschlicher Selbstbehauptung in der religiösen Erfahrung wäre selbstverständlich nichts einzuwenden, wenn nicht dabei ein Verständnis von Subjektivität vorausgesetzt wird, das im Anschluss an Descartes den Prozess der Subjektivierung auf das Ich als ein von aller Gesellschaft isoliertes Individuum ausrichtet, das aber gleichzeitig nach dem Anderen und der Welt hungert und auf sie angewiesen bleibt. Wenn es sie doch nicht »beherrscht«, wenn es von ihnen doch keine »Anerkennung« erhält, kann es nicht Herr seiner selbst (autonom) sein, was die Voraussetzung für die Herrschaft über Andere ist. Zurecht beschreibt Hegel dieses Ringen des Individuums um seine Anerkennung als einen Kampf auf Leben und Tod.7 Dieser knappe Hinweis auf die Konzeption der Subjektivität, die der metaphysischen Grundlegung der mitteleuropäischen Moderne in ihrer hegemonialen Fassung dienen wird8, mag an dieser Stelle genügen, um zu zeigen, dass durch die moderne Umorientierung auch eine anthropologische Wende im Christentum eingeleitet wird. Theorie und Praxis dieses modernen Christentums scheinen doch jene anthropologische Typologie der liberalen Moderne vorauszusetzen, die die Prozesse menschlicher Subjektwerdung ins Ich verlagert und als Ideal von Humanität den individuellen Kämpfer (»Unternehmer«) präsentiert, der sich dessen 7 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm F.: Phänomenologie des Geistes. Werke (Bd. 3). Hg. von Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1971, S. 113 ff. 8 Zur Rekonstruktion der Geschichte der modernen Subjektivität vgl. Fetz, Reto L. / Hagenbrüchle, Roland / Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität (2 Bde.). Berlin 1998.

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bewusst ist, dass er nicht »Geschöpf«, sondern Erfinder seines eigenen Wesens ist und sich als Zentrum der Selbstrechtfertigung projiziert. Dieses Projekt lässt sich auf der Ebene der anthropologischen Selbstinterpretation in jenem Menschentypus zusammenfassen, den Sartre als »nutzlose Leidenschaft«9 kritisiert und der sich in der Praxis der Beziehungen mit dem Kosmos und mit dem Nächsten in einem von Besitz, Macht und Herrschaft bestimmten Verhalten konkretisiert. Die Suche nach festem Grund und Sicherheit ist vorrangige Leidenschaft dieses individuellen Subjektes, das als Selbstentwurf aus dem Bewusstsein gesellschaftlicher und kosmischer Schutzlosigkeit wiedergeboren wird. Die Besessenheit von individueller Rechtfertigung drängt auf einer zweiten Ebene die Sorge um die Gerechtigkeit in den Hintergrund. Man steht hier tatsächlich vor einer Umkehrung der anthropologischen Typologie, die dazu führt, dass das Moment der ethischen Bekehrung vor dem Antlitz des Anderen (Levinas) zu einem Randphänomen bei den Konstitutionsprozessen von Subjektivität herabgesetzt wird. Das nenne ich »Krise der Subjektivität«, weil es – wie ich hier zusammenfassend festhalten darf – eine Krise in der Entwicklung eines Ideals christlicher Identität darstellt, das dessen Mitte in einer anthropologischen Konzeption hat, die das menschliche Wesen als egoistische Individualität versteht, und das deshalb nicht mehr vermag, die Gemeinschaft als Quelle humaner Subjektwerdung in den Blick zu nehmen. Aus der Sicht dieses Ideals wird Gemeinschaft vielmehr ein Problem.10 Und gerade deshalb – wie oben angedeutet – kann man diese Krise der Subjektivität eben auch als Krise der Gemeinschaft im Verständnis und in der Praxis des Subjektivitätsmodells bezeichnen, für das sich das Christentum im modernen Europa entschieden hat. Daher ist es meiner Meinung nach auch kein Zufall, dass gestern wie heute viele der Versuche einer Neuausrichtung des Christentums in dem Sinne, dass die Folgen der Internalisierung des individualistischen modernen Menschenbildes korrigiert werden, allesamt Versuche sind, die entschieden das Prinzip Gemeinschaft als Grundreferenz für die Entwicklung christlicher Subjektivität und Identität betonen. Beispiele für diese Versuche wären unter vielen anderen, die erwähnt werden könnten, das kommunitaristische Denken von Nikolai Berdiaeff, die Traditionslinie des personaldialogischen Denkens oder die Ent-

9 Sartre, Jean-Paul: L’Þtre et le n¦ant. Paris 1973, S. 708. 10 Zum Hintergrund dieser Überlegungen gehört natürlich der historische Übergangsprozess von der »Gemeinschaft« zur »Gesellschaft« im Rahmen der Modernisierung der europäischen Gesellschaft, auf den hier nicht eingegangen werden kann. Vgl. hierzu z. B. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin 1887; und für die jüngere Diskussion: Zürcher, Markus: Solidarität, Anerkennung und Gemeinschaft. Tübingen 1998.

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wicklung der »Comunidad-Theologie« in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Zum Schluss dieses zweiten Punktes des Vortrags fassen wir aber das Dargelegte zusammen. Im Wesentlichen gingen die Überlegungen dahin, die gegenwärtige Krise des Christentums in Europa im Sinne einer Krise darzustellen, die von ihren »Rändern« her verstanden werden soll. So sind drei Dimensionen, die mir für die Charakterisierung dieser Krise grundlegend erscheinen, hervorgehoben worden, nämlich Welt, Vernunft und Subjektivität. Daher habe ich auch versucht, die Krise des heutigen europäischen Christentums als eine Krise der Welt, der Vernunft und der Subjektivität zu interpretieren. Man kann über diese Interpretation streiten. Entscheidend allerdings ist eine andere Frage. Denn, gleich wie man diese Krise des Christentums heute in Europa deuten mag, es wird darauf ankommen, wie man mit dieser Krise geistig und praktisch umgeht. Dieser Frage möchte ich den Schlussteil des Vortrags widmen.

3.

Wie soll man mit der gegenwärtigen Krise des Christentums in Europa umgehen bzw. was soll man damit tun?

In seinem Werk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft schreibt Kant: »Wenn die Moral an der Heiligkeit ihres Gesetzes einen Gegenstand der größten Achtung erkennt, so stellt sie auf der Stufe der Religion an der höchsten, jene Gesetze vollziehenden Ursache einen Gegenstand der Anbetung vor, und erscheint in ihrer Majestät. Aber alles, auch das Erhabenste, verkleinert sich unter den Händen der Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem Gebrauch verwenden.«11 Bei den folgenden Anmerkungen zu der in diesem Punkt aufgestellten Frage möchte ich Kants »Warnung« Rechnung tragen, indem ich meine Anmerkungen als Anregung zur Betrachtung der gegenwärtigen Krise des Christentums in Europa aus einer interkulturellen und interreligiösen Perspektive heraus verstehe, die das Christentum weder instrumentalisiert noch verkleinert, sondern seine religiöse Botschaft aus der Enge der Denkstruktur hegemonialer Kulturen befreit. Anders ausgedrückt: es geht um den gegenteiligen Versuch, das Christentum zu redimensionieren, und zwar dadurch, dass seiner Krise interkulturell und interreligiös Rechnung getragen wird. Aus dieser Sicht zielt eine erste Anerkennung darauf ab, die christlichen Kirchen und Institutionen in Europa zu selbstkritischer Überprüfung ihrer 11 Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Werke (Bd. VIII). Frankfurt am Main 1968, S. 652 – 653.

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»Strategien« für die Bewältigung der Krise aufzurufen. Konkret wäre hier darüber nachzudenken, ob die Rückkehr zu Positionen aus dem Mittelalter oder die Stärkung eines missionarisch militanten christlichen Bewusstseins wirklich der Weg ist, Verantwortung für die gegenwärtige Krise zu übernehmen. Sollte der Weg nicht vielmehr der eines offenen Lernprozesses sein, durch den gemeinsam mit den anderen die unendliche Heiligkeit, von der schon Schleiermacher12 sprach und die alle Religionsgrenzen überschreitet, gesucht wird? Die zweite Anmerkung, die ergänzend zur ersten zu verstehen ist, ist ein Hinweis auf die notwendige Erfahrung der gegenwärtigen Krise des europäischen Christentums als eine kairologische Situation, in der die Befreiung des christlichen Glaubens aus seiner mitteleuropäischen Zentrierung »begünstigt« wird. Mit anderen Worten: es geht darum, metaphorisch gesprochen, die Methode des Odysseus (Heimkehr) zu überwinden, um die jenige Abrahams (Exodus) zu radikalisieren. Dies aber ist nur unter der Bedingung interkultureller und interreligiöser Offenheit möglich. Und daher knüpft die dritte Anerkennung, die ich hier machen möchte, an den Gedanken, dass Gemeinschaft und Universalität für das Christentum lebenswichtig sind. Sie bedeuten zugleich für die Christen und Christinnen eine Verpflichtung, und zwar die Verpflichtung, die Herausforderungen der Krise des Christentums in den modernen europäischen Gesellschaften in den größeren Kontext des Dialogs zwischen Kulturen und Religionen zu stellen. Vom Horizont der Gemeinschaft und der Universalität her müssen wir also umdenken und begreifen, dass die gegenwärtige Krise des europäischen Christentums nicht ausschließlich eine Aufgabe für Europa ist, ebenso wenig wie sie nur eine innerchristliche Frage ist. Sie ist vielleicht vor allem eine interkulturelle und interreligiöse Frage, weil dabei eben auch die Möglichkeit der Erfahrung von Ganzheit in der historischen Konfiguration einer Religion auf dem Spiel steht. Mit diesem interkulturellen und interreligiösen Umgang mit der Krise des europäischen Christentums wird allerdings – wie klar sein dürfte – keine Instrumentalisierung des Dialogs mit anderen Kulturen bzw. Religionen intendiert, um etwa die christliche Erfahrung zu vertiefen oder gar auszuweiten. Denn die Gemeinschaft und die Universalität, die mit dem Dialog zwischen Kulturen und Religionen erstrebt werden, sind keine Frage der Vertiefung oder Ausbreitung des je Eigenen. Die Herausforderung dabei ist doch die der Transformation der Religionen, die in diesem Fall die interkulturelle und interreligiöse Transformation des Christentums ist. Zum Schluss noch eine vierte Anmerkung. Man sollte die gegenwärtige Krise des Christentums in Europa als eine Chance betrachten, um aus seiner gesell12 Vgl. Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Hamburg 1958 [1799], S. 164.

Interkulturalität und Religion

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schaftlichen Randstellung einen theologischen Ort zu machen, von dem aus das Christentum seine prophetische Exzentrizität als Quelle des Widerspruchs und der Anklage wiederentdeckt. Und hier würde sich der Dialog mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie sehr empfehlen. Denn hängt die lebendige Zukunft des Christentums (in Europa wie auch woanders) nicht doch von der konkreten, kontextuellen Übersetzung seiner Exzentrizität im Sinne einer Option für die Armen und Gedemütigten dieser Welt ab?

Franz Gmainer-Pranzl (Salzburg)

»universale salutis sacramentum« (LG 48). Katholizität als Modell diskursiver, responsiver und polyloger Universalität

Fundamentaltheologie war und ist immer auch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von Kritik an der katholischen Kirche1. Die Entwicklung einer »demonstratio catholica«, also eines theologischen Diskurses, der die (römisch-)katholische Kirche als legitime Heilsinstitution und Glaubensgemeinschaft Jesu Christi erweist, hat seit ihrer Entstehung im (nach-)reformatorischen Zeitalter2 unterschiedliche Ausprägungen erfahren: vermittelnde und konfrontierende, selbstkritische und apologetische, zeitgemäße und rückwärtsgewandte. Sah sich die Fundamentaltheologie früherer Zeiten dazu herausgefordert, das »Katholische« gegen konkurrierende Weltanschauungen zu verteidigen – seien dies politische Systeme, kulturelle Entwicklungen oder auch andere christliche Kirchen –, folgt die theologische Auseinandersetzung spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil3 überwiegend der Überzeugung, dass es vor allem auf den Aufweis einer geglückten Identität christlichen Lebens und deren Relevanz für die gegenwärtige Gesellschaft ankommt und nicht auf eine polemische Gegenüberstellung unterschiedlicher Sozial- und Lebensformen des Glaubens. In diesem Sinn spricht Karl Rahner im ekklesiologischen Teil seines Grundkurses von einer »indirekten Methode«, was die Legitimation der katholischen Kirche als der Kirche Christi angeht. Die Heilsbedeutsamkeit bzw. 1 Vgl. Conzemius, Victor : »Die Kritik der Kirche«, in: Kern, Walter / Pottmeyer, Hermann J. / Seckler, Max (Hg.): Handbuch der Fundamentaltheologie (Bd. 3): Traktat Kirche. Tübingen / Basel 2000 [1986], S. 11 – 26. – Conzemius weist in seinem Überblick darauf hin, »dass Kirchenkritik eine legitime Äußerung allgemeinen menschlichen Urteilsvermögens ist und in noch höherem Maße eine legitime Aufgabe der Theologie und ebensosehr eine unentbehrliche Voraussetzung innerkirchlicher Lebensentfaltung« (ebd., S. 23). 2 Vgl. die konzise Darstellung der Entwicklung des Ekklesiologie-Traktats bei Le Guillou, Marie-Joseph: »Ekklesiologie«, in: Rahner, Karl (Hg.) u. a.: Sacramentum mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis (Bd. 1). Freiburg im Breisgau 1967, S. 1014 – 1022. – »Der Traktat über die Kirche«, so Le Guillou, »ist ein spätes Ereignis in der Geschichte des christlichen Denkens« (ebd., S. 1014). 3 Vgl. die Charakterisierung der nachkonziliaren Ekklesiologie bei Klinger, Elmar: Ekklesiologie der Neuzeit. Grundlegung bei Melchior Cano und Entwicklung bis zum 2. Vatikanischen Konzil. Freiburg im Breisgau 1978, S. 241 – 254.

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Franz Gmainer-Pranzl

-exklusivität der Kirche wird demnach nicht positivistisch-historisch »bewiesen«4, sondern unter »Präsumption eines vertrauenden Sich-Einlassens auf die vorgegebene christlich-kirchliche Existenz«5 expliziert. Das »Katholische« erweist sich in dieser »indirekten Methode« nicht als konfessionelle Partikularität im Modus der Konkurrenz zu anderen, sondern als interkonfessionell relevante Identität, die den Raum des gemeinsam Christlichen ausleuchtet. Konkret heißt das: »Katholisch« ist nicht, wer die eigene Glaubenstradition in möglichst klarem Kontrast zu anderen ansetzt, sondern – im Sinn der berühmten These von der »Hierarchie der Wahrheiten«6 im Ökumenismusdekret (Nr. 11) – die verbindende Gemeinsamkeit, die tragende Grundlage sowie das von möglichst vielen Kommunizierbare aufzuweisen vermag. Seit dem von Rahner mitgestalteten ökumenischen Neuaufbruch von Kirche und Theologie vor fast einem halben Jahrhundert haben sich allerdings die Rahmenbedingungen für die pastorale Praxis und die ekklesiologische Reflexion einschneidend, ja dramatisch verändert.7 Es ist der katholischen Kirche im Kontext der europäischen Gesellschaften kaum gelungen, mit den wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklungen Schritt zu halten. Mehr noch: Der Begriff »katholisch« scheint zu einem Synonym für Modernitätsverweigerung geworden zu sein. Wie sich in der medialen Resonanz und in vielen öffentlichen Diskussionen immer wieder zeigt, haben viele Menschen den Eindruck, dass »die Kirche« nicht (mehr) bereit oder fähig ist, sich auf einen offenen Dialog mit der gegenwärtigen Gesellschaft einzulassen. Die Praxis des kirchlichen Lebens und die Theorie katholischer Lehre, so die kritische Replik vieler Zeitgenossen, habe sich in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher vom gesellschaftlichen Selbstverständnis der Gegenwart abgekoppelt, ja 4 Als Beispiel einer solchen (neuscholastisch geprägten) ekklesiologischen Grammatik vgl. Brinktrine, Johannes: Offenbarung und Kirche. Fundamental-Theologie (Bd. 2): Existenz der Offenbarung. Die Kirche. Paderborn 1949: »Daraus ergibt sich, dass wir vorzüglich diese Wahrheit zu behandeln haben: Christus hat eine Kirche gegründet, die die von ihm verkündeten Heilswahrheiten weiterleiten soll und die er zu diesem Zwecke mit dem Charisma der Unfehlbarkeit ausgerüstet hat. Da sich nun sofort die Frage erhebt, welche von den existierenden sich auf Christus zurückführenden und sich ›Kirche‹ nennenden religiösen Gemeinschaften wirklich die von Christus gegründete Kirche ist, so ist weiterhin der Nachweis zu führen, dass die katholische Kirche die von ihm gewollte und gegründete Kirche ist […]« (ebd., S. 167 f.). 5 Rahner, Karl: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg im Breisgau 1976, S. 341. 6 Dieser etwas unglückliche Begriff verdeckt die eigentliche Pointe von UR 11, der zufolge es nicht um eine Über- und Unterordnung einzelner Wahrheiten geht, sondern um deren »Zusammenhang mit dem Fundament des christlichen Glaubens« (»nexus cum fundamento«), der letztlich in Christus selbst grundgelegt ist. 7 Vgl. Bucher, Rainer: »Eine alte Kirche in ziemlich neuen Zeiten. Zu den Reaktionsmustern der katholischen Kirche auf ihre aktuelle Transformationskrise«, in: Theologisch-praktische Quartalschrift (ThPQ) 156 (2008), S. 396 – 405.

»universale salutis sacramentum« (LG 48)

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sogar Formen einer Gegenkultur ausgebildet. Der durchaus problem- und zeitsensible Diskurs gegenwärtiger Ekklesiologie8, der sich mit dem wachsenden Plausibilitätsverlust des »Katholischen« auseinandersetzt, kommt gegen das medial vermittelte Bild von »Kirche« kaum an. Katholische Identität wird zumeist als eine nostalgische oder ideologische wahrgenommen; KatholikInnen träumen demnach entweder von einer »heilen Vergangenheit«, in der die (katholische) Kirche eine regulative, integrierende und orientierende Funktion ausübte, oder sie setzen sich mit Vehemenz für »christliche Werte« und »katholische Überzeugungen« ein, die sie als kritische Gegeninstanz zu den Lebensformen einer ausdifferenzierten, pluralen und liberalen Gesellschaft begreifen.9 Wie gerade die Diskussion rund um die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gezeigt hat, ist die gängige Meinung vieler Menschen heute von der Überzeugung geprägt, dass »katholisch« eine menschlich, intellektuell und kulturell defizitäre Einstellung besagt. Der Innsbrucker Pastoraltheologe Franz Weber hat diese offenkundig negative Konnotation deutlich markiert: »Als ›typisch katholisch‹ gilt nämlich hierzulande nach gängiger Meinung jemand, der engstirnig, engherzig und unbeweglich auf seiner kirchlich-religiösen, moralischen und weltanschaulichen Position beharrt und zu keinerlei Dialog mit Andersdenkenden und Andersgläubigen bereit ist. Was immer auch Ursache für die Entstehung einer solchen, wie man manchmal hören kann, ›penetrant katholischen‹ Einstellung sein mag: Ob es nun eine manchmal nahezu krampfhafte, ja krankhafte Veranlagung ist, die einen Menschen in zwanghafte Formen der Religiosität treibt, oder ob es nur die Angst ist, angesichts des Wirrwarrs postmoderner Pluralität und innerkirchlicher Vielfalt den eigenen Glauben zu verlieren, oder die sicher nicht unberechtigte Sorge um die Wahrung der Einheit der Kirche oder ausgesprochen fundamentalistische Positionen. All das und vieles mehr scheint es manchen Gläubigen in der Kirche von heute und wohl auch einem Teil der Kirchenleitung schwer zu machen, zu jener anderen und theologisch gut begründeten ›wahrhaft katholischen‹ Grundhaltung zu finden, die mit innerer und äußerer Weite, mit Grenzüberschreitung und Gesprächsbereitschaft, mit Kommunikation und Weltoffenheit, mit Interkultura8 Vgl. Hünermann, Peter : Ekklesiologie im Präsens. Perspektiven. Münster 1995; Neuner, Peter : »Ekklesiologie. Die Lehre von der Kirche«, in: Beinert, Wolfgang (Hg.): Glaubenszugänge. Lehrbuch der katholischen Dogmatik. Paderborn 1995, S. 399 – 578; Miggelbrink, Ralf: Einführung in die Lehre von der Kirche. Darmstadt 2003; Werbick, Jürgen: Grundfragen der Ekklesiologie. Freiburg im Breisgau 2009. 9 Vgl. Alberigo, Giuseppe: »Das II. Vatikanum und der kulturelle Wandel in Europa«, in: Hünermann, Peter (Hg.) unter Mitarbeit von Tück, Jan Heiner : Das II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen. Paderborn 1998, S. 139 – 157.

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lität, mit ökumenischem und interreligiösem Dialog zu tun hat.«10 Mit dieser Charakterisierung hat Weber nicht nur eine weit verbreitete Stimmung beschrieben, sondern auch fundamentaltheologisch relevante Aufgaben einer »demonstratio catholica« benannt, die nicht apologetisch, sondern dialogisch verfährt: »Katholisch« sein heißt eben genau nicht, sich auf eine unangreifbare Position zurückzuziehen und diese ideologisch festzuschreiben, sondern ein konkretes religiöses Bekenntnis als Lebensressource und Freiheitsimpuls aufzuweisen und grenzüberschreitend zu kommunizieren. Von daher ist es nicht bloß unangemessen, das »Katholische« durch das Insistieren auf einer exklusiv definierten Identität zu verantworten, es ist an sich unmöglich. Ekklesiologie als Verantwortung des sozialen Ortes des christlichen Glaubens muss deshalb als Diskurs der Entgrenzung, Vermittlung und Befreiung begriffen werden, als anspruchsvolle Herausforderung, den eigenen Glaubenskontext als »qualitative Katholizität«11 wahrzunehmen, die nicht durch institutionelle Selbstbehauptung, sondern durch theologische Kommunikation zur Geltung kommt. In den folgenden Überlegungen möchte ich versuchen, einen solchen »qualitativen Katholizitätsbegriff«12 zu entwickeln, indem ich (1) dem Verdacht nachgehe, der gegenüber katholischer Kirchlichkeit heute geäußert wird, (2) das Experiment unternehme, »katholische Identität« in der Vermittlungsweise diskursiver, responsiver und polyloger Kompetenz zu betrachten, und (3) eine Perspektive aufzeige, in welcher Weise sich »Katholizität« als Universalität erweist. Der Schlüsselbegriff dieses Versuchs, Ansätze einer »demonstratio catholica« im Licht gegenwärtiger Problemstellungen weiterzuentwickeln, findet sich in der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils: die Kirche versteht sich als »universale salutis sacramentum« (LG 48), als »allgemeines Sakrament des Heils« – ein Begriff, der Chance und Krise der Kirche in höchstem Maß verkörpert.

10 Weber, Franz: »Dynamisch-spannungsreiche Katholizität. Beobachtungen zu aktuellen weltkirchlichen Lernprozessen«, in: Hell, Silvia (Hg.): Katholizität. Konfessionalismus oder Weltweite? Beiträge der ökumenischen Forschungsprojektgruppe an der Katholisch-Theologischen Fakultät Innsbruck. Innsbruck 2007, S. 115 – 131; 115 f. 11 Congar, Yves: »Die Wesenseigenschaften der Kirche«, in: Feiner, Johannes / Löhrer, Magnus (Hg.): Mysterium salutis. Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik. (Band IV/1: Das Heilsgeschehen in der Gemeinde). Einsiedeln / Zürich / Köln 1972, S. 357 – 502; 535 – 599; 487. 12 Ein qualitativer Begriff des »Katholischen« bedeutet auch den Abschied von der Vorstellung, man könne gegenständlich und gleichsam numerisch aufzählen, welche Aussage, Einstellung, Praxis usw. »katholisch« sei und welche nicht; mit Joseph Ratzinger verstehe ich »Katholizität als Formalstruktur des Christlichen« (Ratzinger, Joseph: Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie. München 1982, S. 300).

»universale salutis sacramentum« (LG 48)

1.

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Ein Verdacht: Das »Katholische« als soziales Relikt?

Jeder Versuch, katholische Lebens- und Denkformen ekklesiologisch zu rechtfertigen, ist gut beraten, die Außen- bzw. Fremdwahrnehmung des »Katholischen« zu beachten.13 Auch in kritischen Zuspitzungen und polemischen Übertreibungen stecken Anfragen, die die Kirche nicht ignorieren darf. Ich halte die Aussage von GS 44, dass die Kirche »selbst aus der Gegnerschaft derer, die sich ihr widersetzen oder sie verfolgen, großen Nutzen gezogen hat und ziehen kann«, nicht bloß für eine irenische Floskel, sondern eine fundamentaltheologisch relevante Einsicht: Eine Kirche, die sich als »Sakrament« versteht, kann und darf sich der Kritik von außen nicht widersetzen, und eine Ekklesiologie, die eine solche »unmögliche Institution«14 theologisch zu verantworten hat, gerät in die Falle ideologischer Selbstbestätigung, wenn sie ihren eigenen Diskurs nicht immer wieder der Irritation befremdlicher Anfragen aussetzt. Gegenwärtige Kritik am »Katholischen« der Kirche lässt sich exemplarisch mit drei Stichworten umschreiben: die katholische Kirche ist veraltet, fremd und kolonial.

1.1

»Veraltet«?

Der in Steyr, meiner Heimatstadt, geborene und in Wien tätige Schriftsteller und Filmemacher Walter Wippersberg zeichnet in seinem autobiographischen Bericht Eine Rückkehr wider Willen das veraltete Ambiente seines Kindheitskatholizismus auf treffende und auch sehr nachdenklich machende Weise nach. In einem Rückblick schildert Wippersberg seine Zeit als Ministrant in der Vorstadtpfarre St. Michael. Er erzählt vom traditionellen Umfeld der Pfarre, der Liturgie und des kirchlichen Lebens überhaupt, von dem sich der Volksschüler allmählich zu lösen beginnt: »Das Kind ist achteinhalb Jahre alt und ministriert schon seit einer ganzen Weile. Ein paar lange Wochen hat es gebraucht, all die lateinischen Gebete auswendig zu lernen. Das Confiteor war am schwierigsten, dabei stolpert es heute noch manchmal. … beatae Mariae semper virgini, beato Michaeli Archangelo, beato Joanni Baptistae, sanctis Apostolis Petro et Paulo … Aber das Kind weiß, es muss über einen Fehler nur schnell drübermurmeln, dann merkt das keiner von den geistlichen Herren, dass es statt beato ein beatae 13 Vgl. Bily, Lothar : »›Sich seiner selbst nicht zu sicher sein‹. Das Christentum als ›fremde‹ Religion neu entdecken?«, in: Hoff, Gregor Maria / Waldenfels, Hans (Hg.): Die ethnologische Konstruktion des Christentums. Fremdperspektiven auf eine bekannte Religion. Stuttgart 2008, S. 167 – 189. 14 Werbick, Jürgen: Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis. Freiburg im Breisgau 1994, S. 408.

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gesagt hat.«15 Der Ministrant ist dabei, sich von einem als veraltet empfundenen System des Katholizismus zu verabschieden, auch wenn er diesen Ablöseprozess noch nicht bewusst wahrnimmt oder gar reflektiert. Wie Wippersberg durchaus unterhaltsam zeigt, beginnt der »Bann« des katholischen Lebens- und Glaubenszusammenhangs zu bröckeln: »Bei einer Maiandacht hat das Kind einmal halblaut statt ›Meerstern ich dich grüße‹ gesungen ›Meerschwein ich dich grüße‹. Es hat erwartet, für diesen Frevel augenblicklich bestraft zu werden, aber nichts ist geschehen.«16 Mit dem allmählichen Verlust kirchlicher Zugehörigkeit geht eine Erosion bisheriger Glaubensüberzeugungen Hand in Hand: »Das Kind frevelt, und würde es dafür bestraft, so wüsste es, dass es Gott wirklich gibt. Leichter als bei stillen Messen fällt es ihm bei den Sonntagsmessen, an Gott zu glauben, und noch leichter bei den feiertäglichen Hochämtern. Drei Priester am Altar, zwanzig Ministranten rundherum, von einem Oberministranten bald hierhin bald dorthin dirigiert, die Weihrauchschwaden, das Gedröhne und Getöse von Orgel und Kirchenchor, das alles bewirkt, dass das Kind – mittendrin – einfach glauben muss. Bei stillen Messen ist das anders, da hat das Kind Zeit zum Denken, und die Gedanken laufen, wohin sie wollen.«17 Das Resümee, das Wippersberg aus seinen Kindheitserfahrungen zieht, lautet: »Für sieben oder acht Jahre war die Vorstadtpfarre St. Michael selbst ein wichtiger Ort für mich: So lange war ich dort Ministrant. Und ich bewegte mich hier in einem klerikalen Milieu, das mir heute wie eine Art Parallelwelt zu jener ›profanen‹ vorkommt, in der ich sonst lebte und in der man nicht allzu katholisch war.«18 Unüberhörbar schwingt in dieser Schilderung der Abschied vom veralteten Paradigma des Katholizismus mit; das »Katholische« mit seiner kirchlichen Ordnung, seiner liturgischen Inszenierung und seinen sozialen Bindungen erweist sich als »Parallelwelt«, als Lebenskontext, von dem sich der heranwachsende Junge immer deutlicher emanzipiert, bis er sich definitiv davon verabschiedet – wie viele Menschen heutzutage ebenfalls. Wer sich als »katholisch« outet, gehört einer veralteten, ja vergangenen Lebenswelt an, die höchstens in der vorkritischen Erfahrungswelt von Kindern und – vielleicht – in der letzten Lebensphase alter Menschen Bedeutung hat. Was bei Wippersberg narrativ zum Ausdruck kam, benannte Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns als »bindende Kraft eines

15 Wippersberg, Walter : Eine Rückkehr wider Willen. Zwei Berichte über mich. Salzburg / Wien 2008, S. 53. 16 Ebd., S. 55. 17 Ebd., S. 55 f. 18 Ebd., S. 56.

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sakral begründeten moralischen Einverständnisses«19, die transformiert wird in eine dem modernen Leben entsprechende Form kommunikativen Handelns. Eine schon nahezu klassische – von der Religionssoziologie Max Webers beeinflusste – Formulierung von Habermas diesbezüglich lautet: »Die Aura des Entzückens und Erschreckens, die vom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und veralltäglicht.«20 Mit anderen Worten: die archaische Faszination des Katholizismus wird abgelöst von der »Deflationierung des Außeralltäglichen«21 im Kontext einer komplexen, rationalisierten und säkularisierten Gesellschaft. Veraltet ist das Katholische, im besten Fall geeignet als Anbieter liturgischer Feiern bei Lebenswenden, für die es sonst in der Gesellschaft nur einen geringen Vorrat an geeigneter Semantik und Symbolik gibt. Und dieses »Veraltet-Sein«, so legen es manche Religionskritiker nahe, heißt letztlich: zum Sterben verurteilt sein. So spricht etwa der französische Religionskritiker Michel Onfray davon, dass das Christentum in Europa im Sterben liege und von einem »echten nachchristlichen Laizismus«22 beerbt werde. Angesichts der von ihm konstatierten Aufrechterhaltung christlicher Grundprinzipien selbst im französischen Laizismus betont Onfray : »Es bringt nichts, am Bett eines Todgeweihten, der vom Leben nichts mehr zu erwarten hat, in unvernünftige therapeutische Versessenheit zu verfallen. Europa war christlich und bleibt es aufgrund von Gewohnheiten, die wie bei einem vom Cortex abgeschnittenen Reflexbogen krampfartig bestehen bleiben.«23 Auch wer diese radikal atheistische Position Onfrays nicht teilt, nimmt an der gesellschaftlich wirksamen – wenngleich nicht immer offenkundigen – Überzeugung teil, dass das Christentum im Allgemeinen und der Katholizismus im Besonderen eine »Sache von gestern« sei, eine veraltete Sozialform und Weltinterpretation, deren ästhetische Restbestände durchaus zu würdigen sind, deren religiöse und ethische Ansprüche allerdings nicht mehr Geltung beanspruchen können. Zweifellos gibt es in der gegenwärtigen Entwicklung Europas eine Reihe von Indizien, die die katholische Kirche als soziales Relikt erscheinen lassen, als Institution, die sich im Kontext einer nachchristlichen Gesellschaft selbst überlebt hat. Aktuelle Ekklesiologien werden mehr als bisher von einer »ars moriendi« der Kirche zu sprechen haben, von der Kunst, von vielem Abschied zu 19 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main 1987, S. 124. 20 Ebd., S. 119. 21 Habermas, Jürgen: »Motive nachmetaphysischen Denkens«, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 1997, S. 35 – 60; 57. 22 Onfray, Michel: Die reine Freude am Sein. Wie man ohne Gott glücklich wird. München 2008, S. 106. 23 Ebd., S. 108.

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nehmen, was bisher wichtig, ja unverzichtbar schien. Zugleich wird die theologische Verantwortung kirchlicher Existenz wieder deutlicher als bisher von jenem Topos christlichen Lebens ausgehen, der – recht verstanden – als einziger gegen Religions- und Kirchenkritik gefeit ist: die konkret gelebte Praxis christlicher Hoffnung, die damals und heute eine Dynamik von Gemeinschaft und Freiheit initiiert, die niemals »veraltet«. Dieser zugleich kirchenkonstituierende und kirchenkritische Impuls einer »neuen Lebenspraxis«24 ist vermutlich die einzige »Begründung« dafür, dass jene Wirklichkeit, die die Ekklesiologie reflektiert, Bestand haben wird.25

1.2

»Fremd«?

In der Feststellung, das »Katholische« sei veraltet, wurde bereits ein weiterer Aspekt von Kirchenkritik deutlich: Die Kirche sei deswegen veraltet und überholt, weil ihre Strukturen, Prinzipien und Lebensperspektiven unverständlich, nicht nachvollziehbar, das heißt fremd seien. Und tatsächlich bezeichnet die Marke »katholisch« eine Differenz: Wer »streng katholisch« ist, hebt sich von seiner Umwelt ab, wird als »fremd« empfunden. Manche Äußerungen katholischer Amtsträger »befremden«, genauso wie bestimmte Regelungen und Verhaltensmuster, die Gläubige befolgen. Das »Katholische« erscheint – um hier eine Definition von Bernhard Waldenfels einzuführen – als das »insolitum«, als strange. Es ist das, was ungewohnt, unheimlich, »von anderer Art« ist, und es tritt zugleich als »externum« auf, als das, »was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt als Äußeres, das einem Inneren entgegensteht«26. Die Kritik an einer so verstandenen »Fremdheit« der katholischen Kirche sollte zu denken geben und nicht vorschnell mit dem Hinweis abgetan werden, die Kirche vertrete eben einen unverfügbaren Anspruch, der sich nicht vom Selbstverständnis der konkreten Gesellschaft und ihrer Plausibilitäten »aneignen« lasse. Zwar ist dies prinzipiell richtig, denn der fremde Anspruch der christlichen Botschaft kann und darf tatsächlich nicht an aktuelle Interessen und Bedürfnisse »angeglichen« werden27; allerdings wird in diesem Zusammenhang 24 Vgl. den auch nach Jahrzehnten noch inspirierenden Titel von Schillebeeckx, Edward: Christus und die Christen. Die Geschichte einer neuen Lebenspraxis. Freiburg im Breisgau 1977. 25 In diesem Zusammenhang denke ich oft an die Aussage von Franz Schupp: »Die einzige ursprüngliche Symbolik des Christentums ist die sich dem Leiden des anderen stellende Praxis, der darin die Kraft der Negation aufgeht« (in: Schupp, Franz: Glaube – Kultur – Symbol. Versuch einer kritischen Theorie sakramentaler Praxis. Düsseldorf 1974, S. 270). 26 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main 2006, S. 111. 27 Vgl. Höhn, Hans-Joachim: Der fremde Gott. Glaube in postsäkularer Kultur. Würzburg 2008.

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aber oft theologisch qualifizierte Exteriorität (»Fremdheitth«) mit kulturellem Anachronismus (»Fremdheitk«) verwechselt28. Konkret gesagt: gegen die moderne Gesellschaft zu sein (also »Fremdheitk« zu provozieren), heißt nicht, die Fremdheit der Reich-Gottes-Botschaft (»Fremdheitth«) zu vertreten, die allen kulturellen und gesellschaftlichen Lebenskontexten kritisch gegenübersteht.29 Besondere Relevanz gewinnt die Thematik der Fremdheit im Zusammenhang jenes Transformations- und Interkulturationsgeschehens, bei dem die christliche Botschaft die Grenze bisheriger kultureller Identitäten überschreitet und sich der Fremde aussetzt: in der Mission. Ein Hauptkritikpunkt an der missionarischen Praxis vornehmlich des 19. und 20. Jahrhunderts besteht in der kulturellen Entfremdung, die durch die »Einpflanzung« der Kirche in anderen Ländern erfolgte. Die katholische Kirche erschien etwa in Schwarzafrika als europäische Institution, die zwar manche Vorteile brachte, letztlich aber dem Leben der Menschen fremd blieb. Schon im berühmten Tagungsband Schwarze Priester melden sich, der 1956 in Paris erschien, wurde dieses Problem deutlich angesprochen: »Wenn man das Christentum unbedingt in einer dem Land fremden Form lassen will, dann wird es ewig an der Oberfläche bleiben und niemals wirklich eindringen; dann bringt man die Eingeborenen dazu, dass sie entweder allen lebendigen Kontakt mit ihrer Heimat verlieren, um völlig einem Christentum anzuhängen, das sich fern von ihrem Land entwickelt (das Christentum zwingt sie zur Entfremdung, fast zur Abtrünnigkeit, und es wird unter anderem von ihnen heißen, sie seien keine Afrikaner mehr), oder dass sie den Kontakt behalten und nur ein paar christliche Automatismen annehmen, die ihnen angesichts des sozialen Drucks als Fassade dienen […].«30 Wenn Leben in der Kirche also bedeutet, seiner eigenen kulturellen Herkunft entfremdet zu werden, kommt es entweder zur offenen Kritik an einem solchen kirchlichen System oder zu einer Reduktion des Christentums auf eine Fassade, hinter der sich dann das »eigentliche« Leben abspielt. – Wie Höhn hervorhebt, kann die »Fremdheit und Unheimlichkeit, mit der der Mensch konfrontiert wird, ihn zur Erkenntnis dessen führen, was ihm bislang existentiell fehlte« (ebd., S. 102). 28 Vgl. Schöttler, Heinz-Günther : »Fremdheit in Beziehung. Aspekte zur Situation der Gemeinden im Anschluss an das Paradigma der »Fremdheit Gottes««, in: Theologisch-praktische Quartalschrift (ThPQ) 157 (2009), S. 245 – 257. – Schöttler resümiert: »Christen sind also aufgrund ihrer Gottesbeziehung ›Fremde‹ in der Welt, jedoch nie ›weltfremd‹« (ebd., S. 256). 29 Nach Claude Geffr¦ gilt es, angesichts der Krise eines dekulturierten Christentums »festzustellen, ob die Fremdartigkeit der christlichen Botschaft auf dem Paradox des Evangeliums vom Heil beruht oder auf dem Misserfolg seiner Übertragung in die modernen Sprachen und somit Kulturen unserer Zeitgenossen« (Geffr¦, Claude: »Die Krise der christlichen Identität im Zeitalter des religiösen Pluralismus«, in: Concilium 41/3 (2005), S. 222 – 234; 222. 30 Bissainthe, G¦rard CSSp: »Katholizismus und Eingeborenentum«, in: Diop, Alioune: Schwarze Priester melden sich. Frankfurt am Main 1960, S. 81 – 98; 90.

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Was in früheren Missionsländern offenkundig war – dass den Menschen die christliche Botschaft und die kirchliche Gemeinschaft in einem fremden Sinnund Symbolsystem nahe gebracht wurde, das ihren eigenen Verstehens- und Ausdrucksmöglichkeiten letztlich unzugänglich blieb –, ereignet sich gegenwärtig genauso in Ländern mit einer jahrhundertelangen christlichen Geschichte: Die katholische Kirche wird als fremdartige Größe empfunden, gleichsam als kultureller Dinosaurier, der zwar eine beeindruckende Geschichte aufweist, aber für das konkrete Heute nichts zu sagen hat.31 Im Licht dieser Problematik, die nicht zuletzt dazu führt, dass viele junge Menschen das »Katholische« als befremdliche Größe empfinden, erweist sich die Perspektive des Zweiten Vatikanischen Konzils, »in der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse […] einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung an[zu]erkennen«32, als Maßnahme zum »Gleichzeitigwerden« der Kirche mit der Gesellschaft, die nicht eine anspruchslose Anpassung der christlichen Botschaft an jeweils aktuelle Tendenzen meint, sondern die Bemühung, der heilbringenden Fremdheit des Evangeliums Geltung zu verschaffen und diese nicht mit der kulturellen Rückständigkeit der kirchlichen Institution zu verwechseln. Die Aussage des Missionsdekrets, dass Christus und die Kirche »von niemandem und nirgendwo als fremd erachtet werden« kann (AG 8), stellt zweifellos ein Fundamentalkriterium der Ekklesiologie dar, die sorgfältig zwischen kulturell und gesellschaftlich bedingter Fremdartigkeit (»Fremdheitk« – »insolitum«) und theologisch beanspruchter Fremdheit (»Fremdheitth« – »externum«) zu differenzieren hat, sowie eine epochale Herausforderung für die kirchliche Praxis, den Dialog zwischen Kirche und Gesellschaft so zu intensivieren, dass sich die Menschen die Kirche zu eigen machen können, indem sie sich der fremden Botschaft des christlichen Glaubens stellen.

31 Mit Blick auf diese sich schon früh im 20. Jahrhundert abzeichnende Entwicklung forderte Rahner einen »Tutiorismus des Wagnisses« (Rahner, Karl: Schriften zur Theologie. Bd. VII: Zur Theologie des geistlichen Lebens. Einsiedeln / Zürich / Köln 1971 [1966], S. 77 – 90; 85). – Eindrücklich ist sein Appell aus dieser berühmten Rede (Löscht den Geist nicht aus!) vom 1. Juni 1962: »Wie vieles wäre anders, wenn man dem Neuen nicht so oft entgegentreten würde mit der überlegenen Selbstsicherheit, mit einem Konservativismus, der nicht Gottes Ehre und Lehre und Stiftung in der Kirche verteidigt, sondern sich selbst, die alte Gewohnheit, das Übliche, dass man leben kann ohne den Schmerz der täglich neuen Metanoia« (ebd., S. 84). 32 Johannes XXIII., Ansprache anlässlich der feierlichen Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962, in: Hünermann, Peter / Hilberath, Bernd Jochen (Hg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 5: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Theologische Zusammenschau und Perspektiven. Freiburg im Breisgau 2006, S. 482 – 490; 484. – [Hervorhebung im Text von F. G.-P].

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1.3

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»Kolonial«?

Wenn »katholisch sein« eine alte, verschrobene Einstellung besagt, bereitet das letztlich niemandem ein Problem; auch der Vorwurf der Entfremdung trifft zumindest in Europa kaum noch zu, weil inzwischen konkrete Erfahrungen und Begegnungsmöglichkeiten mit der katholischen Kirche sowie auch religiöse Kenntnisse deutlich im Schwinden begriffen sind. Verfügten etwa Kirchenkritiker des 20. Jahrhunderts noch über ein profundes Wissen, was die religiöse Tradition und die institutionelle Ausprägung des Katholizismus betrifft, sind den meisten Zeitgenossen – auch jenen, die ein Interesse für Religion haben – viele Grundkenntnisse über die katholische Tradition nicht mehr zugänglich. Eine Reihe von hitzigen ekklesiologischen Diskussionen, die noch im späten 20. Jahrhundert geführt wurden, findet in der gegenwärtigen Gesellschaft kaum noch Widerhall, weil viele Problemstellungen (beispielsweise Fragen der Ökumene, des kirchlichen Amtes, des Papsttums usw.) schlicht und ergreifend nicht mehr verstanden werden. Dennoch bleibt in der Öffentlichkeit eine Problematik gegenwärtig, die sich tief in das gesellschaftliche Gedächtnis eingegraben hat: die Erfahrung von kirchlicher Dominanz, von Verletzungen und Unterdrückung, unter denen Menschen auch noch nach Jahrzehnten leiden. Nicht erst die aufwühlende Debatte im Frühjahr 2010 über sexuellen und psychischen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch kirchliche Amtsträger, die schockierende Fakten ans Tageslicht brachte und die Autorität der katholischen Kirche auf empfindliche und nachhaltige Weise beeinträchtigte, sondern bereits die Geschichte, die frühere Generationen mit der Institution Kirche gemacht hatten, weist auf ein echtes Problem hin: Religion und Kirche wurden als Instrument der Unterwerfung erfahren, als eine Inbesitznahme von Subjektivität, Freiheit und Autonomie, die zu einem beschädigten Leben führte.33 Das Stichwort des »streng Katholischen« ruft Assoziationen hervor, die von vielen Zeitgenossen als lebensfeindlich empfunden werden: Unterordnung unter strenge Autoritäten, Orientierung an althergebrachten Traditionen, Verweigerung von Aufklärung und Emanzipation, Aufoktroyierung rigoroser moralischer Prinzipien usw. Mit einem Wort: katholische Religion fungiert als Kolonialisierung, als beherrschende und deformierende Vereinnahmung der menschlichen Lebenswelt. Es gibt bekanntlich eine eigene Literaturgattung, die kirchengeschädigte Biogra-

33 Vgl. Wilfred, Felix: »Identitäten: unterdrückt, entfremdet und verloren«, in: Concilium 36/2 (2000), S. 151 – 159. – Wilfred hält fest: »Die semantische Matrix der Bibel ist eine klare Botschaft für die Option zugunsten unterdrückter, entfremdeter und verlorener Identität« (ebd., S. 157 f.).

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phien vorstellt und (zumeist) den Katholizismus34 als eine Macht präsentiert, die das vollzieht, was Jürgen Habermas eine »Kolonialisierung der Lebenswelt«35 nannte. So wie in Habermas’ Analyse systemische Imperative eine »pathologische Verformung von kommunikativen Infrastrukturen der Lebenswelt«36 bewirken, werden Strukturen und Elemente katholischer Sozialisierung als kolonialisierende Vereinnahmung und Repression angesehen. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: Der bereits zitierte Michel Onfray stellt seinem Buch einen autobiographischen Einblick in die sieben Jahre, die er in einem Salesianerinternat verbracht hatte, voran. »Eine selbstgenügsame Fabrik, eine kannibalische Maschine, eine menschenverschlingende Kloake«37 – das sind noch zurückhaltende Bezeichnungen für die Institution Internat im Kleinen und Katholische Kirche im Großen, die Onfray mit scharfen Worten anprangert. Gewiss gilt es zu unterscheiden zwischen einer marktorientierten Skandalliteratur38 und einer authentischen Auseinandersetzung mit Erfahrungen des institutionell Katholischen, die Menschen wirklich geschädigt, ja gebrochen haben. Doch gerade deshalb sollte eine katholische Ekklesiologie gut hinhören auf die Erfahrungen, die die Opfer kirchlicher Systeme artikulieren, und das Phänomen eines intellektuellen, sozialen und kulturellen Kolonialismus in bestimmten Formen »katholischer« Erziehung sensibel wahrnehmen. Letztlich muss klar sein: der Vorwurf, Christentum als Religion und die (katholische) Kirche als Glaubensgemeinschaft hätten eine »koloniale« Identität, läuft auf eine direkte Widerlegung der Botschaft des Evangeliums hinaus. Angesichts dieser Form von Kirchenkritik genügt es nicht, einige strukturelle Verbesserungen zu versprechen; es muss vielmehr die innere Dynamik des Evangeliums als einer befreienden Botschaft aufgewiesen werden. Versagt die »demonstratio catholica« in diesem Punkt, ist es auch um die »demonstratio christiana« geschehen. Wenn im Zusammenhang kirchlichen Lebens nicht erfahrbar wird, dass – wie es das bekannte Rahnersche Axiom theologischer Anthropologie formuliert – »[r] adikale Abhängigkeit und echte Wirklichkeit des von Gott herkünftig Seienden […] im gleichen und nicht im umgekehrten Sinn«39 wachsen, kommt jegliche Ekklesiologie zu spät.

34 Eine evangelische »Ausnahme« stellt die bekannte Schrift von Moser, Tilmann: Gottesvergiftung. Frankfurt am Main 1976, dar. 35 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main 1987, S. 522. 36 Ebd., S. 549. 37 Onfray, Michel: Die reine Freude am Sein. Wie man ohne Gott glücklich wird. München 2008, S. 19. 38 In einer Buchhandlung entdeckte ich ein eigenes Fach mit der Bezeichnung »Kirchenkritik«. 39 Rahner, Karl: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg im Breisgau 1976, S. 86. – Eine andere Formulierung dieses Axioms besagt, »dass die

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Der Verdacht, das »Katholische« sei eine veraltete Mentalität, eine entfremdende Realität oder gar eine kolonialisierende Macht, ist nicht mit einigen theologischen Argumenten auszuräumen, und das war auch nicht der Sinn dieses ersten Teils meiner Überlegungen. Ich gehe aber davon aus, dass sich in jeder Kritik ein Stück jener Wahrheit zeigt, über die niemand verfügen kann, weder die Kirchentreuen noch die Kirchenkritiker. Das Katholische als altväterisch, eigenartig oder entmündigend zu bezeichnen, mag für die einen eine Bestätigung ihrer Erfahrungen bedeuten, für die anderen einen unverständlichen Angriff oder eine weit übertriebene Behauptung, für wieder andere aber – und dazu zähle ich mich selbst – eine Chance, Grenzen und Horizonte, Defizite und Möglichkeiten einer Zugehörigkeit, die mir tatsächlich etwas bedeutet, besser wahrzunehmen. Von daher ist zu fragen: Was vermissen diejenigen an der Kirche, die sich ihr gegenüber kritisch äußern? Auf welche Werte, Kompetenzen und Vermittlungsschritte käme es an, um dem Zusammenleben der Menschen jene Qualität zu verleihen, die oft so schmerzlich vermisst wird?

2.

Ein Experiment: Vermittlungen von Identität

Auf dem Hintergrund der skizzierten kritischen Anfragen gehe ich hier der Frage nach, welche Vorstellungen von Identität hinter bestimmten Erwartungshaltungen bzw. Einsprüchen stehen, die gegenüber dem »Katholischen« geäußert werden. Welche leitenden Prinzipien der Entwicklung humaner, sozialer, kultureller und religiöser Identität zeigen sich in diesem Zusammenhang? In welcher Weise hängen die Anliegen gesellschaftlicher Orientierung und die Topoi katholischer Ekklesiologie zusammen? Ich unternehme hier also das Experiment, Prinzipien von »Katholizität« im Licht dreier interessanter Diskurse neu zu erschließen und theologisch zu reformulieren. Die Stichworte für diese drei Zugänge lauten: Übersetzungen, Ordnungen und Universalismen.

2.1

Übersetzungen: diskursive Kompetenz

Am Ende seiner viel kommentierten Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 14. Oktober 2001 in Frankfurt, bei der das Verhältnis zwischen religiösen Traditionen und säkularem Wissen in einer »postsäkularen« Gesellschaft auf eindrückliche Weise neu bestimmt wurde, betonte Habermas: »Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Nähe und die Ferne, die Verfügtheit und die Selbstmacht der Kreatur nicht im umgekehrten, sondern im selben Maße wachsen« (ebd., S. 224).

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Modus der Übersetzung.«40 Mit dieser Sichtweise verabschiedete Habermas endgültig ein eindimensionales Verständnis von Säkularisierung, das die Auflösung religiöser in säkulare Gehalte sowie die fortschreitende Erosion des Heiligen als linearen Fortschrittsprozess begriff. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns hatte Habermas diese Position noch deutlich vertreten und von einer »Versprachlichung des Sakralen« gesprochen, die er als »Umstellung der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation von Grundlagen des Sakralen auf sprachliche Kommunikation und verständigungsorientiertes Handeln«41 begriff. Inzwischen ist die Überzeugung, Religion »restlos« in Kommunikation aufheben zu können, einem deutlichen Vorbehalt gewichen, der sich als »Bewusstsein von dem, was fehlt«, artikuliert42 und das Verhältnis von Glauben und Wissen als »komplementäre[n] Lernprozess«43 versteht. Dadurch gab Habermas nicht das Selbstverständnis säkularer Vernunft zugunsten eines religiösen Bekenntnisses auf, sondern wies vielmehr die dialektische Spannung zwischen beiden Polen menschlicher Selbst- und Weltinterpretation auf. Angesichts der Frage nach Schuld und Verantwortung, Würde und Freiheit des Menschen betont Habermas, dass mit der Säkularisierung, die religiöse Inhalte eliminierte, »etwas verloren« ging, das von der profanen Vernunft nicht ersetzt werden kann.44 In seinen 2005 erschienenen Beiträgen Zwischen Naturalismus und Religion entwickelt Habermas das in seiner Friedenspreisrede skizzierte Verhältnis von religiöser und säkularer Vernunft weiter. »Das nachmetaphysische Denken verhält sich zur Religion lernbereit und agnostisch zugleich«45, so Habermas. Schon 2001 hatte er betont: Die profane Vernunft könne »von der Religion Abstand halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen«46. Diese Verhältnisbestimmung ist entscheidend: Religiöse Überlieferungen können »eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft entfalten, sobald sie ihre profanen 40 Habermas, Jürgen: »Glauben und Wissen«, in: ders., Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt am Main 2001, S. 9 – 31; 29. 41 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main 1987, S. 163. 42 Vgl. Habermas, Jürgen: »Ein Bewusstsein von dem, was fehlt«, in: Reder, Michael / Schmidt, Josef (Hg.): Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 2008, S. 26 – 36. 43 Ebd., S. 33. 44 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen, in: ders.: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt am Main 2001, S. 24 f. 45 Habermas, Jürgen: »Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den »öffentlichen Vernunftgebrauch« religiöser und säkularer Bürger«, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005, S. 119 – 154; 149. 46 Habermas, Jürgen: »Glauben und Wissen«, in: ders.: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt am Main 2001, S. 29.

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Wahrheitsgehalte preisgeben«, und zugleich gilt: »Die Gehalte, die sich die Vernunft durch Übersetzung aneignet, müssen dem Glauben nicht verloren gehen.«47 Es ist also möglich, das Potential religiöser Traditionen, die für Habermas »Ressourcen der Sinnstiftung«48 darstellen, der gesamten Gesellschaft zukommen zu lassen, ohne Religion zu säkularisieren oder die (post-)säkulare Gesellschaft zu »missionieren«. Erforderlich ist dazu eine wechselseitige »Toleranzzumutung«, die Habermas so umschreibt: »Das Toleranzverständnis von liberal verfassten pluralistischen Gesellschaften mutet nämlich nicht nur den Gläubigen im Umgang mit Andersgläubigen die Einsicht zu, dass sie vernünftigerweise mit dem Fortbestehen eines Dissenses zu rechnen haben. Dieselbe Einsicht wird auch Ungläubigen im Umgang mit Gläubigen zugemutet. Für das säkulare Bewusstsein bedeutet das aber die Aufforderung, das Verhältnis von Glauben und Wissen selbstkritisch zu bestimmen. Denn die Erwartung einer fortdauernden Nicht-Übereinstimmung von vernünftigem Weltwissen und religiöser Überlieferung verdient nur dann das Prädikat ›vernünftig‹, wenn religiösen Überlieferungen aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist.«49 Mit dieser Position wird zum einen – gegen religiös-integralistische Tendenzen – der bleibend säkulare und plurale Charakter der gesellschaftlichen Öffentlichkeit betont, zum anderen werden – gegen die einseitige Sicht der »klassischen« Säkularisierungstheorie – die bleibende Präsenz sowie das Humankapital und Rationalitätspotential von Religionen gewürdigt. Für die Gläubigen bringt diese Verhältnisbestimmung allerdings eine beachtliche Herausforderung mit sich: sie müssen sich die diskursive (also durch Kommunikation und Argumentation bestimmte) Kompetenz des Übersetzens religiöser in säkulare Sprache aneignen und sich im Kontext nachmetaphysischer Begründungsmuster bewegen können, und das heißt: »Statt der widerwilligen Anpassung an extern auferlegte Zwänge muss sich die Religion inhaltlich auf die normativ begründete Erwartung einlassen, die weltanschauliche Neutralität des Staates, gleiche Freiheiten für alle Religionsgemeinschaften und die Unabhängigkeit der institutionalisierten Wissenschaften aus eigenen Gründen anzuerkennen.«50 Es ist ohne Zweifel eine »asymmetrische Bürde«51, die religiösen 47 Habermas, Jürgen: »Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den »öffentlichen Vernunftgebrauch« religiöser und säkularer Bürger«, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005, S. 149. 48 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen, in: ders., Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt am Main 2001, S. 22. 49 Habermas, Jürgen: »Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte«, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005, S. 258 – 278; 271. 50 Habermas, Jürgen: »Ein Bewusstsein von dem, was fehlt«, in: Reder, Michael / Schmidt, Josef

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Bürgern auferlegt wird und sie dazu herausfordert, das semantische, ethische, soziale und humane Potential ihrer religiösen Tradition in säkularer Sprache auszudrücken, also so zu übersetzen, dass es in die gesellschaftliche Auseinandersetzung eingebracht werden kann. Anders aber können religiöse Bürger nicht erwarten, dass ein »komplementärer Lernprozess« in Gang kommt und »religiösen Überzeugungen aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist«52. Dieser Vorschlag von Habermas, durch Übersetzung jene – vorerst nur Religiösen zugängliche – Intuition zum Ausdruck zu bringen, die »auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann«53, wurde von theologischer Seite aufgegriffen; in dieser Diskussion wurde allerdings auch deutlich auf die Grenzen der Übersetzbarkeit hingewiesen.54 Ob die übersetzten Gehalte dem Glauben tatsächlich »nicht verloren gehen«, wie Habermas meint, ist nach wie vor eine offene Frage, und es spricht einiges dafür, hier berechtigte Zweifel anzumelden.55 bzw. genauer nachzufragen, wie etwa eine solche Übersetzung »säkular sprachfähig« und »religiös kenntlich«56 zugleich sein kann. Dennoch ist

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(Hg.): Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 2008, S. 33. Habermas, Jürgen: »Religion in der Öffentlichkeit«, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005, S. 144. Habermas, Jürgen: »Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte«, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005, S. 271. Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen, in: ders., Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt am Main 2001, S. 30. Vgl. Langthaler, Rudolf / Nagl-Docekal, Herta: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien 2007. – Walter Raberger etwa bringt im Resümee seines Beitrags die Frage des Übersetzungsvorbehalts so zur Sprache: »Der Wahrheitsanspruch der jüdischchristlichen Überlieferung wird gewiss der Probe sich stellen müssen, ob er als Glaube der Rettung des Humanen dient; die profane Einwanderungsbehörde für religiöse Intuitionen wird dieser Probe sich ebenso wenig entziehen dürfen, es wäre doch denkbar, dass mit der vom Weltwissen ignorierten Unabgegoltenheit dieser Intuitionen der Mensch sich selbst verliert« (»Übersetzung« – »Rettung« des Humanen? In: ebd., S. 238 – 258; 258). Vgl. die kritische Rückfrage von Magnus Striet: »Dem Erbe der europäischen Aufklärung und den normativen Ideen der europäischen Moderne, ihrem Menschenrechtsethos, entschieden verpflichtet, weiß Habermas zwar : Die Herkunft dieser Ideen ist nicht verstehbar zu machen ohne das Bild vom Menschen, wie es die jüdisch-christliche Glaubenstradition verantwortet und historisch zur Geltung gebracht hat. Nichtsdestotrotz denkt Habermas aber konsequent in der Kategorie der Postsäkularisierung, also der Weise einer historisch notwendig gewordenen Übersetzung des semantischen Potenzials religiöser Sprache in säkulare Sprache« (Grenzen der Übersetzbarkeit. Theologische Annäherungen an Jürgen Habermas. In: ebd., S. 259 – 282; 270 f.). Plonz, Sabine: »Jenseits von Wahrheitsanspruch und Toleranzgebot. Religionskritische Annäherungen an eine weltgewandte Theologie«, in: dies., Himmlisches Bürgerrecht – Liebe zur Welt. Anläufe zu einer dialogisch-politischen Theologie im ökumenischen Kontext. Frankfurt am Main 2007, S. 118 – 144; 133.

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der hier vorausgesetzte Anspruch, eine (religiöse) Überzeugung in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen, kommunizieren und argumentieren zu können, von entscheidender Bedeutung. Statt darauf zu hoffen, dass sich ein religiöses Bekenntnis durch gesellschaftliche Konvention, kulturelle Tradition oder politische Macht durchsetzt, könnte sich die Kirche das Plädoyer Habermas’ für Dialog und Lernprozesse, diskursive Auseinandersetzung und Übersetzung zu eigen machen – und dadurch auf eine ureigene kirchliche Kompetenz stoßen. Die Fähigkeit, eigene Überzeugungen übersetzen zu können, besteht allerdings nicht in einer kommunikationstechnisch geschickten Taktik, die eigenen Slogans besser verkaufen zu können, sondern in der diskursiven Kompetenz, den Gehalt eines religiösen Bekenntnisses in eine öffentliche Diskussion einzubringen. Dass eine solche Fähigkeit gerade in einer pluralen Gesellschaft, in der unterschiedliche religiöse und säkulare Lebensüberzeugungen vertreten sind, entscheidend dazu beiträgt, ein konstruktives politisches und soziales Zusammenleben zu gewährleisten, liegt auf der Hand. Ein zentraler neutestamentlicher Topos zielt genau auf diese Möglichkeit der vielsprachigen Übersetzbarkeit einer Glaubenshoffnung: Pfingsten. Was bisher nur für eine Gruppe verständlich war, können nun auch andere verstehen (Apg 2,8); Menschen beginnen, in fremden Sprachen zu reden (Apg 2,4). Nicht die religiöse Überwältigung, sondern das wechselseitige Verstehen ist das Kennzeichen des Glaubens am Anfang christlicher Gemeinde. Das »Reden in neuen Sprachen« (Mk 16,17) wird gleichsam zum Markenzeichen österlicher Existenz – und zwar nicht bloß als charismatisches Szenario in einer vorübergehenden Situation, sondern als Grundmerkmal kirchlichen Lebens. Ein unbekannter afrikanischer Autor aus dem sechsten Jahrhundert kommentiert das Pfingstereignis mit dem Hinweis, Gott habe durch die Gegenwart des Heiligen Geistes gezeigt, »dass seine Kirche in allen Sprachen reden werde«57. Die Apostel, so der Autor, »zeigten in diesem Wunder aufs deutlichste, dass die Kirche durch die Sprache aller Völker katholisch sein werde«58. Damit ist eine zentrale ekklesiologische Aussage getroffen: Katholisch sein heißt, in vielen Sprachen zu reden, Dolmetscher zwischen unterschiedlichen Sprach- und Kulturgruppen zu sein. Das »Katholische« identifiziert der antike afrikanische Autor nicht als eine Sprache von vielen, sondern vielmehr als die Fähigkeit, sich in diesem Universum von Sprachen bewegen zu können. Auf diese Weise wird ein – von der Kirche selbst oft unterschätztes – Potential des Katholischen sichtbar : Übersetzung, Vermittlung und Verständigung zu ermöglichen. Andreas Eckerstorfer 57 Aus einer Predigt, zitiert nach: Die Feier des Stundengebets. Lektionar für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Heft 3: Osterzeit. Erste Jahresreihe. Freiburg im Breisgau 1979, S. 212. 58 Ebd., S. 213.

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weist deutlich auf diese hermeneutische und diskursive Kompetenz hin: »Der Beitrag der Kirchen in der heutigen Fragmentierung und universalen Anspruchslosigkeit muss also zentral auf die Möglichkeit einer globalen Kommunikation über Systemgrenzen hinweg abzielen. Der Welt wäre in der Überwindung partikularistischer Geschlossenheiten ein großer Dienst erwiesen.«59 Vielleicht trägt gerade die gegenwärtige Situation der kulturellen Spannungen, politischen Rivalitäten und vielfältigen Partikularismen dazu bei, die Kompetenz des Übersetzens, des Dialoges und des wechselseitigen Lernens als Urmerkmal einer »katholischen Einstellung« wieder zu entdecken?

2.2

Ordnungen: responsive Differenz

In der Diskussion über Kirchenreformen schwingt immer auch die Frage nach einer rechten, lebbaren Ordnung mit. Der Katholizismus repräsentiert – wie auch alle anderen Religionsgemeinschaften – eine »Ordnung«; er steht in einem spezifisch geordneten Zusammenhang von Lebens- und Sozialstrukturen und weist auf lokaler und globaler Ebene typische Muster auf. Manche Stichworte wie Hierarchie, Kirchenrecht, liturgische Rubriken oder Kirchenbeitrag weisen auf Elemente dieser »katholischen Ordnung« hin, die immer wieder Anlass für kontroverse Diskussionen bieten; andere Stichworte wie Pfarrgemeinderat, Caritas, Katholische Jugend oder Ökumenereferat rufen in Erinnerung, dass Ordnungen, Orientierungen und Institutionen im Rahmen der katholischen Kirche vielfältig und notwendig sind und für viele Menschen auch Schutz und Unterstützung bedeuten. Nicht die Existenz von Ordnungen steht zur Diskussion60, sondern der Anspruch, dass eine bestimmte Ordnung des Katholischen keine Alternative zulasse oder aus theologischen Gründen genau so zu sein habe, wie sie sich konkret darstellt. Was hier für die einen als von Christus verbürgter Lebenszusammenhang zu begreifen ist, stellt für die anderen eine regressive Blockade aus einer vormodernen Gesellschaftsordnung dar. Lässt sich nun so etwas wie eine »katholische (Lebens-)Ordnung« ausmachen? Gibt es Kriterien dafür, eine Ordnung in den Ordnungen zu finden? Oder sind kirchliche Ordnungen einfach positivistisch zu entwerfen und pragmatisch zu rechtfertigen? Bernhard Waldenfels, Hauptvertreter der »Phänomenologie des Fremden« im deutschen Sprachraum und bis 1999 Professor für Philosophie an der Universität Bochum, hat sich in seinem Werk Ordnung im Zwielicht eingehend mit 59 Eckerstofer, Andreas: Kirche in der postmodernen Welt. Der Beitrag George Lindbecks zu einer neuen Verhältnisbestimmung. Innsbruck 2001, S. 290. 60 So hat etwa die Diskussion über die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gezeigt, wie wichtig es ist, nachhaltig »Ordnung« in diese Affäre zu bringen und Institutionen zu errichten, die geschehenes Unrecht aufklären und künftige Straftaten verhindern.

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dieser Frage auseinandergesetzt. Ordnung – verstanden als »ein geregelter (d. h. nicht-beliebiger) Zusammenhang von diesem und jenem«61 – ist keine natürlich vorgegebene Größe, sondern Ergebnis von »Selektion und Exklusion«62 : Aus einer Fülle von Möglichkeiten werden einige ausgewählt, andere zurückgelassen, also eine konkrete Ordnung ermöglicht, eine andere verunmöglicht. Dementsprechend hat jede Ordnung etwas Willkürliches, Positivistisches an sich63 und greift in bestehende Strukturen ein: »Die Produktion einer Ordnung ist nicht nur der Reproduktion bestehender Ordnungen entgegengesetzt, als Neuproduktion oder Innovation lässt sie eine neue Ordnung an die Stelle der alten treten.«64 Bewusst spricht Waldenfels vom Zwielichtigen jeglicher Ordnung, das darin besteht, dass Ordnung »Erfahrungen gleichzeitig ermöglicht und verunmöglicht, dass sie aufbaut und abbaut, dass sie ausgrenzt, indem sie eingrenzt, ausschließt, indem sie auswählt, kurz: dass Licht und Schatten ineinanderspielen«65. Daraus ergibt sich – und das klingt zunächst sehr banal –, dass keine Ordnung »das Ganze« repräsentiert, sondern nur einen Teil, einen Aspekt, eine Perspektive: »Eine Ordnung im Entstehen lebt von dem, was sie draußen lässt.«66 Das, was außerhalb der Ordnung liegt, ist allerdings relevant für diese Ordnung; das Außen, das »Ausgeschlossene« bleibt virulent für das Innen der Ordnung. Es ist das Außerordentliche, »das innerhalb unserer Ordnung nicht gesagt und getan werden kann, wohl aber in einer anderen«67. Das Außerordentliche verdankt sich der »Selektivität einer Ordnung, die alles, was sich ihr unterwirft, ›so und nicht anders‹ hervortreten lässt« und genau so »ein Außen mit entstehen«68 lässt. Als »anderswo bestehende Ordnung«69 bricht das Außerordentliche die Selbstverständlichkeit einer bestehenden Ordnung auf; es steht für jene Möglichkeiten, die innerhalb der herrschenden Ordnung(en) nicht verwirklicht werden können, wohl aber in einer anderen. Waldenfels bezeichnet dieses Moment als »Anderswo«, als »Atopie«70, die gleichsam wie ein Schatten den 61 Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt am Main 1987, S. 17. 62 Ebd., S. 56. 63 »Dem Moment der Positivität entspricht ein Moment der Macht: auf allen Ordnungsstufen setzt sich eines gegen anderes durch als bedeutsam, typisch, normal, schicklich oder richtig, ohne dass es erschöpfende Gründe auf seiner Seite hätte« (ebd., S. 111). 64 Ebd., 153. – Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »Ordnungskonflikt« (ebd., S. 157). 65 Ebd., S. 173. 66 Ebd., S. 169. 67 Ebd., S. 179. 68 Waldenfels, Bernhard: Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Göttingen 2001, S. 152. 69 Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt am Main 1987, S. 179. 70 Ebd., S. 182. – In einer seiner jüngsten Veröffentlichungen ging Bernhard Waldenfels ausführlicher auf diese Thematik ein: »Es ist genau das alte und neu zu durchdenkende Motiv

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gewohnten Ordnungen folgt. Von daher gehört das »Unordentliche«, die Abweichung und Übertretung sowie die Anomalie zur Ordnung dazu, ja ist Voraussetzung zur Generierung neuer Ordnungen71. Wichtig ist deshalb der Hinweis darauf, dass jede Ordnung gerade durch das Außerordentliche am Leben erhalten wird: »Eine Normativität, die nicht durch Anormales beunruhigt und durch Enormes überschritten wird, erstarrt zu einem künstlichen System, das seiner Antriebskräfte beraubt ist.«72 Insofern Ordnungen das zu Ordnende niemals völlig in den Griff bekommen, weil »das, was geordnet wird, nicht selber dieser Ordnung entstammt«, kommt in den Ordnungen eine »konstitutive Asymmetrie«73 zur Geltung, die einzelne Ordnungen als Antwort auf einen Anspruch erkennen lässt, »der sich weder als Teil einem Ganzen einordnen noch als Fall einem Gesetz unterordnen lässt und eben deshalb eine selektive Antwort provoziert«74. Dieser für die Phänomenologie des Fremden zentrale Zusammenhang: dass das, was geantwortet wird, niemals das einholt, worauf geantwortet wird; dass jede (noch so perfekte) Ordnung hinter dem zu Ordnenden zurückbleibt; dass zwischen Antwort und Anspruch eine unüberbrückbare Differenz bestehen bleibt, die als »responsive Differenz« ein konstitutives Moment jeglichen (Fremd-)Verstehens ausmacht – diese Grundbestimmung in allen Dialogen, Begegnungen und Diskursen stellt ein wichtiges Ergebnis dieser Phänomenologie der Ordnungen dar.75 Was heißt dies nun für unser Verständnis der »Ordnung des Katholischen«? Es bedeutet, dass Identität in »Ordnungen« vermittelt wird, die durch Selektion und Exklusion einen Zusammenhang bilden. Diese Ordnungen stoßen insofern an ihre Grenzen, als sie sich als Antwort auf einen Anspruch erfahren, den sie niemals einholen können. Jede (kirchliche) Ordnung sieht sich einem Außen gegenüber, das sich als beunruhigender, außer-ordentlicher Indikator einer möglichen Anders-Ordnung bemerkbar macht. Die »Normalität« jeder Ordnung hat den Stachel der Anomalie in sich – und nur so bleiben Ordnungen

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der Atopie, das sich einer Geschlossenheit des Universums und der Gesellschaft widersetzt und jedwedes Ortsgefüge aufsprengt« (Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung. Frankfurt am Main 2009, S. 123). »Wenn das Außerordentliche die Kehrseite des Ordentlichen bildet, so sind Einbrüche und Ausbrüche so weitläufig und vielfältig wie die Regelhaftigkeit, die sich je nach Ordnungsbereichen, Ordnungstypen, Betätigungsarten und Lebensformen verschiedenartig darstellt« (Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt am Main 1987, S. 190). Ebd., S. 189. Ebd., S. 47. Ebd., S. 174 f. »Man kann sagen, dass die vielfältigen Versuche, das anarchische Ereignis des Sagens in finalen, kausalen, funktionalen oder formalen Ordnungen einzufangen, es zu subjektivieren, zu objektivieren, zu logifizieren oder zu normalisieren, aus einem Vergessen der responsiven Differenz hervorgehen« (Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. Frankfurt am Main 1994, S. 242).

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lebendig. Die Versuchung aller politischen und religiösen Systeme besteht in der »Normalisierung« des Außerordentlichen, in der »Bewältigung« oder »Einbeziehung« dessen, was außerhalb der Norm liegt; Bernhard Waldenfels hat diese Strategie eindrücklich beschrieben: »Zu den Versuchen, Neuartiges und Fremdartiges zu bewältigen und ihm seinen Stachel zu nehmen, gehört die ständige Tendenz, abweichende Ereignisse in normale Ereignisse umzudeuten, so dass sie nach den Maßstäben der jeweils herrschenden Ordnung bemessen werden können. So wird aus Heterodoxie Ketzerei, aus Revolution Konterrevolution, aus Revolte Verbrechen, aus der Anomalie ein klinischer Fall. Eine Ordnung, die es gibt, wird emporgesteigert zur einzig wahren Ordnung, so dass alle Abweichungen der Unordnung bezichtigt werden.«76 Auch wenn die katholische Kirche in ihrer Geschichte ihre eigene Lebens- und Glaubensordnung als »einzig wahre Ordnung« angesehen hat, ist immer wieder deutlich geworden, dass »katholisch« sein genau nicht die Festlegung einer Ordnung meint, sondern die Kommunikations- und Vermittlungsfähigkeit zwischen verschiedenen Ordnungen und vor allem die Wahrnehmung kirchlicher Ordnungen als Antwort auf jenes Außerordentliche, das Kirche zu dem macht, was sie ist. Dass es innerhalb der katholischen Kirche verschiedene Riten und Teilkirchen (von denen die römisch-katholische Kirche nur eine von mehreren bildet) und sogar zwei Geltungsbereiche von Kirchenrecht (CIC und CCEO) gibt, ist kein bedauerliches Organisationsproblem, sondern Ausdruck der Katholizität der Kirche, die – wie die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils anmerkt – »aus vielfältigen Ordnungen gebildet wird« (LG 13). Eine »typisch katholische Einstellung« besteht demnach nicht in der hartnäckigen Verteidigung einer Ordnung, die als unveränderlich und gottgegeben vorgestellt wird, sondern in der Ausrichtung auf jene »außer-ordentliche« Wirklichkeit, die in den Ordnungen kirchlichen Lebens gegenwärtig ist, über die aber keine Ordnung verfügen kann. Gerade das Beachten der »responsiven Differenz« – ekklesiologisch gesprochen – zwischen dem Reich Gottes und den Kirchen macht eine wahrhaft katholische Haltung aus, die in und hinter verschiedenen Ordnungen das Außerordentliche wahr- und ernst nimmt. Von diesem Ansatz einer Phänomenologie der Ordnungen aus ließen sich vielversprechende Zugänge zur Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils sowie zur Theologie der Ökumene gewinnen, die im Einzelnen erst auszuarbeiten wären.77 Jener seltsam erscheinende Zusammenhang, dass Ordnungen zwar prägend 76 Waldenfels, Bernhard: Schattenrisse der Moral. Frankfurt am Main 2006, S. 107. 77 Wichtige Überlegungen dazu finden sich bei Hoff, Gregor Maria: Ökumenische Passagen – zwischen Identität und Differenz. Fundamentaltheologische Überlegungen zum Stand des Gesprächs zwischen römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Kirche. Innsbruck 2005. – »Ohne die externen Ansprüche kann Kirche nicht sie selbst sein, weil sie in einen missionarischen Außenbezug gestellt ist« (ebd., S. 173).

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und identitätsvermittelnd sind, sich zugleich aber als kontingent und responsiv erweisen, insofern sie auf ein Außen ihrer selbst bezogen sind, ist für die katholische Theologie eigentlich eine Selbstverständlichkeit, und sie hat für jene Dialektik des Ordentlich-Außerordentlichen auch einen Begriff: Sakrament. Eine sakramentale Vermittlung verweist in einer konkreten Lebensordnung auf ein Außer-Ordentliches; traditionell gesagt: sie ist »sichtbares Zeichen einer unsichtbaren Gnade«. Eine sakramentale Identität, wie sie die Kirche vom Zweiten Vatikanischen Konzil her nachdrücklich für sich selbst in Anspruch nimmt, bedeutet nicht die Etablierung einer unverfügbaren Ordnung, die das »Heilige« inkludiert und das »Profane« exkludiert, sondern lebt konstitutiv aus der Differenz zwischen dem Anspruch des Außerordentlichen und der Antwort einer Ordnung. Wird diese responsive Differenz aufgelöst, entsteht eine heilstotalitäre Ordnung, in der der Anspruch des Evangeliums und die Realität der Kirche in eins fallen – aber genau das wäre kein sakramentaler Vollzug mehr, der nicht in einer totalitären Identifizierung von »Heil« und »Geschichte« besteht, sondern in einer Öffnung auf jene Irritation hin, die die durch die herrschenden Ordnungen nicht »normalisiert« werden kann. Katholische Theologie als Ordnung von Diskursen, katholische Kirchlichkeit als Ordnung einer Glaubensgemeinschaft, katholische Identität als religiös-kultureller Lebenszusammenhang verdanken sich der Differenz zwischen dem, was »geordnet« wird, und dem, was »ordnet« – ohne beides zu identifizieren oder auseinander zu reißen. Das Strukturmerkmal des »Katholischen« kommt einer Ordnung dann zu, wenn sie Lebens- und Glaubenszusammenhänge reguliert und diese zugleich öffnet auf jenen Anspruch hin, der in keiner Ordnung aufgeht.

2.3

Universalismen: polyloge Relation

Kritik an der Kirche, das war der Ausgangspunkt dieses Abschnitts, hängt oft mit enttäuschten Erwartungen zusammen, was Identität und Austausch, Werte und Prinzipien, Gemeinschafts- und Vermittlungskompetenzen betrifft. Menschen suchen nach einem authentischen Selbstverständnis und wollen lebenstragende Überzeugungen mit anderen teilen. Lebenseinstellungen, Weltbilder und grundlegende Erfahrungen, die Identität vermitteln, sollen Anklang bei anderen finden, ja auch Geltung beanspruchen. Genau hier steckt aber bekanntlich das Problem, inwieweit eine Person, eine Gruppe, eine Institution für ihre Überzeugungen »universale Geltung« beanspruchen kann. Wie ist es in der heutigen Welt überhaupt möglich, dass etwas »allgemein gültig« ist – und das ist schließlich die formale Bedeutung von »katholisch«: alle betreffend. Heißt »katholisch« sein, eine religiöse Tradition zu universalisieren, sodass die einzelnen Ortsgemeinden in aller Welt als Filialen eines internationalen Konzerns

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erscheinen? Besteht das Faszinierende am Katholischen darin, dass ein bestimmtes Lehr-, Symbol- und Glaubenssystem vom »ältesten global player« überallhin exportiert wird, sodass eine bestimmte religiöse Lebensordnung global identifizierbar wird? Was heißt in diesem Zusammenhang überhaupt »global« und »universal«? Ich folge bei der Beantwortung dieser Frage den Überlegungen des Wiener Philosophen Franz Martin Wimmer, der in seinem Werk Interkulturelle Philosophie davon ausgeht, dass jegliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit dieser Welt ein »zentristisches Denken«78 darstellt. Jeder Ansatz eines Selbstund Fremdverständnisses setzt ein Zentrum und eine Peripherie voraus; die Konstruktion von »Zentrismen«79 ist hermeneutisch unvermeidlich. Wimmer unterscheidet vier solcher Zentrismen80, die das Verhältnis zwischen dem »Eigenen« und dem »Anderen«, dem »Mittelpunkt« und dem »Rand«, dem »Eigentlichen« und dem »Uneigentlichen« je anders entwerfen: (1) Die eigene Tradition wird als Zentrum ausgegeben; ihre Überzeugungen, Werte und Einstellungen werden auf die anderen kulturellen Orte übertragen und deren Identität faktisch zu beseitigen versucht. Dieses Modell, das vor allem im Kolonialismus verwirklicht wurde, nennt Wimmer »expansiven Zentrismus«. (2) Das Eigene wird nach wie vor als Zentrum und Höhepunkt der kulturellen Entwicklung angesehen, aber nicht mehr durch eine expansive Strategie weiterverbreitet, sondern als (weltweites) Vorbild angesehen, das für sich selbst spricht und von den Anderen, sobald sie die nötige »Reife« und »Einsicht« erlangt haben, als höchste und beste Verwirklichungsgestalt des Lebens akzeptiert wird. Wimmer bezeichnet dieses zweite Modell, das etwa im »American way of life« wirksam wird, als »integrativen Zentrismus«. (3) Schließlich besteht die Möglichkeit, mehrere Zentren anzunehmen, zwischen denen keine Interaktion besteht; jede kulturelle oder nationale Tradition hat ihr eigenes Zentrum und ihre eigene Identität, die sich faktisch selbst genügt. Nach außen hin herrscht völlige Toleranz; keiner beeinflusst den anderen oder dominiert ihn gar. Nach innen aber wird nicht selten ein Konformitätsdruck erzeugt und eine homogene Identität aufgebaut, die die »Einen« deutlich von den »Anderen« unterscheidbar machen soll. Dieses relativistische Modell, das oft in der Gestalt von Ethnophilosophie auftritt, versteht Wimmer als »separativen Zentrismus«. (4) Das vierte Konzept vermeidet zum einen die Problematik des expansiven und integrativen Zentrismus, die beide vorab ein Zentrum kultureller Identität festsetzen, von dem her »Universalität« entworfen wird, lässt sich aber auch nicht auf die Schwäche des separativen Relativismus ein, der die sozialen und 78 Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien 2004, S. 12. 79 Ebd., S. 15. 80 Vgl. ebd., S. 15 – 17.

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kulturellen Dominanzverhältnisse letztlich von außen nach innen verlagert. Der Anspruch auf universale Geltung bestimmter Argumente, Traditionen, Werte usw. bleibt aufrecht, wird also nicht relativistisch aufgelöst, aber auch nicht universalistisch vorgegeben, als wäre von vornherein klar, wo und wie »Universalität« festzumachen sei.. Vielmehr sind die eigenen Überzeugungen in einen Prozess der wechselseitigen Auseinandersetzung, der kritischen Diskussion und der versuchsweisen Universalisierung einzubringen, um ihren etwaigen universalen Geltungsanspruch zu bewähren. Dieser Ansatz ist unter dem Titel »Polylog« bekannt geworden und versteht sich als »tentativer Zentrismus«. Das polylogische Verfahren, das einem »allseitigen Gespräch«81 gleichkommt, entspringt der Möglichkeit und Notwendigkeit, »in der Philosophie eine ›Kommunikationspraxis‹ zu befördern, die auf eine andere Art von Universalität abzielt«82. Franz Wimmer geht es dabei weniger um eine bestimmte Art und Weise der Argumentation und Kommunikation, sondern um eine hermeneutische Haltung, die sich weder einem vereinnahmenden Universalismus noch einem relativistischen Kontextualismus anschließt.83 Die eigene Tradition soll so vorurteilslos als möglich mit anderen Überzeugungen ins Gespräch gebracht werden, denn: »Für jede Tradition ist jede andere ›exotisch‹.«84 Es ist klar, dass dies ein eminent hoher Anspruch ist und das Ideal eines »Polylogs« immer nur ansatzweise verwirklicht werden kann. Um »Universalität« nicht als Extrapolation des Eigenen, sondern als Horizont und Anspruch eines mühsamen, allseitigen Gesprächs- und Begegnungsprozesses zu verstehen, bedarf es eines Maßes an Offenheit, Aufmerksamkeit und Kommunikationsfähigkeit, das in der gesellschaftlichen Realität nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Durchaus vorsichtig formuliert Wimmer daher als Arbeitshypothese: »Unter den Bedingungen der Globalisierung sind Verfahrensweisen philosophischer Diskussion und Argumentation zu entwickeln, die mindestens tendenziell polylogisch sind.«85 Ziel und letzte Motivation eines solchen poly81 Ebd., S. 182. 82 Wimmer, Franz Martin: Gibt es Maßstäbe für kulturelle Entwicklung aus interkulturellen Begegnungen der Philosophie? In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 16 (2007), S. 97 – 112; 102. 83 In diesem Zusammenhang ist an die wichtige Auseinandersetzung von Jürgen Habermas mit Richard Rorty zu erinnern, deren Kritik einer kontextualistischen Erkenntnistheorie auch für die Theologie von eminenter Bedeutung ist. Ein Grundsatz der Habermasschen Diskurstheorie der Wahrheit lautet: »Was wir für wahr halten, muss sich mit überzeugenden Gründen nicht nur in einem anderen Kontext, sondern in allen möglichen Kontexten, also jederzeit gegen jedermann verteidigen lassen« (Habermas, Jürgen: »Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende«, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 1999, S. 230 – 270; 259). 84 Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien 2004, S 70. 85 Wimmer, Franz Martin: Anlass, Begriff und Aufgabe interkultureller Philosophie, in: Kanzian, Christian / Runggaldier, Edmund (Hg.): Cultures. Conflict – Analysis – Dialogue.

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logen Unternehmens ist nicht eine hermeneutische Akrobatik, sondern der Abbau von Stereotypen und Feindbildern, die Beförderung von Offenheit und Verständnis, die Analyse kulturell und ethnisch geprägter Denkmuster sowie vor allem die Förderung von Humanität und Frieden.86 Es wäre demnach ein großes Missverständnis, das Modell des Polylogs einer bestimmten Schule oder einem speziellen Fach zuzuordnen; der Sinn dieses Unternehmens liegt vielmehr darin, in unterschiedlichen Kontexten, Fachrichtungen und Traditionen eine Haltung (selbst-)kritischer Offenheit und allseitiger Verständigungsbereitschaft zu entwickeln. Mit Blick auf diesen interkulturell versierten Zugang zum Verständnis von »Universalität« vertrete ich hier die These, dass der Begriff »Katholizität« genau jene Weise tentativer Universalität meint, die in der Gestalt eines Polylogs zum Ausdruck kommt. »Katholisch« sein meint weder die gewaltsame Expansion eines Zentrums noch die stillschweigend vorausgesetzte Integration und Vereinnahmung anderer und schon gar nicht die Separation, den Rückzug auf das eigene Milieu. Der Terminus »katholisch« steht für die Fähigkeit, die eigene Überzeugung in einer polylogisch-interkulturellen Auseinandersetzung zur Geltung zu bringen und in vielfältigen Begegnungen Neues über sich selbst, über die Anderen sowie über die Botschaft des Glaubens zu lernen. Nur so macht die Bezeichnung »Weltkirche« wirklich Sinn87: »Zu den allgemeinen Bedingungen des Dialogs der römisch-katholischen Kirche als Weltkirche gehört, dass sie in einem ›Polylog‹ steht, dem sich sonst keine Großinstitution aussetzt. Sie steht in einer spannungsreichen Beziehung nicht allein mit den unterschiedlichsten Kulturen, Religionen und Weltanschauungen, sondern auch zu den verschiedensten Gruppen, Altersstufen und Geschlechtern. Wie sollte sie sonst Sakrament der Einheit genannt werden können? […] Eine Weltkirche führt immer einen höchst komplexen ›Polylog‹.«88 Was Roman Siebenrock hier als weltkirchlichen Grundvollzug aufzeigt, ist natürlich oft mehr Ideal als Wirklichkeit; allzu oft wurde die katholische Kirche als Institution erlebt, die einen Monolog führte – sei es als einseitige Direktive an andere, sei es als Selbstgespräch. Gerade die heutige Herausforderung der Globalisierung sollte helfen, eine alte ekkleProceedings of the 29. International Ludwig Wittgenstein Symposium Kirchberg am Wechsel, Austria 2006. Heusenstamm 2007, S. 315 – 328; 323. 86 Vgl. Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien 2004, S. 134. 87 Vgl. Raberger, Walter : Welt – Kirche: Weltkirche. Vom Umgang mit dem »Außeralltäglichen« oder: Von der »Weigerung, zu vergessen, was sein könnte«, in: Theologisch-praktische Quartalschrift (ThPQ) 148 (2000), S. 12 – 24. 88 Siebenrock, Roman: »Was heißt ›Dialog‹? Versuch einer Explikation«, in: Hünermann, Peter / Hilberath, Bernd Jochen (Hg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 5: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Theologische Zusammenschau und Perspektiven. Freiburg im Breisgau 2006, S. 341 – 349; 344 f.

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siologische Wahrheit wieder zu entdecken: Katholisch Kirche sein heißt, die christliche Botschaft in allseitigen Gesprächen und Begegnungen zu vertreten, in einer wirklich polylogen Lebens- und Denkform. Vor mehr als achtzig Jahren schrieb Henri de Lubac SJ über den Katholizismus den bemerkenswerten Satz: »Er ist die einzige Wirklichkeit, die, um zu sein, es nicht nötig hat, sich entgegenzusetzen, also alles andere als eine ›geschlossene Gesellschaft‹ […]. Die Kirche ist überall zu Hause, und jeder soll sich in der Kirche zu Hause fühlen können.«89 Aus dieser Bemerkung wird ersichtlich, was »Universalität« bedeuten könnte: nicht die Ausbreitung des eigenen Selbstverständnisses auf bzw. gegen andere, sondern die Offenheit für einen Horizont, der gerade in der Begegnung mit anderen aufgeht. Eine – in diesem radikalen Sinn – verstandene Haltung der »Katholizität« wird nicht im Modus des Exklusiven, sondern des Dialogs auftreten.90 Der Begriff der »induktiven Katholizität«, den der in Burkina Faso tätige Theologe und Bischof Anselme Titianma Sanon immer wieder betonte, ist ein konkretes Beispiel für jene polyloge Relation, die das Grundmuster des Katholischen ausmacht: »Die Katholizität der Kirche ist so der lebendige Austausch zwischen allen – die Kommunion aller –, an dem jeder im selben Glauben mit seiner Person und mit seinen Fähigkeiten teilnimmt […]. Das neue ist hier der Aufruf und die Erwartung, dass die Universalität nicht nur und auch nicht an erster Stelle durch Deduktion, d. h. durch Entscheidungen und Maßnahmen von oben nach unten entsteht, sondern durch Induktion, d. h. von der Basis her, durch die Anstrengungen in den verschiedenen Partikular- oder Ortskirchen verwirklicht wird. Nur so entsteht eine neue Erfahrung der Universalität, die die Partikularität des westlichen Christentums transzendiert und den Reichtum des Partikularen in seiner Universalität zur Fülle bringt.«91 Der Begriff des »Katholischen« – wie er übrigens allen Kirchen als Kennzeichen des Glaubens zukommt92 – besagt somit eine Vermittlungsgestalt

89 de Lubac, Henri: Glauben aus der Liebe. Übertragen und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln / Freiburg 1992 [1970], S. 263 [Orig.: Catholicisme. Les aspects sociaux du dogme. Paris 1938]. – Genau dieselbe Intuition traf Bischof Manfred Scheuer bei seinem Festvortrag bei den Salzburger Hochschulwochen 2009: »Es wäre ein großes Unglück, den Katholizismus gegen jemanden gelernt zu haben« (Scheuer, Manfred: »Kirche in der Welt von heute«, in: Hoff, Gregor Maria (Hg.): Weltordnungen. Salzburger Hochschulwochen 2009. Innsbruck 2009, S. 9 – 40; 18). 90 Vgl. Schreiter, Robert J.: Die neue Katholizität. Globalisierung und die Theologie. Frankfurt am Main 1997, S. 218 – 226. 91 Sanon, Anselme Titianma: »Die universale Botschaft des Christentums und kulturelle Pluralität«, in: Concilium 16/5 (1980), S. 355 – 366; 361. 92 Ich schließe mich hier der Auffassung von Silvia Hell an: »›Katholizität‹ ist ein ökumenisches Anliegen. Denn sie geht alle Kirchen an« (Vorwort zu: Hell, Silvia (Hg.): Katholizität. Konfessionalismus oder Weltweite? Beiträge der ökumenischen Forschungsprojektgruppe an der Katholisch-Theologischen Fakultät Innsbruck. Innsbruck 2007, S. 7 f.; 7). – Vgl. den

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christlicher Identität, die in einer offenen, polylogen Weise der Auseinandersetzung mit tendenziell allen relevanten Dialogpartnern auf Universalität hin tendiert und sie zeichenhaft realisiert. Eine solche tentative und polyloge Dynamik des Katholischen bringt durchaus kritische Unterscheidungen, Abgrenzungen und auch Konflikte mit sich, verdankt aber den Charakter ihrer Universalität letztlich der Erfahrung, dass jede Kultur, jeder Diskurs und jede Tradition angesichts der Wahrheit, auf die hin die Kirche unterwegs ist, »exotisch« ist und vorläufig bleibt.

3.

Eine Perspektive: Katholizität als kenotische Universalität

Wie ich mit Bezug auf drei gegenwärtige philosophische Diskurse zeigen wollte, hat »Katholizität« als Vermittlungsgestalt christlicher Glaubensidentität zentral mit der diskursiven Kompetenz einer Übersetzung zwischen religiösen und säkularen Sprachwelten, mit dem Wahrnehmen einer responsiven Differenz zwischen ekklesialen Ordnungen und dem »zu ordnenden« Anspruch des Außerordentlichen sowie mit der Entwicklung einer polylogen Beziehungs-, Kommunikations- und Diskursfähigkeit zwischen unterschiedlichen Traditionen zu tun. »Katholizität« ist, wie Ralf Miggelbrink hervorhebt, »eine Eigenschaft der Entgrenzung und Verbindung, nicht der Abgrenzung und des Ausschlusses«93. Was kirchengeschichtlich vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert als (vermeintliche oder tatsächliche) Bedrohung des »Katholischen« erschien und zu einer kirchlichen Festungsmentalität sowie einer ekklesiologischen Apologetik führte94 – Säkularisierung, Pluralisierung, Kritik der Traditionen, Autoritäten und Institutionen –, hat sich als Chance und Herausforderung authentischer Katholizität erwiesen. Wer »katholisch« ist, kann zwischen religiösen und säkularen Sprachen dolmetschen, mit dem irritierenden Außen von Ordnungen umgehen und im Horizont einer tentativ verstandenen Universalität einen Polylog führen, der der kulturtranszendenten Dynamik christlicher Offenbarung mehr entspricht als ein einseitiger Monolog oder ein nur »auf Vorbehalt« geführter Dialog. Für die römisch-katholische Kirche gehört jene Vermittlungsfigur, die ich als diskursive, responsive und polyloge Form von Universalität bezeichnet habe, zu ihrem dogmatischen Selbstverständnis. Wenn vor allem die programmatischen ökumenisch-ekklesiologisch interessanten Sammelband: Müller, Wolfgang W. (Hg.): Katholizität – Eine ökumenische Chance. Zürich 2006. 93 Miggelbrink, Ralf: Einführung in die Lehre von der Kirche. Darmstadt 2003, S. 115. 94 Vgl. die interessante religionssoziologische Bestandsaufnahme in: Kaufmann, Franz-Xaver / Zingerle, Arnold (Hg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven. Paderborn 1996.

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Präambeln der beiden Schlüsseltexte des Zweiten Vatikanischen Konzils Lumen gentium und Gaudium et spes in ihrem systematischen Anspruch ernst genommen werden95, eröffnet sich ein zukunftsweisender ekklesiologischer Ansatz sowie eine Wegweisung für die Kirche, deren Verwirklichung erst begonnen hat. (1) Die »Ordnung« des Katholischen lebt vom Außerordentlichen dessen, was diese Ordnung so virulent macht; in den Worten von LG 1: Die Kirche ist Empfängerin des Lichtes Christi, der alle Menschen und Völker erleuchtet, und sie ist in diesem Licht Christi Sakrament, Zeichen und Werkzeug Gottes für die Menschen; in ihrer Ordnung wird sichtbar, was dieser und jeder anderen Ordnung gegenüber unverfügbar ist und bleibt – und genau so ist die Kirche Sakrament: vermittelndes, hinweisendes, Anteil gebendes »signum et instrumentum«. Würde sie sich selbst mit jenem Licht und Heil, dessen Sakrament sie ist, identifizieren, wäre sie nicht mehr katholisch-responsiv, sondern totalitärideologisch, kurzum: eine Sekte. (2) Das, was die Kirche von Christus, dem »lumen gentium«, empfängt, behält sie nicht in esoterischer Glückseligkeit für sich allein, sondern gibt es weiter, verkündet es »allen Geschöpfen«, übersetzt und vermittelt es in Ausübung ihres pfingstlichen Grundcharismas und in Anbetracht der »Verhältnisse dieser Zeit«, die »dieser Pflicht der Kirche eine noch dringlichere Bedeutung« geben (LG 1). Würde die Kirche das Evangelium nicht weitergeben und übersetzen, wäre sie nicht mehr katholisch-diskursiv, sondern esoterisch-autistisch. (3) Die Sendung der Kirche ist schließlich eine universale; sie gilt »ihren Gläubigen und der gesamten Welt« (LG 1) – nicht, weil sich die Kirche eine Herrschaft über alle anderen anmaßt, sondern weil sie bezeugen will und bezeugen muss, dass Gottes Heil und Liebe alle angeht – und nicht bloß die kirchlich »Genehmen«. Im Horizont des universalen Heilswillens Gottes führt die Kirche einen missionarischen Polylog mit dieser Welt, weil sie weiß, dass sie nur in der vorbehaltlosen Begegnung mit anderen und im Gang durch die unterschiedlichsten Paradigmen, Traditionen, Kulturen und Erfahrungsfelder jener Universalität auf die Spur kommt, die dem Anspruch des Wortes Gottes entspricht. Würde sich die Kirche den Herausforderungen einer solchen »tentativen Universalität« entziehen und ihren Adressatenkreis vorsortieren oder ihre eigene Sendung herabstufen zu einer bloßen Bestätigung gewohnter und beliebter Traditionen, wäre sie nicht mehr katholisch-polylog, sondern egozentrisch-regressiv. Das Eingangskapitel von GS weist dieselbe Grammatik und Pragmatik wie LG 1 auf, spitzt sie aber noch zu: Die eigene »Ordnung« – also die Gemeinschaft, die aus Menschen gebildet ist, »die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer 95 Vgl. Sauer, Hanjo: Freude und Hoffnung, Trauer und Angst. Die Bedeutung der Pastoralkonstitution für die Fundamentaltheologie, in: Theologisch-praktische Quartalsschrift (ThPQ) 158 (2010), S. 58 – 67.

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Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden« –, lebt nicht aus sich selbst, sondern von jenem Außerordentlichen, das als »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen dieser Zeit, besonders der Armen und Bedrängten aller Art« (GS 1), zur Krisis der bestehenden Ordnung und zugleich zum inspirierenden Indikator möglicher anderer Ordnungen wird. Die »Übersetzung«, die hier zu leisten ist, besteht vor aller diskursiven Vermittlung in einer existentiellen Partizipation, denn »es findet sich nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen [d. h. der Jünger Christi, F. G.-P.] widerhallte« (GS 1). Und schließlich gilt es, die empfangene Heilsbotschaft »allen vorzulegen« (GS 1), also nicht bloß jenen, die der Kirche ins Konzept passen, sondern wirklich allen. Die Universalität der Kirche erscheint hier nicht als Ausweitung ihres Einflussbereiches über andere Menschen, sondern als Fähigkeit der Teilnahme an dem, was alle betrifft. »Deswegen erfährt sie sich mit dem Menschengeschlecht und seiner Geschichte wirklich innigst verbunden«, so formuliert das Zweite Vatikanum den Anspruch des Universalen, wie er an die katholische Kirche ergeht. In diesem Sinn ist die Kirche »universale salutis sacramentum« (LG 48), jene responsive und polyloge »Übersetzerin« des Heils, das Gott allen Menschen anbietet. Mit der Bezeichnung »allgemeines Sakrament des Heils« greift LG 48 den Topos kirchlicher Sakramentalität in LG 1 und LG 9 auf96, bringt damit aber nicht eine Selbstüberhöhung der Kirche, sondern – entsprechend der Logik des Sakramentsbegriffs – deren Vermittlungsidentität zum Ausdruck. Als »Sakrament« ist die Kirche Zeichen des Heils, aber nicht das Heil selbst; sie ist – in den Kategorien einer Phänomenologie der Ordnungen formuliert – antwortende Ordnung auf einen nicht zu »normalisierenden« Anspruch. Zu behaupten, die Kirche sei »Sakrament«, heißt nicht, sie zum »unhinterfragbaren Geheimnis« zu erklären und allen Gesprächs- und Auseinandersetzungsprozessen zu entziehen; es bedeutet vielmehr, »dass ihre Wahrheit darin liegt, dass sie als Zeichen von sich selbst weg verweist hin auf ihren Ursprung und ihr Ziel in Gott«97. Von 96 Vgl. Hünermann, Peter : »Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium«, in: Hünermann, Peter / Hilberath, Bernd Jochen (Hg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil (Bd. 2). Freiburg im Breisgau 2004, S. 263 – 582; 506 f. 97 Miggelbrink, Ralf: Einführung in die Lehre von der Kirche. Darmstadt 2003, S. 63. – Diese Verweisungs- und Relativierungsstruktur des Topos »Kirche als Sakrament« war offenbar in den früheren, nachkonziliaren Kommentaren zu Lumen gentium bewusster als heute: »Eben als Sakrament des Heils, das allen Menschen angeboten wird, ist die Kirche das ›Sakrament der Welt‹: die Hoffnung nicht nur für den, der ihr beigetreten ist, sondern schlechthin ›spes mundi‹, die Hoffnung für die ganze Welt […]. Wir könnten sagen: Die Kirche ist das Offenbarwerden des existentiellen Heils der Welt […]« (Schillebeeckx, Edward: »Die Kirche, ›Sakrament der Welt‹«, in: ders.: Gott – Kirche – Welt (Gesammelte Schriften Bd. 2). Mainz 1970, S. 263 – 269; 267). »Der sakramentale Charakter der Kirche spricht gerade dadurch von

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daher stellt die konziliare Redeweise vom »universale salutis sacramentum« keine theologische Ausflucht dar, sondern eine Radikalisierung jener Bezüge, die mit den Stichworten »diskursive Kompetenz«, responsive Differenz« und »polyloge Relation« skizziert wurden. Als sacramentum ist die Kirche Trägerin, Vermittlerin und Hermeneutin jenes salus, über deren Anspruch sie nicht verfügt, den sie allerdings zu bezeugen hat, und zwar – insofern sie als universale bezeichnet wird – allen Menschen. Diese Sendung stellt eine gewaltige Zumutung dar, bricht sie doch den Hang zu kirchlicher Selbstgefälligkeit und Selbstbestätigung auf und schickt die Kirche dorthin, wohin sie eigentlich ständig unterwegs sein sollte: zu den Menschen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen, Prägungen, Einstellungen und Weltsichten.98 Zweifellos haben sowohl die Verteidiger als auch die Kritiker des so genannten »Missionsbefehls« übersehen, dass die Sendung »zu allen Völkern« (Mt 28,19) bedeutet, sich auf eine herausfordernde, vielfältige und auch bedrängende Lebenswirklichkeit einzulassen, die für die Kirche eine ungeheure Lernerfahrung darstellt.99 der Bedeutung der Kirche für das menschliche Heil, dass die Aussage, die Kirche sei Ur- oder Wurzelsakrament, nicht eigentlich eine Wesens-, sondern mehr eine Funktionsaussage ist. Wenn wir die Kirche als Sakrament betrachten, geht es nicht so sehr um das, was die Kirche ist, sondern mehr um die Weise, in der diese sichtbare Größe ihren Dienst am Heil der Menschen ausübt« (Semmelroth, Otto: »Die Kirche als Sakrament des Heiles«, in: Mysterium salutis IV/1 [Anm. 11], S. 309 – 356; 328). Leonardo Boff resümiert in seiner umfassenden Studie, dass in Lumen gentium »eine struktur-funktionalistische Auffassung der Kirche zum Ausdruck gebracht wird« (Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung. Versuch einer Legitimation und einer struktur-funktionalistischen Grundlegung der Kirche im Anschluss an das II. Vatikanische Konzil [Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien. Hg. vom Johann-Adam-Möhler-Institut, Bd. XXVIII]. Paderborn 1972, S. 294) »Mit der sakramentalen Sicht der Kirche wollte man also gerade keine ideologische Überhöhung der Kirche vornehmen, sondern im Gegenteil die Verkrustungen, Verengungen und Vereinseitigungen des Kirchenbegriffs der traditionellen Schultheologie überwinden« (Kasper, Walter : »Die Kirche als universales Sakrament des Heils«, in: ders.: Theologie und Kirche. Mainz 1987, S. 237 – 254; 239 f.). – Zur Diskussion über Lumen gentium und den diesem Dokument eigenen Sakramentsbegriff vgl. die konzilsgeschichtlichen Hinweise bei Kehl, Medard: Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie. Würzburg 31994, S. 82 – 84; Wassilowsky, Günther : Universales Heilssakrament Kirche. Karl Rahners Beitrag zur Ekklesiologie des II. Vatikanums (IThS 59). Innsbruck 2001, S. 325 – 348; Bentz, Udo: Jetzt ist noch Kirche. Grundlinien einer Theologie kirchlicher Existenz im Werk Karl Rahners (IThS 80). Innsbruck 2008, S. 315 – 347. 98 Vgl. die Analyse des kairologischen Moments des Konzepts der Kirche als Heilssakrament bei Ostheimer, Jochen: Zeichen der Zeit lesen. Erkenntnistheoretische Bedingungen einer praktisch-theologischen Gegenwartsanalyse. Stuttgart 2008, S. 137 f. 99 Einen konkreten Hinweis dazu gibt Klaus Müller : »Auf neuen Kurs in die Welten von morgen ist die Gemeinde nicht dadurch, dass sie Verwaltungsstrukturen schafft, größere Einheiten konstituiert, intern die gesellschaftlich bereits Standard gewordene Mobilität reproduziert und finanziell bzw. personell Synergien schafft. Auf neuem Kurs ist Gemeinde erst dann, wenn sie sich wieder aufmacht in die ›paroikia‹, ins Nicht-Daheimsein, in die Fremde, wenn sie weder bloß wiederholt, was ringsum gesellschaftlich passiert und auch nicht bloß in dem

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»Universalität« lässt sich nicht im Festhalten am »Eigenen« gewinnen, sondern nur in der Öffnung für andere; nicht in eigenmächtigen Grenzziehungen, sondern in der Wahrnehmung jener Fülle, die sich im Status des eigenen Systems niemals einfangen lässt. Ein solcher Modus ekklesialer Identität und Universalität aber ist ein kenotischer. »Katholizität« ist als kenotische Universalität zu begreifen, als anspruchsvolle Vermittlungsgestalt von Identität, die nur in der Enteignung ihrer selbst an das Andere, aber nicht in der Aneignung des Anderen an das Eigene gewonnen werden kann. Hermann Schalück hat eine solche Haltung der »Kenosis« treffend umschrieben: »Die Spiritualität eines nicht nur ›globalen‹ und ›multikulturellen‹, sondern eines beziehungsfähigen inter-kulturellen und ›mehrsprachigen‹ Christseins wie auch die des interreligiösen Dialogs besteht darin, sich nicht absolut zu setzen und in der Gesinnung der Kenosis Jesu (Phil 2) sich auf Augenhöhe mit den ›Anderen‹ zu wissen, mit ihnen auf dem Weg zu bleiben.«100 In diesem Sinn »katholisch« zu sein, ist weder altmodisch noch zeitgeistig, sondern Ausdruck einer grenzenlosen Offenheit. Denen, die sich »katholisch« nennen, wird zugemutet, das, was alle unbedingt angeht, nicht als eigenen Besitz, sondern als unverfügbaren Anspruch wahrzunehmen. Dass dieser Anspruch, der je neu diskursiv, responsiv und polylog vermittelbar ist, in der ekklesialen Vermittlungsfigur des Katholischen Gestalt gewinnt und dadurch die Kirche für die unermessliche Weite jener Erfahrung öffnet, die in der Freiheit des Christlichen besteht, bildet jene faszinierende Einsicht, die keine Ekklesiologie aus den Augen verlieren sollte.

verharrt, was angeblich immer schon so war […]« (Müller, Klaus: Dem Glauben nachdenken. Eine kritische Annäherung ans Christsein in zehn Kapiteln. Münster 2010, S. 186). 100 Schalück OFM, Hermann: »Vorwort zur deutschen Ausgabe«, in: de Vallescar Palanca, Diana: Ordensleben interkulturell. Eine neue Vision. Freiburg im Breisgau 2008, S. 9 – 13; 10.

II. Zur europäischen Tradition

Jens Halfwassen (Heidelberg)

Gott als Intellekt: Eckhart als Denker der Subjektivität

I Subjektivität im Mittelalter – gibt es das überhaupt? Zum philosophischen Selbstverständnis der Moderne gehört doch häufig die Überzeugung, dass die Entdeckung der Subjektivität gerade das Spezifikum der neuzeitlichen Philosophie sei, das diese von der Antike und besonders vom Mittelalter unterscheide.1 Als Kronzeuge dieser Auffassung lässt sich Hegel anführen, der apodiktisch behauptet: »Die philosophische Theologie des Mittelalters hatte nicht zum Prinzip das freie, von sich ausgehende Denken«.2 Erst mit Descartes, so Hegel, »treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, dass sie selbständig aus der Vernunft kommt und dass das Selbstbewusstsein wesentliches Moment des Wahren ist«.3 Kennzeichnend für die mit Descartes beginnende neuzeitliche Philosophie ist also Hegel zufolge dies Doppelte, 1) dass die philosophische Vernunft frei von der Bindung an Autoritäten von sich selbst ausgeht, und 2) dass sich das Selbstbewusstsein als Konstituens der von ihm erfassten Wahrheit erkennt; beides liegt in Descartes’ Entdeckung der unbezweifelbaren Selbstgewissheit des denkenden Ich, des ego cogito als des fundamentum inconcussum allen Wissens. Diese Entdeckung enthält die grundlegende Einsicht, dass die Selbstbezüglichkeit für das Denken als solches konstitutiv ist, – denn das Denken unterscheidet sich von der rezeptiv auf die Au1 Repräsentativ für diese Einschätzung ist etwa Krüger, Gerhard: »Die Herkunft des philosophischen Selbstbewusstseins«, in: ders.: Freiheit und Weltverwaltung, Freiburg / München 1958, S. 11 – 69. 2 Hegel, Georg Wilhelm F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Werke (Bd. 20). Hg. von Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1986, S. 121. 3 Ebd, S. 120. Vgl. ebd., S. 123: »Ren¦ Descartes ist in der Tat der wahrhafte Anfänger der modernen Philosophie, insofern sie das Denken zum Prinzip macht. Das Denken für sich ist hier von der philosophischen Theologie verschieden […]. Er ist so ein Heros, der […] den Boden der Philosophie erst von neuem konstituiert hat, auf den sie nun erst nach dem Verlauf von tausend Jahren zurückgekehrt ist.« Vgl. zum folgenden Hegels Deutung des Cartesischen ego cogito: ebd., S. 129 ff.

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ßenwelt gerichteten Sinneswahrnehmung ja gerade dadurch, dass es in seinen Akten sich selbst gegenwärtig ist und dass es sich in seinen Inhalten zugleich auf sich selbst bezieht. Im Denken erfasse ich nicht bloß dieses oder jenes, sondern ich weiß zugleich, dass ich es weiß und dass ich es bin, der das weiß, das aber bedeutet: im Denken bin ich mir meines Selbst ursprünglich inne. Das Cartesische »Ich denke« bedeutet darum nicht nur »Ich denke etwas«, sondern immer auch und für Hegel sogar vor allem: »Ich denke mich«.4 Denken ist somit wesentlich Selbstbewusstsein und d. h. es ist – mit einer Formulierung von Dieter Henrich – »tätiges Zusichkommen«.5 Eben diese Einsicht, dass Denken wesentlich Selbstbewusstsein impliziert, ist grundlegend für eine Philosophie der Subjektivität, wenn man unter »Subjektivität« das sich auf sich beziehende und darin sich selbst gegenwärtige Denken versteht.6 Weil er diese Selbstbeziehung des Denkens zum Fundament der Philosophie gemacht hat, ist Descartes für Hegel der Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Nun ist allerdings der älteste philosophische Text, in dem die Selbstbeziehung des Denkens und des Wissens ausdrücklich thematisiert wird, Platons Dialog Charmides,7 und die erste Theorie des wesenhaft selbstbezüglichen Geistes ist die Nus-Theorie der Älteren Akademie, die für uns nur in zwei Texten des Aristoteles – im 12. Buch der Metaphysik und im 3. Buch der Schrift Über die Seele – in größerem Zusammenhang fassbar ist.8 Ferner hat schon Augustinus die unbezweifelbare Selbstgewissheit des denkenden Ich in ganz ähnlicher Weise wie 4 Vgl. ebd., S. 130: »Ich hat die Bedeutung als Denken, nicht Einzelheit des Selbstbewußtseins […] und das Gewisse ist die Gewißheit, das Wissen als solches in seiner reinen Form als sich auf sich beziehend […]. Hiermit ist auf einmal die Philosophie in ein ganz anderes Feld, ganz anderen Standpunkt versetzt, nämlich in die Sphäre der Subjektivität […].« Darum sagt Hegel: »Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ›Land‹ rufen« (ebd., S. 120). 5 Henrich, Dieter: Hegel im Kontext. Frankfurt am Main 1975, S. 37. 6 Zur Begriffsgeschichte vgl. Homann, Karl: »Zum Begriff »Subjektivität« bis 1802«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 184 – 205. 7 Dazu ist gerade im Hinblick auf die neuzeitlich-idealistischen Positionen aufschlussreich Gloy, Karen: »Platons Theorie der 1pist/lg 2aut/r im Charmides als Vorläufer der modernen Selbstbewußtseinstheorien«, in: Kantstudien 77 (1986), S. 137 – 164. – Der Sinn der von Platon im Charmides bezüglich des selbstbezüglichen Wissens formulierten Aporien ist bekanntlich stark umstritten. Dass sie »peirastisch« gemeint sind, also die Fähigkeit des Dialogpartners (und des Lesers) zur Prüfung und Verteidigung einer sinnvollen These auf die Probe stellen sollen, und dass Platon dabei wichtige Hinweise auf eine positive metaphysische Theorie des reflexiven Wissens einbaut, zeigt einleuchtend Erler, Michael: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken. Berlin / New York 1987, S. 192 ff. 8 Dazu ist grundlegend Krämer, Hans Joachim: Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin. Amsterdam 1967 [1964]; vgl. ferner – mit teilweise anderer Akzentuierung – Oehler, Klaus: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Ein Beitrag zur Erforschung des Bewußtseinsproblems in der Antike. Hamburg 1985 [1962].

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dann Descartes formuliert, worauf bekanntlich Êtienne Gilson und schon Descartes’ Zeitgenosse Marin Mersenne hingewiesen haben.9 Leider viel weniger bekannt ist es, dass Augustinus damit seinerseits eine Einsicht von Plotin und Porphyrios aufnimmt, von denen die unmittelbare Selbstgegenwart des Denkenden im Denken und dessen unmittelbare Seinsgewissheit erstmals ausdrücklich formuliert worden ist.10 Von Plotin wird die platonisch-akademischaristotelische Nuslehre zu einer Geistmetaphysik entfaltet, in der der Geist sich selbst als die dynamische Einheit der Ideen und damit als Inbegriff alles wahrhaft Seienden weiß.11 In dieser neuplatonischen Geistmetaphysik sah Hegel bekanntlich »den Standpunkt erreicht, daß sich das Selbstbewußtsein in seinem Denken als das Absolute wußte«.12 Angesichts der überragenden Bedeutung des Aristoteles, des Neuplatonismus und Augustins für die mittelalterliche Philosophie ist es aber von vornherein unwahrscheinlich, dass in ihr diese antiken Ansätze zu einer Philosophie der Subjektivität folgenlos geblieben sein sollen. Ich will jetzt am Beispiel von Meister Eckhart zeigen, wie fruchtbar und 9 Vgl. bes. Augustinus: De civitate dei XI 26 mit der Formulierung »si enim fallor, sum«. Ebenso: De vera religione 39, 73; De trinitate X 10, 14 und XV 12, 21; ähnlich schon: De beata vita 2, 7 und: Soliloquia II 1, 1. Hierzu Gilson, Êtienne: Êtudes sur le rúle de la pens¦e m¦di¦vale dans la formation du systÀme cart¦sien, Paris 1967 [1930]; vgl. auch schon Blanchet, L¦on: Les ant¦c¦dents historiques du ›Je pense, donc je suis‹. Paris 1920. 10 Vgl. bes. Porphyrios: Sententiae ad intelligibilia ducentes (ed. Lamberz, Erich, Leipzig 1975) § 40: »Denjenigen, die denkend zu ihrem eigenen Wesen (oqs¸a) zu gelangen vermögen und die ihr eigenes Wesen (oqs¸a) erkennen und in dieser Erkenntnis und im Bewußtsein dieser Erkenntnis sich selbst in der Einheit von Erkennendem und Erkanntem erfassen können (»1m aqt0 t0 cm¾sei ja· t0 e·d¶sei t/r cm¾seyr arto»r !pokalb²meim jah( 2mºtgta tµm toO cim¾sjomtor ja· cimysjol´mou«), diesen ist in dieser ihrer Selbstgegenwart auch das Sein gegenwärtig (»to¼toir paqoOsim arto?r p²qesti ja· t¹ em«). Allen dagegen, die aus ihrem Selbstsein herausgehen zum Anderen, denen ist als von sich selbst Abwesenden auch das Sein abwesend.« Als Anknüpfungspunkt für Augustin ist auch wichtig Fr. 275, spez. Z. 22 – 32 (ed. Smith, Andrew: Porphyrii Fragmenta. Stuttgart 1993). Hierzu Beierwaltes, Werner : »Selbsterkenntnis als sokratischer Impuls im neuplatonischen Denken«, in: Kessler, Herbert (Hg.): Sokrates – Geschichte, Legende, Spiegelungen (Sokrates-Studien II). Kusterdingen 1995, S. 97 – 116, bes. 104 ff., 109. – Vgl. zu Plotin Halfwassen, Jens: Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios. Mainz / Stuttgart 1994, bes. S. 24 ff., 49 f., 56 f. mit Belegen; ders.: »Geist und Subjektivität bei Plotin«, in: Heidemann, Dietmar Hermann (Hg.): Probleme der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart (Festschrift für Klaus Düsing zum 65. Geburtstag). Stuttgart / Bad Cannstatt 2002, S. 243 – 262. 11 Dazu eingehend Beierwaltes, Werner : Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen, Frankfurt am Main 1991. Vgl. ebenso Halfwassen, Jens: Plotin und der Neuplatonismus. München 2004, S. 59 – 84. 12 Hegel, Georg Wilhelm F: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. Werke (Bd. 19). Hg. von Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1986, S. 404. Zu Hegels Rezeption und Deutung des Neuplatonismus und zu den grundlegenden systematischen Gemeinsamkeiten und Differenzen von absolutem Idealismus und Platonismus jetzt umfassend Halfwassen, Jens: Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung. Hamburg 2005 [1999].

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originell die antiken Nus-Theoreme im späteren Mittelalter aufgenommen und weiter entwickelt wurden. Meister Eckhart ist selbstredend keineswegs der einzige mittelalterliche Denker, der an die antike Nustheorie anknüft. Er ist aber sehr wohl der erste, der das Sein im Denken fundiert und damit über die antike Geistmetaphysik einen entscheidenden Schritt in Richtung auf den neuzeitlichen Idealismus hinausgeht.

II Der Text, an dem ich dies zeigen möchte, ist Meister Eckharts erste Pariser Quaestio von 1302/03 über die Frage: Utrum in Deo sit idem esse et intelligere.13 Es geht also um die Identität von Sein und Denken in Gott. Seit Parmenides die Identität des seinserfassenden Denkens mit dem Sein selbst zum ersten Mal ausgesprochen hatte (Fr. 3; 8, 34 – 36 Diels-Kranz)14 und seit Platon in seiner Ideenlehre und Aristoteles in seiner Nuslehre dies aufgenommen hatten,15 gehörte das Dogma von der Einheit von Denken und Sein im höchsten, dem göttlichen Seienden zum festen Grundbestand der philosophischen Theologie. Bemerkenswert ist denn auch nicht, daß Eckhart die Frage bejaht, ob in Gott Sein und Denken identisch seien, sondern vielmehr, wie er dies tut. Seit Parmenides hatte man die Einheit von Sein und Denken vom Sein her begründet, dem in dieser Einheit darum die Priorität zukommt. Charakteristisch hierfür ist die Nus-Theologie des Aristoteles: für Aristoteles ist Gott deshalb reiner Nus oder reines Denken, weil er das höchste und vollkommenste Seiende ist. Höchstes oder vollkommenstes Sein bedeutet nämlich reine 1m´q13 Meister Eckhart: Quaestio Parisiensis 1: Utrum in Deo sit idem esse et intelligere. In: Quaestiones Parisienses. Hg. und übers. von Geyer, Bernhard (Meister Eckhart, Lateinische Werke [im Folgenden: LW], Bd. V). Stuttgart 1936, S. 37 – 48. Vgl. dazu ausführlich Imbach, Ruedi: Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts. Freiburg i.d. Schweiz 1976, S. 144 – 212; ferner Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit. Hamburg 1983, S. 21 – 41, bes. 30 ff. 14 Vgl. dazu Halfwassen, Jens: »Parmenides über die Einheit von Denken und Sein: Eine Einsicht und ihre Folgen«, in: Westerkamp, Dirk / von der Lühe, Astrid (Hg.): Metaphysik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart (Festschrift für Claus-Artur Scheier). Würzburg 2007, S. 129 – 146; ferner Bormann, Karl: Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten. Hamburg 1971, S. 70 ff., 82 ff.; Gadamer, Hans-Georg: »Zur Vorgeschichte der Metaphysik«, in: ders. (Hg.): Um die Begriffswelt der Vorsokratiker. Darmstadt 1968, S. 364 – 390, bes. 384 ff. 15 Vgl. Platon: Politeia 477a; Sophistes 248e – 249a; Testimonium Platonicum 25 A Gaiser, in: Gaiser, Konrad: Platons ungeschrieben Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 1963, Anhang: Testimonia Platonica]; Aristoteles: De anima 430a 2 – 5, 431a 1 – 5, b 17; Metaphysik 1075a 1 – 5. Vgl. auch das Platon-Referat: De anima 407a 6 – 8.

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ceia, reine Tätigkeit, die als vollendete Erfüllung des Seins keinerlei unverwirklichte Möglichkeit in sich haben kann; denn eine unverwirklichte Möglichkeit wäre ein Seinsmangel, der dem vollkommensten Seienden, eben weil es das vollkommenste ist, nicht zukommen kann. Reine Aktualität bedeutet aber Lebendigkeit, d. h. Selbsttätigkeit, und die reine Selbsttätigkeit, die in ihrem Vollzug ganz bei sich selbst bleibt und darin sich selbst genügt, also nichts anderes außer ihr selbst nötig hat und darin vollkommen ist, diese reine Tätigkeit ist das reine Denken, die mºgsir; weil aber das Höchste von nichts abhängen darf, das geringer ist als es selbst, richtet sich das reine göttliche Denken folglich ausschließlich auf sich selbst, ist also Denken des Denkens, mo¶seyr mºgsir;16 – die Gottheit ist somit deshalb reines Denken seiner selbst, weil sie als höchstes und vollkommenstes Seiendes keinerlei Nichtsein in sich haben kann. Weil Gottes Sein als absolute Aktualität selbst Denken ist, darum sind in Gott Denken und Sein identisch. Eckhart war diese Aristotelische Ableitung des Nus-Charakters des Höchsten aus seinem vollkommenen Sein sehr gut bekannt; er referiert sie selbst in der Akzentuierung, die Thomas von Aquin ihr gegeben hatte.17 Eckhart kehrt aber diese traditionelle Fundierung des göttlichen Denkens im Sein genau um, wenn er erklärt, er wolle zeigen, »daß ich nicht mehr der Meinung bin, daß Gott denkt, weil er ist, sondern weil er denkt, deshalb ist er, in der Weise, daß Gott Intellekt und Denken ist, und das Denken selbst die Grundlage des Seins selbst ist.«18 Eckhart wendet sich damit ausdrücklich gegen die Lehre des Thomas von Aquin, dass das reine durch sich bestehende Sein selbst (esse ipsum per se subsistens) die höchste Bestimmung des Absoluten und die Grundlage aller weiteren Bestimmungen sei, die von Gott erkannt werden können. Indem Eckhart gerade umgekehrt das Sein Gottes in seiner Intellektualität fundiert, erhebt er ausdrücklich das Denken zur höchsten und eigentlichsten Bestimmung des Absoluten, in der alle anderen Bestimmungen, die Gott zukommen, gerade auch sein Sein, gründen; diese Wendung ist ohne Beispiel in der gesamten Geschichte der Philosophie vor Eckhart. In polemischer Wendung gegen Thomas beruft Eckhart sich auf das Johannesevangelium, in dem es heiße: »In principio erat ver16 Aristoteles: Metaph. 1074b 33 – 35: »art¹m %qa moe?, eUpeq 1st· t¹ jq²tistom, ja· 5stim B mºgsir mo¶seyr mºgsir«. Vgl. 1072b 18 – 30. – Zur Kontroverse um die Deutung der mºgsir mo¶seyr vgl. Leinkauf, Thomas: »Absolute Selbstreflexion als ›höchster Punkt‹ der antiken Philosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), S. 395 – 404. 17 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 1 – 2; LW V, 37 – 39. Zur Lehre des Thomas eingehend: Imbach, Ruedi: Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts. Freiburg i.d. Schweiz 1976, S. 8 – 143. 18 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 4; LW V, 40, 5 – 7: »Tertio ostendo quod non ita videtur mihi modo, ut quia sit, ideo intelligat, sed quia intelligit, ideo est, ita quod deus est intellectus et intelligere et est ipsum intelligere fundamentum ipsius esse.«

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bum« und nicht: »In principio erat esse«.19 Trotz dieser Berufung auf einen Bibeltext begründet Eckhart seine Auffassung aber nicht theologisch, sondern genuin philosophisch, nämlich im Rückgang auf den genuin Platonischen Grundsatz, dass das Prinzip das Nichts seiner Prinzipiate ist. Da Gott das Prinzip des Seins ist, dem alles Seiende sein Sein verdankt, kann Er selbst folglich weder das Sein noch ein Seiendes sein: deo non convenit esse nec est ens, sed est aliquid altius ente.20 Unter Berufung auf eine neuplatonische Quelle: den Liber de causis – eine arabische Bearbeitung der Stoicheiosis theologike des Proklos – definiert Eckhart »Sein« geradezu als Wesensmerkmal des Geschaffenen, also als Index des Begründetseins.21 Dabei bedeutet »Sein« – in Übereinstimmung mit der platonisch-aristotelischen Tradition – soviel wie »Bestimmtsein«, also Begrenztheit, und demzufolge ist alles in seinem Sein Bestimmte und Begrenzte nicht aus sich selbst, sondern setzt ein bestimmendes Prinzip voraus, dem es das Sein verdankt; das Prinzip aller Bestimmtheit – das Eine, das der christliche Platonismus mit Gott identifiziert, – kann ferner selbst kein Bestimmtes und damit auch kein Seiendes mehr sein, wenn es alle Bestimmungen begründen soll, woraus Eckhart schließt: »Sobald wir deshalb zum Sein kommen, kommen wir zum Geschöpf«.22 Dagegen ist der Intellekt und sein Wesensakt, das Denken oder Einsehen (intelligere), für Eckhart kein Bestimmtes und darum auch kein Seiendes, sondern als solcher seinslos:23 Er betont, »das Einsehen selbst, und was immer zum Intellekt gehört, ist von fundamental anderer Bestimmtheit als das Seins selbst«.24 Denn der Intellekt vermag alle Bestimmungen zu erkennen; um aber 19 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 4; LW V, 40, 7 – 9. 20 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 12; LW 47, 14 f; cf. n. 8 (45, 1): »in deo non est ens nec esse«. – Der Grundsatz, dass das Prinzip das Nichts seiner Prinzipiate sei, wurde zusammen mit der Folgerung, dass dann das absolute Prinzip selber kein Seiendes sei, zum ersten Mal in aller Grundsätzlichkeit formuliert von Speusipp: Fr. 72 (ed. Isnardi Parente, Margherita: Speusippo. Frammenti. Napoli 1980): »t¹ 4m fpeq dµ oqd³ em py de? jake?m, di± t¹ "pkoOm eWmai ja· di± t¹ !qwµm l³m rp²qweim t_m emtym, tµm d³ !qwµm lgd´py eWmai toia¼tgm oXa 1je?ma ¨m 1stim !qw¶«. Hierzu Halfwassen, Jens: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. München / Leipzig 2006 [1992], S. 281 ff., ferner 339 ff., 356 ff., 393 ff. In der Sache ist der Grundsatz schon bei Platon mehrfach formuliert: Hippias Maior 297 a-c; Philebos 27 b; vor allem Politeia 508 e-509 c; Testimonium Platonicum 55 B Gaiser ; bei Aristoteles: z. B. Metaph. 1070b 2 – 16; bezogen auf Gott: Eudemische Ethik 1248a 27 – 29. 21 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 4; LW V, 41, 6 – 8: »Unde dicit auctor De causis: »prima rerum creatarum est esse« [= ›Liber de causis‹ § 4]. Unde statim cum venimus ad esse, venimus ad creaturam. Esse ergo habet primo rationem creabilis.« – Dass das Sein das erste Prinzipiat des Einen sei, sagt Proklos: Elem. Theol. § 101 (ed. Dodds, Eric Robertson, Oxford 1963), p. 90, 23 f: 1m 1je¸moir t¹ l³m cm 5stai pq¾tistom7 p÷si c±q p²qesti. 22 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 4; LW V, 41, 7. 23 Vgl. Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 5 – 8; LW V, 42 – 45. Vgl. auch Quaest. Par. II n. 2 – 10; LW V, 50 – 54. 24 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 7; LW V, 43, 6 f: »accipio quod ipsum intelligere et ea quae

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alle Bestimmungen erkennen zu können, muss er sie alle erkennend aufnehmen können und kann darum nicht schon von sich selbst her ein Bestimmtes, und das bedeutet: ein in einer Bestimmtheit Fixiertes sein, sondern er muss an sich selbst unbestimmt und d. h. zugleich: unendlich sein. Als das, was alle Bestimmungen erkennend aufnimmt, muss der Intellekt an sich selbst von jeder gegenständlichen Bestimmtheit frei sein, so wie die Sehkraft, die alle Farben erkennt, nach Aristoteles (De an. 418 b 27) selbst farblos ist.25 Deshalb ist das Einsehen als solches – also nicht nur das göttliche, sondern auch unser Einsehen – unerschaffen, und zwar wesenhaft unerschaffbar : Sapientia autem, quae pertinet ad intellectum, non habet rationem creabilis.26 Denn Erschaffen bedeutet das Setzen von Seiendem, also von Bestimmtem, und deshalb kann das Einsehen als die von sich her unbestimmte Aktivität des Setzens und Aufnehmens von Bestimmungen nicht selbst wieder als erschaffbar gedacht werden, denn dann wäre sie an sich selbst schon bestimmt.27 Hierin gründet Eckharts Lehre von der Unerschaffenheit der Vernunft, die für Hegel, der sie sehr früh aus einem Referat in der Kirchengeschichte Mosheims kannte, von seinen Jugendschriften an wichtig werden sollte;28 zugleich zeigt sich in ihr bereits, dass Eckharts Entdeckung des

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ad intellectum pertinent, sunt alterius condicionis quam ipsum esse.« Vgl. n. 5 (42, 1 f: »intelligere est altius quam esse et est alterius condicionis«) und zum folgenden Quaest. Par. II n. 2 und n. 9 (LW V, 50, 1 – 5. 53, 16 – 18) und dazu Aristoteles: De anima 429a 18; 24; b 23 f. Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 12; LW V, 47, 15 – 48, 2: »Sicut enim dicit Aristoteles quod orportet visum esse abscolorem, ut omnem colorem videat, et intellectum non esse formarum naturalium, ut omnes intelligat.« Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 4; LW V, 41, 10 f. Ebd., n. 10; LW I, 46, 3 – 5: »rationem intellectus et ipsius intelligere, de cuius ratione non est, quod causam habeat, sicut est de ratione entis quod sit causatum.« Vgl. Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 8; LW V, 44, 10 – 13: »Differt enim nostra scientia a scientia dei, quia scientia dei est causa rerum et scientia nostra est causata a rebus. Et ideo cum scientia nostra cadat sub ente, a quo causatur, et ipsum ens pari ratione cadit sub scientia dei.« Vgl. ebenso Quaest. Par. II n. 10; LW V, 54, 1 – 5. – Das Nichtsein des Intellekts kann also sowohl Übersein als auch Seinsabfall bedeuten. Zur Ambivalenz des Seinsabfalls der menschlichen Vernunft vgl. Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit. Hamburg 1983, S. 35: »Was in der ›Quaestio Parisiensis II‹ als Abfall vom Sein pejoratives Kolorit trägt, wird später Auszeichnung der Vernunft: Wenngleich auf Seiendes bezogen, besitzt sie die Möglichkeit, das Seiende zu lassen. Die Vernunft ist von Eckhart bereits in den ›Quaestiones‹ als intellectus possibilis gedacht, als die Vernunft, die, bevor sie erkennt, nichts ist, um alles werden zu können, die zugleich aber die Möglichkeit ist, zu nichts zu werden.« Hegel exzerpierte sich im Sommer 1795 aus der Kirchengeschichte Mosheims 7 Sätze, die Mosheim als »geheime Lehre der Begarden« angibt, bei denen es sich in Wirklichkeit aber um zentrale Sätze Eckharts aus der Verurteilungsbulle von 1329 handelt, darunter der über die Unerschaffbarkeit der Vernunft (Bulle, Appendix 1): Hegel, Georg Wilhelm F.: Frühe Exzerpte. Gesammelte Werke (Bd. 3). Hg. von Nicolin, Friedhelm / Schüler, Gisela. Hamburg 1991, S. 215 f. Zur Bedeutung für den Berner und Frankfurter Hegel vgl. Halfwassen, Jens: Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Hamburg 2005, S. 32 ff., auch 49 ff.

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Prinzipcharakters der Subjektivität nicht auf Gott beschränkt bleibt, sondern die Vernunft als solche betrifft. Weil das Eine alles Seiende von sich her begründet, ist es selbst über dem Sein (super esse),29 wie Eckhart mit Platon und den Neuplatonikern sagt; gerade als Überseiendes aber ist es für Eckhart anders als für Platon, Plotin und Proklos reine Intellektualität, denn der Intellekt ist als die Erfassung alles Seienden in sich selbst die aktive Negation alles gegenständlich Seienden. Gott aber ist als das alle Bestimmungen setzende Prinzip – mit Pseudo-Dionysius Areopagita30 – in sich selbst die Verneinung aller Bestimmungen und darum für Eckhart gerade als diese negierende Tätigkeit Intellekt; von ihm gilt: »Was immer in Gott ist, ist über dem Sein selbst und ist ganz und gar Denken.«31 Intellektualität ist darum das reine Wesen des Absoluten, das in der Tradition der negativen Theologie als die Verneinung aller Bestimmungen – also alles Seienden – verstanden werden muss, dies aber in der Weise, dass diese Verneinung die eigene Tätigkeit des Absoluten selbst ist, die diesem an ihm selbst zukommt.32 Diese Verneinung drückt nun keinen Seinsmangel, sondern gerade die Überfülle des überseienden Absoluten aus, weshalb Eckhart sie – wiederum abweichend von Plotin und Proklos, aber übereinstimmend mit Pseudo-Dionysius und unter Berufung auf Johannes von Damaskus33 – als den »Überschwang der Bejahung« (superabundantia affirmationis) auslegt.34 Das Gott im Sinne alles bestimmten und be29 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 8; LW V, 44, 13 f; vgl. auch n. 5 (42, 1 f.: »altius quam esse«) und n. 12 (47, 14 f.: »altius ente«). – Zur Seins- und Geisttranszendenz des Einen selbst bei Platon und Plotin vgl. hierzu Halfwassen, Jens: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. München / Leipzig 2006 [1992], S. 12 f., 19 ff., 34 ff., 51 f., 81 – 97, 150 – 182, 188 ff., 221 ff., 257 ff., 277 ff., 302 – 405. 30 Vgl. Ps.-Dionysius: De divinis nominibus II 4, PG 3, 641 A: »B p²mtym h´sir ja· B p²mtym !va¸qesir ja· rp³q p÷sam ja· h´sim ja· !va¸qesim.« 31 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 8; LW V, 44, 13 f: »quidquid est in deo, est super ipsum esse et est totum intelligere.« Ebd., n. 4; LW V, 41, 13 f: »Et ideo deus, qui est creator et non creabilis, est intellectus et intelligere et non ens et esse.« 32 In diesem Sinne sagt Eckhart auch: »Deus indistinctum quoddam est quod sua indistinctione distinguitur« (Expositio libri Sapientiae n. 154; LW II, 490, 7 f). D. h. seine Negativität (indistinctum) kommt Gott an ihm selbst als seine eigene Tätigkeit zu. Vgl. hierzu Beierwaltes, Werner : »Unterschied durch Ununterschiedenheit«, in: ders., Identität und Differenz. Frankfurt am Main 1980, S. 97 – 104. 33 Vgl. Johannes Damascenus: De fide orthodoxa I c. 4, PG 94, 800, der allerdings nur sagt, die auf Gott bezogenen Affirmationen hätten die virtus superabundantivae negationis. – Vgl. aber bei Ps.-Dionysius z. B. De div. nom. V 4 und 5, PG 3, 817.820 u. ö. 34 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 12; LW V, 48, 2 – 8: »sic etiam ego ipsi deo ipsum esse et talia, ut sit causa omnis esse et omnia praehabeat, ut sicut non negatur deo quod suum est, sic negetur eidem . Quae negationes secundum Damascenum primo libro habent in deo superabundantiam affirmationis. Nihil igitur nego deo, ut sibi natum convenire. Dico enim quod deus omnia praehabet in puritate, plenitudine, perfectione, amplius et latius, existens radix et causa omnium. Et hoc voluit dicere, cum dixit: ›ego sum qui sum‹. – Zu diesem Gedanken und seinen neuplatonischen Hintergründen vgl.

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grenzten Seienden abgesprochene Sein wird ihm darum von Eckhart in einem verwandelten Sinne wieder zugesprochen, indem er Gott die »Lauterkeit des Seins« (puritas essendi) nennt: dies meint die reine, un-gegenständliche Fülle des Seins als Prinzip, die über alles gegenständliche Seiende erhaben ist, weil es dies als sein Prinzipiat ad extra setzt, in sich selbst aber verneint.35 Diese nichtgegenständliche Seinsfülle hatte auch Thomas von Aquin gemeint, als er Gott das Sein selbst nannte.36 Es ist aber wichtig, dass Eckhart betont, Gott sei die reine Seinsfülle ausschließlich aufgrund seiner Intellektualität. Er sagt: »Wenn du das göttliche Denken Sein nennen willst, so habe ich nichts dagegen. Gleichwohl behaupte ich: wenn in Gott etwas ist, was du Sein nennen willst, so kommt es ihm nur aufgrund seines Denkens zu.«37 Gott ist die reine Seinsfülle gerade als die alles Seiende setzende und aufhebende seinslose Tätigkeit, als die Eckhart das Denken fasst.38 Die Seinstheologie des Thomas wird also von Eckhart nicht restituiert, sondern im positiven Doppelsinne aufgehoben. Dies läßt sich anhand von Eckharts Auslegung einer Bibelstelle zeigen, auf die sich orthodoxe Thomisten bis heute als den biblischen Hauptzeugen für ihren Gottesbegriff berufen; Eckhart gibt in seiner Deutung dieser Magna Charta der Ontotheologie eine überaus charakteristische und bis zu Schelling weiterwirkende noologische Wendung, auf deren Bedeutung Werner Beierwaltes eindringlich aufmerksam gemacht hat.39

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Beierwaltes, Werner : »Primum est dives per se. Meister Eckhart und der ›Liber de causis‹«, in: Bos, Egbert P. / Meijer, Pieter A. (Hg.): Proclus and his Influence in Medieval Philosophy. Leiden 1992, S. 141 – 169; jetzt auch in ders.: Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren. Frankfurt am Main 2007, S. 129 – 164. Vgl. Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 9; LW V, 45, 9 – 15: »Et idcirco cum esse convenit creaturis, non est in deo sicut in causa, et ideo in deo non est esse, sed puritas essendi […] dominus volens ostendere puritatem essendi esse in se dixit: ›ego sum qui sum‹. Non dixit simpliciter ›ego sum‹, sed addidit: ›qui sum‹. Dei ergo non competit esse, nisi talem puritatem voces esse.« Zu den neuplatonischen Hintergründen des Thomasischen Gottesbegriffs vgl. Kremer, Klaus: Die neuplatonische Seinslehre und ihre Wirkung auf Thomas von Aquin. Leiden 1971 [1966]. Vgl. dazu auch Aertsen, Jan A.: »The Platonic Tendency of Thomism and the Foundations of Aquinas’s Philosophy«, in: Medioevo 17 (1992), S. 53 – 70; ders.: »Ontology and Henology in Medieval Philosophy«, in: Bos, Egbert P. / Meijer Pieter A. (Hg.): Proclus and his Influence in Medieval Philosophy. Leiden 1992, S. 120 – 140. Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 8; LW V, 3 – 5: »Et si tu intelligere velis vocare esse, placet mihi. Deo nihilominus quod, si in deo est aliquid, quod velis vocare esse, sibi competit per intelligere.« Vgl. Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 10; LW V, 46, 2 – 6: »Cum igitur deus sit universalis causa entis, nihil quod est in deo, habet rationem entis, sed habet rationem intellectus et ipsius intelligere […] in ipso intelligere omnia continentur in virtute sicut in causa suprema omnium.« Vgl. zum folgenden Beierwaltes, Werner : »Deus est Esse – Esse est Deus. Die onto-theologische Grundfrage als aristotelisch-neuplatonische Denkstruktur«, in: ders.: Platonismus und Idealismus, Frankfurt am Main 1972, S. 5 – 82, bes. 47 ff. und 75 ff.

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Thomas hatte sich mit seiner Lehre, Gott sei seiner höchsten Bestimmung nach das Sein selbst, auf die Selbstoffenbarung Gottes in Exodus 3, 14 bezogen, wo Gott sagt: »Ich bin, der Ich bin«. Dies hatte bereits Philon von Alexandria als Selbstaussage des absoluten Seins verstanden.40 Auch Eckhart beruft sich auf das göttliche ego sum qui sum, in dem er die puritas essendi ausgedrückt findet, die ungegenständlich und über alles kategorial bestimmte Seiende erhaben ist.41 Diese reine Seinsfülle deutet Eckhart nun als die jedem gegenständlichen Sein konstituierend vorausgehende reine Selbstbeziehung und Selbstvermittlung – also eben als ursprüngliche Intellektualität – und dieses Verständnis des absoluten Seins findet er gerade in dem ego sum qui sum ausgesprochen. In seinem Exoduskommentar legt er dar, die Wiederholung: »Ich bin, der Ich bin« zeige gerade die Lauterkeit der Bejahung unter Ausschluss jeder Verneinung von Gott an,42 d. h. die reine Fülle des Seins, die jeden Seinsmangel ausschließt. Jedes in seiner Bestimmheit fixierte Seiende nämlich ist eine Einschränkung, weil es alles andere nicht ist, und insofern die Negation der uneingeschränkten Fülle des Seins; Gott, die reine Fülle selbst, ist darum als die Negation alles endlichen Seienden selbst die Negation der Negation im positiven Sinne, also die Aufhebung aller Beschränkungen als reine oder absolute Bejahung: negatio vero negationis purissima et plenissima est affirmatio: ›ego sum qui sum‹.43Die sich als Negation der Negation positiv auf sich selbst beziehende und zu sich selbst vermittelnde reine Fülle aber ist »eine Art reflexive Rückkehr des Seins selbst in sich selbst und zu sich selbst«, nämlich, wie Eckhart weiter ausführt, »ein Beharren in sich selbst oder ein Feststehen in sich und zugleich gleichsam ein Aufwallen oder Sichselbstgebären – in sich glühend und durch sich selbst und in sich selbst fließend und wallend, Licht, das sich selbst in Licht und zu Licht ganz durch sich selbst durchdringt, indem es überall ganz durch sich selbst zu sich zurückgekehrt und zurückgebogen ist«.44 40 Zu Philons (Um-)Deutung dieser Aussage in Abhebung von ihrem genuinen (hebräischen) Sinn als freier Zusage der verlässlichen Treue und Gegenwärtigkeit Gottes vgl. Beierwaltes, Werner : Platonismus und Idealismus. Frankfurt am Main 1972, S. 9 – 14. 41 So schon in Quaest. Par. I n. 9 und 12 (s. Anm. 34 und 35). Vgl. Expositio libri Exodi n. 14; LW II, 20: »Li ego […] meram substantiam significat […] sine omni accidente, sine omni alieno, […] sine qualitate, sine forma hac aut illa, sine hoc et illo […] super accidens, super speciem, super genus.« 42 Meister Eckhart: Exod. n. 16; LW II, 21, 7 f: »notandum quod repetitio, quod bis ait: sum qui sum, puritatem affirmationis excluso omni negativo ab ipso deo indicat.« 43 Meister Eckhart: Exod. n. 74; LW II 77, 11 f. Cf. Expositio Sancti Evangelii Secundum Johannem n. 207; LW III, 175: »[…] negatio negationis, quae est medulla et apex purissimae affirmationis.« Predigt 21; Deutsche Werke (= DW) I, 361, 10: »ein ist ein versagen des versagennes«. – Zu Eckharts Begriff der Negation der Negation vgl. Beierwaltes, Werner : Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt am Main 1979 [1965], S. 395 – 398. 44 Meister Eckhart: Exod. n. 16; LW II, 21, 8 – 22,1: »rursus ipsius esse quandam in se ipsum et super se ipsum reflexivam conversionem et in se ipso mansionem sive fixionem; adhuc

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Eckhart denkt damit das Absolute als absolute reflexive Selbstvermittlung, die sich selbst aus sich selbst, aus ihrer eigenen überfließenden Fülle ins Sein setzt, also reine oder absolute Spontaneität ist: deshalb ist Gott ursprüngliche Intellektualität, denn die reflexive Selbstvermittlung kennzeichnet ausschließlich das Denken, wie Eckhart schon in seiner III. Pariser Quaestio erklärt: reflexio autem non est in essendo, sed in intelligendo, ut »idem eidem idem« secundum intelligere ad se reflectitur.45 – Damit aber hat Eckhart den Grundgedanken des spekulativen Idealismus von der reinen Subjektivität, die sich aus absoluter Spontaneität selbst setzt und zu sich selbst vermittelt, in der Sache vorweggenommen.46 Eckhart umschreibt ihn in Wendungen und Metaphern, die vor allem Schelling wieder aufgreifen wird, etwa in seiner Freiheitsschrift.47 Schon vor Eckhart hatte Eriugena eine ganz ähnliche absolute reflexive Selbstvermittlung des Absoluten konzipiert, diese aber unter den Vorbehalt der negativen Theologie gestellt, so dass das reine Wesen des Absoluten unerkennbar bleibt;48 für Eckhart dagegen ist die absolute Selbstvermittlung das Wesen des Absoluten, die negative Theologie behält also nicht das letzte Wort, obwohl die in ihr vollzogene Entgegenständlichung für Eckharts Gottesbegriff konstitutiv bleibt,

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autem quandam bullitionem sive parturitionem sui – in se fervens et in se ipso et in se ipsum liquescens et bulliens, lux in luce et in lucem se toto se totum penetrans, et se toto super se totum conversum et reflexum undique.« Vgl. hierzu die eingehende Interpretation von Beierwaltes, Werner : Platonismus und Idealismus, Frankfurt am Main 1972, S. 47 – 58. Meister Eckhart: Quaest. Par. III n. 13; LW V, 61, 7 – 9. – Dieser Aussage liegt der von Eckhart oft zitierte Satz aus dem Liber de causis, § 15 zugrunde: »omnis sciens scit essentiam suam, ergo est rediens ad essentiam suam reditione completa.« Vgl. Proklos: Elem. Theol. § 167: »p÷r moOr 2aut¹m moe?«. So Schulz, Walter : Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik. Pfullingen 1974 [1957], S. 13: »Die positive Bestimmung Gottes als reiner Subjektivität zeigt sich in klarer Weise bei Eckhart.« Zustimmend Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit. Hamburg 1983, S. 40; ebenso Beierwaltes, Werner : Platonismus und Idealismus. Frankfurt am Main 1972, S. 47: »Die darin sich zeigende Konzeption des Gottesbegriffs […] ermöglicht der Sache nach den Grundgedanken einer spekulativen idealistischen Theologie: daß das Absolute sich selbst […] begreife und somit absolute reflexive Selbstvermittlung sei.« Vgl. bes. Schelling, Friedrich Wilhelm J.: »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)«, in: ders.: Sämmtliche Schriften (Bd. VII). Hg. von Schelling, Karl Friedrich A. Stuttgart 1860. S. 360 f.: »So also müssen wir die ursprüngliche Sehnsucht uns vorstellen […] als ein wogend wallend Meer […] entsprechend der Sehnsucht […] erzeugt sich in Gott selbst eine innere reflexive Vorstellung, durch welche, da sie keinen anderen Gegenstand haben kann als Gott, Gott sich selbst in einem Ebenbilde erblickt. Diese Vorstellung ist das Erste, worin Gott, absolut betrachtet, verwirklicht ist, obgleich nur in ihm selbst, sie ist im Anfange bei Gott und der in Gott gezeugte Gott selbst. Diese Vorstellung ist zugleich der Verstand […] und der ewige Geist«. – Schelling deutet damit auch die trinitarischen Implikationen der Selbstvermittlung Gottes an, die auch Eckhart im Anschluß an die zitierte Stelle im Exoduskommentar eingehend entfaltet. Vgl. dazu Beierwaltes, Werner : »Absolutes Selbstbewußtsein«, in: ders.: Eriugena. Grundzüge seines Denkens. Frankfurt am Main 1994, S. 180 – 203.

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denn Gott ist die sich zu sich selbst vermittelnde absolute Fülle gerade als negatio negationis. Dem idealistischen Grundgedanken kommt Eckhart aber zumal dadurch ganz nah, dass für ihn das Absolute als die sich selbst und alles andere setzende reine Selbstvermittlung das einzige ist, das im eigentlichen Sinne Ich genannt werden kann. Eckhart sagt von Gott: »Sein Gebären ist sein Innebleiben und sein Innebleiben ist sein Ausgebären. Es bleibt alles das Eine, das in sich selbst quillt. Ego, das Wort ›Ich‹, ist niemandem eigen als Gott in seiner Einheit.«49 Die Einheit von Gebären und Innebleiben, von der Eckhart hier spricht, nimmt ein Zentralmotiv der neuplatonischen Henologie auf: der absolut einfache Ursprung bleibt beim Hervorgang seiner Prinzipiate vielheitsfrei in sich selbst, bewahrt also seine Transzendenz in seiner Seinsbegründung; Hervorgehenlassen und Insich-Bleiben, pqºodor und lom¶ sind in ihm Eins. Dadurch begreift der Neuplatonismus, wie das seinsbegründende Eine die Vielheit des Seienden aus sich hervorgehen lassen kann, ohne sich selbst als überseiende reine Einheit aufzuheben.50 Eckhart denkt diese Einheit von Insich-Bleiben und begründender Wirksamkeit im Absoluten aber nun nicht mehr im Sinne der neuplatonischen Henologie aus dem Begründetsein des Vielen in dem jede Vielheit transzendierenden schlechthin Einen, sondern er versteht sie als das spezifische und ausschließliche Wesensmerkmal des Denkens,51 das sich selbst und alles andere aus reiner Spontaneität hervorbringt und nur als diese hervorbringende Tätigkeit bei sich und in sich ist, also Einheit ist; ursprüngliche Einheit ist das Denken gerade als diese Einheit von produktiver Spontaneität und Selbstge49 Meister Eckhart: Pred. 28; DW II, 68, 3 – 4: »s„n gebern daz ist s„n innebl„ben, und s„n innebl„ben ist s„n ˜zgebern. Ez bl„bet allez daz eine, daz im selben quellende ist. ›Ego‹, daz wort ›ich‹, enist nieman eigen dan gote aleine in s„ner einichheit.« – Unmittelbar vorher nennt Eckhart Platon und bezieht sich für seine Lehre von der reinen Einheit als Grund der Gottheit auf dessen negative Theologie: »N˜ sprichet Pl–tú, der grúze pfaffe, der vaehet ane und wil sprechen von grúzen dingen. Er sprichet von einer l˜terkeit, diu enist in der werlt niht; si enist niht in der werlt noch ˜zer der werlt, ez enist weder in z„t noch in Þwicheit, ez enh–t ˜zerlich noch innerlich. Her ˜z drücket got, der Þwige vater, die vüllede und den abgrunt aller s„ner gotheit.« (DW II, 67, 1 – 68, 2). Die von Eckhart hier Platon zugeschriebene bestimmungslose Lauterkeit – unter der Eckhart offenkundig das Eine versteht – und ihre negative Umschreibung scheint auf den Schlussteil des Parmenideskommentars zu verweisen, wo Proklos Platons Hinweis auf die Unsagbarkeit des Einen selbst und seiner Schau im 7. Brief (341 CD) mit der negativen Henologie der ersten Hypothese des Parmenides (spez. mit 142a) verbindet: Plato Latinus III, 46 – 48, vgl. auch S. 60 – 62 KlibanskyLabowsky. 50 Vgl. dazu genauer Halfwassen, Jens: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. München / Leipzig 2006 [1992], S. 114 – 130. 51 Vgl. auch Meister Eckhart: Sermo 29 n. 300; LW IV, 266: Einheit oder das Eine ist Eigentümlichkeit ausschließlich des Intellekts. Dazu Aertsen, Jan A.: »Ontology and Henology in Medieval Philosophy«, in: Bos, Egbert P. / Meijer Pieter A. (Hg.): Proclus and his Influence in Medieval Philosophy. Leiden 1992, S. 134.

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genwart, die spontane Selbstsetzung ist in eins die Selbstvermittlung des Denkens, kraft der es bei sich selbst ist, also Ich ist. Das Ich ist somit seinsbegründende Einheit nicht primär als vielheitsfreier Ursprung jeder Vielheit, sondern als die sich selbst vollziehende und selbsttätig in sich selbst einigende Einheit, also als reine Tätigkeit der Selbstsetzung und Selbstvermittlung.52 Eckhart versteht das Ich also – durchaus idealistisch – als Selbstsetzung und Selbstvermittlung aus reiner, ursprunghafter Spontaneität. Darum ist nur Gott als die sich selbst vollziehende absolute Einheit im ursprünglichen Sinne Ich. Dies ist jedoch kein exklusives Privileg Gottes; denn auch der Mensch ist Ich als unerschaffene und seinslose Vernunft, durch die und in der er in sich selbst einig und darin zugleich eins ist mit der reinen Gottheit.53 Wenn Eckhart das Wort »Ich« im eigentlichen Sinne Gott vorbehält, dann will er damit die reine Intellektualität von allen empirischen Vernunftwesen abgrenzen; »Ich« benennt so gerade die Vernunft in ihrem reinen Wesen als die sich spontan selbst setzende und mit sich selbst vermittelnde Einheit.

III Halten wir also abschließend fest: Eckhart wendet die antike These, dass in Gott als dem Höchsten Denken und Sein identisch sind, so um, dass er das Sein im Denken fundiert. Dabei fasst er Denken nicht mehr wie die antike Geistmetaphysik als das intellektuelle Sehen eines dabei immer schon vorausgesetzten Seins, sondern als eine aller Seinsbestimmtheit vorausgehende, darum an sich selbst seinslose und unbestimmte reine Tätigkeit, die alles Sein und alle Bestimmtheit allererst kreativ setzt. Diese seinslose Tätigkeit des Denkens ist für Eckhart das reine Wesen des Absoluten, das er mit dem Platonismus als seinstranszendent konzipiert. Die Seinstranszendenz des Einen impliziert für Eckhart aber – ganz anders als für Platon, Plotin und Proklos – nicht auch seine Geisttranszendenz. Für Eckhart muss das Eine vielmehr gerade als das selbst 52 Vgl. Mojsisch, Burkhard: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit. Hamburg 1983, S. 123: »Die absolute Unmittelbarkeit ist von Eckhart somit nicht im exklusiven Sinne reiner Einheit gedacht. Das neuplatonische Einheitsdenken erfährt eine Ergänzung: Einheit ist Ich …«. 53 Vgl. bes. Meister Eckhart: Pred. 28; DW II, 63, 5 – 7: »daz †ch bin, daz enist keines menschen mÞ dan m„n aleine, weder menschen noch engels noch gotes, dan als verre als ich ein mit im bin; ez ist ein l˜terkeit und ein einicheit.« Ebd., 66, 2 – 5: »Ez ist etwaz, daz über daz geschaffen wesen der sÞle ist, daz kein geschaffenheit enrüeret, daz niht ist… Ez ist ein sippeschaft götl„cher art, ez ist im selben ein, ez enh–t mit nihte niht gemeine.« Vgl. auch Pred. 52; DW II, 492, 3 – 7. – Zu Eckharts Begriff des Ich vgl. Mojsisch, Burkhard: »›Dieses Ich‹: Meister Eckharts Ich-Konzeption«, in: Flasch, Kurt / Jeck, Udo Reinhold (Hg.): Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter. München 1997, S. 100 – 109.

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überseiende Prinzip von Sein und Bestimmtheit in sich selbst Denken bzw. Intellekt sein. Eckhart löst das Denken aus seinem Wesensbezug zum Sein heraus und identifiziert es mit dem Überseienden. Aber er vollzieht diese Herauslösung nicht als Entleerung des Denkens von allem Inhalt, sondern hält den Seinsbezug des Denkens zugleich fest. Darum und nur darum kann er das Absolute als das Sein selbst ansprechen, das kein Seiendes ist. Eckhart vollzieht also eine Erhebung des Denkens über das Sein, die Denken und Sein nicht trennt, sondern – zum ersten Mal in der Geschichte des Denkens – das Sein im Denken gründet. Denn er fasst das Denken als reine Selbstbeziehung und reflexive Selbstvermittlung, die in ihrem Vollzug ihren eigenen Gehalt allererst selbst hervorbringt und damit zugleich alle Gehalte hervorbringt, also Sein-setzend ist. Als diese sich selbst gründende und darin zugleich alles Sein setzende Tätigkeit ist Gott Ich. – Fassen wir dies in einem einzigen Satz zusammen, dann können wir sagen: Eckhart ist der erste Philosoph, der eine absolute Subjektivität denkt. Er ist der Begründer der Metaphysik der Subjektivität.

Edith Düsing (Köln)

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik und Fichtes philosophische Antwort

In einem ersten Teil soll Fichtes frühe Philosophie umrissen werden, seine Offenbarungskritik, Wissenschaftslehre und seine Auffassung, Gott sei als »moralische Weltordnung« definierbar, die Auslöser war für den um Fichte ausbrechenden Atheismus-Streit, in welchem Jacobi durch sein offenes Sendschreiben an Fichte federführend mitwirkte. Im zweiten Teil geht es um Jacobis fromme Polemik gegen Fichte, die in den Zusammenhang von Begriff und Ideengeschichte des Nihilismus einzuordnen ist. Der dritte Teil wendet sich Fichtes später Philosophie zu, die in aufschlussreichen Hinsichten als Antwort auf Jacobis vehemente Schelte lesbar ist, der Idealismus sei in Wahrheit ein verkappter Atheismus, Egoismus, ja Nihilismus, da für das sich selbst setzende, sich vergöttlichende Ich alles außer dem Ich Nichts sei.

1.

Fichtes Offenbarungskritik, frühe Wissenschaftslehre und der Glaube an Gott als moralische Weltordnung

1a.

Fichtes Offenbarungsverständnis

Im Geist Lessings erklärt der frühe Fichte provozierend aufklärerisch, sobald die menschliche Vernunft in der Lage sei, Offenbarung als solche zu beurteilen, bedürfe sie ihrer auch nicht mehr : »Da […] kein vernünftiges Aufnehmen einer Offenbarung als göttlich eher, als nach völliger Entwickelung des Moralgefühls in uns, stattfindet; da ferner nur auf dieses Gefühl und den dadurch in uns begründeten Willen, der Vernunft zu gehorchen, jeder Entschluss, einem Gesetze Gottes zu gehorchen, sich gründen kann«, »so scheint die göttliche Autorität, worauf eine gegebne Offenbarung sich gründen könnte, ihren ganzen Nutzen zu verlieren, sobald es möglich wird, sie anzuerkennen.«1 Die Sphäre

1 Fichte, Johann Gottlieb: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke (Bd. V): Zur Religions-

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möglicher Offenbarung ist sonach das durch Moralität und Phantasie Gott setzende Bewusstsein. Im System der Sittenlehre von 1812 definiert Fichte, seiner frühen Offenbarungskritik argumentativ nahe, »Offenbarung« unspezifisch und eigentlich nur auf die sittliche Bildung zielend als »ursprüngliches Durchbrechen« des absoluten Begriffs oder Gottes in einem sittlichen Bewusstsein, das Aufkommen von etwas Neuem, was nirgends auf der Welt vorhanden ist und das auf eine unbegreifliche, an kein vorheriges Weltglied anknüpfende Weise zustande kommt. Je nach Entwicklungsstand des Menschengeschlechts könne solche »Offenbarung« mehr oder weniger klar und vollständig als bloßes Fragment oder ganzes »System der Sittlichkeit« ausfallen. Zu kirchlicher Dogmatik kontrastierend lautet Fichtes rationales Glaubensbekenntnis streng negativ theologisch: Das Wesentliche jedes Symbols ist der Satz, Übersinnliches als ein über die Natur Erhabenes existiere überhaupt. Symbol bedeutet für ihn nur ein offenbares Geheimnis, also nichts Geoffenbartes, das als ein bestimmter Lehrinhalt verkündbar wäre. Die höchste Bestimmung des Menschen ist es, »Werkzeug des Ueberirdischen« zu sein, und hierin erschöpfe sich der Sinn, Mitglied einer Kirche zu sein. Überzeugungsgrund und Beweis dafür, die Offenbarungslehre aus der Hand ihres historisch ersten »Mitteilers« Jesus anzunehmen, könne nur der schon eigenständig ausgebildete sittliche Sinn sein.2 Mit Blick auf die Reformation postuliert Fichte, dass kirchliche Symbole als Ausdruck eines lebendigen sittlich-religiösen Glaubens perfektibel sein und sich in Zielrichtung des Glaubens der Gebildeten verwandeln sollen als eines wissenschaftlichen Publikums im Schoße der Kirche.3 Der Kantische Streit der Fakultäten und Schleiermachers gebildete Verächter der Religion werden in versöhnender und läuternder Absicht mitten in die Kirche hinein versetzt. Kants Lehrer des Evangeliums, Jesus, Ur- und Vorbild für moralische Vollkommenheit, wird von Fichte, der hierin Kants moraltheologischer Linie folgt, als »ein außerordentliches sittliches Genie« bestimmt. Und mit Platonischem Akzent fügt Fichte hinzu: Jesus war, – unter anderer Art von Genien in der antiken Welt – das sei das mindeste von ihm zu Bekennende, »ein von Gott Begeisterter« gewesen.4 Fichtes philosophisches Verstehen christlich-theologischer Urkunden lässt sich leiten von einem »System des Wissens«, entworfen durch das »allgemeine innere Auge« des als Wahrheitsgrund sich wissenden Ich. Es enthüllt die Genesis des Faktischen und »enthält darum den Inhalt aller möglichen Offenbarung in ihrer organischen Vollständigkeit und genetischen

philosophie. Hg. von Fichte, Immanuel Hermann. Berlin 1845, S. 101. Fichtes Werke werden im Folgenden zitiert als: SW Bd. Nr., S. 2 SW XI, 105 ff. 3 SW XI, 109, 112. 4 SW XI, 113.

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik

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Klarheit, also die Vollendung und das Ziel alles Aufsteigens der Kirche«5. In der Architektonik des ganzen Wissens ist es – anklingend an Kants Vernunftglauben, der die Postulate annimmt – allein der »sittliche Glaube«, der den Durchblick in metaphysische Wahrheit, V. a. über Gottes Dasein entwickelt. Fichte setzt in Analogie zum Glauben an Wunder, die den Naturlauf transzendieren, dass es zur wahren Philosophie der Erhebung des Ich in die »ganz andere Welt«, nämlich die des Übersinnlichen bedarf, wohin keine »Vereinigungsbrücke« zwischen Sinnen- und Geisteswelt führe und dass man durch einen »Sprung hinüber gehoben werden müsse«. Dieser »Sprung«, der auf paradoxe Weise hier autonom und theonom ineins zu sein scheint, erinnert an Jacobis zentrale Aufforderung, man müsse einen übervernünftigen salto mortale in den Glauben an einen persönlichen Gott vollziehen, und an die theonome Redeweise von Gottes prädeliberativ dem menschlichen Willen vorlaufender Gnade. Die Welt sei Gottes absolutes Bild, durch sein ewiges Wort erschaffen; und dieses göttliche Bild scheint für Fichte maßgebend nicht in der Natur, sondern im zu sich selbst kommenden Ich auf, da »das ewige Sein allmälig sich entwickelt zum Bewußtsein«. Dieser kontinuierlichen Theogonie des im Lichtkegel der Selbstbewusstwerdung aufleuchtenden Gottes setzt Fichte kritisch den naiven Kirchenglauben an einen Gott entgegen, der willkürlich »irgend einmal in der Zeit (das sind eben ihre Wunder)« durch übersinnliche Kausalität in die Welt eintritt und, so polemisiert er gegen das Statuarische und die fixierte religiöse Positivität, »das Andenken eines leeren Faktums« feiert.6 Der systematische Ort möglicher Offenbarung Gottes ist für Fichte in der frühen und späten Zeit also ausschließlich das endliche Selbstbewusstsein, das ethisch als Gewissen und ontologisch als Erscheinungssstätte für eine Epiphanie des Absoluten bestimmbar ist. Jesu Selbstbewusstsein wird – in einer adoptianischen Jesulogie – als paradigmatisch menschliches, nicht als trinitarischgöttliches in Blick genommen. Ethische und ontologische Dimension der Gottesvergewisserung konvergieren im transzendentalkritischen Sinne dort, wo Fichte erklärt, der einzige Gottesbeweis, der geführt werden könne, der auf die praktische Geltung restringiert nur ein Wahrheitsgefühl ist, kein strenger Beweis, sei ein wahrhaftiger sittlich-religiöser Lebenslauf. »Ein göttlicher Wandel ist der entscheidendste Beweis, den Menschen für das Dasein Gottes führen können.«7 Fichte fasziniert die durch den Primat der praktischen Vernunft für ihn legitimierte Möglichkeit, dass Menschen intuitiv Gott als daseienden Gott

5 SW XI, 114. 6 SW XI, 116 f. 7 SW VI, 427.

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»schauen« dürfen, nämlich vermittels des auf vorprädikative Weise überzeugenden sittlichen Lebens der Gott »Ergebenen«.8 Die in Fichtes Denkweg kaum auflösbare, von Anfang an sich durchhaltende Grundspannung von Vernunft und christlicher Offenbarung verläuft in Fichtes Spätphilosophie anders als im Kant nahen Beginn seines Denkwegs. Fichtes neuplatonischer Gottesbegriff widerstreitet dem trinitarischen Gottesverständnis; und die aus der frühen Zeit mitgenommene hohe Eigenaktivität des Ich, selbst wenn es mystisch in Gott versinkt9, unterläuft jegliche Gnadenlehre als Soteriologie für von Gott abgefallene Sünder. Gleichwohl gibt es tiefe Berührungspunkte des späten Fichte mit christlichem Denken, und zwar ontologisch, da Fichte in der Anweisung zum seligen Leben das Johannes-Evangelium aufnimmt, die Liebe sei Urgrund aller Realität, ethisch-religiös, da er die Paulinische Lehre vom wahren, durch innere Revolution der Gesinnung erneuerten Ich idealistisch fortführt. Jesu Gottessohnschaft bzw. sein trinitarisches Einssein mit Gott und die hiermit stehende oder fallende Möglichkeit seiner Heilsbedeutung, zentrale Inhalte der theologia revelationis, entfallen für Fichte, da sie keinen systematischen Ort in seiner Wissenschaftslehre besitzen, weder in der frühen, die im schlechthin sich selbst setzenden Ich gründet, noch in der späten, in der das Absolute vom Ich intuiert wird und das sich in seinem Prinzipcharakter selbst absetzt zugunsten des Primates Gottes. Die reflexionsphilosophische und ethische Selbst-Enthebung des Ich aus seiner Begründungsfunktion, veranlasst durch Jacobi, eröffnet nicht schon die rezeptiv vernehmende Vernunft, die ein autoritatives Deus dixit hinzunehmen bereit wäre.

1b.

Das sich selbst setzende Ich als Axiom der frühen Wissenschaftslehre

Fichte vertritt in seiner frühen Zeit (1792 – 1799) einen konsequenten Idealismus der Freiheit. Der tiefste Gegensatz ist für ihn nicht der von Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Seele und Körper, sondern der zwischen freier Selbsttätigkeit und einer alles Seiende durch lückenlosen Kausalzusammenhang in Banden haltende Naturnotwendigkeit. Seine gesamte Philosophie nennt er eine fortlaufende Analyse der Freiheit. In der zweiten »Einleitung« in die Wissenschaftslehre von 1797 erklärt er : »Der Mechanismus kann sich selbst nicht fassen, eben darum, weil er Mechanismus ist. Sich selbst fassen kann nur das freie Bewußtsein«. Dazu, den Begriff des Ich als den reinen Gedanken seiner selbst zu erfassen, bedarf es aber der Erhebung durch Freiheit in eine ganz andere Sphäre; solche rückbezügliche Selbsterfassung liegt nicht im Mecha8 SW V, 472. 9 SW V, 518.

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik

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nismus der Natur. An den Philosophierenden ergeht die Aufforderung, sich auf sein Selbst zurückzuwenden, damit er des Urprinzips allen Wissens im Gedanken seines Ich inne wird. Dieses angemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nennt Fichte »intellektuelle Anschauung«; sie ist die geistige Handlung, in der die Intelligenz sich selbst zusieht in ihren Welt erklärenden Denkakten. Das Ich, – die von Fichte dynamisierte Kantische reine ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption, die alle meine Gedanken muss begleiten können, damit sie der Einheit meines Ich zugehören, – sofern es seine eigene Aktivität erfasst, kann sich nicht mehr als ein Ding unter Dingen, nicht einmal als die Cartesianische res cogitans verstehen, die als substantiell gegeben fertig vorliegt, erst recht nicht, wie Fichte das Alltagsbewusstsein vieler Menschen plastisch verbildlicht, als »ein Stück Lava im Mond«. Von dem Punkt der Einheit, in dem das Ich sich als erzeugt durch sich selbst und als Subjekt-Objekt ergreift und festhält, von der Tathandlung des sich selbst setzenden Ich, das ein Nicht-Ich sich entgegensetzt und in einer Synthesis durch Teilbarkeit mit einem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich zusammensetzt, geht für Fichte alles Erkennen und Handeln aus.10 – Das von Fichte als erstes Axiom bestimmte absolute Ich ist für ihn weder das endliche menschliche Selbstbewusstsein noch ist es Gott: Sondern es ist für ihn allgemeines höchstes Prinzip vor jeder kategorialen Unterscheidung in Endlichkeit und Unendlichkeit, in Theorie und Praxis, da alle solche Kategorien erst aus ihm sukzessiv zu entwickeln sind. Das absolute Ich, um Ungesagtes deutend zu erklären, wird von Gott allein erfüllt, vom Menschen bloß erstrebt, insofern es Quelle aller Objektbestimmungen ist. Fichte erklärt das absolute Ich als Bedingung der Möglichkeit des endlichen Selbstbewusstseins.

1c.

Anlass des Atheismusstreits: Gott wird von Fichte als moralische Weltordnung definiert

In Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung von 1798 betont Fichte provozierend und missdeutbar, für die Vernunft bestehe kein Anlass, vom Begriff der moralischen Weltordnung auf ein »besonderes Wesen« als deren Ursache zurückzuschließen, der Begriff von Gott als einer »besonderen« –, also nicht, wie bei Spinoza, allgemeinen – »Substanz« sei in sich wi10 Vgl. grundsätzlich Heimsoeth, Heinz: Fichte. München 1923; zur frühen Wissenschaftslehre mit den drei Grundsätzen s. Janke, Wolfgang: Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970; zur praktischen Philosophie Düsing, Edith: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, S. 181 – 289.

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dersprechend.11 Fichtes Vorbehalt gegen den Begriff Gottes als eines besonderen, substantiellen und personalen Wesens fußt auf dem nicht zwingenden Spinozanischen Argument, ›Person‹ schließe Endlichkeit und Begrenzung ein. Fichtes Sohn Immanuel H.Fichte hat dem Gedanken der Persönlichkeit Gottes, – den vor J.G.Fichte schon Leibniz und Kant, nach ihm Hegel und Kierkegaard verteidigen, – eine zentrale Stellung in seinem theistischen Lehrgebäude verliehen. Kant erblickt keinen Widerstreit zwischen dem Substanz- und dem Persongedanken; für ihn ist auf Grund von Leibniz’ Neu-Bestimmung der Substanz (:«un Þtre capable d’action«)12 diese auch nicht notwendig mit bloß bestehendem Beständigsein oder Trägheit behaftet, wie Fichte nahelegt.13 – Bei der Frage, ob Fichte in seinem Gottesbegriff Theist sei, ist zu berücksichtigen, dass der späte Fichte – bei aller Vorsicht in der Wissenschafts- und Wahrheitslehre – unbefangen für die Erscheinungslehre eine Vielfalt von traditionell theistischen Bestimmungen gebraucht: Gott muss Verstand und Wille zukommen, insofern er – hier kommt Fichte dem teleologischen Weltbegriff Kants nahe – intentional den höchsten Zweck des Daseins der Welt die sittliche Bildung Aller entwirft und erwirkt;14 nicht selten bemüht Fichte die göttliche Providentia bzw. den (Welten-) Plan Gottes;15 schließlich verfügt die göttliche Idee wie bei Aristoteles und Hegel über Bewusstsein ihrer selbst.16 Die Personifikation Gottes, die Fichte in der Theorie für so problematisch hält, da sie für ihn eine Verendlichung des Absoluten durch Anthropomorphismen einschließt, gilt ihm für seine praktische Metaphysik offenbar keineswegs als Restbestand des Aberglaubens aus unaufgeklärter Zeit. In einer Replik auf Jacobis Atheismus- und Nihilismus-Vorwurf erklärt Fichte im Jahr 1799: Die moralische Weltordnung ist »moralisches Prinzip« ebenso wie eine »moralisch schaffende Macht«. Fichte verteidigt seine als Atheismus missverstandene Position: allerdings »existiert Gott […] nur als solche« moralische Weltordnung. Dies sei die einzige Weise, in der wir Gott als »nicht leeren

11 SW V, 186 ff. 12 In der Metaphysischen Abhandlung fordert Leibniz, zum Zwecke der Entwicklung eines logisch einstimmigen Gottesbegriffs, der als unendliche Person denkbar ist, allein solche Prädikate Gottes zuzulassen, die jeweils eine unendliche Vollkommenheit bezeichnen können wie: höchste Weisheit, Macht, Güte, Gerechtigkeit, d.i. die in sich widerspruchsfrei eines höchsten Grades fähig, d. h. in ihrer Reinheit frei von Einschränkungen sind, jedoch solche Prädikate a priori auszuschließen, bei denen die Annahme eines Maximum – z. B. größte Ausdehnung oder höchste Geschwindigkeit – widersprechend ist. – Zu Leibniz’ Metaphysik siehe grundlegend Kaehler, Klaus Erich: Leibniz – der methodische Zwiespalt der Metaphysik der Substanz. Hamburg 1979. 13 SW I, 440 f. 14 SW XI, 83 ff., 193 f. 15 SW II, 299, 303ff, 313; SW VI, 384 ff. 16 SW VI, 372 f.

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik

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Begriff« erfassen und als etwas, worin wir mit ihm vereinigt »leben« können!17 »Sphären« dieser lebendig schaffenden Macht des moralischen Urgesetzgebers reichen »bis herab auf die Sinnenwelt«. Gott existiert aber an und für sich selbst weder als Natur, – wie Spinoza lehrt – , noch als »System von Ichen«18 – was Fichte als einen verkappten Atheismus gelehrt habe. Gott existiert vielmehr in jenen »Ichen« nur, sofern er sich depotenziert und sie seine Erscheinung darstellen. Die Fundierungsordnung von Ich und Absolutem wird von Fichte, wohl um weiterem Missverständnis vorzubeugen, zugunsten einer Letztbegründung von Einzel-Ich und System von Ichen im Absoluten festgelegt. Die von Jacobi ihm aufgenötigte Alternative, durch Hochmut oder aber Demut selig werden zu wollen, unterläuft Fichte mit Ironie: Weder will er ein sich »lobpreisendes Selbstbehagen« pflegen noch sich verzehren in »Zerknirschung« über unsere »Sündhaftigkeit«. Fichte mahnt vielmehr : »Lasset uns selig sein in der einfachen Treue gegen das Göttliche in uns«19. Aus dieser harmlos klingenden Wendung: Selig sein zu wollen durch »Treue gegen das Göttliche in uns« kann man die Einsinnigkeit des höchsten Gutes ablesen: Gott, beste Welt, ideales Ich sind ineins gefasst, währenddessen Kant klar voneinander abhebt: Gott als höchstes ursprüngliches Gut, die beste Welt als das höchste abgeleitete Gut, moralische Selbstvervollkommnung jedes Mitglieds im Reich der Zwecke. Fichte verschränkt die Kantischen Postulate: sittliches Handeln ist in sich und schon hier und jetzt glückselig; der existierende Gott ist gegenwärtig in jedem Ich als einem Mitglied der moralischen Weltordnung. Meine sittliche Bestimmung in dieser Ordnung und was mit ihr verknüpft ist, gilt Fichte in der Umbruchsphase um 1800 als »das einzige unmittelbar Gewisse, das mir gegeben wird, so wie ich mir selbst gegeben werde, das einzige, welches mir selbst für mich Realität gibt«20. Die Welt ist nichts weiter als »das versinnlichte Materiale unsrer Pflicht; dies ist das eigentliche Reelle in den Dingen«, die einzige Realität, »die dich angeht«.21 Dieses wesentlich mich Angehende begreift Fichte religionsphilosophisch als Aufruf Gottes im Gewissen. Ohne ontologisch und theologisch damit je zu Ende zu kommen, ringt Fichte – geheimnisvoll ausgedrückt im Brief an Schelling vom 31. Mai 1801 – um eine Systematisierung des Kantischen Reiches der Zwecke (also der freien Personen, die sich selbst als Adressaten des Sittengesetzes und als existierender Selbstzweck verstehen, dem in der eigenen und fremden Person unbedingt Achtung 17 SW XI, 392. 18 Interessant ist, dass Fichte der Gleichung Feuerbachs: Die Einheit von Ich und Du ist Gott, vorab widerstreitet, in der Theologie auf Anthropologie bzw. auf das Zwischenmenschliche reduziert werden soll. 19 SW XI, 394. 20 SW V, 210. 21 SW V, 184 f.

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gebührt), mithin um die begriffliche Durchklärung eines »Systems der Geisterwelt«, welches »unbegreiflicher RealGrund der Getrenntheit der Einzelnen« ist und zugleich als »ideales Band aller = Gott«; dies ist es, »was ich intelligible Welt nenne. Diese lezte Synthesis ist die höchste«. In der Bewusstseinsklarheit des Individuums taucht für Fichte der Funken einer Lichtspur auf, die über die Brücke der interpersonalen Welt in den Lichtabgrund des Deus absconditus zurückreicht. »Jedes Individuum ist ein rationales Quadrat einer irrationalen Wurzel, die in der gesammten Geisterwelt liegt; und die gesammte Geisterwelt ist wiederum rationales Quadrat der – für sie, und ihr universelles Bewußseyn, welches jeder hat, und haben kann – irrationalen Wurzel = dem immanenten Lichte oder Gott.«22 Fichte ringt darum, Einheit und Verschiedenheit, Identität und Differenz zu fassen 1) von Gott und Geisterwelt, 2) von Geisterwelt und Einzel-Ich, 3) von Gott und Ich. Der jeweilige Bezug ist nicht in »rationalen Zahlen«, d. h. nicht durch Vernunftbegriffe aussagbar, sondern ist bloß approximierbar durch rationale Begriffsbestimmungen an ein Unsagbares, was an neuplatonische negative Theologie gemahnt.23

2.

Begriff und Ideengeschichte des Nihilismus

Etymologisch und ideengeschichtlich stammt das Wort »Nihilismus« ab von »annihilatio«, einem Kunstwort, das die hochmittelalterliche Scholastik gebildet hat. In einem kühnen Gedankenexperiment wird in diesem Wort die Möglichkeit einer Revokation, ja Vernichtung aller Geschöpfe gedacht, eine »destructio rei in nihil« als ein Rückgängigmachen des ursprünglichen göttlichen Schöpfungswortes, das spricht: Siehe, es war sehr gut. ›Nihilismus‹ ruft die Vorstellung auf, dass das, was durch göttliche Schöpfung aus dem Nichts (von Augustinus als creatio ex nihilo begriffen) ins Dasein gerufen ward, vom Dasein ins Nichtsein zurückstürzt. Das volle Ja zum Seindürfen der Wesen im Sinne von Augustinus’ Wort, in dem die göttliche Liebe sich wesenhaft ausspricht: »volo, ut sis!« weicht dem Fluch des Nichtgewolltseins, woraus das der Melancholie typisch eigene nichts mehr Wollenkönnen entspringt. (Das grausigste aktuelle Beispiel: Ein Kind entdeckt sich als ein Wesen, das seine eigene Abtreibung überlebt hat.) 22 Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, herausgegeben von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff (zitiert als GA). Hier: GA III/5, 48 f. 23 Nach Auffassung der Verf. oszilliert Fichtes Religionsphilosophie von 1800 an zwischen Neuplatonismus und Johanneisch aufgefasstem Christentum. Düsing, Edith: »Sittliches Streben und religiöse Vereinigung. Untersuchungen zu Fichtes später Religionsphilosophie«, in: Jaeschke, Walter : Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die göttlichen Dinge (1799 – 1812). Hamburg 1994, S. 98 – 128.

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik

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Jacobi schließt in seinen Vorwurf an Fichte (von 1799), Fichtes Idealismus sei Nihilismus, den Vorwurf des Atheismus und des Egoismus mit ein. Im Entweder / Oder von Jacobis Aufforderung, es gelte entweder Gott oder das Ich zu wählen, zeigt sich eine Argumentations-figur, die bei Nietzsche wiederkehrt. Es geht um die eine absolute Wahl: Gott oder das Nichts! Nietzsche eröffnet eine zu ›Jacobi gegen Fichte‹ a n a l o g e A l t e r n at iv e eines ›tertium non datur‹: Gott und das im Sprung in den Glauben an den persönlichen Gott (: die Sonne des Guten) ewig geborgene konzentrische Ich einerseits, o d e r Leugnung/ Verlust/ ›Tod‹ Gottes und ein dezentriertes, aus der Mitte des Kosmos verstoßenes Selbst, das seinen unbedingten Wert im All verloren hat, andererseits. Eine Parallelstruktur, ja Einstimmigkeit von Jacobis und Nietzsches Nihilismus-Konzept ist außer dem leidenschaftlichen Pathos des Entweder / Oder in einer Jacobi und Nietzsche eigenen ›Magie des Extrems‹ die dimensionale d re i f a c h e E nt f a lt u n g : a) Nihilismus betrifft das Seiende im ganzen, das hinfällig, der Sinn des Seins fraglich wird, im Sinne der alten griechischen Frage: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?! b) Nihilismus heißt, insofern er in negativer Absicht das höchste Seiende betrifft, Atheismus; geleugnet wird das summum ens, ens realissimum et perfectissimum (Thomas von Aquin), id quod maius et melius cogitari non potest (Anselm von Canterbury); c) Nihilismus heißt, insofern er das zwon logon echwn, das vernunftbegabte Lebewesen Mensch betrifft, Egoismus. – Charakteristische wichtige Abwandlungen des Atheismus, Skeptizismus, Egoismus seiner freigeistigen Vorläufer nimmt Nietzsche vor: a) er diagnostiziert kritisch den Nihilismus als die Folgelast aus dem ›Tode Gottes‹; b) er ruft keinen vulgären Atheismus aus, sondern eine negative bzw. Anti-Theodizee und die in Europa heraufziehende Gottesfinsternis als eine Katastrophe, die zu überwinden sei; c) er beklagt hypermoralistisch den Menschen als das grausamste Tier, als den gegen andere seines gleichen und sich großen Selbsttierquäler.24 Das was bei Nietzsche der ›Tod Gottes‹ und die aus ihm entspringende Heimatlosigkeit (– die »transzendente Obdachlosigkeit« bei G. Luk‚cs, die »noogene Neurose« bei V. Frankl –) bzw. der Sinnlosigkeitsaffekt ist, dem entspricht bei Heidegger die »Seinsverlassenheit« des Menschen. So wie für Nietzsche der ›Tod Gottes‹ es ist, der den Nihilismus auf den Plan ruft, so ist es analog für Heidegger der ›Seinsentzug‹, der die nihilistische Befindlichkeit des Menschen herbeiführt. Für Heidegger ist der Versuch, »Nietzsches Wort: ›Gott ist tot‹« zu deuten, gleichbedeutend mit der Aufgabe, darzulegen, was er unter Nihilismus 24 Zur »Tod-Gottes«- und Nihilismus-Problematik sei der Hinweis erlaubt auf Düsing, Edith: Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus. München 2007, S. 351 – 521; und dies.: »Grundprobleme des Nihilismus: Von Jacobis Fichte-Kritik zu Heideggers Nietzsche-Rezeption«, in: Perspektiven der Philosophie 33 (2007), S. 177 – 226.

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versteht. Im Sinne Nietzsches sucht Heidegger der Verwechslung der Folgen des Nihilismus mit seinem Wesen auf den Grund zu gehen und beide klar voneinander abzuheben. So ist das Wort ›Gott ist tot‹ für Heidegger nicht bloß als »die Formel des Unglaubens« zu fassen oder der Nihilismus, wegen der Entwertung der obersten Werte, nicht bloß als »Untergang des Abendlandes« (O. Spengler), Aufstand der Massen (Ortega y Gasset), Pessimismus »durchgängiger Verunglückung« (Schopenhauer), gesellschaftliche Entfremdung (K. Marx), oder als neue Herrschaft der Technik; – oder als »Mißvergnügen an der Weltlage«, ein schwächliches »Lauern auf die Rückkehr des Bisherigen«, eine halb eingestandene Verzweiflung oder blanke moralische Entrüstung. Das alles sind Formen des »unvollständigen Nihilismus«, den Nietzsche als den passiven durchschaut hat, der Schwächung der Persönlichkeit ist, und in dem wir, wie Heidegger bekräftigt, »mitten drin« stehen. Vielmehr stehe in dem Wort: ›Gott ist tot‹ der Name Gott für die übersinnliche Welt der Ideale, die aber ihre wirksame, »erweckende«(!), Leben spendende Kraft verloren hat. Wegen solcher Wirkungslosigkeit sei für Nietzsche die abendländische metaphysische Philosophie, von ihm verstanden als Platonismus, so Heidegger »zu Ende«. Dies Zu-Ende-Sein macht für ihn den Nihilismus als »Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes« aus, die »Weltkatastrophen« zur Folge haben kann.25 Heidegger zitiert aus der Rede des ›tollen Menschen‹ in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft (Aphorismus 125): ›Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?‹ Nietzsches Wort: ›Gott ist tot‹ heiße, daß dieses Nichts sich in unheimlicher Weise ausbreite und unser (postmodernes) Dasein mit Angst unterwandere. Die Grundansicht des christlichen Abendlandes war, daß der Amor Dei, Gottes den Menschen suchende Agape-Liebe, von der Angst auf dem Grunde des Daseins zu befreien vermag. Denn vollkommene göttliche Liebe als letzter Seinsgrund vertreibt die Angst. Diese Annahme wird von Heidegger, wie vor ihm von Nietzsche, illusionslos aufgegeben. Für Heidegger ist Angst, fundiert in der Sorge, die Grundbefindlichkeit des Menschen, Angst durchstimmt sein In-derWelt-Sein. Die Angst des Daseins gilt Heidegger als unabwendbar ;2627 sie soll in einer Art tragischem Heroismus durch »Mut zur Angst vor dem Tode« ausgehalten werden; in ihm liegt Bejahung der Seinsart des Verfallens.28 Er hat jede 25 Heidegger, Martin: Holzwege. Frankfurt am Main 1972, S. 200 – 208. Heidegger wird zitiert nach der Gesamtausgabe (GA), Frankfurt am Main 1979 f. und in der Sigle: SuZ: Sein und Zeit. Tübingen 1972 [1927]. 26 SuZ, 187ff, 265 f. 27 Zur Heidegger-Deutung s. Pöggeler, Otto: Der Denkweg Martin Heideggers. Pfullingen 1990; zur Angstthematik vgl. Düsing, Edith: »Der Begriff der Angst bei Kierkegaard und Heidegger«, in: Hammacher, Klaus (Hg.): Transzendenz und Existenz. Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens (Wolfgang Janke zum 70. Geburtstag). Amsterdam / Atlanta 2001, S. 21 – 60. 28 GA 20, 436.

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mögliche Annahme des Ewigen verworfen.29 In der Angst aber soll die Verfasstheit des Seienden im ganzen sich offenbaren. »Die Angst ist nichts anderes als die schlechthinnige Erfahrung des Seins im Sinne des In-der-Welt-seins.« Angst ist das Sichfinden des Selbst in der »Unheimlichkeit«, im schlechhinnigen Un-zu-Hause30, in der – wie Heidegger später gern mit Nietzsche sagt – »wesenhaften Heimatlosigkeit«. Solches Un-zu-Hause jedes Ichwesens ist für Heidegger das »ursprünglichere« Phänomen im Vergleich mit dem durchschnittlichen »beruhigt-vertrauten« In-der-Welt-Sein. In der Angst findet das Dasein sich für Heidegger als solus ipse, das wesenhaft nicht – wie von Aristoteles bis zu Descartes und Hegel – denkend und im Denken Gott ähnlich, sondern wesenhaft Sein zum Tode hin ist, gemäß der These: vom cogito ergo sum zum moribundus sum. Das Ich ist in die Welt »geworfen« als in eine »leere Erbarmungslosigkeit«31. Solches Los- und Leersein an Erbarmen ist selbst noch ein christliches Theologoumenon in defizientem Modus, das an Nietzsches Wort vom »Irren wie durch ein unendliches Nichts« nach dem ›Tode Gottes‹ gemahnt. Zu solcher Preisgegebenheit stimmt der Verlust sowohl der göttlichen als auch der tragfähigen mitmenschlichen Ich-Du-Beziehung, der in Heideggers Konzeption angelegt ist.32

3.

Jacobis vehemente Fichte-Kritik und Fichtes Denkweg als Antwort

3a.

Jacobis Provokation

F.H.Jacobis Nihilismus-Vorwurf lautet, dass Fichtes sich selbst setzendes Ich statt Gottes sich selbst anbete und für ein solches substantielles Ich alles außer dem Ich Nichts sei! »Lieber Fichte«, ich schelte den »Idealismus« »Nihilismus«!33 29 Walter Schulz erklärt, Heidegger habe bereits in Sein und Zeit alle ewigen Wahrheiten geleugnet und den Raum der Geschichte als den einzig sinngemäßen Ort für das schlechthin zeitliche Dasein befunden (Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers, in: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, hrsg. von O. Pöggeler, Köln-Berlin 1970, S. 130). 30 GA 20, 402 f. 31 SuZ, 343. 32 S. dazu den Heidegger-Teil bei Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin 1965; die Überwindung von Heideggers Existential der Angst in dem der Liebe sieht Peperzak, Adriaan T.: To The Other. An Introduction to the Philosophy of Emmanuel Levinas. West Lafayette / Indiana 1993. 33 Jacobi, Friedrich Heinrich: »Jacobi an Fichte« (zuerst 1799). Werke (Bd. 3). Hg. von Roth, Friedrich / Köppen, Friedrich. Darmstadt 1968, S. 9 – 57, bes. 44, 49, vgl. 21 ff. auch für das Folgende. – Zum Nihilismus in problemgeschichtlicher Hinsicht vgl. Pöggeler, Otto: »Nihilist« und »Nihilismus«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 197 – 210; Goerdt,

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Die freie selbstbewusste Subjektivität, das reine oder absolute Ich ist für Fichte ursprüngliche Tat, erste Thesis des Philosophierens, schlechthinniger Neuanfang, das Setzen von etwas, das, als rein geistige lebendige Aktivität, zuvor nicht war. Das Ich als höchstes Axiom ist kein gegebenes Seiendes, keine Cartesische res cogitans, sondern unablässig schöpferisches Tun, Tathandlung als freies Hervorbringen seiner selbst und aller Seinsbestimmungen durch die unbewusst schaffende Einbildungskraft. Das absolute Ich bedeutet für Fichte vordisjunktiv theoretische und praktische Spontaneität, göttlich-unendliche und menschlichendliche Noesis und Poiesis. Objektsein ist für Fichte also bloße Negation, Widerständigkeit bzw. graduelles Aufgehobensein von – der Möglichkeit nach – unbegrenzter Tätigkeit des Ich. Das Ich ist Deduktionsgrund für Wahrheit, Recht, Sittlichkeit und Religion. Jacobi aber fordert die absolute Wahl zwischen dem sich selbst setzenden Ich und Gott. Er erklärt: Der Mensch »verliert sich selbst«, »so bald er widerstrebt sich in Gott als seinem Urheber … zu finden«; will er sich »in sich allein begründen«, so löst sich ihm dann Alles »allmählig auf in sein eigenes Nichts«. »Eine solche Wahl aber hat der Mensch, diese einzige: das Nichts oder einen Gott. Das Nichts erwählend macht er sich zu Gott«.34 In seinen furiosen Vorwurf im Jahre 1799, Fichtes Idealismus sei Nihilismus, schließt Jacobi den Vorwurf des Atheismus und Egoismus ein, ohne Fichte persönlich einen Atheisten oder Egoisten zu schelten. Hat die Welt der Erscheinungen, so erklärt Jacobi, keine »tiefer liegende Bedeutung« und »nichts außer ihr zu offenbaren«, nämlich als Gleichnis Gottes, so wird sie zu etwas, das meinen Geist zerrüttet, mein Herz mir herausreißt. Deshalb lautet Jacobis Losung, mit Anklängen an den Gottesbegriff des Cusanus: »nicht: Ic h ; sondern, Mehr als Ich! Besser als Ich! – ein ganz Anderer«! Jacobi fordert auf zu einem willentlichen Sprung in den Glauben an den persönlichen Gott. Wohl dem Menschen, rühmt er, der beständig die Gegenwart des lebendigen Gottes empfindet. Wer aber alsFreigeistiger »die heilige und hohe Einfalt dieses Glaubens antastet«, ist für Jacobi ein Widersacher der Humanität, die für ihn in Gott allein wohl- und letztbegründet ist. Denn er beraubt und verwüstet die Menschheit. Unsere »wahre Geisteshöhe«, erklärt er, ist unsere »Gottesahndung; Ahndung Wilhelm/ Müller-Lauter, Wolfgang: »Nihilismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 6). Hg. von Ritter, Joachim et al. Sp. 846 – 854; Strube, Claudius: »Nihilismus« in: TRE (Bd. XXIV), Berlin / New York 1994, Teil 3/4, S. 524 – 535. 34 Siehe vorvorige Anm. zu F.H. Jacobi. – Die Frage liegt nahe, ob der Nihilismus-Vorwurf einer um Fichtes und dessen Hörer Seelenheil besorgten Freundesseele entspringt oder ob Jacobi, – mit C.G. Jung ausgedrückt, – seinen eigenen Schatten auf Fichte projiziert bzw. antiidealistische Ressentiments entfesselt. Faszinierend zu sehen ist, wie Fichte seinen Denkweg, in der Annahme, Jacobis Vorwurf sei lauterer Ernst, fortan religionsphilosophisch in die Richtung eines Augustinischen Primats Gottes vor dem Ich transfiguriert.

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dessen, D e r D u Is t «! Die Vernunftgemäßheit dieser »Ahndung« liegt für Jacobi in der – Descartes’ egologischem Gottesbeweis nahe kommenden – Gewissheit des Ich, in ihm selbst nicht die »Vollkommenheit des Lebens«, nicht die »Fülle des Guten und des Wahren« zu besitzen.35 So führt nach F.H.Jacobis Atheismus- und Nihilismus-Vorwurf, an Fichte gerichtet, der Versuch radikaler Selbstbegründung des Ich durch sich zu dessen Selbstauflösung ins Nichts sowie zur Auflösung aller Realität außer dem Ich. In der Konsequenz dieses Idealismus müsse das Ich Gott annihilieren, um sich an dessen Stelle setzen zu können, – eine Anspielung auf das Wort der Schlange in der Genesis: Eritis sicut Deus! Fichtes Antwort auf Jacobis Nihilismus-, Atheismus- und Egoismus-Vorwurf ist sein gesamtes Spätwerk, wo das Ich als Bild Gottes gilt.

3b.

Fichtes »Augustinische Wende«

Das Geistesdrama ist bewegend, dass der vom Atheismusstreit verwundete Denker Fichte nicht verbittert, sondern in äußerster Denkbemühung den Weg von seiner aufklärerischen Position des Idealismus der Freiheit gleichsam bis zum Beginn des Mittelalters zurückwandert. Denn für seine Neubestimmung des Verhältnisses von Ich und Absolutem lenkt Fichte Schritt um Schritt von seinem ersten Entwurf absoluter Freiheit des denkenden und handelnden Ich über Descartes’ egologischen Gottesbeweis bis hin zu einer Augustinischen Position zurück.36 Ich nenne diesen gewaltigen Umbruch in Fichtes Denken seine ›Augustinische Wende‹; in dieser Wende zeigt sich, nachdem in Fichtes Frühphase das Kantische Gottespostulat nur das letzte Horizontbewusstsein des Ich ausmacht, wie statt des Ich schließlich Gott es ist, der alles Sein fundiert und erfüllt, und dass Gott von dem so entmächtigten Ich als sein eigener letzter Grund anerkannt wird. Ebenso radikal wie der frühe Fichte das sich selbst

35 Jacobi: Werke (Bd. 3), S. 49, 35 ff., 54; vgl. Jacobi: Werke (Bd. 2), S. 285. Zu Jacobi s. Baum, Günther : Vernunft und Erkenntnis. Die Philosophie F. H. Jacobis. Bonn 1969, bes. S. 32 – 49, 131 – 154. – Vgl. Descartes, Ren¦: Meditationes de prima philosophia/ Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hg. von Gäbe, Lüder. Hamburg 1959, S. 72 – 84; bes. 82: »Qua enim ratione intelligerem […] me non esse omnino perfectum, si nulla idea entis perfectionis in me esset, ex cuius comparatione defectus meos agnoscerem?« So geht der Begriff Gottes als unendlicher Substanz wegen seines höheren Realitätsgehaltes dem Begriff des endlichen Ich von sich selbst voraus (priorem esse). – Zum egologischen Gottesbeweis bei Descartes (bzw. »kausalen« Beweis aus dem ego) vgl. Gueroult, Martial: Descartes selon l’ordre des raisons. I: L’ame et Dieu. Paris 1953, S. 154 – 285. 36 Vgl. dazu Düsing, Edith: »Gott als Horizont oder Grund des Ich? Von Kants praktischer Metaphysik zu Fichtes Metaphysik des Einen Seins«, in: Fischer, Norbert (Hg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Kant-Forschungen 15 (2004), S. 433 – 491.

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setzende Ich verkündet, so lehrt der spätere Fichte das sich selbst depotenzierende Ich. Grundzüge dieses Denkweges seien nun ganz knapp umrissen. Das alles begründende, seiner selbst bewusste Ich kennt Gott und Gottes Dasein,so lehrt der frühe Fichte, bestenfalls als äußersten Horizont für seine ureigene absolute Selbstgewissheit und für seine autonomen Weltentwürfe. Deshalb kann von einem eindeutigen Primat des Ich vor dem Absoluten gesprochen werden (1792 – 1799). In der mittleren Phase erweist Fichte – ähnlich wie Descartes in seiner dritten Meditation – ein im ego cogito selbst verankertes Wissen um ein korrelatives Verhältnis des sich selbst als endlich und unvollkommen begreifenden Ich zu dem ihm als unendlich und vollkommen einleuchtenden Gott (1800/01). In der Spätphase Fichtes aber wird das Ich aus seiner ursprünglichen Begründungsfunktion enthoben (1804 – 1813). Die um 1801 noch methodisch konkurrierende Gleichrangigkeit von Ich und Absolutem, je archimedischer Punkt zu sein, wird von Fichte nun entschlossen und energisch in einen Primat des Absoluten, des absoluten Einen Seins oder Gottes vor dem Ich überführt. Wie kommt es zu dieser grundstürzenden Wende? Den maßgeblichen Anstoß dazu entfachte wohl offenbar der Atheismusstreit in der von Jacobi ihm verliehenen Stoßrichtung, dass eine unbedingte Wa h l z w i s c h e n G o t t u n d (sich selbst konstituierendem) Ic h zu treffen sei. Die im System der Sittenlehre von 1798 und in den Vorlesungen zu Platner bei Fichte schon latent spürbaren mystisch-neuplatonischen Gedanken über das Absolute wandeln sich in der Zeit ab 1800 von einer untergeordneten Nebenlinie zur Hauptlinie in Fichtes Denkweg.

3c.

»Die Bestimmung des Menschen« (1800): Fichtes erste Antwort auf Jacobis offenen Brief

Erschüttert von Jacobis schroffem Atheismus-, Egoismus-, Nihilismus-Vorwurf, dass Fichtes absolutes Ich, statt Gottes, eigentlich sich selbst anbete und für ein solches Ich alles außer dem Ich Nichts sei, bestimmt Fichte das autonome theoretische Ich im zweiten Buch in der Bestimmung des Menschen als bloßen »Traum von einem Traume«37, mithin als von sich her ohne Realität. Fichte nimmt nun, Jacobi aufnehmend und auf Kierkegaards Begriff Angst vorausweisend, an, dass autarke Selbstbegründungsversuche des Ich zum Scheitern verurteilt sind. Denn das Ich, bleibt es ohne wesentlichen Bezug zum Absoluten, ist in sich selbst grundlos und im autonomen Sich-selbst-Setzen innerer Leerheit und ontologischer Nichtigkeit anheimgegeben. Wahrheit finde das Ich allein durch sein denkendes In-Gott-Sein und Freiheit im Einstimmigsein mit Gottes 37 SW II, 245.

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Willen. Es geht Fichte um freie Selbsthingabe des Ich, um das Transzendieren eigenen Wissens, Wünschens und Hoffens im Angesicht der in positiven Begriffen nicht aussagbaren erhabenen Majestät Gottes. An die frühere Stelle originären Sichverstehens des Ich aus dem Urgrunde seiner schöpferischen Freiheit tritt nun das freiwillige Sichbilden des Ich zum Bilde Gottes.38 – Fichte hat vom Jahre 1800 an eine argumentativ nicht leicht zu erringende, hochkomplexe Einheit von neuzeitlicher Autonomie und christlich-neuplatonischer Theonomie gesucht, die ideengeschichtlich für Kierkegaards Konzeption seiner Stadienlehre wiederum hochbedeutsam wurde. Jacobi provoziert die absolute Wahl, – die Fichte sich auf seine Weise zu eigen macht, – zwischen dem sich selbst setzenden idealistischen Ich und Gott. Seine Philosophie führe, so verteidigt Fichte seine spätere gewandelte Position durch gewisse neoplatonisierende und der Mystik nahen Thesen, zu dem Gott bejahenden, Hybris und Atheismus-Verdacht aber zurückweisenden Resultat: » […] kein Mensch kann Gott werden […]; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott«39. Die schroffen Anklagen im Sendschreiben von ›Jacobi an Fichte‹, insonderheit den AtheismusVorwurf zurückweisend erklärt Fichte in der Wissenschaftslehre (1804): Das einzige absolut selbständige »Eine, in sich selber aufgehende Sein« wollen wir Gott nennen, die »einige wahrhafte Existenz« des Menschen ist das Anschauen Gottes.40 Das eigentlich Absolute kann nicht, – so beschwört er den Ernst und die Konsequenz seiner Gotteslehre, – »in das tote Sein«, sondern muss in Gott als das »lebendige Licht« gesetzt werden. Die Annahme, ein Wesen, sei es Gott oder Mensch, sei bloße Substanz, erläutert er mit kritischem Blick auf Spinoza: »Substanz = Sein ohne Leben«. Wenn man bloß annimmt, dass – so begegnet Fichte Jacobis Atheismusvorwurf und verteidigt seine Idee einer Synthesis von Gott und moralischer Weltordnung – zur Menge endlicher Wesen »noch Eins mehr … hinzukommt«, so gleicht dies Wesen einem »toten Gott«, der – so steigert er vor Nietzsches Parole vom ›Tode Gottes‹ die Emphase – »tot innerlich in der Wurzel« ist.41 So sucht Fichte das »eigentlich Absolute«, den platonischchristlichen »lebendigen Gott in seiner Lebendigkeit«, der für ihn Anfangsgrund und Ziel personalen und interpersonalen Seins ist.42 Für die Verlebendigung des 38 Zu Fichte vgl. Schrader, Wolfgang H.: Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J.G.Fichtes. Stuttgart / Bad Cannstatt 1972; Düsing, Edith: »Sittliches Streben und religiöse Vereinigung. Untersuchungen zu Fichtes später Religionsphilosophie«, in: Jaeschke, Werner (Hg.): Philosophisch-literarische Streitsachen (Bd. 3): Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die göttlichen Dinge (1799 – 1812). Hamburg 1994, S. 98 – 128. 39 SW V, 518. 40 SW X, 146. 41 SW X, 147. 42 SW V, 454.

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Substanzbegriffs hätte Fichte sich gut auf Leibniz’ monadologische Neudefinition der Substanz als »un Þtre, capable d’action« berufen können. Zur überaus fraglichen Berechtigung von Jacobis furiosem Vorwurf ist zu bemerken: Jacobi verwechselt in seiner Fichte-Kritik reines transzendentales oder absolutes Ich,43 das in seiner Bedeutung für Fichte vordisjunktiv weder spezifisch bloß theoretisch noch praktisch, weder spezifisch nur menschlichendlich noch nur göttlich-unendlich ist, mit dem konkreten einzelnen empirischen Ich. In der Bestimmung des Menschen wird das Verhältnis von Gott und Ich oft im Emanationsmodell vorgestellt: Gott ist in uns, er ist der ewige Wille in uns; wir »fließen ein« in ihn, er »fließt« in uns über ;44 dies ist die sinnbildlich-analogische, das unaussagbare Eine umschreibende Rede einer neuplatonischen, ins Praktische übertragenen Metaphysik. Johanneisch ist in der Bestimmung des Menschen, dass wir schon jetzt im ewigen Leben wandeln. Durch den Entschluss, dem Sittengesetz zu folgen, ergreife ich »die Ewigkeit« und streife den »Staub« des Irdischen ab (SW II, 289). Ich erhalte durch solche Entschlossenheit zum Guten ein »neues Organ«, den Glauben, in dem mir eine »neue Welt« aufgeht (SW II, 280 f.). In Spannung zueinander stehen hier die Kant nahen theistischen Bestimmungen, der göttliche Wille sei »Weltschöpfer« und »Herzenskündiger«, der die innerste Gesinnung durchschaut, und die moralphilosophisch verwandelten neuplatonisch-monistischen: ich habe »Teil« am göttlichen Einen, das ursprünglich da ist; an mir jedoch ist »nichts wahrhaft Reelles, Dauerndes, Unvergängliches« als mein Gewissen und mein freier Gehorsam (SW II, 302 ff., 298 f.). Dass Gott »selbst … dieses geistige Band der Vernunftwelt« ist (SW II, 298), kann so gedeutet werden, dass moralische Weltordnung zu sein, für Fichte das von Gott einzig erkennbare Prädikat ist; mögen ihm ansonsten unendlich viele andere Eigenschaften zukommen.

3d.

Der Gott in uns als Stimme des Gewissens (Die Bestimmung des Menschen)

In der Bestimmung des Menschen erweist Fichte im zweifelnden Durchgang durch einen alle Realität verlierenden Skeptizismus als das einzige schlechthin 43 Vgl. dazu Müller-Lauter, Wolfgang: »Der Idealismus als Nihilismus der Erkenntnis«, in: Theologia Viatorum XIII (1975/76) Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Berlin, S. 133 – 153. Müller-Lauter weist zu Recht darauf hin, dass Jacobis Fichte-Kritik die Funktionen von Fichtes absolutem Ich als Leistungen des konkreten Ich missdeutet. 44 Diese Wendung von 1800 kehrt in der WL von 1804 wieder : Die Manifestation des »göttlichen Werks« im religiösen Menschen ereignet sich als »Ausfluß des Einen göttlichen Lebens« (SW X, 313).

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik

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Gewisse die sittliche Einsicht des Ich in das, was es tun soll, also die praktische Evidenz des in der Stimme des Gewissens ihm Offenstehenden. Für das Ich, das sich in der theoretischen Einstellung der Position des Wissens als ein wesenloser »Traum von einem Traume« erfährt, verwandelt sich der Zweifel am eigenen Sein in der sittlich-praktischen Einstellung des Glaubens zur Daseinsgewissheit. Die persönliche sittliche Bestimmung und alles, was mit der Erfüllung derselben in Zusammenhang steht, ist das allein Gewisse, woraus die Realität sowohl des Ich als auch des Nicht-Ich entstammt. Das in Gewissenseinsicht durch Glauben Ergriffene ist demnach »das erste Wahre und der Grund aller andern Wahrheit«45.46 Dass es eine moralische Weltordnung, mithin Gott gibt, ist »das einzige absolut gültige Objektive«, ist das erste Gewisse, ja der Grund aller anderen Gewissheit.47 Die eigentliche Realität für das Ich besteht in der intelligiblen Welt, deren Mitte Gott ist. Die Sinnenwelt gibt – als theatrum mundi – lediglich den notwendigen Schauplatz ab für die Bewährung der sittlichen Substanz jedes Ich. »Unsre Welt«, so heißt es emphatisch, »ist das versinnlichte Materiale unsrer Pflicht; dies ist das eigentliche Reelle in den Dingen, der wahre Grundstoff aller Erscheinung.« Dasjenige, was in Verbindung mit der moralischen Ordnung der Dinge wahrgenommen wird, hat »Realität, die einzige, die dich angeht und die es für dich gibt«; diese einzig wesentlich mich betreffende Realität entspringt einer unablässigen Deutung des Pflichtgebotes und ist der »lebendige Ausdruck« dessen, was ich tun soll.48 Der Modus des Fürwahrhaltens metaphysischer Inhalte ist für Fichte – wie für Kant bei den Postulaten, die das Hoffen auf eine der Sittlichkeit gemäße Glückseligkeit erlauben – der praktisch motivierte Glaube, der sich aus sittlicher Einsicht speist. Die sittliche Einsicht aber, in der das Ich gründet – so Fichtes nun tendenziell theonome Konzeption – bringt das Ich nicht aus sich auf; vielmehr wird sie ihm verliehen vom göttlichen Willen. Das Sittengesetz wird also als ein von einem höheren Willen gegebenes Gesetz verstanden. Ja in der Stimme des Gewissens ist der göttliche Wille im menschlichen aktual gegenwärtig. Zwar weist Fichte in Bezug auf Gott, den er als das Vollkommenste und den ewig gültigen Willen bestimmt, den Begriff der Persönlichkeit zurück; gleichwohl spricht er ihn mit »Du« an: »Du wirkest in mir die Erkenntnis von meiner Pflicht, 45 SW II, 259. 46 Zu Fichtes Bestimmung des Menschen in seiner denkerischen Gesamtentwicklung vgl. Gueroult, Martial: »La destination de l’homme«, in: ders.: Êtudes sur Fichte. Hildesheim / New York 1974, S. 72 – 95; und Janke, Wolfgang: »Das empirische Bild des Ich – zu Fichtes Bestimmung des Menschen«, in: Philosophische Perspektiven 1 (1969), S. 229 – 246; ders.: »Intellektuelle Anschauung und Gewissen. Aufriß eines Begründungsproblems«, in: FichteStudien 5 (1993), S. 21 – 55. 47 SW V, 186 f. 48 SW V, 185.

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von meiner Bestimmung in der Reihe der vernünftigen Wesen«49. In der Vorstellung einer lebendigen Relation zwischen menschlichem und göttlichem Willen ist Fichtes Gedanke vom Abgeleitetsein des Ich aus dem Absoluten vorgeprägt. Das Bildsein des Ich dem göttlichen Absoluten gegenüber ist in der Bestimmung des Menschen spezifisch ethisch gefasst; die innere Substanz meines Gewissens ruht im göttlichen Willen, an dem mein Wille, um selbst gut sein zu können, orientiert sein und bleiben muss. Das Gesetz der intelligiblen Welt ist – als Wille Gottes – nichts bloß Bestehendes, Notwendiges, sondern aktuale geistige Willenstätigkeit, die lebendige Allgemeinheit eines Willens, woraus für Fichte folgt, dass die moralische Weltordnung selbst Gott sei, als das geistig einigende, Energie stiftende Lebensprinzip der intelligiblen Welt.50 In der Bestimmung des Menschen fundiert das im Gewissen Evidente für Fichte einen Vernunftglauben, dessen höchster Gegenstand Gottes Sein ist. Die Realität der Sinnenwelt erweist Fichte wiederum aufgrund des Gottes-Erweises, in Umrissen wie Descartes in den Meditationen mit Hilfe der veracitas Dei. Unser »Glaube« an die Sinnenwelt – Glaube hier als einfaches Fürwahrhaltens – resultiert aus dem »Glauben an unsre Pflicht« und ist »eigentlich Glaube an Ihn, an Seine Vernunft und an Seine Treue«.51 Fichte setzt methodisch die moralischpraktische Erkenntnis, die bei Kant allein für die Freiheit zutrifft, mit dem praktischen Glauben ineins, der bei Kant das Dasein Gottes und die Seelenunsterblichkeit betrifft. Im Horizont dieses moralischen Vernunftglaubens bestimmt Fichte die Genesis des konkreten praktischen Ich neu. Sein früheres Projekt, die Entstehung des empirischen Ich aus dem reinen genetisch aufzuzeigen,52 verwandelt sich nun in die Frage: Auf welche Weise geht das individuelle Ich als sittliches Selbstbewusstsein aus der intelligiblen Welt, also aus dem Kantischen Reich der Personen als der Zwecke an sich hervor, deren lebendige Gesetzmäßigkeit der Eine gute Wille, ja Gott selbst ist? Nach Fichtes neuer, nicht mehr streng autonomer Konzeption vermag das endliche Ich seine eigentliche Realität und eigne Tatkraft nur vermöge seiner Teilhabe am originären unendlichen Willen zu begründen. Er ist der Urquell der intelligiblen Welt und meiner selbst. Nicht allein das Wollenkönnen des Guten, auch das Erkennenkönnen des Wahren gründet für Fichte in der Beziehung des Ich zum göttlichen Einen. Der Augustinischen Illuminationslehre nahe kommend sagt Fichte: »Es ist sein Licht, durch welches wir das Licht und alles, was in diesem Lichte uns erscheint, erblicken.« Ja, Gottes Realität sei dem geistigen Schauen des Ich in höherer hellerer Klarheit gegenwärtig als das Bewusstsein 49 SW II, 304 f. 50 Vgl. SW II, 298 f.; SW V: 185 ff., 208, 216, 366 ff. – Zur Deutung Gottes als moralischer Weltordnung vgl. Heimsoeth, Heinz: Fichte. München 1923, S. 183 – 195. 51 SW II, 302. 52 SW IV, 255.

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik

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seines eigenen Daseins. »In dir«, so spricht Fichtes Phantasie-Ich zu dem ewigen Willen, werde ich mir selbst »vollkommen begreiflich«, und »alle Rätsel meines Daseins werden gelöst« (SW II, 303 ff.). Das von Fichte angedeutete Schema für das principium individuationis erinnert an Leibniz’ neuplatonisches Bild von den Monaden als Ausblitzungen aus göttlichem Lichte (SW II, 299 f.). Insofern wir als Ichwesen metaphysischen Ursprungs und Sinnsuchens sind, bestimmt unsere Orientierung auf den göttlichen Willen die Klarheit der Grenzlinien unseres Selbst. Dass uns in Gewissensaufforderung durch den Deus internus eine konkrete Pflicht auferlegt wird, gehört in den »ewigen Plan unserer sittlichen Bildung« (SW II, 307). Sie gehört in einen metaphysischen Weltenplan, den der am besten erfasst, der sein ganzes Leben als sittlich-religiöse Erprobung, als eine »Schule zur Ewigkeit anerkennt« (ebd.). Eigentliches Geschehen in der Welt ist das wache Vernommen-Werden des individuellen Willens vom göttlichen Willen und umgekehrt; in einem influxus intellectualis »fließe ich ein« auf den göttlichen Willen, er wirkt auf mich ein durch die Stimme meines Gewissens. In dieser meiner Stimme »offenbart« er sich mir, insofern sie – heißt es in transzendentaler Feinheit – für mich ein »durch mein Vernehmen in meine Sprache übersetztes Orakel aus der ewigen Welt« ist (SW II, 298), wie Fichte mehr antikisierend als christlich sagt, das mir verkündet, wie ich durch freie Fügung in den unendlichen Willen, der selbst die Ordnung der geistigen Welt ist, zur Vervollkommnung von deren Erscheinungsweise beitragen kann. Ein unauflösbares Spannungsverhältnis verbleibt in der Bestimmung des Menschen zwischen sittlicher Selbstgesetzgebung im Sinne der Kantischen reinen Autonomie-Ethik und »gläubigem Gehorsam« (SW II, 257). Fichte stellt dadurch, dass er die bejahende Aufnahme des göttlichen Willens und dessen konkrete Auslegung durch den Menschen als einen Akt der Freiheit versteht und die Erfüllung eines göttlich Gebotenen konsequent als freie Erfüllung des Sittengesetzes deutet, implizit die Idee einer Vereinigung von theonomer und autonomer Ethik vor, die in noch höherer Komplexität Kierkegaard in Entweder/ Oder auf Fichtes Anregung hin ausgeführt hat. Individuelle »absolute Freiheit des Willens« (SW II, 300) ist für den Idealisten Fichte die Voraussetzung für ein freies Verstehen und Realisieren göttlicher Gewissensaufrufung. Fichte hält in den Jahren 1792 – 1799 und noch 1800 tendenziell an der Kantischen Position fest, dass die Postulate von Gottes Dasein und der Seelenunsterblichkeit als theoretische Annahmen bloß rein gedacht und allein durch praktische Vernunft im Glauben Realität gewinnen und besitzen. Noch 1800 heißt es in der Bestimmung des Menschen: Das auf Grund von Gewissenseinsicht im Glauben Ergriffene ist »das erste Wahre und der Grund aller andern Wahrheit«; die sittliche Einsicht in unsere Pflicht wird durchsichtig auf das GottesPostulat, derart, dass der »Glaube an unsere Pflicht … eigentlich Glaube an Ihn

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Edith Düsing

[Gott], an Seine Vernunft und an Seine Treue« ist (SW II, 302).53 Durchschauen wir unsere Pflicht gleichsam auf den Urgesetzgeber : Gott hin, so finden wir Ihn in deren Erfüllung, ähnlich wie Kant einmal erklärt: Der kategorische Imperativ ist der Gott in uns. Insofern Die Bestimmung des Menschen zwischen autonomer Selbstgesetzgebung des praktischen Ich und »gläubigem Gehorsam« gegen den göttlichen Willen ambivalent schwebend gehalten ist, zeichnet Fichte durch diese Ethik das korrelativ-gleichrangige Verhältnis von Ich und Absolutem seiner Wissenschaftslehre von 1801 vor. Im Jahre 1804 ist es die Wissenschaftslehre, in der Fichte eine Dominanz der theonomen Ethik vorzeichnet, die 1805/ 06 erst entwickelt wird. Auf die späte Lehre vom Ich als Bild des Absoluten weist die Idee voraus, der Wille des endlichen Ich sei Emanation des jenseitigen göttlichen Willens bzw. allumfassenden Einen.54 Der göttliche Wille wird schon hier als das jenseitige Eine verstanden, von dem alles andere Seiende in Graden höherer und minderer Vollkommenheit – je nach seiner Entfernung vom Ursprung – ausgeht. Im Ansatz formuliert Fichte seine Aussagen über das göttliche Eine als negativ bleibende Theologie, die zugleich atmosphärisch im Umkreis von Kants Erkenntnisrestriktion bleibt; er spricht vom »Unendlichen, der keines Maßes fähig ist«, und davon, dass ein »discursiv fortschreitendes Bewußtsein«55 durch die Eigenart seines Begreifens das Unendliche zum Endlichen macht, es also verfehlen muss in dem, was es an ihm selbst sei. So wird der Anspruch des Begreifenkönnens Gottes kritisch restringiert. Fichte negiert – anders als Kant –, Gott sei 53 Nicht durchgeklärt hat Fichte die Frage, ob eine Transzendenz Gottes gegenüber der Welt anzunehmen sei oder eine Immanenz des göttlichen Unendlichen im endlichen Ich bzw. auch ein Innestehen des endlichen im allein substantiell seienden unendlichen Intellekt oder Willen. Signifikante Prädikationen der Idee Gottes sind in der Bestimmung des Menschen, dass Gott – sowohl an die Überwindung der Kantischen »Kluft« in der Kritik der Urteilskraft als auch an die christliche Versöhnung erinnernd – »Vermittler« ist einerseits zwischen intelligibler und sinnlicher Welt und andererseits zwischen Personen. In kosmologischer Hinsicht ist Gott »Weltschöpfer«, in ethischer Rücksicht »Herzenskündiger«; und er ist höchste Weisheit und höchste Güte. In der Wissenschaftslehre von 1804 ist die Transzendenz Gottes als des absoluten, »in sich geschlossenen Singulum des Lebens und Seins« offenkundig; das »rein immanente Sein« des Absoluten wird von einer möglichen genetischen Konstruktion von Gottes »Erscheinung«, »Offenbarung«, »Äußerung« streng abgehoben (SW X, 212, 223). 54 Fichte hat das Problem zu klären versäumt, ob er eine Transzendenz Gottes in Bezug auf die Welt oder aber eine Immanenz des göttlichen Unendlichen im Endlichen bzw. auch ein Innesein der endlichen in der allein substantiell seienden unendlichen Vernunft annehmen will. In der Bestimmung des Menschen finden sich paradoxe Hinweise zu beiden Positionen, zur Getrenntheit der ewigen göttlichen von der menschlichen Welt (– ein ens extramundanum ist Gott bei Kant –) und zur Durchdringung beider Welten. (Vgl. z. B. SW II: 298 f., 303 f., 315 ff.) Zur »Weltregierung« des selbst transzendenten Gottes »ausser und über aller Zeit« s. SW XI, 84. 55 SW II, 304.

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik

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Persönlichkeit, da dieser Begriff für ihn Schranken enthält. Doch überschreitet Fichte auch immer einmal wieder die negative Theologie in Richtung auf eine spekulative, indem er positive Prädikationen Gottes trifft: Er ist das Eine, das reine Sein, das zuhöchst Vollkommene, geistiger Wille und Band der Vernunftwelt.56 Diese neue Gedankenlinie, die auf eine idealistische Metaphysik des Absoluten abzielt, wonach das Ich nicht nur in der göttlichen lex optimi sein sittlich Gutes, sondern in intellektueller Schau alles Wahre in Gott findet, hat Fichte in seiner späten Lehre weit ausgezogen. In immer neuen Angängen sucht er dann eine Metaphysik des Einen göttlichen Seins und seines Verhältnisses zum endlichen Ich zu entwickeln. Die in der Bestimmung des Menschen noch getätigte Kantische Einschränkung, der Zugang zu metaphysischen Inhalten stünde allein einem praktischen Glauben offen, wird von Fichte ab 1804 – 06 fallen gelassen.

4.

Ausblick auf Fichtes späte Religionsschrift: Die Anweisung zum seligen Leben

Nicht mehr das Ich setzt schlechthin sich selbst in seiner Freiheit und weiß sich als sich setzend, sondern es findet sich als ein von Gott gesetztes, dessen höchste Bestimmung es ist, sein Gesetztsein als Bild Gottes anzuerkennen und als allein seliges Leben zu realisieren. Indem Fichte transzendental-kritisch neu die Grenzen der Vernunft absteckt, kommt er zur negativ-theologischen These des Scheiterns der Reflexion an der Unbegreiflichkeit des Absoluten, darin wieder Kants drei Kritiken nahe: Gott ist, wie die Seele, nach Kant für die Vernunft ein Abgrund (Augustinus sprach vom abyssus mentis). Den erkenntniskritischen Rahmen sprengt Fichte jedoch in der Wissenschaftslehre von 1804 durch die Folgerung, dass das Ich, seine Endlichkeit im korrelativen Gegenüber zur Un56 Als bedeutsame Eigenschaften Gottes hebt Fichte folgende hervor: Er ist »Vermittler« zum einen zwischen intelligibler und sinnlicher Welt und zum anderen zwischen unterschiedlichen Personen – eine vage Abschattung des christlichen Versöhnungsgedankens – ; er ist in kosmologischer Hinsicht »Weltschöpfer« und in ethischer Rücksicht »Herzenskündiger«; schließlich ist er höchste Weisheit und höchste Güte (SW II: 299, 303 f., 313). In der Annahme eines im göttlichen Willen enthaltenen »Weltplans« (SW II, 305) nimmt Fichte die stoische und christliche Providentia-Tradition auf. – In seiner Verteidigungsschrift gegen den Atheismusvorwurf von 1799 kristallisiert Fichte in zorniger, lakonischer Formulierung eines »Glaubensbekenntnisses« die Dimensionen des Ursprungs und des Telos der Welt heraus, wonach ein Erschaffensein jedes Ichwesens und der interpersonalen Welt durch »ein freies, intelligentes Prinzip« anzunehmen sei und das letztendliche Erreichtwerden des höchsten Vernunftzweckes durch die »weltregierende Macht« in allem, was nicht intendierbar und realisierbar ist durch menschliches gutes Wollen (SW V, 366).

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endlichkeit Gottes anerkennend,57 den Überstieg über sich und eine übervernünftige Einsicht in das Sein des Absoluten erringt. Das Selbstbewusstsein des Daseins ist in der Anweisung zum seligen Leben (von 1806) das Bewusstsein seiner als Bildes des Absoluten. Solches Anerkennen des Bildes Gottes in der eigenen Person schließt für Fichte die Anerkennung des Erscheinens Gottes in anderen Ichwesen mit ein. Das Selbstbewusstsein des sich erfassenden Ich vertieft sich zum Bewusstsein seiner selbst – und anderer Iche – als solchen Bildes des Absoluten. Fichtes pointierte, dichte These, dass das göttliche Sein selbst in seinem Bilde anerkannt wird (SW V, 444), bezeugt die auf Buber vorausweisende Idee des tiefsinnigen Zusammenhangs zwischen der Anerkennung des daseienden Gottes als des ursprünglichen Du und der Anerkennung des Menschen in seinem göttlichen Ursprung. Gott wird in jedem Du und im Du Gott anerkannt. Der späte Fichte kennt eine mystische Gottinnigkeit,58 in der das Selbst in der Gottesliebe sich verliert. Etwas ewig Gültiges selbst zu sein und aus sich zu entbergen vermag nur das Gott liebende Ich. Vergleichbar mit Augustinus gilt für den späten Fichte: Allein die – letztlich theonome göttliche – Liebe kennt die Wahrheit und die Ewigkeit. Fichtes Einsenken des Liebesmotivs in die Fundamente des Seins in der Anweisung zum seligen Leben hat im Sinne der sich schenkenden Agape-Liebe Johanneischen, im Sinne des Platonischen Eros, der des Vollkommenen, auch des ganz Anderen zum Zwecke der Ergänzung seiner selbst bedarf, Spinozanischen Hintergrund: Amor Dei intellectualis. Der späte Fichte vertritt im Hinblick auf die radikale Zentralstellung des Absoluten – vergleichbar darin mit Plotin oder Luther – eine Ontologie, der gemäß alles Andere, außer dem höchsten Seienden, bloß in defizienter Weise existiert. Eine Illustration solcher paradigmatisch zu verstehenden Ontologie findet sich in 57 Beachtliche Ähnlichkeit zeigt diese Fichtesche Argumentationsfigur wiederum zu Descartes’ egologischem Gottesbeweis in der dritten Meditation, der u. a. im Bewusstsein der Korrelativität von Unendlichem und Endlichem verankert ist, ja im Wissen, dass der Begriff Gottes als unendlicher Substanz aufgrund seines höheren Realitätsgehaltes dem Begriff des endlichen Ich von sich vorausgeht (priorem esse). Descartes, Ren¦: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hg. von Gäbe, Lüder. Hamburg 1959, S. 82 f. – Bei Fichte siehe das argumentative Pendant SW V, 439 – 442. 58 Dass Fichte an die Tradition religiöser Mystik anknüpft, wird in der Fichte-Forschung durchweg bejaht. Vgl. dazu Janke, Wolfgang: Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, S. 301 – 307. – Emanuel Hirsch (Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der philosophischen Gesamtentwicklung Fichtes. Göttingen 1914, S. 48, 119 f., 127 ff.) grenzt Fichtes Mystik-Tendenz gegen eine schwärmerische, in unsagbaren Erlebnissen schwelgende Mystik ab und gegen eine rein kontemplative, wo der Mensch in andächtiger Betrachtung passiv in die Gottheit versinkt. Dagegen intendiere Fichte das Bewusstsein der Gottesnähe und der Einheit mit Gott als ein solches, das ein aktives sittliches Leben begleitet. – Die prinzipielle Vereinbarkeit von Transzendentalphilosophie und Mystik bei Fichte betont Bader, Franz: »Transzendentalphilosophische Überlegungen zur ›negatio negationis‹ und zur mystischen Einigung«, in: Schmidt, Margot: Grundfragen christlicher Mystik. Stuttgart / Bad Cannstatt 1987.

Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik

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einem Sonnett in Fichtes markanter Aufforderung: »Durchschaue, was dies Sterben überlebet«! Antwort: das »göttliche Leben« allein; deshalb kommt es darauf an, das Absolute in unserer »Ichform« zu verlebendigen (SW XI, 348). Dieser ethisch-religiöse Imperativ kann als eine existentiale Dynamisierung von Kants Postulat der Seelenunsterblichkeit vor Johanneischem Hintergrund gelesen werden. Das ewige Leben kann durch sittlichen Ernst in der Gottesnachfolge schon hier und jetzt ergriffen werden, oder – was Paulus eschatologisch lehrt, imaginativ vorwegnehmend, – gleichsam das Sterbliche, das wir sind, mit Unsterblichem überkleidet werden. Die Sphäre unserer Erkenntnis aber, so erklärt Fichte emphatisch seine Sicht auf die Fundierung der theoretischen in der praktischen Philosophie, wird bestimmt durch unser Herz (Appellation an das Publikum). Fichtes frühe Konzeption einer idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins als Genesis der Freiheit des absolut selbständigen Ich wandelt sich in der Anweisung zum seligen Leben zu einer gestuften Einkehr der Seele in sich, die im vertieften und sich läuternden Erfassen ihrer selbst das göttliche Sein als alles begründenden Grund schließlich auch ihrer selbst entdeckt. Für den Religiösen wird die immanent verinnerlichende Bewegung der Einkehr des Sittlichen in sich selbst überdies zur transzendierenden Bewegung der Einkehrung und Selbstfindung in Gott. Dieser Gott aber ist mir, – diesem Augustinus-Wort dürfte der spätere Fichte zugestimmt haben, – innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.

Wolfgang Treitler (Wien)

John Henry Newmans Zustimmungslehre. Ein Argumentationsweg für heute?

1.

John Henry Newmans Hintergrund

John Henry Newman (11. 2. 1801 – 11. 8. 1890) ist in seinem langen Leben durch viele Etappen gewandert. Nicht von bester gesundheitlicher Konstitution, die ihn vor allem in der ersten Lebenshälfte immer wieder schwächte, hat er als anglikanischer Theologiestudent, später als Priester und als Universitätsseelsorger sich mehrfach mit den Kirchenvätern, den dogmatischen Krisen der Antike und der Frage nach dem prophetischen Geist in der Kirche befasst und daraus etwas erstehen lassen, das ihn mehr und mehr in die Nähe der Katholischen Kirche brachte. Schließlich argumentierte er in seiner 1845 publizierten Schrift An Essay on the Development of Christian Doctrine1 seine Einsicht, wonach die Römisch-Katholische Kirche am klarsten die Aufgaben der christlichen Sendung darstelle.2 Im selben Jahr konvertierte er förmlich zur Römisch-Katholischen Kirche, begann mit Studien in Rom und wurde schließlich 1847 zum Römisch-Katholischen Priester geweiht. In dieser Unruhe, die in diesen mehr als 45 Lebensjahren John Henry Newman immer wieder erfasst hatte, zeichnete sich die Unruhe der Zeit nach. Wenn Newman lernte und suchte, so lag darin weniger der individuelle Durst eines jungen Theologen der anglikanischen Kirche, der diese schließlich preisgibt, sondern wohl auch ein Reflex darauf, was in dieser Zeit politisch und philosophisch den religiösen Gleichgang erschüttern musste. 1830 brach in Frankreich eine revolutionäre Bewegung los, die gegen alles aufstand, was nach den Beben der Aufklärung sich wieder gefestigt hatte, mehr oder weniger absolutistisch. 1 Biemer, Günter : »Newman, John Henry«, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK Bd. 7). Freiburg im Breisgau 1998, S. 795 – 797. 2 Wie tief Newman ursprünglich mit der Anglikanischen Kirche verbunden war, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 1829. Damals widersetzte er sich im Zusammenhang einer politischen Wahl dem Gedanken der Emanzipation der Katholiken in England (vgl. Gilley, Sheridan: »Newman, John Henry«, in: Theologische Realenzyklopädie [TRE Bd. 24]. Berlin 1994, S. 416 – 422, bes. 417).

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Wolfgang Treitler

Was politisch an radikaler Verneinung wirklich wurde, drang auch ins Philosophische. Nach der großen Zusammenschau von allem im Absoluten, die Hegel vollzogen hatte, zerfiel dieses System in viele Splitter. In einem spiegelte sich der Wille zu fundamentaler Verneinung wider : in der Feuerbachschen Kritik der Hegelschen Philosophie, die dieser 1839 publizierte und mit der er sich die Bahn brach zu seiner epochalen, 1841 veröffentlichten Schrift Das Wesen des Christentums3 ; in ihr formulierte er radikal religionskritisch, dass das, was als Gott angeschaut wird, nichts anderes sei als das Wesen des Menschen, dem seine Beschränkungen abgestreift worden sind.4 Diese Schrift machte Feuerbach und sein Denken rasch bekannt. Hier ging es nicht mehr um ein paar kritische Anmerkungen zum christlichen Glaubensbewusstsein, sondern um eine prinzipielle Verneinung dieses Bewusstseins hinsichtlich seines Anspruchs auf Wahrheit. Was Christentum behauptet, erzeugt verkehrtes Bewusstsein. In seiner Aufklärung kehrt, wie Ernst Bloch es gelesen hat, alles »unter dem Göttlichen Gedachte nach Seite seiner Hoffnung und eines nicht-entfremdeten, nicht dem Himmel abgetretenen Hoffnungsinhalts«5 wieder. In diesem Gedachten schloss sich der revolutionäre Impuls von 1830 weiter auf und mündete in die Revolutionen von 1848, die am Beginn der zweiten Hälfte von John Henry Newmans Leben standen und bald wieder niedergeschlagen wurden. Doch auch diese Zeit seines Lebens trug Newman keine Ruhe ein – vielleicht ein Zeugnis dafür, dass allen Identifizierungsbemühungen hinsichtlich der wahren Kirche oder der wahren Bekenntnisgemeinschaft die befreiende, aber schwer zu ertragende und noch schwerer zu lebende Einsicht innewohnt: Unendlich bleibt die Differenz zwischen einer Bekenntnisgemeinschaft und dem Geheimnis, auf das sie zielt. Newman musste sich deshalb nicht nur mit Anfeindungen herumschlagen, die aus der Anglikanischen Kirche ihm nachgereicht wurden und ihn zu seiner Schrift Apologia Pro Vita Sua zwangen, die er 1864 veröffentlichte und in der er nochmals betonte, dass die Römisch-Katholische Kirche diejenige Kirche sei, in der die Offenbarung ohne verfälschende Zusätze lebendig erhalten sei6 ; ihn plagten auch Intrigen gegen ihn im Umfeld seiner Gründung des Oratoriums in Oxford im Jahr 18597 und der ihm vorauslaufenden Laienfrage, in der sich Newman für die Befragung gebildeter Laien 3 Salaquarda, Jörg: »Feuerbach, Ludwig«, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE Bd. 11). Berlin 1983, S. 144 – 157, bes. 145. 4 Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Berlin 1973, S. 48 f. 5 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung (Bd. 3). Frankfurt am Main 1982 [1959], S. 1516. 6 Geisler, Rolf: »Apologia Pro Vita Sua: Being a Reply to a Pamphlet (by Ch. Kingsley) Entitled ›What, Then, Does Dr. Newman Mean?‹«, in: Jens, Walter : Kindlers neues Literaturlexikon (Bd. 12). München 1988, S. 359 f. 7 Gilley, Sheridan: »Newman, John Henry«, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE Bd. 24). Berlin 1994, S. 416 – 422, bes. 418.

John Henry Newmans Zustimmungslehre. Ein Argumentationsweg für heute?

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in Lehrfragen einsetzte, was damals aufgrund des rechtlich differenten Status von Kleriker und Laien geradezu progressiv wirkte. Zudem erwies er sich als »Inopportunist«8, als er 1870 trotz seiner katholischen Apologetik die für ihn allzu rasch vollzogene Deklaration der Infallibilität des Papstes während des Ersten Vatikanischen Konzils in einem Brief kritisch befragte, der publiziert wurde. Im selben Jahr veröffentlichte er in London seinen Essay in Aid of a Grammar of Assent. In diesem fundamentaltheologischen Werk folgt er der Spur einer ganz bestimmten Glaubwürdigkeitsargumentation, in der Vernunft und Person zusammenkommen und auf diese Weise durch die so reale Vernunft die Wahrheit Gottes und des Glaubens an ihn vermittelt werden kann; was diesen Vernunftansatz betrifft, so stellte sich Newman damit genau ins Zentrum erhitzter Debatten, die zwischen Theologen, Philosophen und fundamentalen Religionskritikern, aber auch innerhalb der Theologenschar höchst divergent ausgetragen wurden; gleichzeitig nahm er damit formal die dogmatische These des Ersten Vatikanischen Konzils und seiner Konstitution Dei Filius auf, die der Vernunft mehr zutraute als einem innerlichen Fühlen, das sich in der Einzelheit einer Existenz Gottes gewiss werden mag. Die Konstitution Dei Filius stellte fest, dass »Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiss erkannt werden kann« (DH 3004). Newman hat auf seine Weise neben und ohne die Voraussetzung dieser Erklärung einen solchen Vernunftweg aufzuzeigen versucht, durch den er – auch hierin mit Dei Filius verbunden – einer rabiaten Religionskritik und ihren Folgen Vernunfthaftes, Einsichtiges entgegenhalten wollte. Nicht der Konzilspapst Pius IX., sondern sein Nachfolger Leo XIII. hat Newman schließlich für seinen langen Weg ausgezeichnet und durch die Ernennung zum Kardinal 1879 anerkannt, dass dieser unbeugsame Mann und große Stilist, dieser Denker und Dichter9 einen Weg gegangen ist, der für die Katholische Kirche bedeutsam war. Johannes Paul II. schrieb ihm in seinem 100. Todesjahr den Titel »ehrwürdiger Diener Gottes«10 zu und bereitete damit die Seligsprechung vor, die Benedikt XVI. am 19. 9. 2010 in Birmingham vollzogen hat.11 8 Ebd., S. 419. 9 Newman hat auch Lyrik und Prosa verfasst, darunter auch zwei Romane: Loss and Gain im Jahr 1848 mit implizitem autobiografischem Hintergrund (Newman, John Henry : Loss and Gain. The Story of a Convert. Charleston 2009) und Callista im Jahr 1856 (Newman, John Henry : Callista. A Sketch of the Third Century. New York 2007). 10 Biemer, Günter : »Newman, John Henry«, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK Bd. 7). Freiburg im Breisgau 1998, S. 796. 11 URL: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/homilies/2010/documents/hf_benxvi_hom_20100919_beatif-newman_ge.html [14. 12. 2010].

150

2.

Wolfgang Treitler

Hauptthese des Grammar of Assent: persongebundene Folgerung

Grammar of Assent (dt. Entwurf einer Zustimmungslehre12) wurde also 1870 veröffentlicht und zeigt einen Theologen, der sich nicht mit der »wissenschaftlichen Dornenkrone« (F. J. W. v. Schelling13) herumtreibt, sondern Lehrer auch im Ausdruck ist; er will einweisen und nicht verriegeln und setzt damit auch formal und stilistisch seine Zustimmungslehre von der ersten Seite weg in Gang. Man soll ihr folgen können, sprachlich und gedanklich. In dieser Schrift wollte Newman eine rational vollziehbare Zustimmung zum Glauben an Gott entwickeln, die weder dem Zwang einer rein logischen Folgerung und ihrer »begrifflichen Zustimmung«14 erliegt, weil die reine Logik selbstreferentiell anfängt und endet und völlig apersonal verfährt, noch einem Taumel vernunftfremder Attraktion und Faszination verfällt, die den menschlichen Geist und seine Freiheit verneint und mitunter etwas Knabenhaftes, etwas Kindisches offenbart.15 Zwischen beides setzt er den sog. Folgerungssinn, illative sense. Von ihm schreibt Newman, dass dieser in der Wahrnehmung des Universums dessen Schöpfer entdecken wird, und zwar auf einem Weg, der von manch undeutlichen Zugängen und Mutmaßungen hin zu einer deutlichen Zustimmung weist.16 In dieser deutlichen Zustimmung waltet etwas von Logik; doch diese Logik leitet sich nicht aus der Wahrnehmung selbst ab, die als Wahrnehmung translogisch bleibt und damit »ohne Vordersätze«17; sie leitet sich auch nicht aus den Voraussetzungen der Wahrnehmung ab, die eben oftmals undeutlich sind und trotzdem die Klarheit einer erfolgenden Zustimmung nicht trüben werden. Denn die Genese der Zustimmung entscheidet noch nicht über deren Bedeutung und Wahrheit, die eine ganz eigentümliche Folgerichtigkeit in sich trägt und mit sich bringt. Daher hat auch die Gewissheit, die sich (plötzlich) einstellt und durch die Zustimmung instand gesetzt wird, Züge wohl des Rationalen, nicht aber eines geschlossenen Logischen. Was der Folgerungssinn 12 Newman, John Henry : Entwurf einer Zustimmungslehre. Durchgesehene Neuausgabe der Übersetzung von Haecker, Theodor. Mainz 1961. 13 Schelling, Friedrich Wilhelm J.: »Ueber den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt« (Wohl zwischen 1809 und 1812), in: ders.: Ausgewählte Schriften 1807 – 1834 (Bd IV). Frankfurt am Main 1985, S. 97 – 206, hier 183. 14 Newman, John Henry : Entwurf einer Zustimmungslehre. Durchgesehene Neuausgabe der Übersetzung von Haecker, Theodor. Mainz 1961, S. 45; hier spricht Newman ausdrücklich von einer nur begrifflichen Zustimmung, die bewusst von jeder Beimengung eines Nichtbegrifflichen absieht, also die Person, die zustimmt, und ihre Fähigkeit ausschließt. 15 Ebd., S. 46 f. 16 Ebd., S. 245 f. 17 Ebd., S. 236.

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setzt – als Gewissheit – und wodurch er eine affirmative Zustimmung hervorbringt – in der die Gewissheit affirmiert wird –, ist daher nicht Resultat einer logischen Ableitung, sondern wird von Newman eine »Sanktion«18 genannt. Das ist, ähnlich wie bei Kants Interpretation der Kritik der Vernunft als eines Gerichtshofs19, eine rechtsanaloge Bestimmung, die auf den Prozess hinweist, durch den eine solche Sanktion möglich wird: Es sind dies Indizien, die zusammengeschaut werden und schließlich eine rational verbindliche Entscheidung durch Zustimmung nach sich ziehen. Im Unterschied zur formellen oder begrifflichen Zustimmung ist die Rationalität des illative sense allerdings nicht allgemein oder besser gesagt: zwingend; eine solche Zustimmung kann nicht von jedem verlangt werden wie im Fall der begrifflichen Zustimmung, weil weder die Voraussetzungen noch die Durchführung des Prozesses abstrakt sind, also apersonal und damit personneutral. Wie unterschiedlich solcher Folgerungssinn im Alltäglichen und Wissenschaftlichen verfahren kann, hat Newman an Isaak Newton und Napoleon gezeigt. Beide hielt er für genial folgernde Menschen – und doch bewährte sich deren Folgerungssinn auf einer jeweils spezifischen Bahn, die die jeweils andere nicht kreuzte; zudem war das, was sie aus den Indizien ihrer Wahrnehmung folgerten, keineswegs allgemein verfügbar oder anerkannt. Newton verstand sich aufs Gravitationsgesetz, das durch seinen Folgerungssinn erschlossen werden konnte und etwas Neues setzte, das bis dahin niemand für möglich oder wirklich gehalten hatte; Napoleon verstand sich auf die rasche und zahlenmäßig erfolgreiche Einschätzung von Truppenkontingenten, die ihn sofort entscheidende militärische Folgerungen ziehen ließ20 ; auch diese lagen an ihm als Person und seiner situativ folgernden Vernunft. Den Folgerungssinn beschreibt damit eine Rationalität, die nicht im Theoretischen oder Logischen, d. h. für Newman also im Abstrakten und Formalen allein zu finden ist, weil die Rationalität des illative sense aus vorlogischer Wirklichkeit kommt; zudem kann seine Rationalität auch kein allein theoretisches Finale kennen, sondern sie ermöglicht eine bestimmte Entscheidung, in der diese Rationalität darum keine gedachte bleibt, sondern real wird, realisiert wird im offenen Gelände freier Entscheidung und Wirklichkeit. Kein Zwang hebt diese Rationalität des illative sense auf oder führt über ihn heraus; auch die Offenbarung Gottes, von der Newman sagt, dass sie »an sich demonstrierbar 18 Ebd., S. 252. 19 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (Bd. 2). Hg. von Weischedel, Wilhelm. Frankfurt am Main 1980 [1781], A 639 (= B 779). Knapp darauf schreibt im Gefälle der juridischen Analogie Kant ausdrücklich davon, dass »wir unsere Streitigkeiten nicht anders führen sollen, als durch Prozeß.« (Ebd., A 649 (= B 779)). 20 Newman, John Henry : Entwurf einer Zustimmungslehre. Durchgesehene Neuausgabe der Übersetzung von Haecker, Theodor. Mainz 1961, S. 237.

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wahr«21 ist, drängt sich nicht unwiderstehlich auf, weil ihre Evidenz eben nicht an logisch formaler Folgerichtigkeit hängt, keine Angelegenheit begrifflicher Operationen und Zustimmungen vorwiegend oder ausschließlich ist, sondern an der vorlogischen Wirklichkeit des Glaubens an Gott hängt, d. h. an der Anerkennung Gottes22, für die ein Mensch aufgrund des Folgerungssinnes sinnhaft sich entscheidet. Anders bleibt jede göttliche Botschaft stumm. Mag man auch begrifflich auf Gott treffen, so bewegt das doch den Menschen noch nicht, die Wirklichkeit dieses Höchsten verbindlich anzuerkennen. Nur in der freien und verbindlichen Zustimmung, durch den Folgerungssinn vermittelt, wird der Mensch Gott anerkennen können und wahr und wirklich sein lassen. Damit hat Newman den Boden ausgelegt, auf dem er in der Folge inhaltlich die Geltungen des Christentums bedenkt und in der Folgerichtigkeit auslegt, die dem Folgerungssinn entspricht. Einmal dahin gelangt, steht ein Mensch auf festem Fundament23, das ihm keine Kritik der Religion, auch nicht die fundamentale Feuerbachs, zerschmettern wird. Newman hat schon in den frühen Passagen seines Essays gezeigt, wie die Verbindlichkeit und Festigkeit formal alles erfasst, was vom Folgerungssinn einbezogen wird. Das trifft besonders für die praktisch-moralische Verbindlichkeit zu, die nach Newman einen klaren Weg hin zur Affirmation Gottes weist. Denn dieser Gott, der im illative sense entschieden anerkannt wird, ist kein Moment in einem Ganzen, also keine Größe mit, in und neben anderen. Er ist der einzige Gott, der alle andern Götter verneint und ausschließt; zu diesem Gott bahnt der illative sense seinen Weg, indem der Mensch im Indizienverfahren einer anthropologischen Instanz innewird, die ihrerseits einmalig ist und alle andern Einreden und Ausflüchte ausschließt: das Gewissen. In seiner eigenen moralphilosophischen Reflexion, die von Kantischen Einsichten mitbestimmt ist24, entschlüsselt Newman nicht nur die Unerbittlichkeit des Gewissensspruchs, und zwar sowohl in Hinsicht auf die Forderung moralischer Verbindlichkeit, die es dem Menschen einträgt, wie auch bezogen auf die nachfolgende 21 22 23 24

Ebd., S. 288. Ebd., S. 292. Ebd., S. 154 und 164. Kant hat in seiner ersten Fassung des kategorischen Imperativs, die er von den Maximen des Handelns her denkt und diese, bezogen auf ihre moralische Kontrolle, zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung macht und damit universalisiert, ausdrücklich geschrieben, dass dieser Imperativ »unbedingt (ist), mithin, als kategorisch praktischer Satz, a priori vorgestellt, wodurch der Wille schlechterdings und unmittelbar (durch die praktische Regel selbst, die also hier Gesetz ist,) objektiv bestimmt wird.« (Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. von Kopper, Joachim. Stuttgart 1992 [1788], 54 (= A 55)). Aus dieser Einzigkeit des Imperativs zog Kant dessen Unbedingtheit sowie die moralische Autonomie, in der alle heteronomen Motive, also Neigungen, Gründe der moralischen Verweigerung, Ausreden u. ä. verneint werden. In diesem Sinn setzte auch Newman das Gewissen als moralische Instanz an.

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Qualifizierung oder Sanktion des Getanen. Newman zieht die Linie vielmehr weiter : Was so unerbittlich fordert, spricht und (ver-)urteilt, indiziert den Gedanken einer Verantwortung, die über den Menschen unendlich hinausreicht, die Verantwortung einer unerbittlichen, einzigen Instanz gegenüber. Daher schließt für Newman der Spruch des Gewissens ein, dass »hier Einer ist, dem wir verantwortlich sind, vor dem wir beschämt sind; dessen Ansprüche auf uns wir fürchten.«25 So folgert Newman, dass »die Ursachen dieser Gemütsbewegung nicht dieser sichtbaren Welt angehören«, weil sie damit zufällig und wesenlos wären; daher »muß der Gegenstand, auf den sich seine (sc. des Gewissens) Wahrnehmung richtet, übernatürlich und göttlich sein. So ist also das Phänomen des Gewissens als das eines Befehls dazu geeignet, dem Geist das Bild eines höchsten Herrschers einzuprägen, eines Richters, heilig, gerecht, mächtig, allsehend, vergeltend. Es ist das schöpferische Prinzip der Religion, wie der Sinn für das Sittliche das Prinzip der Ethik ist.«26 Dieser Schluss stellt sich als Schluss des illative sense ein, weil es hier nicht mehr nur um die Frage begrifflicher Zustimmung geht, sondern das Subjekt selbst mit seiner Wahrnehmung und seinen Erfahrungen sich einträgt; der Mensch trifft hier auf Indizien, die ihn als Ganzen angehen und anfordern. Neben diesen eher moralphilosophischen Motiven finden sich in Newmans Grammar of Assent auch unmittelbar christliche Motive, in denen Newman katholische und reformatorische Traditionen miteinander verbunden hat und damit auch hier zu einer Brückengestalt zwischen konfessionellem Denken und konfessionellen Differenzen werden konnte. Katholisches findet sich in der These, wonach menschliche Vernunft in Bezug auf Gott zur Gewissheit seiner Existenz gelangen kann, wie das in der schon erwähnten Konstitution Dei Filius des Ersten Vatikanischen Konzils festgeschrieben worden ist. Doch diese These dürfte ein massives Problem bleiben, das Newman und Dei Filius gleichermaßen trifft, sofern dadurch das eminente Geheimnis der Wirklichkeit Gottes, über allen Begriff hinausliegend, aufgehoben wird. Die Wirklichkeit des Ewigen ist Geheimnis im strengen Sinn, weil kein Geschaffenes dessen Existenzbedingungen ergründen oder entschlüsseln kann. In der absoluten Differenz, die zwischen dem unendlich Göttlichen und endlichen Geschaffenen real klafft, ist 25 Newman, John Henry : Entwurf einer Zustimmungslehre. Durchgesehene Neuausgabe der Übersetzung von Haecker, Theodor. Mainz 1961, S. 77; was Newman hier schreibt, ist überaus empirisch-kritisch, wenn man an heutige zoologische und verhaltenstheoretische Reduktionen der Moralität denkt, die die Differenz von Mensch und Natur bei den entsprechenden Proponenten manchmal nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch und ästhetisch fragwürdig machen und den Folgerungssinn, der Anthropologisches erschließen möchte, wo dieses verneint wird, auf harte Proben stellen können. 26 Ebd., S. 77.

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auch die gnoseologische Differenz einbeschlossen. Angleichung ist weder im Realen noch im Mentalen möglich und wirklich, was aufgrund des chronischen Assimilationsdenkens, das christliche Theologie von Platon her sich angeeignet hat und wodurch es vorgeblich zur Angleichung von Gott und Mensch kommen konnte27, überspielt worden ist. Newman denkt offenbar im Sog des katholischen 19. Jahrhunderts, das aufgrund seiner platonisch erborgten und dann angeeigneten Erkenntniswege und Hermeneutik gerade das zum Sicheren machte, was in seiner realen Eminenz abgründig bleibt und dennoch als Schock des Undenkbaren nirgendwo nachwirkt.28 Und doch besteht im Argumentationsverfahren zwischen Newman und dem Ersten Vatikanischen Konzil eine wesentliche Differenz: Während Dei Filius wohl auf die begriffliche Zustimmung abzielt, die nicht an die Bestimmtheit einer Person gebunden ist, forciert Newman die zentrale Einsicht seiner Zustimmungslehre, die in der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Atheismus bedeutsam war : Gegen ihn gewinnt das Christentum den Kampf nicht logisch-schlussfolgernd, d. h. also dadurch, dass es eine begriffliche Zustimmung fordert; es geht vielmehr um Indiziensuche und folglich Bewährung dessen, wofür einem das Licht aufgegangen ist, wofür man sich entscheiden will und worauf man sich verbindlich verstehen will. Weil das in die Verantwortung des Einzelnen fällt und seines Gewissens, in dem wie niemals sonst Gott nahe an den Menschen rührt, fand Newman auch zu einer letzten Suspendierung päpstlicher Gehorsamsforderung29, die ihrerseits der Charakter begrifflicher Zustimmung zeichnet. 27 Dieses Prinzip findet sich der deutlich in Platons Siebentem Brief niedergeschrieben, in dem er u. a. die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Anderen bearbeitet und schließt: »Kurz und gut, denjenigen, der der Sache nicht innerlich verwandt ist, den kann weder Schulbegabung noch ein gutes Gedächtnis je dazu bringen, denn in ihr fremden Naturen kann sie überhaupt keine Wurzeln schlagen.« (Platon, Der siebente Brief, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Ernst Howald, Stuttgart 1993, S. 38). Fast soteriologischgnostisch konnte Platons Aussage im Gastmahl christlich übersetzt werden, wonach »Ähnliches Ähnlichem immer zustrebt« (Platon: Das Gastmahl oder Von der Liebe. Übertragen und eingeleitet von Hildebrandt, Kurt. Stuttgart 1992, S. 63) und durch den Erkenntnisprozess die Verähnlichung des Erkennenden mit dem Erkannten, des Menschen mit Gott hervorgedacht und hervorgebracht wird. 28 So hat Gregor XVI. die These des 1. Vatikanischen Konzils in Dei Filius vorweggenommen, wenn er gegen den sog. Fideismus geradezu furchtlos ruhig schreibt, das »schlussfolgernde Denken kann mit Gewissheit die Existenz Gottes und die Unendlichkeit seiner Vollkommenheiten beweisen« (Denzinger, Heinrich: Enchiridion symbolorum et definitionum, quae de rebus fidei et morum a conciliis oecumenicis et summis pontificibus emanarunt. Hg. von Hünermann, Peter. Freiburg im Breisgau 2005 [1854], DH 2751). 29 Das wirkte sich auch auf seine Sicht theologischer Freiheit aus. Er hielt es für völlig verkehrt, einen Theologen eifrigen Denunzianten auszusetzen (wovon er hier sprach, hatte Newman Erfahrung genug), aus jedem geäußerten Wort eine katastrophale Apostasie zu konstruieren und ihn folglich mit dem Vorwurf der Heterodoxie so lange zu quälen und zu verfolgen, »bis er sich auf ihre ausgetretenen Gleise begibt« (Newman, John Henry : zit. in: Laros, Matthias: Kardinal Newman (= Religiöse Geister Bd. 4), Mainz 1921, S. 41).

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Eher reformatorische Motive finden sich in Newmans Schwergewicht des Gewissens und in dessen theologischen Implikationen, die in moralphilosophischer Hinsicht bei Kant schon eine entscheidende Funktion für das praktisch-vernunfthafte Postulat Gottes innehatten. Ein zweites Motiv liegt in Newmans Vernunftbegriff des illative sense: Wenn auch Newmans Kritik der formalen Vernunftlogik nicht annähernd die geistige und sprachliche Schärfe des theologischen Tragikomikers Søren Kierkegaard annahm, mit dem er ja zeitgleich lebte30, so teilte er doch einen ähnlichen Vorbehalt: Logik, als affirmative geführt, wird in sich selbst kreisen und kann die Wirklichkeit des Glaubens und seine Zustimmung, seine Verbindlichkeit weder setzen oder erreichen noch absichern. Wie der Folgerungssinn zwar nicht einfach alogisch, sondern translogisch beginnt und verfährt, so auch der Glaube an den Gott, der im logischen Begriff allenfalls als anämische Potentialität am Ende auftaucht, nicht aber als absolut geheimnishafte Wirklichkeit geglaubt und bedacht werden kann.

3.

Glaubensbegründung für heute?

Was John Henry Newman vorgelegt hat, ist mittlerweile mehr als 140 Jahre alt. Doch das spricht nicht gegen die Aktualität dieses Ansatzes; sie brennt heute stärker wegen seines Alters. Denn was Newman dachte und vor allem wie er es dachte, blieb uneingelöst und wurde im Lauf der Zeiten zertrümmert. An der gestiegenen Unmöglichkeit, heimzukehren in einen illative sense, der über die chronischen Trübsale im Politischen und Individuellen hinwegtragen mag, offenbaren sich Entwicklungen menschlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit, die zu einer qualitativ veränderten Lage geführt haben. Es mag zwar immer noch gesagt werden, Glaube und seine Zustimmung bedeuten mehr und anderes als logische Folgerung, Glaube und seine Zustimmung habe mit wirklicher Erfahrung zu tun und mit Freiheit, die sich nicht erzwingen lässt, Glaube und seine Zustimmung gehören dem Subjekt und seiner Verantwortung, nicht einem Kollektiv ; doch die Zeiten nach Newman haben diese Perspektiven weithin weltund erfahrungslos gemacht. Dafür gibt es einige Gründe, die miteinander zusammenhängen. 30 Allerdings blieb Kierkegaards Wirkung zur seiner Lebenszeit sowie unmittelbar danach äußerst beschränkt und kam erst Jahre später auf, nachdem Newman seine Zustimmungslehre bereits abgeschlossen hatte (Schröer, Henning: »Kierkegaard, Søren Aabye«, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE Bd. 18). Berlin 1989, S. 138 – 155, bes. 150); doch lag nach Hegel die Kritik der logischen Totalität nahe und wurde auch vollzogen, erfolgreich und wirksam durch Ludwig Feuerbach und Karl Marx, die dadurch die religiös-philosophische Kritik zudeckten.

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Zum einen heben empirische Anthropologien, wenn sie, wie heute meist, ideologisch werden, da es ums Geld und die Forschungsfinanzierung geht, gerade das auf, wovon Newmans Denken gelebt hat und inspiriert war : Geist und Freiheit. In den zügigen, schmissigen Verneinungen heutiger Verhaltenstheorie und verhaltenstheoretischer Zoologie zelebriert sich blind der Ungeist, der schon an ihrer eichenen Wiege stand und wachte. Verhaltenstheorie wurde im Nationalsozialismus geboren und legitimiert egoistische Konditionierung damals wie heute aus scheinbar biologischen Konstanten.31 Solches immunisiert gegen den Geist und erhält emotional, biochemisch, bioelektrisch und physikalisch reduzierte Affekte. Newmans Folgerungssinn schlägt an Stirnen, hinter denen nur noch ein kompliziertes Organgebilde schwimmt, ein hochkomplex differenzierter (Stamm-)Zellenhaufen. Zum andern hat genau dieser Ungeist seine Verneinungen politisch praktiziert; in der scheinbaren Unschuld, mit der in wissenschaftlicher Tarnung eben dieser wiederkehrt, manifestiert sich etwas gefährlich Kollaboratives. Schon stehen die Theoretiker bereit, den Antihumanismus wieder zu rechtfertigen, aus dessen Erfahrung selbst manch hart gesottener Positivist, dem sein Ich nur mehr ein Bündel von erlittenen Sensationen war, seiner selbst unsicher und entfremdet32, nicht mehr entkommen konnte und schließlich den letzten Sprung getan hat wie Jean Am¦ry (1912 – 1978). Ein »Jude ohne positive Bestimmung, der Katastrophenjude«33, »Existential-Positivist und obstinater Atheist«34, trägt er an sich die Male der biologischen Aussortierung und Tätowierung und ist von einem character indelebilis erfasst, der seinen illative sense – aber eben diesen! – woanders hintreibt als in die Arme eines Erlösers. Seine Existenz war zusammengefasst in der »Auschwitz-Nummer«35, die abgekürzt enthielt, was er in der Folter erlitten hat: die vollständige »Verfleischlichung des Menschen: Aufheulend vor Schmerz ist der gewalthinfällige, auf keine Hilfe hoffende, zu keiner Notwehr befähigte Gefolterte nur noch Körper und sonst nichts mehr.«36 Das ist krasse vorlogische Erfahrung, ein fundamentum inconcussum, über dem keine Unklarheit oder Zweideutigkeit mehr waltet. Da hilft kein Descartes’scher Zweifel hinweg, mit dem man den vermuteten Wahrnehmungstäuschungen entkommt zu einem Gott hin, von dem her alles wieder als gesichert 31 Vgl. Kotrschal, Kurt: Im Egoismus vereint? Tiere und Menschentiere – das neue Weltbild der Verhaltensforschung. München 1995. 32 Vgl. Am¦ry, Jean: Unmeisterliche Wanderjahre. Aufsätze. Stuttgart 1985. 33 Am¦ry Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1997, S. 147. 34 Am¦ry Jean: Weiterleben – aber wie? Essays 1968 – 1978. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Lindemann, Gisela. Stuttgart 1982, S. 162. 35 Am¦ry Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1997, S. 146. 36 Ebd., S. 64.

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und täuschungsfrei sich erfahren und denken lässt.37 Die vorlogische Erfahrung, wie sie Jean Am¦ry 1944 widerfuhr, zwingt dem illative sense aufgrund ihrer dauerhaften Manifestation einen andern Blick auf als den, von dem her John Henry Newman gedacht hat. Sie zerstört Vertrauen und legt Hoffnung lahm, weil nicht einmal mehr die physische Gegebenheit des Ausgesonderten und Gefolterten ihren Bestand behaupten kann, selbst sein Raumbedarf als degradierter Körper verneint wird. Denn schon der »erste Schlag bringt dem Inhaftierten zu Bewußtsein, daß er hilflos ist – und damit enthält er alles Spätere schon im Keime. Folter und Tod in der Zelle, wovon man gewußt haben mag, ohne daß freilich solches Wissen Lebensfarbe besessen hätte, werden beim ersten Schlag als reale Möglichkeiten, ja als Gewißheiten verspürt. Man darf mich mit der Faust ins Gesicht schlagen, fühlt in dumpfem Staunen das Opfer und schließt in ebenso dumpfer Gewißheit: Man wird mit mir anstellen, was man will (…) Ich weiß nicht, ob die Menschenwürde verliert, wer von Polizeileuten geprügelt wird. Doch ich bin sicher, daß er schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen (… – ) die Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert.«38 Diese Erfahrungen machen Glaubensbegründungen in allgemeiner Hinsicht unmöglich, wohl auch im Sinn eines affirmativen illative sense. Sie zerbrechen an diesen. Newman hat erkannt, wie persongebunden das Vermögen des Folgerungssinns bleibt. In seinen Indizien, die er bereithält, taucht jene absolute, alles in sich bringende Allgemeinheit nicht mehr auf, an die Hegel noch gedacht hatte und derentwegen ihn Kierkegaard bekämpft hat. Wenn nun die Folgerung des illative sense personal gebunden ist, so schafft sie immerhin noch Freiheit – durch Negation. Am¦ry folgerte aus seinen degradierenden Erfahrungen ein trostloses Nichts, dem er sich schließlich mit einer ausreichenden Medikamentendosis ergab. Im Gedenken solcher Degradierung, biologistisch verfügt und im Namen ungewisser Freiheit verneint, kann aber auch gefolgert werden, dass Gottes Existenz zwar überhaupt nicht mehr sicher und gewiss nicht mehr beweisbar ist. Doch der illative sense kann die Schärfe der Verneinung annehmen, und das im religiösen Habitus: Verneinung alles dessen, was Geist und Gott vertreibt, was beider Geheimnis verdirbt und selbst noch die letzten Verneinungen des Unwahren abdrängen möchte. Im

37 Descartes, Ren¦: Meditationes de Prima Philosophia – Meditationen über die Erste Philosophie. Übersetzt und hg. von Schmidt, Gerhart. Stuttgart 1986, S. 176 f. 38 Am¦ry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1997, S. 55 – 56.

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illative sense wird es möglich, vielleicht sogar pflichtig, jeder möglichen Affirmation zu misstrauen, weil eine solche das Falsche bestätigt und will. Das rührt wieder ans Gewissen. Es gibt keine Aussöhnung mit der Gewalt, die Menschen wie Am¦ry zerstört hat; es gibt keine sinnhafte Gottesbehauptung, in der nicht die Negation solcher Geschicke wie das Jean Am¦rys im Zentrum stünde. Im illative sense heute gehen Indizien auf, die in religiöser Absicht den obstinaten Atheismus teilen, der sich den religiösen Ideologien verweigert, die vorkritisch und gefährlich simpel eine Welt beschwören, in der Gott der oberste Regisseur einer eingebildeten schönen Welt wäre, in der alles von Liebe träufelt und alles gut ausgeht. Da täuscht man sich und Andere. Fast alles spricht gegen Gott: die geschichtliche Gewalt, die sich seit alten Tagen durch die Zeit zieht; die sinnlosen Tode, die gestorben werden und das fromme Ansinnen hohl machen, im Christentum wäre alles geklärt und Sterben und Tod kein finsteres Drama mehr ; die kosmischen Extensionen, in denen die Erde schon lang keine Mitte mehr bildet, sondern ein völlig unnötiges Gebilde irgendwo und irgendwann; die Unvorstellbarkeit von Anfang und Ende, die man beide mit Gott verbinden konnte; die Idee, eine partikulare Menschengeschichte habe einem endgültig und unverrückbar Gott offenbart. Illative sense heute nimmt diese negativen Indizien an und zimmert keine Gottesaffirmation mehr. Er deutet anderes: Er verneint die Zerstörung der Mörder und die Trostlosigkeit des Sterbens, die Sinnleere kosmischer Weiten und den einsichtigen Irrsinn endloser Mutationen; die Kraft der Verneinung kommt heute kaum aus positiven Erfahrungen, sondern aus dem, woraus auch Newman gedacht hat, der seinen Gott nicht erfunden, sondern gefunden hat: aus der biblischen Überlieferung. Sie bestreitet all die Sinnlosigkeit und weiß doch, vielfach hart unterwiesen in den Jahrhunderten, kein großes Bild ihr entgegenzusetzen; gerade das nicht: Sie trägt in ihrem Kern die Bilderlosigkeit des Erhabenen mit sich, erschlossen aus der widerfahrenen Unmöglichkeit, im Glück zu leben und gesichert zu bleiben. Der Erhabene als Abgrund aller Vorstellung, allen Denkens, aller Erfahrung prägt dem illative sense die negierende Kraft ein, nicht unähnlich der Kraft, mit der Am¦ry aus dem Leben gegangen ist. Alles, was widerfährt, ist nicht Gott. Dessen wurden Menschen, atheistische und auch religiöse, im Lauf der Zeiten inne. Nicht zu verzweifeln, bedeutet nicht, über die Angst grundsätzlich hinauszusein, die den Gefolterten fortan malträtiert, bedeutet nicht, sie unwirklich sein zu lassen, weil sie einen selbst in dieser Härte nicht erreicht hat. Nicht zu verzweifeln, bedeutet, der negierenden Kraft des illative sense zu folgen, weil das Unrecht maßlos geworden ist und Rettung aussteht. So findet ein solcher illative sense in das, was John Henry Newman für

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jede Religion angesetzt hat, dass nämlich »keine Religion von Gott ist, die unserem Sinn für recht und unrecht widerspricht.«39 Das gilt für immer und macht einen negativ gewendeten illative sense drängend zeitgenössisch.

39 Newman, John Henry : Entwurf einer Zustimmungslehre. Durchgesehene Neuausgabe der Übersetzung von Haecker, Theodor. Mainz 1961, S. 294.

Hans Gerald Hödl (Wien)

Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Gegenentwurf zur christlichen Weltinterpretation.

»Hat man mich verstanden – Dionysos gegen den Gekreuzigten«1. Mit diesem Ausruf endet Nietzsches Schrift Ecce Homo, die, neben anderem und mit den Vorreden, die Nietzsche in den letzten Jahren seines Schaffens für die Neuauflagen seiner früheren Werke verfasst hat, auch einen Autor vorstellt, der gegen das Verwechseltwerden anschreibt. Schon im ersten Absatz des Vorwortes zu Ecce Homo wird Nietzsche deutlich, wenn er schreibt, dass es eine Pflicht gebe, »gegen die im Grunde« seine Gewohnheit, ja sein Stolz und seine Instinkte ständen, zu sagen: »Hört mich! Denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor allem nicht!«2 Nach über 100 Jahren Nietzscheverehrung und -verdammung scheint dieser Aufruf immer noch wenig rezipiert. Auf die philologischen Gründe dafür werde ich hier nicht eingehen3. Hier geht es mir um eine Lektüre von Nietzsches Wort »Gott ist tot«, die dieses im Zusammenhang mit seiner »dionysischen Philosophie« liest. Ich gehe im Folgenden zunächst kurz auf den theoretischen Hintergrund von Nietzsches Religionskritik ein und erörtere dann die wesentlichen Zusammenhänge seiner Rede vom Tod Gottes im veröffentlichten Werk. Nietzsche spricht vom Tod Gottes, von Nachlassaufzeichnungen abgesehen, in Die Fröhliche Wissenschaft (FW) und in Also sprach Zarathustra (Za). Dort wird, entgegen einer in der Literatur – besonders der theologischen – weit verbreiteten Annahme, der Tod Gottes nicht »verkündet« sondern als Faktum vorausgesetzt. Was Nietzsche darunter verstanden hat, hat er am Beginn des fünften Buches der FWdeutlich gesagt: »dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist«4. 1 Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino. München / Berlin / New York 1980 (im Folgenden zitiert als: KSA Bd. Nr., S.): KSA 6, 374. 2 KSA 6, 257. 3 Vgl. dazu Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik. Berlin / New York 2009, S. 464 – 508. 4 KSA 3, 573.

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1.

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Nietzsches kritische Philosophie

Dies ist eine Diagnose, seine eigene Begründung für diesen Umstand hat er in verschiedenen Phasen seines Werkes mit unterschiedlichen kritischen Strategien vorgetragen5. Zunächst ist hier die Sprachkritik von »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« zu nennen, die die Kraft in die Abbildungsfunktion der Sprache erschüttert6. Hier steht Nietzsche auf dem Grund einer radikalen neukantianischen Erkenntnistheorie, der zufolge unsere Abbildungen der Welt immer auf Zurechtfälschungen beruhen, die die Vielheit und Differenziertheit jeglicher Erscheinung auf eine verfälschende Einheit bringt: die begriffliche Abstraktion als das Grundmanöver der Verstandestätigkeit ist demnach durch ein Absehen von der Vielfalt des in der sinnlichen Erfahrung Gegebenen gekennzeichnet. Begriffe bauen sich demnach auf Worten auf, die ihrerseits aus einem Übertragungsprozess von Nervenreizen über mentale Repräsentationen (Bilder) in Klanggestalten gebildet würden. So verdanke sich die Begriffsbildung einem »Uebersehen des Individuellen«7. Wahrheit, als Ergebnis einer mehrfachen Übertragung, erweise sich somit als »ein bewegliches Heer von Metaphern«8. Laut Nietzsche können wir aber hinter den Nervenreiz das unabhängig von ihm Gegebene nicht erschließen. Wir sind stets Täuschende und Getäuschte. Ein zweiter kritischer Strang ist die historische Kritik, die Nietzsche zufolge erwiesen hat, dass der Anspruch des Christentums, dass seine grundlegenden Dokumente Zeugnisse einer göttlichen Offenbarung seien, ungegründet ist9. Der dritte kritische Strang, die physiologische oder auch typologische Kritik, wird in den Werken nach der Zarathustrazeit, also im Spätwerk ausgearbeitet.10 Von den erkenntnistheoretischen Prämissen Nietzsches aus ist klar, dass es eine perspektivenunabhängige Interpretation des Gesamtzusammenhanges der Welt nicht geben kann. Mit anderen Worten, keine Interpretation der Welt kann Anspruch auf ontologische Gewissheit erheben. Darin liegt freilich ein ab5 Zu diesen Strategien s. insg. Stingelin, Martin: »Friedrich Nietzsches Psychophysiologie der Philosophie«, in: Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte. Reprint 120. Workshop »Physiologische und psychologische Praktiken im 19. Jahrhundert: ihre Beziehungen zu Literatur, Kunst und Technik. Berlin 1999, S. 33 – 43. 6 Zum Folgenden vgl. Hödl, Hans Gerald: Nietzsches frühe Sprachkritik. Lektüren zu »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.« Wien 1997. 7 KSA 1, 880. 8 Ebd. 9 Das ist in der Nietzsche-Forschung oft thematisiert worden; vgl. dazu etwa bereits Figl, Johann: Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte. Düsseldorf 1984, S. 39 – 118. 10 Vgl. dazu etwa bereits Wahrig-Schmidt, Bettina: »Irgendwie, jedenfalls physiologisch«, in: Nietzsche-Studien (NSt) 17 (1988), S. 434 – 464.

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gründiger Zug in Nietzsches Denken, denn man wird sich fragen dürfen, mit welchem Recht er dann eine Interpretation der Welt vorlegt. Die Antwort darauf wird er in seiner späten Selbstdarstellung, Ecce Homo, geben11. Darauf gehe ich hier nicht ein. Ich möchte aber kurz die Frage aufwerfen, wie Nietzsche denn behaupten könne, dass es keine Wahrheit gibt, ohne in einen Selbstwiderspruch zu gelangen, den ihm Transzendentalphilosophen sofort vorwerfen werden. Sehen wir zunächst den Titel seiner kleinen erkenntniskritischen Schrift genau an: es geht um »Wahrheit« und »Lüge« im außermoralischen Sinn. Nietzsche selbst führt die Verpflichtung der Menschen zur Wahrhaftigkeit dort auf die Sozialisierung des Menschen zurück: damit die Gesellschaft funktionieren kann, muss man sich auf das Wort, das einer gibt, verlassen können. Es geht darum, wie Nietzsche in der Genealogie der Moral sagt, ein »Thier heranzuzüchten, das versprechen darf«12. Eine darüber hinausgehende metaphysische Begründung für diese conditio humana kann aber nicht gegeben werden. Mit anderen Worten: Nietzsches Moralkritik13 wendet sich zunächst rein strategisch gegen eine Moralbegründung, die auf eine übernatürliche Sanktionierung, auf eine metaphysische oder sogar nur auf eine ontologische Begründung rekurriert. Das hat natürlich letztendlich damit zu tun, dass Nietzsche versucht, die Welt rein immanent zu denken, weshalb er auch Spinoza als einen seiner Vorläufer ansieht14. An keiner Stelle in seinen Werken setzt sich Nietzsche mit den Gottesbeweisen auseinander, ich schlage aber vor, um Nietzsches Position zu verdeutlichen, das Gedankenexperiment durchzuführen, wie er gegen diese argumentieren würde (er hat, nebenbei, im Religionsunterricht in Schulpforta die kantische Kritik der Gottesbeweise kennen gelernt)15. Die ersten drei Gottesbeweise in den quinque viae bei Thomas von Aquin16 machen an entscheidender Stelle einen Überschritt, wenn die Möglichkeit einer unendlichen Reihe im ontologischen und nicht im mathematischen Sinn abgewiesen wird. Das ermöglicht den Schluss auf ein letztes Bewegendes, das selbst nicht von etwas anderem bewegt wird, auf eine letzte Ursache, die selbst nicht 11 Vgl. dazu Stegmaier, Werner : »Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von ›Der Antichrist‹ und ›Ecce Homo‹«, in: Nietzsche-Studien (NSt) 20 (1990), S. 163 – 183; Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierung im Kontext seiner Religionskritik. Berlin / New York 2009, S. 464 – 593. 12 KSA 5, 291. 13 Vgl. dazu Stegmaier, Werner : Nietzsches »Geneaologie der Moral«. Darmstadt 1994. 14 Vgl.: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. von Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino. München / Berlin / New York 1986 (im Folgenden zitiert als KSB Bd. Nr, S.). KSB 6, 111, Karte an Franz Overbeck v. 30. 07. 1881. 15 Vgl. Figl, Johann: Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte. Düsseldorf 1984, S. 66 – 71. 16 Summa Theologiae, I/1, qu. 2, a.3.

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verursacht wird und auf eine letzte Notwendigkeit, in der es die Diastase von Möglichkeit und Notwendigkeit, von Sein- und Nichtsein nicht gibt, die das endliche Seiende auszeichnet, den actus purus. Nehmen wir den dritten Weg, so würde Nietzsche wohl antworten, dass es richtig ist, dass die Seienden, die entstehen und vergehen, ihre Notwendigkeit nicht in sich haben können, aber deshalb muss man noch nicht auf ein Notwendiges außerhalb des Gesamtzusammenhanges schließen. Vielmehr kann dieser selbst mit Notwendigkeit vor sich gehen. Dies ist die Interpretation, die Nietzsche vorschlägt, wenn er für eine Beschreibung der Welt optiert, in der diese als ein Gesamtzusammenhang von Willensquanten erscheint, in der jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz zieht17. Er zeigt sich darin als ein guter Barbier im Sinne Ockhams: die zugrunde gelegten Annahmen werden drastisch reduziert. Diese Interpretation der Welt hat er im Spätwerk auf den Namen des griechischen Gottes Dionysos getauft, indem er a) sich selbst als »ein Jünger des Philosophen Dionysos« bezeichnet hat18, b) den Typus »Zarathustra«, das »ewige Ja zu allen Dingen« als den Begriff des Dionysos bezeichnet hat19 und c) in Götzendämmerung eine Interpretation des Dionysischen gegeben hat, die dieses als Symbol des ewigen Werdens und Vergehens ansieht20.

2.

Die Darstellung des Todes Gottes in »Der Wanderer und sein Schatten« und »Die Fröhliche Wissenschaft«

Diese dionysische Philosophie zieht die Konsequenzen aus dem Ereignis, das Nietzsche den »Tod Gottes« genannt hat und versteht sich als Gegenentwurf zu einer Weltauslegung, die sich »nach dem Tod Gottes« noch im christlichen Verstehenshorizont aufhält. Im Folgenden wird gezeigt, dass man Nietzsches Rede vom Tod Gottes in diesen Zusammenhang stellen muss. Zu diesem Zweck gehe ich die Stellen durch, an denen Nietzsche im veröffentlichten Werk den »Tod Gottes« thematisiert21. WS 8422 erzählt in Form einer Parabel von Ge17 Vgl. Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierung im Kontext seiner Religionskritik. Berlin / New York 2009, S. 313 f.; Kouba, Pavel: Der wirkliche Wille zur möglichen Macht, in: Schirmer, Andreas / Schmidt, Rüdiger (Hg.): Entdeckten und Verraten. Zu Leben und Werk Friedrich Nietzsches (Stiftung Weimarer Klassik). Weimar 1999, S. 332 – 342. 18 KSA 6, 258. 19 KSA 6, 345 (Ecce Homo). 20 KSA 6, 159. 21 Eine genaue Analyse dieser Zusammenhänge in Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierung im Kontext seiner Religionskritik. Berlin / New York 2009, S. 361 – 463. 22 KSA 2, 590 f.

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fängnisinsassen, von denen einer im Gefängnishof vor seine Mithäftlinge tritt und mitteilt, dass der Gefängniswärter ihre Anschläge durchschaut habe, weshalb sie ein Strafgericht erwarte. Er gibt sich als Sohn des Gefängniswärters aus und bietet an, alle zu retten, die glauben, dass er der Sohn des Gefängniswärters sei. Die Antworten der verschiedenen Gefangenen werden dadurch unterbrochen, dass der letzte der Gefangenen erscheint und vom Tod des Gefängniswärters berichtet. Daraufhin lassen die Gefangenen den »Sohn« einfach stehen23. In Form einer Parodie der Verkündigung Jesu wird hier von einer Erlösung gesprochen, die sich an der christlichen Heilslehre vorbei vollzieht. Die Idee des Messianismus wird dadurch karikiert, dass der Messias sich zwar in derselben Situation wie seine Mitgefangenen befindet, aber meint, eine privilegierte Stellung unter ihnen einzunehmen. Wir finden darin die Charakterisierung Jesu in Nietzsches Niederschriften im Umkreis von WS wieder. Jesus wird einerseits als einer, der sich selbst als sündenlos empfindet, dargestellt, der aber andererseits dem Klima seiner Herkunftskultur entsprechend, eine Präokkupation für das Paradigma von Schuld und Erlösung hat, die es ihm nicht erlaubt, den Richter in Gott vollständig durch den gütigen Vatergott zu ersetzen. Das Erscheinen eines weiteren Gefangenen, der vom Tod des Wärters berichtet, verschiebt das weitere Verhandeln auf den Sohn.24 Im Widerspruch zu Eugen Bisers Lektüre25 dieser Parabel ergibt sich für eine kontextuelle Interpretation, dass Nietzsche hier von der moralischen Weltauslegung spricht: Das Gefängnis symbolisiert das Bewusstsein von der Sünde und Schuld, der Gefängniswärter die Idee Gottes als Richter als dem zentralen Punkt von dem her diese Anthropologie konstruiert ist. Der Ausweg, den die Idee der christlichen Erlösung anbietet, verlangt, die eigene Schuld einzugestehen, die Autorität des Wärters anzuerkennen und die göttliche Sendung Jesu zu bekennen. Nietzsche hatte in WS 8126 ausgeführt, dass Jesus versucht hätte, die moralische Weltsauslegung durch die Lehre von der Schuld aller auszuhebeln. Die Rede vom Tod Gottes kann als Gegenentwurf dazu aufgefasst werden: mit der Idee des jenseitigen Richters fällt die Idee der Schuld dahin.

23 »Holla, schrien Mehrere durcheinander, holla! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft? Sind wir vielleicht jetzt deine Gefangenen? — ›Ich habe es euch gesagt, entgegnete der Angeredete mild, ich werde Jeden freilassen, der an mich glaubt, so gewiss als mein Vater noch lebt‹. – Die Gefangenen lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und liessen ihn stehen« (KSA 2, 590 f.). 24 Vgl. Willers, Ulrich: Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie. Eine theologische Rekonstruktion. Innsbruck / Wien 1998, S. 138. 25 Vgl. Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierung im Kontext seiner Religionskritik. Berlin / New York 2009, S. 397 f. 26 KSA 2, 588 f.

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Wie Marco Brusotti27 gezeigt hat, hat Nietzsche in den Schriften, die jetzt zu den MA zusammengefasst sind, ein Erkenntnisideal vertreten, das an den antiken Materialisten orientiert war. Kurz gesagt, würde demnach die Aufklärung durch die Religionskritik zur Befreiung von der Furcht führen. In M und FW zeigt sich ein anderes Bild: Nietzsche sieht jetzt im »Tod Gottes« nicht nur eine Chance, sondern auch eine Gefahr. Die zentralen Thematisierungen des Todes Gottes finden wir im dritten und vierten Buch von FW. Das dritte Buch, das die berühmte Parabel vom »Tollen Menschen« erzählt, handelt, seinem Eingangsabschnitt, 108, zufolge, von den »Schatten Gottes« – wie man nach dem Tode des Buddha noch seinen Schatten in einer Höhle zeigte, so zeigt man jetzt noch die Schatten des toten Gottes, will heißen, seine Nachwirkungen in der Art, wie wir uns in der Welt einrichten.28 Die berühmte Parabel in Abschnitt 12529 selbst berichtet von einem »tollen Menschen« der am hellen Vormittag mit einer Laterne am Marktplatz erscheint und Gott sucht. Dort trifft er auf solche, die nicht an Gott glauben und ihn verspotten und fragen, ob Gott etwa zu Schiff gegangen sei und Ähnliches. Daraufhin erklärt der tolle Mensch den Umstehenden, dass sie die Mörder Gottes seien und schildert in drastischen Bildern die Konsequenzen für diese Tat. Hier wird u. a. auf die bekannte Anekdote vom Zyniker Diogenes von Sinope angespielt, dessen Symbolhandlung, mit einer Laterne auf dem Marktplatz zu erscheinen der Suche nach dem Menschen galt und auf die in 1 Könige 18 erzählte Geschichte vom Schaukampf Elijas mit den Baalspriestern, die, als Baal auf deren rituelle Anstalten hin nicht tätig wird, von Elija mit den Worten verspottet werden: »Ruft lauter! Er ist doch Gott. Er könnte beschäftigt sein, könnte beiseite gegangen oder verreist sein. Vielleicht schläft er und wacht dann auf« (1 Kön 18, 27). Ich meine, diese Anspielungen sind so zu interpretieren, dass, wie der Zyniker Diogenes zeigt, dass dort noch etwas zu suchen ist, wo niemand mehr etwas sucht, es auch nach dem Tod Gottes noch etwas zu suchen gibt. Aber genauso wenig, wie in 1 Könige 18 Baal wirklich gefunden werden kann, sondern nur Jahwe, so kann der tote Gott nicht wiedergefunden werden, sondern etwas anderes, und das ist der Mensch, den ja auch Diogenes gesucht hat. Was Nietzsche hier sieht, ist die Tatsache, dass nicht einfach eine Stelle in der Erzählung frei geworden ist, sonder diejenige, auf die hin die und von der her die ganze Erzählung konstruiert gewesen ist. Während es bei anderen atheistischen Religionskritikern die Ansicht gibt, dass der Mensch sozusagen automatisch die Stelle 27 Brusotti, Marco: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von »Morgenröthe« bis »Also sprach Zarathustra«. Berlin / New York 1997. 28 KSA 3, 467. 29 KSA 3, 480 ff.

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des Höchsten Wesens einnimmt, wenn Gott als solches ausgedient hat, insistiert Nietzsche darauf, dass mit dem »Tod Gottes« auch die bisherige Auslegung dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein, abgeschafft ist. Darin liegt eine Chance: die Horizonte sind wieder offen. Aber auch eine Gefahr : der Mensch kann einfach aufhören, sich auf ein Ziel hin anzuspannen. Durch das Christentum ist eine solche Anspannung auf ein Ideal hin geschaffen worden, die nun einfach abgespannt zu werden droht. So etwa notiert er in Aufzeichnungen zur Parabel vom Tollen Menschen, der den Tod Gottes »verkündet«: »Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen«30.

3.

Die Erzählungen vom Tod Gottes in den Zarathustrabüchern

3.1.

Der Zusammenhang von »Also sprach Zarathustra« und »Die Fröhliche Wissenschaft«

Ein Hauptmotiv von Nietzsches Werken ab den Zarathustra-Büchern ist nun, ein Modell für eine angemessene Haltung diesem Befund gegenüber zu entwickeln. Literarisch hat er die Zarathustra Bücher ganz deutlich mit der Thematik des Todes Gottes, wie sie in FW behandelt wird, verbunden31. Weiters wird im § 341 das erste Mal in Nietzsches Werk die Lehre von der ewigen Wiederkehr vorgeschlagen.32 Lt. Nietzsches eigenen Aussagen ist die Lehre von der ewigen Wiederkehr die Grundkonzeption der Zarathustra-Bücher, mit anderen Worten, Zarathustra ist der Lehrer der Ewigen Wiederkehr33. In diesen Zusammenhang muss man auch den § 285 von FW stellen, in dem die Entsagung, die mit dem Verlust des Gottesglaubens einher geht, geschildert wird und die Frage gestellt, ob nicht aus dieser Entsagung selbst die Kraft, sie zu ertragen, geschöpft werden könne.34 Dieser Text führt die radikalste Haltung in das Werk Nietzsches ein, die 30 KSA 9, 577; 12 [9]. 31 Der § 125 von FW gehörte ursprünglich zu einem »Anekdotenkranz« mit »Zarathustra« als Protagonisten, Nietzsche hat den Namen erst in der letzten Redaktion gestrichen; der tolle Mensch tritt am Marktplatz auf, genau so, wie Zarathustra im Abschnitt »Zarathustras Vorrede« (KSA 4, 14 – 23); der Abschnitt 342, in der ersten Auflage der letzte des Buches, nimmt den Anfang von Za I vorweg. Genauer wird diese Verflechtung gezeigt in Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierung im Kontext seiner Religionskritik. Berlin / New York 2009, S. 400 – 408. 32 KSA 3, 570. 33 Vgl. dazu Salaquarda, Jörg: Die Grundconception des Zarathustra. In: D. M. Hoffmann (Hg.), Nietzsche und die Schweiz. Zürich 1994. 34 KSA 3, 527 f.

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man im Umgang mit dem als »Tod Gottes« bezeichneten Ereignis einnehmen kann und stellt die Haltung des amor fati dar, zu der man dadurch gelange, dass man auf Anbetung und Verehrung verzichte. Der metaphysische Trost, den der Mensch, der etwas Höchstes verehrt und anbetet, erhält, ein Ruheplatz des Herzens, die Hoffnung auf eine ausgleichende Gerechtigkeit, bringt eine Depotenzierung der Welt, wie sie ist, mit sich. Das Schwergewicht der Dinge wird aus den Dingen verlegt in etwas, was hinter der Welt, außerhalb, oberhalb oder auch als Endergebnis des Weltprozesses gedacht wird. Am Schluss der Fröhlichen Wissenschaft stellt Nietzsche sein Experiment vor, wie dieses Schwergewicht der Welt selbst zurückgegeben werden könnte, und auch hier bringt er die doppelte Möglichkeit von Verlust und Gewinn ins Spiel, die er in den Geschichten vom Tode Gottes behandelt hat. Den Gedanken, dass alles wiederkehrt, kann man als einen fluchwürdigen auffassen, eben weil damit der Verlust eines Finales, eines Ausgleichs, einer Verbesserung von letzter Hand einhergeht. Aber man könnte sich von diesem Gedanken auch verwandeln lassen. Nietzsche beendet den Text mit der Frage: »wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?«35.

Diese Besiegelung ist lt. Nietzsche die einzige, die in der Welt selbst liegt und das Schwergewicht des Handelns der Menschen auf die Welt legt, oder anders, diese als das Schwergewicht des Handelns einführt, durch die einfache Frage: »Willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?«36 Damit leitet Nietzsche über zum Zarathustra-Buch, in dem er den Verkünder dieser Lehre von der tragischen Bejahung auftreten lässt. Der erste Teil des Zarathustra wird von der Thematisierung des Todes Gottes gerahmt; im Gespräch mit dem Heiligen in der Vorrede wird dieser als Voraussetzung der Lehrtätigkeit Zarathustras, von der das Buch ja handelt, eingeführt. Zu dem Heiligen im Wald, der noch nichts vom Tod Gottes gehört hat, spricht Zarathustra nicht. Er wendet sich an die, die nicht mehr an Gott glauben. Ihnen berichtet er von den Möglichkeiten, die damit eröffnet worden sind, von solchen zu höherem Menschentum und solchen, den Prozess der Steigerung des Menschen abzubrechen, zu verfehlen. Der Schluss des ersten Zarathustrabuches bekräftigt diese Zielrichtung der Lehre seines Protagonisten, mit einem Schlusswort, das unmittelbar an den Aphorismus »Excelsior« aus FW anzuschließen scheint: »›Todt sind alle Götter : nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.‹ – diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille!«37. Diese An35 KSA 3, 570. 36 Ebd. 37 KSA 4, 102.

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kündigung des »Übermenschen« folgt bezeichnender Weise auf Zarathustras deutliche Ablehnung der Verehrung seiner Person durch seine Jünger. In der Verehrung wird ein Modell aufgestellt, nach dem der Mensch sich zu formen habe. Gerade diesen Modellcharakter lehnt Zarathustra hier offensichtlich für sich ab, so wie Nietzsche ihn für sich in den Eingangspassagen der von ihm verfassten Einführung in sein Werk, Ecce Homo, ablehnt, wenn er schreibt, er wolle keine neuen Götzen aufstellen.38 Wird im ersten Zarathustrabuch das Ereignis des Todes Gottes vorausgesetzt und nicht eigens reflektiert, bieten der zweite und vierte Teil des Buches verschiedene Versionen von den Geschehnissen, die unter diesem Namen firmieren, an, von verschiedenen Gestalten erzählt.

3.2.

Der »Tod Gottes« am Mitleid im zweiten Zarathustra-Buch

Im Za II ist der Bezug auf den Tod des Höchsten in eine Passage eingearbeitet, in der zur Überwindung des Mitleidens aufgefordert wird. Zarathustra erzählt, dass auch Gott noch seine Hölle habe, seine Liebe zu den Menschen und dass dieser Gott an seinem Mitleid mit den Menschen gestorben sei. Aus dem Gesamtzusammenhang des Kapitels geht hervor, dass Nietzsche hier, wie schon bei der ersten Erwähnung des Todes Gottes, eine Kritik der christlichen Moral anbringt. Zwei Arten des Umganges mit den als »Teufel« bezeichneten negativen Energien, den von der Sozialisation unerwünschten Triebregungen werden dargestellt: Der Weg der Unterdrückung, der den unterdrückten Energien den Ausweg über das Ventil der »kleinen Bosheiten« offen lässt39 und derjenige der Transformation, den Zarathustra bildhaft als »den Teufel groß ziehen« bezeichnet. Nietzsche stellt die Rede vom Tod Gottes in den Kontext der Kritik an der christlichen Moral und bringt den Gegenvorschlag, das sogenannte »Böse« auszubilden und zu formen statt zu unterdrücken. Um diese Transformation geht es Nietzsche auch in der in der Folge angebrachten Kritik des Mitleids, der Vergebung und der Idee der Erlösung, die in dem Satz zusammengefasst ist, dass alle große Liebe auch noch Vergebung und Mitleiden überwinden müsse.40 38 KSA 6, 257 f. 39 »Wie ein Geschwür ist die böse That: sie juckt und kratzt und bricht heraus, – sie redet ehrlich. ›Siehe, ich bin Krankheit‹– so redet die böse That; das ist ihre Ehrlichkeit. Aber dem Pilze gleich ist der kleine Gedanke: er kriecht und duckt sich und will nirgendswo sein – bis der ganze Leib morsch und welk ist vor kleinen Pilzen. Dem aber, der vom Teufel besessen ist, sage ich diess Wort in’s Ohr ›besser noch, du ziehest deinen Teufel gross! Auch für dich giebt es noch einen Weg der Grösse!‹« (KSA 4, 115). 40 KSA 4, 115.

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Nietzsche lehnt nicht die Idee des Vergebens an sich ab, denn damit würde ja auch einer reaktiven Moral das Wort geredet, gegen die sich das ganze Kapitel wendet. Es geht darum, zwei Haltungen des Vergebens zu vergleichen. Die eine, in der nicht mehr vergeben wird, als was uns an einer Handlung direkt negativ betroffen hat. In ihr wird nicht versucht, dem andern seinen Gewissensbiss, sein Leiden an sich selbst abzunehmen. Diese Haltung wäre eine Art der Fürsorge, die den, dem sie gilt, in seiner Eigenständigkeit verletzt41 und den Zusammenhang von gegenseitiger Schuldigkeit verfestigt. Vergebung, die auf Vergeltung verzichtet, ohne die Last der Tat auf sich zu nehmen, schließt aber auch die Idee stellvertretender Erlösung aus. Die Forderung, in der Liebe noch über Vergebung und Mitleiden hinauszugehen, verlangt nicht Unversöhnlichkeit, sondern, den Menschen nicht auf das Mittelmaß der Erlösungsbedürftigen festzuschreiben. Dem der Erlösung Bedürftigen, der sich diese von außen erwartet, erwartet sich eine Transformation seiner Triebenergien nach einem festen Modell vorgegeben und durch einen andern. So kann er gar nicht dazu kommen, aus sich selbst heraus eine Überwindung zu schaffen. Zarathustras Forderung, hart zu werden, um das Geliebte zu schaffen, geht auf die Erschaffung eines »Wahren Selbst« aber nicht nach einem vorgegebenen Rollenmodell einer allgemeinen Wahrheit. Stellvertretende Erlösung und verhindert den Weg des Schaffenden, weil sie das Bestehende bestätigt und zur Norm erklärt. Die aus sich selbst schaffende künstlerische Fähigkeit des Menschen, sich und seine Welt zu erschaffen, wird durch ein für alle gültiges Modell ersetzt, eine Verarmung der Wirklichkeit, wie sie Nietzsche noch in der Götzendämmerung an der moralischen Weltauslegung kritisieren wird42, geht damit einher, eine Einebnung von Differenzen.

3.3.

Verschiedene Arten, in denen Götter sterben: der »Tod Gottes« in »Also sprach Zarathustra 4«

3.3.1. Die Grundstruktur des Buches Die Passage vom Tod Gottes an seinem Mitleiden aus ZA 2 hat Nietzsche nun ZA IVals Motto vorangestellt. Das Buch beschreibt die Suche Zarathustras nach dem höheren Menschen, nachdem er dessen Notschrei vernommen hat. Er begegnet 41 »Darum wasche ich mir die Hand, die dem Leidenden half, darum wische ich mir auch noch die Seele ab. / Denn dass ich den Leidenden leidend sah, dessen schämte ich mich um seiner Scham willen; und als ich ihm half, da vergieng ich mich hart an seinem Stolze. / Grosse Verbindlichkeiten machen nicht dankbar, sondern rachsüchtig; und wenn die kleine Wohlthat nicht vergessen wird, so wird noch ein Nage-Wurm daraus.« (KSA 4, 114). 42 Etwa: KSA 6, 86 f.

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dabei unterschiedlichen Figuren, die (Anläufe zum) »höheren Menschen« symbolisieren, führt Gespräche mit ihnen und lädt sie in seine Höhle ein, wo diese schließlich das Eselsfest veranstalten: weil sie ohne Verehrung nicht auskommen, verehren sie einen Esel.43 Wiederum geht es also um die Ablehnung von Verehrung und Mitleid als dionysische Abrechnung mit dem Typus des verehrenden Menschen und es gipfelt in einer Art negativen Ritus. Man könnte Nietzsche hier eine a-soziale, solipsistische Philosophie des Sich-Selbst-Erschaffens vorrechnen. Die Ablehnung der Verehrung und des Mitleids muss aber auch von der Rolle des Protagonisten der Erzählung, Zarathustra, her gelesen werden: dieser will nicht als Modell dienen, dem folgend der höhere Mensch, nach dem Tode des alten Gottes und somit dem Abhandenkommen des alten Ideals, von seiner Selbstverantwortung befreit werden könnte. Zarathustras Lehre will sich eben nicht als ein Surrogat für das alte Ideal anbieten. Dies ist nur konsequent und liegt in der Linie der nietzscheschen Kritik, der mittels sprachund erkenntnistheoretischer Reflexionen die Herkunft des Allgemeinen aus einer Einebnung der Differenzen denunziert hat. Er kann nun selbst kein neues »Allgemeines« aufstellen, ohne selbstwidersprüchlich im einfachsten Sinn zu werden.

43 »Lieber Gott also anbeten, in dieser Gestalt, als in gar keiner Gestalt!«, sagt der letzte Papst zu Zarathustra (KSA 4, 390). Der hier gegebene plot von Za IV ist freilich eine sehr knappe und grobe Zusammenfassung, in der die subversive Seite des Eselsfests als eines negativen Ritus ausblendet, der gerade in seiner Narrheit von Zarathustra als Zeichen der Genesung der höheren Menschen gewertet wird, womit Nietzsche den Abschnitt an das Kapitel »Der Genesende« aus Za III rückbindet, in dem es um die »ewige Wiederkehr« geht und um die verschiedene Art, wie diese bejaht werden kann. Die Tiere Zarathustras machen dort ein Leierlied daraus, ähnlich dem I-A des Esels im Eselsfest, einer Karikatur des JA der Bejahung, wie Gilles Deleuze (Deleuze, Gilles: Nietzsche. Ein Lesebuch. Berlin 1979, S. 45 f.) bemerkt hat. Deleuze hat auch die Verwandtschaft der Bejahung des Esels mit derjenigen des Kamels aus dem Abschnitt von den drei Verwandlungen in Za I herausgestellt, und so in der vom Esel dargestellten Bejahung diejenige, die im Gegensatz zur dionysischen Bejahung im alten Ideal verbleibt, als eine den »höheren Menschen« angemessene Form der »Lehre« von der Wiederkehr, gesehen. Vgl. Deleuze, Gilles: Nietzsche et la philosophie. Paris 1994 [1962], S. 204: »On aurait pu croire que l’–ne, l’animal qui dit I-A, ¦tait l’animal dionysiaque par excellence. En fait, il n’en est rien; son apparence est dionysiaque, mais toute sa r¦alit¦ chr¦tienne. Il est seulement bon — servir de dieu aux hommes sup¦rieurs: sans doute, il repr¦sente l’affirmation comme l’¦l¦ment qui d¦passe les hommes sup¦rieurs, mais il la d¦figure — leur image et pour leur besoins. Il dit toujours oui, mais ne sait pas dire non.« Das mechanische Element dieser Art der Bejahung, das Fehlen der schöpferischen Kraft des Willens darin, die diese Bejahung zu einem Sich-Ergeben macht, erinnert an Zarathustras Worte zu seinen Tieren in »Der Genesende«: »Oh, ihr Schalks-Narren und Drehorgeln« (KSA 4, 275), an das Zarathustra wiederum in seinen Worten an die höheren Menschen in »das Eselsfest« erinnert: »Oh ihr Schalks-Narren allesammt, ihr Possenreisser!« (KSA 4, 393).

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3.3.2. Das Gespräch Zarathustras mit dem »letzten Papst«. Dass Nietzsche die Zarathustra-Gestalt gerade nicht als ein konkurrierendes Modell der Verehrung und Nachahmung konzipiert hat, geht deutlich aus dem Kapitel »Außer Dienst« hervor, in dem das Treffen Zarathustras mit dem letzten Papst, einem Arbeitslosen nach dem Tod seines Arbeitgebers, berichtet wird. Dieses Gespräch knüpft an dasjenige, das Zarathustra am Beginn des ersten Teiles mit dem alten Einsiedler geführt hatte, an. Der Papst hatte diesen mittlerweile aber Verstorben gesucht, als seinen letzten Verbündeten aus den Tagen, da Gott noch am Leben war. Verunsichert durch den Zusammenbruch der alten Werte, erwartet er sich von Zarathustra eine Neuorientierung, einen Religionsersatz sogar, wie sich in dem folgenden Frage–und–Antwort-Spiel zwischen den beiden zeigt. Nachdem der Papst erklärt, dass er, durch den Tod des alten Heiligen endgültig heimatlos geworden, beschlossen habe, »den Frömmsten aller Derer, die nicht an Gott glauben« zu suchen, nämlich Zarathustra, entbrennt ein kleiner Wettstreit zwischen den beiden, wer denn von beiden der Gottlosere sei. In einer Figur sokratischer Ironie gibt Zarathustra vor, von dem Papst lernen zu wollen und fragt diesen: »wer ist gottloser als ich, dass ich mich seiner Unterweisung freue?«44 Damit wehrt er die versuchte Vereinnahmung durch den außer Dienst gestellten Diener Gottes ab, der mit seinem Ansinnen den »Frömmsten unter den Gottlosen« zu suchen, Zarathustras Anliegen mit seinem eigenen auf eine Stufe stellt. Zarathustras distanzierte Haltung wird von Nietzsche durch eine in seinen Schriften nur drei Mal verwendete Geste ausgedrückt: »Also sprach Zarathustra und durchbohrte mit seinen Blicken die Gedanken und Hintergedanken des alten Papstes.«45

Ebenso hatte der tolle Mensch seine Zuhörer mit seinen Blicken »durchbohrt«, als er seine Rede über den Tod Gottes begonnen hatte und damit eine Differenz in der Auslegung dieses Ereignisses durch den tollen Menschen und durch die Menge angezeigt. Ähnlich wird dieses Erzählelement in dem Abschnitt »Von der Erlösung« in Za II verwendet. Dort werden die mit reaktiver Moral einhergehenden Erlösungswege abgelehnt und statt dessen das Hinzutreten des schaffenden Willens gepriesen, der sagt: »Aber so will ich es! so werde ich es wollen!« Darauf stellt Zarathustra einige kritische Fragen, die in der zentralen Anfrage an die Lehre von der Wiederkehr und die Haltung des amor fati hin gipfelt: »Höheres als alle Versöhnung muss der Wille wollen, welcher der Wille zur Macht ist –: doch wie geschieht ihm das? Wer lehrte ihn auch noch das Zurückwollen?«46 44 KSA 4, 323. 45 Ebd. 46 KSA 4, 181.

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Damit ist der schwierige Punkt der Annahme der ewigen Wiederkehr herausgestellt: wer seine schaffenden Willen durch das Große Ja zu allem, wie es ist, ausübt, muss auch all das Kleine, Verächtliche, die Herrschaft der reaktiven Moral selbst, die gerade dieser Weltauslegung entgegensteht, als zum Gesamtprozess gehörig mit wollen, und er muss zurückwollen, den ganzen Weg zu dem Augenblick der Bejahung hin. Auf diese von ihm selbst gestellte Frage hin blickt Zarathustra erschreckt seine Jünger an und durchbohrt »wie mit Pfeilen ihre Gedanken und Hintergedanken.«47 Wiederum dient dieses Erzählelement dazu, unterschiedliche Interpretation derselben »Lehre« anzuzeigen. Das geht aus dem anschließenden Gespräch mit dem »Bucklichten« hervor, das darauf hinausläuft, dass Zarathustra anders zu seinen Jüngern als zu den anderen Zuhörern und wiederum anders zu sich selbst spricht. Damit wird die Perspektivität, unter der die von Nietzsche Zarathustra in den Mund gelegten Reden zu lesen sind, hier ausdrücklich betont. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Nietzsche in dem Gespräch zwischen Zarathustra und dem Papst ebenso darauf hinweisen wollte, dass nicht jeder, der die Geschichte vom Tod Gottes zu erzählen weiß, ihr gegenüber die gleiche Stellung einnimmt, wie Zarathustra. Im weiteren Gespräch behauptet der Papst zunächst, der gottlosere von den beiden zu sein; denn der Verlust dessen, der Gott gedient und ihm damit näher gewesen sei, wiege schwerer. Ohne darauf einzugehen fragt Zarathustra zuerst nach, ob es denn wahr sei, dass Gott – wie man gerüchteweise vernehme, am Mitleid verstorben sei: »[…] dass er es sah, wie der Mensch am Kreuze hieng, und es nicht ertrug, dass die Liebe zum Menschen seine Hölle und zuletzt sein Tod wurde?«48

Er setzt mit der Aufforderung fort, der alte Diener Gottes möge seine Anhänglichkeit dem Verstorbenen gegenüber aufgeben und sich mit dessen Tod abfinden, um den Papst dann auf das glatte Eis eines Gespräches über die Schwächen und Eigenheiten des Verstorbenen zu locken.49 Dieser bringt zwei zentrale Argumente aus Nietzsches Religionskritik vor50 und erzählt sodann eine 47 KSA 4, 181 f. 48 KSA 4, 323. 49 Was dem Papst Gelegenheit gibt, sich als »aufgeklärt« zu präsentieren, nämlich »in Dingen Gottes […] aufgeklärter als Zarathustra selber« (ebd.). 50 Die Verborgenheit Gottes, Heimlichkeiten, die im Widerspruch zur Strafe bei Nichtbefolgung seines Willens steht, erwähnt der Papst (»Er war ein verborgener Gott, voller Heimlichkeit«; KSA 4, 323), der bei dieser Gelegenheit auch die buchstäbliche Auffassung der Gottessohnschaft Jesu karikiert. Zarathustra nimmt das Thema des Unverständlichen, der denen, die ihn nicht verstehen, zürnt, in seiner Antwort auf (ebd., 324). Der Papst spricht noch den Gegensatz von Richter und Liebenden in Gott an – ein Fehler, den Nietzsche an der jesuanischen Predigt, wie gezeigt, gefunden hatte.

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Geschichte vom Tod Gottes, in der dieser nicht getötet worden ist, sondern an Altersschwäche verstorben. Diese Version ist in deutlicher Anlehnung an eine Stelle aus Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland formuliert51: Beide Darstellungen benutzen zur historischen Nacherzählung des Prozesses der Auflösung der Gottesidee das biographische Schema eines lokalen Herrschers, der schließlich zur Weltherrschaft gelangt und gegen Ende zu milder wird, bis er schließlich an Altersschwäche stirbt. Eine einstmals geschichtlich wirkmächtige Idee ist so abstrakt geworden, dass sie in ihrer Allgemeinheit zu nichts mehr verpflichtet. Als reine Menschenfreundlichkeit hat sie die Beziehung zum Leben zum Willen zur Macht verloren, wie er im Lebensentwurf eines kleinen vorderorientalischen Volkes konzipiert worden ist und schließlich im Christentum die Herrschaft im römischen Reich übernimmt. Mit dem Ausdruck »Weltmüdigkeit« spielt Nietzsche einerseits auf seine Einschätzung der asketischen Ideale als weltverneinend an, andererseits liegt darin der Verlust von Wirkmächtigkeit durch Verflüchtigung zu einer allgemeinen Idee der Menschenliebe, die zu nichts Konkretem mehr verpflichtet. Mit dem Rückgang des Racheinstinktes, der sich am deutlichsten in der Idee des jenseitigen Gerichtes und der Höllenstrafen manifestiert hatte, war der mächtigste Antrieb, der diese Weltinterpretation zur Macht gebracht hatte, im Absterben begriffen. Der hauptsächliche Gesichtspunkt für unseren Zusammenhang liegt aber darin, dass hier nicht die Erzählung von der Auflösung des Glaubens an den christlichen Gott erzählt wird, sondern eine, und zwar jene, die »der letzte Papst« erzählt. Hier ist von keiner Mordtat die Rede, der Gott stirbt sozusagen von selbst, die Idee löst sich selbst auf. Zarathustra antwortet dem Papst auf diese Geschichte auch, dass es möglich sei, dass sich der Abgang des alten Gottes so abgespielt habe, aber auch anders, denn, wie er zu bedenken gibt, Götter sterben immer viele Arten Todes, wenn sie sterben. Tatsächlich werden in Za IV mehrere »Todesarten« erzählt, darunter verschiedene Versionen des Todes Gottes »am Mitleid«. So stellt Zarathustra dem »letzten Papst« auch die Frage: »Ist es wahr, was man spricht, dass ihn das Mitleiden erwürgte, – dass er es sah, wie der Mensch am Kreuze hieng, und es nicht ertrug, dass die Liebe zum Menschen seine Hölle und zuletzt sein Tod wurde?«52

So wie das konzipiert ist, ist freilich letztlich »Gott« (als Idee) vom Menschen geschaffen, also kann hier auch nur davon die Rede sein, dass der Mensch etwas erträgt oder nicht. Hier wird die Kritik am christlichen Gottesbild als Richter, 51 Vgl. Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik. Berlin / New York 2009, S. 453 ff. 52 KSA 4, 323.

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das den Menschen unter der Idee der Erlösung letztendlich auf den Zusammenhang von Schuld und Strafe festlegt, aufgenommen.53 Dieser Aspekt wird ergänzt durch die Thematisierung des Mitleidens als hinderlich für die Selbstüberwindung des Menschen. Bei aller Übereinstimmung in der Religionskritik zwischen dem Papst und Zarathustra ziehen an diesem Punkt beide andere, ja entgegengesetzte Schlüsse aus derselben in Hinsicht darauf, wie das menschliche Leben nach dem Durchgang durch die Religionskritik zu entwerfen sei. Zarathustra bringt eine Persiflage auf die Frage nach der Letztverantwortlichkeit Gottes seinen Geschöpfen gegenüber, die er in dem von Nietzsche bereits früher angebrachten Bezug auf die »Töpfer-Metapher« aus Jesaja und dem Römerbrief gipfeln lässt54 und findet, dass diese Fassung des Gottesbegriffs wider den guten Geschmack gehe: »Es giebt auch in der Frömmigkeit guten Geschmack: der sprach endlich: »Fort mit einem solchen Gotte! Lieber keinen Gott, lieber auf eigne Faust Schicksal machen, lieber Narr sein, lieber selber Gott sein!«55

Hierin stimmt ihm der letzte Papst zu, der die »Frömmigkeit« Zarathustras lobt, die ihn letztlich zum Unglauben gebracht habe. Der »letzte Papst«, den wir auch als »Theologen« bezeichnen könnten, versucht also, Zarathustra für seine Suche nach dem verloren gegangenen Idelal zu vereinnahmen, indem er eine Art Verwandtschaft zwischen den drei Gestalten des Zarathustra-Werkes, die in diesem Abschnitt präsent sind, etabliert, über die gemeinsame Eigenschaft der »Frömmigkeit«. Die Frömmigkeit des Heiligen bestand, der Auskunft aus »Zarathustras Vorrede« gemäß, nicht in Menschenliebe, sondern darin, dass er Gott liebte und die Menschen nicht, die ihm eine zu unvollkommene Sache gewesen 53 Vgl. Nietzsches Aufzeichnung aus dem Jahr 1883: »Der Mensch war es, der zwei Jahrtausende am Kreuze hieng: und ein gräßlicher Gott trieb seine Grausamkeit und nannte sie Liebe« (NF Sommer 1883 13 [1], KSA 10, 424). Im selben Fragment notiert er sich eine Invektive gegen das Christentum, das auf die Schwächung, Brechung, Kreuzigung des Menschen aus war und einen Gott erfand, der den Menschen ans Kreuz schlug: »Jene nannten Gott, was ihnen widersprach und wehe that: so war es die Art dieser Helden. Und nicht anders wußten sie ihren Gott zu lieben, als indem sie den Menschen ans Kreuz schlugen« (KSA 10, 432). Ähnlich hatte er schon im Frühjahr desselben Jahres formuliert: »Jene nannten Gott, was ihnen widersprach: ihre Heldenart, den Menschen in sich also zu brechen: aber die Zeit ist um, daß der Mensch sich selber ans Kreuz schlug« (NF Mai-Juni 1883, 9 [23] KSA 10, 352). In den Aufzeichnungen zum Zarathustra-Komplex im Sommer 1883 (13 [1]) thematisiert er den Zusammenhang zwischen Mitleid und Grausamkeit auch im Kontext der Frage, ob der Mensch untergehen muss, um den Übermenschen zu schaffen und des Mitleids als größter Gefahr des Übermenschen: »Mein Mitleiden ist zum Mörder geworden: und als ich den Menschen am meisten liebte, habe ich den Menschen an’s Kreuz geschlagen.« (KSA 10, 442). 54 »Zu Vieles missrieth ihm, diesem Töpfer, der nicht ausgelernt hatte! Dass er aber Rache an seinen Töpfen und Geschöpfen nahm, dafür dass sie ihm schlecht geriethen, — das war eine Sünde wider den guten Geschmack« (KSA 4, 324). 55 KSA 4, 324 f.

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seien.56 Diesen Heiligen, einen ganz seinem Ideal hingegebenen Menschen, hatte der Papst gesucht und nicht gefunden, statt ihm war er auf Zarathustra getroffen. Auch dessen »Frömmigkeit« besteht darin, am Menschen als einer zu unvollkommenen Sache kein Genügen zu finden. Er scheint also auch ganz dem Ideal hingegeben zu sein, das der Papst und der Heilige suchen: Ein Ideal, das die allzumenschliche Wirklichkeit übersteigt und ergänzt, an dem sie sich ausrichten und bilden können. Theologische Interpretationen, die Nietzsches Religionskritik für eine innertheologische Diskussion über ein angemessenes Gottesbild in Anspruch nehmen, werden von Zarathustras Reaktion auf dieses Ansinnen deutlich in Frage gestellt. Dieser lehnt die ihn für die Sache des Papstes reklamierende Deutung entschieden ab und weist auf die nicht zu überbrückende Differenz zwischen ihren Idealen hin, indem er ihm alle Hoffnung nimmt, dass er ihm seinen Gott wiederbeleben würde. Er weigert sich mit klaren Worten, dem Papst einen Weg ins alte Ideal des verehrenden Menschen zu zeigen und erteilt sozusagen allen theologischen Vereinnahmungsversuchen eine deutliche Abfuhr : »Wer aber nähme dir deine Schwermuth von der Schulter? Dazu bin ich zu schwach. Lange, wahrlich, möchten wir warten, bis dir Einer deinen Gott wieder aufweckt. Dieser alte Gott nämlich lebt nicht mehr : der ist gründlich todt.«57

Dies ist eine ironische Rede, das Bild von der von der Schulter genommenen Last spielt nicht nur auf Jesu Verkündigung an58, sondern auch auf die dann im Eselsfest nochmals karikierte Lesart des Christentums als der Weltinterpretation des Lasttieres, sei es ein Esel oder ein Kamel. Mit der Rede von der »Wiederauferweckung« ist natürlich auch das zentrale Motiv christlichen Glaubens angesprochen, dessen Einführung Nietzsche später im Antichrist als entscheidenden Moment der Umwandlung von Jesu das ressentiment überwindender Lehre und Praxis in die ressentimentbeladene Lehre vom »Schuldopfer« in der paulinischen Theologie brandmarken wird59. Zarathustra lässt sich nicht erweichen, in die Rolle des Erlösers einzutreten, nachdem er die Menschen von ihren Erlösern erlöst hat, auf die Gefahr hin, den Menschen nun in einem neuen Sinn abermals ans Kreuz zu schlagen, indem von ihm die Überwindung dessen, was ihn bisher definiert hatte, gefordert wird und das bedeutet im letzten Grund, die Überwindung seiner selbst. Die Polyvalenz dieser Ablösung des vom Gott 56 Vgl. KSA 1, 13; eine Reprise dieses Themas hatte Nietzsche in einer der Vorstufen zu unserem Abschnitt aus Za IVeingefügt (vgl. Nietzsche, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe (KGW VI/ 4), Berlin / New-York 1969, S. 614). 57 KSA 4, 325 f. 58 Mt 10, 37: »Wer nicht sein Kreuz nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert« (vgl. Lk 14,27); Mt. 16, 24: »Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach« (vgl. Mk. 8, 34; Lk 9, 23). 59 KSA 6, 215 ff. (Der Antichrist § 41 – 42).

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bestimmten Menschen durch den selbstbestimmten Über-Menschen zeigt sich aber in dem bereits zitierten Wort, mit dem Zarathustra seinen guten Geschmack in religiösen Dingen darlegt, nämlich lieber das Schicksal auf eigene Faust zu machen, »Gott« sein, aber auch »Narr« sein. Damit wehrt er aber auch die Verehrungstendenzen des letzten Papstes ab: der soll sich selbst helfen. 3.3.3. Der hässlichste Mensch In einem hier unmittelbar anschließenden Text aus dem 4. Buch des Zarathustra, der Geschichte vom »häßlichsten Menschen«60, wird noch einmal der Tod Gottes erzählt. Zarathustra, der in einer Landschaft, die als »Reich des Todes« beschrieben wird, auf den »hässlichsten Menschen« trifft, wird bei dessen Anblick von Mitleid erfasst. Daran erkennt er, dass er den Mörder Gottes vor sich hat. Der hässlichste Mensch konnte den nicht ertragen, der ihn »durch und durch sah«, er musste ihn töten. Seine Flucht vor dem Mitleiden hat ihn in die Einöde geführt, in der sich das Gespräch mit Zarathustra abspielt, in dessen Verlauf er über die Gründe seiner Mordtat Auskunft gibt: »Aber er – musste sterben: er sah mit Augen, welche Alles sahn – er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit. / Sein Mitleiden kannte keine Scham: er kroch in meine schmutzigsten Winkel. Dieser Neugierigste, Über-Zudringliche, Über-Mitleidige musste sterben.«61

Anders als in der von Heine übernommenen Ironisierung der Geschichte der Interpretationen des christlichen Gottesbegriffs wird hier auf den Tod Gottes am Mitleiden geblickt: hier steht der Ekel im Mittelpunkt, den der hässliche entwertete, verachtete Mensch angesichts der Zudringlichkeit des Mitleids empfindet. Damit knüpft Nietzsche u. a. an die Parabel von den Gefangenen an, in der die christliche Idee der Aufhebung der weltlichen Gerechtigkeit durch die Schuldhaftigkeit aller einem jenseitigen Richter gegenüber als Internalisierung und Verfestigung des Komplexes von Schuld und Strafe gelesen worden ist. In dieser Spielart der moralischen Weltauslegung spielt das schlechte Gewissen eine zentrale Rolle. Der hässlichste Mensch als Typus der großen Selbstverachtung kann als eine Form des höheren Menschen angesehen werden, der diesen einen Zug am Menschen ins Extrem seiner Größe hinein ausgebildet hat.62 Im Gespräch zwischen dem hässlichsten Menschen und Zarathustra ist 60 Vgl. KSA 4, 327 – 332. 61 KSA 4, 331. 62 Zarathustra spricht, nachdem er den »hässlichsten Menschen« verlassen hat, zu sich über diesen, wobei er ihn vor allem als Gegenstand der Reflexion im Kontext der Selbstliebe des Menschen macht, die soviel Verachtung gegen sich habe: »Auch dieser da liebte sich, wie er sich verachtete, – ein grosser Liebender ist er mir und ein grosser Verächter. / Keinen fand ich

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dann auch der Topos von der Predigt des Mitleidens zentral63. Der Mensch, der in der Selbstverachtung Größe erreicht hat, muss diese Predigt als zudringlich empfinden. Auch mit dem weiteren Hauptthema dieses Abschnitts, der Predigt Jesu, mit der die Wertungen der kleinen Menschen zur Herrschaft gebracht worden seien64, hat Nietzsche deutlich darauf hingewiesen, dass der Tod Gottes nur in Hinblick auf Möglichkeiten des Menschseins von Interesse ist.

4.

Die Perspektive Zarathustras

Wenn wir die Thematisierungen des Todes Gottes im Zarathustra Werk betrachten, so fällt zunächst die Perspektivität der Erzählungen auf. Für den letzten Papst stellt er sich als allmähliches Unglaubwürdigwerden eines überlebten Ideals dar, das sich im Verlauf seiner Sublimierung zusehends verflüchtigte – wesentlichen Anteil scheinen daran die verehrenden Menschen von der Art der »Theologen« zu haben, die die konkreten, allzumenschlichen Züge, die Anthropomorphismen des Gottesbilds beseitigen wollen. Ein Indiz für diese Interpretation liefert auch die Reaktion des Papstes auf die »Wiedererweckung« des alten Gottes im »Eselsfest«, mit dessen Schilderung Nietzsche den Zug an den »höheren Menschen« karikiert, ohne Verehrung nicht leben zu können. Der Papst verteidigt im Gespräch mit Zarathustra die Anbetung des Esels mit den Worten, es sei besser, Gott in Eselsgestalt anzubeten, »[…] als in gar keiner Gestalt«. Trotz dieser Anhänglichkeit an das alte Ideal ist der letzte Papst mehr als ein Zuschauer geschildert, der relativ distanziert beschreibt, wie ihm sein Ideal abhanden gekommen ist. Der hässlichste Mensch dagegen ist selbst in einen Akt der Tötung involviert. Aus seiner Perspektive ist der Tod Gottes durch seine Reaktion auf die Unerträglichkeit der Idee herbei geführt worden, dass es einen gebe, der ihn in die hintersten Winkel seiner noch, der sich tiefer verachtet hätte: auch Das ist Höhe. Wehe, war Der vielleicht der höhere Mensch, dessen Schrei ich hörte?« (KSA 4, 332). 63 Vgl. KSA 4, 328 ff. 64 So sagt der hässlichste Mensch zu Zarathustra: »Und ›Wahrheit‹ heisst heute, was der Prediger sprach, der selber aus ihnen herkam, jener wunderliche Heilige und Fürsprecher der kleinen Leute, welcher von sich zeugte ›ich — bin die Wahrheit.‹ / Dieser Unbescheidne macht nun lange schon den kleinen Leuten den Kamm hoch schwellen — er, der keinen kleinen Irrthum lehrte, als er lehrte ›ich — bin die Wahrheit.‹ / Ward einem Unbescheidnen jemals höflicher geantwortet? – Du aber, oh Zarathustra, giengst an ihm vorüber und sprachst: ›Nein! Nein! Drei Mal Nein!‹ / Du warntest vor seinem Irrthum, du warntest als der Erste vor dem Mitleiden — nicht Alle, nicht Keinen, sondern dich und deine Art« (KSA 4, 330). Wie im Dialog mit dem letzten Papst werden hier Argumente aus der Religionskritik Nietzsches dem Gesprächspartner Zarathustras in den Mund gelegt, ohne dass der perspektivische Unterschied zwischen Zarathustra und dem entsprechenden »höheren Menschen« dadurch eingeebnet würde.

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Seele hinein erforscht. Sein Gott ist der Gott von Augustinus, der dem Menschen innerlicher ist als dieser sich selbst, von dem her die Innerlichkeit des Menschen erst ihre Tiefendimension erhält. Diese vom Christentum ausgebildete Innerlichkeit der Selbsterforschung wird von Nietzsche als eine dargestellt, die sich letztendlich gegen den Menschen selbst wendet, in einer Art »Selbstaufhebungsfigur«. Der Typus, der dieser Tradition entspricht, ist im »hässlichsten Menschen« zur literarischen Gestalt geworden. Gerade ihn aber macht der »freie Geist«.65 für die Erschaffung des Popanz verantwortlich, den die »höheren Menschen« mit ihrer Verehrung des I-A- sagenden Esels aus der Idee der Ewigen Wiederkehr machen. Zarathustra gegenüber führt der hässlichste Mensch zu seiner Verteidigung ins Treffen, dass jener ja selbst darum wissen müsse, dass der Tod Gottes endgültig sei. Damit ist auch klar, dass man die Ansicht des »freien Geistes«, dass nämlich Tod bei Göttern immer nur ein Vorurteil sei, nicht so interpretieren kann, als würde Nietzsche sich neue Götter wünschen. Denn dafür sind erstens andere Aussagen über den Tod Gottes, wie wir gesehen haben, zu deutlich. Zweitens gibt der Satz auch nicht die Ansicht Zarathustras wieder. Er steht für die Perspektive der höheren Menschen, die nicht ohne Verehrung auskommen können und deshalb das Ereignis des Todes Gottes nicht im Vollsinn zur Selbstüberwindung des Menschen nutzen können. Man könnte diesen Passus vielleicht auch als ironischen Kommentar des »freien Geistes« und als Distanzierung von dieser postchristlichen Form der Religiosität lesen. Den hässlichsten Menschen als den Mörder Gottes zeichnet Nietzsche als einen, der in seinem reaktiven Verhalten noch der Gottesidee verhaftet bleibt: Indem er sagt, er habe eine Farce inszeniert, da gerade das Lachen töte, offenbart er die reaktive Abhängigkeit des Kritikers vom Gegenstand seiner Kritik:66

Das Fest ist auch insofern ein negativer Ritus, als es eher eine Trennung als eine Kommunion markiert. Zarathustra tritt in eine letztgültige Distanz zur Sache der »höheren Menschen«. Er dreht den Sinn des christlichen Abendmahls um, wenn er einerseits das Eselsfest als Gedächtnismahl einsetzt, als sein Zeichen für die höheren Menschen, aber selbst seiner Wege geht67. Er ist bei sich selbst angekommen, ein Ziel, das seine »Gäste« verfehlt haben, indem sie in die verehrende Haltung zurück gefallen sind. Er ist bei sich selbst angekommen, indem er die Rolle ablehnt, die ihm das Mitleid mit jenen gegeben hätte. Er hat seine 65 Den Nietzsche in der Gestalt des »Wanderers und Schatten« darstellt; vgl. KSA 4, 391. 66 »Ob Der noch lebt oder wieder lebt oder gründlich todt ist, – wer von uns Beiden weiss Das am Besten? Ich frage dich. Eins aber weiss ich, — von dir selber lernte ich’s einst, oh Zarathustra: wer am gründlichsten tödten will, der lacht. / ›Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man‹ – so sprachst du einst. Oh Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du gefährlicher Heiliger, — du bist ein Schelm!« (KSA 4, 392); die hier gegebene relativ grobe Interpretation versteht sich nicht als umfassend, es sind Züge an der Thematisierung des Todes Gottes in Za IV hervorgehoben worden, die die hier gegebene Darstellung dieser Problematik im Werk Nietzsches innerhalb der Fragestellung nach Entwürfen des Menschseins, die im Werk Nietzsches zu finden sind, abrundet. Eine detaillierte Untersuchung zur Rede vom »Tod Gottes« in Za IV ist wohl einer eigenen monographischen Untersuchung vorzubehalten. 67 Vgl. den letzten Abschnitt von Za. IV: »Das Zeichen«, KSA 4, 205 – 408.

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letzte Versuchung, das Mitleid mit den höheren Menschen, überwunden, indem er ihnen ihre Art der Auslegung des Wiederkunftsgedankens in der Form der Karikatur überlässt: Den von ihnen verehrten Esel, zu dem er sich selbst nicht macht. Das I-A des Esels ist bloß eine Karikatur des dionysischen Ja zum Leben. Damit hat Nietzsche Zarathustra die gleiche Haltung zugeschrieben, die er im Vorwort zu Ecce Homo für sich selbst beansprucht, wenn er sich als »Jünger des Philosophen Dionysos« bezeichnet und schreibt, dass er kein Popanz oder Moral–Unthier sei, und es vorzöge, ein Satyr zu sein und kein Heiliger. Er weigert sich, ein Ideal aufzustellen. Das einzige Ideal, das er aufstellen kann, ist die Bejahung der Wiederkehr, als deren Konsequenz jeder Mensch sich selbst annehmen muss in einer Art dionysischen Künstlertums an sich selbst. Ecce Homo, das Buch, in dem Nietzsche darstellt, wer er ist, beschreibt dieses dionysische Künstlertum, den Weg, den er im Untertitel der Schrift anspricht: »Wie man wird, was man ist«.

III. Neue Ansätze im 20. Jahrhundert

Hartwig Bischof (Wien)

Philosophie mit Meerblick. Maurice Merleau-Ponty und die Religion

»Alles Denken ist Denken wie das Meer gesehen wird.«1 Gleichzeitig Zusammenfassung und Motto für das gesamte philosophische Unternehmen von Maurice Merleau-Ponty, umreißt er damit auch seine Überlegungen zum Phänomen Religion. Das Sehen des Auges dient ihm als Ausgangspunkt, um das Denken insgesamt zu beschreiben, der Blick auf das Meer illustriert jene unendliche und schwach strukturierte Masse, in der sich die menschlichen Anstrengungen in Unendlichkeiten und einer prinzipiellen Negativität verlieren. Aber diese Negativität lässt sich nicht mit einem denkerisch eroberten Nichts gleichsetzen, sondern Merleau-Ponty arbeitet am Entwurf einer Ontologie, bei dem die Negativität zum Bestandteil des Seins avanciert. Der Blick aufs Meer ähnelt dem Blick auf Gott, einerseits beruhigt das monotone Rauschen dieser unendlichen Fülle den aufgeregten menschlichen Verstand, andererseits beängstigt die Ausgeliefertheit an dieses Ungetüm, das sich jeder menschlichen Manipulierbarkeit entzieht. Dabei vermag die Frage nach dem Standpunkt die ganze Dramatik dieser Analyse, die Merleau-Ponty als transformierende Weiterführung von Descartes unternimmt, noch weiter zu steigern. Denn es macht einen großen Unterschied, ob man diesen Standpunkt auf dem sicheren Rückzuggebiet der ufernahen Landmasse bezieht, oder ob man in einem kleinen Rettungsboot auf dem offenen Ozean dahin treibt. Ein Blick auf das Œuvre von Merleau-Ponty zeigt, dass er als eine der vordringlichsten Aufgaben der Philosophie das Wiedererlernen der Wahrnehmung ortet, was er vornehmlich am Prozess des Sehens untersucht. Weil der Rückgriff auf die Reflexionslehre2 in eine Sackgasse führt, geschieht dies unter dem Leit1 Merleau-Ponty, Maurice: Unveröffentlichter Text zur Vorbereitung auf die Vorlesung »L’ontologie cart¦sienne et l’ontologie d’aujourd’hui«, gehalten am CollÀge de France, von Jänner bis April 1961, BibliothÀque Nationale, Paris, NTfinOntoC [56] v. Zur Bedeutung der unveröffentlichten Texte von Merleau-Ponty vgl. de Saint Aubert, Emmanuel: »Relire MerleauPonty — la lumiÀre des in¦dits«, in: Revue internationale de philosophie 244/2 (2008), S. 123 – 125. 2 Vgl. Richir, Marc: »Der Sinn der Phänomenologie in ›Das Sichtbare und das Unsichtbare‹«, in:

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satz, dass der Primat der Wahrnehmung die Beziehung des Subjekts zur Welt gewährleistet. Merleau-Ponty entwickelt eine Alternative, in der Sensorik und Motorik zwei Aspekte ein und desselben Geschehens sind, weil für beide der Leib eine die Außenwelt mitstrukturierende Einheit darstellt. Im Anschluss an Edmund Husserl erläutert er dies an den Beispielen von Würfel und Lampe. Die Annahme, dass wir die beim Blick auf eine Lampe nicht wahrgenommene, weil von der Lampe selbst verdeckte Rückseite als »Vorstellung« ergänzen würden, setzt uneingestanden voraus, dass diese Seite von uns nicht als »gegenwärtig existierend erfasst« wird, weil sie eben nur vorgestellt wird. Weil aber die Lampe nicht als Imagination vorgefunden wird, sondern als realer Gegenstand, lässt sich eine Zuschreibung als Vorstellung nicht durchhalten. »Es ist wahr, dass die Lampe eine Rückseite und der Würfel eine weitere Fläche hat. Aber diese Formulierung ›Es ist wahr, dass‹ entspricht nicht dem, was in meiner Wahrnehmung gegeben ist. Diese gibt mir nämlich keine Wahrheiten wie die Geometrie, sondern Gegenwärtigkeiten (pr¦sences).«3 Die Existenzweise der anderen Seite eines Objekts während eines Wahrnehmungsprozesses unterscheidet sich also völlig von der Feststellung, dass etwa eine bestimmte Fragestellung existiert. Weil die nichtgesehenen Seiten trotzdem in der Umgebung des Wahrnehmenden anwesend sind, dürfen sie weder als bloß mögliche Wahrnehmungen noch als Rückschlüsse aufgrund geometrischer Einsichten klassifiziert werden. »Was mir mit den sichtbaren Seiten des Gegenstands die unsichtbaren Seiten zur Gegebenheit bringt, diese Synthese, die vom Gegebenen zu dem führt, was nicht leibhaftig gegeben ist, ist keine Synthese des Verstandes (synthÀse intellectuelle), die den ganzen Gegenstand nach Belieben setzt, sondern sie ist vielmehr wie eine praktische Synthese. Ich kann die Lampe berühren […]«4 Immer wieder umreißt Merleau-Ponty den unmittelbaren, praktischen Umgang des Subjekts mit den Dingen in der Welt als eine Ordnung in der Sinnlichkeit selbst, auf die der Verstand zwar aufbaut beziehungsweise mit der er untrennbar verwoben ist, die für ihn als Vorgabe jedoch unhintergehbar ist. Nach einer von ihm vollzogenen Entpsychologisierung5 sichert die Wahrnehmungstheorie für ihn die fundaM¦traux, Alexandre / Waldenfels, Bernhard (Hg.): Leibhaftige Vernunft. Spuren von MerleauPontys Denken. München 1986, S. 86 – 110, 91: »In der Reflexion gibt es notwendigerweise einen blinden Punkt; denn einerseits kommt ihre homogenisierende Wirkung immer nachträglich, a posteriori, nach dem Rätsel der Welt, das es zu befragen gilt, – und andererseits gibt sie im gleichen Atemzug vor, jedes Rätsel a priori zu erklären, und zwar mit Mitteln, die sie ihrer Einsetzung a posteriori verdankt […]«. 3 Merleau-Ponty, Maurice: Das Primat der Wahrnehmung. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Wiesing, Lambert, aus dem Französischen von Schröder, Jürgen. Frankfurt am Main 2003, S. 29 f. 4 Ebd., S. 30. 5 Vgl. dazu zum Beispiel die Abhebung der Wahrnehmung von Formen der Halluzination: »Die Halluzinationen spielen sich auf einer anderen Bühne als der der wahrgenommenen Welt ab.«

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mentale Einsicht in die Dinge genauso wie in von uns formulierte Wahrheiten, die Wahrnehmungserfahrung zeigt uns die Dinge in ihrem Entstehungsprozess und damit auch die Bedingungen ihrer Objektivität. Merleau-Ponty kommt zum Schluss, dass jegliche »Formalisierung immer nur eine nachträgliche ist, [was] beweist, dass sie auch immer nur dem Anscheine nach eine vollständige ist und alles formale Denken in Wahrheit sich nährt aus intuitivem Denken«6. Obwohl Merleau-Ponty es konsequent vermeidet, jegliches Philosophietreiben auf die Sinneserfahrung zu reduzieren, arbeitet er dennoch ebenso konsequent an der Erstellung einer wahrnehmungsgebundenen Matrix, die in allen Bereichen menschlicher Tätigkeit angetroffen werden kann. Als eng verwoben mit diesem Primat der Wahrnehmung bei Merleau-Ponty erweist sich die besondere Rolle, die der menschliche Leib in dieser Konzeption einnimmt. Merleau-Ponty greift dabei auf die Ausführungen von Edmund Husserl zurück, in dessen Interpretation sich, ausgehend von der Schilderung, was passiert, wenn die rechte Hand die linke abtastet – im Unterschied zu einer Bleikugel –, eine Doppelfunktion des Leibes ergibt. »Der Leib konstituiert sich also ursprünglich auf doppelte Weise: einerseits ist er physisches Ding, Materie, die Farbigkeit, Glätte, Härte, Wärme und was dergleichen materielle Eigenschaften mehr sind, eingehen; andererseits finde ich auf ihm, und empfinde ich ›auf‹ ihm und ›in‹ ihm: die Wärme auf dem Handrücken, die Kälte in den Füßen, die Berührungsempfindungen an den Fingerspitzen.«7 Diese Doppelerscheinung der Leiblichkeit in Form des physischen Leibes als einem Ding und des empfindenden Leibes als Subjekt dieser Empfindungen mündet bei Husserl in eine Somatologie8, eine Wissenschaft vom Leib. Während bei Husserl dieser Leib nach wie vor von einem transzendentalen Ego anvisiert wird, verstärkt MerleauPonty diesen Ansatz mit einer Wende. »[…] auf diese Weise ist der Leib Ausdruck der gesamten Existenz, nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie in ihm sich realisiert. Dieser inkarnierte, ›verkörperte‹ Sinn ist das zentrale Phänomen, dessen abstrakte Momente Leib und Geist, Zeichen und Bedeutung sind.«9 Der Leib bleibt nicht mehr reduziert auf ein ausführendes Organ des »Geistes« oder eines transzendentalen Ego, sondern ist als die Welt

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Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Boehm, Rudolf. Berlin 1966, S. 390. Ebd., S. 439. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Husserliana IV, Ideen II). Hg. von Biemel, Marly. Den Haag 1952, S. 145 (im Folgenden zitiert als Hua Bd., S.). Hua V, Ideen III, S. 7. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Boehm, Rudolf. Berlin 1966, S. 198.

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wahrnehmender und gleichzeitig als Teil dieser Welt in doppelter Weise Garant für eine mögliche Welt- und Selbsterkenntnis des Menschen. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die verstreuten Äußerungen zu religionsphilosophischen Fragestellungen besser verstehen, wobei sich MerleauPonty dabei zum größten Teil mit dem Christentum auseinandersetzt. Dies erklärt sich zum Teil aus dem philosophischen Kontext, zum Teil aber auch aus der katholischen Sozialisation des jungen Merleau-Ponty. Sein Hinweis auf einen »jungen Katholik[en], den die Forderungen seines Glaubens ›nach links‹ führten«10, der aber offensichtlich enttäuscht durch die Unterstützung eines Geistlichen aus einem der damals fortschrittlichsten Orden für die Regierung von Engelbert Dollfuß, den Weg zur Entfernung vom Christentum antrat. Wie weit nun dieser Katholik tatsächlich mit Merleau-Ponty zu identifizieren ist oder nicht, mag dahingestellt bleiben, sicher lässt sich aus seinen Bemerkungen herauslesen, dass er nach seiner anfänglichen Verwurzelung im Christentum in einer zweiten Phase sich sogar als Atheisten bezeichnet, um schließlich in der Spätzeit seiner philosophischen Überlegungen das Christentum zumindest als eine Denkvariante anzusehen, der man nachspüren sollte.11 Ähnlich wie in seiner gesamten Philosophie zielen auch seine Aussagen über die Religion auf eine Überwindung eines »metaphysischen Mechanismus«12 und auf eine Etablierung neuer, tragfähigerer Kategorien. So verteidigt der junge Merleau-Ponty im Jahr 193513 in positiver Auseinandersetzung mit Max Scheler das Christentum gegenüber den Angriffen von Nietzsche. Entgegen dessen Einschätzung argumentiert Merleau-Ponty, dass das Christentum keineswegs einer Einschränkung des Lebens gleichkommt, vielmehr bedeutet es aufgrund der zumindest intendierten prinzipiellen Wertschätzung aller Menschen geradezu einen Überschuss an Leben. Aus diesem Überschuss heraus erwächst für Christen auch die Aufforderung zu einem Engagement für Gerechtigkeit und/oder Barmherzigkeit, im weiteren Sinn zu einer politisch aktiven Existenz. Einer der Gründe, warum dies im Laufe der Geschichte von den Christen nur in einem eingeschränkten Maß umgesetzt wurde, liegt für Merleau-Ponty in einer grundsätzlichen Gespaltenheit zumin10 Merleau-Ponty, Maurice: »Glaube und Aufrichtigkeit«, in: ders.: Sinn und Nicht-Sinn. Aus dem Französischen von Gondek, Hans-Dieter. München 2000, S. 235 – 248, 235. Zur Beziehung von Merleau-Ponty zu politisch links stehenden Christen vgl. Geraets, Theodore: Vers une nouvelle philosophie transcendantale. La genÀse de la philosophie de Maurice MerleauPonty jusqu’— la ph¦nom¦nologie de la perception. Den Haag 1971, S. 24 ff. 11 Zu dieser Kategorisierung vgl. Labelle, Gilles: »Merleau-Ponty et le christianisme«, in: Laval th¦ologique et philosophique 58 (2002) S. 317 – 340. 12 Merleau-Ponty, Maurice: »§tre et avoir«, in: ders.: Parcours 1935 – 1951. Paris 1997, S. 35 – 44, 40. 13 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: »Christianisme et ressentiment«, in: ders.: Parcours 1935 – 1951. Paris 1997, S. 9 – 33.

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dest des Katholizismus. Augustinus dient dazu als Gewährsmann, wenn er die Wahrheit ins Innere des Menschen verlegt und von Gott sagt, dieser sei »interior intimo meo – noch innerer als mein Innerstes«14. Für Merleau-Ponty folgt daraus eine Diskrepanz, die vom Christentum kaum bedacht worden ist. »Der Katholizismus glaubt zugleich an einen inneren Gott und an einen äußeren Gott – so lautet die religiöse Formel seiner Widersprüche.«15 Diese augustinische Version hievt dabei die Religion in einen Status der Unverwundbarkeit, woraus für Merleau-Ponty aber auch logisch folgt, dass Gott die Menschen eigentlich nicht benötigt. Merleau-Ponty ortet hier eine gehörige Portion Stoizismus, die Existenz Gottes garantiert bereits Vollkommenheit, »es gibt buchstäblich nichts mehr zu tun«16, an der Schöpfung kann nicht mehr weitergebaut werden, politische Aktivitäten17 laufen entlang einer prinzipiellen Sinnlosigkeit ab. Das Christentum kann sich aber mit dieser Inwendigkeit nicht zufrieden geben, schließlich trägt es bereits in seinem Namen jenes historische Ereignis, das als umfassender Umsturz angesehen werden kann. »Die Leibwerdung Christi ändert alles. Nach der Leibwerdung Christi ist Gott im Äußeren gewesen.«18 Wie viele Textpassagen nahelegen, bringt das Ereignis der Inkarnation Merleau-Ponty dazu, die Zurückweisung des »Gottes der Philosophen«, wie sie Blaise Pascal formuliert hatte19, stark in seine Überlegungen einfließen zu lassen. Immer wieder attackiert er die Auflösung Gottes anstelle des philosophischen Konzepts vom ens realissimum. »Der Gott des Aristoteles denkt sich. Der Gott von Leibniz denkt die Welt […] um mit dem Sein bekannt zu werden, muss man aufhören, beim ens realissimum zu denken zu beginnen.«20 Diese von MerleauPonty vorgenommene Verschiebung des Ausgangspunktes von religionsphilo14 Augustinus: Bekentnisse. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Bernhart, Joseph mit einem Vorwort von Grasmück, Ernst L. Frankfurt am Main 1987, S. 114 f. 15 Merleau-Ponty, Maurice: »Glaube und Aufrichtigkeit«, in: ders.: Sinn und Nicht-Sinn. Aus dem Französischen von Gondek, Hans-Dieter. München 2000, S. 237. 16 Ebd., S. 238. 17 An dieser Stelle darf ergänzend darauf hingewiesen werden, dass Augustinus als Bischof von Hippo selbstverständlich im Sinne von Merleau-Ponty auch politisch aktiv war. 18 Merleau-Ponty, Maurice: »Glaube und Aufrichtigkeit«, in: ders.: Sinn und Nicht-Sinn. Aus dem Französischen von Gondek, Hans-Dieter. München 2000, S. 239. 19 Merleau-Ponty bemerkt dazu (»Das Metaphysische im Menschen«, in: ders.: Zeichen. Auf der Grundlage der Übersetzung von Schmitz, Barbara / Arndt, Hans Werner / Waldenfels, Bernhard unter Mitarbeit von Hand, Annika / Harion, Dominic kommentiert und mit einer Einleitung hg. von Bermes, Christian. Hamburg 2007, S. 111 – 132, 130): »Es ist das Neue am Christentum als Religion vom Tod Gottes, dass es den Gott der Philosophen zurückweist und einen Gott verkündet, der die conditio humana auf sich nimmt. Nicht als Dogma und noch nicht einmal als Glauben, als Schrei, stellt die Religion einen Teil der Kultur dar.« 20 Merleau-Ponty, Maurice: Unveröffentlichte Arbeitsnotizen (Dezember 1960 bis April 1961) zur Vorbereitung auf die Vorlesung »L’ontologie cart¦sienne et l’ontologie d’aujurd’hui«, gehalten am CollÀge de France, von Jänner bis April 1961, BibliothÀque Nationale, Paris, NTontocart [128]v(2) [Übersetzung von H.B.].

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sophischen Überlegungen bezüglich des Christentums fordert zu einer näheren Verhältnisbestimmung zwischen den beiden differenten »Denkräumen« von Philosophie und Religion auf. Dabei hängt alles von den näheren Zuordnungen zur jeweiligen Domäne ab. Versteht man unter Philosophie nur die Etablierung von Begriffen und unter Religion bloß die Zustimmung zu geoffenbarten Texten, dann wären die beiden nach Merleau-Ponty zu weit von einander entfernt, als dass es überhaupt zu einer Unstimmigkeit zwischen ihnen kommen könnte. Im anderen Fall, bei dem die Philosophie über eine durch Erfahrung zugängliche Welt handelt und bei dem die Religion als eine übernatürliche Erfahrung angenommen wird, löst sich jegliche Rivalität auf, weil beide Domänen in einem »unendlichen Denken« übereinkommen. In diesem Szenario sind wir dann aber auch überhaupt nicht in der Lage, die Einheit zwischen Vernunft und Glauben zu verstehen, wir wissen nur, dass Gott der Ausgangspunkt dieses Einverständnisses wäre. In dieser cartesianischen Lösung sind der Verstand des Menschen mit seinen souveränen Entscheidungen und der als Leib existierende Mensch in ein indifferentes Gleichgewicht gebracht, aber weder gehört es zu unserer Obliegenheit, dieses Verhältnis zu erkunden oder gar zu verstehen, noch erreicht es einen ausreichend stabilen Zustand. Die Weiterführung dieses unbefriedigenden Ergebnisses findet Merleau-Ponty bei Malebranche und liegt für ihn darin, dass er in der Beschaffenheit des menschlichen Verstandes die Unstetigkeit des religiösen Zugangs ausfindig macht. »Der Verstand ist in der natürlichen Ordnung eine Art Kontemplation, er ist ein geistiges Erschauen Gottes. Selbst in der Ordnung des Wissens sind wir für uns selbst weder unser eigenes Licht noch die Quelle unserer Idee. Wir sind unsere Seele, aber wir haben keine Vorstellung von ihr ; wir stehen mit ihr nur durch das Gefühl in einem dunklen Kontakt.«21 Die anthropologische Konstante einer prinzipiellen Zwiespältigkeit – Merleau-Ponty etabliert in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen einer schlechten, weil bloß hingenommenen, und einer guten, weil denkerisch verarbeiteten Ambiguität22 – durchzieht folgerichtig alle unsere Zugänge zur Wirklichkeit, welcher »Natur« diese auch sein mögen. Aufgrund dieser Ausgangslage lassen sich auch unsere Versuche einer »natürlichen« Erkenntnis unausweichlich nur als »Glaubensakte« charakterisieren. »Tatsächlich sehen wir die Welt nicht an sich, jene Erscheinung ist unsere Unkenntnis über uns selbst, 21 Merleau-Ponty, Maurice: »Überall und Nirgends«, in: Ders., Zeichen. Auf der Grundlage der Übersetzung von Schmitz, Barbara / Arndt, Hans Werner / Waldenfels, Bernhard unter Mitarbeit von Hand, Annika / Harion, Dominic kommentiert und mit einer Einleitung hg. von Bermes, Christian. Hamburg 2007, S. 181 – 231, 209. 22 Vgl. dazu: Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Boehm, Rudolf. Berlin 1966, S. 383: »Die Zweideutigkeit ist nicht eine Unvollkommenheit des Bewusstseins oder der Existenz, sondern ihre Wesensbestimmung.«

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über unsere Seele, über die Entstehung ihrer Modalitäten und all dessen, was es in der Erfahrung, die wir von der Welt haben, an Wahrem gibt, es ist die ursprüngliche Gewissheit einer aktuellen und über das, was wir sehen, hinaus existierenden Welt, in deren Abhängigkeit Gott uns sehen lässt, was wir sehen. Die kleinste sinnliche Wahrnehmung ist also bereits eine ›natürliche Offenbarung‹.«23 Das Resultat dieser Zusammenschau liegt für Merleau-Ponty allerdings in einer gegenseitigen Usurpation zwischen Religion und Philosophie. Wenn man von der Existenz Gottes ausgeht, ergeben sich zwei Möglichkeiten: einmal kann man gemäß Röm 1, 20 von der Schöpfung auf ihren Schöpfer Rückschlüsse ziehen, daneben gibt es aber auch den Gott der Liebe, der nach Merleau-Ponty »nur im blinden Wahn des Opfers« erreichbar ist. »Es ist diese Unvereinbarkeit selbst, die man thematisieren müsste, wenn man eine christliche Philosophie aufstellen wollte, in ihr müsste man die Artikulation des Glaubens und der Vernunft suchen.«24 Partiell sieht Merleau-Ponty diese Forderung bei Maurice Blondel zwar angedacht, aber wie jegliche Philosophie, bleibt auch eine die Religion bedenkende Philosophie eine prinzipiell unabschließbare Angelegenheit. Wenngleich die Inkarnation eigentlich alles verändert oder verändern sollte, so haben die Christen und a fortiori die Katholiken, die Merleau-Ponty näherhin bei seinen Überlegungen im Blick hat, die sich daraus ergebenden Folgen kaum oder zu wenig in ihren Überlegungen zur Geltung gebracht. Besonders die Einbindung der Inkarnation in den Rahmen der Trinitätstheologie scheint keine ausreichende Differenzierung anzubieten. »[…] sie [die Christen] beteten den Sohn im Geist der Religion des Vaters an. Sie hatten noch nicht begriffen, dass Gott für immer mit ihnen war. Pfingsten bedeutet, dass die Religion des Vaters und die Religion des Sohnes sich in der Religion des Heiligen Geistes vollenden müssen, dass Gott nicht mehr im Himmel ist, dass er in der Gesellschaft und in der Verständigung der Menschen ist, überall da, wo Menschen sich in seinem Namen versammeln.«25 Mit dieser Kritik, dass die Christen zumindest teilweise eine Rückwendung der Inkarnation in nunmehr abermals enthobene himmlische Sphären vollzogen hätten, wendet Merleau-Ponty sein Programm einer immanenten Metaphysik auch auf den christlich-religiösen Bereich an. Metaphysisches Denken beginnt für ihn damit, dass sich eine unmittelbare Evidenz der Gegenstände in der Welt nicht mehr aufrecht erhalten lässt und daher bereits 23 Merleau-Ponty, Maurice: »Überall und Nirgends«, in: Ders., Zeichen. Auf der Grundlage der Übersetzung von Schmitz, Barbara / Arndt, Hans Werner / Waldenfels, Bernhard unter Mitarbeit von Hand, Annika / Harion, Dominic kommentiert und mit einer Einleitung hg. von Bermes, Christian. Hamburg 2007, S. 209. 24 Ebd., S. 211. 25 Merleau-Ponty, Maurice: »Glaube und Aufrichtigkeit«, in: ders.: Sinn und Nicht-Sinn. Aus dem Französischen von Gondek, Hans-Dieter. München 2000, S. 242.

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im (philosophischen) Umgang mit ihnen sein Tätigkeitsfeld eröffnet. »Das metaphysische Bewusstsein hat keine anderen Gegenstände als die alltägliche Erfahrung […]«26 Freilich brachte ihm diese Wendung die herbe Kritik seiner theologischen Leser27 ein, ein Denken, das mit seinen Ansätzen das jenseitig Absolute auf die Erde herunterholt, lässt sich mit dem breiten Strom der theologischen Tradition nicht vereinbaren. Offen bleibt dabei allerdings, ob durch die Zurückweisung seitens der Theologie nicht auch die Möglichkeiten, die sich für das Fach aus einer kritisch-positiven Aufnahme des Ansatzes von MerleauPonty und einer innertheologischen Weiterentwicklung hätten ergeben können, vorschnell aus dem Blick geraten sind. Merleau-Ponty, der zwar niemals das Streben der Philosophie nach dem Absoluten aus den Augen verlor, der aber genauso wenig dieses Streben mit absoluten Aussagen verwechselte, forderte diese prinzipielle Unabgeschlossenheit auch von theologischen Abhandlungen ein. Gerade um den Neuheitsgrad des Christentums zu verteidigen, lehnte er eine »erklärende Theologie« ab, die nicht nur Gott in feine Erklärungen auflöst, sondern mithilfe der Hypothese Gott auch alle menschlichen Widersprüchlichkeiten wegerklärt, wohingegen das Ereignis der Inkarnation für ihn genau den umgekehrten Weg beschritten hat, dass nämlich Gott die menschlichen Unzulänglichkeiten zu seinen eigenen gemacht hat. Auch die Verborgenheit Gottes spielt sich damit nicht mehr in irgendeiner Hinterwelt ab, sondern wird zum alltäglichen (religiösen) Ereignis, ohne dass diese Verborgenheit28 in irgend einer Weise aufgehoben würde. »Dieser Gegensatz [zwischen dem verborgenen Gott bei Pascal und dem Zugang über die Logik bei Leibniz] bedeutet bei Merleau-Ponty nicht einen zwischen einer reinen Abwesenheit (Gottes) und einer reinen Anwesenheit, sondern einen zwischen der fleischlichen Anwesenheit (die niemals vollständig ist und die eine Dialektik zwischen Anwesenheit und Abwesenheit impliziert) und der intellektuellen Anwesenheit (die ein Ding anhand von dessen Evidenz besitzt).«29 Im Sinne der vom unabhängigen Intellekt festgestellten Evidenz von Dingen bleibt 26 Merleau-Ponty, Maurice: »Das Metaphysische im Menschen«, in: ders.: Zeichen. Auf der Grundlage der Übersetzung von Schmitz, Barbara / Arndt, Hans Werner / Waldenfels, Bernhard unter Mitarbeit von Hand, Annika / Harion, Dominic kommentiert und mit einer Einleitung hg. von Bermes, Christian. Hamburg 2007, S. 127. 27 Vgl. stellvertretend Tilliette, Xavier : »Une philosophie sans absolu. Maurice Merleau-Ponty«, in: Êtudes 310 (juillet-ao˜t-septembre 1961), S. 215 – 229. 28 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Vorbereitungsnotizen zur Vorlesung »Textes et commentaires sur la dialectique«. Montagskurs am CollÀge de France, Jänner bis April 1956. BibliothÀque Nationale, Paris, Dial-T& C [241] (5), cours du 19 mars 1956: »Wenn Gott Gott ist und nicht ein Idol, dann muss er verborgen sein, die Anwesenheit einer Abwesenheit.« 29 de Saint Aubert, Emmanuel: »›L’incarnation change tout‹. Merleau-Ponty critique de la ›th¦ologie‹«, in: Archives de philosophie 71/3 (automne 2008), S. 371 – 405, 392 [Übersetzung von H.B.].

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Gott wohl auf ewig außen vor, für uns als »Fleisch« überschneidet sich aber der Terminus Gott mit unseren Erfahrungsfeldern. Dieser positive Zugang darf aber nicht mit Überlegungen, wie sie etwa die klassischen Gottesbeweise anbieten, in Zusammenhang gebracht werden. Vielmehr »setzt Merleau-Ponty die Existenz Gottes niemals voraus, sondern findet im Menschen Gründe, ihn zu sehen [… letztlich auch deswegen,] um den Menschen selbst besser erfassen zu können«30. Eine Diskussion über mögliche oder unmögliche Beweisführungen bezüglich der Existenz Gottes hat für Merleau-Ponty im Feld der Philosophie überhaupt keinen Platz, er möchte auf der Ebene nur verhandelt wissen, dass man nach dem jeweiligen Verständnis fragt, wenn der Begriff Gott verwendet wird.31 Der tiefere Grund für einen möglichen menschlichen Zugang zu Gott im Bereich der menschlichen Erfahrung liegt in der von Merleau-Ponty entwickelten Anthropologie und Ontologie. Wann immer wir in unseren Überlegungen zwischen unterschiedlichen Begriffen Grenzen einziehen, so bleiben die daraus resultierenden Bereiche immer in vielfältiger Weise aufeinander bezogen beziehungsweise warten mit zahlreichen Überschneidungen auf. Diesen Umstand beschreibt Merleau-Ponty mit dem Ausdruck Chiasmus und als Schauplatz dieser mannigfaltigen Chiasmen taucht im Spätwerk die Bezeichnung »Fleisch« auf. »Das Fleisch ist nicht Materie, nicht Geist, nicht Substanz. Um es zu bezeichnen, bedürfte es des alten Begriffs ›Element‹ in dem Sinne, wie man ihn früher benutzt hat, um vom Wasser, von der Luft, von der Erde und vom Feuer zu sprechen, das heißt, im Sinne eines generellen Dinges, auf halbem Wege zwischen dem raumzeitlichen Individuum und der Idee, als eine Art inkarniertes Prinzip, das einen Seinsstil überall dort einführt, wo ein Teil davon zu finden ist. Fleisch ist in diesem Sinne ein ›Element‹ des Seins.«32 Das Fleisch als Feld von prinzipiellen Bezüglichkeiten und Chiasmen ist Garant für die Zugänglichkeit zu jedem, wie auch immer geartetem Phänomen, sei es nun ein irdisches oder ein himmlisches. Ganz gleich, wie man den Weg von Merleau-Pontys Hochschätzung der Inkarnation Gottes als historischem Ereignis zu seinem Entwurf einer Ontologie als »Fleisch« im Einzelnen interpretieren mag oder zu welchem roten Faden man sich dabei durchringen mag, die positive Kritik von Merleau-Ponty scheint im theologischen Diskurs noch nicht wirklich angekommen zu sein. Und 30 Ebd., S. 395. 31 Vgl. u. a. dazu den Diskussionsbeitrag von Merleau-Ponty in Ryle, Gilbert: »La ph¦nom¦nologie contre The Concept of Mind«, in: Cahier de Royaumont. La philosophie analytique (Philosophie IV). Paris 1962, S. 94: »[…] für einen Philosophen stellt sich die Frage, ob Gott existiert oder nicht, überhaupt nicht, oder ob die Proposition Gott existiert richtig oder falsch ist, sondern er will wissen, was man unter Gott versteht, was man sagen will, wenn man von Gott spricht.« [Übersetzung von H.B.]. 32 Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. Hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Lefort, Claude. Aus dem Französischen von Giuliani, Regula / Waldenfels, Bernhard. München 2004 [1986], S. 183 f.

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sei es nur, um Merleau-Pontys lange vor den postmodernen Nachdenkern über Religion aufgestellten Bemerkung, dass das Christentum »das auffälligste Sinnbild der Überwindung seiner selbst durch sich selbst«33 ist, als Zielpunkt anzuvisieren. Der Blick aufs Meer wäre jedenfalls wieder frei.

33 Merleau-Ponty, Maurice: »Überall und Nirgends«, in: Ders., Zeichen. Auf der Grundlage der Übersetzung von Schmitz, Barbara / Arndt, Hans Werner / Waldenfels, Bernhard unter Mitarbeit von Hand, Annika / Harion, Dominic kommentiert und mit einer Einleitung hg. von Bermes, Christian. Hamburg 2007, S. 206 f.

Hans Schelkshorn (Wien)

Albert Camus’ Appell an die Christen

Obwohl Camus in einer areligiösen Familie aufgewachsen ist, zeigt sich in allen Phasen seines Denkens eine intensive Auseinandersetzung mit dem Christentum, deren Wurzeln bis in seine Diplomarbeit über Christliche Metaphysik und Neoplatonismus (1936) zurückreichen.1 Die kontinuierliche Präsenz christlicher Motive sowohl in den literarischen als auch in den theoretischen Werken ist kein Zufall, sondern entspringt Camus’ geschichtsphilosophischer Deutung der abendländischen Zivilisation, die den »Übergang vom Hellenismus zum Christentum« als den »wahren und einzigen Wendepunkt der Geschichte«2 begreift. Im Folgenden werde ich jedoch weder Camus’ facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Christentum noch seine Kritik an der Moderne nachzeichnen. Ich möchte mich vielmehr in diesem Rahmen ausschließlich auf einen Vortrag im Dominikanerkloster von Latour-Maubourg aus dem Jahre 1946 beziehen, in dem Camus einige Erwartungen an die Christen formuliert, die mir im Hinblick auf die gegenwärtige Krise des Christentums in Europa äußerst bedeutsam erscheinen. Die Rede vor den Dominikanern, von der nur einige Auszüge unter dem Titel Der Ungläubige und die Christen3 erschienen sind, fällt in eine Umbruchszeit 1 Camus, Albert: »M¦taphysique chr¦tienne et Neoplatonisme« (diplome d’¦tudes sup¦rieures), in: ders., Essais. Hg. von Quilliot, Roger. Paris 1965, S. 1224–1310; dt.: Christliche Metaphysik und Neuplatonismus. Reinbeck bei Hamburg 1978. Zum areligiösen Klima seiner Kindheit in Algier vgl. Camus, Albert: Der erste Mensch. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 188: »Gott. Dieses Wort hatte Jacques in seiner ganzen Kindheit eigentlich nie gehört, und er selbst kümmerte sich nicht darum. Das geheimnisvolle und strahlende Leben genügte, um ihn ganz auszufüllen.« 2 Camus, Albert: Tagebücher 1935-1951. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 477. 3 Camus, Albert: Essais. Hg. von Quilliot, Roger. Paris 1965, S. 369–375; dt.: »Der Ungläubige und die Christen«, in: Camus, Albert: Fragen der Zeit. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 65–70 (im Folgenden abgekürzt: UC). Die Rede wurde am 1. Dezember 1946 gehalten, nicht, wie Camus in Actuelles I im Untertitel vermerkt hatte, im Jahr 1948. Camus hat den Text der Rede für die Publikation verändert und nur jene Teile zusammengestellt, die sich unmittelbar auf den Dialog mit den Christen beziehen. Vgl. dazu den editorischen Kommentar in der Neuausgabe des französischen Textes in: Camus, Albert: Œuvres complÀtes, II. 1944-1948. Paris

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innerhalb der Denkentwicklung von Albert Camus. Die Erfahrungen des 2. Weltkriegs haben Camus, wie bereits in den Briefen an einen deutschen Freund deutlich wird, die offenen Flanken seines Denkens des Absurden schmerzlich bewusst gemacht.4 Zwar war für Camus das Absurde stets Ausgangspunkt, keineswegs der Endpunkt seines Denkens.5 Dennoch blieb in Der Mythos von Sisyphos die Frage der Moral in einer merkwürdigen Schwebe. Das Absurde empfiehlt zwar nach Camus nicht das Verbrechen, da jedoch im Absurden »alle Erfahrungen gleichgültig sind«, ist auch die Erfahrung moralischer Pflicht »genauso berechtigt, wie jede andere«. Moral ist, wie Camus mit Andr¦ Gide festhält, letztlich eine »Laune (caprice)«.6 Der Terror des Nationalsozialismus und auch des Stalinismus haben Camus aus der von Nietzsche inspirierten ästhetischen Leichtigkeit im Umgang mit der Moral aufgerüttelt und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Fragen einer Begründung der Moral geführt. In den kurz nach dem Krieg in rascher Folge veröffentlichten Texten – Die Pest (1947), Der Belagerungszustand (1948), Die Gerechten (1949) und Der Mensch in der Revolte (1951) – steht jeweils die Problematik der Moral und der Rechtfertigung von Gewalt im Zentrum.7 Die Rede vor den Dominikanern fällt daher in eine Zeit, in der Camus bereits an seinem philosophischen Hauptwerk arbeitet und seinen zweiten großen Roman Die Pest eben in Druck gegeben hat.8 In Die Pest schildert Camus eine Auseinandersetzung zwischen dem katholischen Pater Paneloux und dem ungläubigen Arzt Rieux, der sich inmitten des allgegenwärtigen Todes mit aller Macht gegen das Leid aufbäumt und so viele

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2006, S. 1296–1298. Darüber hinaus haben die Herausgeber der neuen Gesamtausgabe neben dem von Camus veröffentlichten Text (ebd., S. 470–474) auch die unveröffentlichten Teile des Typoskripts, das von Dominikanern erstellt worden ist, zugänglich gemacht (ebd., S. 502–512). Vgl. dazu Camus, Albert: »Briefe an einen deutschen Freund«, in: ders., Fragen der Zeit. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 7–32; die Frage der Moral wird vor allem im vierten Brief aufgeworfen, ebd., S. 27–32. Bereits im Vorspann zu Der Mythos des Sisyphus stellt Camus unmissverständlich fest, dass »das Absurde – das bisher als Schlussfolgerung verstanden wurde – in diesem Essay als Ausgangspunkt betrachtet wird.« Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 10. Vgl. dazu ebd., S. 90. Camus hat diese Werke rückblickend der zweiten Schicht seines Werkes, in dessen Zentrum die »Affirmation« steht, zugeordnet, nach der Trilogie über das Absurde bzw. über die Negation, zu denen Der Mythos von Sisyphus, Der Fremde und Caligula gehören. Zum dritten Themenkreis über die Liebe sind aufgrund des frühen Todes nur einige kleinere Texte vorhanden, vor allem das Romanfragment Der erste Mensch, das bei seinem tödlichen Verkehrsunfall im Dezember 1960 in seiner Tasche gefunden wurde. Vgl. dazu Camus, Albert: Essais. Hg. von Quilliot, Roger. Paris 1965, S. 1610. Vgl. dazu Lottmann, Herbert R.: Camus. Eine Biographie. Hamburg 1986, S. 342: »DIE PEST wurde gedruckt, und so konnte sich Camus wieder anderen Projekten zuwenden. Im Dominikanerkloster von Paris hielt er einen Vortrag über das Thema L’INCROYANT ET LE CHRÊTIENS…«

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Menschen wie möglich zu heilen versucht. Vor diesem Hintergrund erscheint Camus’ Rede vor den Dominikanern als realgeschichtliche Fortsetzung der fiktiven Dialoge zwischen den Romanfiguren Paneloux und Rieux.9 Camus tritt nun selbst, d. h. nicht mehr unter der Maske eines Romanciers oder des Essayisten, vor die Christen und spricht wie Rieux bewusst als »Ungläubiger« zu den Dominikanern.10 Das Thema des Vortrags, nämlich die Frage »was die Ungläubigen… von den Christen erwarten«11 war von den Gastgebern vorgegeben worden. Die Bitte der Dominikaner, Erwartungen an die Christen zu äußern, war keineswegs selbstverständlich. Denn das Christentum war in seiner Geschichte oft ausschließlich von der Frage bestimmt, wie die eigene Lehre möglichst effektiv verbreitet werden kann. So standen in der berühmten Debatte zwischen Gin¦s de Sepffllveda und Bartolom¦ de Las Casas 1551 bekanntlich nicht Erwartungen der Indios an die Christen auf der Tagesordnung, sondern die Frage, ob die Indios überhaupt als vernünftige Wesen anerkannt werden können. Während im 16. Jahrhundert die Christen noch aus einer Position der Stärke den Ungläubigen entgegentraten, stellte sich die katholische Kirche seit der Französischen Revolution in einem fatalen Bündnis mit restaurativen Mächten gegen die Ideale der Aufklärung, einschließlich der Idee der Menschenrechte und der Demokratie. Vor diesem Hintergrund ist die Einladung der Dominikaner an Camus durchaus bemerkenswert, eine Einladung, in der bereits der Geist des II. Vatikanischen Konzils, der Geist der Öffnung auf die Moderne deutlich spürbar ist. Camus ist sich denn auch der Besonderheit der Situation durchaus bewusst und bedankt sich in den einleitenden Worten ausdrücklich für die »großzügige Gesinnung«12 der christlichen Gastgeber. Trotz der Aufforderung, Erwartungen zu formulieren, setzt Camus nicht einfach mit einem Forderungskatalog ein, sondern stellt zunächst seinen Ausführungen drei Grundsätze für einen Dialog zwischen Nichtgläubigen und Christen voran. Erstens gilt es nach Camus zu klären, welche Art von Erwartungen ein Ungläubiger redlicherweise an Christen stellen darf. Christen stehen, dies ist Camus bewusst, unter extrem hohen moralischen Ansprüchen, die über die 9 Camus hat sich in einem Brief an Pierre Borel ausdrücklich mit der Romanfigur des Dr. Rieux identifiziert: »Dr. Rieux ist es, der für mich steht«; zitiert nach Todd, Olivier : Albert Camus. Ein Leben. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 457. 10 In der von Camus nicht veröffentlichten Einleitung seines Vortrags stellt sich Camus fast wörtlich mit Aussagen von Rieux vor: »Puisque vous avez bien demander — un homme qui ne partage pas vous convictions de venir r¦pondre — la question … Mais je ne partage pas votre espoir quand je vois cet univers o¾ les enfants souffrent et meurent.« (Camus, Albert: Œuvres complÀtes, II. 1944-1948. Paris 2006 S. 502). 11 UC, 65. 12 UC, 65.

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Hingabe an die Armen und Ausgestoßenen bis hin zum Gebot der Feindesliebe reichen. Da es offenbar keine »Kleinigkeit« ist, Christ zu sein, wäre es nach Camus Ausdruck eines areligiösen Pharisäertums, wenn sich ein Ungläubiger dazu versteigen würde, »im Namen eines von außen gesehenen Christentums mehr von den Christen zu fordern als von sich selbst«13. Kurz: »Wenn jemand irgend etwas vom Christen fordern darf, dann nur der Christ selber.«14 Vor diesem Hintergrund nimmt Camus eine wichtige Präzisierung des Themas seines Vortrags vor. Da das Gebot der Redlichkeit Ungläubigen verbietet, den Christen ihre eigene Moral vor Augen zu halten, beschränkt Camus seine Erwartungen an die Christen von vornherein auf Pflichten, »deren Erfüllung heute von jedem Menschen gefordert werden muß, sei er nun Christ oder nicht.«15 In einem zweiten Schritt erläutert Camus seine eigene Rolle im Dialog mit den Christen. Camus tritt vor die Dominikaner zwar bewusst als Ungläubiger, jedoch nicht als kämpferischer Atheist. Da er sich »nicht im Besitz irgendeiner absoluten Wahrheit oder Botschaft fühle«, liege es ihm völlig fern, »die christliche Wahrheit« als »eine Illusion« zu entlarven. 16 Zugleich müsse er jedoch offen eingestehen, dass er der christlichen Wahrheit »nicht teilhaftig zu werden vermochte.«17 Kurz: Camus tritt den Christen in der Haltung sokratischer Skepsis gegenüber, eine Haltung, die sein Denken des Absurden von Anfang an getragen hat. Bereits in Der Mythos des Sisyphos hatte Camus sein Denken philosophiegeschichtlich präzise in die von Sokrates eröffnete Tradition endlicher Vernunft gestellt. Trotz seiner unstillbaren Sehnsucht nach dem Absoluten ist dem Menschen eine unmittelbare Einheit mit dem Sein (Parmenides) verwehrt, da mit der Behauptung der Einheit bereits eine Dualität gesetzt ist.18 In derselben Linie stellt sich Camus auch gegen Hegels objektiven Idealismus auf die Seite von Kant.19 Der erkenntnistheoretische Sinn des Absurden besteht daher in der 13 14 15 16

UC, 65. UC, 65. UC, 65. Vgl. dazu auch die bekannte Tagebuchnotiz vom 1.11.1954: »Ich lese oft, ich sei Atheist, ich höre oft von meinem Atheismus reden. Aber diese Worte sagen mir nichts, sie haben keinen Sinn für mich. Ich glaube nicht an Gott und ich bin kein Atheist.« Camus, Albert: Tagebücher. März 1951 – Dezember 1959, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 155. 17 UC, 65f. 18 Vgl. dazu Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 28f.: »Wenn wir den Abgrund zwischen Begehren und Erfüllung überspringen und mit Parmenides die Wirklichkeit des ›Einen‹ (wie immer es beschaffen sein möge) behaupten, dann geraten wir in den lächerlichen Widerspruch eines Geistes, der die totale Einheit behauptet und gerade durch diese Behauptung sein eigenes Anderssein und die Mannigfaltigkeit beweist, die er angeblich aufgehoben hat. Dieser weitere circulus vitiosus genügt, um unsere Hoffnung zu ersticken.« 19 Vgl. dazu ebd., S. 28: »›Alles Denken ist anthropomorph‹. so kann der Geist, der die Wirklichkeit verstehen will, sich erst dann zufrieden geben, wenn er sie auf Denkbegriffe

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Anerkennung der Endlichkeit menschlicher Vernunft. Die dem Menschen mögliche »Klarheit« entsteht nach Camus allein aus der Akzeptanz der Undurchsichtigkeit der Welt und seiner selbst. »Das Absurde ist die hellsichtige Vernunft, die ihre Grenzen feststellt.«20 In einer überraschenden Wende unterstreicht Camus die Ernsthaftigkeit seiner sokratischen Haltung, mit der er in ein Gespräch mit den Christen eintreten möchte, durch ein öffentliches Eingeständnis gegenüber Francois Mauriac. Unmittelbar nach der Beendigung des Krieges haben sich Camus und Mauriac, die beide im Widerstand engagiert waren, in eine verletzende Kontroverse über die Frage der Begnadigung der Kollaborateure verstrickt. Camus war unter dem Eindruck des Todes enger Freunde, die mit ihm in der Widerstandsgruppe Combat tätig waren, für eine harte Bestrafung der Kollaborateure, einschließlich der Todesstrafe, eingetreten. Besonders tief getroffen hatte ihn der Tod des jungen christlichen Dichters Ren¦ Leynaud, mit dem er literarisch und menschlich eng verbunden war. Leynaud wurde bei einer Razzia in Lyon verhaftet und, kurz bevor die NS-Truppen die Stadt verlassen mussten, hingerichtet. Mauriac plädierte hingegen für eine Politik der Vergebung, um die Nation wieder zu versöhnen.21 Camus gesteht vor den Dominikanern überraschenderweise ein, dass er nie aufgehört habe, über Mauriacs Worte nachzudenken und nun in aller Öffentlichkeit kundtun möchte, »daß Francois Mauriac grundsätzlich und in Bezug auf den genauen Gegenstand unseres Streits recht hatte.«22 Doch was war der genaue Gegenstand des Streits? Camus hatte Mauriac vorgeworfen, im Namen der göttlichen Gnade, d. h. einer Instanz, die nicht von allen Menschen geteilt wird, die Gerechtigkeit zu missachten. In diesem Sinn wendete sich Camus in einem Artikel vom 11.1.1945 mit beschwörenden Worten gegen Mauriac: »Bis zum letzten Augenblick werden wir eine göttliche Gnade ablehnen, die den Menschen die Gerechtigkeit verwehrt.«23 Für Camus liegt der Grund der Kontroverse nicht in unterschiedlichen Einschätzungen eines politischen Sachverhalts, sondern in dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen einem christlichen und einem säkularen Denken. »Ein Christ könnte denken,

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zurückgeführt hat … Wenn das Denken im Wechselspiel der Erscheinungen ewige Beziehungen entdecken würde, die diese Erscheinungen und sich selbst in einem einzigen Prinzip zusammenfassen könnten, dann könnten wir von einem Glück des Geistes sprechen, an dem gemessen der Mythos der Seligen nur ein lächerlicher Abklatsch wäre.« Ebd., S. 66 ( Vgl. ders.: Essais. Hg. von Quilliot, Roger. Paris 1965, S. 134). Vgl. dazu auch ebd., S. 56: »Aber wenn ich die Grenzen der Vernunft anerkenne, so leugne ich deshalb nicht die Vernunft selber, sondern erkenne ihre relative Macht an. Ich will mich nur auf dem Mittelweg halten, auf dem der Verstand klar bleiben kann.« Zur Kontroverse zwischen Camus und Mauriac vgl. Todd, Olivier : Albert Camus. Ein Leben. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 404–410; H.M. Lottmann, Camus, S. 284ff. UC, 66. Zitiert nach Todd, Olivier : Albert Camus. Ein Leben. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 407.

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daß die menschliche Gerechtigkeit immer ergänzt wird durch die göttliche Gerechtigkeit und daß deshalb Nachsicht eher angebracht wäre […] wir haben beschlossen, die menschliche Gerechtigkeit mit ihren schrecklichen Unvollkommenheiten zu akzeptieren, und wir sind nur darauf bedacht, sie durch eine Aufrichtigkeit zu korrigieren, die wir verzweifelt bewahren.«24 Unter dem Schock über zweifelhafte Urteile sowohl in der Provinz als auch in Paris gegen Kollaborateure hatte Camus jedoch in kurzer Zeit seine Haltung verändert und sich in der Folge in aller Entschiedenheit gegen die Todesstrafe ausgesprochen, eine Haltung, die später in dem Essay Betrachtungen zur Todesstrafe (1957) vertieft und zu einem zentralen Element in Camus’ Moral wird.25 In Camus’ Ablehnung der Todesstrafe fließen neben dem Einwand gegen die angebliche Abschreckungswirkung zwei Argumentationsstränge zusammen. Erstens appelliert Camus an einen tief in uns sitzenden Ekel vor dem »administrativen Mord«, einen Ekel, der seinen Vater, nachdem er der Hinrichtung eines Mörders beiwohnte, erfasst hatte. Sein Vater musste sich nach Camus am nächsten Tag mehrmals übergeben und ging niemals mehr zu einer Hinrichtung.26 Zweitens weist Camus die Todesstrafe mit einem sokratischen Argument zurück. Die Todesstrafe setzt vollkommene Gerechtigkeit voraus, zu der wir jedoch weder im Urteilen noch im Handeln fähig sind. Daher kann sich nach Camus keiner »zum absoluten Richter aufwerfen … denn keiner von uns kann den Anspruch erheben auf absolute Unschuld. Die Todesstrafe zerstört die einzige unbestreitbare Solidarität der Menschen, die gemeinsame Front gegen den Tod«27. Vor diesem Hintergrund wird nun auch der kryptische Hinweis von Camus, dass sein Zugeständnis an Mauriac über die Bestrafung der Kollaborateure zugleich seine »Ansicht über das Zwiegespräch zwischen Gläubigen und Ungläubigen verrät«28, verständlich. Denn Mauriac hat Camus zur Einsicht in eine allgemeine Menschenpflicht, nämlich die Ablehnung der Todesstrafe, geführt, eine Menschenpflicht, die sich Camus jedoch ohne Bezug auf die christliche Hoffnung, d. h. ohne sich zum Christentum zu bekehren, mit eigenen Argumenten zu eigen macht. Kurz: Christen und Ungläubige können sich im Dialog über elementare Fragen der Moral und des Rechts gegenseitig korrigieren, inspirieren und selbst zu einem 24 Vgl. dazu Camus’ Artikel in Combat vom 20.10.1944, in: Camus, Albert: Essais. Hg. von Quilliot, Roger. Paris 1965, S. 1532; dt. Übersetzung nach Lottmann, Herbert R.: Camus. Eine Biographie. Hamburg 1986, S. 285. 25 Vgl. Todd, Olivier : Albert Camus. Ein Leben. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 407–411; Camus, Albert: »Betrachtungen zur Todesstrafe«, in: ders.: Fragen der Zeit. Reinbek bei Hamburg, 1997, S. 103–156. 26 Vgl. dazu Camus, Albert: Der erste Mensch. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 73f. 27 Camus, Albert: »Betrachtungen zur Todesstrafe«, in: ders.: Fragen der Zeit. Reinbek bei Hamburg, 1997, S. 145. 28 UC, 66.

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Konsens finden, ohne einander zur Aufgabe ihrer jeweiligen Lebensform zu zwingen. Den letzten Aspekt stellt Camus als dritten Grundsatz für einen Dialog zwischen Christen und Ungläubigen eigens heraus: »Ich werde nicht versuchen, irgend etwas an meinen oder Ihren Gedanken (so weit ich sie beurteilen kann) zu ändern, um eine uns allen wohlgefällige Versöhnung der Standpunkte herbeizuführen. Vielmehr möchte ich Ihnen heute sagen, dass die Welt ein echtes Zwiegespräch nötig hat«, in dem Christen und Nichtchristen jeweils »das bleiben, was sie sind, und […] wahr sprechen.«29 Kurz: »die heutige Welt verlangt« – wie Camus nochmals betont – »von Christen, dass sie Christen bleiben.«30 Auch wenn Camus den dritten Grundsatz für »einfach und eindeutig« hält, so sind gerade heute manche Formulierungen durchaus erläuterungsbedürftig und gegen mögliche Missverständnisse abzugrenzen. Denn die Maxime, die Differenzen nicht durch eine oberflächliche Harmonisierung der Standpunkte zu überdecken, sondern ungeschminkt hervorzukehren, wird heute oft als Alibi für die stillschweigende Suspendierung eines ernsthaften Dialogs zwischen Gläubigen und Ungläubigen ins Spiel gebracht. Insbesondere antimodernistische christliche Gruppen, die eine bestimmte historische Gestalt des Christentums absolut setzen, bestehen auf der angeblich unüberbrückbaren Kluft zwischen christlichem und säkularem Weltbild; auch in der Ökumene werden heute von Kirchenvertretern eher die Differenzen als die Gemeinsamkeiten hervorgekehrt. Aber auch im säkularen Raum ist unter dem Banner des Postmodernismus in den letzten Jahrzehnten eine Tendenz mächtig geworden, in der die Inkommensurabilität der Kulturen und Religionen offen propagiert und der Konsens als ein »veralteter Begriff« (Lyotard) denunziert wird. In deutlicher Abgrenzung zu traditionalistischen und postmodernistischen Strömungen der Gegenwart fordert Camus ein »echtes Zwiegespräch« zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Darin hat zwar jeder das Recht, zu bleiben, was er ist. Da jedoch ein echtes Zwiegespräch zugleich die Pflicht enthält, wahr zu sprechen, ist keineswegs garantiert, dass die Gesprächspartner tatsächlich bleiben, was sie anfangs gewesen sind. Im Gegenteil, ernsthafte Dialoge können zu tiefgreifenden Wandlungen der je eigenen Grundorientierungen oder, wie Camus selbst in Bezug auf Mauriac zugestanden hat, zumindest zur Revision einzelner Urteile führen. Mehr noch: Ein echtes Zwiegespräch legt den Gesprächspartnern bestimmte Haltungen auf, insbesondere die Bereitschaft zur Infragestellung eigener Wahrheitsansprüche. Denn zwischen unhinterfragten Absolutheitsansprüchen kann es keinen Dialog, sondern allenfalls Strategien der Übermächtigung oder der bloßen Koexistenz geben. Ein Dialog ist daher nur möglich, wenn alle Par29 UC, 66. 30 UC, 67.

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teien die sokratische Einsicht in die Endlichkeit der Vernunft akzeptieren. Camus hat denn auch in Der Mythos von Sisyphos bestimmte Selbstauslegungen des christlichen Glaubens scharf kritisiert. Insbesondere Kierkegaards Deutung des Glaubens unter der Kategorie des »Sprungs«, in der der Glaube als rational nicht mehr ausweisbare Hinnahme der paradoxen Wahrheit der Menschwerdung Gottes verstanden wird, mündet nach Camus in einen »philosophischen Selbstmord«, d. h. in die Negation der eigenen Identität als eines endlichen Vernunftwesens. Die Flucht vor der Endlichkeit menschlicher Rationalität ist allerdings, wie Camus ebenfalls bereits in Der Mythos von Sisyphos betont, nicht bloß eine Gefahr für religiöse, sondern auch für säkulare Menschen. Denn es gibt nicht nur einen Sprung in eine religiöse Irrationalität, sondern auch in die absolute Vernunft, wofür nach Camus Husserl und Hegel stehen.31 Doch selbst unter der keineswegs selbstverständlichen Annahme, dass religiöse und säkulare Menschen eine kritische Distanz zu ihren eigenen Wahrheitsansprüchen aufbringen, stellt sich die Frage, warum die Welt ein Gespräch zwischen säkularen und religiösen Menschen, »nötig« hat. Anders formuliert: Worüber müssen nach Camus Ungläubige und Christen genauerhin in einen Dialog eintreten? Auf den ersten Blick scheint Camus’ Intention auf eine Position zu zielen, die in der gegenwärtigen Debatte über das Verhältnis von Säkularität und Religion von John Rawls vertreten wird. Eine postmetaphysische Theorie der Gerechtigkeit lässt nach Rawls umfassende Lehren über das gute Leben oder selbst der Rationalität, wie sie sind. Die Idee der Gerechtigkeit entspringt allein unserem politischen Selbstverständnis als Bürger, das in einer demokratischen Kultur verankert ist. Das Ziel der Theorie der Gerechtigkeit besteht nach Rawls vor allem darin, einen Raum für die Pluralität hic et nunc unvermittelbarer Formen des guten Lebens auf der Basis des Fairnessprinzips zu eröffnen.32 In dieser Perspektive scheint sich sachlich auch Camus’ Kritik an dem christlichen Existenzphilosophen Gabriel Marcel zu bewegen. Gabriel Marcel hatte wenige Wochen zuvor die Aufführungen von zwei Theaterstücken Jean-Paul Sartres, nämlich Die respektvolle Dirne und Tote ohne Begräbnis scharf verurteilt. Indem Sartre die Zuschauer der Folter und dem Geschlechtsverkehr assistieren lässt, wird nach Gabriel Marcel eine unantastbare Forderung der Kunst verraten.33 Camus’ Antwort an Gabriel Marcel, der im Übrigen in Latour-Maubourg unter den Anwesenden war, lässt nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: »Gabriel Marcel will nämlich absolute Werte verteidigen, wie etwa das Schamgefühl und 31 Vgl. dazu Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 52ff. (Kierkegaard); S. 61ff. (Husserl). 32 Vgl. dazu Rawls, John: Politischer Liberalismus. Frankfurt am Main 1998. 33 Vgl. dazu Camus, Albert: Œuvres complÀtes, II. 1944-1948. Paris 2006, S. 1295f.

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die göttliche Wahrheit des Menschen, während es darum geht, die paar vorläufigen Werte zu bewahren, die ihm gestatten werden, eines Tages und völlig unbehelligt für diese absoluten Werte weiterzukämpfen.«34 Kurz: Camus erhebt gegenüber Gabriel Marcel und damit den Christen insgesamt die Forderung, auf der politischen Ebene ihre religiösen Wahrheitsansprüche einzuklammern und – in sachlicher Übereinstimmung mit Rawls – eine Identität als Bürger einer demokratischen Ordnung auszubilden.35 Doch der Dialog zwischen Gläubigen und Ungläubigen erschöpft sich für Camus thematisch nicht in der Idee einer politischen Gerechtigkeit, sondern umfasst, wie am Beginn der Rede bereits angekündigt worden ist, auch allgemeinmenschliche, also nicht nur politische Pflichten. In der Klärung grundlegender moralischer Haltungen und Normen geraten nun aber nach Camus unumgänglich auch Kernschichten der Grundorientierungen von religiösen und säkularen Menschen zur Disposition. Denn die Identität als moralisches Subjekt lässt sich von den umfassenden Lehren des guten Lebens nicht so leicht ablösen wie die Zustimmung zu einigen vorläufigen Werten einer demokratischen Willensbildung. In diesem Sinn umreißt Camus nun in aller Offenheit seine eigene Position in dem anvisierten Dialog mit den Christen, in der sowohl die Konvergenzen, aber auch die Differenzen in unmissverständlicher Weise zum Ausdruck gebracht werden: »Ich werde also nicht versuchen, mich vor Ihnen als Christ zu gebärden. Ich teile mit Ihnen das Grauen vor dem Bösen. Aber Ihre Hoffnung teile ich nicht und werde nie aufhören, gegen diese Welt zu kämpfen, in der Kinder leiden und sterben.«36 Die Selbstpositionierung von Camus im Dialog mit den Christen enthält drei Elemente. Im ersten Schritt hebt Camus das Gemeinsame hervor, nämlich das Ernstnehmen des Bösen. Dieser Hinweis ist nicht bloß eine höfliche Geste, sondern zielt ins Zentrum von Camus’ Denken. Denn Camus beschwört zwar immer wieder das griechische Denken, das im Unterschied zur christlichen Verabsolutierung der Geschichte, die sich in den neuzeitlichen Fortschrittsideologien fortsetze, die Natur als Kosmos begreife und der entfesselten Dynamik des Menschen ein unverrückbares Maß setze. Zugleich ist Camus jedoch bewusst, dass das Christentum die Aporetik menschlichen Daseins in einer Tiefe ausgelotet hat, die dem griechischen Denken letztlich verschlossen blieb. Bereits in der Analyse des Absurden stützte sich Camus immer wieder auf christliche Autoren, insbesondere auf Pascal. Auch am Ende der Rede vor den Dominikanern bekennt Camus freimütig, dass er sich »ein wenig wie Augustinus vor 34 UC, 68. 35 Gabriel Marcel hat im Übrigen Camus in der anschließenden Diskussion recht gegeben, ebd., S. 1295. 36 UC, 66.

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seiner Bekehrung« fühle, als er sagte: ›ich forschte nach dem Ursprung des Bösen und blieb darin befangen.‹»37 Im zweiten Schritt verweist Camus auf eine unüberbrückbare Differenz, die ihn als Ungläubigen von den Christen trenne, nämlich auf den Mangel an Hoffnung auf eine jenseitige Erlösung des Menschen. Diese Haltung ist zwar in Der Mythos von Sisyphos bereits in aller Klarheit herausgestellt worden, dennoch scheint Camus in der Rede vor den Dominikanern eine nicht unbedeutende Revision seiner bisherigen Stellung gegenüber dem Christentum vorzunehmen. Denn die Ablehnung der christlichen Jenseitshoffnung war für Camus Konsequenz seiner Konzeption eines vernunftbestimmten Lebens, in der die sokratische Maxime, jeweils jenem Logos zu folgen, der sich im Gespräch als der stärkste erweist, mit Descartes’ Postulat zweifelsfreier Klarheit verschärft wird. In diesem Sinn hatte Camus in Der Mythos von Sisyphos die sokratische Wahrheitssuche mit dem »Gebot« verknüpft: »mit dem auskommen, was unmittelbar evident ist«38, ein Gebot, das gegenüber den Zumutungen christlicher Dogmatik mit aller Entschiedenheit verteidigt wird: »An einem bestimmten Punkt seines Wegs wird der absurde Mensch aufgerufen. Der Geschichte fehlt es weder an Religionen noch an Propheten, selbst ohne Götter. Man fordert ihn auf, zu springen. Er kann lediglich antworten, daß er nicht richtig begreift, daß dies nicht evident ist. Er will nur das tun, was er richtig begreift. Man versichert ihm, daß das die Sünde des Hochmuts sei – aber er versteht den Begriff Sünde nicht; daß ihn am Ende vielleicht die Hölle erwartet – aber er hat nicht genug Phantasie, um sich diese sonderbare Zukunft vorzustellen; daß er das ewige Leben verliere, aber das scheint ihm belanglos … So fordert er von sich selbst, nur mit dem zu leben, was er weiß, sich nur mit dem einzurichten, was ist, und nichts einzuschalten, was nicht gewiß ist. Man gibt ihm zur Antwort, nichts sei gewiß. Aber das ist immerhin eine Gewißheit. Mit ihr hat er es zu tun: er will wissen, ob es möglich ist, unwiderruflich (sans appel) zu leben.«39

Ein Leben im Sinne der sokratischen Wahrheitssuche schließt zwar die Gottesfrage nicht per se aus. Camus fügt daher der These – »Das Absurde, der metaphysische Zustand des bewußten Menschen, führt nicht zu Gott« – die Anmerkung hinzu: »Ich habe nicht gesagt ›schließt Gott aus‹, was sich erst 37 UC, 69. Dies hat Camus in der Diskussion nochmals wiederholt. Auf die Frage eines Revolutionärs: »Ich bin der Gnade teilhaftig geworden, aber Sie, Monsieur Camus, ich sage es Ihnen in aller Demut, nicht. Camus’ einzige Antwort darauf ist jenes Lächeln, […] aber etwas später sagt er : ›ich bin euer Augustinus vor der Bekehrung. Ich schlage mich mit dem Problem des Bösen herum und finde keinen Ausweg.‹« (Todd, Olivier : Albert Camus. Ein Leben. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 457). 38 Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 81. 39 Ebd., S. 71f.

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bestätigen müßte.« 40 Dennoch ist unübersehbar, dass in Der Mythos des Sisyphos die christliche Jenseitshoffnung als illegitimer Sprung aus dem Horizont endlicher Vernunft, d. h. als philosophischer Selbstmord, zurückgewiesen wird. Von dieser Position rückt nun Camus in der Rede an die Dominikaner offenbar ab. Denn seine Forderung nach einem Gespräch zwischen Ungläubigen und Christen macht nur Sinn, wenn zumindest die Möglichkeit zugestanden wird, dass die Hoffnung auf eine jenseitige Vollendung des Menschen nicht per se in einem Widerspruch zur sokratischen Einsicht in die Grenzen menschlicher Vernunft stehen muss. Die Verschiebung in Camus’ Verhältnis zum Christentum dürfte einerseits durch persönliche Begegnungen und freundschaftliche Beziehungen zu Christen wie vor allem zu Ren¦ Leynaud, andererseits aber auch durch die Auseinandersetzung mit theologischen Werken, wie etwa mit Jean Guittons »Porträt von M. Pouget«, vorbereitet worden sein.41 Ich werde darauf zurückkommen. Im dritten Moment der Beschreibung seines eigenen Standortes artikuliert Camus eine scharfe Kritik am Christentum, in der wir fast wörtlich die Stimme von Dr. Rieux hören: – ich werde »nie aufhören, gegen diese Welt zu kämpfen, in der Kinder leiden und sterben«. Camus’ Kritik richtet sich gegen eine hyperaugustinische Theologie, in der im Namen eines gütigen Schöpfergottes und der Hoffnung auf eine jenseitige Vollendung des Menschen eine quietistische Haltung gegenüber Leid und Unrecht propagiert wird. In diesem Sinn lässt Camus Pater Paneloux, einen Augustinus-Spezialisten, den vom Tod bedrohten Bürgern von Oran predigen, dass sie die Pest als eine Strafe Gottes für die Lauheit ihres christlichen Lebens demütig hinzunehmen haben: »›Liebe Brüder, ihr seid im Unglück, liebe Brüder, ihr habt es verdient.‹«42 Die Pest widerspreche nicht der Liebe Gottes, sie sei vielmehr eine pädagogische Maßnahme Gottes, mit der die Verblendeten und Hochmütigen zur Umkehr bewegt werden sollen: »Jetzt endlich wißt ihr, dass man zum Wesentlichen kommen muß.«43 Camus stützte sich in der literarischen Gestaltung der ersten Predigt von Paneloux auf biblische Texte, auf Schriften der Kirchenväter und auch auf eigene Erinnerungen an Predigten. So misst Augustinus selbst dem Tod von Kindern einen pädagogischen Wert zu, insofern dadurch die Eltern zum Glauben aufgerüttelt werden können.44 In den theologischen Hauptsträngen nach dem 2. Vatikanischen 40 Ebd., S. 56. 41 Auch Quilliot, der Herausgeber der Essais von Camus, verweist darauf, dass sich während des 2. Weltkrieges Camus’ Einstellung gegenüber dem Christentum verändert hat. Vgl. dazu Camus, Albert: Essais. Hg. von Quilliot, Roger. Paris 1965, S. 1596: »Il est certain que la guerre a modifi¦ les reactions de Camus — l’¦gard du christianisme.« 42 Camus, Albert: Die Pest. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 109. 43 Ebd., S. 112. 44 Vgl. dazu Augustinus: De libero arbitrio III, 68.

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Konzil sind das Theologoumenon vom Leid als verdientem Strafgericht, dem in der Bibel bereits im Buch Hiob und im Neuen Testament (Joh 9,1-3) widersprochen wird, und die Lehre von der göttlichen Prüfung zurückgedrängt worden.45 Camus’ Kritik trifft daher vor allem die vorkonziliare Theologie. In der jüngsten Vergangenheit sind wir allerdings Zeugen einer neuerlichen Wende geworden. Antimodernistische christliche Gruppen, ob evangelikale Christen oder katholische Traditionalisten, deuten Seuchen und Naturkatastrophen wieder als göttliche Interventionen. Aids und selbst ein Hurrikan werden in zynischer Weise als Strafgericht für Homosexualität und sexuelle Promiskuität verkündet.46 Kurz: Pater Paneloux predigt noch immer! Eine christliche Theologie, die das menschliche Leid durch eine göttliche Logik rechtfertigt und quietistisch hinnimmt, verträgt sich nach Camus – das ist ein zentrales Thema seiner Rede an die Christen – nicht mit den Pflichten, die wir heute als Menschen zu erfüllen haben. Anders als Rawls lässt Camus die umfassenden Lehren religiöser Bürger keineswegs unangetastet, solange gewisse demokratische Spielregeln nicht verletzt werden, sondern greift bestimmte Auslegungen des Christentums frontal an. So beteuert Camus ganz im Sinne der Romanfigur Rieux in emphatischer Weise gegenüber den Dominikanern, dass er nicht aufhören werde, »gegen diese Welt zu kämpfen, in der Kinder leiden.«47 Kurz: Eine christliche Lehre, die den Kampf gegen Leid und Unrecht schwächt statt bestärkt, verstößt nach Camus gegen eine fundamentale Menschenpflicht. Darauf wird Camus nochmals zurückkommen. Nachdem die drei Grundsätze für einen ernsthaften Dialog vorgestellt worden sind, geht Camus zu den von ihm erbetenen Erwartungen an die Christen über, die in zwei Gruppen unterteilt werden. Zunächst bringt Camus einige Erwartungen im Hinblick auf das Verhalten der Christen gegenüber den politischen Mächten vor, im zweiten Teil, der mit der Frage eingeleitet wird »Was können nun die Christen für uns tun?«48, geht es um das Verhältnis der Christen zu säkularen Bürgern im allgemeinen. Den unterschiedlichen Erwartungen liegt, wie sich zeigen wird, überraschenderweise eine einzige Forderung zugrunde, nämlich die Forderung, dass Christen »wahr sprechen« – eine Erwartung, die,

45 Vgl. dazu Greipel, Josef R.: Die existentielle Problematik des Leidens im Werk von Albert Camus aus theologischer Sicht. Freiburg / Basel / Wien 2006, S. 105ff. 46 In Österreich hat Pfarrer Dr. Wagner, der beinahe als Weihbischof installiert worden wäre, die Vermutung ausgesprochen, dass die Verwüstung von New Orleans durch den Hurrikan Katrina 2005 eine Strafe Gottes für die Bordellstadt sein könnte. Weiters stellte er eine Beziehung zwischen dem Erdbeben in Haiti und dem dort verbreiteten Voodoo-Kult her. Vgl. dazu http://www.nachrichten.at/nachrichten/politik/landespolitik/art383,329235. 47 UC, 66. 48 UC, 68.

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wie Camus am Anfang der Rede bereits klargestellt hatte, keine spezifisch christliche, sondern eine allgemeinmenschliche Pflicht ist. Im ersten Schritt fragt Camus nach dem Wahrsprechen von Christen im Kontext totalitärer Herrschaft, konkret des Faschismus und des Stalinismus. Camus bekennt, dass er als Ungläubiger während der Nazi-Herrschaft auf ein klares Wort des Papstes gewartet, es jedoch nicht vernommen habe. Inzwischen sei ihm erklärt worden, dass Rom in der Enzyklika »Mit brennender Sorge« (1937) durchaus in kritischer Weise zum NS-Regime Stellung genommen habe. Doch die Sprache der Enzyklika war nach Camus keine klare Sprache. »Die Verdammung war ausgesprochen worden, und sie wurde nicht verstanden!«49 Darüber hinaus ist die Haltung der katholischen Kirche durch unheilige Allianzen mit faschistischen Regimen (Mussolini, Franco, Ustascha-Regime, Dollfuß u. a.) um ihre Kraft gebracht worden. An dieser Stelle ringt sich Camus zu extrem harten Worten durch, deren präziser Sinn erst vor dem Hintergrund der anfangs erwähnten Kolonialdebatte des 16. Jahrhunderts verständlich wird. In der Einleitung von Der Mensch in der Revolte deutet Camus an, dass sich in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts die koloniale Gewalt, die sich in immer neuen Exzessen seit dem 15. Jahrhundert in der außereuropäischen Welt entladen hatte, plötzlich nach Innen kehrt. »Die außergewöhnliche Geschichte, die hier heraufbeschworen wird, ist« – so Camus – »die Geschichte von Europas Hochmut.«50 Das uns heute bedrängende Problem sei daher nicht mehr die Barbarei bislang unbekannter Völker, vielmehr sei Europa selbst durch den Faschismus und den Stalinismus in die tiefste Barbarei oder – in der Sprache Sepffllvedas – auf eine tierische Existenzform abgesunken. In diesem Sinne müssen die harten Worte Camus’ – »Wenn ein spanischer Bischof politische Hinrichtungen segnet, ist er kein Bischof mehr sondern ein Hund.« 51 – verstanden werden. In affirmativen Worten lautet somit Camus’ Forderung: »und ich warte darauf, daß sich die Menschen vereinigen, die keine Hunde sein wollen und die entschlossen sind, den Preis zu zahlen, den es kostet, damit der Mensch mehr ist als der Hund.«52 Zur Frage nach den Verstrickungen der christlichen Kirchen mit faschisti49 UC, 67. 50 Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 17f. Vgl. dazu ebd., S. 210: »Es ist verblüffend festzustellen, daß Grausamkeiten, die an diese Exzesse erinnern können, in den Kolonien (Indien 1875, Algerien 1943 usw.) von europäischen Völkern begangen wurden, die in Wirklichkeit dem gleichen irrationalen Vorurteil der rassischen Überlegenheit gehorchten.« 51 UC, 67. In der Rede vor den Dominikanern dürfte Camus von einem »assassin/Mörder« gesprochen haben, die Metapher »Hund« scheint von Camus für die Publikation eingefügt worden zu sein. (Vgl. dazu Camus, Albert: Œuvres complÀtes, II. 1944-1948. Paris 2006, S. 1295). 52 UC, 67.

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schen Systemen liegt inzwischen eine Fülle von historischen Studien vor. Die Frage nach Schuld oder Mitschuld unserer Väter und Großväter ist gerade in Österreich mit Sachlichkeit und ohne Tabus aufzuarbeiten. Zugleich müssen wir, d. h. die Generation, die nach dem Krieg geboren worden ist, der Versuchung zur Selbstgerechtigkeit widerstehen und unsere Wachsamkeit zugleich auf die aktuellen Gefahren ausrichten. Ich möchte hier auf das Erstarken der Neuen Rechten und die zunehmenden Aushöhlungen des demokratischen Rechtsstaats in zahlreichen Staaten Europas hinweisen. Inmitten der gesellschaftlichen Verwerfungen, die durch die neoliberale Ära in den letzen Jahrzehnten entstanden sind, haben neofaschistische und auch offen faschistische Parteien die Bühne der politischen Auseinandersetzung betreten und bereits Brücken zu antimodernistischen christlichen Gruppen geschlagen. Darüber hinaus ist der neofaschistische Ungeist der Fremdenfeindlichkeit längst in bürgerliche und sozialdemokratische Parteien eingedrungen. Im allgegenwärtigen Nebel von Verharmlosungen und stillschweigenden Übernahmen neofaschistischen Gedankengutes, die sich öffentlich in einer schrillen Ausländerund Islamhetze manifestieren, gewinnt Camus’ Appell an die Christen eine bedrängende Aktualität: »Die Welt erwartet von den Christen, dass sie den Mund auftun, laut und deutlich, und ihre Verdammung ganz unmissverständlich aussprechen, damit nie auch nur der geringste Zweifel im Herzen des einfachsten Mannes zu keimen vermag.«53 Im zweiten Schritt bringt Camus Erwartungen für einen Dialog zwischen Christen und säkularen Bürgern zur Sprache, die mit einem eindringlichen Appell eröffnet werden. Die Christen sollten – so Camus sichtlich genervt – endlich »das nichtige Gezänk einstellen, wobei in erster Linie der Streit um den Pessimismus zu nennen wäre.«54 Im Hintergrund dieses Appells steht eine bestimmte christliche Arroganz, die sich als Hort der moralischen Quellen der modernen Gesellschaft wähnt, die durch den Atheismus bzw. den nihilistischen Relativismus der Moderne preisgegeben worden seien. Im Ausgang von der Diagnose des modernen Nihilismus wird schließlich die Forderung erhoben, die christliche Moral als Grundlage für die staatliche Gesetzgebung auch rechtlich durchzusetzen. In diesem Kontext steht die bereits erwähnte Kritik Camus’ an Gabriel Marcel. Wer im Namen absoluter Werte die Aufführung eines Theaterstückes eines atheistischen Autors wie Sartre zu verhindern suche, verkennt nach Camus die moralische – keineswegs nihilistische – Grundlage eines demokratischen Rechtsstaates, die auf äußerst anspruchsvollen Haltungen, nämlich Dialog und Toleranz, aufbauen. Darüber hinaus weist Camus auch direkte Angriffe auf sein Denken zurück. 53 UC, 67. 54 UC, 68.

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Aufgrund seiner Absage an die Hoffnung auf eine jenseitige Erlösung des Menschen und der Insistenz, dem Absurden treu zu bleiben, ist Camus von christlichen Gruppen immer wieder ein extremer Pessimismus und auch Nihilismus vorgeworfen worden.55 Doch Camus hat sich niemals als ein Philosoph oder Prophet des Absurden verstanden. Mehr noch: In dem Versuch, auf der absurden Lage des Menschen eine Philosophie aufbauen zu wollen, besteht nach Camus gerade die Schwäche der Existenzphilosophie. Denn die Not des Menschen eigne sich nicht zum Stoff für eine »Metaphysik«.56 Camus’ Denken zielt daher von Anfang an auf eine Überwindung oder eher eine Verwindung des Absurden, in der nicht nur der Selbstmord, sondern, wie in Der Mensch in der Revolte endgültig deutlich wird, auch der moralische Nihilismus als inadäquate Haltungen gegenüber der absurden Grundsituation des Menschen zurückgewiesen werden. Camus geht allerdings in der Rede vor den Dominikanern auf die positiven Perspektiven seines Denkens nicht näher ein, sondern kehrt gleichsam den Spieß um und wirft in einer rhetorischen Geste nun selbst dem Christentum einen unerträglichen Pessimismus vor: »Nicht ich habe […] die Verdammung der ungetauften Kinder ausgesprochen. Nicht ich habe behauptet, der Mensch sei der Selbsterlösung unfähig und besitze im Abgrund seiner Erniedrigung einzig die Hoffnung auf die Gnade Gottes.«57 In diesem Zusammenhang wird auch der Vorwurf der Marxisten, Camus’ Denken münde in einen quietistischen Pessimismus zurückgewiesen, obwohl dies nicht das Thema des Vortrags ist. Auch der marxistische Optimismus hat nach Camus den Menschen zu einem unbedeutenden Moment einer Geschichtsdialektik degradiert – »letzten Endes wirken die schicksalhaften ökonomischen Gesetze dieser Welt fürchterlicher als die göttlichen Launen.« (UC, 68). Schließlich fasst Camus sein Verhältnis zum Christentum in der oft zitierten Formel zusammen, die sich bereits in einer Tagebuchnotiz von 1945 findet: »Das Christentum ist in bezug auf den Menschen pessimistisch, aber in bezug auf das Los der Menschheit optimistisch. Nun gut! Ich sage, dass ich in bezug auf das Los der Menschheit pessimistisch bin, aber optimistisch in bezug auf den Menschen.«58 Camus weiß, dass dies eine plakative Gegenüberstellung ist. Denn auch die christliche Erbsündenlehre enthält abseits biologistischer oder leibfeindlicher Verzerrungen eine eminent 55 Vgl. dazu Camus, Albert: »Pessimismus und Mut«, in: ders.: Fragen der Zeit. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 55–58. 56 Vgl. dazu Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 10: »Man wird hier lediglich die Beschreibung eines geistigen Gebrechens im Reinzustand vorfinden. Keine Metaphysik, kein Glaube werden zunächst mit ihm vermengt sein.« 57 UC, 68. 58 UC, 68. Vgl. dazu Camus, Albert: Tagebücher 1935-1951, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 326.

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realistische Sicht über die Grenzen autonomer Selbstbestimmung, wie Camus nach dem 2. Weltkrieg gegen seine frühen rousseauistischen Tendenzen immer klarer bewusst wird. In den Betrachtungen zur Todesstrafe heißt es unmissverständlich: »Wir haben in unserem Leben alle Böses getan, selbst wenn dieses Böse verborgen blieb und nicht unter die Gesetze fiel. Es gibt keine gerechten Menschen, sondern nur Herzen, die mehr oder weniger arm sind an Gerechtigkeit.«59 Umgekehrt ruht auch sein Optimismus in Bezug auf den Einzelnen, wie Camus sofort klarstellt, nicht auf einem überschwänglichen Glauben an den Menschen oder auf einem bestimmten Ideal von Humanität, sei es Nietzsches Übermensch oder der neue Mensch des Sozialismus. Im Sinne der sokratischen Haltung bewahrt nach Camus der Mensch seine Menschlichkeit allein durch eine »Unwissenheit, die bestrebt ist, nichts zu verneinen.«60 In dieser Formel kommt wohl Camus’ Haltung wohl am präzisesten zur Sprache. Nicht eine Philosophie des Absurden ist sein Ziel, sondern eine sokratische Klarheit, die sowohl die Absurdität des menschlichen Daseins ernst nimmt, insbesondere die Hinfälligkeit und Sterblichkeit des Menschen, andererseits aber auch den unstillbaren Willen zum Leben und zu einem erfüllenden Glück. Die Komplexität sowohl seines eigenen Denkens, aber auch einer christlichen Existenz, lassen sich, wie Camus nun selbst konzediert, nicht durch grobschlächtige Begriffe wie »Pessimismus« und »Optimismus« angemessen beschreiben. Kurz: Statt sich in oberflächlichem Gezänk zu verstricken, sollten wir uns, wie Camus abschließend fordert, auf das besinnen, »was uns verbindet«61 Diese Forderung ist keineswegs als Beschwichtigung zu verstehen, vielmehr konfrontiert Camus am Schluss seiner Rede die Christen mit zwei eindringlichen Appellen: erstens sollten sich Christen gemeinsam mit säkularen Bürgern der Moderne an der Überwindung von Leid, insbesondere von unschuldigen Kindern, einsetzen; zweitens ruft Camus die Christen auf, angesichts des Terrors totalitärer Mächte Sokrates beizustehen. Um die Brisanz dieses zweifachen Appells an die Christen zu verstehen, ist es nötig, das komplexe Verhältnis zwischen Camus’ eigenem Existenzentwurf und einer christlichen Lebensform abseits der Schablonen »Pessimismus« und »Optimismus« näher zu bestimmen. Camus selbst erinnert zunächst an eine fundamentale Gemeinsamkeit mit den Christen, nämlich die ungeschminkte Wahrnehmung des Übels: »Wir befinden uns dem Übel gegenüber.«62 Die Absurdität des menschlichen Daseins vergleicht Camus immer wieder mit dem Bild eines Menschen, der in der To59 60 61 62

Camus, Albert: Fragen der Zeit. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 144. UC, 69. UC, 69. UC, 69 [Übers. H. Sch.].

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deszelle jederzeit zur Hinrichtung abgeführt werden kann, ein Bild, das er bereits in der Diplomarbeit von Pascal übernimmt.63 Im schonungslosen Blick auf die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens sieht Camus daher eine erste grundlegende Gemeinsamkeit zwischen seinem Denken und der christlichen Theologie. Die entscheidende Frage ist, wie der Mensch auf diese extreme Situation seines Daseins reagieren soll. In Der Mythos von Sisyphos hatte Camus sowohl den Selbstmord als auch den Glauben als einen illegitimen »Sprung«, d. h. als eine illusionäre Überschreitung der Grenzen unserer endlichen Vernunft, zurückgewiesen. In der Rede an die Dominikaner hält jedoch Camus, wie bereits erwähnt, ein Gespräch zwischen Ungläubigen und Christen, in der Christen Glaubende bleiben, für möglich und sogar für notwendig. Dies bedeutet: Der sokratischen Einsicht in die eigene Unwissenheit treu zu bleiben und zugleich an der christlichen Hoffnung festzuhalten, muss offenbar kein Widerspruch mehr sein. Die Möglichkeit einer Synthese zwischen kritischer Vernunft und Glaube war Camus in Jean Guittons Werk über Ms. Pouget, einem fast erblindeten Lazaristenpater64, aufgegangen, das er 1943 in den Cahiers du Sud rezensierte.65 Pouget gibt der Vernunft einen für seine Zeit erstaunlich großen Raum. Erstens akzeptiert Pouget vorbehaltlos die historisch-kritische Methode, d. h. die Bibel wird als zeitgeschichtlicher Text im Kontext seiner Umwelt gedeutet und mit anderen »sakralen« Texten (Veden, Koran) verglichen. Zweitens akzeptiert Pouget die Errungenschaften der modernen Wissenschaft seit Galilei. Pouget optiert für eine kritische Theologie, die auch in den heiligen Texten rigoros zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem bzw. Zeitbedingtem unterscheidet. Die christliche Wahrheit stützt sich nicht auf die Autorität der Schrift, sondern auf die Überzeugungsmacht der durch die menschliche Vernunft ausgelegten Texte. Das vorbehaltlose Vertrauen in die menschliche Vernunft ist bei Pouget durch eine Geschichtstheologie getragen, in der die Geschichte der Vernunft als göttliche Pädagogik begriffen wird. Auch wenn Pouget, wie Camus betont, noch einer traditionellen Metaphysik und in der Moralphilosophie einem problematischen Apriori verhaftet bleibt, so beseitigt seine Theologie dennoch in erstaunlicher Radikalität die schmerzvollen Barrieren zwischen neuzeitlicher Vernunft und christlichem Glauben, die vor allem durch die ka63 Pascal, Blaise: Über Religion und einige andere Gegenstände. Frankfurt am Main 1987, Fragment 199. Camus, Albert: Christliche Metaphysik und Neuplatonismus. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 36. 64 Guitton, Jean: Portrait de Monsieur Pouget. Paris 1941; dt.: Synthese des Christlichen. Theologie des blinden Pariser Lazaristen Monsieur Pouget. Wien / München 1959. 65 Camus, Albert: »Camus, Portrait d’un ¦lu«, in: ders.: Essais. Hg. von Quilliot, Roger. Paris 1965. Jean Guitton war Camus bereits durch dessen Studie »Le temps et l’¦ternit¦ chez Plotin et Augustin« (1933) bekannt. Zur Rezension von Camus vgl. auch Simons, Thomas: Albert Camus’ Stellung zum christlichen Glauben. Königstein im Taunus 1979, S. 83f.

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tholische Kirche seit dem 18. Jahrhundert immer wieder errichtet worden sind. Der Glaube ist nicht mehr eine Instanz, die die kritische Vernunft durch Dogmen erstickt, sondern eine Erfahrungsdimension, die durch die Vernunft zwar vorbereitet, aber im Letzten nicht bewiesen werden kann. Indem Pouget das sacrificium intellectus eliminiert und der Gnade den richtigen »Ort« im menschlichen Leben zuweist, eröffnet sich nach Camus eine neue Konstellation zwischen Christen und Ungläubigen: »Die ersten versuchen nicht mehr, die Offenbarung zu ›beweisen‹ und die zweiten ziehen nicht mehr ein Argument aus den mythischen Genealogien der Bibel. Das Problem des Glaubens liegt nicht mehr in Scharfsinnigkeiten. Das ist der gute Sinn, den Pouget dem Ansehen der Gnade leiht; er stellt hier jede Sache auf ihren Platz, die einzige Weise, den Geist zum Fortschreiten zu bewegen. Das sind die wahren Verdienste seiner Methode, und diese Verdienste sind, um diskret zu sein, an diesem Punkt unschätzbar, da sie die überraschende Haltung vergessen lassen, die während dreier Jahrhunderte Kopernikus und Galilei auf den Index stellte …«66

Die schwierige Balance zwischen den Extremen eines blinden und eines räsonnierenden Glaubens, zwischen dem sacrificium intellectus und der Hybris eines vollständigen Vernunftbeweises für den Glauben, hat Pater Pouget auch in seinem Leben durchgehalten. Wie Jean Guitton in seiner Biographie beschreibt, war Pater Pouget sowohl von einer unersättlichen Neugier sowohl für die Naturals auch die Geisteswissenschaften, als auch von der Erfahrung der göttlichen Gnade, die von Zweifeln keineswegs unangefochten war, getragen. Der Lazaristenpater Pouget ist nach Camus kein indischer Guru, »seine Lehre zielt nicht auf Illumination, noch auf den inneren Gott; dieser singuläre Guru hat aus der historischen Kritik ein Instrument der Askese gemacht … um die Offenbarung zu stützen, von dem, was sie an Sinn verlor. Es ist nicht meine Sache, zu urteilen, ob ihm darin vergolten worden ist, was er im Herzen trug […] Das Wesentliche ist, dass dieses Buch der Wahrhaftigkeit auf seinen wahren Platz gestellt ist: oberhalb der eitlen Worte, die heute überall klingen wie die lärmende Zimbel, von der der heilige Paulus [1 Kor 13,1] spricht«67. In diesem Sinn ist das Leben von Pater Pouget, wie Camus bereits im Titel seiner Rezension anerkennt, das Leben eines Erwählten (¦lu). Als Zwischenergebnis können wir somit festhalten: Die sokratische Einsicht in die Grenzen menschlichen Erkennens ist nach Camus – und dafür ist Pater Pouget ein eindrucksvolles Beispiel – auch von Christen, die Christen bleiben wollen, ernstzunehmen. Christen, die sich auf das Abenteuer der kritischen Vernunft und die radikalen Infragestellungen des Nihilismus, die seit dem 19. 66 Camus, Albert: »Camus, Portrait d’un ¦lu«, in: ders.: Essais. Hg. von Quilliot, Roger. Paris 1965 S. 1602 [Übers. H. Sch.]. 67 Ebd., S. 1603 [Übers. H. Sch.].

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Jahrhundert die europäische Kultur durchdringen, vorbehaltlos einlassen und dennoch darin der Gnade einen Raum offenhalten, verdienen nach Camus Respekt. Die frühere Kritik am »Sprung« in den Glauben muss daher differenziert werden: Inakzeptabel ist, so könnte man im Sinne von Camus sagen, allein ein »vorschneller« Sprung, der die Grenzen menschlicher Vernunft ignoriert und sich unmittelbar in den Standpunkt Gottes versetzt, sei es in einem sacrificium intellectus oder einem rationalen Gottesbeweis. Vor allem in der restlosen Aufhebung des Glaubens in eine abstrakte Vernunft lag nach Camus eine Versuchung, der das Christentum nach seiner Begegnung mit der griechischen Philosophie immer wieder erlegen ist, mit der fatalen Folge, dass das Leid des Menschen sub specie aeternitatis durch eine rational einsehbare Heilslogik gerechtfertigt wird. In diese Falle ist der Augustinusspezialist Paneloux in seiner ersten Predigt getappt, als er die Pest als göttliche Prüfung und Strafgericht verkündete. Bekanntlich lässt Camus Paneloux, nachdem er mit Rieux den Todeskampf eines Kindes miterlebt hat, eine zweite Predigt halten, in der die christliche Hoffnung sich mit sokratischer und auch einer originär christlichen Einsicht in die Endlichkeit menschlichen Daseins verbindet. Paneloux leitet seine zweite Predigt mit den Worten ein, »daß man nicht versuchen dürfe, sich das Schauspiel der Pest zu erklären, sondern danach trachten müsse, aus ihr zu lernen, was aus ihr zu lernen sei.«68 Paneloux verweigert nun ausdrücklich die himmlische »Rechnung«, wonach die Wonnen der Ewigkeit das Leiden des Kindes ausgleichen würden. An dieser Stelle lässt Camus den Chronisten der Pest kommentierend festhalten: »Wer konnte denn behaupten, daß eine ewige Wonne einen Augenblick menschlichen Schmerzes ausgleichen kann? Ganz sicher kein Christ, deren Meister den Schmerz in seinen Gliedern und in seiner Seele empfunden hat. Nein, der Pater würde am Fuße der Mauer stehen bleiben, jener Zerrissenheit getreu, deren Symbol das Kreuz ist, Auge in Auge mit dem Leiden eines Kindes.«69 Camus legt hier als Ungläubiger den Christen ein religiöses Argument gegen die Arroganz einer theologischen Erklärung des Bösen nahe, die Christen nicht nur von ihren eigenen moralischen Ansprüchen, sondern letztlich sogar von der heute geforderten allgemeinen Menschenpflicht zur Überwindung des Leides abzuhalten droht. Camus spürt, dass hinter den Fassaden einer Theodizeetheologie im Christentum letztlich eine Glut lodert, in der der schonungslose Blick auf das menschliche Dasein mit dem Ethos einer radikalen Hingabe an die gemarterte Kreatur verknüpft ist. So ruft Camus den Christen beschwörend zu: »Wir können es vielleicht nicht verhindern, daß diese Schöpfung eine Welt ist, in der Kinder gemartert werden. Aber wir können die

68 Camus, Albert: Die Pest. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 253. 69 Ebd., S. 254.

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Zahl der gemarterten Kinder verringern. Und wenn Sie uns dabei nicht helfen, wer soll uns dann helfen?«70 Die christliche Hoffnung impliziert nicht per se einen »vorschnellen« Sprung aus unserer endlichen Vernunft, in einem recht verstandenen Sinn vermag die christliche Hoffnung auch ein radikales Engagement für die leidende Kreatur zu tragen. Wenn die Treue zur Klarsichtigkeit (clairvoyance) gewahrt bleibt, kann, wie Camus bereits in Der Mythos von Sisyphos andeutete, der »Sprung« im jahrundertealten Fresko menschlicher Haltungen wieder seinen Platz erhalten. 71 An dieser Stelle ist nun allerdings auch umgekehrt zu fragen: Aus welchen Quellen nährt sich Camus’ eigener Kampf gegen das Leid. Genauer : Was bewahrt einen Ungläubigen vor der Verzweiflung angesichts von Leid und Unrecht? Welche Erfahrungen geben in der Balance von Licht und Schatten, von Leben und Tod, in der sich der absurde Mensch aufhält, letztlich doch dem Licht und dem Leben das stärkere Gewicht. Wenn die Treue zur sokratischen Unwissenheit für Christen und Ungläubige gleichermaßen Bedingung ihrer Humanität ist, so stellt sich die Frage, ob es im Denken von Camus ein säkulares Pendant zur christlichen Hoffnung gibt? Meine Vermutung ist, dass auch Camus in seinem Denken analog zur christlichen Hoffnung einen »legitimen« Sprung vollzieht, d. h. einen Sprung, der die Endlichkeit der Vernunft zwar nicht verlässt, aber doch über sie hinaus greift. Die Möglichkeit eines »legitimen« Sprungs deutet Camus in einer berührenden Szene in dem autobiographischen Romanfragment Der erste Mensch an, nämlich in der Selbstbesinnung von Jacques Cormery vor dem Grab seines Vaters, der im Alter von neunundzwanzig Jahren bereits in den ersten Wochen im Ersten Weltkrieg gefallen ist: »Er selbst vermeinte zu leben, er hatte sich allein aufgebaut, er kennt seine Kraft, seine Energie, er bot die Stirn und hatte sich in der Hand. Doch in dem seltsamen Taumel, in dem er sich augenblicklich befand, wurde jenes Standbild, das jeder Mensch errichtet, im Feuer der Jahre härtet, um sich ihm anzuverwandeln und ihm das letzte Zerbröckeln abzuwarten, schnell rissig, brach schon jetzt zusammen. Er war nur mehr dieses lebensgierige, gegen die tödliche Ordnung der Welt aufbegehrende verängstigte Herz, 70 UC, 69. 71 Die Möglichkeit, auf der Basis der Klarsichtigkeit dem »Sprung« in einer neuen Weise doch einen Raum zu geben, hatte Camus bereits im frühen Essay über das Absurde angedeutet. Vgl. dazu Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 85f.: »›Das Gebet‹, sagt Alain, ›stellt sich ein, wenn die Nacht das Denken überkommt. ‹ – ›Es ist aber notwendig, daß der Geist der Nacht begegne‹ antworten die Mystiker und die Existentialisten. Gewiß, aber nicht dieser Nacht, die bei geschlossenen Augen und allein durch den Willen des Menschen entsteht – einer trüben und völlig dunklen Nacht, die der Geist hervorbringt, um sich zu verlieren. Wenn er einer Nacht begegnen muß, dann möge es die Nacht der Verzweiflung sein, die hell bleibt, Polarnacht … Da geht es nicht einmal mehr darum, den existentiellen Sprung zu verurteilen. (sic!) Er erhält wieder seinen Platz im jahrhundertealten Fresko menschlicher Haltungen.«

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das ihn vierzig Jahre lang begleitet hatte und noch immer mit derselben Kraft gegen die Mauer schlug, über die es hinausgehen und wissen wollte, wissen, bevor es starb, endlich wissen, um zu sein, ein einziges Mal, eine einzige Sekunde, aber für immer.«72

Das Pendant zur christlichen Hoffnung scheint mir in Camus’ Naturmystik, die mit Erfahrungen einer überschäumenden Sinnlichkeit verbunden ist, zu liegen, die Camus unter dem Stichwort »das mittelmeerische Denken« beschreibt. In dem narrativen Essay »Hochzeit in Tipasa« hat Camus diese Erfahrungsschicht in seinem Denken eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht: »Hier begreife ich den höchsten Ruhm der Erde: das Recht zu unermeßlicher Liebe. Es gibt nur diese eine, einzige Liebe in der Welt. Wer einen Frauenleib umarmt, preßt ein Stück jener unbegreiflichen Freude an sich, die vom Himmel aufs Meer niederströmt. Wenn ich mich jetzt gleich in die Wermutbüsche werfe und ihr Duft meinen Körper durchdringt, so werde ich bewußt gegen alle Vorurteile eine Wahrheit bekennen: die Wahrheit der Sonne, die auch die Wahrheit meines Todes sein wird […] Ich liebe dieses Leben von ganzem Herzen und will frei von ihm reden: ich verdanke ihm den Stolz, ein Mensch zu sein. Und doch hat man mich oft genug gefragt, worauf ich denn so stolz sei. Worauf ? Auf diese Sonne und dieses Meer, auf mein von Jugend überströmendes Herz, auf meinen salzigen Körper und diese unermeßliche Pracht aus Glanz und Glück, aus Gelb und Blau. Ich muß all meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier läßt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir und brauche keine Maske.«73

Im zweiten Appell an die Christengreift Camus nochmals die bereits vorgetragene Erwartung auf, dass die Christen den Terror totalitärer Mächte in aller Klarheit, d. h. nicht verkleidet »in das dunkle Gewand der Enzyklika«74 verurteilen. Wir befinden uns nach Camus in einem ungleichen Kampf »zwischen den Mächten des Schreckens und denen des Zwiegesprächs«75, d. h. demokratischen Kräften, die mit Sokrates auf die gewaltlose Macht der Argumente und des Dialogs vertrauen. Spätestens an dieser Stelle wird vollends klar, dass für Camus die Treue zur sokratischen Einsicht in die Endlichkeit menschlicher Vernunft eine allgemeinmenschliche Pflicht, d. h. nicht eine Sonderpraxis säkularer Bürger, ist, der sich folglich auch Christen nicht entziehen können. Die Praxis des argumentativen Dialogs oder, wie Camus formuliert, »die Civitas des Zwiegesprächs«, droht jedoch, wie in Der Mensch in der Revolte ausführlich dargelegt wird, sowohl von rechten als auch von linken Gewaltideologien ausgelöscht zu werden. Wir laufen nach Camus Gefahr, »mit zweitausend Jahren Abstand der vervielfachten Hinopferung des Sokrates beizuwohnen.«76 An 72 Camus, Albert: Der erste Mensch. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 29. 73 Camus, Albert: »Hochzeit in Tipasa«, in: ders.: Literarische Essais. Reinbek bei Hamburg 1959, S. 80. 74 UC, 70. 75 UC, 69. 76 UC, 69.

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dieser Stelle wendet sich Camus zum zweiten Mal in beschwörender Weise direkt an die Christen: »Wird Sokrates wiederum allein stehen und gibt es nichts in seiner und in eurer Lehre, die euch dazu bewegen könnte, zu uns zu stoßen?«77 Wie eingangs bereits festgehalten worden ist, fordert Camus von den Christen nichts anderes als die Erfüllung einer allgemein-menschlichen Pflicht, die für ihn im Wahrsprechen, genauer in der Praxis des sokratischen Dialogs und nicht in der autoritativen Verkündung einer absoluten Wahrheit besteht. Die dialogische Vernunft steht quer zu allen Varianten totalitärer Macht, die über allen physischen Zwang hinaus die Menschen zum Verstummen verurteilt. Da die Christen das Recht haben, zu bleiben, was sie sind, nämlich Christen, fordert Camus nicht die Aufgabe der eigenen Lebensorientierung, auch nicht den schlichten Wechsel zu einer sokratischen Lebensform. Denn für Sokrates war der argumentative Dialog nicht nur Medium der Prüfung von Wahrheitsansprüchen, sondern darüber hinaus auch das höchste Gut einer bestimmten Form des guten Lebens.78 In ähnlicher Weise entwirft auch Camus – inspiriert durch Descartes’ Methode des Zweifels – mit dem Ideal der Klarsichtigkeit (clairvoyance) eine Lebensform, die sich am Unbezweifelbaren orientiert. Die Extrapolation der sokratischen Entdeckung des argumentativen Dialogs zu Lebensformen haben – dies ist die bemerkenswerte Klarstellung – oder möglicherweise auch Selbstkorrektur von Camus – keinen Anspruch auf strenge Allgemeingültigkeit. Camus’ relativiert daher seinen eigenen Daseinsentwurf als eine Möglichkeit, den Aporien des Menschseins in redlicher Weise zu entsprechen. Was jedoch allen Menschen, religiösen und säkularen Bürgern, zugemutet werden muss, ist eine kritische Haltung gegenüber den je eigenen Lebensentwürfen und die Pflicht zum argumentativen Dialog, die sich inmitten von Unrecht und Gewalt in eine Kritik an den totalitären Mächten verwandeln muss. Daher beschwört Camus die Christen, einerseits in ihren Existenzentwurf das sokratische Moment des argumentativen Dialogs aufzunehmen, andererseits aber auch in den eigenen Traditionen nach Quellen einer kompromisslosen Machtkritik zu suchen. Auf diese Weise könnte eine Solidarität zwischen Christen und Ungläubigen entstehen, in der beide ihre Identität bewahren und doch vereint der Civitas des Dialogs dienen. Der Aufruf von Camus, auch die eigenen Traditionen auszuschöpfen, ist keine höfliche Floskel. Denn im Christentum sind, wie Camus vollkommen bewusst ist, in der prophetischen Tradition und in der jesuanischen Botschaft starke 77 UC, 69. 78 Platon: Apologie 38a: »Und wiederum sage ich, daß ja das größte Gut für den Menschen (!) ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient, gelebt zu werden, das werdet ihr mir noch weniger glauben, wenn ich es sage.« Nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher.

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Quellen für eine kompromisslose Kritik der Macht vorhanden. Angesichts der fatalen Allianzen mit faschistischen Mächten kommt es nun aber nach Camus darauf an, dass sich das Christentum nicht darauf versteift, »sich endgültig die Tugend der Auflehnung und der Empörung entreißen zu lassen, die ihm vor langer Zeit eigen war.«79 In diesem Sinne hat die Theologie der Befreiung, die nur wenige Jahre nach Camus’ tragischem Tod entstanden ist, wohl wie keine andere Theologie in den letzten Jahrzehnten Camus’ Appell an die Christen eingelöst und die biblischen Quellen der Revolte in radikaler Weise für die Gegenwart fruchtbar gemacht. Die Theologie der Befreiung kam daher nicht nur in Konflikt mit den politischen Machthabern, sondern auch mit kirchlichen Kollaborateuren der Militärdiktaturen, die in den 1970er Jahren das politische Leben in zahlreichen Staaten Lateinamerikas bestimmten. Durch die Übersetzung der prophetischen Kraft der Botschaft Jesu in die Sprache der modernen Politik stand nun allerdings auch die Befreiungstheologie wie Camus vor der schmerzlichen Frage der Gewalt. Am Schluss seiner Rede an die Dominikaner lässt sich Camus schließlich doch noch zu einem kritischen Wort über die Selbstauslegung des Christentums, die in letzter Instanz den Christen selbst vorbehalten sein muss, hinreißen. Wenn sich Christen auf Allianzen mit totalitären Mächten einlassen, zerbricht nach Camus nicht nur das solidarische Band mit säkularen Bürgern der Moderne, die im Geist des Sokrates nach Gerechtigkeit suchen, vielmehr drohen auf diesem Wege die Lebensquellen des Christentums selbst zu versiegen. »Dann werden die Christen leben, und das Christentum wird sterben.«80 Die Vorstellung vom Ende des Christentums löst, wie Camus bekennt, bei einem Ungläubigen durchaus ambivalente Gefühle aus. Letztlich überwiegt jedoch die Hoffnung, dass sich die Christen doch zum »Wahrsprechen« entschließen, »damit Millionen von Stimmen, Millionen hören Sie, auf der ganzen Welt in den Schrei einer Handvoll Einzelgänger einfallen, die heute ohne Glauben noch Gesetz allenthalben und unermüdlich für die Kinder und für die Menschen eintreten.«81

79 UC, 70. 80 UC, 70. 81 UC, 70.

Michael Staudigl (Wien)

Über die Unhintergehbarkeit des »absoluten Lebens«. Zur praktischen Bedeutung von Michel Henrys Lebensphänomenologie

»Die erniedrigten, gedemütigten und verachteten Menschen verachten sich selbst; von der Schule an abgerichtet, sich selbst zu verachten, sich für nichts zu halten: für Teilchen und Moleküle. Sie bewundern alles, was weniger als sie selbst ist; verabscheuen alles, was größer als sie selbst ist […]. Die Menschen haben sich von der ›Wahrheit des Lebens‹ abgewandt; sich auf alle Lockmittel und Wunderwerke geworfen, wo dieses Leben verneint, gedemütigt, nachgeäfft, simuliert wird – abwesend ist. Die Menschen sind dem Gefühllosen überliefert, selbst gefühllos geworden; ihr Auge ist leer, wie das eines Fisches. Stumpfsinnige Menschen, dem Gespenstischen überantwortet; den Schauspielen, die überall ihre eigene Nichtigkeit und ihren eigenen Verfall zur Schau stellen […] Die Menschen werden sterben wollen, aber nicht das ›Leben‹.«1

Für Henry scheint Ricœurs viel zitiertes Diktum, dass die Geschichte der Phänomenologie die »Geschichte ihrer Häresien« sei, in außergewöhnlichem Maße zuzutreffen. Indem er die Phänomenologie aufgriff, gab er ihr in der Tat nicht nur ein eigenes und kritisches, sondern ein in der Tat fremdartiges Gepräge. Wie Waldenfels in seinem bekannten Werk zur Phänomenologie in Frankreich schon früh festhielt, zeichnet sich Henrys philosophischer Ansatz dadurch aus, dass er wenige Intuitionen, ja letztlich eine Grundintuition von enormer Sprengkraft – die Einsicht in die Affektivität als ursprünglichsten Offenbarungsmodus von Selbst und Welt – unerbittlich verfolgt.2 Ich möchte im Folgenden zeigen, welche Sprengkraft diese Intuition annimmt, wenn man sie, wie Henry es selbst ja auch in verschiedenen Hinsichten getan hat, auf Probleme der praktischen Philosophie – insbesondere die Kulturkritik und Fragen der politischen Philosophie – anwendet. Denn ich denke, dass Henrys Denken keineswegs nur im theoretischen Register von Bedeutung ist. Ganz im Gegenteil scheint mir, dass es seine wahre Sprengkraft erst in seiner praktischen Entfaltung und Anwendung findet. Henry geht es im Gegensatz zu Husserl und zur klassischen Phänomenologie 1 Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 383 f. 2 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt am Main 1987, S. 349 ff.

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nicht mehr darum, das Leben von der Welt (oder einem anderen transzendentalen Horizont wie der Zeit, dem Leib oder dem Anderen) her zu denken, sondern im Gegensatz die immanente Offenbarungsmächtigkeit des Lebens selbst und mithin auch die Welt vom Leben her zu denken – zu denken, worin vielleicht die äußerste Aporie seines Denkens besteht. Mit dieser Aufgabenstellung ist ein radikaler Paradigmenwandel von einer »Phänomenologie der Transzendenz« zu einer »Phänomenologie der Immanenz«, mithin ein Paradigmenwandel von der Intentionalität zur Praxis angezeigt. Die immanente und d. h. für Henry in eins praktische Intelligibilität des Lebens als Prinzip bzw. Logos des Erscheinens schlechthin – d. h. aller Phänomenalisierung – herauszuarbeiten, darin besteht für Henry folglich die Aufgabe einer recht verstandenen Phänomenologie.3 Doch welcher Phänomenologie, so ist man geneigt zu fragen? Denn wenn die Phänomenologie ja in der Tat – wenn sie wie bei Husserl die Intentionalität oder bei Heidegger die Transzendenz als Wesen des Erscheinens des Erscheinenden thematisiert – nichts anderem nachfragt, als dem Logos des Erscheinens, verliert sie sich dann bei Henry nicht in einer »tautologischen Innerlichkeit« oder einer »immanenten Selbstreferenz« des Lebens4 ? Von welchem Leben ist hier die Rede, insbesondere dann, wenn es als »absolutes Leben« apostrophiert wird oder wenn affirmiert wird, dass es nur »ein einziges und einmaliges Leben« gäbe und dass dieses »denselben Sinn für Gott, für Christus und für den Menschen hat«5. Bedeuten solche Aussagen nicht ein Abdanken der Phänomenologie an (Krypto-)Theologie, wie es neben anderen auch Dominique Janicauds Kritik suggeriert, der Henry in seinem Pamphlet über die »theologische Wende« der neueren französischen Phänomenologie ja dezidiert unter die – wie er es formuliert – »neuen Theologen« rechnet?6 Vergegenwärtigen wir uns, um hier klarer zu 3 Die Distinktion von Praxis und Theorie legt Henry wie folgt aus: »Das Lebenswissen als ein Wissen, worin das Leben sowohl das erkennende Vermögen wie das von ihm Erkannte bildet und auf diese ausschließliche Weise seinen ›Gehalt‹ empfängt, nenne ich Praxis. Was ein solches Wissen kennzeichnet, [ist], daß es nämlich in Abwesenheit jeder Ekstase in ihm keinerlei Bezug zu einer möglichen ›Welt‹ gibt, welche auch immer es sei. Das Wissen, das im Gegenteil diesen Bezug definiert, nenne ich Theorie. Zur Theorie gehört grundsätzlich, daß sie die Theorie eines Objekts ist.« (Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1994, S. 109). Den dem Objektbezug entsprechenden Wissensmodus nennt Henry »Wissenschaftswissen«. 4 Cf. Janicaud, Dominique: Le tournant th¦ologique de la ph¦nom¦nologie franÅaise. Paris 1991, S. 60 f. 5 Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 142. 6 Janicaud, Dominique: Le tournant th¦ologique de la ph¦nom¦nologie franÅaise. Paris 1991, S. 84. Die Debatte um den Status der angesprochenen »Wende« der neueren französischen Phänomenologie war fraglos von einem polemischen Ton getragen. Diese Polemik war nicht zuletzt durch Janicauds eigene Stellungnahme und Positionierung einer »minimalistischen Phänomenologie«, die sich Husserls methodologischer Strenge verpflichtet, in eben dieser Streitschrift mitbedingt. Janicaud selbst nahm zu den diversen Repliken in: La ph¦nom¦-

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sehen, um diesem allzu pauschalen Einwand angemessen zu begegnen und schließlich die Konsequenzen von Henrys Position für ein Denken der Kultur und der Politik entwickeln zu können, was mit dessen Transformation der Phänomenologie in eine »Phänomenologie des Lebens« auf dem Spiel steht: Es handelt sich, so viel sei hier vorweggenommen, um die transzendentale humanitas des Menschen, seine unausweichliche Bestimmung, ein Selbst zu sein, das sich in seinem »lebendigen Fleisch«7 selbst gegeben ist, ohne seine Singularität irgendeinem transzendenten Prinzip zu verdanken, das gleichwohl immer den Versuchungen der Transzendenz ausgeliefert bleibt, d. h. der Versuchung, sich vermittels eines transzendenten Prinzips zu definieren. Dass und wie diese abgründige Singularität in unserem kulturellen und politischen Selbstverständnis auf dem Spiel steht, dies zeigen die – wie man formulieren könnte – praktischen Schriften Michel Henrys.8

1.

Der »Umsturz« der Phänomenologie – Von der intentionalen zur »materiellen Phänomenologie«

Die gemeinsame Voraussetzung, die die klassische Philosophie mit der historischen Phänomenologie – von Husserl über Heidegger bis Merleau-Ponty und L¦vinas – verbindet, besteht für Henry darin, dass diese den Logos der Phänomene als den Logos der Welt denken. Sie alle denken, um es anders zu formulieren, das Erscheinen als ein horizonthaftes Erscheinen. Aus diesem Grunde, so Henry, vermögen sie nicht zu erklären, wie sich die Intentionalität selbst hervorbringt, wie sich die Transzendenz selbst zu transzendieren vermag.9 Um dieses Problem zu lösen gilt es, in den unvordenklichen Grund der Erfahrung zurückzugehen, in dem sich die Intentionalität selbst ergreift bzw. »erprobt« (s’¦prouver soi-mÞme), wie Henry dies formuliert. Denn nur als solcherart sich selbst gegebene vermag sie sich auf anderes hin zu übersteigen. Der Rückgang in die »reine Immanenz« und ihre innere »Struktur« und »Dynamik« – darin besteht für Henry also die Aufgabe einer radikalen bzw. »materiellen Phänomenologie eclat¦e (Paris 1998), ausführlich und durchaus auch vermittelnd Stellung. Vgl. zu dieser Debatte und insbesondere zu Janicauds eigenem Ansatz auch Gondek, Hans -Dieter / Tengelyi, L‚szlû: Neue Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt am Main 2010, S. 213 ff. 7 Vgl. Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 2002, S. 197. 8 Es sei angemerkt, dass ich Michel Henrys großes Werk über Marx (Henry, Michel: Marx [2 Bde. in einem Band] Paris 1991), das in diesen Zusammenhang gehört, hier nicht berücksichtigen kann. Vgl. dazu jedoch die verschiedenen Beiträge in: Revue Michel Henry, No. 1 (2010). 9 Vgl. die Analysen in: Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 2002, S. 64 ff.

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nologie«. Gegen den »ontologischen Monismus«10 der abendländischen Philosophie thematisiert diese Phänomenologie eine »Duplizität des Erscheinens«11. Dies besagt, dass der Manifestation – so Henrys Begriff für alles transzendente, ekstatische bzw. welthafte Erscheinen – ein reines Erscheinen oder genauer Selbsterscheinen gegenübersteht. Der Begriff der Duplizität unterstreicht, dass mit dieser Distinktion keineswegs eine dichotomische Gegenüberstellung gemeint ist, sondern vielmehr ein Fundierungsverhältnis gedacht werden soll: Letztlich, so postuliert Henry, gründet das Wesen der Manifestation in nichts anderem als in eben diesem Selbsterscheinen. Dieses aber vollzieht sich nicht im Modus des Denkens, der Repräsentation und der Reflexion, sondern im Modus der Affektivität, genauer gesagt im Modus der Selbstaffektion des rein phänomenologischen Lebens. Die entscheidende Voraussetzung der klassischen Phänomenologie liegt für Henry also darin, dass sich das Bewusstseinsleben im Horizont der Äußerlichkeit, Sichtbarkeit oder einfach der Welt, d. h. im Rahmen eines in-tentionalen Sich-selbst-Überschreitens lebendiger Subjektivität, realisieren soll. In deren Exteriorität freilich macht es die Erfahrung, dass es nicht mit sich koinzidiert, nie reine Selbstpräsenz war bzw. ist, mit sich vielmehr differiert. Diese von Husserl angedachten, von der post-husserlschen Phänomenologie dann klar auf den Punkt gebrachten Einsichten, die selbst für dekonstruktive Positionen noch konstitutiv sind, sieht Henry. Doch wenn es darum geht, das Eigenwesen der Selbstheit zu denken, erscheinen ihm all diese Positionen gänzlich ungenügend. Sie führen ihm zufolge ebenso schnell auf aporetische Pfade, wie Husserls bekannte Theorie der »Selbstkonstitution«, der zufolge sich das Bewusstsein für sich selbst intentional in der immanenten Zeitlichkeit des Bewusstseinsflusses konstituieren soll.12 Die damit angesprochene Frage nach einer ursprünglichen Selbstheit war bei Husserl und in der klassischen Phänomenologie (freilich keineswegs nur dort) immer ein Problem geblieben. Henry zufolge war sie in der Tat unlösbar, da sie am Leitfaden von Denken und Einbildungskraft, nicht aber auf einer wesenhaft passiven und affektiven Grundlage gedacht worden war.13 Um diese Frage adäquat zu stellen, greift Henry wiederum auf Husserl zurück. Zentral ist für ihn dabei eine frühe, von Husserl in der Vorlesung Die Idee der 10 Vgl. Henry, Michel: L’essence de la manifestation. Paris 2003 [1963]. 11 Näheres zu diesem schwierigen Begriff findet sich bei Khosrokhavar, Farhad: »La duplicit¦ du paraitre«, in: Revue philosophique de la France et de l’Êtranger 3 (2001) S. 321 – 338. 12 Vgl. dazu Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893 – 1917) (Husserliana Bd. XI). Den Haag 1966, bes. § 39. 13 Bereits Hume unterscheidet, dies sei nebenbei bemerkt, zwischen diesen beiden Möglichkeiten, das Wesen der Selbstheit zu begründen; vgl. dazu genauer Tengelyi, L‚szlû: »Selbstheit, Passivität und Affektivität bei Henry und Levinas«, in: Staudigl, Michael / Trinks, Jürgen (Hg.): Ereignis und Affektivität. Zur Phänomenologie des sich bildenden Sinnes. Wien 2006, S. 222 – 238, hier 222.

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Phänomenologie angedachte, dann jedoch rasch vergessene Einsicht. Diese Einsicht besagt, dass nichts anderes als das reine Erscheinen als solches, also die Phänomenalität, das Grundthema der Phänomenologie sei, nicht jedoch seine Explikation unter dem Primat der Schau oder allgemeiner gesprochen der Theorie.14 Phänomenalität, dies meint nichts anderes als die Bedingung, unter der überhaupt erst etwas in den Rang eines Phänomens zu treten vermag. Für Henry ist damit jedoch kein Horizont mehr angesprochen, in dem sich die Inszenierung der »Sachen selbst« entfaltet (die Objektivität bei Husserl, das Sein bei Heidegger, das »Fleisch der Welt« beim späten Merleau-Ponty etc.). Fasst man die Ursprungsdimension des Erscheinens nämlich im Hinblick auf einen solchen Horizont ins Auge, ergibt sich das Problem, dass die Phänomenologie als Methode dieses reine Erscheinen unmittelbar verliert. Dies ist, wie man sagen könnte, ihr Schicksal, sofern sie sich als Aufweis-Prozess, als Sehen-lassen, Ex-plikation oder Evident-machen selbst versteht. Um es auf traditionelle Begriffe zu bringen: Nicht die Intentionalität also als jene Weise, wie das Bewusstsein den Sinn der Welt, ja die Welt als Sinn vermeint und für sich zum Ausdruck bringt, weiht uns dem phänomenologischen Register in ursprünglichster Weise ein. Es ist also nicht das intentionale Bewusstsein – d. h. die Auszeichnung des Bewusstseins, Bewusstsein von etwas als etwas zu sein – das uns die Welt ursprünglich eröffnet. Die intentionale Phänomenologie als Methode des »Schauens und Fassens« verdeckt das genuin phänomenologische Register, das Henry im Auge hat, vielmehr. Denn der originäre Weltbezug des »intentionalen Lebens«, wie der späte Husserl öfter sagte, ist Henry zufolge gerade nicht intentional verfasst. Die Annahme, dass die Intentionalität den wahren und einzig möglichen »Zugang zum Sein« bilde, bezeichnet also vielmehr, wie Fink es treffend formulierte, die zentrale »Hypothesis der Phänomenologie Husserls«15. Diese Hypothesis, die »Ansetzung des intentional verstandenen originären Bewusstseins als wahrhaftigen Seinszuganges«, schafft eine außergewöhnliche phänomenologische Situation: Denn wird das ursprüngliche »Wie der Gegebenheit« der »Sachen selbst«, ihre »Gebung« (donation) wie Henry formuliert, mit der Intentionalität identifiziert, so substituiert sich dem reinen Erscheinen nichts anderes als das Erscheinen des Seienden: 14 Vgl. Husserl, Edmund: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (Husserliana Bd. II). Den Haag: Nijhoff 1950, S. 31, wo es heißt: »Jedes intellektive Erlebnis, und jedes Erlebnis überhaupt, indem es vollzogen wird, kann zum Gegenstand eines reinen Schauens und Fassens gemacht werden, und in diesem Schauen ist es absolute Gegebenheit.« Dies verweist Henry zufolge darauf, dass der Phänomenalisierungsmodus der Schau einen anderen Phänomenalisierungsmodus, jenen nämlich des Vollzugs, voraussetzt. 15 Fink, Eugen: »Das Problem der Phänomenologie E. Husserls«, in: ders.: Studien zur Phänomenologie 1930 – 1939. Den Haag 1966, S. 179 – 223, hier 201.

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»[In einer] Sprache noch ausgedrückt, welche die enge Affinität dieser historischen Phänomenologie mit der klassischen Philosophie zeigt, ist jedes Bewußtsein ›Bewußtsein von etwas‹. Wir haben also auf der einen Seite das Erscheinen (das Bewußtsein) und auf der anderen Seite das Etwas, das Seiende. In sich ist das Seiende dem Erscheinen gegenüber fremd und nicht imstande, sich durch sich selbst zu phänomenalisieren. Das Erscheinen ist von seiner Seite aus gesehen dergestalt, daß es notwendigerweise das Erscheinen von etwas anderem ist, von Seiendem. Das Erscheinen wendet sich auf so radikale und so gewaltsame Weise von sich ab, daß es gänzlich auf etwas anderes als auf sich selbst hingewandt ist, nämlich auf das Außen – es ist Intentionalität. Weil das Erscheinen als Intentionalität sich so wesenhaft auf das hin verlagert findet, was es erscheinen läßt, erscheint nicht mehr das Erscheinen, sondern das, was es in sich erscheinen läßt: das Seiende. Der Gegenstand der Phänomenologie, die ›Sache selbst‹, findet sich dadurch auf solche Weise entstellt, daß dieser Gegenstand nicht mehr das Erscheinen ist, sondern das Erscheinen des Seienden und letztlich das Seiende selbst, insofern es erscheint.«16

Was Henry dagegen fordert, ist die »Rückeinschreibung der Intentionalität in das Nicht-Intentionale«. Er bestimmt dieses als einen Grund, der »älter« als diese Intentionalität ist. Zu ihm vorzudringen erfordert es, die Welt als den Horizont der intentionalen Sichtbarmachung und sinnhaften Explikation jedweder Gegebenheit zu reduzieren. Horizonteinschreibung und Reduktion auf das ego werden damit als Konstitutiva der Phänomengenese suspendiert. Henry spricht im Hinblick auf dieses methodische Vorgehen von einer »Gegen-Reduktion«17. Diese verweist uns auf die passive und affektive Grundlage des Selbst, sein reines Selbsterscheinen oder seine Selbstoffenbarung, die sich in der »Nacht der Subjektivität«, im »unsichtbaren« Leben affektiv vollzieht, zurück. Der Weg von einer »Phänomenologie der Welt« zu einer »Phänomenologie des Lebens«, von einer Phänomenologie der »Transzendenz« zu einer solchen der »Immanenz« ist so bereits deutlicher umrissen. Die darin implizierte Dualität des Erscheinens ist zentral für Henrys Denken. Er hält an ihr gegen den »ontologischen Monismus« fest, der alles auf die Gesetze intentionalen Erscheinens im Sichtbarkeitshorizont der Welt zurückführt. Gleichwohl geht es ihm nicht darum, diese Dualität oder genauer Duplizität dualistisch auszulegen. Seine Absicht besteht vielmehr darin, die Welt aus dem Leben zu begreifen, ohne Letzteres – qua Wesen des Subjekts und des Seins – im »apperzeptiven Horizont« 16 Henry, Michel: »Nicht-intentionale Phänomenologie und Gegen-Reduktion«, in: Kühn, Rolf / Staudigl, Michael (Hg.): Epoch¦ und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie. Würzburg 2003, S. 65 – 78, hier 68. 17 Vgl. dazu genauer Depraz, Natalie: »Le statut de la r¦duction chez Michel Henry«, in: Longneaux, Jean-Michel (Hg.): Retrouver la vie oubli¦e. Critiques et perspectives de la philosophie de Michel Henry. Namur 2000, S. 21 – 44; Kühn, Rolf: »Die lebensphänomenologische GegenReduktion«, in: Kühn, Rolf / Nowotny, Stefan (Hg.): Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur. Freiburg / München 2002, S. 23 – 56.

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der Welt (noch folglich dem des Seins, aber auch nicht in jenem der Andersheit oder eines Fleisches der Welt, etc.) zu denken, sondern rein aus dessen »immanenter Lebensteleologie«18 heraus. Diesen Gedanken finden wir bereits in der Definition des Selbst, die Henry in L’essence de la manifestation gibt: »Was mit sich beladen ist, um es immerdar zu sein, nur dies nennen wir wahrhaft ein Selbst. In diesem erfüllt sich die Bewegung ohne Bewegung, in der es, wie einen substantiellen und schweren Inhalt, empfängt, was es ist, davon Besitz ergreift, in sich ankünftig wird, seine eigene Fülle erfährt. Das Selbst ist die Überschreitung des Selbst als mit sich Identisches.«19

Diese – wie es in »Ich bin die Wahrheit« dann heißen wird – »Ipseisierung« des Subjekts ereignet sich in seiner leiblich-lebendigen Praxis, d. h. rein im Medium seiner Affektivität wie praktisch gelebten Intelligibilität. Dies legt es nahe, hier von einer Metaphysik des Individuums zu sprechen, da damit alle traditionellen Parameter onto(theo)logischer Individuation – wie Substantialität, raumzeitliche Lokalisierung, Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit oder Selbstbewegtheit – suspendiert sind – und zwar zugunsten der »Apodiktizität eines ›unerschütterlichen Fundaments‹ unseres praktischen Lebenswissens als rein individuiertem Empfinden«.20 Vor diesem Hintergrund erklärt sich Henrys zentrale These, dass der Modus des Selbsterscheinens bzw. der Selbstoffenbarung des Lebens nicht die Affektion durch etwas Bewusstseinsfremdes, Äußeres (wie es die klassische Philosophie sieht), auch nicht die Affektion durch sich selbst als Anderes im Medium der Zeit bzw. der Einbildungskraft (wie es die Phänomenologien Husserls bzw. Heideggers sehen), sondern die reine Selbstaffektion des Lebens, das sich im Gefühl an sich selbst offenbart, ist. Ist die affektive Selbstoffenbarung des Lebens jedoch eine unhintergehbare Bedingung allen intentionalen Bezogenseins und mithin des »Zur-Welt-Seins« überhaupt, so verdankt sich auch der »impressionale Weltgehalt« nicht mehr einer »intentionalen Sinngebung«, sondern – so Henrys These – der nicht-intentionalen Selbstaffektion des Lebens als Pathos. Dieses pathische, d. h. radikal passive Selbsterscheinen macht Henry zufolge die unsichtbare Realität des sich in seiner Immanenz selbst affizierenden Lebens aus. Was Henry als Selbstaffektion bezeichnet, geht der klassischen Unterscheidung von Aktivität und Passivität voran.21 Sie ist ursprünglicher als die Passi18 Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Aus dem Französ. von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1994, S. 274. 19 Henry, Michel: L’essence de la manifestation. Paris 2003 [1963], S. 590 f. 20 Kühn, Rolf: »Principium individuationis als Ontologiekritik«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 52/2 (2005), S. 171 – 190, hier 188; systematisch ders.: Individuationsprinzip als Sein und Leben. Studien zur originären Phänomenalisierung. München 2006. 21 Vgl. hierzu und zum Folgenden Tengelyi, L‚szlû: »Selbstheit, Passivität und Affektivität bei

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vität des Erleidens einer Wirkung oder auch von Gefühlen und Stimmungen. Es handelt sich also um eine urpassive Affektivität. Für Henry macht sie zugleich – und dies ist ein entscheidender Punkt seines Systems – den ermöglichenden Grund von Selbstheit aus. Denn sie ist, so seine Begründung, in jedem Gefühl selbst noch als dessen »Sich-selbst-Empfinden«, d. h. als dessen urpassive Selbstbezüglichkeit22, impliziert. Dagegen spricht nicht, dass affektive Zustände wie Empfindungen einen Weltbezug aufweisen. Der Fremdbezug der Sinnesempfindung, ihre Hetero-Affektion, macht nur die Affektivität nicht aus. Oder anders gesagt: »Henry ist davon überzeugt, dass nicht die Widerfahrnisse die Affektivität bestimmen, sondern die Affektivität erst das Widerfahren der Widerfahrnisse ermöglicht.«23 Dass dabei alle Stimmungen, Gefühle etc. sich »selbst ausgeliefert sind«, in ihrem »Sich-selbst-immer-schon-Gegebensein« ohne Rückzugsmöglichkeit gegen sich gedrückt, an sich »gekreuzigt« sind, wie Jad Hatem es formuliert24, bedeutet, dass ihnen ein Leidenscharakter zukommt. Gleichwohl erleidet sich das Leben in ihnen nicht nur. Henry versteht das Leiden vielmehr als »Weg«. Indem es sich darin selbst übersteigt und bei sich »ankommt«, ist dieses Es-selbst-sein, seine Selbst-Gegebenheit, vielmehr auch die unversiegbare Quelle des Genusses und der Freude. Macht und Ohnmacht verschlingen sich also in dieser Erfahrung einer »Gabe, die nicht abgewiesen werden kann«25, sondern das Leben als »ursprüngliche Kraft« (Henry spricht auch von »Trieb«) in sich selbst kommen läßt. Dieses In-sich-kommen, diese Gabe des Lebens, »die nicht abgewiesen werden kann«, versteht Henry als Gabe des absoluten – d. h. traditionell gesprochen göttlichen – Lebens. Die »transzendentale Geburt« des Lebendigen im (absoluten) Leben beschreibt folglich keinerlei faktische Genese oder Individuation, sondern eine conditio: Es handelt sich um die conditio der Sohnschaft, wie Henry in seiner christologisch inspirierten Transformation seines phänomenologischen Grundgedankens in »Ich bin die Wahrheit« festhält:

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Henry und Levinas«, in: Staudigl, Michael / Trinks, Jürgen (Hg.): Ereignis und Affektivität. Zur Phänomenologie des sich bildenden Sinnes. Wien 2006, S. 226 f. Henry beschreibt damit, um in der Sprache der neueren Diskussionen um den Status von Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu sprechen, eine Form prä-reflexiven Selbstbewusstseins, das, was man auch sense of self nennt. Vgl. dazu V. a. Dan Zahavis Berücksichtigung der Henryschen Position in: Zahavi, Dan: Subjectivity and Selfhood. Investigating the FirstPerson Perspective. Cambridge / London 2005, S. 106, 116 u. ö. Tengelyi, L‚szlû: »Selbstheit, Passivität und Affektivität bei Henry und Levinas«, in: Staudigl, Michael / Trinks, Jürgen (Hg.): Ereignis und Affektivität. Zur Phänomenologie des sich bildenden Sinnes. Wien 2006, S. 225. Hatem, Jad: »Verifikation und Sich-Erleiden«, in: Nowotny, Stefan / Staudigl, Michael (Hg.): Perspektiven des Lebensbegriffs. Randgänge der Phänomenologie. Hildesheim 2005, S. 253 – 263, hier 254. Henry, Michel: L’essence de la manifestation. Paris 2003 [1963], S. 593.

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»Den Menschen von Christus aus zu verstehen, der selbst von Gott aus verstanden wird, beruht seinerseits auf der entscheidenden Einsicht einer radikalen Phänomenologie des Lebens, die gerade auch die des Christentums ist: Daß nämlich das ›Leben‹ denselben Sinn für Gott, Christus und den Menschen hat, und zwar, weil es nur ein und dasselbe Wesen des Lebens gibt, sowie noch radikaler nur ein einziges und einmaliges Leben. Dieses ›Leben‹, das sich selber in Gott selbstzeugt und in seiner Selbstzeugung in sich den transzendentalen Ur-Sohn als die wesenhafte Ipseität zeugt, in der sich diese Selbstzeugung erfüllt, ist das ›Leben‹, von dem her der Mensch seine transzendentale Geburt bezieht, und zwar genau dadurch, daß er ›Leben‹ ist sowie ausdrücklich als solcher im Christentum definiert wird, nämlich als Sohn dieses einzigen und absoluten Lebens und somit als ›Sohn Gottes‹.«26

Diese inner-trinitarische Auffassung von der Selbstzeugung des absoluten Lebens, der darin sich ereignenden Zeugung eines »Erst-Lebendigen« (d. h. Christus), durch die dieses absolute Leben sich selbst realisiert, und schließlich der Zeugung jedes Lebendigen (Individuums) in und durch dieses Leben, weist eine christologische Spitze auf: Christus als der in perfekter Reziprozität mit dem absoluten Leben gezeugte »Erst-Lebendige« stellt für Henry jene ursprüngliche oder »ältere Ipseität« eines »›ersten Sich‹«27 dar, durch die jeder Lebendige die unabweisbare Gabe des Lebens nur erlangen kann.28 Diese christologischen Explikationen Henrys sind keineswegs als bloße Theologie abzutun. Phänomenologisch betrachtet bricht sich in ihnen eine bemerkenswerte Modifikation im Begriff der Selbst-Affektion die Bahn. Es scheint, dass Henry damit auf jene Kritik reagierte, die seinem Ansatz vorhielt, dass die Immanenz keinerlei Struktur und keine Geschichte besitze und mithin auch jeglichen Fremd-Bezug, jede Hetero-Affektion also, ausschließe.29 Dagegen

26 Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 142. 27 Ebd., S. 161 u. 365. 28 Zur Selbstzeugung des Lebens als Zeugung des »Erst-Lebendigen« vgl. ebd., Kap. 4, zur Zeugung jedes lebendigen als »Sohn Gottes« bzw. »Sohn im Sohn« vgl. ebd., Kap., 6 u. 7; zu Reziprozität bzw. Asymmetrie als den entscheidenden Relationen dieses innertrinitarischen Prozesses, anhand dessen Henry die Phänomenalität des Lebens denkt, vgl. Rivera, Joseph M.: »Generation, interiority and the phenomenology of Christianity in Michel Henry«, in: Continental Philosophy Review 44/2 (2011), S. 205 – 235. Dass diese christologische Position Henrys schon im Frühwerk L’essence de la manifestation, genauer in der dortigen EckhartInterpretation angelegt bzw. vorgezeichnet ist, zeigen Gondek, Hans-Dieter / Tengelyi, L‚szlû: Neue Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt am Main 2010, S. 336 ff.; eine klassisch-phänomenbologische, kritische Lesart dieser »phänomenologischen Theologie des absoluten Lebens« bietet. Hart, James G: »Michel Henry’s Phenomenological Theology of Life. A Husserlian Reading of ›C’est moi, la verit¦‹«, in: Husserl-Studies 15/3 (1998) S. 183 – 230. 29 Diese Kritik kehrt in verschiedenen Variationen wieder. Vgl. neben B. Waldenfels’ später zitierter Kritik etwa Janicaud, Dominique: Le tournant th¦ologique de la ph¦nom¦nologie franÅaise. Paris 1991, S. 58 – 61, bes. 60.

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stellt Henry nun die Unterscheidung einer starken bzw. absoluten oder naturierenden und einer schwachen, d. h. relativen oder naturierten Selbstaffektion: »Das singuläre oder einzelne Sich affiziert sich selbst; es ist die Identität des Affizierenden und des Affizierten, aber es hat diese Identität nicht selber gesetzt. Das Sich affiziert sich nur selbst, insofern sich das absolute Leben in ihm selbstaffiziert. Das Leben in seiner Selbstgebung ist es, welches das Sich an es selbst gibt. Das Leben in seiner Selbstoffenbarung ist es, welches das Sich diesem selbst offenbart.«30

Ohne hier die christologische Transformation von Henrys Denken eingehender diskutieren zu können, scheint mir daran der folgende Punkt von herausragender Bedeutung zu sein: Das Sich-selbst-Erfahren des Lebens vollzieht sich Henry zufolge gemäß der genannten pathischen Dualität von Sich-Erleiden und Sich-Erfreuen. Als ursprüngliche ontologische Passivität begründet diese »Antinomie der affektiv phänomenologischen Grundtonalitäten«31, d. h. die »antinomische Struktur des Lebens selber«32, Henry zufolge Selbstheit, oder wie er eben sagt, Ipseität. Dies ist der Fall, weil die urpassive Affektivität des Lebensvollzuges nicht aus sich ist – ich »finde mich«33 vielmehr selbstaffiziert, wie Henry in »Ich bin die Wahrheit« nun formuliert. Die Ipseität ist also weder absolute Selbstaffektion, noch resultiert sie aus dem – dies sei hier eigens unterstrichen – unpersönlichen Vollzug anonymer Kräfte oder Triebe.34 Sie ist vielmehr in dem Maße selbsthaft, wie sie sich selbst auf dem Grunde der sie ermöglichenden Selbstaffektion des absoluten »Lebens« in ihr auf bleibende »affektive Formationen«35 hin überschreitet, d. h. sofern in der urpassiven Affektivität des Gefühls in eins das Wesen der Subjektivität erfahren wird. Indem sie die Last des Gefühls trägt, diese auf der Grundlage ihrer Sohnesbedingung als die Last ihres eigenen Seins erfährt, kommt sie in »Besitz [ihrer] selbst sowie einer jeden der Modalitäten seines Lebens«36 – wird sie Subjekt, das sich auf Welt bezieht.

30 Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 151. 31 Ebd., S. 280. 32 Zur Struktur dieser »Antinomie« vgl. ebd., S. 277 ff. 33 Ebd., S. 151. 34 Vgl. dazu Audi, Paul: Michel Henry. Une trajectoire philosophique. Paris 2006, S. 204 ff.; Gondek, Hans -Dieter / Tengelyi, L‚szlû: Neue Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt am Main 2010, S.130 ff. 35 Cf. Henry, Michel: L’essence de la manifestation. Paris 2003 [1963], S. 590 ff.; vgl. ders.: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 337, wo Henry von »Verdichtung« spricht. 36 Ebd., S. 279.

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Zur Krise der Kulturrealität in lebensphänomenologischer Perspektive

Um die innovative Bedeutung seiner praktischen Philosophie zu erhellen, gilt es zu verstehen, wie Henry den zuletzt angesprochenen Weltbezug näher denkt. Es handelt sich hier, dies ist grundsätzlich festzuhalten, um eine »Welt«, die nicht vorgegebenes Ziel ist, das die Lebensselbstbewegung anleitete. »Welt« ist für Henry weder im traditionellen Sinne »All der Dinge«, noch phänomenologisch betrachtet »Horizont der Horizonte« noch auch Medium der Sorge. Henry fasst Welt im Gegenteil als das, wie er sagt, »immemoriale Gedächtnis« unseres Fleisches. Mit dem Terminus »Fleisch« (chair) bezeichnet er – im schroffen Gegensatz zum späten Merleau-Ponty, der darunter das gemeinsame Milieu von Subjekt und Objekt versteht – eine immanente Ur-Praxis, d. h. ein transzendentales »Ich kann«, in dem Weltgehalt und Ausübung unserer Potentialitäten auf der Grundlage unserer Affektivität unauflöslich miteinander verbunden sind: »Wenn die Welt nirgendwo nachgibt, wenn das Gewebe des Sinnlichen kontinuierlich ist, ohne Mangel noch Lücke und in keinem Punkt zerreißt, wenn jede Faser oder jedes Korn dieses Gewebes unendlich evozierbar ist, dann deshalb, weil jedes der Vermögen, welches mich bis zu ihnen hin trägt, dasjenige eines Fleisches ist, welches durch nichts von sich getrennt wird und sich stets in einem Gedächtnis ohne Kluft, ohne Denken, ohne Vergangenheit, ohne Gedächtnis gegeben ist – in seinem immemorialen Gedächtnis. Was unzerreißbar ist, ist mein Fleisch. Die Einheit der Welt ist folglich eine immanente Einheit; sie hält sich in der Parusie meines Fleisches.«37

Die konkrete Erfahrung von Welt »erfordert« also, wie Henry folgert, »als ihre letzte Möglichkeit ein Bewusstsein ohne Welt, ein akosmisches Fleisch«38. Er versteht darunter im Anschluss an Maine de Biran die »immanente Leiblichkeit« unseres »Ich kann«. Dieses »Ich kann« ist als ein uns übereignetes lebendiges Vermögen zu denken, das die unbegrenzte Wiederholung konkreten Könnens allererst möglich macht.39 Dem Fleisch als materialer Konkretion der Selbstgegebenheit des Sich (der Ipseität), kommt damit die Aufgabe einer Entfaltung der Selbstaffektion des Lebens zu.40 Es leistet gleichsam ihre Übersetzung in »affektive Formationen« und d. h. »Habitusformen des transzendentalen Lebens«41, 37 Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 2002, S. 230. 38 Ebd. 39 Dazu genauer ebd., bes. S. 227 f. 40 Vgl. dazu genauer Kühn, Rolf: Leiblichkeit als Lebendigkeit. Freiburg / München 1992; ders.: Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie. Würzburg 2004, S. 173 ff. 41 Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 349. Eine Studie solcher tran-

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die die Lebenswelt als eine Welt des Lebens in ihrem innersten Wesen ausmachen.42 Damit ist näher angezeigt, wie die Transzendenz (der Welt) aus der Immanenz (des Lebens) anders zu verstehen ist denn als ein »irreelles Beschlossensein« von Sinn – nämlich als »affektive Formation«, »Verdichtung« oder auch »immemoriales Gedächtnis« unseres Fleisches. Wie hat man sich diese Beschreibungen der Lebensselbstbewegung jedoch genauer vorzustellen? Wie ist zu denken, dass die »Wirklichkeit der Welt […] nichts mit ihrer Wahrheit, mit ihrer Weise des Zeigens, mit dem ›Außen‹ eines Horizonts, mit irgendeiner Objektivität zu tun [hat]« – dass die »Wirklichkeit, die den Weltgehalt bildet«43, vielmehr das Leben ist? Genau diese Rede, dass es nur eine einzige Wirklichkeit, die des unsichtbaren Lebens, geben soll, die Rede weiterhin von seinem »akosmischen Fleisch« und seiner »ind¦pendance radicale«44, in der die Transzendenz fundiert sein soll, konfrontiert uns mit dem entscheidenden Einwand gegen Henrys Ansatz. Genau diesen gilt es nun genauer zu reflektieren, wenn wir zeigen wollen, dass sein Ansatz auch für sozial- und kulturphilosophische Probleme sowie Fragestellungen der politischen Philosophie nutzbar gemacht werden kann. Der besagte Einwand lautet: Wendet uns die »Gegen-Reduktion«, die die Manifestation der Transzendenz in der immanenten Selbst-Offenbarung des absoluten Lebens zu fundieren sucht, nicht allen Versicherungen zum Trotz von der Welt ab, d. h. verkörpert sie nicht eine »vollständige Missachtung aller wirklichen Bestimmungen des Lebens«45 ? Verschließt uns diese Rückfrage ins Ursprüngliche nicht in einen »Mystizismus der Immanenz«, die in ihre eigene Nacht eingeschlossen ist, auf immer unfähig, zur Sprache und zur Welt zu kommen? »Nimmt« – um zusammenfassend Bernhard Waldenfels’ exemplarische Formulierung dieser Kritiktendenz zu zitieren – »die negative Charakterisierung der Selbstaffektion als nicht-intentional, nicht-vorstellend, nicht-se-

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szendentalen sozialen Habitusformen und ihrer effektiven phänomenologischen Genese im Leben bietet G¦ly, RaphaÚl: Rúles, action sociale et vie subjective. Recherches — partir de la ph¦nom¦nologie de Michel Henry. Bruxelles et al. 2007. Dies impliziert nicht zuletzt eine revolutionäre Neufassung der sog. Intersubjektivitätsprobematik, die nicht mehr von einem gegebenen Ego ausgeht, sondern von der angesprochenen »Sohnesbedingung« als einem »vor-vereinenden Wesen« (vgl. ebd., S. 345 ff., hier 358). Henry führt diese Thematik in Inkarnation dann im Kontext einer Relektüre des Konzepts des »mystischen Leibes Christi« weiter (vgl. Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 2002, S. 385 ff.); zur Transformation der Intersubjektivitätsproblematik bei Henry vgl. Khosrokhavar, Farhad: »La scansion de l’intersubjectivit¦. Michel Henry et la probl¦matique d’autrui«, in: Rue Descartes 35/1 (2002), S. 63 – 75. Ebd., S. 341 f. Henry, Michel: L’essence de la manifestation. Paris 2003 [1963], S. 160. Janicaud, Dominique: Le tournant th¦ologique de la ph¦nom¦nologie franÅaise. Paris 1991, S. 64.

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hend oder nicht-ekstatisch [nicht] ständig Bezug auf den Weltbezug, den sie suspendiert«?46,47 Henrys Antwort auf diese Fragen wäre dezidiert negativ. Er würde dagegen setzen, dass nur eine nicht-intentionale Phänomenologie die Wirklichkeit der Welt zu begründen vermag: als eine lebendige Wirklichkeit, die mit ihrer objektiven Wahrheit – d. h. der Wahrheit, wie wir sie in der Welt aussagen können – nichts zu tun hat. Dies bedeutet freilich nicht, dass unser Leben den konkreten Weltgehalt hervorbrächte, sondern nur, dass dieser nur als lebendiger möglich ist, d. h. dass seine Intelligibilität in nichts anderem als der Variation, Transformation und Steigerung jener individuellen Potentialitäten beruht, die seinem welthaften Erscheinen voraufgehen. Dies sah Henry zufolge Husserl durchaus, nur gelang es ihm nicht, diese Einsicht durchzuhalten: »Husserls Phänomenologie hat das Nicht-Intentionale nicht verkannt, da er es im Gegenteil im Sinne der hy´le als eine Grundschicht des Bewußtseins bezeichnete. In einigen seltenen Texten […] erscheint die Hyle sogar als mehr als eine bloße Komponente des Bewußtseins, denn sie tritt als das auf, was es dem Bewußtsein erlaubt, Bewußtsein zu sein, indem [sie] dieses an sich selbst gibt, bevor das Bewußtsein alle Dinge gibt. Allerdings kehrt sich diese entscheidende Funktion der Urimpression […] sofort um: Die Hyle ist nämlich nur eine Materie für die Form, welche allein das Vermögen besitzt, erstere zu erhellen und daraus ein Phänomen zu machen – und diese lichtgebende Form ist die Intentionalität. Somit wird das ursprüngliche Wesen der Phänomenalität im Sinne der Offenbarung der Impression als Impression, das heißt als ihre Impressionabilität bzw. auch als ihre Affektivität, verdunkelt […]. [Mit dieser Verdunkelung der verborgenen Quelle und des ursprünglichen Wesens der Phänomenalität […] findet sich nicht weniger als das konkrete Leben der Menschen aus dem Feld des philosophischen Denkens ausgeschlossen. Damit wird dieses Denken – und zwar durch die Phänomenologie selber – der Außenheit und letztlich einem verheerenden Objektivismus ausgeliefert, der sich mit der galileischen Wissenschaft deckt, die sich selbst durch das Außerspielsetzen der Subjektivität, das heißt des Lebens, in ihrer Definition der rationalen Erkenntnis des materiellen Universums bestimmt hatte.]«48

46 Waldenfels, Bernhard: »Antwort auf das Fremde. Grundzüge einer responsiven Phänomenologie«, in: Waldenfels, Bernhard / Därmann, Iris (Hg.): Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik. München 1998, S. 35 – 49, hier 41 f. (Fn. 6). 47 Verkörpert also die Subjektivität, deren Parusie hier gedacht wird, nicht eben jene bloß »schöne Seele«, deren »durchsichtige Reinheit« und Beziehungslosigkeit Hegel dem Christentum vorgehalten hat? Vgl. dazu Hegel, Georg Wilhelm F.: »Der Geist des Christentums und sein Schicksal«, in: Frühe Schriften (Werke Bd. 1). Hg. von Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1994, S. 400. 48 Henry, Michel: »Nicht-intentionale Phänomenologie und Gegen-Reduktion«, in: Kühn, Rolf / Staudigl, Michael (Hg.): Epoch¦ und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie. Würzburg 2003, S. 75.

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In diesem Zusammenhang wird schon deutlich, inwiefern Henrys Werk trotz aller Kritik an Husserl doch auch als eine Fortführung der Husserlschen KrisisDiagnose zu verstehen ist.49 Freilich ist zu sehen, dass »Objektivismus« hier nicht nur die von der Galileischen Reduktion inaugurierte Finalität der objektiven Wissenschaften und den Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit meint, den Husserl einer »ermüdeten« Vernunft anlastet.50 »Objektivismus« bezeichnet hier in kritischer Wendung vielmehr die diesen Prozessen noch zugrundeliegende – und von der klassischen Phänomenologie erneut signierte – Selbstauffassung des Menschen als Subjekt im Lichte des »ontologischen Monismus«. Der Mensch, reduziert auf das Subjekt seiner Selbsterkenntnis bzw. der Sorge um sich, unterliegt darin einer »systemischen Auslöschung der transzendentalen Humanitas, die das lebendige Erscheinen ermöglicht und im letzten selbst ist«51. In seinem Buch Die Barbarei spricht Henry im Gegenzug zu anderen BarbareiAnalysen folglich auch nicht von Auschwitz, dem Gulag oder anderen Genoziden. Diejenige »Barbarei«, die Henry vor Augen hat, betrifft vielmehr jene »selbstzerstörerische Erkenntnisverkürzung«52, die ihm zufolge all diese Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit möglich gemacht hat: den Szientismus. Unter Szientismus versteht Henry die Auffassung, dass es »keinen anderen Wissensmodus als die galileische Wissenschaft und letztlich die moderne Physik gibt.«53 Unter der von den Humanwissenschaften geteilten Voraussetzung einer universalen Abstraktion von allen sinnenhaften bzw. subjektiven Qualitäten reduziert sich folglich auch unser Wissen vom Menschen auf die objektaffine Explikation seiner Erscheinung in der Wahrheit der Welt. Der Barbarei-Analyse geht es vor diesem Hintergrund nicht einfach um die »Lebensweltvergessenheit« oder die Eindimensionalität der Technik als »Gestell« und deren Folgeethikprobleme, die heute den philosophischen Diskurs besetzen. Diese Probleme werden im Rahmen von Henrys dezidiert konservativ auftretender Kulturkritik durchaus thematisiert.54 Im Kern jedoch zielt seine Analyse auf nichts anderes

49 Vgl. dazu auch Hart, James G.: »A phenomenological theory and critique of culture: A reading of Michel Henry’s La Barbarie«, in: Continental Philosophy Review 32 (1990), S. 255 – 270. 50 Vgl. Edmund Husserls sog. »Wiener Vortrag«, in: Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einführung in die transzendentale Phänomenologie (Husserliana Bd. VI), Den Haag 1954, S. 314 – 348, hier genauer 347 f. 51 Kühn, Rolf / Thireau, Isabelle: »Einführung in die Henrysche Kulturanalyse«, in: Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Aus dem Französ. von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1994, S. 9 – 72, hier 34. 52 Ebd. 53 Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 363. 54 Vgl. bspw. »Die Krise des Okzidents«, in: Nowotny, Stefan / Staudigl, Michael (Hg.): Per-

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als die Möglichkeit einer Zerstörung des Lebens durch sich selbst, die allen diesen Krisenerscheinungen noch zugrunde liegt – und von ihnen mehr oder minder bewusst bzw. gezielt ausgenutzt wird. Henrys These besagt, dass der Keim aller Barbarei in einer Selbstzerstörung des Lebens gründet. Die Möglichkeit, dass sich das Leben selbst zerstören wollen kann, liegt dabei keineswegs evident auf der Hand, wie schon ein kurzer Blick auf die philosophische Tradition von Spinoza über Hegel bis L¦vinas zeigt. Henry zufolge ist diese Möglichkeit jedoch konstitutiv für das Leben und gründet in seiner bereits angesprochenen pathischen Dualität. Um diese Möglichkeit zu verstehen, gilt es, die Dynamik des affektiven gegen sich selbst Gedrängt-seins, d. h. der unauflöslichen, urpassiven Selbst-Gegebenheit des Lebens noch genauer ins Auge zu fassen. Henry zufolge kann diese Passivität des Lebens sich selbst gegenüber, die wie gesagt der Keim seiner Steigerung und damit die Bedingung jeglicher Kultur ist, dazu führen, dass sich das Leben gegen sich selbst wendet. Unter welcher Bedingung ist dies jedoch nur möglich? Unter der Bedingung, dass es sich nicht mehr an sich selbst zu steigern vermag, unter der Bedingung, dass es seinen Seinsgrund nicht angemessen umzusetzen vermag, denn solche Umsetzung gehört zu seinem Wesen: »Die Behauptung, das Leben erprobe (s’¦prouve) sich selbst, heißt, daß es sich selbst gegenüber und mithin einem Grund gegenüber passiv ist, der es trägt […] Es gibt folglich Raum für eine Meditation oder für eine Anstrengung, die darauf abzielt, diesen Grund des Seins in uns lebhafter empfinden zu können.«55

Religion, Mystik, Kunst, Ethik etc. sind in der bisherigen Kultur die exemplarischen Beispiele für diese sich selbst steigernde Artikulation dessen, was auch die »Sakralität des Lebens« genannt wurde. Was mit diesen »symbolischen Stiftungen«56 für Henry auf dem Spiel steht, ist jedoch keineswegs nur die vorwissenschaftliche Geltung subjektiver Erfahrungsrelevanz gegenüber dem Objektivismus wissenschaftlicher Weltbetrachtung. Auf dem Spiel steht vielmehr das Innerste dieser Erfahrung selbst als »kulturelle Lebenspraxis« vor allem tradierten Weltbezug und mithin aller symbolisch vermittelten Erfahrung. spektiven des Lebensbegriffs. Randgänge der Phänomenologie. Hildesheim 2005, S. 121 – 132. 55 Henry, Michel: »Le monde moderne: un savoir sans culture. Un entretien avec Michel Henry«, in: Aurores (Februar 1987), zit. in: Kühn, Rolf / Thireau, Isabelle: »Einführung in die Henrysche Kulturanalyse«, in: Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Aus dem Französ. von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1994, S. 37 f. 56 Der Begriff der »symbolischen Stiftung« geht bekanntlich auf M. Merleau-Ponty zurück. Wie L. Tengelyi argumentiert (»Kultur als symbolische Sinnstiftung. Versuch einer Begriffsbestimmung«, in: Kurbacher, Frauke / Novotny´, Karel / Wendt, Karin (Hg.): Aufklärungen durch Erinnerung, Selbstvergewisserung und Kritik. Würzburg 2007, S. 93 – 102), kann er als Grundbegriff einer phänomenologischen Kulturtheorie verwendet werden.

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Damit ist gleichwohl nicht mehr nur wie bei Husserl die transzendental-ästhetische Genese der Logik als »Logik der Welt«57 zu denken aufgegeben, ebensowenig jene »Stiftungsgeschichte«58, die einen generativen Sinn- und Lebenszusammenhang herstellt.59 Henry geht es vielmehr um die Rückfrage in die Passivität des Lebenspathos als niemals stillzustellendem Oszillieren zwischen sicherfreuendem Leben-können wie Nicht-mehr-leben-wollen im Sich-erleiden ein und desselben Lebensvollzugs. Vor diesem Hintergrund läßt sich festhalten, dass es die Selbsterprobung des Sich-erleidens des Lebens ist, vor der der Szientismus bzw. das Wissenschaftswissen flüchten will, wenn er die sinnliche Dimension lebendiger Subjektivität ausklammert, ja vor der wir flüchten, wenn wir unsere subjektiven Potentialitäten im Rekurs auf »ideale Entitäten« zu leben vorgeben.60 Diese Flucht des Lebens ins Äußere jedoch erreicht wirklich monströse Formen, wenn sie anhebt, sich von sich selbst zu trennen, um so die Flucht an ihr grundsätzlich unerreichbares Ziel zu bringen: »Dieser Sprung [sc. außerhalb von sich; M.S.] ist eine Flucht in die Äußerlichkeit, in der es darum geht, vor sich selbst zu fliehen und sich folglich dessen zu entledigen, was man ist, sowie vom Gewicht dieser Malaise und dieses Leids. Doch bleibt diese Flucht in sich selbst gefangen […] Infolgedessen bleibt ein einziger Ausweg: diese Malaise und dieses Leid, derer man sich nicht entledigen kann, einfach zu zerstören. Jedoch haben beide ihre Möglichkeit im Sich-selbst-erfahren und mithin im Leben, so daß daraufhin dieses – sein eigenes Wesen – unterdrückt werden muss. Aber ebenso wenig wie die Selbstflucht erreicht auch diese Selbstzerstörung ihr Ziel, wenn gilt, daß der Akt, sich zu zerstören, nur unter der Bedingung möglich ist, in sich das Wesen zu aktualisieren und so zu bejahen, was er zerstören will.«61 57 Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Hamburg 1985, S. 37. 58 Husserl verwendet diesen Begriff sowohl zur Charakterisierung des genetischen Erwerbs ichlicher Apperzeptionsstrukturen – vgl. etwa Husserl, Edmund: Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927 (Husserliana Bd. XXXII). Dordrecht et al. 2001, S. 268 –, als auch im Rahmen seiner »generativen Analysen« im Umkreis des Krisiswerks, wo damit die Dynamik generativer Sinnbildung beschrieben wird; vgl. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlaß 1934 – 1937 (Husserliana Bd. XXIX). Dordrecht 1993, S. 62. 59 Damit erschließt sich bei Husserl m. E. bereits die Möglichkeit, dass der Sinn solcher Geschichte sich weder auf eine mit sich identische Ur- bzw. Endstiftung zurückzuführen ist, d. h. letztlich weder teleologisch noch archäologisch verfasst ist, eine Möglichkeit, der Husserl jedoch nicht mehr weiter nachgehen konnte. 60 Diese Substitution behandelt Henry in seinem Werk zu Marx, in dem er nachweist, dass Marx’ »transzendentaler Blick« auf Gesellschaft und Wirtschaft dem Nachweis gegolten habe, die lebendige, oder wie dieser sagt, »wirkliche« Arbeit als unaufhebbare praktische Grundlage nicht nur der irreellen Repräsentanten der Ökonomie, sondern auch des Ökonomischen in Erinnerung zu rufen, d. h. zu zeigen, daß die Arbeit selbst nichts Ökonomisches ist.« Vgl. dazu Henry, Michel: Marx (2 Bde. in einem Band) Paris 1991. 61 Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik. Aus dem Französ. von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1994, S. 295 f.

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Das Leben erhält sich also noch in seinem Vorhaben, sich selbst zu zerstören. Die Barbarei, so Henry, ist eine »ungenutzte Energie«62, eine »Energie«, die ihr eigenwesentliches Leiden nicht mehr durchquert, um sich so an sich selbst zu steigern. Aus dieser unerträglichen Situation des Lebens, das sich in seinem Versuch, sich selbst zu zerstören, nicht hinter sich lassen kann, resultiert eine Raserei der »Selbstflucht«: »Die Selbstflucht ist der Titel, unter dem sich alles einordnen lässt, was heute vor unseren Augen geschieht. Dazu gehört nicht die Wissenschaft an sich selbst, die als Naturerkenntnis, welche sie in ihren Verfahrensweisen definiert, insgesamt positiv ist, sondern der Glaube […], daß diese Galileische Wissenschaft das einzig mögliche Wissen, die einzige Wahrheit bilde. Demzufolge gibt es als wahre, das heißt wirkliche Realität, keine andere Realität als das Objekt dieser Wissenschaft, wodurch auch der Mensch selbst nur aufgrund dieses Anspruchs wirklich ist und jedes ihn betreffende Wissen nur eine Weise oder Form dieser einzigen Wissenschaft sein kann. Eine Ideologie – der Szientismus und Positivismus – hat sich hier der Wissenschaft substituiert […].63

Die genannte Selbstflucht ereignet sich keineswegs nur auf der Ebene des Theoretischen. Im Sog dieser Selbstflucht, der das szientistische Außerspielsetzen des Lebens durch das System antreibt, diversifizieren sich vielmehr die Praktiken der Barbarei, in denen sich das Leben »außerhalb von sich wirft«64. Henry nennt verschiedene solche Praktiken, von der wissenschaftspraktischen Abwertung des Lebens über seine teletechnologische Projektion und Simulation bis hin zur Zerstörung der Universität. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine »unmenschliche Welt«65 – die Welt als das »immerwährende Außen« nämlich – schaffen, deren Wahrheit über die Wirklichkeit des sie ermöglichenden Lebens entscheidet. Das Leben unterliegt damit einer fundamentalen ontologischen Erschütterung, denn es wird Gegenstand einer fortwährenden Simulation des Lebens. Damit aber etabliert sich eine Lebensform, in der die »Form der Kommunikation ihr Gehalt«66 wird, eine »Kultur« mithin, aus der die »Kultur des Lebens« ausgeschlossen, der »großen Jagd« – dem Worte Nietzsches zufolge – nach der »Wahrheit der Welt« geopfert wurde: »Denn die Welt ist ein Medium reiner Äußerlichkeit. Alles, was in ihr die Bedingung seines Seins findet, bietet sich immer nur als Außen-sein an, als Wand der Äußerlichkeit, als Oberfläche, als ein Strand, der sich dem Blick anträgt und über den dieser Blick endlos hinweggleitet, ohne jemals in das Innere davon eindringen zu können, das sich ihm hinter einem neuen Aspekt, einer neuen Vorderseite oder einer neuen Blende 62 63 64 65 66

Ebd., S. 284. Ebd., S. 296. Ebd., S. 301. Ebd., S. 325. Ebd., S. 362.

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entzieht. Da nämlich dieses Sein nur Äußerlichkeit ist und kein Inneres besitzt, ist sein Gesetz das Werden, das unaufhörliche Emportauchen neuer Seiten wie Flächen und die Erkenntnis stellt der spurenhaften Abfolge all dieser Köder nach, von denen ein jeder sich ihr nur als anwesend erweist, um sogleich sein Sein heimlich verschwinden zu lassen […] Kein Inneres, das heißt nicht Lebendiges, das in seinem eigenen Namen sprechen könnte, im Namen des von ihm Erfahrenen, im Namen dessen, was es gibt. Es gibt nur ›Ding‹, es gibt nur den Tod, denn im Vor-aus der Welt und in ihrem ekstatischen Entbergen zeigt sich und exponiert sich immer nur das immerwährende ›Vor‹, das immerwährende ›Außen‹ […]«

Jene »ontologische Lüge«, die das Leben im Horizont der Welt denkt, versteht mithin das Leben vom Tod her. Der »Zusammenbruch des Humanismus in all seinen Formen« ist Henry zufolge also nichts anderes als die notwendige Konsequenz dieser tiefliegenden Barbarei des modernen Geistes, der noch dort die Verteidigung eines wahrhaften Menschen ausruft, wo er diesen bereits zu einer leblosen Kopie seiner selbst, zu einem Automaten also, degradiert hat.67

3.

Das Politische und die Versuchungen der Transzendenz

Nun ist die Barbarei, von der Henry spricht, jedoch nicht nur eine Krise der Kultur im Sinne einer Selbstzerstörung der »praktischen Gesetze«, denen gemäß sich die Selbststeigerung der subjektiven Potentialitäten des Lebens verwirklicht. Ihre Logik wirkt im politischen Handeln nicht weniger tiefgreifend, im Gegenteil. Nirgendwo nämlich zeigte sie sich deutlicher, als in den Katastrophen der europäischen Politik im 20. Jahrhundert. Henry versucht diese »Form« der Barbarei in seinem 1990 erschienenen Buch Du communisme au capitalisme. Th¦orie d’une catastrophe auch ins Auge zu fassen. Ich verweise hier nur auf sein Hauptargument, dass es nämlich den Faschismen und Totalitarismen gelungen sei, zunächst die lebendigen Individuen dazu zu bringen, sich selbst in ihrem unhintergehbaren Leben zu negieren, um sie so dazu zu bringen, andere zu zerstören: »Halten wir hier einfach fest, daß das Leben als solches niemals der Ursprung eines Verbrechens sein kann, d. h. eines gegen es gerichteten Aktes, ausgenommen, daß es sich in jenen monströsen Prozeß der Selbstnegation des Selbst verwickelt, der der do67 In »Ich bin die Wahrheit« wird Henry diese Diskussion im Zeichen des Antichristmotivs wieder aufgreifen. Denn was ist der Automat anderes, so läßt sich mit Henry fragen, als das »Standbild des Tieres« (Apk 13,15) (vgl. Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 372 ff.), das – um es in Henrys Worten zu sagen – dafür steht, dass kein Mensch ein lebendiges Sich zu sein braucht, um sich zu erfahren, mithin also nicht in seine Bedingung gesetzt worden sein muss, der Vermittlung Christi im Sinne des Erstlebendigen also nicht bedarf.

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235

minierende Charakterzug des modernen Nihilismus und insbesondere des Faschismus ist.«68

Die ontologische Selbstflucht des Lebens, wie Henry sie in Die Barbarei paradigmatisch beschrieben hat, wird hier also in einer neuen Hinsicht diskutiert. Henry verfolgt in diesem Rahmen das Prinzip des Faschismus auf das zurück, was er die Hypostase des Politischen nennt. Diese besteht in dessen Ansetzung als ein Allgemeines, in dessen Licht sich das partikuläre Individuum nur seiner selbst sicher sein kann, sich zugleich aber auch dazu verdammt findet, sich in seiner Nichtigkeit diesem Allgemeinen gegenüber zu erfahren. Die Hypostase des Politischen, seine Erhebung zu einem realen Sein, kappt also die Verbindung zum immanenten Lebensvollzug der Individuen und ihrer »pathischen Intersubjektivität«, um sie dem supponierten Blick aller – den etwa Hegels Rede vom »Staatslicht« auf den Begriff bringt – zu unterstellen: »Das Individuum ist nichts anderes mehr als der Inhaber eines Platzes, der von der Gesamtheit der Prozesse ausgegrenzt wird, welche die Substanz der Gesellschaft bilden und deren Berücksichtigung als solche, als Angelegenheit der civitas, das Politische definiert. Das Politische ist alles, das Individuum ist nichts.«69

Die damit einhergehende Abwertung des Individuums definiert für Henry den Kern des Faschismus, seinen nicht nur direkt, sondern strukturell vorgetragenen Angriff auf das Leben als solches: »Der Faschismus impliziert immer die Abwertung des Individuums und es gibt in ihm, am Grunde jenes Willens zu seiner Abwertung, den Willen es zu negieren. Diese Negation des Individuums läßt von Anbeginn an den Faschismus als eine Kraft des Todes erscheinen – doch um welches Individuum handelt es sich? Unter welchem Aspekt, in welchem Teil seines Seins muß dieses angezielt, angegriffen und genauer noch negiert werden, sodaß man von Faschismus sprechen kann? In dem, was aus ihm einen Lebendigen macht. […] Dort, wo das Individuum ein Individuum ist, dort, wo es dieses singuläre Individuum ist, in seinem Leben, schlägt der Faschismus zu. Dadurch ist er […] wirklich eine Kraft des Todes.«70

Es ist also der Angriff auf das Leben nicht in dessen kontingenten Verkörperungen, sondern in seinem Wesen, sich selbst zu erscheinen, sich selbst gegeben zu sein und sich auf der Grundlage dieser ursprünglichen Passivität an sich selbst offenbaren zu können, den der Faschismus vorträgt. Es ist anders gesagt 68 Henry, Michel: Du communisme au capitalisme. Th¦orie d’une catastrophe. Paris 1990, S. 89. 69 Henry, Michel: »Das Leben und die Republik«, in: ders.: Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1992, S. 318 70 Henry, Michel: Du communisme au capitalisme. Th¦orie d’une catastrophe. Paris 1990, S. 94.

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der Angriff auf das phänomenologische Wesen des absoluten Lebens, das jeden Lebendigen ausmacht. Die Abgründigkeit der im Faschismus leibhaftig gewordenen Hypostase des Politischen, seine phantasmatische Verkörperung in einem »Volkskörper« (oder auch in einem »Klassenbewusstsein« etc.) steht damit klar vor Augen: »Wenn das Volk seine Realität im Individuum hat, dann ist dessen Verneinung in Wirklichkeit eine Selbstverneinung. Die Zeit des Politischen ist die Zeit der Verzweiflung; der Augenblick, wo das Leben, wo das Individuum, da sie aufhören, an sich selbst zu glauben, sich selbst entfliehen wollen. Sie werfen sich außerhalb ihrer selbst in alles hinein, was diese Flucht ermöglichen kann, und insbesondere in die politische Existenz, in eine Existenz, die der öffentlichen Sache, der Geschichte, der Gesellschaft und ihren Problemen gewidmet ist – all dem, was es dem Individuum erlaubt, nicht mehr aus seinem eigenen Leben heraus zu leben und sich selbst zu vergessen.«71

Nicht nur die »Hypostasierungen des Politischen« im real existierenden Sozialismus bzw. im Nazismus und deren menschenverachtende bzw. todbringende Folgen verweisen Henry zufolge jedoch auf diese Abgründigkeit des Politischen. Zweifellos sind es die totalitären Ideologien, die die Angst vor der Bodenlosigkeit gemeinschaftlichen Mit-seins zu instrumentalisieren verstanden, indem sie diese Angst auf die ontologische Inkonsistenz des von ihnen konstruierten Individuums projizierten.72 Der Zusammenbruch dieser Gesellschaftssysteme sollte Henry zufolge gleichwohl nicht davon ablenken, dass selbst die Demokratie noch diesem Subjektverständnis und seinen Aporien unterliegt – Aporien, die nur allzu leicht das praktische Versagen der Demokratie und damit staatlich legitimierte Gewalt gegen den Einzelnen zur Folge haben kann. Henry zufolge gründet sich das Versagen der Demokratie dabei nicht auf kontingente, obzwar fraglos bedenkliche Ereignisse. Dies gilt auch für die scheinbar zwangsläufig sich einstellende »Willkür« der sich etablierenden Eliten oder die »Inkompetenz« der politischen Vertreter73, welche in einer »Legiti71 Henry, Michel: »Das Leben und die Republik«, in: ders.: Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1992, S. 320 f. 72 Ich kann diese These, die davon ausgeht, dass der Totalitarismus die durch seine Inkarnation bedingte ontologische Schwäche des Subjekts ausbeutet, hier nicht näher begründen; vgl. dazu aber aus verschiedenen Hinsichten Bergoffen, Debra B.: »The Body Politic: Democratic Metaphors, Totalitarian Practice, Erotic Rebellions«, in: Philosophy & Social Criticism 16 (1990), S. 109 – 126; Rogozinski, Jacob: »›Wie die Worte eines berauschten Menschen …‹ Geschichtsleib und politischer Körper«, in: Nagl-Docekal, Herta (Hg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. Frankfurt am Main 1996, S. 333 – 372; sowie Staudigl, Michael: »L’Europe et ses violences. Contribution — une g¦n¦alogie ph¦nom¦nologique des violences extrÞmes«, in: Revue philosophique de Louvain 109/1 (2011), S. 107 – 136. 73 Vgl. Henry, Michel: »Das Leben und die Republik«, in: ders.: Radikale Lebensphänome-

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237

mation durch Verfahren« als hinreichende Beweggründe für ein definitives Versagen letztlich ausscheiden dürften. Für Henry betrifft die entscheidende Frage vielmehr die fehlende Begründung des Demokratischen selbst. Das, was er in Frage stellt, sind also die Fundamente der Demokratie, d. h. Freiheit und Gleichheit der Individuen, wie sie durch die »Menschenrechte« bestimmt erscheinen. Wie er ausführt, stellen die Menschenrechte kein formales Prinzip dar. Im Gegenteil machen sie den Kern dessen aus, was man unter »materieller Demokratie« versteht. Dies bedeutet genauerhin, dass sie nicht als prozedural zugestandene Attribute verstanden werden dürfen, da unter dieser Prämisse prinzipiell auch ihre mögliche Negation demokratisch legitimiert werden könnte.74 Aus dieser Überlegung folgt wiederum, dass die Demokratie ihr Prinzip – L¦vinas spricht hinsichtlich der Menschenrechte analog von einem »extra-territorialen Anspruch« – letztlich nicht in sich selbst finden kann: Denn »[w]ie kann das, was jeder Entscheidung voraus ist, aus einer solchen hervorgehen, auf einer solchen beruhen?«75 Dieser Widerspruch stellt sich Henry zufolge jedoch keineswegs zufällig ein, sondern resultiert, wie er festhält, aus dem Konzept der politischen Repräsentation: »Um sich zu verwirklichen hat das demokratische Prinzip die politische Repräsentation eingeführt, aber die politische Repräsentation [qua Substitution der Individuen durch Repräsentanten und Substitution der Allgemeinheit aller durch die »allgemeine Angelegenheit«; MS] ist die Negation des demokratischen Prinzips»76.

Diese Kritik ist von enormer Tragweite, denn sie impliziert die grundsätzliche Frage, ob und falls ja wie – politisch, ethisch oder religiös? – sich die Grundwerte der Demokratie begründen lassen. Für Henry läßt sich diese Begründung nur nologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie. Aus dem aus demFranzösischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1992, S. 322 ff. 74 Henry, Michel: »Difficile d¦mocratie«, in: Ph¦nom¦nologie de la vie (Tome III): De l’art et du politique. Paris 2004, S. 167 – 182, hier S. 172 ff. 75 Ebd., S. 181; vgl. Henry, Michel: Du communisme au capitalisme. Th¦orie d’une catastrophe. Paris 1990, S. 180. Die politische Theorie kennt diese These als das sog. »BöckenfördeParadoxon«: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« (Böckenförde, Ernst W.: »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt am Main 1976, S. 60). L¦vinas hierzu: »Die Menschenrechte, derer es also nicht bedarf, verliehen zu werden, wären demnach unwiderruflich und unveräußerlich. Rechte, die, aufgrund ihrer Unabhängigkeit gegen alle Verleihung, die Andersheit oder das Absolute eines jeden Menschen, die Aussetzung aller Referenz ausdrücken: Abschied von der bestimmenden Ordnung der Natur und des sozialen Körpers, in die, im übrigen und offensichtlich, jeder verwickelt ist […]« (L¦vinas, Emmanuel: »Die Menschenrechte und die Rechte des jeweils anderen«, in: ders.: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische. Zürich / Berlin 2007, S. 91 – 108, hier 98, vgl. S. 105 f.). 76 Henry, Michel: »Difficile d¦mocratie«, in: Ph¦nom¦nologie de la vie (Tome III): De l’art et du politique. Paris 2004, S. 172.

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ethisch denken. Ethisch aber ist in Bezug auf das Wesen des Lebens – verstanden eben als unabweisbare Gabe einer Übermacht, d. h. als die »transzendentale Geburt« unseres »Ich kann« aus der Über-Macht des absoluten Lebens (hyperpouvoir de la vie) – gleichbedeutend mit religiös. Um diese Übermacht hätten, so Henry, die religiösen Gesellschaften, auch die sog. »primitiven« gewusst: Sie lebten im fundamentalen Lebenswissen, dass der Mensch »nicht sein eigener Grund ist«; sie lebten dieses Wissen kulturell, in der Kunst etwa, die folglich immer religiös war. Die »Elimination« der letzten religiösen Gesellschaft im Okzident, der christlichen, die das Absolute als Leben denkt, war Henry zufolge die andere Blattseite des Entstehens eines neuen, des galileischen Prinzips, »welches das Leben zugunsten des materiellen Universums außer Spiel setzt«77. Diese Ausklammerung ereignet sich zumal dort, wo, wir sahen es, das demokratische Prinzip mit ihm eine verhängnisvolle »Allianz«78 eingeht. Denn für eine soziale Organisation, die das Prinzip ihrer Organisation in sich selbst zu finden trachtet, muss der augenscheinlich transzendente Ursprung des EthischReligiösen notwendigerweise als eine unannehmbare Exteriorität (ext¦riorit¦ irrecevable) erscheinen. Das demokratische Prinzip definiert sich folglich, wie historisch klar ersichtlich ist, gegen die Sakralität des Lebens, dessen Wesensbestimmung – als Individuum transzendental geboren zu sein – in der neuen Wissenschaft keinerlei Platz findet, ja niemals finden kann. Freiheit und Gleichheit sind darin vielmehr, wie Henry schreibt, »leere Begriffe«79. Es handelt sich um leere Begriffe, weil sie für dieses Denken nicht mehr das Rätsel sind, das sich in der unabweisbaren Gabe des Lebens in jedem Lebendigen stellt und so eine ursprüngliche »ko-pathische Gemeinschaftlichkeit« begründet, die all ihren möglichen »symbolischen Stiftungen« vorausgeht. Daraus aber resultiert eine verheerende Konsequenz, die Henry in aller Knappheit formuliert: »Von dem Augenblick an, wo man in der Tat das Wissenschaftswissen für das einzig wahrhafte Wissen und das galileische Feld des materiellen Universums, das von ihm erfaßt wird, für die einzige Wirklichkeit hält, existiert dann all das darin Erscheinende nicht: nämlich das absolute ›Leben‹, das sich außerhalb von Welt erprobend erfährt; die ›Ipseität‹ dieses Lebens […]. Der ›Tod Gottes‹, welcher das melodramatische Leitmotiv des modernen Denkens ist, einem kühnen philosophischen Durchbruch zugeschrieben und im Chor vom zeitgenössisch papageienhaften Nachplappern wiederholt wird, ist nur die Absichtserklärung des modernen Geistes und des schalsten Positivismus. Aber weil der Tod Gottes die innerste Möglichkeit des Menschen insofern

77 Ebd., S. 170. 78 Ebd., S. 175. 79 Ebd., S. 177.

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zerstört, als kein Mensch möglich ist, wenn er nicht zuerst ein lebendiges ›Sich‹ und ein Ich ist, trifft er den Menschen selbst in dessen Mitte.«80

Aus dieser Einsicht in die wahre Natur des »Todes Gottes« als prägendem Kennzeichen der modernen Krise des Subjekts ergibt sich eine weitere Kardinaleinsicht Henrys – die Einsicht in den Verlust nämlich eines originären Ethos, eines »Ethos gemäß der Selbstgebung des Lebens«81: »Aus diesem Grund verschwindet auch die unantastbare Liebe zum Anderen, sobald jene Bedingung fehlt. Der andere ist dann nicht mehr als ein anderer Mensch, ein Mensch, so wie die Menschen sind. […] Durch das Vergessen ihrer wahrhaften Bedingung sowie der wahrhaften Bedingung des Anderen verhalten sie sich selbst und den Anderen gegenüber wie Menschen. Jene erbauliche Moral insgesamt, die beabsichtigte, sich auf den Menschen, auf die Menschenrechte zu gründen, entdeckt nunmehr ihre schreckenerregende Leere. Ihre Vorschriften werden lächerlich gemacht, die Welt dem Grauen, der schmutzigen Ausbeutung, den Massakern und Völkermorden ausgeliefert. Es ist kein Zufall, wenn im 20. Jahrhundert das Verschwinden der ›religiösen‹ Moral nicht Anlaß für eine neue, die ›welthafte Moral‹ war, das heißt für eine Moral ohne jede angebbare Grundlage, sondern Anlaß für den Zusammenbruch jeder Moral und für das schreckenerregende, obgleich tägliche Schauspiel dieses Zusammenbruchs.«82

4.

Schlussbemerkung

Was in den vorliegenden Reflexionen unterstrichen werden sollte ist die abgründige Tatsache, dass die »immanente Teleologie des Lebens« – seine Tendenz, sich als Kraft unaufhörlich selbst zu übersteigen –, wenn sie leerläuft und »ungenutzt« bleibt, wenn sie derart auf »natürliche Bedürfnisse« reduziert wird, sich letztlich gegen sich selbst und gegen andere – qua Projektionen der Selbstverwerfung des entfremdeten Eigenen – wendet. Denn eine solcherart entleerte und »leere Subjektivität« ist, wie Henry festhält, eine »gierige Subjektivität«.83 Auch das ideologisch bzw. wissenschaftlich reduzierte Leben hört nicht auf zu leben. Als »leere« aber entflieht die Subjektivität sich nicht nur gierig in immer neue – insbesondere medial und prozedural generierte – Repräsen80 Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 369. 81 Vgl. dazu genauer Kühn, Rolf: »Ethos gemäß der Selbstgebung des Lebens«, in: Waldenfels, Bernhard / Därmann, Iris (Hg.): Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik. München 1998, S. 221 – 238. 82 Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 359. 83 Henry, Michel: Du communisme au capitalisme. Th¦orie d’une catastrophe. Paris 1990, S. 222.

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tationen des Lebens und ebenso viele Vorstellungen ihrer »Selbst als ein Anderer«. Vielmehr noch verstrickt sie sich in dieser Selbstflucht in eins auch immer tiefer in die Angst, nichts zu sein – eine Angst, der scheinbar nur durch die Projektion seiner selbst auf eben diese Repräsentationen eines abwesenden Lebens – jene Transzendenzsurrogate oder »unausgetrunkenen Möglichkeiten«, von denen Nietzsche sprach – beizukommen ist. Die »wahre« Transzendenz, »die Immanenz des Lebens in jedem Lebendigen«84 fällt so einem Vergessen anheim, das Henry zufolge transzendental ist.85 Ein solches Selbst-Vergessen des Lebens aber bedeutet folglich nicht nur einen Ausdruck einer Lebensverneinung, sondern ist vielmehr auch Ausdruck des Lebens selbst. Wenn Henry von einer »zweiten Geburt« spricht, die uns davon befreien soll86, so fragt es sich jedoch, ob er nicht gerade damit die »unzerbrechliche Positivität des Lebens«87 – d. h. die wesenhafte Duplizität seiner Erscheinensweisen – zerbricht und die Verantwortung des Lebendigen angesichts der ihm übereigneten Schöpfung – und d. h. auch der Welt – ausstreicht. In der Transzendenz gilt es folglich nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein »Biotop«88 des sich in der Immanenz selbst ergreifenden Lebens zu verteidigen. Es gilt mithin, das Selbstvergessen des Lebens als seine transzendentale Möglichkeitsbedingung zu verstehen. Darauf weisen auch die letzten Worte Christi hin, so wie sie das Evangelium nach Matthäus überliefert: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« (Mt 27,46; vgl. Mk 15,34) In ihnen spricht sich eine kenotische Wahrheit der Welt aus, für die wir als Lebendige einzustehen haben, wie es Jan Patocˇka in einem Kommentar dieser Worte Christi darlegt: »Es ist nichts Mystisches daran, es ist ganz einfach. Warum hast Du mich verlassen? – die Antwort ist in der Frage schon enthalten. Was würde passieren, wenn Du mich nicht verlassen hättest? Nichts würde passieren. Es kann nur dann etwas passieren, wenn Du mich verlassen hast […] Verlassen hast Du mich gerade deswegen, damit kein Ding mehr da bliebe, damit kein Anhaltspunkt zu finden ist.«89 84 Henry, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 2002, S. 195. 85 Zum komplexen Topos des Vergessens bei Henry vgl. Steinbock, Anthony J.: »The Problem of Forgetfulness in Michel Henry«, in: Continental Philosophy Review 32/3 (1999) S. 271-302. 86 Vgl. Henry, Michel: »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1997, S. 377. 87 Henry, Michel: Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie. Aus dem Französischen von Kühn, Rolf. Freiburg / München 1992, S. 181. 88 Vgl. Longneaux, Jean-Michel: »D’une philosophie de la transcendance — une philosophie de l’immanence«, in: Revue philosophique de la France et de l’Êtranger 126/3 (2001) S. 305 – 319. 89 Patocˇka, Jan: P¦cˇe o dusˇi III. Hg. von Chvat†k, Ivan / Kouba, Pavel. Prag 2002, S. 413; vgl. auch die französische Übersetzung in »S¦minaire sur l’Àre technique«, in: ders.: Libert¦ et sacrifice. Êcrits politiques. Aus dem Tschechischen von Abrams, Erika. Grenoble 1990, S. 277 – 324, hier S. 310 f.

IV. Interkultureller Dialog – konkret

Jameleddine Ben Abdeljelil (Wien)

Vernunft und Glaube: Ansätze einer (islamischen) Religionsphilosophie bei Ibn Ruschd – Averroes1

Abu Al-Walid Muhammad Ibn Ruschd (Averroes) wurde 1126 n.C. (520 Hidschra2) als Sohn und Enkel einer Gelehrten- und Richterfamilie in Cordoba geboren. Nach einem sehr fruchtbaren und besonders am Ende beschwerlichen Leben im Dienste der verschiedenen Zweige der Wissenschaften starb er 1198 n.C. (595 H.) in Marrakesch. Nach seinem Tod entstand im europäisch christlichen und jüdischen Kontext das Phänomen des Averroismus als philosophische freidenkerische Richtung, welches einen bedeutenden Einfluss vom Mittelalter bis zur Neuzeit ausgeübt hat. Die Schriften unseres Philosophen fanden den Weg nach Europa zuerst über den freigeistigen Kaiser Friedrich II, der sie direkt aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzen ließ, aber auch über die Vermittlung hebräischer Übersetzungen. Bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts lagen auf diese Weise fast alle Kommentare des Averroes zu Aristoteles in lateinischen Übersetzungen vor, und seit diesem Zeitpunkt gilt er als »der große Kommentator« und kommt in der Rangordnung gleich hinter dem »Philosophen« Aristoteles. Seine eigenständigen Abhandlungen aber, in denen Ibn Ruschd zu dem entscheidenden Problem Stellung nimmt, nämlich wie das Verhältnis von Glaubens- und Vernunftwahrheiten zu bestimmen sei, sind entweder später oder gar nicht ins Lateinische übertragen worden.3 1 Es wird im Interesse der besseren Lesbarkeit bei der Transkription arabischer Namen und Begriffe auf die Verwendung diakritischer Zeichen verzichtet. 2 Hidschra ist die Islamische Zeitrechnung; benannt nach der Emigration (Hidschra) des Propheten Mohammad von Mekka nach Medina im Jahr 622 n. Chr. Ein einfaches Abziehen der Zahl 622 von der »christlichen« Jahreszahl ergibt jedoch nicht das richtige Higrit-Jahr, da die islamische Zeitrechnung das Mondjahr, und nicht, wie die christliche, das Sonnenjahr zugrunde legt. Ich habe im Folgenden daher die islamischen Jahresangaben, wenn möglich, hinzugefügt und werde dafür die übliche Abkürzung »H.« verwenden. 3 Von Kügelgen, Anke: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zur Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden / New York / Köln 1994, siehe Einleitung; Al-Khudairi, Zeyneb: Atharu ibn ruschd fi falsafati al-usur al-wusta (»Der Einfluss von Ibn Ruschd auf die Philosophie des Mittelalters«). Kairo 1993, S. 42 – 50; Chahlan, Ahmad: Ibn ruschd wal-fikr al-

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In der Philosophiegeschichte, aber auch im Bild, das sich seine frühe Rezeption von ihm gemacht hat, nahm Ibn Ruschd den Platz eines rationalistischen Philosophen ein, der über die Grenzen seiner Religion hinausgeht und eine universal-menschliche, allen gemeinsame Ausgangsgrundlage, welche aus der Vernunft und deren Regeln ihre Legitimation bezieht, postuliert. Sein Streben war es, der Philosophie zur Geltung zu verhelfen. Er wollte klarlegen, dass gediegene wissenschaftliche Forschung den religiösen Glaubensinhalten in Wirklichkeit nicht widersprechen könne. Es schmerzte ihn, dass Al-Ghazali, der sein Wissen der Philosophie zu verdanken hatte, gegen sie nur zerstörend auftrat. Ibn Ruschd trat unermüdlich gegen Al-Ghazali bzw. die Mutakallimun mit ihrer populistischen, irreführenden Vermischung von Philosophie und Religion auf. Er vertrat den Standpunkt der strengen Trennung der beiden Bereiche, aber appellierte auch dafür, dass die Menschen gemäß ihrem Denkvermögen und ihren intellektuellen Fähigkeiten und psychischen Neigungen angesprochen werden sollen. Er plädierte damit für einen rationalen, sachlichen, gegenüber einem populistisch simplifizistischen Diskurs. Erwähnenswert an dieser Stelle ist, dass die Philosophie und das Denken von Ibn Ruschd in der arabischislamischen Geistesgeschichte ohne bedeutende Auswirkungen blieben, während sie in der mittelalterlichen Geistesgeschichte sowohl auf die jüdische als auch auf die christliche einen sehr wichtigen Einfluss ausübten. Denn eben hier war es der Fall, dass eine Denkrichtung und Tradition entstand, die in der Philosophiegeschichte unter dem Begriff Averroismus bekannt ist. Diese lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: es gab schon seit dem 13. Jh. in Europa, besonders in Frankreich und in Italien, bis zum 17. Jh. eine ununterbrochene Tradition der aristotelischen Philosophie, die man Averroismus nennen kann, weil sie ihre grundlegenden Anstöße von dem arabischen »Kommentator« erhielt. Ihre Hauptzentren waren an den Universitäten von Paris und von Padua. Dieser Averroismus zieht Interesse auf sich durch seine Tendenz, mehr die Gegensätze als die Gemeinsamkeiten zwischen Philosophie und Theologie zu betonen, er verschweigt daher kaum seinen Unglauben gegenüber der religiösen Wahrheit und muss als unmittelbare Vorstufe des späteren Libertinismus und Freidenkertums betrachtet werden. Die folgende Skizze einiger Thesen Ibn Ruschds und seiner Kritik an Positionen verschiedener islamischer Schulen und einzelner Denker soll zur Klärung dieser Problematik dienen. Einige der skizzierten Thesen sind äußerst komplex und nicht unwidersprüchlich. Der Komplexität, die teils durch ihre Herkunft aus unterschiedlichen Werken, teils durch die verschiedenen Perspektiven, aus ibriy al-wasit. (»Ibn Ruschd und das mittelalterliche hebräische Denken«, Bd. I). Marrakesch 1999, S. 455 – 461; Hayoun, Maurice-Ruben / De Libera, Alain: AverroÀs et l’averroisme. Paris 1991, S. 3 – 18.

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denen heraus Ibn Ruschd eine Theorie behandelt, zustande kommt, wird hier so weit wie möglich Rechnung getragen. Eine mögliche Rekonstruktion der averroischen Lehren ist im vorliegenden Zusammenhang wichtig, insofern, dass sie einige entscheidendende Aspekte in der Rezeption beleuchten kann. Die Unterscheidung zwischen den Kommentaren, den rein philosophischen Werken Ibn Ruschds und seinen religionsphilosophisch-theologischen Schriften gründet sich auf Ibn Ruschds eigener methodischen Trennung von Religion und Wissenschaft bzw. Philosophie. Diese Trennung zieht weitere methodische Konsequenzen nach sich. Denn Ibn Ruschd unterteilt in seinen Schriften die Menschen als potentielle Leser und Adressaten je nach ihrem Denkvermögen und ihren geistigen Fähigkeiten in drei Gruppen mit ihren jeweiligen Diskursformen, Überzeugungsmethoden und Arten der Beweisführung: »1. Eine Klasse von Leuten, die absolut nicht zu denen der Interpretation gehören, dies sind die bloß rhetorischen Ausführungen Zugänglichen und bilden die überwiegende Masse. Es findet sich nämlich kaum ein einziger von gesundem Menschenverstand, dem diese Art von »Fürwahrhalten« abgeht. 2. Eine andere Klasse besteht aus den Leuten der dialektischen Interpretation, diese sind die Dialektiker, teils bloß von Natur, teils von Natur und Gewohnheit zugleich. 3. Eine dritte Klasse sind die Leute der evidenten Interpretation, dies sind die meisten der Demonstration von Natur und Kunst, nämlich von der Kunst der Philosophie.«4

Ibn Ruschd warnt ausdrücklich davor, diese Trennung auf Diskursebene nicht zu beachten, und die verschiedenen Methoden miteinander zu mischen, besonders die dialektische und die demonstrative, wie Al-Ghazali in seinen Büchern es getan hat. Denn so könne man den Menschen nur in Verlegenheit und auf Irrwege bringen. »Teilt man etwas von diesen Interpretationen einem Unwürdigen mit, dies gilt besonders für demonstrative Interpretationen, die der gemeinen Kenntnis allzu ferne liegen, so führt dies beide, den Mitteiler und den Hörer, zum Unglauben. Der Grund dafür ist, dass der Zweck der Interpretation auf die Aufhebung des Wortlautes und die Festsetzung des Interpretierten geht. Wenn nun der Wortlaut für den, dem eigentlich bloß der Wortlaut zugänglich ist, aufgehoben wird, ohne dass für ihn das Interpretierte feststeht, so führt dies zum Irrtum.«5

Die Unterscheidung Ibn Ruschds zwischen den verschiedenen Diskursen und deren Methoden zur Beweisführung geht letztendlich aus einer erkenntnistheoretischen Grundlage hervor. Denn die Menschen, die sich von den rhetorischen Beweisführungen überzeugen ließen, haben ihre Erkenntnis auf Grund 4 Müller, Marcus Joseph: Philosophie und Theologie von Averroes (Acta Humaniora). Aus dem Arabischen übersetzt von Müller, Marcus Joseph, mit einem Nachwort von Vollmer, Matthias. Weinheim 1991, S. 20. 5 Ebd., S. 20 – 21.

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der sinnlichen Wahrnehmungen erlangt, die aber nicht darüber hinaus geht. Diese Menschen bleiben in der Welt der Sinne verhaftet und können logisch abstrahierte Beweisführungen nicht annehmen, wenn diese für sie in Widerspruch mit den Evidenzen der sinnlichen Wahrnehmung stehen. Für die breitere Masse der Menschen sind die abstrahierten Beweisführungen nach Ibn Ruschd unzulänglich und nicht zweckerfüllend. Hier tritt der religiöse Diskurs effizienter mit seiner Überzeugungskraft auf, indem die komplexen metaphysischen Wahrheiten durch metaphorische bildhafte Darstellungen, die für die Sinne nicht fremd und der Masse vertraut sind, begreiflich gemacht werden. Die Philosophen hingegen gehen über die sinnlichen Wahrnehmungen hinaus, indem sie ihre Beweisführungen, ausgehend von der empirisch naturwissenschaftlich erklärten physischen Welt, mit Hilfe der Syllogismen schlüssig und argumentativ evident aufbauen.6 Der Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen bzw. philosophischen und dem dialektischen bzw. spekulativen, theologischen Diskurs (Kalam) besteht für Ibn Ruschd darin, dass die Philosophen ihre Erkenntnis auf Grund der empirischen naturwissenschaftlichen Ergebnisse aufbauen, um darüber hinaus abstrahierte, logisch schlüssig bewiesene Wahrheiten zu erlangen. Sie gehen von der Physik aus, um mit Hilfe der Logik metaphysische Erkenntnisse zu gewinnen. Ihre Beweisführungen und Argumentationen sind sowohl in ihren Prämissen und Zusatzannahmen als auch in ihrer Schlüssigkeit überprüfbar und dürfen keinen Widerspruch aufweisen. Das höchste Ziel der Philosophen ist, die Wahrheit zu erlangen, Erkenntnis und Wissen für den Menschen zu erweitern. Die Mutakallimun hingegen in ihren »dialektischen Argumentationen« gehen von der Metaphysik aus, um dann physische und Naturphänomene erklären zu können. Die Grundlage ihrer metaphysischen Grundsätze sind religiöse Dogmen, die als Glaubensgrundlage für sie anzunehmen sind. Ihr Ziel ist in erster Linie, Anhänger zu gewinnen, jedoch nicht Erkenntnis aufzubauen.7 Ibn Ruschd wirft den Mutakallimun vor, auf der Stufe der dialektischen Beweisführung (jadal) stehen zu bleiben. Dies führe nur zu wahrscheinlichen Konklusionen, während allein die demonstrative Beweisführung (burhan) der Philosophen Gewissheit erbringe. In seiner Kritik an den Mutakallimun ging es für Ibn Ruschd um die Sicherung einer Wahrheitserkenntnis, die sich auf die Natur der Dinge und nicht auf göttliche Wunder gründet, mit denen letztlich der Zusammenhang des natürlichen Geschehens und damit die eigentliche Wissenschaft aufgehoben wäre. Die Mutakallimun hatten die Freiheit und Allmacht Gottes nur dadurch zu begründen gewusst, dass sie das natürliche Werden aus 6 Al-Jabiri, Muhammad Abed: Ibn Ruschd: sira wa fikr, dirasah wa nussuss (»Ibn Ruschd. Biographie und Denken, Studie und Texte«). Beirut 1998, S. 116 – 117. 7 Ebd.

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der Eigenwirklichkeit der Dinge leugnen und alles Geschehen einem ständigen Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen anheim stellen.8 In dem Verhältnis zur Religion ging es für Ibn Ruschd insbesondere darum, die Gültigkeit des philosophischen Wissens gegenüber dem religiösen Glauben zu sichern. Für ihn sagt die wissenschaftliche Philosophie, wenn sie von einer exakten Methode ausgeht, notwendigerweise die Wahrheit, ebenso aber sagt die Religion die Wahrheit, wenn sie, ohne es umzudeuten – wie es die Mutakallimun tun –, vom göttlichen Wort der Offenbarung ausgeht. Die Philosophie vertritt die Wahrheit auf Grund der wissenschaftlichen Demonstration, die Religion auf Grund einer Offenbarung in anschaulichen Symbolen. Beide Wahrheiten müssen nach Ibn Ruschd in Einklang miteinander stehen. Wenn sich dennoch zwischen ihnen Widersprüche finden, dann beruht dies darauf, dass es einige wenige letzte Wahrheiten gibt, die allein den Philosophen zugänglich sind.9 Den Ruf eines progressiven Philosophen, der die konservative antiphilosophische Theologie widerlegte, bekam Ibn Ruschd durch sein Buch »tahafut attahafut«. Ibn Ruschd versucht in diesem Werk aufzuzeigen, dass sowohl die Argumente, die Al-Ghazali gegen bestimmte Lehren der falasifa vorbringt, als auch viele dieser Lehren selbst nicht die Stufe der Gewissheit (yaqin) erreichen, da sie nicht durch schlüssige Demonstration (burhan) bewiesen worden seien.10 Al-Ghazali hatte in seiner Schrift »Widerlegung der Philosophen« (oder »Inkohärenz der Philosophen«: tahafut al-falasifa) versucht, den Philosophen in zwanzig vorwiegend metaphysischen Fragen Inkohärenzen nachzuweisen, die er für glaubensgefährdend hielt. Siebzehn davon beurteilte er als Häresie (bid’a), und drei fallen unter den Vorwurf des Unglaubens (kufr).11 Dieses harte Vorgehen Al-Ghazalis gegenüber der Philosophie spiegelte das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Philosophie wider. Al-Ghazalis Ziel bei der Abfassung der »Destructio Philosophorum« war es, die philosophischen Theorien zu widerlegen, um letztendlich zu einem theologischen Urteil zu gelangen. Die Legitimation seines Urteils gegen die Philosophen bezieht er aus dem Widerspruch 8 Behler, Ernst: Die Ewigkeit der Welt. München / Paderborn / Wien 1965, S. 121, 191; Maimonides (en Maimon, Mose): Der Führer der Unschlüssigen. Hg. und aus dem Arabischen übersetzt von Weiss, Adolf. Mit einer neuen Einleitung und Bibliographie versehen von Maier, Johann. Hamburg 1995 [1923/24]. Teil I, Kap. 73. 9 Müller, Marcus Joseph: Philosophie und Theologie von Averroes (Acta Humaniora). Aus dem Arabischen übersetzt von Müller, Marcus Joseph, mit einem Nachwort von Vollmer, Matthias. Weinheim 1991, S. 18 ff. 10 Averroes (Ibn Ruschd, Abu Alwalid Muhammad): Tahafut at-tahafut (»Die Widerlegung der Widerlegung«). Arabische Ausgabe dargelegt und bearbeitet von Bouygues, Maurice (Bibliotheca Arabica Scholasticorum, S¦rie arabe: Tome III). Beirut 1986 [1930], S. 3, 22; Horten, Max: Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus dem arabischen Original übersetzt und erläutert von Horten, Max. Bonn 1913, S. 1, 26. 11 Al-Ghazali (Abu Hamid Mohammed): tahafut al falasifa (»Die Widerlegung der Philosophen«). Beirut 1990.

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zu den religiösen Dogmen, sie wird aber auch aus den theologischen Rechtsurteilen, die sich im System der islamischen Jurisprudenz (fiqh – schar’) ergeben, begründet. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Religion bzw. zwischen Vernunft und religiöser Überlieferung bildet den grundlegenden Teil der islamischen philosophischen Tradition des Mittelalters. Nach Renan und Gauthier hält Ibn Ruschd im Rahmen dieser Auseinandersetzung an dem Primat der Philosophie fest, denn die Religion hatte sich in seinem Denken entweder als »Religion fürs Volk« der Philosophie unterzuordnen, oder sie hätte in der esoterischen Ausdeutung durch die Philosophie selbst bestanden. Gegenüber diesen Fürsprechern eines rationalistischen Averroes gab es aber auch eine Reihe von Averroes-Forschern, für die Ibn Ruschd, nach einer Formulierung von Max Horten, ein »Apologet des Koran« ist.12 Die hauptsächlichen Vertreter dieser Sicht sind, außer Horten selbst, Mehren, Alonso und andere. Tatsächlich stützt sich Ibn Ruschd in einigen Stellen seiner Polemik und seiner Widerlegungsversuche der Mutakallimun in auslegender Weise auf religiöse Texte, den Aufbau seiner Argumentation versuchte er allerdings logisch philosophisch zu begründen. Denn bei heiklen Fragen wie der der Ewigkeit der Welt bzw. der Schöpfungsfrage, wo sich das Spannungsverhältnis und der Widerspruch zwischen Philosophie und Offenbarung am deutlichsten manifestiert, verweist Ibn Ruschd als Ausweg aus dem Dilemma auf die kategorische Verschiedenheit der beiden Erkenntnisarten und Welterklärungskonzepte, der Philosophie bzw. der Demonstration einerseits, der Offenbarung und der religiösen Überlieferungen anderseits. Bei derart schwierigen Fragen, die nicht anders als durch wissenschaftliche Demonstration beantwortet werden können, habe Gott nach der Meinung von Ibn Ruschd jenen seiner Diener, die keinen Zugang zur Demonstration haben, die Gunst erwiesen, in der ihnen eigenen Erfindungskraft Bilder und Symbole zu schaffen, die ihnen die Zustimmung und den Glauben ermöglichen.13 Aus diesem Grunde unterscheidet er im religiösen Text eine exoterische und eine esoterische Dimension, wobei der exoterische Bereich jene Bilder sind, welche die in Frage stehenden Dinge symbolhaft darstellen; die esoterische Dimension aber sind die bezeichneten Dinge selbst, die sich allein den Menschen der Demonstration, d. h. den Männern der Wissenschaft und des Beweises (ahl al-burhan) enthüllen. Ebenso gibt es Stellen, bei denen die Interpretation des äußeren Sinnes für die Männer der Demonstration obligatorisch ist. Sie können diese Stellen nicht buchstäblich nehmen, ohne dem Unglauben zu verfallen. Dagegen dürfen diejenigen, die nicht Männer der Demonstration sind, diese Stellen 12 Horten, Max: Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus dem arabischen Original übersetzt und erläutert von Horten, Max. Bonn 1913, Vorwort. 13 Behler, Ernst: Die Ewigkeit der Welt. München / Paderborn / Wien 1965, S. 236.

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keinesfalls interpretieren, sie dürfen nicht an ihren äußeren Sinn rühren, da sie sich damit der Anstiftung zum Unglauben oder der Häresie schuldig machen. Denn für diese Menschen kommt die Zustimmung nur aus der Einbildungskraft, sie sind erst dann beruhigt, wenn sie sich die zur Frage stehende Sache bildhaft vorstellen können.14 Derartige Interpretationen dürfen nach Ibn Ruschd nur in wissenschaftlichen Werken dargestellt werden, die nicht allen zugänglich sind. Sie in populären Schriften zu verbreiten, wie es Al-Ghazali versuchte, verstoße ebenso gegen das göttliche Gesetz wie gegen die Weisheit. Leon Gauthier weist darauf hin, dass Philosophie und Religion für Ibn Ruschd in bezug auf die Gesellschaft verschiedene Aufgaben bzw. Funktionen haben. Denn die Religion hat eine praktische Funktion zu erfüllen, nämlich das Leben der Menschen zu ordnen, Ungerechtigkeiten zu verhindern und den Ausgleich im Leben für sie zu ermöglichen, während es die Aufgabe der Philosophie ist, durch theoretische spekulative Demonstration die reine Wahrheit zu erreichen. Der Hauptfehler der Mutakallimun war, diese zwei Wege miteinander vermischt zu haben und damit sowohl der Philosophie als auch der Religion geschadet zu haben. Ibn Ruschd war der Meinung, dass die Religion nicht derselben Ordnung wie die Philosophie angehöre, sie ist, wie wir modern ausdrücken können, pragmatischer Ordnung; allein die Philosophie bewegt sich in der Dimension der reinen Wahrheit. Nach Ibn Ruschd mischen die Mutakallimun die Religion mit der Philosophie, damit verderben sie gleichzeitig Religion und Philosophie, und provozieren religiöse Kriege und fanatische Verfolgungen. Die Theorie Ibn Ruschds von der »falasifa«, die sozusagen den religiösen und den philosophischen Diskurs nur auf Grund ihrer Unvereinbarkeit für vereinbar hält, sei als progressiv eingesetztes Mittel zu verstehen, diese Unruhestifter unwirksam zu machen.15 Für Gauthier gibt es keinen Zweifel, dass die von Ibn Ruschd vorgelegte Darstellung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Religion rationalistisch ist, er nennt die philosophische Doktrin Ibn Ruschds, die sich aus den dialektischen Fußangeln der Mutakallimun befreit, gar einen »Rationalismus ohne Beschränkung«.16 Ibn Ruschd habe seine weltgeschichtliche Aufgabe darin gesehen, gegen den Dogmatismus Abhilfe zu schaffen. Er hoffte, dass sein Werk als Vermächtnis all jenen zum Ausgangspunkt dienen möge, die nach ihm kommen (man yaati ba’dana).17 Ibn Ruschd nahm die Philosophie in Schutz nicht nur gegen die Vorwürfe der Mutakallimun und die Angriffe des Al-Ghazali, er versuchte sie in ihrer aristotelischen Manifestation auch von den gnostischen und neuplatonischen 14 Ebd., S. 237. 15 Gauthier, L¦on: Ibn Rochd (AverroÀs). Paris 1948, S. 41. 16 Zitiert nach Badawi, Abdurrahman: Histoire de la philosophie en Islam (Etudes de Philosophie Medievale). Paris 1972, S. 782. 17 Behler, Ernst: Die Ewigkeit der Welt. München / Paderborn / Wien 1965, S. 238.

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Einflüssen des Ibn Sina und Al-Farabi zu reinigen. Er sah seine philosophische Aufgabe darin, die Philosophie in ihrer aristotelischen Reinheit wiederherzustellen, und sie gegenüber seinen Vorläufern zu verteidigen, die nicht vom natürlichen Aspekt der Dinge ausgegangen seien, sondern Elemente und Gedanken in die Philosophie hineintrügen, zu denen das philosophische Denken für Ibn Ruschd eigentlich keine Veranlassung habe: das Hervorgehen der Welt aus ihrem ersten Prinzip, die Weltschöpfung durch die Emanation des göttlichen Wesens. Zwar waren diese Denker den Erfordernissen der Wissenschaft entgegengekommen, indem sie den inneren Zusammenhang der Welt als notwendig bezeichneten. Weil sich das erste Wesen nicht anders verhalten könne, könne auch die Welt nicht anders sein als sie ist. Ibn Sina hatte, um diese beiden Sichtweisen der Welt zu vereinigen, den Begriff der relativen Notwendigkeit für die Welt entwickelt.18 Dies war eine Konzeption, bei der der Naturzusammenhang als notwendig und damit fest begründet, und dennoch völlig abhängig von Gott erscheint. Ibn Sina war Idealist, Platoniker und gläubig um den Einklang von Philosophie und Offenbarung bemüht. Ibn Ruschd war Realist, Aristoteliker, Naturalist, der die Religion von der Philosophie trennte. Sah Ibn Sina die Gesamtheit der Welt ganz platonisch als Abglanz einer höheren Wirklichkeit, so erblickte Ibn Ruschd ganz aristotelisch in der Welt selber den zureichenden Grund ihres Seins. Rang Ibn Sina vor allem um das Problem des Ursprungs der Welt, so fand Ibn Ruschd die Aufgabe der Philosophie darin, die empirisch fassbaren Tatbestände der Welt zu erklären. Ibn Ruschd suchte die aristotelische Prinzipienlehre gegenüber der neuplatonischen Emanationstheorie Ibn Sinas und Al-Farabis zu beweisen.19 Im Gegensatz zum Grundsatz der Emanationslehre, dass die aus dem Einen hervorgegangene Welt letztlich immer nur Eins bleibe, hält Ibn Ruschd an dem Grundsatz der Einheit des Seins fest. Nichts verhindert, in seinen Augen, dass das erste Prinzip durch die Wirksamkeit seines Aktes eine Vielheit bestimmen kann, ähnlich wie auch die dem Körper eigene Lebenskraft eine Vielheit von Bewegungen hervorzurufen vermag.20 Bei den von ihm verfassten Kommentaren zu den Schriften des Aristoteles verfolgte Ibn Ruschd im wesentlichen zwei Ziele. Zum einen wollte er die Gedankengänge des Aristoteles rekonstruieren, und zum anderen versuchte er, sie von umformendem Einfluss und fremden Elementen zu befreien. Dieses Vorgehen brachte es mit sich, dass er seine eigenen Ergebnisse oft neu zu über-

18 Ebd., S. 59, 188. 19 Ebd. 20 Max: Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus dem arabischen Original übersetzt und erläutert von Horten, Max. Bonn 1913, S. 154 ff.

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denken hatte.21 Ibn Ruschd fügte den früheren Werken des öfteren Ergänzungen und Korrekturen hinzu, wenn er im Laufe seiner Studien zu anderen Ansichten gelangt war, die von den früheren abzuweichen schienen. Dies ist in den Kommentaren zu Aristoteles »De Anima« ebenso zu erkennen, wie in denen zur »Physik«.22 Die unter neuplatonischem Einfluss stehenden Werke Al-Farabis waren Ibn Ruschd bekannt, wohingegen er von den meisten Schriften Ibn Sinas keine direkte Kenntnis gehabt zu haben scheint. Er setzte sich mit dessen Lehrmeinungen durch die Vermittlung des »tahafut al-falasifa« von Al-Ghazali auseinander.23 Ich möchte im Folgenden die Argumentation Ibn Ruschds in den wichtigsten Streitpunkten, nämlich in der Frage nach Entstehung und Ewigkeit der Welt, näher verfolgen. Die Lehre von der Ewigkeit der Welt war die erste Frage, in der Al-Ghazali die Absicht hatte, die Philosophie der Inkohärenz zu überführen. Zu dieser Frage äußerte sich Ibn Ruschd hauptsächlich in seinem Kommentar zur Metaphysik, besonders aber direkt im »tahafut at-tahafut« und im »fasl almaqal«. Denn in den beiden letztgenannten Schriften rückt diese Fragestellung in einen deutlichen Bezug zum theologischen Umfeld, in dem an die Schöpfungslehre und das religiöse Dogma, dass die Welt ex nihilo erschaffen wurde, argumentativ angeknüpft wird. Dies führte Ibn Ruschd zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit den Lehren des Kalam, aber besonders mit Al-Ghazalis Kritik in dessen Widerlegung der Philosophen. Hier wird Ibn Ruschd vorsichtig und besonders präzise, verliert aber keinesfalls die Scharfsinnigkeit und die Konsequenz in seinen Überlegungen. Denn im Falle dieser Lehre lag nach Ibn Ruschd vor allem ein Benennungsunterschied zwischen den Theologen und den Philosophen vor. »Ewig« werde die Welt von denen genannt, die in ihr eine größere Ähnlichkeit mit dem Ewigen (qadim) als mit dem Geschaffenen (muhdath) sehen, umgekehrt werde sie von jenen »erschaffen« genannt, die eine größere Ähnlichkeit mit dem Geschaffenen als mit dem Ewigen entdecken. Doch sie sei weder geschaffen noch ewig, denn im ersten Fall müsste sie vergänglich

21 Leaman, Oliver : Averroes and his Philosophy. Oxford 1988, S. 196 – 201; Pluta, Olaf: »Averroes als Vermittler der Gedanken des Alexander von Aphrodisias«, in: Niewöhner, Friedrich / Sturlese, Loris (Hg.): Averroismus im Mittelalter und in der Renaissance. Zürich 1994, S. 201 – 221; Hayoun, Maurice-Ruben / de Libera, Alain: AverroÀs et l’averrosme. Paris 1991, S. 9 – 42; Urvoy, Dominique: Ibn Rushd (Averroes), Les ambitions d’un intellectuel musulman. Paris 1991, S. 8, 102, 107 – 110. 22 Von Kügelgen, Anke: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zur Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden / New York / Köln 1994, S. 23, 423, 425 f.; Davidson, Herbert A.: Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of human Intellect. Oxford / New York 1992, S. 221. 23 Leaman, Oliver : Averroes and his Philosophy. Oxford 1988, S. 14, 179 ff.

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und zerstörbar sein und im zweiten Falle dürfte es keine tatsächliche Ursache geben. Ibn Ruschd schreibt im »Fasl…«24 : »Was die Frage bezüglich der Ewigkeit (qidam) oder des Entstandenseins (huduth) betrifft, so läuft meiner Meinung nach die Differenz zwischen den Ascharitischen Scholastikern und den früheren Philosophen beinahe bloß auf den Streit über die Namengebung hinaus, besonders bei einigen Alten. Sie stimmen nämlich darin überein, dass drei Arten von Existenzen vorhanden sind, zwei Extreme und ein Mittleres zwischen beiden Extremen, sind aber verschiedener Meinung über das Mittlere. Was das eine Extrem betrifft, so ist es ein Seiendes, das aus einem anderen Ding besteht und von einem andern Ding herkommt, nämlich von einer wirkenden Ursache und aus einer Materie, wobei die Zeit ihm, d. h. seinem Existieren, vorausgeht. Dies ist der Fall der Körper, deren Entstehung durch den Sinn wahrgenommen wird, wie die Entstehung der Erde, des Tieres, der Pflanze und so fort. Alle, sowohl die Alten als die Aschariten stimmen darin überein, diese Klasse von Wesen als entstanden zu bezeichnen. Was das entgegengesetzte Extrem betrifft, so ist es ein Seiendes, das nicht aus Etwas besteht, nicht von Etwas herkommt, und dem keine Zeit vorausgeht. Auch hierbei stimmen beide Parteien überein, dieses Wesen ewig zu nennen. Dieses Wesen wird durch die Demonstration wahrgenommen: es ist Gott, der Alles bewirkt und in die Existenz setzt und zurückholt. Was das mittlere Wesen zwischen diesen Extremen betrifft, so ist es ein Seiendes, das nicht aus Etwas kommt und dem keine Zeit vorausgeht, aber es ist ein Wesen, das von Etwas herrührt, nämlich von einem Agens. Das ist die Welt in ihrer Totalität. Alle stimmen darin überein, dass diese drei Eigenschaften der Welt zukommen. Denn die Scholastiker (Mutakallimun) geben zu, dass ihr keine Zeit vorausgeht, oder es folgt dies wenigstens mit Konsequenz aus ihrem System. Denn nach ihrer Ansicht ist die Zeit etwas mit den Bewegungen und den Körpern Verbundenes. Sie stimmen auch mit den Alten überein, dass künftige Zeit unendlich ist und ebenso die zukünftige Existenz. Nur sind sie verschiedener Meinung über die vergangene Zeit und die vergangene Existenz. Die Scholastiker (Mutakallimun) behaupten, dass sie endlich sei, und dieses ist auch die Lehre Platons und seiner Schule, während Aristoteles und seine Anhänger behaupten, dass sie unendlich sei, wie es mit der Zukunft der Fall ist. In Betreff dieser letzteren Existenz ist klar, dass sie teils mit der eigentlichen entstandenen Existenz und teils mit der eigentlichen ewigen Existenz Ähnlichkeit hat. Bei wem nun die Ähnlichkeit mit dem Ewigen gegenüber der Ähnlichkeit mit dem Entstandenen überwiegt, der nennt sie ewig, und derjenige, bei welchem ihre Ähnlichkeit mit dem Hervorgebrachten gegenüber der Ähnlichkeit mit dem Ewigen überwiegt, nennt sie hervorgebracht; während sie in Wahrheit weder eigentlich entstanden noch eigentlich ewig ist. Denn das eigentlich Entstandene ist notwendigerweise dem Verderben unterworfen. Das eigentliche Ewige a parte ante kennt kein Verderben. Einige nennen es von Ewigkeit hervorgebracht, wie Plato und 24 Müller, Marcus Joseph: Philosophie und Theologie von Averroes (Acta Humaniora). Aus dem Arabischen übersetzt von Müller, Marcus Joseph, mit einem Nachwort von Vollmer, Matthias. Weinheim 1991, S. 11 – 12; Averroes: fasl al-maqal fima bayn al-Hekmat walscharia men al-Ittisal. Bearbeitet und erläutert von Amara, Mohammad. Kairo 1983 [1972], S. 40 – 42.

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seine Anhänger, weil bei ihnen die Zeit in der Vergangenheit endlich ist. Die verschiedenen Systeme über die Welt sind nicht so absolut weit voneinander entfernt, als dass man einige davon für Unglauben erklären könnte und andere nicht.«

Ibn Ruschd behandelte diese Problematik ausführlicher und expliziter in seinen Kommentaren zur Metaphysik und besonders im »tahafut at-tahafut«. Dort sind die Argumentationen durchschaubarer und direkter. In diesem Dialog wechselseitiger Widerlegung von Philosophie und apologetischer Theologie, wie er sich in der »Widerlegung der Philosophen« (Destructio Philosophorum – tahafut al-falasifa) Al-Ghazalis und der »Widerlegung der Widerlegung« (Destructio Destructionis – tahafut at-tahafut) von Ibn Ruschd entfaltet, haben wir eine literarisch übermittelte Diskussion von Argumenten und Gegenargumenten zum Problem der Ewigkeit der Welt vor Augen. Al-Ghazalis Beweise bauen sich aus langen Gedankenketten auf. Er referiert zunächst die Meinung der Philosophen, um sie anschließend zu widerlegen.25 Nun kann man sich seinen philosophischen Gegner zurechtmachen und hat dann eine leichtere Argumentation. Unter dem Vorwand, die wahre Meinung des Gegners etwas breiter und anschaulicher zu erläutern, kann man ihm auch gefährliche Fallen stellen, die seine Auffassung zunichte machen, wenn er im gutem Glauben an die Unparteilichkeit des Gesprächspartners in sie hineinläuft. So korrigierte Ibn Ruschd Al-Ghazalis Einzelargumente, die ihm strittig erschienen und versuchte, die Beweiskette, die gegen die Ansicht der Philosophen aufgebaut wurde, an ihren unzulänglichen Punkten zu rekonstruieren. Schließlich waren die Philosophen, deren Lehren Al-Ghazali entkräften wollte, ja nicht Ibn Ruschd und seine Anhänger selbst, sondern dessen Vorgänger, wie z. B. Ibn Sina. Zu diesem stand Ibn Ruschd in scharfem Gegensatz. Auch hier ergaben sich für ihn zahlreiche Gelegenheiten, korrigierend in die Darlegungen seines Gesprächspartners einzugreifen. Dazu warf Ibn Ruschd Al-Ghazali vor, in seinen Argumenten dialektisch (nicht demonstrativ rein philosophisch) vorzugehen, und diese vermischt dargelegt zu haben. Indem Al-Ghazali sie diskutiert, vermischt er sie untereinander und die gesamte Diskussion wird noch dadurch kompliziert, dass er die philosophischen Argumente und theologischen Gegenargumente in einer solch verwickelten Weise bietet, dass man dem Gedankengang manchmal nur schwer folgen kann.26 Bei dem Versuch, die Einwände Al-Gazalis zu entkräften, wurde Ibn Ruschd zu einem tieferen Verständnis der Problematik als seine Vorgänger geführt. »In 25 Al-Ghazali (Abu Hamid Mohammed): Tahafut al falasifa (»Die Widerlegung der Philosophen«). Beirut 1990, siehe Einleitung. 26 Averroes (Ibn Ruschd, Abu Alwalid Muhammad): Tahafut at-tahafut (»Die Widerlegung der Widerlegung«). Arabische Ausgabe dargelegt und bearbeitet von Bouygues, Maurice (Bibliotheca Arabica Scholasticorum, S¦rie arabe: Tome III). Beirut 1986 [1930], S. 11, 16, 17, 22.

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diesem bemerkenswerten Kampf um die Ewigkeit der Welt«, sagt Gauthier27, »sehen wir die beiden Gegner einen Erfindungsreichtum, eine manchmal subtile Tiefe entfalten, die sie würdig macht, einen sehr ehrenwerten Platz in der Geschichte der universellen Philosophie einzunehmen. Achten wir insbesondere auf alles, was Ibn Ruschd den im allgemeinen mageren, häufig mehr oder weniger vagen Hinweisen des griechischen Meisters hinzufügt. […] Al-Ghazali räsoniert als Theologe, vor allem anderen darauf bedacht, das theologische Dogma der Schöpfung ex nihilo zu schützen. Ibn Ruschd räsoniert als Philosoph, als Physiker und Metaphysiker, dem es besonders darum geht, demonstrativ die Prinzipien einer rationalen Welterklärung aufzustellen, der bereit ist, wenn nötig, den Buchstaben des Dogmas auf die Ebene einer allegorischen Vorstellung herabzuziehen, die durch eine inspirierte prophetische Vision zum Gebrauch der Menge ausgearbeitet ist.«28 Ibn Ruschd entgegnet dem Argument Al-Ghazalis, wonach aus der Ewigkeit des göttlichen Willens noch nicht die Ewigkeit des von ihm Gewollten folge, mit der Erwiderung, dass diese Bestimmung des göttlichen Wesens auf einem philosophisch nicht einsichtigen Anthropomorphismus beruhe.29 Dem radikalen Voluntarismus Al-Ghazalis und der Mutakallimun, dem zufolge der göttliche Wille ohne determinierendes Motiv alles, was möglich ist, wählen kann, stellt er seinen radikalen Intellektualismus entgegen, der im Gesetz des zureichenden Grundes fundiert ist, welches die ewige Bewegung zur Folge hat.30 Für Ibn Ruschd kann die Welt nichts anderes sein als sie ist. Während Ibn Ruschd an AlGhazali die spekulative Zerstörung des Notwendigkeitszusammenhanges der Welt kritisierte, suchte er sich gegenüber Ibn Sina und Al-Farabi gegen die Unterstellung eines Notwendigkeitsbegriffes zu verwahren, den er nicht billigte. Den arabischen Platonikern wird bei Al-Ghazali eine Auffassung der Kausalbeziehung des Notwendigen und Möglichen, die dieses seines Selbststandes beraubt, unterstellt. Ibn Ruschd war aber der Überzeugung, dass Ibn Sina und Al-Farabi diesen Gedankenweg nicht einschlugen und ihn nicht beschritten, was daran lag, dass sie den spekulativen Theologen des Islam folgten.31 Sie entwickelten diese Kontingenzmetaphysik nur deshalb, weil sie den tieferen Sinn der Lehre der Griechen nicht verstanden. Man müsse nämlich, nach der Lehre der Griechen, zwei Arten von Seiendem unterscheiden, Seiendes, das in der Bewe27 Gauthier, L¦on: Ibn Rochd (AverroÀs). Paris 1948, S. 235. 28 Ebd., S. 228. 29 Horten, Max: Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus dem arabischen Original übersetzt und erläutert von Horten, Max. Bonn 1913, S. 45; Behler, Ernst: Die Ewigkeit der Welt. München / Paderborn / Wien 1965, S. 213. 30 Gauthier, L¦on: Ibn Rochd (AverroÀs). Paris 1948, S. 222. 31 Horten, Max: Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus dem arabischen Original übersetzt und erläutert von Horten, Max. Bonn 1913, S. 69.

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gung und in der Zeit steht, und Seiendes, das unbeweglich und ewig ist, folglich nicht in Zeitkategorien bestimmt werden dürfe. Dieses Vorausgehen des Zeitlosen vor dem Zeitlichen ist hiernach keine Priorität zeitlicher oder verursachender Natur, sie drückt keine jener Arten des Früher aus, die von dem Theologen als zeitlich und von den neuplatonischen Philosophen als kausal verursachend bezeichnet wurden. Die Behauptung Al-Ghazalis, dass das Frühersein Gottes vor der Welt nicht zeitlich aufgefasst werden dürfe, da es sich um ein Verhältnis des Ewigen zum Zeitlichen handelt, ist für Ibn Ruschd also durchaus richtig. Aber es bleibt dann unbegreiflich, wieso die Welt für AlGhazali später sein soll als Gott, wenn dessen Früher-Sein kein zeitliches ist. Ibn Ruschd schrieb in seiner Widerlegung Al-Ghazalis: »Denn es wurde bereits demonstrativ dargetan, dass hier zwei Arten des Seienden zu unterscheiden sind, die erste ist in der Natur der Bewegung – diese ist notwendig zeitlich – und die zweite ist nicht in der Natur der Bewegung (gehört nicht in deren Kategorie). Sie ist ewig und kann nicht als zeitlich definiert werden (die Substanz der Umgebungssphäre, die ewig und unveränderlich ist, und die Bewegungen derselben als Kollektivität). Die erste Art des Seins, die in die Kategorie (Natur) der Bewegung fällt, ist ein Wirkliches, das aufgrund von Sinneswahrnehmung und Verstand bekannt ist. Die andere Art, die nicht unter die Bewegung und Veränderung fällt, ist als existierend für jeden erwiesen, der zugibt, dass jedes Bewegte einen Beweger und jede Wirkung eine Ursache haben muss, und dass die bewegenden Ursachen keine (a parte ante) unendliche Kette bilden, sondern bei einer ersten Ursache auslaufen (endigen), die durchaus unbewegt ist. Das Vorausgehen des Zeitlosen vor dem Zeitlichen ist also weder ein zeitliches, noch auch ein kausales (natura, per se), also keine der beiden Arten des Früher, die sich in dem der Bewegung unterworfenen Sein vorfinden, wie z. B. das Frühersein der Person vor ihrem Schatten. Wer also das Frühersein des Unbewegten (und Zeitlosen) vor dem Bewegten (und Zeitlichen) mit dem anderen Frühersein vergleicht, das zwischen zwei bewegten (also zeitlichen) Dingen statt hat, begeht einen Fehler (dessen sich Ghazali schuldig macht). Jedes einzelne von zwei zeitlichen Dingen verhält sich nämlich so, dass man es als gleichzeitig oder zeitlich früher resp. später in Beziehung zu dem anderen bezeichnen kann […]. Das Frühersein im genannten Fall ist das des Unveränderlichen und Zeitlosen vor Veränderlichem und Zeitlichem, und stellt eine andere Art des Früherseins dar. Folglich kann man von diesen Seienden nicht aussagen, sie bestehen gleichzeitig oder das eine sei früher als das andere. Die Behauptung Ghazalis, das Frühersein Gottes vor der Welt sei kein zeitliches, ist also richtig. Jedoch bleibt es unverständlich, dass die Welt später sein soll als Gott, wenn sein Frühersein kein zeitliches ist, es sei denn als das Spätersein der Wirkung (also das posterius natura et per se) im Vergleich zur Ursache; denn Frühersein und Spätersein sind korrelativ, und zwei Korrelativa gehören notwendigerweise zu einem einzigen Genus, wie es in den Wissenschaften (bes. der Logik) klargestellt wurde.«32

32 Ebd., S. 78 – 79.

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Wie ist aber das Verhältnis Gottes zur Welt, wenn es – nach Ibn Ruschd – kein verursachendes ist? Es ist das der Ordnung, der Regierung der Welt. Ibn Ruschd war der Meinung, dass die ewige, gleichbleibende und stets aktive Wirkung Gottes als des ersten Bewegers des Himmels, das Prinzip dieser himmlischen Bewegung und damit auch – in der Abstufung der Wirkung – das der Welt ist, denn die Möglichkeit der irdischen Welt, immer vom Himmel beeinflusst werden zu können, ist im Prinzip der Materie begründet, die folglich mit Notwendigkeit als ewig gedacht werden muss. Somit ergeben sich drei Prinzipien: Materie als Grund der Vielheit des immerwährenden Bewegungsgeschehens der Erde, Himmel als ewige Bewegung und Prinzip des irdischen Geschehens sowie Gott als ewiger Beweger des Himmels und – vermittels dieses – Ordner der Welt. Ibn Ruschd führt aus: »[I]n der Naturwissenschaft wurde bereits dargelegt, dass jedes Bewegte ein bewegendes Prinzip voraussetzt, dass ferner das Bewegte nur insofern bewegt wird, als es in der Potenz existiert, und dass der Beweger eine Bewegung ausführt, insofern er in actu ist […]. Wenn es also klar ist, dass hier eine ewige Bewegung existiert und wenn es nicht möglich ist, dass eine ewige Bewegung abgesehen von der kreisförmigen und räumlichen vorhanden sei[…], so ist es einleuchtend, dass sich aus dieser Darlegung ergibt, eine ewige, räumliche Bewegung müsse hier existieren. Durch die sinnliche Wahrnehmung ist dies jedoch in keiner Weise ersichtlich, abgesehen von der Bewegung des Himmelskörpers. Daher ist die Bewegung dieser Körper notwendigerweise die gesuchte ewige Bewegung. Der Beweger dieses Körpers ist zugleich der ewige Beweger, dessen Existenz durch die früheren Ausführungen klar geworden ist. Ebenso ist die Existenz einer ewigen kontinuierlichen Bewegung rücksichtlich der Zeit erwiesen, denn die Zeit ist, wie bewiesen wurde, eines der Akzidentien der Bewegung. Die Zeit kann nicht langsam entstehen, nicht einmal von demjenigen, der über die Zeit erhaben ist[…]. Da sich dies so verhält und es klar ist, dass die Zeit ein ewiges Kontinuum bildet, so folgt sie notwendigerweise auf eine ewige Bewegung, die kontinuierlich und eine einheitliche ist, denn eine im eigentlichen Sinne des Wortes einheitliche Bewegung ist die Kontinuität. Wenn nun hier eine ewige Bewegung existiert, so muss also konsequenterweise auch ein ewiger und immer sich gleichbleibender Beweger vorhanden sein.«33

Tatsächlich ist dieser Gottesbeweis von Ibn Ruschd ein Beweis aus der Idee der Ordnung. Unter diesem Aspekt des notwendigen Geordnetseins der Welt ist ein solcher Gottesbeweis mit der Lehre von der Ewigkeit der Welt geradezu verzahnt. Denn diese Ordnung in ihrer erhabenen Schönheit kann nicht entstanden, nicht das Werk einer Bildung sein, sondern muss ewig und notwendig so bestehen, wie sie ist. Aber gleichzeitig drückte er den Gedanken aus, dass die Kontingenz- und Verursachungsmetaphysik der neuplatonischen Denker eigentlich zur Annahme einer zeitlichen Schöpfung zwingen. Ibn Ruschd billigte diese Emanationsme33 Zitiert nach Behler, Ernst: Die Ewigkeit der Welt. München / Paderborn / Wien 1965, S. 193.

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taphysik nicht, es blieb für ihn ohne Widerspruch denkbar, dass in einer unendlichen Kette, deren Glieder sich zueinander akzidentiell verhalten, ohne Anfang und ohne Ende ein Seiendes aus dem anderen hervorgeht, so wie der frühere Mensch zugrunde geht, während neue entstehen. Für ihn stand dieses unaufhörliche zyklische Entstehen und Vergehen der Individuen, im Unterschied zur in sich selbst ruhenden Natur, unter dem Einfluss der ersten Ursachen, deren Tätigkeit in der Vermittlung durch den Himmel anfangs- und endlos auf die Materie ausstrahle34. Ibn Ruschd unterschied zwischen zwei Ursachenreihen: einer akzidentellen im zeitlichen Geschehen, die notwendigerweise ohne Anfang und ohne Ende ist, und einer ewigen, die substantiell per se wirkt und ebenso notwendig zeitlich endlich ist, weil sie im Ersten ihr Prinzip findet.35 Gleichzeitig trug diese Unterscheidung zwischen substantieller und akzidenteller Kausalität eine Distinktion zwischen dem potentiellen und dem aktuellen Unendlichen in sich, mit der Ibn Ruschd die Antinomie des aktualen Unendlichen, z. B. der unendlichen Sphärenbewegungen, zurückwies. Indem Ibn Ruschd mit den Argumenten AlGhazalis über die Unmöglichkeit unendlicher Sphärenumdrehungen etc. konfrontiert wurde, formulierte er als Erwiderung den Gedanken, dass der fundamentale Fehler der gegnerischen Konzeption darin liege, diese für ein reelles, außerhalb des Geistes bestehendes, determiniertes und vollendetes Unendliches zu halten, wohingegen es nur ein vom Geist konzipiertes, ohne objektive Realität bestehendes Unendliches ist, sodass man unter dem Unendlichen nicht eine reelle, sondern eine mögliche Zahl, bzw. eine abstrakte subjektive Möglichkeit zu verstehen habe, nämlich die Möglichkeit, einer ganz gleich wie groß angenommenen Zahl immer wieder eine Einheit hinzufügen zu können. In der Auseinandersetzung um die Realität der Allgemeinbegriffe, die für Ibn Ruschd in den Dingen potentiell existent war, vor allem aber in Bezug auf den Materiebegriff, war er eindeutig Aristoteliker. Doch gleichzeitig war es auch bei diesem Versuch, die aristotelische Materie, in der die Möglichkeit alles Gewesenen und alles Zukünftigen beschlossen liegt, und die, wie Al-Ghazali empfand, als Ungeschaffenes und Ungewordenes jede Entwicklung und jedes reale Auftreten von Neuem in der Welt mit ihrer Dumpfheit ersticke, zu rehabilitieren, dass Ibn Ruschd, folgt man Salomon Munk, einen entscheidenden Schritt über Aristoteles hinaus tat.36 34 Ebd. 35 Horten, Max: Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus dem arabischen Original übersetzt und erläutert von Horten, Max. Bonn 1913, S.71. 36 Munk, Salomon: M¦langes de philosophie juive et arabe. (Ouvrage publi¦ avec le concours de l’UNESCO, Librairie philosophique). Paris 1988 [1857], S. 444: »La matiÀre, qui est ¦ternelle est caract¦ris¦e par Ibn Ruschd avec plus de pr¦cision encore qu’elle ne l’a ¦t¦ par Aristote, elle est non seulement la facult¦ de tout devenir par la forme qui vient de dehors, mais la

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In Hinsicht auf die zwei entgegen gesetzten Werke von Al-Ghazali und Ibn Ruschd bleibt nach Behler37 eine Frage offen, denn so wenig wie wir von AlGhazali mit Sicherheit sagen können, dass er in seiner »Destructio Philosophorum« demonstrativ die Zeitlichkeit der Schöpfung beweisen wollte, eben so wenig lässt sich von Ibn Ruschd behaupten, dass er in seiner »Destructio Destructionis« die Ewigkeit der Welt als apodiktisch notwendig zu demonstrieren beabsichtigte. War es das Ziel des Werks von Al-Ghazali gewesen, die Vertreter der Weltewigkeit in Antinomien zu verwickeln und dadurch die Unvertretbarkeit ihrer Thesen kritisch zu erweisen, so liegt die Absicht von Ibn Ruschds »tahafut at-tahafut« darin, die Haltlosigkeit und Nichtigkeit dieses Widerlegungswerkes aufzudecken, und damit die Vertretbarkeit des philosophischen Standpunktes zu verteidigen. Es ist eine Parteinahme für das philosophische Denken schlechthin. Meist spricht Ibn Ruschd nicht von sich selbst, seine Schrift ist ein Plädoyer für andere. Und da sich für ihn diese Philosophen in zwei Gruppen spalteten, nämlich in Epigonen wie Ibn Sina und Al-Farabi, und in den eigentlichen Meister dieses Vernunftstandes, Aristoteles, so sah sich Ibn Ruschd häufig genötigt, seine Rehabilitierung auf den »absoluten Philosophen« zu beschränken und die anderen nicht mit einzuschließen, sondern Al-Ghazali sogar recht zu geben, wenn dieser ihnen zusetzte. Aber eben so, wie es in der Konsequenz der von Al-Ghazali vertretenen Gedanken gelegen hatte, dass die Schöpfung nur zeitlich gedacht werden kann, ebenso liegt es in den Konsequenzen der von Ibn Ruschd entwickelten Gegenargumentationen, dass die Welt mit Notwendigkeit als ewig angenommen werden muss. Als Hauptmerkmal der Philosophie des Averroes gilt in erstem Grade seine Intellekttheorie und die damit anhängenden Fragen der Erkenntnis und der Seele. Denn Ibn Ruschd unterscheidet sich von seinen Vorgängern hauptsächlich in einigen Fragen der Metaphysik in Bezug sowohl auf die Emanationstheorie als auch auf die Lehre des Intellekts. Ibn Ruschd distanziert sich von der Emanation der unkörperlichen Wesen; die erste Ursache ist der Grund aller unkörperlichen Intellekte, insofern jeder einzelne an der ersten Ursache gedanklich Anteil hat und dadurch die Form der ersten Ursache annimmt. Damit ist das Emanationsschema aufgegeben. Ebenso lässt Ibn Ruschd die Hypothese fallen, dass es ein Wesen hinter dem Beweger der Sphären gibt. Denn es besteht kein Grund anzunehmen, warum der Intellekt, mit der äußersten Sphäre verbunden, nicht in vollkommener Einheit mit der ersten Ursache des Universums ist.38 forme elle mÞme est virtuellement dans la matiÀre, et le premier moteur l’en fait sortir et se manifester ; car, si elle ¦tait produite seulement par la cause premiÀre, et sans qu’elle exist–t d¦j— en germe dans la matiÀre, ce serait l— une cr¦ation ex nihilo, qu’ Ibn Ruschd n’admet pas plus qu’Aristote.« 37 Behler, Ernst: Die Ewigkeit der Welt. München / Paderborn / Wien 1965, S. 222. 38 Davidson, Herbert A.: Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect. Their Cosmologies,

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Ibn Ruschd entwickelt eine Hierarchie von ewigen, unabhängigen existierenden Schichten von Intellekten, die weder rein immateriell noch wirklich materiell sind und die keine Potentialität besitzen. Jede Schicht erfasst auf ihre eigene Weise die erste Ursache, und diese Konzeption ist von derjenigen der anderen Intellekte verschieden. Jeder dieser Intellekte erreicht oder besetzt den ihm eigenen ewigen Rang, entsprechend seiner Vervollkommnung innerhalb jener unkörperlichen Hierarchie. D. h., die Ränge sind hierarchisch angeordnet, ohne jedoch in einer Reihenfolge zu emanieren. Ibn Ruschd verwarf einerseits das Emanationsmodell seiner islamischen Vorgänger, anderseits interpretierte er die erste Ursache des Aristoteles dahingehend, dass er sie als die erste Ursache aller Existenz, das Universum eingeschlossen, und nicht nur auf die Bewegung bezogen verstand. Zumindest für seine frühere Auffassung gilt also, dass Ibn Ruschd die erste Ursache des Universums als eine andauernd gleichzeitige, gleichzeitig immerwährende Emanation unkörperlicher Wesenheiten denkt, die aus reinem Denken bestehen. Der erste Intellekt beinhaltet eine erste Vervielfachung, aus welcher immerwährend die Form oder die Seele der ersten Sphäre sowie die übrigen unkörperlichen Wesen, die aus reinem Denken bestehen, »emanieren«. Die erste Ursache ist transzendent bezüglich der unkörperlichen Intellekte, die mit den Himmelsphären verbunden sind; darin stimmt Ibn Ruschd mit seinen Vorläufern überein. Gemäß dem Gesetz, dass aus Einem nur Eines hervorgehen kann, kann das erste Wesen am Anfang der Seinskette nicht mehr als eine Wirkung haben. Da die Intellekte, die die Sphären bewegen, immer zwei Wirkungen haben und deshalb nicht vollkommene Einheit sind, muss der letzte Grund des Universums, der vollkommene Einheit ist, jenseits der Beweger der Sphären sein. Der Vorgang der Emanation entfaltet immerwährend eine Reihe himmlischer, unkörperlicher Intellekte. Derjenige, der die Mondsphäre leitet, bringt die Form oder Seele ihrer Sphäre hervor und damit den letzten Intellekt innerhalb der unkörperlichen Hierarchie. Dieser wird der »aktive Intellekt« genannt, gemäß Aristoteles, dem zufolge der Intellekt virtuell alles hervorbringen, alles denken kann. Der aktive Intellekt behält in diesem Modell seinen Platz am Ende der Kette unkörperlicher Wesenheiten und es kommt ihm in gewisser Hinsicht Existenz zu. Er erreicht ewige Existenz durch das Maß der Vervollkommnung gemäß der Erkenntnis der ersten Ursache.39 In dem Kommentar zu »Parva Naturalia«40 sieht Ibn Ruschd in den Formen Theories of the active Intellect, and Theories of human Intellect. Oxford / New York 1992, S. 231. 39 Horten, Max: Die Metaphysik des Averroes. Nach dem arabischen übersetzt und erläutert von Horten, Max. (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, herausgegeben von Benno Erdmann Vol. XXXVI). Halle 1912, Abhandlung IV. 40 Arab.: al-hiss wa al-mahsus – Alaoui, Jamal Eddin: Al-matn ar-Ruschdi (»Der Averroische

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der Elemente das Ergebnis der Sphärenbewegung. Er bezieht in diesem Kommentar auch alle pflanzlichen und tierischen Formen auf den aktiven Intellekt. In der Metaphysik sind zwei wesentliche Positionen des Ibn Ruschd zu erläutern. Die frühere Position geht von dem Standpunkt der Naturwissenschaften aus, wo der Philosoph den aktiven Intellekt den pflanzlichen und tierischen Formen zurechnet, während die anderen unbeseelten Formen durch Bewegung der Himmelskörper erklärt werden.41 Vom metaphysischen Standpunkt aus muss das Vorhandensein aller natürlichen sublunaren Formen, der beseelten wie der unbeseelten, dem aktiven Intellekt zugeschrieben werden, da nur die Formen, die aus dem reinen Denken hervorgehen, Erkenntnisgegenstände intellektuellen Denkens werden können. Ibn Ruschd argumentiert, dass vom Standpunkt der Naturwissenschaften die Formen der vier Elemente und die Formen ihrer Mischungen zu den natürlichen Kräften gezählt werden können. Aber die Formen der Tiere und Pflanzen, die im Stande sind, sich fortzupflanzen, können nicht durch natürliche Kräfte entstanden sein (zumindest ist das seine Meinung dazu in den früheren Werken). Vielmehr mussten sie durch eine wirkende Kraft, die außerhalb der natürlichen Wirklichkeit existiert, hervorgebracht sein. Durch spontane Hervorbringung bereitet die Tätigkeit der himmlischen Körper Materie für eine bestimmte Form zu. Die auf diese Weise vorbereitete Materie erhält durch die immerwährende Emanation des aktiven Intellekts die entsprechende Form. Die reifere Position zur Emanation und den Intelligenzen, wie sie den späteren Hinzufügungen im Metaphysik-Kommentar, aber auch dem »tahafut attahafut« zu entnehmen ist, weist jedoch den gerade erläuterten früheren Standpunkt zurück. Ibn Ruschd gibt im wesentlichen die Emanationstheorie auf. Er ist nun nicht mehr der Ansicht, dass Wesenheiten auseinander hervorgingen.42 Denn selbst wenn die Emanation als eine Unterkategorie der wirkenden Verursachung verstanden wird, kann eine unkörperliche Wirklichkeit hervorgegangen sein, denn für unkörperliche Wesen ist die wirkende Verursachung fremd. Da das Gesetz, dass von Einem nur Eines hervorgehen kann, allein auf die Wirkursache anzuwenden ist, aber die erste Ursache keine Wirkursache ist, trifft dieses Gesetz nicht zu. In der Konstruktion des Universums bei Ibn Ruschd hat jeder einzelne Intellekt eine Schicht eigener Existenz. Die jeweils darunterliegende Schicht wendet sich immerwährend der Einheit der ersten Corpus«). Casablanca 1986, S. 70 – 71; Von Kügelgen, Anke: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zur Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden / New York / Köln 1994, S. 425. 41 Von Kügelgen, Anke: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zur Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden / New York / Köln 1994, S. 367, 403 – 404 f. 42 Urvoy, Dominique: Ibn Rushd (Averroes), Les ambitions d’un intellectuel musulman. Paris 1991, S. 38, 71, 80 ff., 97, 104 ff., 126.

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Ursache zu. Dadurch erhält diese das Konzept der ersten Ursache und wird mit dem Maß an Vollkommenheit ausgestattet, das ihrem Rang in der kosmischen Hierarchie entspricht. Ibn Ruschd kommt am Ende zu dem Ergebnis, dass die erste Ursache mit dem Intellekt, der die äußerste Sphäre bewegt, identisch ist. Ebenso identifiziert er den aktiven Intellekt als den letzten Intellekt in der Reihe der unkörperlichen Intelligenzen, auch wenn der aktive Intellekt nicht mehr Ergebnis des Emanationsprozesses ist.43 In dem Kommentar zu »De generatione animalium«44 erklärt Ibn Ruschd, dass das, was Pflanzen und Tiere mit ihrer Seele ausstattet, nicht das Ergebnis einer Emanation des aktiven Intellekts oder eines anderen unkörperlichen Wesens ist, sondern ein natürlicher Faktor, nämlich die Seelenkräfte45 oder die Seelenwärme46, welcher innerhalb der Materie47 agiert. Bei aller Betonung und Hervorhebung des natürlichen Faktors als unmittelbare Ursache für die Formen der Lebewesen ist dennoch auf einen unkörperlichen Beweger zurückzugreifen. Entweder ist doch der aktive Intellekt oder zumindest ein unkörperlicher Beweger der Himmelsphären Hervorbringer der Seelenwärme, die dann die Form entstehen lässt.48 Die Himmelskörper sind nicht weiter der Grund für die unbeseelten natürlichen Formen. Sie sind bedingt durch die Seelenkräfte, die emanieren, und sie sind der letzte Grund der beseelten Formen. Entsprechend wird eine unkörperliche Ursache nur dem menschlichen Intellekt zuerkannt. Durch die Annahme einer unkörperlichen Ursache wird der menschliche potentielle Intellekt und der Übergang des menschlichen Intellekts vom Zustand der Potentialität49 in den Zustand der Aktualität50 erklärt.

43 Horten, Max: Die Metaphysik des Averroes. Nach dem arabischen übersetzt und erläutert von Horten, Max. (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, herausgegeben von Benno Erdmann Vol. XXXVI). Halle 1912, siehe Abhandlung II, ab S. 118, und Abhandlung III, ab. S. 148. 44 Arab.: al-kaun wa al-fasad – Alaoui, Jamal Eddin: al-matn ar-Ruschdi (»Der Averroische Corpus«). Casablanca 1986, S. 55 – 57; Von Kügelgen, Anke: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zur Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden / New York / Köln 1994, S. 426. 45 fi quwa an-nafs – Von Kügelgen, Anke: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zur Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden / New York / Köln 1994, S. 427. 46 Davidson, Herbert A.: Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of human Intellect. Oxford / New York 1992, S. 243 – 252, 257, 354. 47 Arab.: hayula – Griech.: hyle. 48 Davidson, Herbert A.: Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of human Intellect. Oxford / New York 1992, S. 242 – 245. 49 Arab.: al-aql bil-quwwa. 50 Arab.: al-aql bil-fi’l – Steinschneider, Moritz: Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. Graz 1956 [1893], S. 144; Davidson, Herbert A.:

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Ibn Ruschd ging in seinen Werken der Frage nach, ob der menschliche Intellekt den aktiven Intellekt als Gegenstand seines Denkens erkennen kann, und sich, wenn dies zutrifft, mit diesem verbinden kann. Er bezeichnet diese Verbindung als eine Bedingung dafür, dass der menschliche Intellekt den aktiven Intellekt als Erkenntnisgegenstand denkt und mit diesem identisch wird. Dann wiederum ist sie eine Bedingung dafür, dass der menschliche Intellekt den aktiven Intellekt als Erkenntnisgegenstand hat. Zur Begründung seiner Ansicht der Möglichkeit der Verbindung des menschlichen Intellekts mit dem aktiven Intellekt werden von ihm Argumentationen von Alexander von Aphrodisias, von Themistius und von Ibn Bajjah herangezogen. Die Einwände gegen die Verbindung stellt er im Namen von Al-Farabi im Kommentar zur »Nikomachischen Ethik« dar.51 Der ewige aktive Intellekt und das menschliche theoretische Denken treffen sich auf dem gemeinsamen Grund des materiellen Intellekts.52 Das ist dadurch ermöglicht, dass der materielle Intellekt beide als Erkenntnisobjekt denkt. Der aktive Intellekt ist vollkommener als die Erkenntnisobjekte des materiellen Intellekts. Der aktive Intellekt ist die Form des Erkenntnisgegenstandes des menschlichen theoretischen Denkens. Dieses hat nicht nur den materiellen Intellekt, sondern auch die Vorstellungskraft zum Subjekt. In dem Maße, wie dadurch die Mächtigkeit dieses theoretischen Denkens in einem Menschen zunimmt, nimmt auch die Verbindung des aktiven Intellekts mit der menschlichen Vorstellungskraft zu. Auf dem Höhepunkt verbindet sich dann in Wirklichkeit der aktive Intellekt mit dem menschlichen Intellekt. Dadurch wird der Mensch alles und erkennt alles in einer bestimmten Weise.53 Der Ausgangspunkt von Ibn Ruschd ist der materielle Intellekt als eine Fähigkeit der Seele, und sein Endpunkt ein einziger unkörperlicher immaterieller Intellekt, der mit jedem Menschen von Außen verbunden ist. Im Kommentar zu »De anima« ist dadurch insofern eine Schwierigkeit gegeben, als Ibn Ruschd die Hypothese aufstellt, dass der materielle Intellekt für die ganze Menschheit dient.54 Aufgrund der Hypothese des ewigen materiellen Intellekts ist nun die Verbindung des aktiven Intellekts mit dem menschlichen unplausibel. Wie Aristoteles und die Philosophen, die in seiner Tradition stehen, entwickelt Ibn Ruschd die Unsterblichkeit aus den intellektuellen Teilen der menschlichen

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Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of human Intellect. Oxford / New York 1992, S. 232 – 241. Davidson, Herbert A.: Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of human Intellect. Oxford / New York 1992, S. 338 f.; Mesbahi, Mohamed: Ischkaliyat al-aql inda Ibn Ruschd (»Die Problematik des Intellekts bei Ibn Ruschd«). Casablanca / Beirut 1988, ab. S. 206. Arab.: al-aql al-hayulani – Lat.: intellectus materialis. Mesbahi, Mohamed: Ischkaliyat al-aql inda Ibn Ruschd (»Die Problematik des Intellekts bei Ibn Ruschd«). Casablanca / Beirut 1988, S. 206 – 208. Ebd., S. 22 – 23, 38 – 47, 153 – 159.

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Seele.55 Er weist die Unsterblichkeit des theoretischen Intellekts, der mit der Aufnahme der physischen Welt verbunden ist, zurück. Eine solche Aufnahme ist von den nicht-intellektuellen Teilen der Seele abhängig, die mit dem Körper vergehen. Nach der Ansicht von Ibn Ruschd ist allein der materielle Intellekt des Menschen zur Unsterblichkeit fähig. Der materielle Intellekt ist unsterblich auf Grund seiner ewigen Substanz, die unabhängig von menschlichen Individuen ist. Das heißt, dass es im großen Kommentar zu »De anima« nichts Individuelles gibt, was den Körper überleben könnte.56 Das Ziel des Menschen ist für Ibn Ruschd also die Verbindung (ittisal) des individuellen Intellekts mit dem universellen reinen aktiven Intellekt. Ibn Ruschd beharrte ständig darauf, dass diese erstrebenswerte Verbindung und dann Vereinigung nur durch rationelle Wissenschaft erreichbar sei, die asketischen Wege der Sufis erschienen ihm vergebens und unnütz.57 Ibn Ruschd gewährte nur den Menschen allein die Fähigkeit, das Intelligible wahrzunehmen, für ihn reflektierte sich der spekulative Intellekt in der Menschheit. Denn die Einheit des Intellekts bedeutet nichts anderes als die Universalität der Prinzipien der reinen Vernunft und die Einheit der psychologischen Beschaffenheit der ganzen menschlichen Art. Für ihn ist der aktive Intellekt letztendlich nichts anderes als unsere Erkenntnis vom Universum (der »Welt«), und die Unsterblichkeit des Intellekts bedeutet die Unsterblichkeit des Menschengeschlechtes.58 Nach Ibn Ruschd gibt es also keine individuelle Unsterblichkeit. Die Frage der Unsterblichkeit der Seele überhaupt ist für Ibn Ruschd eine überaus heikle, deretwegen die Philosophie von Al-Ghazali der Häresie angeklagt worden war, weil sie die Auferstehung des Leibs, d. h. das individuelle Fortdauern der Menschen nach dem Tode leugnete. Zuerst stellt Ibn Ruschd fest, dass alle Religionen ein Fortleben nach dem Tode verkündeten, aber im Detail verschiedener Auffassung darüber sind. Ibn Ruschd stellt in seiner Schrift »Die Spekulative Dogmatik«59 folgendes fest: »Über die Existenz der Eschatologie stimmen die Religionen überein, und die Demonstrationen dafür stehen bei den 55 Von Kügelgen, Anke: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zur Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden / New York / Köln 1994, S. 47 ff.; Leaman, Oliver : Averroes and his Philosophy. Oxford 1988, S. 82 – 96. 56 Davidson, Herbert A.: Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the active Intellect, and Theories of human Intellect. Oxford / New York 1992, S. 340. 57 Munk, Salomon: M¦langes de philosophie juive et arabe. (Ouvrage publi¦ avec le concours de l’UNESCO, Librairie philosophique). Paris 1988 [1857], S. 445 ff.; Renan, Ernest: AverroÀs et l’averroisme. Paris 1997 [1852], S. 133 ff. 58 Renan, Ernest: AverroÀs et l’averroisme. Paris 1997 [1852], S. 137. 59 Von Müller als »Spekulative Dogmatik« übersetzt im Arab.: al-Kaschf ‹an manahidsch aladilla fi ’aqaid al-milla« – »Die Erläuterung der Beweismethoden hinsichtlich der Glaubensvorstellungen der islamischen Theologen«.

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wissenschaftlichen Männern fest. Die Religionen sind verschiedener Ansicht über die Eigenschaft ihrer Existenz: oder eigentlich sind sie hierüber nicht verschiedener Ansicht, sondern nur über die Dinge der diesseitigen Welt, mit denen dieser übersinnliche Zustand für die große Menge versinnbildlicht wird. Einige Religionen stellen diesen nämlich als geistig dar, das heißt als einen Zustand der Seelen: andere sehen ihn als einen Zustand der Körper und Seelen zugleich.«60 Die Behandlung dieser Frage muss zunächst den Männern der Wissenschaft und logischen demonstrativen Beweisführungen überantwortet und den Ungebildeten verwehrt werden. Dieser Standpunkt Ibn Ruschds verrät einerseits seine Vorsicht in der Behandlung dieser in seiner Zeit so sensiblen Frage, anderseits lässt sich damit einiges über die damals herrschende geistige Stimmung aussagen. Ibn Ruschd stützt sich in seiner Argumentation oft auf die Behandlung dieser Frage in der genannten Schrift, auf die religiöse Tradition und Überlieferung, und verlagert damit das Problem auf die Ebene der Exegese und der Deutungsmöglichkeiten der religiösen Schriften. Für Ibn Ruschd kann man freilich nur ein geistiges Fortleben denken, und wenn die Propheten irdische Begriffe von Lohn und Strafe anführen, so geschehe dies aus dem einzigen Grunde, um es der Menge verständlich zu machen. »Deswegen verkünden sie, dass Gott die Seligen wieder in Körper bringt, in welchen sie die ganze Ewigkeit an den angenehmsten sinnlichen Gegenständen Lust haben werden, ein solcher z. B. ist der Garten; und dass Gott den unglücklichen Seelen Körper gibt, in welchen sie die ganze Ewigkeit in dem qualvollsten sinnlichen Gegenstand Pein leiden: ein solcher ist z. B. das Feuer. Dieses ist der Fall mit unserer Religion, dem Islam, bei der Versinnbildlichung dieser Zustände. Und wir lesen im Koran Beweise, welche gemeinsam für das Begreifen aller Menschen über die Möglichkeit dieser Zustände sind, denn der Verstand nimmt in diesen Dingen nicht mehr wahr, als die Möglichkeit in der für alle gemeinsamen Wahrnehmung… Alle Religionen stimmen mit einander überein, dass die Seelen nach dem Tode Zustände der Seligkeit oder Unseligkeit haben, und unterscheiden sich in der Versinnbildlichung dieser Zustände und in der Weise, wie sie ihre Existenz den Menschen verständlich machen.«61 Wer aber die Prinzipien des Religionsgesetzes leugnet, der bringt die Moral in Gefahr, auch die Lehre von der Auferstehung habe einen praktisch-moralischen Zweck wie Opfer und Gebete. Daher dürfen die Philosophen diese religiösen Einrichtungen nicht verwerfen, da die Religion für die Praxis (der Masse) unentbehrlich sei, und weil außerdem der ungeschulte Menschenverstand (der 60 Müller, Marcus Joseph: Philosophie und Theologie von Averroes (Acta Humaniora). Aus dem Arabischen übersetzt von Müller, Marcus Joseph, mit einem Nachwort von Vollmer, Matthias. Weinheim 1991, S. 109. 61 Ebd., S. 111 f.

Vernunft und Glaube: Ansätze einer (islamischen) Religionsphilosophie

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Mehrheitsfall) zur Entscheidung der höchsten theoretischen Fragen nicht ausreiche. Deswegen ist die Lehre eines nur geistigen Fortlebens auf eine Minderheit von Gelehrten und Männern der demonstrativen Beweisführung und Wissenschaft beschränkt, während der Glaube an ein körperliches Fortleben populär ist. Denn »die geistige Versinnbildlichung aber scheint die Seelen der großen Menge in geringerem Maße dorthin zu bewegen, und diese scheinen eine geringere Lust dazu und Furcht davor zu haben, als es bei der körperlichen Versinnbildlichung der Fall ist. Deswegen scheint es, dass die körperliche Versinnbildlichung eine größere Zugkraft besitzt, als die geistige, die geistige aber den dialektischen Scholastikern (Mutakallimun) mehr gefällt: diese aber sind die geringere Anzahl.«62 Ibn Ruschd beharrt in seiner Widerlegung des Al-Ghazali auf der strengen Trennung zwischen den zwei Systemen, dem religiösen und dem philosophischen, denn eine Vermischung kann nur Unheil und Missverständnisse hervorbringen. Er betont die gesellschaftliche und moralische Funktion der Religion in der Frage der Eschatologie sehr stark. Denn die Komplexität dieser Frage erfordert, dass sie auf einer erkenntnistheoretischen wissenschaftlichen Ebene, getrennt von einer dogmatischen Glaubensebene, behandelt wird. Denn »das Jenseits ist ein anderes Leben von höherer Ordnung als dieses Dasein und eine Periode des Seins, edler als diese (irdische). Dies braucht derjenige nicht zu leugnen, der lehrt: Wir erkennen, dass ein und dasselbe Seiende sich von einer Seinsperiode zur anderen entwickelt, wie Wesensformen der toten Körper sich umgestalten, so dass es (in den Lebewesen und Begriffen) sich selbst erkennt als rein geistige Form. Wer dies bezweifelt und kritisch untersucht, sind solche, die die Religionen und Tugenden (also die soziale Ordnung) untergraben wollen … Man muss vielmehr behaupten, die Seele, die aufersteht, ist ein (wesensgleiches) Abbild derjenigen dieses Lebens. Sie ist mit dieser nicht individuell identisch; denn das Vergangene kehrt nicht wieder als individuell dasselbe. Das Sein kehrt nur wieder für das wesensgleiche Abbild des Vergangenen, nicht für das Individuum, wie es Ghazali selbst beweist. Daher ist diejenige Lehre über das Jenseits (die Auferstehung) unrichtig, die nach den Theologen behauptet, die Seele sei ein Akzidens (des Leibes), und die auferweckten Leiber seien identisch mit den verstorbenen. Was nämlich dem Nichtsein verfiel und dann wiederum zum Dasein gelangte, ist spezifisch, nicht numerisch dasselbe. Numerisch sind es vielmehr zwei Dinge.«63 Ibn Ruschd widerlegt am Schluss seines Werkes »Tahafut at-tahafut« das auf einen angeblichen allgemeinen Konsens bei den Muslimen in Bezug auf diese 62 Ebd., S. 112. 63 Horten, Max: Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus dem arabischen Original übersetzt und erläutert von Horten, Max. Bonn 1913, S. 281.

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Frage gegründete Argument Al-Ghazalis, das diesem dazu dient, den Philosophen Häresie vorzuwerfen, erstens damit, dass Al-Ghazali selbst in einem Werk die entgegengesetzte Auffassung vertreten habe, und zweitens damit, dass die Sufis im Gegensatz zu den übrigen Muslimen nur an das geistige Weiterleben glaubten und nicht an das körperliche. Trotz der Bemühungen Ibn Ruschds, die Frage der Unsterblichkeit der Seele mit dem Wortlaut des Religionskodex irgendwie in Einklang zu bringen, bleibt letztlich und in Wirklichkeit die Endphase des Menschen für ihn die Vereinigung mit dem Weltgeist, dem universellen aktiven Intellekt. Es sind diese charakteristischen Momente in der Philosophie Ibn Ruschds, die sich auf die Probleme des Verhältnisses zwischen Philosophie und Religion, der Ewigkeit der Welt und der Unsterblichkeit der Seele beziehen, welche ausschlaggebend bleiben für die Hauptmerkmale seiner Rezeption und in welchen diese Rezeptionsgeschichte ihre Kontinuität findet.

Wolfgang Gantke (Frankfurt am Main)

Die Bedeutung Aurobindos für eine interkulturelle Philosophie »Man muß sich bis in die letzte Endlichkeit hineinbegeben, wenn man die letzte Unendlichkeit erreichen will.« Sri Aurobindo

1.

Begründung des Themas

Unter den auch im Westen bekannten Neo-Hinduisten wie Mahatma Gandhi (1869 – 1948), Sarvepalli Radhakrishnan (1888 – 1975), Rabindranath Tagore (1861 – 1941), Ramana Maharishi (1879 – 1950), Svami Vivekananda (1863 – 1902) u. a. dürfte Aurobindo Ghosh (1872 – 1950), von seinen Verehrern Sri Aurobindo genannt, der philosophisch ergiebigste Denker sein, obwohl er sich selbst keineswegs als Philosoph verstand.1 Im Integralen Yoga Aurobindos ist eine scharfe Trennung zwischen Philosophie, Psychologie und Religion nicht möglich und dies könnte ein Grund dafür sein, dass die Ideen dieses Universalisten, der einen der schöpferischsten Versöhnungsversuche zwischen westlichem und östlichem Gedankengut gewagt hat, in der »westlichen« Philosophie nach wie vor vergleichsweise selten rezipiert werden. Der integrale Yoga Aurobindos passt weder in die traditionellen christlich- abendländischen noch in die traditionellen hinduistisch- buddhistischen Klassifikationssysteme, weil er in eigenständiger Anknüpfung an beide Traditionslinien neue, kulturübergreifende Perspektiven entwickelt hat, die eine Transzendierung der beliebten idealtypischen Entgegensetzung von westlicher Philosophie und östlicher Weisheit ermöglichen könnte. Die nach wie vor beliebte Zuordnung asiatischer Geistigkeit zur »Weisheit« erlaubt es auch im gegenwärtig erweiterten Kontext der Begegnung der Kulturen, ernstzunehmende Philosophie ausschließlich an das überlieferte europäische Begriffs- und Kategoriensystem zu binden. Ich werde dagegen in diesem Beitrag zu zeigen versuchen, dass es zu einfach wäre, Au1 Zu Leben und Werk Aurobindos vgl. Gantke, Wolfgang: Aurobindos Philosophie interkulturell gelesen. Nordhausen 2007; Vrekham, Georges van: Beyond Man. The Life and Work of Sri Aurobindo and the Mother. New Delhi 1999. In diesem knappen Beitrag muss ich mich auf einige ausgewählte, philosophisch relevante Ideen des Neo-Hinduisten beschränken, weshalb einige Komplexitätsreduktionen unvermeidlich sind.

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robindos umfangreiches, immerhin aus 30 Bänden bestehendes Werk erst in einseitiger Weise den asiatischen Weisheitstraditionen zuzuordnen, um dann zu behaupten, dass es für die westliche Philosophie, auch für die interkulturelle Philosophie, keinerlei Relevanz besitze. Es ist nicht zu bestreiten, dass der neohinduistische »Einheitsmystiker« nicht bereit war, sich den strengen rationalen Erkenntnis- und Wahrheitsbedingungen westlicher Philosophie zu unterwerfen, aber die wiederholt in seinem Werk auftauchende Verstandeskritik hat er durchaus zu begründen gewusst und sie ist auch nachvollziehbar, wenn man den Unendlichkeitsgedanken ernstnimmt, der im Zentrum seiner Überlegungen steht und auf den ich mich in diesem Beitrag vor allem konzentrieren werde. »Das Leben entzieht sich den Formen und Systemen, die der Verstand ihm aufzuerlegen bemüht ist; es zwingt uns zur Einsicht, daß es zu komplex ist, zu reich an einer Fülle unendlicher Möglichkeiten, um sich der Tyrannei durch die Willkür des menschlichen Intellekts zu unterstellen. […] Der Kern der Schwierigkeit liegt darin, dass im tiefsten Grunde unseres ganzen Lebens und Daseins, sowohl innen als auch außen, etwas vorhanden ist, über das der Intellekt niemals die Herrschaft ausüben kann: das Absolute, das Unendliche. Hinter einem jeden Ding im Leben steht ein Absolutes, nach welchem dieses Ding in seiner eigenen Weise sucht; alles Endliche bemüht sich darum, ein Unendliches zum Ausdruck zu bringen, von dem es fühlt, daß es seine eigentliche Wahrheit ist.«2 Aurobindo möchte in seinem Werk dem Wahrheitssucher Wahres mitteilen, er erhebt also gewissermaßen einen Wahrheitsanspruch, der freilich »jenseits« der Verstandeslogik anzusiedeln ist, weil diese Logik nur dem gerecht zu werden vermag, was eindeutig festgelegt und endlich ist. Das Leben ist aber, wie auch viele westliche Lebensphilosophen von Schlegel und Schopenhauer bis hin zu Bollnow und Schmitz betonen, nicht fixierbar.3 Selbst für den idealistischen Panlogisten Hegel ist bekanntlich lebendig nur etwas, das den Widerspruch in sich enthält. Die Unendlichkeitsphilosophie Aurobindos erlaubt jedenfalls keinen kon2 Zit. nach Satprem: Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins. Weilheim 1970, S. 177. Dieses Buch enthält in verdichteter Weise unter Heranziehung von ausgewählten Zitaten die zentralen Gedanken Aurobindos, weshalb ich im folgenden vor allem aus diesem Werk, das ausgesprochen kontextsensitiv in die komplizierte Gedankenwelt Aurobindos einführt, zitiere. 3 Vgl. den ausgezeichneten Überblick über Denker der Lebensphilosophie von Kozljanic, Robert Josef: Lebensphilosophie. Eine Einführung. Stuttgart 2004. Leider hat Kozljanic in seiner Auswahl einen wichtigen, aber leider weithin in Vergessenheit geratenen lebensphilosophischen Vordenker der interkulturellen Philosophie nicht berücksichtigt, nämlich Georg Misch. Vgl. Misch, Georg: Der Weg in die Philosophie. Eine philosophische Fibel. Bern 1950 [1926]. Es ist auffallend, dass sich viele der bekannten Argumente der Lebensphilosophen auch bei Aurobindo finden und dass besonders die Übereinstimmungen mit Bergson ins Auge stechen, ohne dass hier eine Abhängigkeit behauptet werden soll.

Die Bedeutung Aurobindos für eine interkulturelle Philosophie

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struktiv fortschreitenden Systemaufbau der Gedanken auf einem festen, unumstößlichen Fundament, sondern sie legt eher einen Kreis- bzw. Spiralgang nahe, bei dem Wiederholungen unvermeidbar sind. Um es gleich vorwegzunehmen: In der heute so notwendigen Überwindung eines fundamentalistisch zugespitzten, statischen Ausschließlichkeitsdenkens durch ein dynamisches-supramentales Einheitsbewusstsein, in dem es keine sich gegenseitig ausschließenden Wahrheiten gibt, sondern in dem die unterschiedlichen, sich ergänzenden Teilwahrheiten stets auf dem Wege bleiben zu der einen, integralen Wahrheit, die widerspruchsfrei nicht aussagbar ist, sehe ich die besondere Bedeutung Aurobindos für eine gegenwarts- und zukunftsorientierte, interkulturell offene Weltphilosophie. Nach dem Religionsphilosophen Georg Picht bildet die unbewegte Identität, die eine Identifizierung der menschlichen Vernunft mit der Weltvernunft erlaubt, die Achse des verstandesoptimistischen europäischen Weltverständnisses, die (mehr oder weniger bewusst) auch noch die neuzeitliche Wissenschaft maßgeblich bestimmt.4 Aurobindos inklusivistische Idee einer beweglichen Einheit in der Vielheit ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen bietet m. E. eine bisher noch zu wenig beachtete, zukunftsfähige Alternative zu einer unbeweglichen Standpunktphilosophie, die ihren Ausgang von einer zwangsläufig das Andere des Eigenen ausgrenzenden, rationalen Identität nimmt und dabei ständig neue Dualismen erzeugt, die den Weg zur Nicht- Zweiheit versperren.

2.

Die Herausforderung des Unendlichen als Zentrum von Religion für eine interkulturelle Philosophie

Die schärfste Herausforderung für die Hauptströmungen des sogenannten »okzidentalen Rationalismus« im Sinne eines rechnend-entzaubernden und dadurch machtförmigen Denkens besteht darin, dass im Zentrum der »einheitsmystischen« Philosophie Aurobindos das religiös gedeutete Unendliche steht, das für die Verstandeslogik immer mit Widersprüchen behaftet ist, weil, wenn A gesetzt ist, Non-A eben nicht gesetzt ist. Im Integralen Yoga darf Wahrheit daher nicht sofort auf Widerspruchfreiheit reduziert werden. Für die Probleme des Endlichen mag die an Widerspruchsfreiheit orientierte Verstandeslogik ausreichen, aber angesichts eines religiös interpretierten »unermesslichen« Unendlichen, das sich in eine Vielzahl gleichzeitig nebeneinander bestehender Endlichkeiten auseinandergefaltet hat, hilft die übliche Verstandes4 Zum Kontext siehe Picht, Georg: Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Stuttgart 1990, S. 195.

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logik nicht weiter. Diese droht vielmehr angesichts der Herausforderung durch das Unendliche »den Verstand zu verlieren« und vielleicht ist dies der tiefste Grund für die Unendlichkeitsvergessenheit, die sich in der modernen, von Wissenschaft und Technik geprägten Verstandes- und Willenskultur immer weiter ausbreitet. In diesem Kontext sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es bei Aurobindo nicht um eine Unterschreitung, sondern um eine Überschreitung der Verstandeslogik geht, weshalb nicht voreilig von »Irrationalismus«, was Widervernünftigkeit nahelegt, gesprochen werden sollte. Da eine Logik der Unendlichkeit keine Verstandeslogik sein kann, scheint die ungewohnte Rede von Überrationalismus sinnvoller. Wie aber kann man über die Grenzen der Verstandeslogik hinausgelangen, ohne den Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit und eine Wahrheit aufzugeben, die nicht nur Individualgültigkeit besitzt und interkulturell verallgemeinerbar ist? Hier ist eine schwierige Gratwanderung zwischen der Anerkennung von vorläufigen Grenzen des Fremdverstehens und der bleibenden Offenheit für neue und fremde grenzüberschreitende und horizonterweiterende Erfahrungen unvermeidbar. Ohne die Bereitschaft zu einem »Abenteuer des Bewusstseins« bleibt auch eine interkulturelle Philosophie im Käfig ihres mitgebrachten, kulturbedingten Vorverständnisses gefangen. Georg Pichts grundsätzliches Plädoyer für eine größere Offenheit für die indische und chinesische Kultur legt jedenfalls eine stärkere Berücksichtigung der Unendlichkeitsphilosophie Aurobindos in der interkulturellen Philosophie nahe, auch wenn dadurch die Erkenntnis- und Wahrheitsbedingungen der inzwischen weltweit vorherrschenden und vor allem von technisch-ökonomischer Rationalität geprägten europäischen Traditionslinie relativiert werden. »Die indische und die chinesische Kultur sind der europäischen gewiß nicht unterlegen, aber die Formen von Erkenntnis der Wahrheit, die sich dort ausgebildet haben, zeigen uns völlig andere Möglichkeiten menschlicher Welterkenntnis und Weltorientierung. Nichts berechtigt uns dazu, der europäischen Wissenschaft einen höheren Grad an Erkenntnis der Wahrheit zuzusprechen«5 Ohne die im interkulturellen Kontext vergleichsweise erkenntnisoptimistische, in Griechenland entstandene platonisch-aristotelisch geprägte philosophische Traditionslinie wäre nicht nur nach Picht die neuzeitliche Wissenschaft nicht denkbar. Für viele Vertreter der interkulturellen Philosophie gibt es freilich nicht nur einen Geburtsort der Philosophie, weshalb im veränderten interkulturellen Kontext eine Relativierung der lange Zeit fraglos vorausgesetzten Vormachtstellung des europäischen Begriffs-, Kategorien- und Wertesystems gefordert 5 Picht, Georg: Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Stuttgart 1990, S. 21. Aurobindo hat an verschiedenen Stellen seines Werkes eine scharfe Kritik an Einseitigkeiten der modernen Wissenschaft geübt, auch an der vergleichenden Religionswissenschaft.

Die Bedeutung Aurobindos für eine interkulturelle Philosophie

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wird.6 Insbesondere vor dem Hintergrund eines lebensphilosophisch erweiterten Vorverständnisses von Philosophie kann der integrale Yoga Aurobindos m. E. zu Recht auch als ein Beitrag zur interkulturellen Philosophie interpretiert werden, zumal eine gewisse geistige Nähe zur religiös inspirierten Lebensphilosophie, insbesondere zu Bergson und dem späten Scheler, konstatiert werden kann.7 Aurobindo selbst hat übrigens Heraklit als europäischen Geistesverwandten genannt und über die Herkunft seiner Ideen ansonsten zumeist geschwiegen oder sich auf die eigene spirituelle Erfahrung berufen, was die in der neuzeitlichen Wissenschaft üblichen rationalen Rekonstruktionsversuche natürlich erheblich erschwert. Ich stelle in diesem Beitrag die traditionelle indische Idee des Einen ohne ein scharf getrenntes Zweites (Advaita) auch deshalb ins Zentrum meiner Überlegungen, weil Aurobindo es wie kaum ein anderer Neo- Hinduist verstanden hat, diesem alten Gedanken im Kontext einer veränderten Welt, in der das Ideal einer geeinten Menschheit8 angesichts des sich gegenwärtig zuspitzenden »Kampfes der Kulturen«9 eine immer größere Bedeutung erlangen dürfte, eine erstaunliche Aktualität zu verleihen. Die vergleichsweise zahlreichen universalistisch orientierten Denker des Neo- Hinduismus sind ein Beweis für die im interreligiösen Kontext außergewöhnliche Erneuerungs- und Reformfähigkeit des traditionell eher regional- volksreligiös ausgerichteten Hinduismus, auch wenn die tendenziell toleranten, in Indien entstandenen Religionen (Hinduismus; Buddhismus, Sikhismus) der sich gegenwärtig weltweit ausbreitenden fundamentalistischen Versuchung nicht immer widerstehen können.10 Das, was Jan Ass6 Mall, Ram Adhar / Hülsmann, Heinz: Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa. Bonn 1989; Mall, Ram Adhar / Yousefi, Hamid Reza: Grundpositionen der interkulturellen Philosophie. Nordhausen 2005; Kimmerle, Heinz: Rückkehr ins Eigene. Die interkulturelle Dimension in der Philosophie. Nordhausen 2006. 7 Dies gilt vor allem für die Idee einer spirituellen Evolution. Hier wären im westlichen Kontext neben Henri Bergson und Max Scheler auch Teilhard de Chardin, Alfred North Whitehead, Jean Gebser und Ken Wilber zu nennen. 8 Sri Aurobindo: Das Ideal einer geeinten Menschheit. Würzburg 1973. 9 Huntington, Samuel: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München / Wien, 1996. Huntingtons zugespitzte These vom Kampf der Kulturen besitzt trotz der unbestreitbaren binnenkulturellen Konflikte durchaus ein relatives Recht und sollte nicht voreilig gegen die ebenso berechtigte These vom unvermeidlichen Dialog der Kulturen ausgespielt werden. Auch Aurobindo argumentiert vorwiegend kulturalistisch, verliert aber das transkulturell-spirituelle Ziel einer geeinten Menschheit nicht aus den Augen. Vgl. dazu: Sri Aurobindo: Der Zyklus der menschlichen Entwicklung. Die Aufwärtsentwicklung der Menschheit zur Erkenntnis und Offenbarung des Göttlichen in ihr. Bern u. a. 1974. Ders.: The Life Divine (3 Bde.) New York 1951. 10 Vgl. dazu: Gantke, Wolfgang: »Probleme des Hindufundamentalismus im interkulturellen Kontext.«, in: Lüddeckens, Dorothea (Hg.): Begegnung von Religionen und Kulturen. Festschrift für Norbert Klaes. Dettelbach 1998, S. 231 – 253. In diesem Kontext ist interessant, dass sich Aurobindo von einem Hindu- Nationalisten zu einem Hindu-Universalisten ge-

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mann vor allem im Hinblick auf die monotheistischen Religionen als »mosaische Unterscheidung«11 bezeichnet, hat im klassischen Hinduismus kaum eine Rolle gespielt, ist aber die Ermöglichungsgrundlage für den heutigen, abgrenzungsorientierten Hindu- Fundamentalismus, der als die »dunkle Seite« des aufgrund seiner Einheitsorientierung ansonsten zu inklusivistischer Toleranz tendierenden Neo- Hinduismus interpretiert werden kann. Der Fundamentalismus neigt in allen Religionen dazu, die Einheit mit Einheitlichkeit und Einförmigkeit zu verwechseln. Die übergegensätzliche und übergegenständliche Einheit lässt sich aber nicht im Sinne einer einförmig-fundmentalistisch ausgerichteten politischen Ideologie innerweltlich verzwecklichen. Allerdings hat die Orientierung an einer letzten, über allen innerweltlichen Gegensätzen stehenden Einheit im traditionellen Hinduismus zahlreiche asketische Strömungen hervorgebracht, die die Welt lediglich als zu überwindende Täuschung und Illusion (Maya) betrachteten und das Heil in einer totalen Weltverneinung zu finden glaubten. Obwohl Aurobindo als »Realist« (Selbstbezeichnung) diese illusionistischweltverneinenden Richtungen entschieden zurückgewiesen hat, folgt er in der Einheitsfrage doch der hinduistischen Advaita- Tradition, die er freilich durch seine Rezeption des westlichen Evolutionsgedankens gleichsam dynamisiert. Vielleicht trifft die Rede von einem dynamischen Nicht-Dualismus, mithin einer beweglichen Identität in gleichzeitig nebeneinander existierenden Verschiedenheiten das nicht eindeutig bestimmbare philosophische Sinnzentrum Aurobindos am ehesten. Es ist dies eine philosophische »Position«, die im Denkrahmen des okzidentalen Rationalismus kaum nachvollziehbar ist. Dennoch sei ein gedanklicher Annäherungsversuch an das Gemeinte gewagt. Das für den endlichen Verstand unfassbare, immerwährende Eine ohne Anwandelt hat. Der frühe, politische Aurobindo kann durchaus als Fundamentalist bezeichnet werden und spätere Vordenker des Hindu-Fundamentalismus wie etwa Mahadev S. Golwalkar haben sich gerne auf den frühen Aurobindo berufen. Erst durch die sogenannte Wende von Alipur im Jahre 1908 wandelte sich Aurobindo nach einem einjährigen Gefänginsaufenthalt von einem politischen Widerstandskämpfer zu einer spirituellen Meistergestalt, ohne die Welt der Politik ganz aus den Augen zu verlieren. Die Gründe für diesen Bewusstseinswandel können hier nicht weiterverfolgt werden. Siehe dazu Wolff, Otto: Sri Aurobindo mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1988; Gantke, Wolfgang: Aurobindos Philosophie interkulturell gelesen. Nordhausen 2007, S. 17 ff. 11 Vgl. Assmann, Jan: Die mosaische Unterscheidung: oder der Preis des Monotheismus. München 2003. Der Hinduismus ist eine tendenziell einheitsmystische Religion. Die vielen personalen männlichen und weiblichen Götter, die auch in Aurobindos Werk immer wieder erwähnt werden, sind (jedenfalls im philosophischen Kontext des Neo-Hinduismus) als unterschiedliche Erscheinungsformen des Einen zu interpretieren. Im Zusammenhang mit Aurobindo ist also die Rede vom hinduistischen Polytheismus irreführend. Es gab im traditionellen Hinduismus keine glasklare Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion bzw. Sekte, obwohl es durchaus Rivalitäten (etwa zwischen Shivaiten und Vishnuiten) gab. Mehrfachidentifikationen waren keineswegs unüblich.

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fang und Ende bewegt sozusagen alles, was ist. Dieses Eine, das alles bewegt und das Aurobindo problemlos mit Gott identifizieren zu können glaubt, besitzt verschiedene Aspekte, insbesondere einen Seins- und einen Werdensaspekt. Shiva als männlicher Seinsaspekt und Shakti als weiblicher Werdensaspekt sind zwei Erscheinungsformen dieses Einen. Die spirituell interpretierte Evolution dient letztlich der Seins- bzw. Selbstverwirklichung Gottes auf Erden, der sich im Menschen als dem Kreuzungspunkt von Geist und Materie seiner selbst bewusst wird.12 Die Sehnsucht nach dem im Welt-Spiel (Lila) vergessenen Unendlichen erinnert den Menschen an seine eigentliche, göttliche Bestimmung auf Erden. Der Mensch begreift sich als ein noch unfertiges Wesen, gleichsam als werdender, teilweise noch im untermenschlich-animalischen Bereich gefangener Gott, der im Verlaufe der spirituellen Evolution unterwegs ist zur Realisierung des ihm innewohnenden, noch nicht verwirklichten supramentalen Bewusstseins, mithin zur Erlangung der Vollkommenheit. Die verschiedenen Erdenleben des Menschen dienen der Aufwärtsentwicklung des Menschen in der Evolution. Für den Realisten Aurobindo gilt es im Unterschied zu den weltfeindlichen Strömungen nicht, den Geburtenkreislauf auf dem schnellsten Wege um der Befreiung (Moksa) willen zu verlassen, sondern es geht vielmehr um das seelische Wachstum des Menschen in der diesseitigen Welt, wozu die Reinkarnation als Evolutionshilfe dient.13 Die den Menschen an die Welt bindende und daher im traditionellen Hinduismus negativ bewertete Reinkarnationslehre wird von Aurobindo positiv uminterpretiert, denn für ihn ist die Verwandlung des Menschen auf Erden (und nicht in jenseitigen Welten) das Heilsziel. Die wahre Selbstverwirklichung (nicht Egoverwirklichung) des Menschen ist die Gottverwirklichung im Menschen. Die Ermöglichung eines göttlichen Lebens des Menschen auf Erden ist das eigentliche Ziel der spirituellen Evolution. In der Evolutionsphilosophie Aurobindos geht es immer auch um die Befreiung des Menschen von den Fesseln der Unwissenheit, so dass durchaus von einer inwendigen spirituellen »Aufklärung« im Sinne einer »Erleuchtung« gesprochen werden kann. Philosophie und Religion sind dabei untrennbar miteinander verbunden. In dieser hochspekulativen, spirituellen Evolutionstheorie ist dann auch jener Dualismus überwunden, der die traditionelle christliche Philosophie entschei12 Bei Aurobindo dient die Evolution der Religion und nicht, wie in den meisten reduktionistisch- darwinistischen Ansätzen, in denen Religion als Selektionsvorteil interpretiert wird, umgekehrt die Religion der materialistisch interpretierten Evolution. Vgl. zur Diskussion um Religion und Evolution auch Lüke, Ulrich / Schnakenberg, Jürgen / Souvignier, Georg (Hg.): Darwin und Gott. Das Verhätnis von Evolution und Religion. Darmstadt 2004. In christlicher Perspektive: Kessler, Hans: Evolution und Schöpfung in neuer Sicht. Kevelaer 2009. 13 Sri Aurobindo: The Problem of Rebirth. Pondicherry 1973.

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dend geprägt hat: die Entgegensetzung von Gott und Mensch. In jedem Endlichen wohnt letztlich der/das Unendliche, weil Gott letztlich überall ist. Genau hier liegt dann auch die entscheidende und bleibende Differenz zum christlichen Menschenbild und der scharfen Trennung zwischen Gott und Mensch, zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung. Vom christlichen Standpunkt aus betrachtet verharmlost die ganzheitlich- harmonisch ausgerichtete Unendlichkeitsphilosophie Aurobindos durch ihre Tendenz zur Versöhnung aller Gegensätze das Problem des Bösen und des Leides in der Welt. Wenn Gott überall ist, muss er dann nicht auch verantwortlich sein für all das Leiden, das gerechte und edle Menschen auf Erden erdulden müssen und für all das Böse in der Welt, das vor dem Hintergrund einer tendenziell harmonischen kosmischen Ordnung (Dharma) lediglich als Mangel an Vollkommenheit, als Unwissenheit, als Täuschung oder gar als Spiel Gottes mit dem Menschen und sich selbst interpretiert werden kann? Ich nenne in diesem Kontext nur die Stichworte Auschwitz, Hiroshima, Tschernobyl und schließlich den 11. 9. 2001 und seine bis heute andauernden Folgen, die eben doch in einen harten, unerbittlich geführten »Kampf der Kulturen« (Huntington) zu münden scheinen. Kann angesichts einer durch das menschliche Weltzerstörungswissen das Überleben der Menschheit gefährdenden Krisensituation wirklich optimistisch von einer evolutiven spirituellen Aufwärtsentwicklung des Menschen zu einem göttlichen Leben auf Erden gesprochen werden? Eine problemorientierte Auseinandersetzung mit den für das Christentum zentralen Fragen nach dem Bösen, der Sünde und dem leidenden Gerechten kann im begrenzten Rahmen dieses Beitrages leider nicht geführt werden, aber es sei an dieser Stelle zumindest der Hinweis erlaubt, dass sich auch in der integralen Unendlichkeitsphilosophie Aurobindos die Frage aufdrängt, warum das Disharmonische überhaupt in eine Welt kommt, die von vornherein so harmonisch aufgebaut sein könnte, dass all die leidbehafteten Umwege des Menschen (Kriege, Krankheiten, Leid, Selbsttäuschungen, Lügen, Tod usw.) auf dem Wege zur Vollendung vermeidbar wären. Kann der Gedanke des göttlichen Welt- Spiels wirklich eine befriedigende Antwort auf diese existentielle Menschheitsfrage geben? Es kann natürlich weitergefragt werden, welche Religion, welche Philosophie, welche innerweltliche Weltanschauung überhaupt in der Lage ist, auf diese, zugegeben anthropozentrisch zugespitzte Frage eine befriedigende Antwort zu geben. Da gegenwärtig auch die allzu optimistischen Antworten des modernen anthropozentrischen Fortschrittsglaubens ohne Transzendenz- und Unendlichkeitsbezug zu scheitern drohen, wird die religiöse Frage nach der Herkunft des Bösen, des Leides und des Todes vermutlich auch die zukünftige Menschheit weiterhin beunruhigen. Ob der integrale Yoga wirklich eine beruhigende Antwort auf diese Sinnfrage gibt, ist daher eine »offene Frage«, die jeder Einzelne für sich beantworten muss. Aurobindo jedenfalls glaubt an den Menschen und seine Zukunft.

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Unter den stärker an der heilen und heiligen Vergangenheit orientierten hinduistischen Philosophen ragt er als ausgesprochener Zukunftsdenker, der die Diesseitigkeit und die Geschichtlichkeit ernstnimmt, heraus: »Die Vergangenheit soll uns heilig sein, aber die Zukunft noch mehr«. Im hinduistischen Kontext sind das eher ungewöhnliche Töne. Der unerschütterliche Glaube an die Würde und Zukunft des göttlichen Menschen zeigt sich auch in folgendem Zitat: »Ich werde zu dem, was ich in mir selber sehe. Alles, was das Denken mir andeutet, kann ich tun. Alles, was das Denken mir offenbart, kann ich werden. Das sollte der unerschütterliche Glaube des Menschen an sich selber sein, denn Gott wohnt in ihm.«14

Vom naiven modernen Machbarkeitsglauben im Sinne eines technizistischen und psychologischen »positiven Denkens«, das ganz auf die Selbstbehauptungsund Selbstheilungskräfte des Menschen setzt, unterscheidet sich Aurobindos Glaube an den Menschen durch den Unendlichkeits- und Gottesbezug, denn im Sinne der hinduistischen Bhakti-Tradition soll sich der Mensch vertrauensvoll Gott, der in seinem tiefsten Inneren wohnt, überantworten. Voraussetzung ist die Überwindung des menschlichen, egoistischen Eigenwillens um Gottes willen. Es ist die dualismuserzeugende Egoverhaftung, mithin der sich gerne an rationale Konstruktionen und Konzeptionen haftende menschliche Macht- und Selbstbehauptungswille, der den heilsnotwendigen Durchbruch zum NichtDualismus verhindert. Ich wiederhole den zentralen philosophischen Grundgedanken noch einmal in zugespitzter Form: Das Eine ist nicht als eine unbewegte, rationale Identität zu denken, die sich gegen ein Zweites um der Selbst- und Machtbehauptung willen abgrenzen zu müssen glaubt. Es ist vielmehr so umfassend zu denken, dass es nichts geben kann, das von ihm absolut getrennt wäre. Das Entzweite bleibt so weiterhin ein Teilaspekt des Einen, von dem es sich nie ganz loszulösen vermag, so dass »harte« Dualismen vermieden werden. Geist und Materie, Sein und Werden, Er und Sie, Shiva und Shakti, Ordnung und Chaos, ja sogar Gut und Böse sind so Erscheinungsformen der letzten, übergegensätzlichen Einheit, die von Aurobindo dann gleichsam personalisiert und als Gott bezeichnet wird. Alles Leben ist gewissermaßen religiös durchtränkt. Es gibt nichts, was nicht auch Gott ist. Er ist der Spielplatz, der Spieler und das Spiel. In dieser umfassenden Perspektive ist das ganze Leben Gottesdienst. Es ist dies der alte indische Advaita- Gedanke, den Aurobindo in geschickter Weise mit der westlichen Evolutionsidee kombiniert, durch die dann paradigmenimmanent gedeutet auch die Disharmonien und Unvollkommenheiten auf Erden einen tieferen Sinn erhalten, denn der in die Materie und Unwissenheit versunkene göttliche Geist muss sich im Laufe der Evolution erst wiederfinden und befreien. Aber auch die 14 Satprem: Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins. Weilheim 1970, S. 7.

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Evolution ist wieder nur ein Teilaspekt des Einen, der/das alles bewegt. Im Unterschied zu den westlichen Evolutionstheoretikern findet sich bei Aurobindo auch der Gedanke einer Involution, also der Gedanke, dass Gott aus reiner Daseins- und Spielfreude in die Materie und die Unerleuchtetheit hinabtaucht, sich dort von sich selbst »entfremdet« und sich gleichsam in dieser Fremde und Selbstvergessenheit riskiert. Nach Aurobindo spielt der selbstvergessene Werdensaspekt Gottes mit sich und der Welt in einer Weise, die vom Standpunkt des nüchternen »okzidentalen Rationalismus« aus betrachtet an einen unberechenbaren Willkürgott erinnert, der uns durchaus zu täuschen und in die Irre zu führen vermag. Gott wird nicht als ein logischer Gesetzgeber gedacht, denn im immerwährenden Welt-Spiel (Lila) lässt sich nichts »endgültig« bestimmen, beweisen und berechnen. Die Wirklichkeit ist nach Aurobindo keineswegs (nur) logisch aufgebaut, wie das folgende Zitat eindrucksvoll dokumentiert: »Der göttliche Anfang ist für immer vor der Zeit, in der Zeit und jenseits der Zeit. Das oder der Ewige, Unendliche und Eine ist ein nie endender Anfang. Und wo ist die Mitte? Es gibt keine Mitte; denn es gibt nur den Verbindungspunkt zwischen dem immerwährenden Ende und dem ewigen Anfang; das ist das Zeichen seiner Schöpfung, die in jedem Augenblick neu ist. Die Schöpfung war seit aller Ewigkeit und wird in alle Ewigkeit sein. Der Ewige, Unendliche und Eine ist das magische mittlere Glied seines eigenen Seins; er ist die Schöpfung, die weder Anfang noch Ende hat. Und wann ist das Ende? Es gibt kein Ende. Zu keinem vorstellbaren Augenblick kann es ein Aufhören geben. Denn alles Enden der Dinge ist ein Anfang neuer Dinge, die noch immer der gleiche Eine sind, der sich in ständiger Entwicklung und Wiederkehr gestaltet. Nichts kann zerstört werden, weil alles Er ist, und Er währt ewiglich.«15

Aurobindo versucht sich also in einer an das Dichterische grenzenden, evozierenden Form des Sagens der Unendlichkeit, die sich dem direkten Zugriff des vereindeutigenden Begriffs entzieht, dennoch sprachlich anzunähern. Vor dem Hintergrund dieser unüberprüfbaren Spekulationen, für die sich Aurobindo auf eigene spirituelle Erfahrungen beruft, kann natürlich nochmals gefragt werden, ob ein derartiger Annäherungsversuch an das Unendliche als ein ernstzunehmender Beitrag zur Philosophie, auch zur interkulturellen Philosophie, betrachtet werden kann. Es sei aber in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass auch der späte Heidegger eine von der traditionellen, abendländischen Philosophie stark abweichende Form der Sprache gewählt hat, um der von ihm gemeinten Wahrheit Ausdruck zu verleihen.16 Auch die abendländische Tradition 15 Zit. nach Satprem: Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins. Weilheim 1970, S. 228. 16 Zu Heideggers Philosophie im interkulturellen Kontext vgl. Immel, Oliver : Martin Heidegger interkulturell gelesen. Nordhausen 2007. Zum späten, eine neue Sprache suchenden Heidegger siehe S. 87 ff. Nach Immel impliziert der von Heidegger behauptete abendländische Ausschließlichkeitsanspruch auf Philosophie keineswegs einen denkerischen Überlegen-

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kennt Dichterphilosophen wie Nietzsche, dem die Lehre von der ewigen Wiederkehr und vom (vitalistischer gedeuteten) Übermenschen nicht fremd war und bei dem die Grenze zwischen Philosophie und Dichtung ebenfalls fließend verlief. Zudem ist die Bedeutung des Unendlichkeitsgedankens für das religiöse Bewusstsein im Kontext westlicher religiöser Geistigkeit insbesondere vom frühen Schleiermacher betont worden, der Religion bekanntlich als »Sinn und Geschmack für das Unendliche« bezeichnete und damit Aurobindos weitem Religionsverständnis sehr entgegenkam.17 Wo im diesseitigen Leben der Bezug zum Unendlichen ganz verlorengeht und wo der Mensch sich, wie in der Moderne, immer ausschließlicher auf endliche Ziel- und Sinnvorstellungen beschränkt, dort breitet sich die Profanität aus. Der moderne Mensch lebt gleichsam unendlichkeitsvergessen in der Profanität.18 Die Barrikaden des Endlichen, in die sich der Mensch in der Profanität versteift, können aber schon allein durch eine langfristige erdgeschichtliche Schau, die die humanegoistische moderne Anthropozentrik transzendiert, durchbrochen werden. Die Fragwürdigkeit eines anthropozentrischen Fortschrittsglaubens, der nur auf die eigenen Kräfte des Menschen vertraut, zeigt sich natürlich besonders eindrucksvoll vor dem Hintergrund der indischen Weltalterlehre, die mit einem unendlichen Kommen und Gehen, einem ewigen Stirb und Werde, mit einer ewigen Wiederkehr ganzer Weltzeitalter »rechnet« und gerade dadurch das rechnende Denken, das sich selbst für den Inbegriff von Realismus hält, angesichts der Unendlichkeit »entwirklicht«. Nicht das Endliche, sondern das Unendliche ist das Reale, denn jedem vermeintlichen Ende wohnt ein neuer Anfang inne. Die spirituelle Evolution wird bei Aurobindo – und hier liegt der entscheidende Unterschied zu den materialistischen, aber auch zu den spirituellen Evolutionstheorien westlicher Provenienz seit Darwin – eingeordnet in die uralte indische Weltalterlehre, in die Lehre von der ewigen Wiederkehr, freilich in unendlicher Variabilität. heitsanspruch des Abendlandes über andere Kulturen. Vielmehr geht es Heidegger, der sehr offen für die asiatische Geistigkeit war, gerade um eine Überwindung einer an die SubjektObjekt-Spaltung gebundenen Verstandesphilosophie durch ein an- und andersdenkendes Denken. 17 Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Stuttgart 1977 [1799]. Es gibt bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen Aurobindos und Schleiermachers auf das Unendliche bezogene Religionsverständnis, auf die einzugehen hier zu weit führen würde. 18 Kamlah, Wilhelm: Der Mensch in der Profanität. Versuch einer Kritik der profanen durch vernehmende Vernunft. Stuttgart 1949; Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt am Main 1984; Gantke, Wolfgang: Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung. Marburg 1998.

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»Das Experiment, das das Leben des Menschen auf seiner Erde bedeutet, wird jetzt nicht zum ersten Mal unternommen. Es ist schon millionenmal zuvor vollzogen worden, und das lange Schauspiel wird sich weitere millionenmal wiederholen. In allem, was wir jetzt tun, in unseren Träumen, unseren Entdeckungen, in dem, was wir rasch oder unter Schwierigkeiten errungen haben, ziehen wir unterbewußt aus der Erfahrung unzähliger Vorgänger unseren Nutzen, und unsere Bemühungen werden auf Planeten, die uns unbekannt sind und in Welten, die noch nicht erschaffen wurden, ihre Früchte tragen. Der Plan, die plötzlichen Wendungen, die Abwicklung sind stets verschieden, doch werden sie stets von denselben Regeln einer ewigen Kunst bestimmt. Gott, Mensch und Natur sind drei immerwährende Symbole. Die Vorstellung einer ewigen Wiederkehr läßt jene Gemüter, die sich in der Minute, der Stunde, hinter den Jahren, den Jahrhunderten und all den unwirklichen Barrikaden des Endlichen verschanzt haben, vor Furcht erzittern. Aber jene Seele, die stark ist, die sich ihrer eigenen unsterblichen Beschaffenheit und des unerschöpflichen Ozeans ihres nie versiegenden Kräftestroms bewußt ist, läßt sich von dieser Vorstellung ergreifen und erbebt dabei in unvorstellbarer Entrückung. Hinter dem Gedanken vernimmt sie das Kindeslachen und die Ekstase des Unendlichen.«19

Kann man der Ekstase des Unendlichen sprachlich in ergreifenderer Weise Ausdruck verleihen? Trotz der Aufnahme vieler westlicher Gedanken bleibt Aurobindo also in zentralen Fragen der alten indischen Tradition treu. So steht die traditionelle indische Idee der ewigen Wiederkehr in eklatantem Widerspruch sowohl zum christlichen Heils- als auch zum modernen, materialistischen Fortschrittsgedanken. Wie fremdartig muss diese Schau des Unendlichen in der Perspektive eines anthropozentrisch-ökonomisch ausgerichteten Bewusstseins erscheinen, für das Zeit Geld ist? Und doch zeigt sich hier eine sehr andere Möglichkeit menschlicher Welterkenntnis, die im Rahmen einer interkulturellen Philosophie nicht von vornherein ausgegrenzt werden sollte, zumal der die Moderne prägende anthropozentrische Fortschrittsglaube angesichts neuer ökologischer und ökonomischer Herausforderungen in eine tiefe Krise geraten ist.

3.

Aurobindo als Zukunftsdenker

Im Vorhergehenden habe ich zu zeigen versucht, dass Aurobindo in seiner Unbestimmtheiten, Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen akzeptierenden Unendlichkeitsphilosophie der altehrwürdigen indischen Tradition folgt, deren Ziel niemals die rationale widerspruchsfreie Konstruktion der Wirklichkeit im Ganzen war. Im Abendland dagegen ist die Suche nach einer glasklaren mathematischen Weltformel, nach einem unerschütterlich festen archimedischen 19 Satprem: Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins. Weilheim 1970, S. 228.

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Punkt in der Erkenntnis, trotz vieler vergeblicher Versuche noch nicht aufgegeben worden. Der Gedanke eines logischen Aufbaus der Wirklichkeit im Ganzen hat in der abendländischen philosophischen Tradition stets eine zentrale Rolle gespielt, nicht aber in den philosophischen Traditionen Asiens. Hier scheint mir ein entscheidender Unterschied zwischen westlicher und östlicher Geistigkeit zu liegen, den Aurobindo zwar wahrgenommen hat, der aber für ihn in der Zukunft überwindbar ist. Wenn er im Sinne des typisch hinduistischen Inklusivismus keinen scharfen Gegensatz zwischen westlichem und östlichem Denken zu erkennen vermag, erhebt er unausdrücklich einen gewissen Überlegenheitsanspruch der Nicht- Zweiheitslehre, denn sie verbirgt sich letztlich wieder in folgendem Zitat: »Ich sehe nicht ein, warum da so ein unüberbrückbarer Abgrund bestehen soll. Denn tatsächlich besteht kein wesenhafter Unterschied zwischen geistigem Leben in Ost und West. Die Unterschiede betreffen immer nur die Namen, Formen und Symbole.«20 Die indische Advaita- Philosophie und eine philosophische Differenzhermeneutik, die unüberwindbare Unvereinbarkeiten betont, sind kaum miteinander zu versöhnen. Um die Versöhnung von vorgeblich Unvereinbarem geht es aber dem Zukunftsdenker Aurobindo, der aus hinduistischer Perspektive über das Ideal einer geeinten Menschheit nachgedacht hat.21 Die spirituelle Evolution ist gleichsam auf dem Weg zur Einheit der Menschheit, aber es ist ein Weg mit vielen Hindernissen (Nationalismen, Fundamentalismen, Kulturzentrismen usw.).

Obwohl Aurobindos spirituelle Evolutionslehre eingebettet bleibt in ein Kreislaufdenken, in dem auf jede Evolution auch wieder eine Involution folgt, kann er in erd- und menschheitsgeschichtlicher Perspektive durchaus als ein Zukunftsdenker interpretiert werden, der das Ideal eines spirituellen »Übermenschen« entwickelt hat, dem es bestimmt ist, auf der Höhe des in Zukunft zu realisierenden supramentalen Bewusstseins ein göttliches Leben auf Erden zu führen. Er geht dabei in der gegenwärtigen Evolutionsphase optimistisch von einer unstetig verlaufenden Aufwärtsentwicklung des Menschen aus, der noch nicht fertig ist und seine eigentliche Norm noch nicht gefunden hat. Der von Aurobindo erhoffte Durchbruch zu einem neuen, höheren, supramentalen Bewusstsein ist allerdings keineswegs garantiert und wird möglicherweise erst in ferner Zukunft erfolgen, denn auch Rück- und Fehlentwicklungen sind möglich, 20 zit. nach Wolff, Otto: Sri Aurobindo mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1988, S. 128. 21 Sri Aurobindo: Das Ideal einer geeinten Menschheit. Gladenbach 1973. Vom Selbstverständnis her hat Aurobindo freilich eine hinduistische Perspektive, ja, sogar eine religiöse Perspektive überwunden, denn nicht um eine neue Religion, sondern um ein neues Bewusstsein geht es ihm. Wie stark sein Integraler Yoga trotz seines Kosmopolitismus von hinduistischem Gedankengut geprägt ist, dürfte aus diesem Beitrag hervorgegangen sein. Seine Unendlichkeitsphilosophie kann durchaus als eine integrale Religionsphilosophie interpretiert werden.

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aber in the long run kann eben doch von einer Aufwärtsentwicklung gesprochen werden. Den intensiven Bemühungen Aurobindos, den supramentalen Bewusstseinszustand noch während seiner Lebenszeit zu realisieren, war, wie er selbst eingesteht, kein Erfolg beschieden. Es spricht für die Glaubwürdigkeit dieses hinduistischen Zukunftsdenkers, dass er seinen Misserfolg so freimütig eingesteht. Der moderne Mensch, der so stolz ist auf seine Erfolge auf dem technisch- ökonomischen Felde, ist für Aurobindo jedenfalls keineswegs der Höhepunkt der Evolution, sondern er ist spirituell unvollendet. Im Unterschied zu einigen Endzeitdenkern ist der Mensch aber auch kein Irrläufer oder völliger Fehlschlag der Evolution, dem eine Selbstzerstörungsprogrammatik innewohnt. Was ist der Mensch? Für den Hindu- Philosophen ist der Mensch jedenfalls mehr als nur ein vom Kampf um Selbstbehauptung und vom Willen zur Macht angetriebenes Bedürfnis- und Triebwesen, weshalb er die materialistisch orientierten Reduktionismen in der Evolutionstheorie zurückweist. Die Würde des Menschen liegt darin, dass Gott in ihm wohnt und dass er ein zur Gottverwirklichung auf Erden fähiges Wesen ist, was in christlicher Sicht anmaßend klingen mag, vor dem Hintergrund der hinduistischen Atman- BrahmanIdentitätsphilosophie allerdings kaum überraschen kann. All die Irrtümer und Maßlosigkeiten des unvollkommenen Menschen können im Rahmen der spirituellen Evolutionslehre darauf zurückgeführt werden, dass er seine göttliche Identität noch nicht realisiert hat und ihr in einem göttlichen Leben auf Erden noch nicht sichtbar Ausdruck verleihen konnte. Aber dieses göttliche Leben auf Erden ist das eigentliche Ziel der spirituellen Evolution, das dem Dasein des Menschen einen tieferen Sinn verleiht, denn jeder Einzelne kann durch seine Bewusstseinsarbeit gleichsam ein Mitarbeiter des werdenden Gottes werden. So versucht Aurobindo unter Anlehnung an die hinduistische Advaita- Philosophie einerseits und die spirituell interpretierte, westliche Evolutionslehre andererseits eine interkulturell zustimmungsfähige Antwort auf die uralte Grundfrage »Wohin geht der Mensch?«22 zu geben. Er geht dabei in seinem integralen Yoga von einem interkulturell vergleichsweise hohen und edlen Bild des Menschen aus, denn der spirituell orientierte Zukunftsmensch wird all die Fesseln überwinden müssen, die ihn an die Barrikaden des Endlichen und Kleinlichen binden: »O Rasse von Erdgeschöpfen, die ihr, vom Schicksal getrieben dem Zwang der größeren Mächte gehorcht, o Abenteurer des Kleinmuts in einer Welt, wo die Unsterblichkeit waltet, Gefangene im Kerker einer verzwergten Menschheit. 22 Enomiya-Lassalle, Hugo-M.: Wohin geht der Mensch? Zürich 1981. Dieser bekannte Vermittler der Zen-Buddhismus in den Westen legt seinen Zukunftsgedanken die Lehren der drei Zukunftsdenker Aurobindo, Teilhard de Chardin und Gebser zugrunde.

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Wie lange wollt ihr noch Kreise drehen in den Bahnen des Geistes um euer eigenes, winziges Selbst und um kleinliche Dinge. Doch ist die Geringfügigkeit ohne Wandel nicht Eure Bestimmung. Nicht seid ihr geschaffen zum Zwecke einer sinnlosen Wiederholung… Die Zellen der Natur umschließen allmächtige Kräfte. An eurem Horizont harrt eurer ein größeres Schicksal (…) Das Leben, das ihr führt, verbirgt das Licht, das ihr seid.«23

Auch dieses Zitat aus Aurobindos dichterischem Hauptwerk »Savitri«24 dokumentiert wieder in eindrucksvoller Weise das hohe, würdevolle Bild vom Menschen, an das er trotz aller persönlichen Grenz- und Enttäuschungserfahrungen nie aufgehört hat zu glauben.25 Es wäre nun eine leichte Übung, die traurige gegenwärtige Realität des immer noch an konstruierte Feindbilder glaubenden Menschen gegen das von Aurobindo entwickelte optimistische Ideal eines spirituellen Übermenschen, der die supramentale Bewusstseinsstufe verwirklicht hat, auszuspielen. Dieses Ideal einer geeinten Menschheit ist nach Aurobindo nur auf einer spirituellen Grundlage zu verwirklichen. Eine Entzauberung aller jemals von Philosophen entwickelten Idealvorstellungen vom Menschen und seiner Welt ist natürlich immer möglich, aber gerade in einer Zeit, in der die Menschen an den profan- innerweltlichen Zukunftsverheißungen immer stärker zu zweifeln beginnen, scheint es mir wichtig, auf hoffnungsschenkende Alternativen zum Zukunftsängste erzeugenden Gegebenen hinzuweisen. Als Zukunftsdenker zeigt uns Aurobindo in seiner Unendlichkeitsphilosophie andere 23 Satprem: Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins. Weilheim 1970, S. 277. 24 Sri Aurobindo: Savitri. Legende und Sinnbild. Gladenbach 1985. Die auf S. 706 gestellten Fragen verdeutlichen, dass es zu einfach wäre, Aurobindo nur als optimistischen Zukenftsdenker, der auf alle Zukunftsfragen die passende Antwort parat hat, zu betrachten: »Woher kam die nutzlose Wildnis der Gestirne, der Sonnen mächtiges und unfruchtbares Kreisen.? Wer schuf die Seele eines aussichtslosen Lebens in der Zeit? Wer pflanzte einen Zweck und eine Hoffnung in das Herz? Wer stellte die Natur vor eine so riesige und bedeutingslose Aufgabe? Wer plante die Vergeudung ihres Mühens der Millionen von Äonen? Und welche Kraft verdammte zu Geburt und Tod und Tränen die Geschöpfe, die hier auf dem Erdball kriechen?« Dies klingt nicht gerade harmonisch und optimistisch. 25 Interessant wäre in diesem Kontext ein Vergleich von Aurobindos und Pico della Mirandolas Bild von der Würde des Menschen. Beide Denker haben ohne Zweifel ein ungewöhnlich hohes Bild vom Menschen. Vgl. in diesem Kontext den sehr differenzierten Überblick über die anthropologischen Ansätze in der Renaissance und der frühen Neuzeit: Schelkshorn, Hans: »Selbstkreation in einer entgrenzten Welt. Anthropologische Ansätze in der europäischen Philosophie der Renaissance und frühen Neuzeit.«, in: Ders.: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Moderne. Weilerswist 2009, S. 1 – 11. Zu Pico speziell S. 6. Der Glaube an die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen findet sich bei beiden Denkern. Der Titel »Selbstkreation in einer entgrenzten Welt« trifft auch Aurobindos Menschenbild, das freilich nicht scharf vom Gottesbild zu trennen ist. Aurobindos Anthropologie ist immer auch Theologie. Die Unendlichkeitsphilosophie Aurobindos bietet keinen Ansatzpunkt für eine religionskritische »anthropologische Reduktion«. Diese wäre eine Verabsolutierung von Endlichem.

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Möglichkeiten der Weltorientierung und des menschlichen Zusammenlebens, die uns nach dem Durchgang durch die gegenwärtige Bewusstseinskrise ein neues und tieferes Vertrauen in eine sinnvoller und verantwortlicher gestaltete Zukunft durch eine reifer gewordene Menschheit gewinnen lassen. Dieser Zukunftsmensch wird in der unter Schmerzen zusammenwachsenden multikulturellen und multireligiösen Weltgesellschaft das friedensgefährende fundamentalistische Ausschließlichkeitsdenken überwinden und ein feindbildfreies Leben einüben müssen, wenn er langfristig auf diesem Planeten überleben will. Nach Aurobindo gilt es, Gott in all seinen Erscheinungsformen zu verehren. Niemand darf Gott ausschließlich für sich und seine Religion, Philosophie, Sprache und Lehre in Anspruch nehmen, denn Gott versteht alle Sprachen und ist überall. Dies bedeutet: Gott ist in jedem Menschen, unabhängig vom Pluriversum der Bekenntnisse. Der Kernsatz der uralten upanischadischen NichtZweiheitslehre lautet daher : »Das bist Du«. Ich beende diesen Beitrag mit einem Zitat Aurobindos, das mir angesichts der heutigen Probleme im Zusammenhang mit der Begegnung der Religionen und Philosophien von hoher Aktualität zu sein scheint: »Philosophien und Religionen streiten sich über den Vorrang der verschiedenen Erscheinungsformen Gottes, und verschiedene Yogis, Rishis und Heilige haben diese oder jene Philosophie oder Religion vorgezogen. Unsere Aufgabe ist nicht, über irgendwelche dieser Erscheinungsformen zu streiten, sondern sie alle zu verwirklichen und zu werden, nicht einer davon unter Ausschluß aller übrigen nachzufolgen, sondern Gott in allen seinen Erscheinungsformen mit offenen Armen zu begegnen.«26

26 Satprem: Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewusstseins. Weilheim 1970, S. 138.

Ursula Baatz (Wien)

Der Buddhismus – (k)ein Atheismus. Eine Dekonstruktion

»Das erste der grundlegenden Prinzipien des Buddhismus ist der Atheismus.«1 Dies erklärte im Jahr 1926 der japanische Gelehrte Junjiro Takakusu seinem Schüler Prinz Takamatsu, einem jüngeren Bruder von Kaiser Hirohito (1901 – 1989). Takakusu, einer der bedeutendsten Buddhismusgelehrten seiner Zeit, resümiert damit einen komplexen Wahrnehmungs- und Reflexionsprozess, der – zwischen Asien, Europa und Nordamerika hin- und her oszillierend – den Ort des Buddhismus unter den Vorzeichen des Kolonialismus bestimmte. Takakusu ist japanischer Buddhist, doch sein Diktum reflektiert weniger die japanische Tradition des Buddhismus als einen Begegnungsprozess von Kulturen, in dem es vor allem um die Frage der Definitionsmacht ging. Ob der Buddhismus ein Atheismus ist oder nicht, ist also nicht einfach mit ja oder nein zu beantworten. Diese These soll im folgenden entfaltet werden. Der Ausdruck »Buddhismus« wurde zuerst von den englischen Kolonisatoren zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt. Damit war bereits die Schwierigkeit der Bestimmung des Buddhismus gegeben, ob der Buddhismus nun eine Religion, eine Philosophie oder eine Weltanschauung sei2 ; oder auch eine »Schulung des Geistes«3, wie eine zeitgenössische Formulierung lautet. Der Sanskrit-Begriff »Dharma« (Pali »Dhamma«) ist nicht einfach mit »Religion« zu übersetzen. In den Hindu-Traditionen bedeutet Dharma die Lehre, aber im Sinne einer Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten der Natur und der Gesellschaft. »Dharma« wäre also ein Gesetz, das Moral und Pflichten umschreibt, aber auch kosmische Gesetzmäßigkeiten. Ähnlich ist dies im »BuddhaDharma«: die Lehre des Buddha ist ein Heilsweg, der umfassend gilt, eine anthropologische und eine kosmologische Dimension zugleich hat, aber im Un1 Glasenapp, Helmuth von: Der Buddhismus – eine atheistische Religion. München 1966, S. 12. 2 Almond, Philip C.: The British Discovery of Buddhism. Cambridge 1988. 3 Singer, Wolf / Ricard, Matthieu: Hirnforschung undMeditation. Ein Dialog. Frankfurt am Main 2008.

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terschied zu den Hindu-Traditionen Gesellschaftsordnung und kosmische Ordnung nicht zwingend in eins setzt. Dem Verständnis von Religion im europäisch- nordamerikanischen als Konfession oder Denomination entspricht »dharma« nur sehr teilweise und umgekehrt. Der Begriff Atheismus wiederum entstand im Kontext eines konfessionalistischen Verständnisses von Religion. Die Feststellung, beim Buddhismus handele es sich um eine »atheistische Religion«4 ist deswegen problematisch. Der Atheismus der Neuzeit lehnt die theologischen Gottesbegriffe, aber auch den Begriff einer unsterblichen Seele und alles, was damit verknüpft ist, ab. Ähnlich lehnt der Buddhismus eine individuelle unsterbliche Seele, ein Ich oder Selbst ab, und auch das biblische – und christlich-theologische – Gottesverständnis lässt sich im Buddhismus so nicht finden. Ob das allein reicht, den Buddhismus als Atheismus zu bezeichnen, läßt sich fragen.

Begegnungen In den frühesten Begegnungen zwischen Christen und Buddhisten spielte die Frage, ob Buddhisten an Gott glauben – oder nicht – keine Rolle. Für den Kirchenvater Clemens von Alexandrien, aber auch für Abenteurer Marco Polo ist der Buddha ein Vorbild in Sachen geistlichen Lebens: »Sicherlich wäre er, wenn er als Christ getauft worden wäre, ein großer Heiliger vor Gott geworden«, schreibt er in seinen Reiseberichten.5 Der Franziskaner Wilhelm von Rubruk dagegen (um 1250), der mit dem Auftrag zur Missionierung bis an den Hof des Großkhans der Mongolen gereist ist, betrachtet die tibetischen Buddhisten, denen er am Hof von Möngke Khan begegnet, als »Götzenanbeter«. Die Buddha-Traditionen sind für die europäischen Kolonialherren schwer einzuschätzen. Etwa sehen portugiesische Franziskaner im 16. Jahrhundert die Tibeter als Vorbilder an Frömmigkeit für die Katholiken, andere wieder sehen finsteren Aberglauben und Götzendienst. Die Begegnung mit dem Fremden dient als Projektion für Eigenes.6 Zudem war um diese Zeit den allermeisten Reisenden nicht klar, dass die Menschen in Ceylon, die an den Gott Buddou oder Budun glauben, oder auch den Gott Sommona -Codom in Siam und die Chinesen, die an den Gott Fo 4 Glasenapp, Helmuth von: Der Buddhismus – eine atheistische Religion. München 1966. 5 Olschki, Leonardo: Marco Polo’s Asia. An Introduction to his »Description of the World« called »Il milione«. Berkeley 1960, S. 256. 6 Dodin, Thierry (Hg.): Mythos Tibet. Köln 1997; Kollmar Paulenz, Kar¦nina: Kleine Geschichte Tibets. München 2006.

Der Buddhismus – (k)ein Atheismus. Eine Dekonstruktion

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glauben, sich auf dieselbe Stiftergestalt beziehen. Zu unterschiedlich erscheinen die verschiedenen Formen des Buddhismus. Nur einige wenige sahen Ähnlichkeiten, wie etwa Simon de la Loub¦re, der Gesandte Ludwig XIV in Siam 1693, der vermutete, dass die Religion der Siamesen aus Ceylon komme und die Chinesen ihre Religion wieder von den Siamesen hätten.7 Die Jesuiten, die Mitte des 16. Jahrhunderts nach China als Missionare kamen, versuchten sich zunächst als buddhistische Ch‹an-Mönche gekleidet zu inkulturieren. Rasch merkten sie aber, dass die Buddhisten in China keinen guten Stand hatten. Sie wechselten daher die Kleidung und trugen sich als Konfuzianer ; auch entsprach ihre Gelehrsamkeit diesem Bild und verschaffte ihnen hohes Ansehen am kaiserlichen Hof. Aus Nachrichten der Jesuiten suchte sich G.W.Leibniz ein Bild des fernen Landes zu machen. Die Buddhisten hielt er auf Grund dieser Nachrichten weniger für Atheisten denn für Nihilisten, da sie an Nichts glaubten.8 Die Atheismusfrage erscheint in der Debatte um den Glauben der Chinesen, die die in China seit 1628 ebenfalls missionierenden Franziskaner und Dominikaner mit den Jesuiten führten. Die Diskussion fand ihren Niederschlag etwa im damals größten Lexikon in deutscher Sprache, in Johann Heinrich Zedlers Speculum oder Universallexikon, erschienen zwischen 1731 – 1754 – ein Werk, das mit 64 Bänden und 284.000 Artikeln das Wissen der Zeit umfassend repräsentieren will. Die Debatte bezog sich auf die Riten der Chinesen im allgemeinen und die Konfuzianer im besondern. Der Hintergrund: der Ritenstreit, der 1707/1720 vom Papst mit einer Entscheidung gegen die Adaptationsmethoden der Jesuiten beendet wurde. Die Jesuiten interpretierten, so ist bei Zedler zu lesen, die alten chinesischen Riten als Anzeichen von Gottesgläubigkeit: »Sie bemühen sich… zu beweisen, dass die alten Sineser eine Erkänntnis Gottes und dessen Dienst gehabt, und keine Atheisten gewesen wären. Hingegen sind die Dominikaner, welche den Jesuiten beständig widersprechen, anderer Meynung.« Diese meinen, »dass die alten Sineser weiter nichts als einen dunckeln und verwirrten Begriff von dem Dasein eines allerhöchsten Wesens gehabt hätten.« Zudem hätten sie Flüsse und Berge, Himmel und Erde für beseelt gehalten. »Hierbey entstehet nun die Frage, ob man die alten Sineser des Atheismi beschuldigen könne oder nicht? Das erste suchen die Dominikaner, das andere aber die Jesuiten zu behaupten.«9 Das Lexikon kommt zum Schluss, dass die »Sineser« – obwohl sie nun vom Urheber

7 Almond, Philip C.: The British Discovery of Buddhism. Cambridge 1988, S. 8. 8 Leibniz, Gottfried W.: Theodizee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen. Berlin 1968 [1744], S. 68. 9 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschafften und Künste (34 Bde.). Graz 1961 – 1964 [1732], Sp. 1630.

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der Welt gar nichts wussten, trotzdem zur Ausübung der Tugend gekommen seien. Der Buddhismus dagegen kommt bei Zedler als »Atheisterey« sehr schlecht weg. Die buddhistische Lehre habe die »sinesische Philosophie« gleich im 1. Jhdt. n. Chr. verderbt. »Gleichwie nun diese Secte anderes öffentlich, anderes geheim lehrete, und vor jedermann die Gründe der Sitten-Lehre billigte, heimlich aber dafür hielte, dass alles aus dem vacuo oder leeren entstanden sei; und also eine gar gefährliche Atheisterey hegte, wodurch sie zugleich die Leute auf eine unempfindliche Entzückung leitete; also wurde dadurch die Sinesische Philosophie vollends verderbt.«10 Hier sind bereits jene Umrisse der Wahrnehmung des Buddhismus angeführt, die bis heute immer wieder genannt werden: die Betonung der Ethik, weiters »vacuum«, die »Leere«, die den ethischen Anspruch aufhebt, woraus der Vorwurf des Atheismus folgt, und dann auch die »unempfindliche Verzückung«. Diese Wahrnehmung des Buddhismus muss in Zusammenhang mit der in Europa zu dieser Zeit virulenten Debatte über den Quietismus gesehen werden. Sowohl die »unempfindliche Verzückung« als auch der Verdacht der Aufhebung der Ethik sind Vorwürfe, die im europäischen Christentum dieser Zeit im politisch-religiösen Streit um den Quietismus wiederzufinden sind.11 Diesen Bezügen wäre genauer nachzugehen.

Die Konstruktion des Buddhismus als rationalistische und atheistische Weltanschauung »Den Buddhismus« gibt es erst, seitdem das Wort von der Encyclopedia Britannica um 1830 eingeführt wurde.12 Schopenhauer etwa spricht immer von »Buddhaismus«, ebenso auch Hegel und Kant. Bis heute bezeichnen sich vor allem asiatische Buddhisten meist als Jünger des Buddha oder des BuddhaDharma und nur in bestimmten amtlichen oder öffentlichen Kontexten als Buddhisten. Die Konstruktion einer einheitlichen buddhistischen Lehre erfolgt in Asien erst Ende des 19. Jahrhunderts unter westlichem Einfluss oder durch »Westler«. Vor allem britische und französische Gelehrte trugen seit Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Erforschung der Texte, durch Übersetzungen und Theorien dazu bei, dass sich ein Diskurs bildete, der zur Formierung des Buddhismus führte. Philip Almond hat dies in seiner Studie: »The British discovery 10 Ebd., Sp. 1634. 11 Vgl. Baier, Karl: Meditation und Moderne (Bd. 2). Würzburg 2008, S. 142 – 174. 12 Lopez, Donald S. (Hg.): Curators of the Buddha. The study of Buddhism under colonialism. Chicago 1995.

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of Buddhism« sehr instruktiv nachgezeichnet. Er konstatiert: »Buddhist scholarship was not only the cause but also the effect of that which it brought into being – Buddhism.«13 Die europäischen Unsicherheiten dieser unbekannten Religion und ihrem Stifter gegenüber waren erheblich. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Buddhismus als Teil der Hindu- Traditionen wahrgenommen. Die ersten Informationen erhielten die europäischen Kolonialherren von Hindu-Gelehrten, die ihrer Tradition gemäß den Buddha als eine problematische Inkarnation des Gottes Vishnu bezeichneten.14 Dann vermutete man vor allem wegen der gelockten Haartracht der Buddha-Statuen in Europa, dass der Buddha ein Afrikaner sei; erst der Indologe Eugene Burnouf stellte 1844 fest, dass der Buddha indischer Herkunft ist. Auch die Historizität des Buddha wurde in Frage gestellt, da die buddhistische Überlieferung den Titel »Buddha« unterschiedlich und auch in der Mehrzahl verwendet. Erst um die Mitte des 19. Jhdts. wurde der Buddhismus als eine eigene Tradition sichtbar, abgetrennt von der brahmanischen Überlieferung und mit einem eigenen Text-Corpus.15 Mit der Entdeckung und Datierung der Pali-Tradition gewinnt in Europa um 1870 die Figur eines »historischen Buddha« Umrisse. Sie wird aus den Pali-Texten – ohne Bezug zur gelebten buddhistischen Praxis – extrahiert. Diese Texte galten den europäischen Gelehrten – analog der griechisch-römischen Literatur – als ideale Überlieferung, während sie den von den »kolonialen Subjekten« praktizierten Buddhismus als Verfallserscheinung ansahen. Dieses Motiv, den Buddhismus als eine korrumpierte oder degenerierte, oder aber auch als eine unterentwickelte, im geistigen Kindesstadium befindliche Tradition zu sehen, findet sich in den verschiedensten Einschätzung des 19. Jahrhunderts. Das beeinflusst auch die Konstruktion des Buddhismus als Atheismus: Nach der Entwicklungshypothese ist der Buddhismus eine Religion, die dem Kindheitsstadium der Menschheit entspricht; dass es im Buddhismus keinen Gott wie im Christentum gibt, erklärt sich für diese Sichtweise daraus, dass auch Kinder Gott noch nicht kennen. Der Schluss: beim Buddhismus handelt es sich nicht um Atheismus. Andere gehen von der Deismus-Hypothese aus: die »Skepsis« des Pali-Kanon kommt demnach aus einer aufgeklärten, vernünftigen Weltanschauung ähnlich der modernen Weltsicht. Im Verhältnis zu diesem Ur-Buddhismus sei jedoch der praktizierte populäre Buddhismus die Verfallsform dieser Vernunft-Religion. Bis die Indologen den »historischen Buddha« als Menschen konstruieren, gilt 13 Almond, Philip C.: The British Discovery of Buddhism. Cambridge 1988, S. 4. 14 Hallisley, Charles: »Roads taken and not taken in the study of Theravada Buddhism«, in: Lopez, Donald S. (Hg.): Curators of the Buddha. The study of Buddhism under colonialism. Chicago 1995, S. 31 – 62. 15 Almond, Philip C.: The British Discovery of Buddhism. Cambridge 1988, S. 32.

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der Buddha bei europäischen Denkern als Gott oder »Götze« – wie man etwa bei Hegel lesen kann. Als Quelle für den »historischen Buddha« gelten die Pali-Texte, da sie älter als Mahayana-Texte sind und daher näher am Ursprung. Dass der Pali-Kanon vorwiegend atheistisch gelesen wird, liegt am Zeitgeist: 1859 erscheint Darwins Ursprung der Arten; die biblische Chronologie, auf die sich manche zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch bezogen, wird aufgegeben; neue geologische und biologische Erkenntnisse, sowie Positivismus und Materialismus als Reflexion des wissenschaftlichen Fortschritts werden im Diskurs bestimmend. Damit ändert sich der Blick auf den Buddhismus: galt das Interesse der Europäer zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch der buddhistischen Kosmologie, wird diese nun als mythisches Beiwerk gesehen und man bemüht sich, einen »reinen Buddhismus« zu extrapolieren, der nicht Religion, sondern Weltanschauung und Philosophie ist. Diese neue Interpretation des Buddhismus wird einer breiten gebildeten Leserschaft bekannt gemacht. Edwin Arnolds »The Light of Asia«16 (1891), das auf deutsch bei Reclam erschien, oder auch Arthur Schopenhauers Philosophie sind wichtige Pfade der Verbreitung. Die buddhistische Lehre erscheint nun als rational argumentierende und empiristisch begründete Weltanschauung – eine Auffassung, die bis heute in populären genauso wie in akademischen Darstellungen des Buddhismus zu finden ist. Unter dieser Perspektive erscheint der Buddhismus als »eine Philosophie der minimalen metaphysischen Voraussetzungen«17, wie etwa Bernulf Kanitscheider schreibt. Aus einer naturalistischen Perspektive interpretiert er den »Dharma« nach dem Vorbild der Naturwissenschaft als Gesetz, »nach dem der Ablauf der Geschehnisse erfolgt, aber es gibt keinen Eingriff von außen kommender Mächte, die das Geschehen willkürlich nach persönlichem Ermessen verändern. Das Gesetz der Welt wurde von Buddha lediglich so erkannt, wie ein abendländischer Naturforscher, etwa an den Bahnen der Planeten deren Bewegungsgesetze abgelesen hat.«18 Zu dieser naturalistischen Interpretation passt auch, dass die Vorstellung einer unsterblichen Seele fehlt, da sich nach Kanitscheider alles im Nirvana auflöst. Das Nirvana selbst wird als Annihilierung und Auslöschung interpretiert, auch dies eine geläufige Ansicht in der westlichen Buddhismus-Rezeption. Kanitscheider gibt weiters die verbreitete Ansicht wieder, dass man im Buddhismus keinen »Glauben« brauche, sondern »sraddha«. Er übersetzt den Sanskrit-Terminus, der gewöhnlich mit »Vertrauen« wiedergegeben wird, als

16 Arnold, Edwin: The Light of Asia. New York 1879. Auch online verfügbar http:// www.theosophy-nw.org/theosnw/books/lightasi/asia-hp.htm [10. 4. 2014] 17 Kanitscheider, Bernulf: Grundfragen der buddhistischen Philosophie. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 17. Innsbruck 1969, S. 17. 18 Ebd.

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»persönliche Überzeugung« und übersieht die Parallele zum christlichen »Glauben als Vertrauen«. Es ließe sich nun ausführlich argumentieren, dass Kanitscheider und alle, die dieser seit dem 19. Jahrhundert geläufigen Sichtweise des Buddhismus anhängen, einer voraussetzungsvollen Fehl-Lektüre der buddhistischen Tradition folgen: dass das »Entstehen in Abhängigkeit« nämlich nicht wissenschaftlich eine kausale Weltordnung beschreibt, sondern einen Bedingungszusammenhang angibt, der zunächst anthropologisch, später auch kosmologisch aufgefasst wird; dass das Gesetz des Karma nur einen Ausschnitt der Umstände menschlicher Existenz betrifft – nämlich Handlungen »in Gedanken, Worten und Werken, die aus Gier, Hass und Verblendung entstehen«; da Karma nach indischer Auffassung nur Temperament, Körperkonstitution, Ort und Zeit der Geburt und die Eltern bestimmt19, aber keineswegs einfachhin die Frage nach Katastrophen wie Erdbeben oder ähnliche Probleme der Theodizee beantwortet. Doch dies soll nur als Einschub erwähnt werden; denn die Konstruktion des Buddhismus als wissenschaftliche Religion und Atheismus ist erst auf halbem Wege.

Globale Verknüpfungen Drehscheibe für die weitere Entwicklung ist das Parlament der Weltreligionen von 1893. Dort traten unter anderen einige Personen auf, die für die Konstruktion des Buddhismus in seiner heutigen Form maßgeblich waren: der Ceylonese Anagarika Dhammapala, der Japaner Soen Shaku und der DeutschAmerikaner Paul Carus. Paul Carus (1852 – 1919), deutscher Pastorensohn, überzeugter Atheist und deswegen aus dem protestantischen Deutschland emigriert, war seit 1887 Herausgeber zweier wichtiger US-amerikanischer Journale: »The Open Court« and »The Monist«, die beide auf die Verbindung von Naturwissenschaft und Religion, vor allem asiatischen Religionen, ausgerichtet waren. Finanziert wurden diese Zeitschriften von einem in den USA zu Reichtum gekommenen deutschstämmigen Industriellen, der den Freidenkern nahe stand.20 Der Buddhismus, den Carus beim Weltparlament der Religionen vor allem durch Soen Shaku, aber auch durch Anagarika Dhammapala kennenlernte, schien ihm den Anforde19 Vgl. Halbfass, Wilhelm: Karma und Wiedergeburt im indischen Denken. München 2000. 20 Mürmel, Heinz: »Der Beginn des institutionellen Buddhismus in Deutschland – Der Buddhistische Missionsverein in Deutschland (Sitz Leipzig).«, in: Universität Hamburg; AsienAfrika-Institut: Weiterbildendes Studium (Bd. 11: Buddhismus in Geschichte und Gegenwart – Erneuerungsbewegungen). 2006, S. 157 – 173. URL: http://www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/fileadmin/pdf/digitale_texte/Bd11-K10Muermel.pdf [28. 02. 2014].

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rungen einer wissenschaftlichen Weltanschauung und atheistischen Haltung zu entsprechen. Allerdings war der Buddhismus, den die beiden asiatischen Buddhisten in Chicago präsentierten, durch Antikolonialismus und durch die Rezeption europäischer Religionskritik geprägt. Anagarika Dhammapala (1864 – 1933), eigentlich David Hewavitarane, stammte aus einer alteingesessenen ceylonesischen Kaufmannsfamilie; sein Bruder war buddhistischer Mönch. Die Engländer hatten Ceylon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihrem Imperium zugeschlagen, und nach portugiesischen Katholiken und holländischen Protestanten kamen nun britische Anglikaner als Missionare ins Land. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich die Eliten Ceylons im antikolonialen Widerstand zu engagieren, und der Buddhismus wurde ein Medium dieses Kampfes. Zwischen 1865 und 1899 fanden in Ceylon fünf große buddhistischchristliche Streitgespräche statt. Das bedeutendste war das von P–nadur– 1873 zwischen dem buddhistischen Mönch Gunananda (1824 – 1891) und dem methodistischen Missionar David de Silva, beide Singhalesen. Rund 10.000 Leute sollen der zweitägigen Debatte gelauscht haben; die Kernstücke der Debatte wurden von den Buddhisten als Buch publiziert. Den Widersprüchen, die Gunananda anhand der anthropomorphen Gottesbilder der Bibel aufzeigte, konnte David de Silva nichts entgegensetzen: etwa fragte der Mönch Gunananda, wie denn Gott allwissend sein könne, wenn es ihn nach Genesis 6,6, angesichts des menschlichen Ungehorsams reute, die Menschen überhaupt geschaffen zu haben. Derartige Planlosigkeit zeichne nur Narren, aber keine weisen Männer aus etc. Auch die Frage der Existenz oder Nicht-Existenz der Seele war ein Thema dieser Debatten21. Die Publikation der Diskussion von P–nadur– wurde in den USA von den Gründern der Theosophischen Gesellschaft, Colonel Olcott und Madame Blavatsky mit Begeisterung gelesen, und die beiden beschlossen daraufhin, nach Ceylon zu reisen. Die buddhistische Kritik an den anthropomorphen christlichen Gottesvorstellungen passte zur Ausrichtung der Theosophischen Gesellschaft, die moderne Wissenschaft und Spiritualität miteinander verknüpfen wollte. Diese heute meist nicht sehr bekannte Gruppierung hat die Religionsgeschichte der letzten hundert Jahre entscheidend mitgeprägt; ihr Einfluss kann nahezu nicht überschätzt werden22. Colonel Olcott und Mme. Blavatsky nahmen im Frühjahr 1880 in Ceylon 21 Gunananda: Buddhism and Christianity : being an oral debate held at Panadura between the Rev. Gunananda, M., Migettuwatte Gunananda, a Buddhist priest and the Rev. David de Silva, a Wesleyan clegyman – (Nachdruck). Colombo 1955. 22 Vgl. Stuckrad, Kocku von: Was ist Esoterik? Eine kleine Geschichte des geheimen Wissens. München 2004.

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öffentlich »Zuflucht zu Buddha, Dharma, Sangha« und bekannten sich damit als Buddhisten. Dem buddhistischen Antikolonialismus gab dies enormen Auftrieb. Unter dem Eindruck der Ereignisse wurde der junge David Hewavitarane buddhistischer Mönch und nahm den Namen Anagarika Dhammapala an. 1886 wurde er Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft, organisierte aber auch den Buddhismus in Ceylon: Die Allianz der Geschäftsleute und der traditionellen Eliten, die Ideen ökonomischer und politischer Modernisierung in einen neuen Buddhismus aufnahmen, machten diesen dadurch zum Vorreiter des singhalesischen Buddhismus.23

Vermittelt durch Olcott und Blavatsky vertrat Dhammapala einen »protestantischen Buddhismus«, geformt durch die Ergebnisse viktorianischer Gelehrsamkeit.24 Der Buddhismus erschien demnach als eine rationale Religion, wissenschaftlich in seiner Ausrichtung und humanistisch in seiner Ethik. Ernst Machs »Analyse der Empfindungen«, deren phänomenalistische Perspektive sich teilweise mit dem Buddhismus in Einklang bringen läßt25, soll damals ins Sinhalesische übersetzt und als buddhistisches Pamphlet verbreitet worden sein. Das jedenfalls behauptete der Mach-Biograph John Blackmore.26 Für die entsprechende Notiz fand sich jedoch bis jetzt kein Beleg. Anagarika Dhammapala gründete 1891 auf einer Pilgerreise nach Indien zu den heiligen Orten des Buddhismus die Mahabodhi-Gesellschaft, die bis heute um die Wiederbelebung der buddhistischen Pilgerorte in Indien bemüht ist. Mit seinem Auftritt 1893 beim Weltparlament der Religionen suchte er auch internationale Aufmerksamkeit und Sponsoren für sein Projekt der Wiederbelebung buddhistischer Zentren in Indien zu finden. Daraus entstand ein internationales Netzwerk. Wichtiger deutscher Gewährsmann war der Industrielle und Freidenker Arthur Josef Pfungst, Ehrenmitglied der Internationalen Buddhistischen Gesellschaft in Rangun und Vertreter der Mahabodhi-Gesellschaft in Deutschland. Pfungst verband den Buddhismus als rationale aufgeklärte Religion mit seinem Engagement für die Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur (gegründet 1892) wie auch für andere 23 Ghokale, Balkrishna Givind: »Theravada Buddhism and modernization: Anagarika Dhammapala and B.R. Ambedkar«, in: Journal of Asian and African Studies 34/1 (1999) S. 33 – 45, S. 38. 24 Der Begriff »Protestantischer Buddhismus« wurde durch Gananath Obeyesekere in Bezug auf die buddhistisch-nationale Bewegung in Sri Lanka geprägt. Vgl. Obeyesekere, Gananath et al. (Hg.): The Two Wheels of Dhamma: Essays on the Theravada Tradition in India and Ceylon. Chambersburg 1972, S. 58 – 78). 25 Baatz, Ursula: »Ernst Mach – the Scientist as a Buddhist?«, in: Blackmore, John (Hg.): Ernst Mach – A Deeper Look. Documents and New Perspectives. Dordrecht / Boston / London 1992, S. 183 – 199. 26 Blackmore, John: Ernst Mach – His Life, Work and Influence. Berkeley 1972, S. 288 – 289.

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anti-kirchliche, atheistische Gruppen.27 Der Philosoph Friedrich Jodl, eine der führenden Gestalten der Gesellschaft für Ethische Kultur, lernte durch Pfungst, dem er freundschaftlich verbunden war, die Komplexität der buddhistischen Überlieferung kennen. Letzterer hatte die die Geschichte des Buddhismus von Rhys-Davids, ein Standard-Werk der damaligen Zeit, ins Deutsche übersetzt hatte. In seinem Briefwechsel mit Jodl stellte Pfungst fest, dass ihm das »tat twam asi« [sic!] der indischen Kultur grundlegender sei als der »Hinweis auf den sozialen Beruf der Menschheit«.28 Die Antwort Jodls fiel kritisch aus. Als Empirist vertrat er einen strikten Anti-Essentialismus. …die Ethik auf das tat twam asi im transzendenten Sinne, d. h. gut Schopenhauerisch zu reden, auf die Durchschauung des principii individuationis zu gründen, erschiene mir aus dem Grunde bedenklich, weil man das metaphysische Prinzip der Wesenseinheit der Individuen niemand beweisen kann; während der eudämonologische Zusammenhang der Individuen innerhalb der Gesellschaft zur vollen Evidenz gebracht werden kann. […] Das Problem der individuellen Erlösung, d. h.: die Vermeidung der Wiedergeburt, welche die buddhistische Ethik in den Vordergrund stellt, ist für uns bedeutungslos. Das Individuum hat für uns keine metaphysische Entität mehr ; und darum löst dieses Problem für das Individuum vollkommen sicher – der Tod…29

Schärfer als manch andere atheistische Religionskritiker sah Jodl den religiösen Impetus des Buddhismus. Auch wenn der Buddhismus nach eigenem Selbstverständnis keine »unsterbliche Seele« oder ähnliches kennt, ist die persönliche Befreiung, das persönliche Erwachen buddhistisches Heilsziel. Vom Standpunkt der humanen Ethik aus, glaube ich, kann man nicht fragen: Buddhismus oder Christentum? Sondern man muss sagen: Buddhismus und Christentum. Beide enthalten gewisse Elemente die wertvoll, ja unersetzlich sind und andere, die ausgeschaltet werden müssen. Aber gerade in diesem Nebeneinander liegt eine Tatsache von gewaltig aufklärender Wirkung: das Christentum hört auf sui generis zu sein; der menschliche Geist nicht der göttliche enthüllt sich als der Urquell der Religion.30

27 Rampelmann, Katja: Im Lichte der Vernunft, Die Geschichte des deutsch-amerikanischen Freidenker-Almanachs von 1878 bis 1901. Wiesbaden 2003, S.263 f. Dazu auch Mürmel, Heinz: »Der Beginn des institutionellen Buddhismus in Deutschland – Der Buddhistische Missionsverein in Deutschland (Sitz Leipzig).«, in: Universität Hamburg; Asien-AfrikaInstitut: Weiterbildendes Studium (Bd. 11: Buddhismus in Geschichte und Gegenwart – Erneuerungsbewegungen). 2006, S. 157 – 173. URL: http://www.buddhismuskunde.unihamburg.de/fileadmin/pdf/digitale_texte/Bd11-K10Muermel.pdf [28. 02. 2014]. 28 Pfungst an Jodl, 2. 4. 1893. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Sammlung Wilhelm Börner, ZPH 592. 29 Jodl an Pfungst, 7. 4. 1893, ebd. 30 Jodl an Pfungst, 12. 9. 1899, ebd.

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Es ging Jodl also nicht nur um die Negation der Gottesvorstellung und der christlichen Erlösungshoffnung, er stand auch einer Erlösung durch Erkenntnis kritisch gegenüber, da auch dies eine Erfahrung von Transzendenz zu sein beansprucht. Religionskritik dieses Typus ist nicht nur Atheismus, Ablehnung einer Gottesvorstellung, sondern Negation von Transzendenz. Auch die »überweltliche Wahrheit«, die der Buddha lehrt, wird abgelehnt – im Namen einer humanistischen, immanenten Aufklärung, durch die sich manches verbessern läßt, die aber keinen absoluten Heilsanspruch erhebt – im Namen eines »Meliorismus« eben, wie Jodl selbst sagte.

Japanischer Nationalismus In Japan hatte der Buddhismus seit Beginn der Tokugawa-Herrschaft (1603 – 1867) vielfältige Privilegien genossen und besaß einen ähnlichen Status wie die katholische Kirche in Europa nach dem Konzil von Trient (1545 – 1563). Buddhistische Tempel fungierten ähnlich wie katholische Pfarren als Meldebehörde und unterstützten den Staat in der Kontrolle der Bürger. Der Staat wiederum schrieb vor, dass jeder Haushalt den Tempel, bei dem er registriert war, finanziell unterstützen musste. Nach der gewaltsamen Öffnung Japans durch amerikanische Kanonenboote 1854 wurden die Tokugawas gestürzt. Mit der Meiji-Reform 1868 wurde Japan in rasantem Tempo modernisiert und zu einem militärisch bedeutsamen Staat. Die buddhistischen Klöster, die mit der gestürzten Herrschaft der Samurai verbunden waren, wurden entmachtet. Der Buddhismus galt – da Teil der alten feudalen Ordnung – als unjapanisch, fortschrittshemmend und altmodisch. Es kam zu regelrechten Buddhisten-Verfolgungen, während der Meiji-Kaiser eine gelehrte Rekonstruktion des Shinto zum Staatskult machte.31 Die buddhistischen Eliten waren daher daran interessiert, den Staat für sich zu gewinnen und unterstützten die nationalistische und militaristische Haltung der kokutai-Ideologie des neuen Japan. Um den Buddhismus neu zu positionieren, wurde 1. die Beteiligung von Laien forciert; wobei diese Laienverbände sehr konservativ und nationalistisch waren; 2. die ethische und auch karitative Dimension verstärkt; 3. die Priesterausbildung verbessert; und 4. die Buddhismus-Forschung des Westens rezipiert.32 So studierte etwa der eingangs erwähnte Junjiro Takakusu bei dem bedeutenden Indologen Friedrich Max Müller 31 Lüddeckens, Dorothea: »Der japanische Kontext«, in: dies.: Das Weltparlament der Religionen von 1893. Berlin 2002, S. 81 – 116. 32 Kleine, Christoph: »Reaktionen des japanischen Buddhismus auf die Modernisierung«, in: Buddhismus in Geschichte und Gegenwart: Erneuerungsbewegungen (Bd. 11). Hg. vom Asien-Afrika-Institut, Abteilung für Kultur und Geschichte Indiens und Tibets der Universität Hamburg. Hamburg 2006, S. 175 – 195.

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in England. Die europäische Sicht des Buddhismus wurde teilweise übernommen, und manche strebten zunächst eine Rückkehr zum ursprünglichen, von volkstümlichen und kulturbedingten Verunreinigungen gesäuberten Buddhismus an. Trotz dieser westlichen Einflüsse setzte sich in Japan die Hinwendung zum »Ur-Buddhismus« des »historischen Buddha« nicht durch. Für die allermeisten japanischen Buddhisten war der Mahayana-Buddhismus die »wahre« Gestalt der buddhistischen Lehre. Doch war man überzeugt, dass der Buddhismus als Religion im Kern rational, aufgeklärt, emanzipatorisch und wissenschaftskompatibel sei; im Gegensatz etwa zum Christentum.33 Einerseits wurde die Übereinstimmung des Buddhismus mit dem Denken westlicher Philosophen betont, andererseits aber die Notwendigkeit religiöser Erfahrung, wie das dann später die Kyoto-Schule ausformulierte. Man suchte nach überkonfessionellen Zusammenschlüssen zwischen den verschiedenen buddhistischen Schulen.34 Bereits 1869 wurde eine »Gesellschaft der [buddhistischen] Denominationen« (Shusho Kaimei) gegründet, der dann eine ganze Reihe weiterer Gründungen folgten. Ziel war, die verschiedenen buddhistischen Schulen zu einer panbuddhistischen Bewegung zusammenzuschließen. Erstmals ging es in Japan darum, »den Buddhismus« als eigene Religion zu kreieren. 1890 erschien ein Kompendium, das alle zwölf Schulen des japanischen Buddhismus darstellte. Alle bis auf einen Herausgeber nahmen auch am Weltparlament der Religionen in Chicago teil. Pate stand bei dieser Entwicklung – wie auch sonst bei der Modernisierung Japans – der Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Intellektuellen Japans, die versuchten, ihre Nation in die »moderne Welt« zu bringen, wurden natürlich von der europäischen Kritik an institutionalisierter Religion angezogen – vom Erbe des Antiklerikalismus und Antiritualismus der Reformation, von Rationalismus und Empirismus der Aufklärung, durch den Romantizismus von Gestalten wie Schleiermacher und Dilthey, und dem Existentialismus Nietzsches.35

Buddhistische Lehren wurden mit den Errungenschaften der modernen Wissenschaft interpretiert und identifiziert – eine Tendenz, die sich auch im Theravada- Buddhismus Sri Lankas findet, ebenso im Kontext des ebenfalls im 19. Jahrhundert entstandenen Neohinduismus. Demnach stand der Buddhismus nicht nur in keinem Widerspruch mit der modernen Wissenschaft, sondern hatte auch so manche Entdeckung der modernen Naturwissenschaften bereits vorweg genommen. Dieser sozusagen gereinigte »Neue Buddhismus« wurde Teil der nationalis33 Ebd., S. 185. 34 Ebd., S. 187 ff. 35 Sharf, Robert J.: »Zen and Japanese Nationalism«, in: Japanese Journal of Religions 33 (1993), S. 4. Übersetzung von Ursula Baatz.

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tischen Kokutai – Ideologie, und man argumentierte unter Heranziehung darwinistischer Modelle, dass der Buddhismus zwar asiatisch, aber in Japan am höchsten entwickelt sei; manche gingen so weit zu sagen, dass der reine Buddhismus nur in Japan überlebt habe. Japan wurde so als der einzige Erbe der spirituellen und ethischen Tradition Asiens hervorgehoben, während gleichzeitig das Kaiserreich Japan geopolitisch koloniale Ansprüche in Asien erhob. In diesem Kontext ist Soen Shaku (1859 – 1919) zu sehen: er wurde zunächst Zen-Mönch unter Imakita Kosen, studierte dann an der Keio Universität, dem Zentrum japanischer Aufklärung; reiste nach Sri Lanka, damals Ceylon, studierte dort Sanskrit und Pali, kehrte nach Japan zurück und wurde 1892 mit 32 Jahren Abt des traditionsreichen Zen-Klosters Engakuji in Kamakura. 1893 trat er in Chicago auf und machte – wie Dhammapala – großen Eindruck auf die westlichen Zuhörer. In Chicago traf er auch auf Paul Carus. Soens Darstellung des Buddhismus als einer Religion, die mit den modernen Naturwissenschaften vereinbar sei, faszinierte Carus. In der Folge stellte er »The Gospel of the Buddha« zusammen, eine Anthologie buddhistischer Texte, die eine ganze Reihe von Auflagen erlebten. Shakyamuni Buddha erschien darin als erster Positivist, Humanist, radikaler Freidenker, Bilderstürmer und Prophet einer naturwissenschaftlichen Religion. Der Zen-Meister Soen Shaku wiederum fand diese moderne westliche Buddhismus-Anthologie für japanische Studenten geeigneter für das Studium des Buddhismus als klassische buddhistische Texte. Als Paul Carus einen Übersetzer für buddhistische Texte suchte, nannte ihm Soen Shaku einen seiner jungen Studenten und Zen-Schüler namens D.T. Suzuki.36 1895 ging Suzuki für mehrere Jahre in die USA, um – wie aus einem bei Henderson (1993) zitierten Brief Soens hervorgeht37 – seine Studien unter Carus’ Anleitung fortzusetzen. In der Folge wurde er durch Übersetzungen klassischer Mahayana-Texte ins Englische und durch die Übersetzung von Werken Emanuel Swedenborgs ins Japanische bekannt. Nach seiner Rückkehr nach Japan begann er ab Mitte der 1930er Jahre, Bücher über Zen-Buddhismus zu publizieren. Damit wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg auch im Westen bekannt. 1949 wurde Suzuki zu einer Konferenz nach Honolulu eingeladen. Dies war der Auftakt einer umfangreichen Vortrags- und Reisetätigkeit vor allem in den USA und in Europa. Suzuki wurde zu einem Verkünder des Zen-Buddhismus unter der Avantgarde des Westens, und als er 1966 mit 95 Jahren in einem Spital in Tokyo starb, war vor allem in den USA der Zen-Buddhismus zum Bestandteil der Alternativkultur geworden. 36 Henderson, Harold: Catalyst for Controversy. Paul Carus of Open Court. Carbondale 1993, S. 100 ff. 37 Ebd.

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Die Wirkung seiner Schriften ist bis heute enorm. Was Erich Fromm Anfang der 1960er Jahre in dem vielgelesenen Bändchen Zen-Buddhismus und Psychoanalyse schrieb, hat nichts an Gültigkeit verloren: Der Zen-Buddhismus hilft dem Menschen, auf die Frage seiner Existenz eine Antwort zu finden, die im wesentlichen gleich ist wie die der jüdisch-christlichen Tradition und die dennoch keinen Widerspruch zur Rationalität, zum Realismus und zur Unabhängigkeit bildet, den kostbaren Errungenschaften des modernen Menschen.38

Der Zen-Buddhismus erscheint bei D.T. Suzuki als eine Religion der Erfahrung im Gegensatz zum dogmatisch fixierten Christentum. Auch ist nach Suzuki der Zen-Buddhismus gegen eine aufklärerische Religionskritik immun, da Zen keine Religion im üblichen Sinn, sondern eine empirische, rationale und wissenschaftliche Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit sei. Zen nimmt wahr und empfindet, aber es abstrahiert und meditiert nicht. Zen dringt hindurch und verliert sich gänzlich im Unendlichen.39 Zen verkündet von sich selbst, daß es der Geist des Buddhismus ist, in Wirklichkeit ist es der Geist aller Religion und Philosophie.40 Darüber hinaus sei »im Zen alle Philosophie, Religion, ja das Leben selbst der fernöstlichen Völker, im besonderen der Japaner systematisiert oder besser kristallisiert«41, heißt es bei D.T. Suzuki.

Diese Position formuliert die Sicht des Zen-Buddhismus, die sich in Japan unter dem Eindruck des Neuen Buddhismus und der Kokutai-Ideologie herausgebildet hatte42. Der Zen-Meister und Philosoph Shinichi Hisamatsu wendet diese Position später explizit atheistisch – das heisst, gegen die Ansicht, dass es eine rettende »andere Kraft« gebe. Damit setzt er sich nicht nur in Gegensatz zum Christentum, sondern vor allem auch zu den buddhistischen Reinen-LandSchulen Shinshu und Jodo-Shinshu, die in Japan verbreiteter sind als die Rinzaiund Soto-Zen-Schulen. Der Charakter des »Ganz Anderen«, der Gott oder auch dem Buddha Amida im Reinen Land-Buddhismus zugeschrieben wird, verhindert nach Hisamatsu die Autonomie des Menschen. Diese mittelalterliche Theonomie muss überwunden werden.

38 Fromm, Erich / Suzuki, Daisetz T. / De Martino, Richard: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1972, S. 105. 39 Suzuki, Daisetz T.: Die große Befreiung. Einfhrung in den Zen-Buddhismus. Hamburg 1972 [1934], S. 55. Die erste deutsche Übersetzung erschien 1939 in Leipzig. 40 Ebd., S. 59. 41 Ebd., S. 48. 42 Heisig, James W. / Maraldo, John C. (Ed.): Rude Awakenings. Honolulu 1995.

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Die Gebilde, die nicht wert sind zu existieren, müssen gesellschaftlich und aufs ganze verneint werden. Das ist auf dem Weg zur wahren Religion sehr wichtig. […] In diesem Sinne bestehe ich offen darauf, dass wir radikalste Atheisten werden.43

Die Autonomie des Menschen muss jedoch absolut gesehen und erfahren werden, da sich sonst hinterrücks das mittelalterliche Denken einschleicht und die Autonomie wiederum zur Heteronomie des »Ganz Anderen« wird. Dazu muss der Mensch durch die Krise der absoluten Verneinung gehen, um zum Selbstsein, zum Buddha, zu erwachen. Diese Erfahrung von Transzendenz bedeutet, dass »der Mensch, sich selbst vom Innersten des eigenen Selbst her verneinend, zum Buddha, zum wahren Selbst wird.«44 Transzendenz hat nach Hisamatsu kein Gegenüber und ist auch kein Übergang vom Diesseits zum jenseitigen Paradies oder Himmelreich, sondern ›das Hier radikal umkehren, ohne das Hier zu verlassen‹. ›Transzendieren‹ bedeutet dabei ›das, was transzendiert wird, selbst von Grund aus umkehren‹.45

Hisamatsu formuliert den Buddhismus als atheistischen Humanismus – aber auf »überweltlichem« (Pali lokuttara) Boden, also »transzendent«. Das unterscheidet seine Position von der empirizistischen Sichtweise Jodls.

Die Welt der Götter ist Teil des Samsara In seinem Buch: »Der Buddhismus – eine atheistische Religion« (1966) bringt Helmuth von Glasenapp eine ausführliche Darstellung der atheistischen Argumente, die er in der Pali-Tradition findet. Diese Darstellung wird bis heute vielfach als Referenz in der Frage, ob der Buddhismus ein Atheismus sei oder nicht, benützt. Glasenapp berücksichtigt allerdings in seiner Darstellung nicht das unterschiedliche Entstehungsdatum der verschiedenen Passagen, die er zitiert, und vor allem überträgt er den modernen Begriff des »Atheismus« ohne weitere hermeneutische Vorkehrungen auf die buddhistische Tradition. Er beschreibt, dass die vielerlei Gottheiten der vedischen und brahmanischen Tradition weder vom Buddha noch von den buddhistischen Traditionen negiert werden. Ganz im Gegenteil treten sie sowohl in der ältesten Überlieferung des Pali-Kanon als auch später auf: Baumgottheiten, aber auch der vedische Sonnengott Surya, der bis heute im Hindu-Pantheon eine Rolle spielt, oder der Gott Brahma, eine der »großen Gottheiten« der vedisch-brahmanischen Zeit. Devas – Götter – gehören zum buddhistischen Weltbild: die Götter bewohnen einen der 43 Hisamatsu, Shinichi: Philosophie des Erwachens. Satori & Atheismus. Berlin 1990, S. 58. 44 Ebd., S. 82. 45 Ebd., S. 72 f.

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sechs Bereiche des Samsara, unterliegen jedoch nach buddhistischer Auffassung ebenso wie alle anderen lebenden Wesen dem Samsara, dem Kreislauf des Geboren-werdens-und-Sterbens. Durch karmische Verdienste verfügen sie allerdings über unglaublich lange, aber trotzdem endliche Lebensspannen. Die indischen Gottheiten sind für den Buddhismus nicht ewig, und auch nicht transzendent. Anders die brahmanische Tradition, gegen die sich die Buddhisten absetzen: der »Ishvara«, d.i. die höchste, personal gedachte Gottheit ebenso wie das »brahman«, das unpersönlich gedachte Absolute sind nach Auffassung der Upanishaden sowohl unvergänglich als auch letztendlich mit dem Selbst (atman) ident. Für den Buddhismus ist der Glaube an eine höchste Gottheit ein Teil der weltlichen (lokiya) Existenz, denn die Matrix für das Entstehen dieses Glaubens gehört zum Prozess des Entstehens und Vergehens der Welten. Im Brahmajala Sutta wird erzählt, wie die Welt gerade wieder entsteht und darin ein leerer Brahma-Palast erscheint. Im Himmel der »Strahlenden« (abhassara) Götter ist eines der »strahlenden Wesen« ans Ende seiner Existenz in dieser strahlenden Welt gekommen und erscheint zu einer Existenz im Brahma-Palast. Nach einiger Zeit gesellen sich weitere Wesen aus der Welt der Strahlenden dazu, und nach einer weiteren Zeit kommt das Wesen, das zuerst erschienen ist, auf die Idee, der große Brahma zu sein – und die anderen Wesen erschaffen zu haben. Als dann einige dieser Wesen sterben und nicht im Brahma-Bereich, sondern im menschlichen Bereich wiedergeboren werden, bekommen sie den Eindruck, dass Brahma ewig, sie hingegen sterblich seien. Der Schöpfergott und die Ewigkeit des Schöpfergottes wird in dieser Geschichte als Zusammenspiel von irriger Wahrnehmung, Selbstbezogenheit und Projektion geschildert. Doch weder die Brahma-Welt noch die Welt der Strahlenden ist transzendent und ewig, sondern bedingt entstanden und vergänglich. Daher ist weder die Brahma-Welt noch die Welt der Strahlenden heilskräftig. Folgt man den buddhistischen Argumenten gegen die Annahme eines Schöpfergottes, sieht man, dass sie sich gegen Unstimmigkeiten in der vedischbrahmanischen Überlieferung richten:46 1. den Gottheiten wird eine Vielzahl an Prädikaten beigelegt – während jene, die an diese Gottheiten glauben, zugleich die Unerkennbarkeit der Götter lehren. Doch aus einem Unbegreiflichen kann nichts begrifflich Erfassbares hervorgehen 2. die Gottheiten gelten als allwissend und der Sphäre der Menschen enthoben, aber sie erscheinen zugleich anthropomorph und haben eine Reihe schlechter Eigenschaften, wie z. B. Zorn oder Eifersucht.

46 Glasenapp, Helmuth von: Der Buddhismus – eine atheistische Religion. München 1966.

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3. die großen Gottheiten wie Shiva oder Vishnu gelten für ihre Anhänger jeweils als Schöpfer der Welt – doch jede Richtung hat ihre eigene höchste Gottheit, sodass es also eine Vielzahl Schöpfer geben müßte. 4. auch widerspricht die Vorstellung eines Schöpfergottes, der die Welt erschaffen hat, dem Gedanken des Karma. 5. ein Gott, der eine Welt erschafft, in der es Leiden gibt, muss entweder ein Sadist sein oder nicht mächtig genug 6. wenn Gott die Ursache von allem ist, müssen die Dinge auch alle gleichzeitig ins Dasein treten – doch entstehen die Dinge hintereinander und aus einander, also kann Gott als der Schöpfer nicht die einzige Ursache sein. Für manche dieser Argumente – wie etwa das Theodizee-Argument – lassen sich in der europäischen Religionskritik Parallelen finden, für andere nicht. Auch das Argument gegen die Existenz einer unsterblichen Seele geht nur oberflächlich mit der europäischen Religionskritik parallel. Nach buddhistischer Auffassung ist ein Mensch ein komplexes Beziehungsgeflecht aus Körperlichkeit (ru¯pa), Empfindung (vedana¯), Wahrnehmung (saÇÇa), Impulsen (sankha¯ra) und Denken (viÇÇan.a), das sich mit dem Tod auflöst. Ein ewiges Selbst oder eine Seele ist in diesem Komplex nicht zu entdecken. Diese zu postulieren wäre – so der Philosoph Vasubandhu47 – wie wenn ein Kurpfuscher zusätzlich zur Medizin, die ohnedies wirkt, auch noch die Rezitation von Mantren vorschreibt, die zur Heilung führen sollen. Auf die Frage, ob ein Vollkommen Erwachter nach dem Tod weiter lebt oder nicht, ob es also eine unsterbliche individuelle Entität jenseits des Kreislaufs der Wiedergeburten gibt, schweigt der Buddha; ebenso wie er zur Frage schweigt, ob die Welt ewig sei oder nicht; oder ob es eine Identität von Leib und Seele gibt oder nicht. Auch diese deutlichen Parallelen zu Kant haben zur Einschätzung des Buddhismus als aufgeklärte Religion beigetragen48. Metaphysische Fragen, die von den meisten Religionen behandelt werden, spielen für den buddhistischen Weg keine Rolle. Die Frage nach Gott erscheint für den buddhistischen Heilsweg als unerheblich.49 Der buddhistische Heilsweg kommt ohne die Differenz von diesseitiger und 47 Abhidharmakosa 9 V, S. 287. Zitiert nach Glasenapp, Helmuth von: Der Buddhismus – eine atheistische Religion. München 1966. Übersetzt u. kommentiert von La Vall¦ Poussin, Louis de: L’Abhidharmakos´a de Vasubandhu (Vol. 1 – 6). Paris / Louvain 1923 – 1931 (Soci¦t¦ Belge d’Êtudes orientales). 48 Venkata Ramanan, Krishniah: Nagarjuna’s Philosophy. Vermont / Tokyo 1966. 49 Payer, Alois: Der Buddhismus – eine atheistische Religion. Vortrag bei der Deutsch-Indischen Gesellschaft Bonn, 17. 3. 1995. URL: http://www.payer.de/einzel/buddhath.htm [28. 02. 2014].

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jenseitiger, nach-todlicher Welt aus, auch ein Wissen um Anfang und Ende des Weltprozesses, genauer um das Entstehen und Vergehen von immer neuen Welten, wie dies für die indische Kosmologie selbstverständlich ist, hat keine Heilsrelevanz. Die verschiedenen Daseinsbereiche und Himmel entstehen nach buddhistischer Auffassung durch einen über den individuellen Tod hinausreichenden Bedingungszusammenhang (pratitya samutpada). Dieser Zusammenhang ist substantiell nicht fassbar, sondern ergibt sich durch »Durst« und »Anhaften« bzw. durch Gier, Hass und Verblendung, die das Denken und Handeln der Wesen und im besonderen der Menschen bestimmen. Das Ziel des Buddhismus ist es, in und aus diesem Bedingungszusammenhang zu erwachen. Das Verlöschen des »Feuers« – auch dies ein Vergleich aus den Lehrreden des Buddha – von Gier, Hass und Verblendung ist Nirvana. Immer wieder wird es irgendwo einen Buddha geben, und dort wird dann auch die Möglichkeit des Erwachens gegeben sein. Der mahayana-buddhistische Denker Nagarjuna fasst dies in einem Preisgedicht zusammen: Den Buddha, der das abhängige Entstehen verkündet hat ohne Vernichtung und ohne Entstehen, ohne Aufhören und nicht ewig, ohne Einheit und ohne Mannigfaltigkeit, ohne Kommen und ohne Gehen, als das friedvolle Zurruhekommen der Vielfalt, ihn, den Trefflichsten der Lehrer, verehre ich.50

Der Buddhismus, so erklärt Glasenapp im Schlusswort von »Der Buddhismus, eine atheistische Religion«, ist bei aller Verschiedenheit von denselben Vorstellungen, Sehnsüchten und Triebkräften getragen wie theistische Religionen. So gibt es auch im Buddhismus die Vorstellung von heiligen Orten und Zeiten, der Buddha erscheint als vergöttlichte Idealgestalt usw. Doch während die theistischen Religionen verschiedene einander widersprechende Aspekte (Allwissenheit und Allgüte vs. das Böse und das Übel in der Welt, strenger Richter, gnädiger Erlöser etc.) »in der Idee eines Gottes zu einem Ganzen« verbinden, teilt der Buddhismus diese verschiedenen Elemente auf verschiedene Aspekte auf. Da Glasenapp weder den modernen Begriff des Atheismus reflektiert noch die verschiedenen Schichten der buddhistischen und vedisch-brahmanischen Überlieferung berücksichtigt, entsteht ein unscharfes und leicht verzerrtes, aber wirkungsvolles Bild des Buddhismus als »atheistische Religion«.

50 Nagarjuna, Madhyamakakarika, Kapitel 1,1. Zitiert nach Frauwallner, Erich: Philosophie des Buddhismus. Berlin 1958, S. 178.

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Der Buddhismus, (k)ein Atheismus Atheistische Religionskritiker setzen an die Stelle der Religion – und zwar jeder Religion – einen Humanismus. »Der Atheismus ist der durch die Aufhebung der Religion vermittelte Humanismus«,51 schreibt Karl Marx. »Gott« ist ein Ergebnis der Selbstentfremdung des Menschen; hat der Mensch dies einmal erkannt, verändert sich die Situation grundlegend. »Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.«52 Das Wesen Gottes ist das wahre Wesen des Menschen – diese Kurzfassung der Feuerbachschen und Marxschen Religionskritik führt, auf den Buddhismus angewendet, bei westlich ausgebildeten Philosophen zur Ablehnung des Buddhismus. Denn aus marxistischer Sicht ist der Buddhismus zwar Atheismus, aber zu wenig weitgehend in seiner Kritik – da eben Religion. In diesem Punkt unterscheidet sich Friedrich Jodls freundliche Skepsis gegenüber dem Buddhismus nicht von der herberen Kritik Ernst Blochs: beide sehen im Buddhismus eine religiös motivierte und daher fehlgeleitete Transzendenz. Im Buddhismus wurde, so Bloch, der Atheismus Religion – eine deutliche Aufnahme von Glasenapps These. Bloch kritisiert jedoch, dass zwar im Buddhismus der Mensch als »Ort der Umkehr gesetzt ist…Und das, kraft des Atheismus, nicht durch Gebet, sondern durch den wissend gewordenen Willen – wenn auch gewiss nur, zum Unglück dieser Art Heil, durch den akosmischen, überbordenden, allausreissenden Willen zum Nichtwillen«.53 Das Ergebnis: »Schweigen oder ein Schlafkristall aus Nichts von Allem, aus dem Alles wie Nichts, aus dem Nichts wie alles.«54

In dieser philosophisch-poetischen Buddhismuskritik ist verarbeitet, was sich bei Schopenhauer und Hegel zum Buddhismus findet: die Betonung des Willens zum Nicht-wollen von Schopenhauer, ebenso Hegels Auffassung, es handle sich um objektlose Bewusstlosigkeit. Neuerer religionskritischer und atheistischer Literatur mangelt die Differenziertheit, die Bloch – trotz Unkenntnis und einer eurozentristischen Beurteilung des Buddhismus – an den Tag legt. Für Christopher Hitchens etwa ist der Buddhismus genauso Aberglaube wie jede andere Religion55 ; und Sam Harris 51 Zitiert nach Bloch, Ernst: Atheismus im Christentum. Frankfurt am Main 1968, S. 87. 52 Marx, Karl: »Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: Marx Engels Werke (Bd. 1). Berlin 1976, S. 378 – 391, S. 378. 53 Bloch, Ernst: Prinzip Hoffnung (Bd. 3). Frankfurt am Main 1974, S. 1480. 54 Ebd., S. 1482. 55 Hitchens, Christopher : Der Herr ist kein Hierte. Wie die Religion die Welt vergiftet. München 2007.

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lässt zwar in seinem Buch »Das Ende des Glaubens«56 den Buddhismus als spirituelle Praxis gut wegkommen, aber nur als Bewusstseinstechnik, die der Religion entzogen werden muss. Doch die buddhistische Meditationspraxis ist nicht von der Reflexion darauf abtrennbar – und damit bleibt Harris hinter Bloch zurück, der als Marxist gar nicht auf die Idee kommt, Praxis und Theorie von einander zu trennen. Auch der japanische Philosoph und Zen-Meister Hisamatsu (1889 – 1980) nimmt die atheistische These, dass »Gott« eine Projektion und um der Autonomie und Würde des Menschen willen abzulehnen sei, auf. Seine Kritik richtet sich erst in zweiter Linie gegens Christentum. Kritisch sieht Hisamatsu den Shin-Buddhismus, eine aus Indien stammende mahayana-buddhistische Richtung, in der Amida Buddha als hilfreicher Retter angerufen wird.57 Hisamatsu, ein Vertreter der zen-buddhistischen Kyoto-Philosophie58, kritisiert, dass ein »Anderer« für das Heil relevant ist. Das ist keine grundsätzlich neue Fragestellung. Im chinesischen Reinen-Land-Buddhismus wurde ab dem 6. Jahrhundert die »andere« Kraft des Buddha Amida als heilsbestimmend gesehen gegenüber der »eigenen« Kraft. Die polemische Gegenüberstellung von »eigener« (jiriki) oder »anderer« Kraft (tariki) findet sich bereits in frühen Debatten zwischen Zen-Buddhismus und Reinem Land-Buddhismus.59 Hisamatsu bezieht Argumente zu dieser Debatte höchstwahrscheinlich auch aus den Schriften von Schleiermacher und Rudolf Otto, die beide in Japan rezipiert wurden. Beide sehen Gott – bzw. das Numinose – als überwältigende Macht, von der sich Menschen als »schlechthin abhängig« erleben.60 Für Hisamatsu bedeutet die Berufung auf eine »andere« Kraft eine theistische Haltung, die dem mittelalterlichen, aber nicht dem modernen Menschen angemessen sei. Atheismus ist für Hisamatsu ein legitimer Ausdruck des modernen Menschen, der Heteronomie ablehnt. Dies lehrt auch der Buddhismus, der, so Hisamatsu, keine gewöhnliche Religion ist, da das »Erwachen« keinen Gottesbegriff braucht und über den Gottesbegriff hinaus geht.61 Der Buddhismus ist daher atheistisch, aber kein Humanismus westlicher Prägung. Das Erwachen aus Gier Hass und 56 Harris, Sam: Das Ende des Glaubens. Zürich 2007. 57 Vgl. z. B. Bloom, Alfred: The Essential Shinran. Mit einem Vorwort von Habito, Ruben. Bloomington 2007. 58 Ohashi, Ryosuke: Die Philosophie der Kyoto-Schule. Freiburg im Breisgau 1990. 59 Vgl. dazu etwa Ford, James L.: »Jþkei and the Rhetoric of ›Other-Power‹ and ›Easy Practice‹ in Medieval Japanese Buddhism«, in: Japanese Journal of Religious Studies 29/1 – 2 (2002), S. 67 – 106. 60 Baier, Karl: »Der A/Theismus des Erwachens – Zen-Philosophie und Theismus-Kritik bei Hisamatsu Shinichi«, in: Baier, Karl / Mühlberger, Sigrid / Schelkshorn, Johann / WuchererHuldenfeld, Augustinus K. (Hg.): Atheismus heute? Ein Weltphänomen im Wandel. Leipzig 2001, S. 91 – 118. 61 Hisamatsu, Shinichi: Philosophie des Erwachens. Satori & Atheismus. Berlin 1990, S. 72.

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Verblendung, das Erwachen zum Nirvana bedeutet die Negation des endlichen menschlichen Selbst: »dass der Mensch von der falschen, vergänglichen Seinsweise weg zu seiner wahren, eigentlichen Seinsweise gelangt …Die Verwandlung von der Puppe zum Schmetterling muss durch und durch autonom geschehen.«62

Im »Erwachen« findet das »absolute Subjekt« zu sich selbst, das sich zen-buddhistisch gesprochen als konkrete Person manifestiert. Das »absolute Subjekt«, ein Begriff, den Hisamatsu wie auch andere Vertreter der Kyoto-Schule von Hegel übernehmen, tritt an die Stelle der »Leere«/sunyata.63 »Leere« – ein höchst komplexer Schlüsselbegriff buddhistischer Philosophie – bestimmt sich u. a. aus dem Umstand, dass alles wechselseitig aufeinander bezogen und daher »leer« von »Eigensein« ist. Dieses Moment der Bezogenheit/Relation, das für das buddhistische Verständnis konstitutiv ist, tritt bei Hisamatsu allerdings zugunsten des Pathos des »absoluten Subjekts« zurück. Das führt zu einer falschen Alternative: entweder Fremdbestimmtheit oder »Autonomie eines absolut sich selbst begründenden Aktzentrums, das auf dem Hin- und Rückweg zwischen endlichem Ich und ewigem Ich immer nur mit sich selbst zu tun hat«64 lässt den Aspekt der »Leere« als Beziehungsgeschehen verschwinden. An dieser Stelle wäre der Einfluss totalitärer Denkmuster im japanischen Buddhismus weiter zu verfolgen65. Hisamatsus buddhistischer Atheismus kritisiert den Theo- und Anthropozentrismus, den er im Christentum und auch im Shin-Buddhismus wahrnimmt. Der Theologe und Philosoph Raimon Panikkar kritisiert ebenfalls Theo- und Anthropozentrismus, aber unter anderen Vorzeichen und mit einer anderen Schlussfolgerung als Hisamatsu. Panikkar sieht in der atheistischen Religionskritik nämlich »eine sehr gute Medizin gegen eine ganze Reihe von Gottesbildern«66. Sowohl der Anthropozentrismus als auch die Ontologisierung Gottes – Gott als das Höchste Sein – vergegenständlichen »Gott« zu einem Etwas, das die Atheisten berechtigterweise verneinen. Doch indem sie »Gott« verneinen, bleiben sie selbst dieser Vergegenständlichung verhaftet. Sowohl Theisten als auch Atheisten machen Gott zum Subjekt ihrer Behauptungssätze. Der Bud62 Ebd., S. 84. 63 Sharf, Robert J.: »Zen and Japanese Nationalism«, in: Japanese Journal of Religions, 33 (1993), S. 21 – 26. 64 Baier, Karl: »Der A/Theismus des Erwachens – Zen-Philosophie und Theismus-Kritik bei Hisamatsu Shinichi«, in: Baier, Karl / Mühlberger, Sigrid / Schelkshorn, Johann / WuchererHuldenfeld, Augustinus K. (Hg.): Atheismus heute? Ein Weltphänomen im Wandel. Leipzig 2001, S. 115. 65 Siehe Victoria, Brian: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz. Berlin 1999; Heisig, James W. / Maraldo, John C. (Ed.): Rude Awakenings. Honolulu 1995. 66 Mündliche Mitteilung; in: Ö1 Radiokolleg »Das Antlitz Gottes wandelt sich«, 1986.

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dhismus dagegen, so Panikkar, ist nicht atheistisch, sondern apophatisch: das Schweigen des Buddha auf Fragen, die die Welt im Ganzen betreffen – wozu auch die Fragen nach Gott gehören – führt über den Gegensatz Atheismus/Theismus hinaus. Das Schweigen des Buddha zielt auf den Weg zur Befreiung, zum »Erwachen« und damit zu einem sozusagen »epistemologischen Sprung«; zu einem Erfassen der »Soheit« (tathata¯), wie dies in manchen buddhistischen Traditionen – etwa der Yogacara-Schule – ausgedrückt und reflektiert wird. Um eine Ontologisierung Gottes zu vermeiden, müsste die christliche Theologie die Trinität ernst nehmen, meint Panikkar. Gott, christlich verstanden, ist trinitarisch – und die Trinität ist nach klassischer theologischer Auffassung eine relationale Konstellation, nicht dinglich oder gegenständlich zu verstehen und daher »nichts«. Das heisst, »dass die Trinität die radikale Relativität schlechthin ist.«67 Gott ist weder Ding noch Substanz, sondern relational. Gott, so Panikkar, ist »die Abwesenheit des Seins«, denn »Gott ist Gott nur für die Geschöpfe: in sich ist Gott gar nichts, am wenigsten Gott.«68 Panikkar übernimmt hier eine Denkfigur des Mahayana-Buddhismus und argumentiert ähnlich wie die Prajnaparamita-Sutren: A ist nicht A, deswegen ist A = A. Dies scheint auf den ersten Blick unlogisch. Der Schluss funktioniert jedoch, wenn man das buddhistische ontologische Schema von weltlich – überweltlich (lokiya-lokuttara) mitbedenkt. Statt einer ausführlichen Erörterung sei ein Beispiel zitiert: Feuer verbrennt Feuer nicht, deswegen ist es Feuer – weil es anderes verbrennt. Der erste Satz bezieht sich auf die »Soheit« des Feuers, die Folgerung auf die empirische, weltliche Ebene.69 Anthropozentrismen und Ontologisierung, d. h. eine Vergegenständlichung, die Gott zu einem weltlichen Ding macht, hindern die Menschen, den befreienden Weg zu finden. Das Schweigen des Buddha zu Fragen über die »letzte Wirklichkeit« ist ein Schlüssel für die Erfahrung der Moderne, dass Gott »schweigt« – dass die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen sich auf Gott beziehen konnten, geschwunden ist. In der Debatte zwischen dem buddhistischen Philosophen K.N. Jayatilekke und dem christlichen Theologen Lynn de Silva, die in den 1960er Jahren in Sri Lanka stattfindet, treffen die beiden Auffassungen aufeinander. Jayatilekke nimmt die moderne These vom Buddhismus als Atheismus auf. Lynn de Silva stellt dagegen, dass der Begriff »dharma« und »Gott« beides Konzepte für Transzendenz sind. De Silva greift die Kritik der Propheten des Ersten Testaments am Bild Gottes als eines mächtigen und grausamen Mannes auf70 und 67 Panikkar, Raimon: Das Schweigen Gottes. Die Antwort des Buddha für unsere Zeit. München 1992, S. 215. 68 Ebd., S. 254. 69 Ausführlich dazu etwa Nishitani, Keiji: Was ist Religion? Frankfurt am Main 1982, S. 241 ff. 70 Ebd., S. 79.

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betont, die Propheten hätten ähnlich wie der Buddha »unwürdige Gottesvorstellungen« zurückgewiesen. Beiden gemeinsam sei die Erfahrung der »UnbedingtenWirklichkeit« Gottes. De Silva parallelisiert Gott und den buddhistischen Dhamma als kosmisches und zugleich ethisches Gesetz. Auch das »Ungeborene, Ungewordene, Ungemachte, Ungeschaffene….«71, ohne das es keinen Ausweg aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen und daher Leidhaften gibt, versteht de Silva als Parallele zum jüdisch-christlichen Gottesbild.72 Auch den Gegensatz personal – apersonal, der oft als Unterscheidung zwischen buddhistischer und christlicher Auffassung der »letzten Wirklichkeit« angeführt wird, weiß de Silva zu relativieren. Für ihn ist der Dharma personal – eine Sichtweise, für die man sich auf den im Palikanon überlieferten Ausspruch »Wer mich sieht, sieht den Dharma«73 berufen kann. Auf christlicher Seite wiederum betont er das Motiv der Kenosis, der Entleerung74. Man hat de Silvas hermeneutischen Ansatz als problematisch kritisiert, da er im Buddhismus nach einem »theistischen Telos« sucht, und dies nicht nur im Theravada-Buddhismus, sondern auch im Mahayana-Buddhismus. Bei v. Brück und Lai wird dies »überzogen« und »künstlich« genannt,75 auch weil de Silva hier die historisch unterschiedlichen Traditionen von Theravada und Mahayana miteinander verknüpft. Der singhalesische Jesuit Aloysius Pieris, langjähriger Freund und Weggefährte von de Silva, betont zwar einerseits die Differenz zwischen dem personalen Verständnis der christlichen Theologie und dem apersonalen der buddhistischen Überlieferung. Gleichzeitig macht er aber auf Übereinstimmungen aufmerksam.76 Die christliche, biblische Tradition spricht von der Liebe und Weisheit Gottes; dieselben Qualitäten – allerdings in negativer Formulierung – werden »nirvana« zugeschrieben: alobha, (nicht besitzergreifend) und adosa (nicht-hassend) entsprechen der christlichen agape; während amoha, die Freiheit von Täuschung, der Weisheit entspricht.77

71 Udana VIII, 1. 72 De Silva, Lynn: Mit Buddha und Christus auf dem Weg. Freiburg im Breisgau 1998, S. 148 ff. Näheres zu De Silva in Brück, Michael von / Lai, Whalen: Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog. München 1997, S. 91 – 106. 73 Samyutta-Nikaya XII 87, 13. 74 Vgl. Phil 2,7. 75 Ebd., S. 96. 76 Vgl. dazu etwa: Pieris, Aloysius: Liebe und Weisheit. Mainz 1989, vor allem S. 33 – 74 und S. 157 – 194. 77 U. a. in: Pieris, Aloysius: »The Holy Spirit and Asia’s Religiousness«, in: Spiritus, A Journal of Christian Spirituality 7/2 2007, S. 126 – 141; explizit in: Baatz, Ursula: »Mit einer Vision im Herzen kann man nicht untergehen. Der Jesuit Aloysius Pieris auf dem Weg der Achtsamkeit«, in: LOGOS, 7. 5. 2011, Ö1, ORF.

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Schluss Die textkritische Lektüre der buddhistischen Quellen zeigt – darauf macht Tilmann Vetter aufmerksam – dass erst relativ spät explizit atheistische Argumente auszumachen sind. Sucht man nach den Spuren des Anfangs der Verkündigung des Buddha, entdeckt man keine atheistische Position; und auch keine theistische. Anhand der frühesten Text-Zeugnisse im Vinaya, den Mönchsregeln, läßt sich zeigen, dass der Buddha von der Erfahrung der Todlosigkeit (amata) spricht, die durch Askese und Versenkung erreicht werden kann. Alles andere kommt erst im Laufe der Zeit dazu. Daher lassen sich im Buddhismus sowohl nicht-theistische wie theistische Überlieferungen feststellen. »Man muss wissen, mit wem man zu tun hat«, konstatiert Vetter und verweist auf textkritische Untersuchungen zur ältesten buddhistischen Überlieferung.78 Die moderne Rekonstruktion des Buddhismus als Atheismus erweist sich als Konstruktion, die sich gegen anthropomorphe Gottesbilder richtet, die historisch Macht, Herrschaft, Autorität, Unterdrückung, die Tötung Andersdenkender etc. legitimieren. Vertreter eines postulatorischen Atheismus finden dabei in der buddhistischen Kritik an der brahmanischen Tradition bekannte Argumente wieder – z. B. die Frage, wie ein Gott das Böse und das Leid in der Welt zulassen kann. Vertreter dieser Position sehen den Buddhismus als Atheismus oder atheistische Religion. Diesem Votum stimmen aber überraschenderweise nicht nur Atheisten, sondern auch jene Theologen zu, die an den klassischen Gottesvorstellungen festhalten und sowohl die Einsichten der historisch-kritischen Exegese als auch die Einsichten der Mystiker und Mystikerinnen negieren. Gott ist in diesem Diskurs ein mehr oder weniger klar umschriebenes »Etwas«, das negiert oder bejaht wird. Eine zweite Position sieht eine »Einheit im Nichts«79 zwischen Buddhismus und Christentum. Diese Theologen können sich auf Mystiker wie Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz oder auch die griechischen Kirchenväter berufen: über Gott läßt sich nur negativ sprechen – als »Nichts der Gottheit«. Das wird durch die Bibelexegese unterstützt: die vielen biblischen Gottesbilder müssen auf dem Hintergrund des biblischen Bilderverbots gesehen werden. Die Parallelen zwischen Buddhismus und jüdisch-christlicher Tradition, die sich zeigen lassen, implizieren ein nicht- anthropomorphes Gottesbild. Der Buddhismus erscheint dann nicht als Atheismus, sondern als verwandt christlicher Gotteserfahrung. Diese Position vertritt zum Beispiel H.M.Enomiya-Lassalle SJ und in 78 Vetter, Tilman: »Atheistische und theistische Tendenzen im Buddhismus«, in: Klinger, Elmar : Gott im Spiegel der Weltreligionen. Regensburg 1997, S. 22 – 35. Für diesen Hinweis und kritische Einwände zum letzten Teil danke ich Karl Baier. 79 Ceming, Katharina: Einheit im Nichts. Die mystische Theologie des Christentums, des Hinduismus und Buddhismus im Vergleich. Augsburg 2004.

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der Folge – allerdings in unterschiedlicher Form – auch alle jene, die als Christen Zen üben.80 Theologisch argumentiert ausgehend von dieser Voraussetzung vor allem John Cobb im Dialog mit Masao Abe, einem Philosophen der Kyoto-Schule. In der Folge ist ein Wechsel im Diskurs festzustellen. In »Emptying God«81, herausgegeben von John Cobb und Christopher Ives und »Buddhist Emptiness and the Christian Trinity«82 herausgegeben von Paul Knitter und Roger Corless wird die Debatte weitergeführt – aber nicht mehr als Diskussion zwischen Atheismus und Theismus, sondern als Frage nach dem Verhältnis von »Absolutem Nichts« und »Gott«.83 In der Auseinandersetzung mit dem Buddhismus muss der christliche Gottesbegriff neu und trinitarisch, d. h. relational formuliert werden. John Cobb macht allerdings auch aufmerksam, dass diese Veränderung wechselseitig sein muss – dass also auch der Buddhismus in diesem Dialog-Prozess seine Position reflektieren und verändern muss.84 Offen bleibt, was die Personalität Gottes ausmacht, wenn an die Stelle des Substanz-Begriffs die Relation tritt. Eine vielleicht überraschende, aber bedenkenswerte Antwort gibt die feministische Theologin Carter Heyward, die aus einem anderen Kontext kommend ebenfalls Gott als Substanz dekonstruiert. Für sie – wie für viele zeitgenössische Theologen – findet sich im Buch Exodus der Keim des biblischen Gottesbildes: JHWH als Befreier. Gott als Relation, als Beziehung ist befreiende Aktivität, schreibt Carter Heyward. »Im Anfang war Beziehung; in der Beziehung liegt die Macht, die die Welt durch uns und mit uns schafft, du und ich, ihr und wir und niemand von uns allein.«85

Carter Heyward formuliert radikal, was Martin Buber und Franz Rosenzweig aus der jüdischen Tradition heraus betonten. Buber, der das Verhältnis von chassidischer und zen-buddhistischer Spiritualität untersuchte, fand, dass beide einander in der Auffassung der Beziehung zwischen der Welt und dem Absoluten, Gott, ähnlich seien. Wenn Gott nicht als Substanz gedacht wird, dann ist auch das Verhältnis von 80 Baatz, Ursula: Hugo M. Enomiya-Lassalle: Ein Leben zwischen den Welten. Biografie. Zürich 1998; dies.: Erleuchtung trifft Auferstehung. Zen-Buddhismus und Christentum. Eine Orientierung. Stuttgart 2009. 81 Cobb, John / Ives, Christopher (Hg.): The Emptying God. A Buddhist-Christian-Jewish Conversation. New York 1990. 82 Knitter, Paul / Corless, Roger (Hg.): Buddhist Emptiness and Christian Trinity : Essays and Explorations. New York 1990. 83 dazu Brück, Michael von / Lai, Whalen: Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog. München 1997, S. 431 – 461. 84 Cobb, John: Beyond Dialogue: Toward a Mutual Transformation of Christianity and Buddhism. Philadelphia 1982. 85 Heyward, Carter : Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung. Mit einer Einleitung von Sölle, Dorothee. Stuttgart 1986, S. 195.

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Konkretem und Absolutem neu zu denken – als Beziehungsgeschehen und Prozess. Dafür müssten jedoch viele klassische theologische Topoi unter Bezug zur biblischen Tradition dekonstruiert und neu konstruiert werden.86

86 Vgl. etwa Keller, Catherine: The Face of the Deep. A Theology of Becoming. New York 2003.

Autorinnen und Autoren

Ursula Baatz, geb. 1951, ist Dr. phil. und Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Wien, mit dem Schwerpunkt Buddhismus / Zen-Buddhismus. Publikationen: Zittoku lacht den Mond an. Texte der Zen-Meister (1982); H.M. Enomiya-Lassalle. Ein Leben zwischen den Welten. Biographie (1998); Buddhismus, München 2004; Erleuchtung trifft Auferstehung. ZenBuddhismus und Christentum. Eine Orientierung, Berlin 2009. Fachpublikationen u. a. zur Buddhismus-Rezeption und zur philosophischen Anthropologie. Jameleddine Ben-Abdeljelil, geb. in Sousse / Tunesien, Studium der islamischen Wissenschaften (Theologie) an der Universität Zaytouna in Tunis; Promotion im Fach Philosophie mit einer Arbeit über den »jüdischen Averroismus« an der Universität Wien; derzeit Assistent am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Publikationen: Ibn Ruschds Philosophie – interkulturell gelesen, Nordhausen 2005; Hayy Ibn Yaqdhan. Ein muslimischer Inselroman, hg. und bearbeitet gem. mit Viktoria Frysak, Wien, 2007. Forschungsbereiche: Islamische Philosophie im Mittelalter, rationalistische Ansätze im modernen arabisch-islamischen Denken, interkulturelle Philosophie. Hartwig Bischof, geb. 1964, ist Dr. theol. (Universität Graz); Mag. phil. (Universität Wien), Mag. art. (Akademie der Bildenden Künste, Wien). Akademischer Mitarbeiter, Universität Landau. Publikationen: Der Gärtner und das nachdenksam Gelassene. Religion und Kunst bei Martin Heidegger, in: Cornelius Hell, Paul Petzel, Knut Wenzel (Hg.), Glaube und Skepsis. Beiträge zur Religionsphilosophie von Heinz Robert Schlette, Mainz 2011, 184 – 201; Zeugen. Zum alltäglichen Voyeurismus, in: Dangl Oskar (Hg.), »…gefeiert – verachtet – umstritten«. Menschenrechte und Menschenrechtsbildung, Münster 2010, 219 – 229; Inszenierung oder himmlische Liturgie. Reflexionen über die Möglichkeiten des Fernsehgottesdienstes, in: Beinhauer-Köhler Bärbel, Pezzoli-Olgiati

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Autorinnen und Autoren

Daria, Valentin Joachim (Hg.), Religiöse Blicke – Blicke auf das religiöse. Visualität und Religion, Zürich 2010, 369 – 379. Edith Düsing ist außerplanmäßige Professorin an der Universität Köln und Gastdozentin für Philosophie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen. Publikationen: Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, 2. Aufl. München 2007. (Mit-) Herausgeberin einer Reihe zum GEIST im Verlag Königshausen: Geist und Willensfreiheit. Klassische Theorien von der Antike bis zur Moderne, hrsg. v. Edith u. Klaus Düsing, Hans-Dieter Klein (2006); Geist und Psyche. Klassische Modelle von Platon bis Freud und Damasio, hrsg. v. E. Düsing u. H.-D. Klein (2008); Geist, Eros und Agape. Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst, hrsg. v. E. Düsing, H.-D. Klein (2009); Geist und Heiliger Geist. Philosophische und theologische Modelle von Paulus und Johannes bis Barth und Balthasar, hrsg. v. E. Düsing, Werner Neuer u. H.-D. Klein (2009); Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas, hrsg. v. E. u. K. Düsing u. H.-D. Klein (2009). Raffll Fornet-Betancourt, geb. 1946, ist Dr. phil. et litt. (Salamanca), Dr. phil. (Aachen), Professor für Philosophie in Bremen. Publikationen (Auswahl): Philosophie und Theologie der Befreiung, Frankfurt am Main 1988; Ein anderer Marxismus? Die philosophische Rezeption des Marxismus in Lateinamerika, Mainz 1994; Aproximaciones a Jos¦ Mart†, Aachen 1998; Interkulturalität in der Auseinandersetzung, Frankfurt am Main 2007; Beiträge zur interkulturellen Zeitdiagnose, Mainz 2010. Wolfgang Gantke, geb. 1951, ist Professor für Religionswissenschaft und Religionstheologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Schwerpunkte: Problemorientierte Religionsphänomenologie, Engagierte Religionswissenschaft, Dialog der Religionen, Diskussion um das Heilige, Religion und Moderne, Neo-Hinduismus, Interkulturelle Hermeneutik. Publikationen: Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Marburg, 1998; Aurobindos Philosophie interkulturell gelesen. Nordhausen, 2007; (mit H.R.Yousefi und H. Waldenfels:) Wege zur Religion. AspekteGrundprobleme – Ergänzende Perspektiven, Nordhausen, 2010. Volker Gerhardt, geb. 1944, ist Professor für Praktische Philosophie (Schwerpunkt: Rechts- und Sozialphilosophie) an der Humboldt-Universität zu Berlin; Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Mitglied des Senats der deutschen Nationalstiftung; Mitglied im Deutschen Ethikrat. Publikationen (Auswahl): Immanuel Kants Entwurf zum ewigen Frieden. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1999; Friedrich Nietzsche, München

Autorinnen und Autoren

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(4.Aufl.) 2006; Die angeborene Würde des Menschen. Aufsätze zur Biopolitik. Berlin 2004; Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007; Exemplarisches Denken: Aufsätze aus dem Merkur, München 2008; Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012. Franz Gmainer-Pranzl, geb. 1966, ist Dr. theol. (Innsbruck) und Dr. phil. (Wien); Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg und Leiter des Zentrums Theologie interkulturell und Studium der Religionen, Salzburg. Publikationen: Glaube und Geschichte bei Karl Rahner und Gerhard Ebeling. Ein Vergleich transzendentaler und hermeneutischer Theologie, Innsbruck / Wien 1996; Heterotopie der Vernunft. Skizze einer Methodologie interkulturellen Philosophierens auf dem Hintergrund der Phänomenologie Edmund Husserls, Wien / Berlin 2007; (2010): Theologie interkulturell – die diskursive Form von Katholizität, in: KBC 143 (2010) Heft 2, 16 – 34; Anspruch und Freiheit des Glaubens in postsäkularer Gesellschaft, in: SaThZ 15 (2011), 110 – 128; Interversalität des Hoffnungslogos. 1 Petr 3,15 als Beanspruchung theologischer Erkenntnislehre, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 134 (2012), 202 – 212. Jens Halfwassen, geb. 1958, Promotion (1989) und Habilitation (1995) an der Universität Köln, 1997 Heisenberg-Professor der DFG, seit 1999 Ordinarius für Philosophie an der Universität Heidelberg; Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Academia Platonica Septima Monasteriensis. Publikationen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin (1992, 2. Aufl. 2006); Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 2. Aufl. 2005; Plotin und der Neuplatonismus, München 2004; Mitherausgeber mit R. G. Khoury und in Verbindung mit F. Musall; Platonismus im Orient und Okzident. Neuplatonische Denkstrukturen im Judentum, Christentum und Islam, Heidelberg 2005; mit M. Gabriel, Kunst, Metaphysik und Mythologie, Heidelberg 2008; mit M. Gabriel u. St. Zimmermann, Philosophie und Religion, Heidelberg 2011; Mitherausgeber der Philosophischen Rundschau und der Quellen und Studien zur Philosophie. Hans Gerald Hödl, geb. 1959, ist Dr. phil und Mag. theol. (Wien), 2003 an der Humboldt-Universität zu Berlin für das Fach Kulturwissenschaft habilitiert; ao. Univ. Prof. am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien. Monografien (Auswahl): Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik, Berlin-New York 2009; Decodierungen der Metaphysik. Eine religionsphilosophische Interpretation von Ferdinand Ebners Denkweg auf der Grundlage unveröffentlichter Manuskripte, Frankfurt etc. 1998; Nietzsches

312

Autorinnen und Autoren

frühe Sprachkritik. Lektüren zu »Über Wahrheit und Lüge im außermoralschen Sinne«, Wien 1997. Thomas Rentsch, geb. 1954, ist Dr. phil. habil. (Konstanz), Diektor des Instituts für Philosophie und Professor für Praktische Philosophie / Ethik an der Technischen Universität Dresden. Publikationen: Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1990; Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt am Main 1990; Gott, Berlin / New York 2005; Gott. Negativität und Transzendenz. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin / New York 2011; Herausgeber von Anthropologie, Ethik, Politik. Grundfragen der praktischen Philosophie der Gegenwart, Dresden 2004; Philosophie – Geschichte und Reflexion, Dresden 2004; Zur Gegenwart der Philosophie. Theorie – Praxis – Geschichte, Dresden 2008. Hans Schelkshorn, geb. 1960, ist Dr. theol., Dr. phil. und phil. habil. (Wien), a.o. Univ. Prof. am Institut für Christliche Philosophie der Universität Wien. Publikationen (Auswahl): Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels, Freiburg / Basel / Wien 1992; Diskurs und Befreiung. Studien zur philosophischen Ethik von Karl-Otto Apel und Enrique Dussel (= Studien zur Interkulturellen Philosophie, Bd. 6), Amsterdam / Atlanta 1997; Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum Diskurs der Moderne, Weilerswist 2009; Mitherausgeber gem. mit J. Ben-Abdeljelil, Die Moderne im interkulturellen Diskurs. Beiträge aus dem arabischen, lateinamerikanischen und europäischen Denken, Weilerswist 2012. Michael Staudigl, geb. 1971, ist Dr. phil. (Wien), Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Wien und Leiter des vom österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) geförderten Forschungsprojekts »Religion beyond Myth and Enlightenment«. Publikationen (Auswahl): Die Grenzen der Intentionalität, Würzburg 2003; Mitherausgeber von Lebenswelt und Politik, Würzburg 2007, Über Zivilisation und Differenz, Würzburg 2007, Alfred Schütz und die Hermeneutik, Konstanz 2010, Gelebter Leib – verkörpertes Leben, Würzburg 2011; Schutzian Phenomenology and Hermeneutic Traditions, Dordrecht 2012. Wolfgang Treitler, geb. 1961, ist a.o. Univ. Prof. für Fundamentaltheologie am Institut für systematische Theologie, Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Publikationen (Auswahl): Gotteswort im Menschenwort. Inhalt und Form

Autorinnen und Autoren

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von Theologie nach Hans Urs von Balthasar, Innsbruck / Wien 1992; Kritische Differenz. Biographisch-theologische Studien zur Wiener Theologischen Schule des 19. Jahrhunderts, Innsbruck / Wien 2000; Mensch und Gott im Schatten. Franz Kafka und Franz Werfel – Konturen des Exodus, Bern u. a. 2000; Die Fragen der Toten. Elias Canetti – Jean Am¦ry – Elie Wiesel, Mainz 2004; Kein Diener zweier Herren! Der einzige Gott und viele Gegengötter. Eine Fundamentaltheologie, Frankfurt am Main 2010.

Personenregister

Abdeljelil, Jameleddine Ben 15, 309, 312 Abe, Masao 307 Abhidharmakosa 47 Abrams, Erika 240 Adorno, Theodor W. 30, 46 Aertsen, Jan A. 117, 120 Alaoui, Jamal Eddin 259, 261 Alberigo, Giuseppe 77 Alexander von Aphrodisias 251, 262 Al-Farabi 250 f., 254, 258, 262 Al-Ghazali 15 f., 244 f., 247, 249, 251, 253 – 255, 257 f., 263, 265 f. Al-Jabiri, Muhammad Abed 246 Al-Khudairi, Zeyneb 243 Almond, Philip C. 283, 285 – 287 Alonso, Manuel 248 Amara, Mohammad 252 Am¦ry, Jean 12, 156 – 158, 313 Anselm v. Canterbury 24, 131 Apel, Karl-Otto 46, 312 Arendt, Hannah 40 Areopagita, Pseudo Dionysius 116 Aristoteles 15, 24, 45, 110 – 115, 128, 133, 187, 243, 250 – 252, 257 – 259, 262 Arndt, Hans Werner 187 – 190, 192 Arnold, Edwin 288 Assmann, Jan 272 Audi, Paul 226 Augustinus 48, 110 f., 130, 143 – 145, 179, 187, 201 – 203 Aurobindo Ghosh (Sri Aurobindo) 16, 267, 268 – 282, 310 Averroes – siehe Ibn Ruschd Avicenna – siehe Ibn Sina

Baatz, Ursula 16, 291, 294, 305, 307, 309 Badawi, Abdurrahman 249 Bader, Franz 144 Baier, Karl 286, 302 f., 306 Balthasar, Hans Urs von 100, 310, 313 Barth, Karl 286, 302 f., 306 Baum, Günther 135 Behler, Ernst 247 – 249, 254, 256, 258 Beierwaltes, Werner 111, 116 – 119 Beinert, Wolfgang 77 Benedikt XVI. 11, 149 Bentz, Udo 104 Berdiaeff, Nikolai 70 Bergoffen, Debra B. 236 Bergson, Henri 268, 271 Bermes, Christian 187 – 190, 192 Bernhart, Joseph 187 Biemel, Marly 185 Biemer, Günter 147, 149 Bily, Lothar 79 Bischof, Hartwig 13, 309 Biser, Eugen 165 Bissainthe, G¦rard 83 Blackmore, John 291 Blanchet, L¦on 111 Blavatsky, Helena Petrovna 290 f. Bloch, Ernst 16, 45, 148, 301 f. Blondel, Maurice 189 Bloom, Alfred 302 Boehm, Rudolf 185, 188 Böckenförde, Ernst Wolfgang 237 Börner, Wilhelm 292 Boff, Leonardo 104 Bollnow, Friedrich 268

316 Borel, Pierre 195 Bormann, Karl 112 Bos, Egbert P. 117, 120 Bouygues, Maurice 247, 253 Brinktrine, Johannes 76 Brück, Michael von 305, 307 Brusotti, Marco 166 Buber, Martin 144, 307 Bucher, Alexius J. 67 Bucher, Rainer 76 Bultmann, Rudolf 45 Burnouf, Eugene 287 Camus, Albert 6, 13 f., 193 – 215 Cano, Melchior 75 Carus, Paul 289, 295 Ceming, Katharina 306 Chahlan, Ahmad 243 Chvat†k, Ivan 240 Clemens von Alexandrien 16, 284 Cobb, John 307 Congar, Yves 78 Conzemius, Victor 75 Corless, Roger 307 Cusanus – siehe Nikolaus von Kues Därmann, Iris 229, 239 Darwin, Charles 8, 21 – 27, 36 f., 273, 277 f. Davidson, Herbert A. 251, 258, 261 – 263 Deleuze, Gilles 171 De Libera, Alain 244, 251 De Martino, Richard 298 Depraz, Natalie 222 Derrida, Jacques 46 Descartes, Ren¦ 9, 69, 109 – 111, 133, 135 f., 140, 144, 156 f., 183, 202, 214, 228 De Silva, Lynn 304 f. Dhammapala, Anagarika (David Hewavitarane) 289 – 291, 295 Diels, Hermann 112 Diogenes von Sinope 166 Dionysos 6, 12, 161, 163 – 165, 167, 174, 180, 311 Diop, Alioune 83 Dodds, Eric Robertson 114

Personenregister

Dodin, Thierry 284 Dollfuß, Engelbert 186, 204 Düsing, Edith 11, 127, 130 – 132, 135, 137, 310 Düsing, Klaus 111, 310 Eckerstorfer, Andreas 91 Eckhart (Meister E.) 5, 10 f., 49, 109, 111 – 122, 225, 306 Eddy, Matthew D. 21 Eichmann, Adolf 40 Eliade, Mircea 277 Elija 166 Engels, Friedrich 301 Enomiya-Lassalle, Hugo-M. 280, 306 f., 309 Erdmann, Benno 259, 261 Eriugena, Johannes Scottus 119 Erler, Michael 110 Feiner, Johannes 78 Fetz, Reto L. 69 Feuerbach, Ludwig 46, 49, 129, 148, 152, 155 Fichte, Johann Gottlieb 5, 11, 123 – 131, 133 – 145 Fichte, Immanuel Hermann 124, 128 Figl, Johann 162 f. Fink, Eugen 221 Fischer, Norbert 135 Flasch, Kurt 121 Ford, James L. 302 Fornet-Betancourt, Raffll 5, 9, 66, 310 Franco, Francisco 205 Frank, Bruno 43 Frankl, Viktor 131 Frauwallner, Erich 300 Freud, Sigmund 46, 49, 310 Friedrich II. 243 Fromm, Erich 296 Gadamer, Hans-Georg 112 Gäbe, Lüder 135, 144 Gaiser, Konrad 112, 114 Galilei, Galileo 209 f. Gandhi, Mahatma 267

Personenregister

Gantke, Wolfgang 16, 267, 271 f., 277, 310 Gauthier, Leon 248 f., 254 Gebser, Jean 271, 280 Geffr¦, Claude 83 Geisler, Rolf 148 G¦ly, RaphaÚl 228 Geraets, Theodore 186 Gerhardt, Volker 8, 26, 29, 39, 41, 310 Geyer, Bernhard 112 Ghokale, Balkrishna Givind 291 Gide, Andr¦ 194 Gilson, Etienne 111 Giuliani, Regula 191 Glasenapp, Helmuth von 16, 283 f., 297 – 301 Gloy, Karen 110 Gmainer-Pranzl, Franz 9 f., 311 Goerdt, Wilhelm 133 Golwalkar, Mahadev S. 272 Gondek, Hans-Dieter 186 f., 189, 219, 225 f. Grasmück, Ernst L. 187 Gregor XVI. 154 Greipel, Josef R. 204 Gueroult, Martial 135, 139 Guitton, Jean 203, 209, 210 Gunananda (Migettuwatte Gunananda Thera) 290 Habermas, Jürgen 10, 14, 45 f., 80 f., 86 – 91, 98 Habito, Ruben 302 Haecker, Theodor 150 f., 153, 159 Hagenbrüchle, Roland 69 Halbfass, Wilhelm 289 Halfwassen, Jens 10 f., 111 f., 114 – 116, 120, 311 Hallisley, Charles 287 Hammacher, Klaus 132 Hand, Annika 187 – 190, 192 Harion, Dominic 187 – 190, 192 Harris, Sam 301 f. Hart, James G. 225, 230 Hatem, Jad 224 Hayoun, Maurice-Ruben 244, 251 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 11, 45,

317 52, 66, 68 f., 109 – 111, 115, 127 f., 133, 148, 155, 157, 196, 200, 229, 231, 235, 268, 286, 288, 301, 303, 311 Heidegger, Martin 46, 58, 131 – 133, 218 f., 221, 223, 276 f., 309, 312 Heidemann, Dietmar Hermann 111 Heimsoeth, Heinz 127, 140 Heine, Heinrich 174, 177 Heisig, James W. 296, 303 Hell, Silvia 78, 100, 309 Henderson, Harold 295 Henrich, Dieter 110 Henry, Michel 6, 14, 217 – 240 Hewavitarane, David – siehe Dhammapala, Anagarika Heyward, Carter 307 Hilberath, Bernd Jochen 84, 99, 103 Hildebrandt, Kurt 154 Hirohito (Kaiser) 283 Hirsch, Emanuel 144 Hisamatsu, Shinichi 296 f., 302 f. Hitchens, Christopher 301 Hödl, Hans Gerald 12, 161 – 165, 167, 174, 311 Höhn, Hans-Joachim 82 f. Hoff, Gregor Maria 79, 95, 100 Horten, Max 247 f., 250, 254, 257, 259, 261, 265 Howald, Ernst 154 Hünermann, Peter 77, 84, 99, 103, 154 Hume, David 220 Huntington, Samuel 271, 274 Husserl, Edmund 184 f., 200, 217 – 221, 223, 229 f., 232, 311 Ibn Bajjah 262 Ibn Rushd (Averroes) 15, 243, 245, 247 f., 250 – 254, 257 – 265 Ibn Sina (Avicenna) 250 f., 253 f., 258, 261 – 263 Imbach, Ruedi 112 f. Immel, Oliver 276 Isnardi Parente, Margherita 114 Ives, Christopher 307

318 Jacobi, Friedrich Heinrich 5, 11, 123, 125 f., 128 f., 131, 133 – 138 Jaeschke, Walter 130, 137 Janicaud, Dominique 218 f., 225, 228 Janke, Wolfgang 127, 132, 139, 144 Jaspers, Karl 45 Jayatilekke, Kulatissa Nanda 304 Jeck, Udo Reinhold 121 Jens, Walter 148 Jodl, Friedrich 16, 292 f., 297, 301 Johannes Damascenus 116 Johannes 48, 310 Johannes XXIII. 84 Johannes Paul II. 149 Johannes vom Kreuz 306 Jung, Carl Gustav 134 Kaehler, Klaus Erich 128 Kamlah, Wilhelm 277 Kanitscheider, Bernulf 288 f. Kant, Immanuel 24, 38, 40 f., 45, 51, 71, 124 – 129, 135, 138 – 143, 145, 151 f., 155, 196, 286, 299, 310 Kanzian, Christian 98 Kasper, Walter 104 Kaufmann, Franz-Xaver 101 Kaulbach, Friedrich 36 Kehl, Medard 104 Keller, Catherine 308 Kern, Walter 75 Kessler, Hans 273 Kessler, Herbert 111 Khosrokhavar, Farhad 220, 228 Kierkegaard, Søren Aabye 128, 132, 136 f., 141, 155, 157, 200 Kimmerle, Heinz 271 Kingsley, Charles 148 Klaes, Norbert 271 Kleine, Christoph 293 Klibansky-Labowsky 120 Klinger, Elmar 75, 306 Knight, David M. 21 Knitter, Paul 307 Köppen, Friedrich 133 Kollmar Paulenz, Kar¦nina 284 Kopernikus, Nikolaus 210

Personenregister

Kopper, Joachim 152 Kosen, Imakita 295 Kotrschal, Kurt 156 Kouba, Pavel 164, 240 Kozljanic, Robert Josef 268 Krämer, Hans-Joachim 110 Krüger, Gerhard 109 Kügelgen, Anke von 243, 251, 260 f., 263 Kühn, Rolf 217 – 219, 222 f., 225 – 232, 234 – 237, 239 f. Kurbacher, Frauke 231 Labelle, Gilles 186 Lai, Whalen 305, 307 Lamberz, Erich 111 Langthaler, Rudolf 90 Laros, Matthias 154 Las Casas, Bartolom¦ de 195 La Vall¦ Poussin, Louis de 299 Leaman, Oliver 251, 263 Lefort, Claude 191 Le Guillou, Marie-Joseph 75 Leibniz, Gottfried Wilhelm 128, 138, 141, 187, 190, 285 Leinkauf, Thomas 113 Leo XIII. 11, 149 Lessing, Gotthold Ephraim 123 L¦vinas, Emmanuel 70, 133, 219 f., 224, 231, 237, 310 Leynaud, Ren¦ 197, 203 Lindbeck, George 92 Lindemann, Gisela 156 Löhrer, Magnus 78 Longneaux, Jean-Michel 222, 240 Lopez, Donald S. 286 f. Lottmann, Herbert R. 194, 197 f. Lubac, Henri de 100 Ludwig XIV 285 Lüddeckens, Dorothea 271, 293 Lühe, Astrid von der 112 Lüke, Ulrich 273 Luk‚cs, Georg (György) 131 Luther, Martin 144 Lyotard, Jean-FranÅois 199 Mach, Ernst

291

319

Personenregister

Maharishi, Ramana 267 Malebranche, Nicolas 188 Mall, Ram Adhar 271 Mann, Thomas 43 Maraldo, John C. 296, 303 Marcel, Gabriel 200 f., 206 Marx, Karl 46, 49, 132, 155, 219, 232, 301 Mauriac, Francois 197 – 199 Mead, George Herbert 127 Mehren 248 Meier, Martin 40 Meijer, Pieter A. 117, 120 Merleau-Ponty, Maurice 6, 13, 183 – 192, 219, 221, 227, 231 Mersenne, Marin 111 Mesbahi, Mohamed 262 Messenger, Sharon 22 M¦traux, Alexandre 184 Michel, Karl Markus 66, 68 f., 109, 111, 229 Miggelbrink, Ralf 77, 101, 103 Misch, Georg 268 Möngke Khan 284 Mojsisch, Burkhard 112, 115, 119, 121 Moldenhauer, Eva 66, 68 f., 109, 111, 229 Mose ben Maimon (Maimonides) 247 Moser, Tilmann 86 Mosheim, (Johann Lorenz von) 115 Müller, Friedrich Max 293 Müller, Klaus 104 f. Müller, Marcus Joseph 247, 252, 263 f. Müller, Wolfgang W. 101 Müller-Lauter, Wolfgang 134, 138 Mürmel, Heinz 289, 292 Munk, Salomon 257, 263 Mussolini, Benito 205 Nagarjuna 299 f. Nagl-Docekal, Herta 90, 236 Napoleon Bonaparte 151 Neuner, Peter 77 Neve, Michael 22 Newman, John Henry 6, 11 f., 147 – 159 Nicolin, Friedhelm 115 Nietzsche, Friedrich 6, 12, 40, 46, 49,

131 – 133, 137, 161 – 180, 186, 194, 208, 233, 240, 277, 294, 310 f. Niewöhner, Friedrich 251 Nikolaus von Kues (Cusanus) 24, 134 Nishitani, Keiji 304 Novotny´, Karel 231 Nowotny, Stefan 222, 224, 230 Numenios 111 Obeyesekere, Gananath 291 Ockham, Wilhelm von 164 Oehler, Klaus 110 Ohashi, Ryosuke 302 Olcott, Colonel 290 f. Olschki, Leonardo 284 Onfray, Michel 81, 86 Ortega y Gasset, Jos¦ 132 Ostheimer, Jochen 104 Overbeck, Franz 163 Panikkar, Raimon 17, 303 f. Parmenides 112, 120, 196 Pascal, Blaise 187, 190, 201, 209 Patocˇka, Jan 240 Paulus 48, 145, 210, 310 Payer, Alois 299 Peperzak, Adriaan T. 133 Pfungst, Arthur Josef 291 Philon von Alexandria 118 Picht, Georg 269 f. Pico della Mirandola, Giovanni 281 Pieris, Aloysius 17, 305 Pius IX 149 Platner, Ernst 136 Platon 24, 44 f., 110, 112, 114, 116, 120 f., 154, 214, 252, 310 f. Plonz, Sabine 90 Plotin 110 f., 114, 116, 120 f., 144, 209, 311 Pluta, Olaf 251 Pöggeler, Otto 132 f. Polo, Marco 284 Porphyrios 111 Pottmeyer, Hermann J. 75 Pouget, Guillaume (Monsieur) 203, 209 f. Proklos 114, 116, 118 – 121

320 Quilliot, Roger

Personenregister

193 f., 197 f., 203, 209 f.

Raberger, Walter 90, 99 Radhakrishnan, Sarvepalli 267 Rahner, Karl 45, 75 f., 84, 86, 104, 311 Ramanan – siehe Venkata Ramanan, Krishniah Rampelmann, Katja 292 Ratzinger, Joseph 78 Rawls, John 200 f., 204 Reder, Michael 88 f. Renan, Ernest 248, 263 Rentsch, Thomas 8 f., 45, 312 Rhys-Davids, Thomas William 292 Ricard, Matthieu 283 Richir, Marc 183 Ricoeur, Paul 217 Ritter, Joachim 134 Rivera, Joseph M. 225 Röser, Johannes 39 Rogozinski, Jacob 236 Rorty, Richard 98 Rosenzweig, Franz 307 Roth, Friedrich 132 Runggaldier, Edmund 98 Ryle, Gilbert 191 Sabais, Heinz-Winfried 43 Saint Aubert, Emmanuel de 183, 190 Salaquarda, Jörg 148, 167 Sanon, Anselme Titianma 100 Sartre, Jean-Paul 70, 200, 206 Satprem (Bernard Enginger) 268, 274, 276, 278, 281 f. Sauer, Hanjo 102 Schalück, Hermann 105 Scheier, Claus-Artur 112 Scheler, Max 186, 271 Schelkshorn, Hans 13 f., 281, 302 f., 312 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 117, 119, 129, 150 Schelling, Karl Friedrich A. 119 Scheuer, Manfred 100 Schillebeeckx, Edward 82, 103 Schlegel, August Wilhelm 268

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 72, 124, 214, 277, 294, 302 Schmidt, Gerhart 157 Schmidt, Josef 88 f. Schmidt, Margot 144 Schmidt, Rüdiger 164 Schmitz, Barbara 187 – 190, 192 Schnakenberg, Jürgen 273 Schöttler, Heinz-Günther 83 Schopenhauer, Arthur 132, 268, 286, 288, 301 Schrader, Wolfgang H. 137 Schreiter, Robert J. 100 Schröder, Jürgen 184 Schröer, Henning 155 Schüler, Gisela 115 Schütz, Alfred 127, 312 Schulz, Peter 69 Schulz, Walter 119, 133 Schupp, Franz 82 Seckler, Max 75 Semmelroth, Otto 104 Sepffllveda, Gin¦s de 195, 205 Shaku, Soen 289, 295 Sharf, Robert J. 294, 303 Sheridan, Gilley 147 f. Siebenrock, Roman 99 Simons, Thomas 209 Singer, Wolf 283 Slenczka, Notger 39 Smith, Andrew 111 Sokrates 111, 196, 208, 213 – 215 Souvignier, Georg 273 Spengler, Oswald 132 Speusipp 114 Spinoza, Baruch de 127, 129, 137, 163, 231 Staudigl, Michael 14, 220, 222, 224, 229 f., 236, 312 Stegmaier, Werner 163 Steinbock, Anthony J. 240 Steinschneider, Moritz 261 Stingelin, Martin 162 Striet, Magnus 90 Strube, Claudius 134 Stuckrad, Kocku von 291

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Personenregister

Sturlese, Loris 251 Suzuki, Daisetz T. 295 f. Swedenborg, Emanuel 295 Swinburne, Richard 51 Sydow, Momme von 21 Tagore, Rabindranath 267 Takakusu, Junjiro 283, 293 Takamatsu (Prinz) 283 Teilhard de Chardin, Marie-Joseph Pierre 271, 280 Tengelyi, L‚szlû 219 f., 223 – 226, 231 Themistius 262 Theunissen, Michael 133 Thireau, Isabelle 230 f. Thomas von Aquin 112 f., 117, 131, 163 Tillich, Paul 45 Tilliette, Xavier 190 Todd, Olivier 195, 197 f., 202 Tönnies, Ferdinand 70 Treitler, Wolfgang 11 f., 312 Trinks, Jürgen 220, 224 Tück, Jan Heiner 77 Urvoy, Dominique

251, 260

Vallescar Palanca, Diana de 105 Vasubandhu 299 Venkata Ramanan, Krishniah 299 Verweyen, Hansjürgen 67 Vetter, Tilmann 306 Victoria, Brian 303 Vivekananda, Svami 267

Vollmer, Matthias 245, 247, 252, 264 Vrekham, Georges van 267 Wagner, Gerhard M. 204 Wahrig-Schmidt, Bettina 162 Waldenfels, Bernhard 10, 82, 92 – 95, 184, 187 – 192, 217, 225, 228 f., 239 Waldenfels, Hans 79, 310 Wassilowsky, Günther 104 Weber, Franz 77 f. Weber, Max 81 Weischedel, Wilhelm 151 Wendt, Karin 231 Wenzel, Uwe Justus 21 Werbick, Jürgen 77, 79 Westerkamp, Dirk 112 Wiesing, Lambert 184 Whitehead, Alfred North 271 Wilber, Ken 271 Wilfred, Felix 85 Wilhelm von Rubruk 284 Willers, Ulrich 165 Wimmer, Franz Martin 10, 97 – 99 Wippersberg, Walter 79 f. Wittgenstein, Ludwig 46, 58 f., 99, 312 Wolff, Otto 272, 279 Yousefi, Hamid Reza

271, 310

Zahavi, Dan 224 Zedler, Johann Heinrich Zingerle, Arnold 101 Zürcher, Markus 70

285 f.