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German Pages 276 Year 2015
Georg Stauth Herausforderung Ägypten
Georg Stauth lehrte Soziologie an der Universität Bielefeld und leitete eine Forschergruppe zu »Heiligen Orten« im Sonderforschungsbereich »Kulturelle und sprachliche Kontakte« an der Universität Mainz sowie eine internationale Studiengruppe zu »Islam und Moderne« am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.
Georg Stauth
Herausforderung Ägypten Religion und Authentizität in der globalen Moderne
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Inhalt
Vorwort ...............................................................................
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I.
Einleitung .....................................................................
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II.
Eine andere Art, auf Ägypten zu sehen ............................
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III. Kulturkontakt: Pharaonismus, Islam, Archäologie. Ein Rückblick ................................................................
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IV. Gemeinschaft: »Dorf« als Geschichte und gelebte Praxis ...............................................................
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V.
Zivilisation: Ägypten als Urwelt und »Menschheit-als-Ganzes« .............................................. 145
VI. Individualismus: Der ägyptische Tanz um den »Einzelnen«. Zur politischen Theologie des »nackten Lebens« ................................................... 175 VII. Gesamtkunstwerk »Welt«: Skizzen zu Ägypten als ästhetische Utopie .................................................. 225 Nachschrift an Stelle eines Epilogs ....................................... 257 Literatur .............................................................................. 261
Vorwort
Mit diesem Buch lege ich einen Nachtrag zu meinen Studien über ägyptische heilige Orte (Stauth 2005, 2008, 2010) vor. Es handelt sich durchaus um eine – im Sinne Kierkegaards – »abschließende unwissenschaftliche Nachschrift«, wenn auch um keine »erste und letzte Erklärung« (vgl. Kierkegaard 1994: VII). Ansonsten wäre hier vieles von dem anzumerken, wovon Kierkegaard in seinem Vorwort zu Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken spricht, insbesondere das Wort von der »Gunst der Stunde«, die einem gewissermaßen allein gelassenen Autor einmal widerfahren möchte und über die Kierkegaard so ausführlich sinniert (ibid.: 3-6, 4), gilt auch hier; und natürlich will ich mit diesem Hinweis weder Umfang noch Bedeutung der nachfolgenden Schrift mit jenem »revolutionären« Werk Kierkegaards vergleichen. Mein Hinweis bezieht sich eher auf das Methodische, das mit dem Wort »unwissenschaftlich« ausgedrückt ist: ein Gegenlesen von an anderer Stelle wissenschaftlich vertretenen Meinungen. Ich bin mir des Wagnisses bewusst, Residuen aus einem über sehr verschlungene Pfade fortgeschrittenen und schließlich auch überwundenen Forschungsprozess, zumal über »Islam und Moderne«, hier einzubringen. In der Tat, es geht ja bei der Authentizitätssuche in der globalen Moderne auch um gefährliche Glaubensnostalgie, sicher nicht nur um die der Anderen, der Fremden, sondern auch um die eigene. Man mag sich dafür schütteln, aber retten kann man sich vor ihren Wirkungen kaum. Die vielen Betrachtungen, die ich aufschlage, sind zu lang für Aphorismen und zu kurz für eigene wissenschaftliche Abhandlungen, wenn sie auch im Ansatz früher schon als solche entworfen waren. Das meiste wurde erst einmal liegen gelassen und führte deshalb über eine relativ lange Zeit ein gedankliches Eigenleben. Dass ich nun einzelne Stücke dem Einzeldasein entreiße, folgt der Überzeugung, dass Ägypten – das historische
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wie das gegenwärtige – im globalen Diskurs über Religion und Moderne in der Tat als überhistorisches Zeugnis von »Pharao«, Paradies und unfassbarem Chaos zugleich die Grenzen, die einer herkömmlichen Sachstudie gesetzt sind, sprengt. Ich bekenne mich zu dem Verfahren, Residuen aus den bisherigen Darstellungen meiner Forschungsarbeit zu Ägypten offen zu legen, weil ich hoffe, mit diesem »Abschluss« auch ein Neudenken, das auch ein Querdenken ist, möglich zu machen. Damit verschreibe ich mich einer Vorgehensweise, schon einmal aufgegriffene Sachmomente und Ideen eines herkömmlichen multiperspektivischen Darstellungsprozesses zum Thema Kulturkontakt und Moderne nun in offener Form und mit größerer Verbindlichkeit anzugehen. Mein Dank gilt – stellvertretend für die vielen Kollegen in Mainz, mit denen der gebotene wissenschaftliche Austausch geführt wurde – Wolfgang Bisang, dem Sprecher des Sonderforschungsbereichs 295 der DFG »Kulturelle und sprachliche Kontakte«, und Thomas Bierschenk am Institut für Ethnologie und Afrikaforschung an der Mainzer Universität. Jörn Rüsen, dem vormaligen Präsidenten des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, sei auch an dieser Stelle nochmals für die vielfach gewährte Unterstützung meiner Arbeit gedankt. Aus dem Kreis der »Rest-Bielefelder« ist Sigrid Nökel, Marcus Otto und Levent Tezcan zu danken, dass sie sich mit mir auf Diskussionen zur Ästhetik der Moderne einließen; ich habe davon für den letzten Teil der Arbeit profitiert. Mit Johann Arnason und Armando Salvatore habe ich viel über Religion und Individualismus diskutiert, auch dies sei hier dankend vermerkt. Etzen-Gesäß, im April 2010
Georg Stauth
I. Einleitung
1 Massenarmut, Massenkonsumkultur, globale Moderne: Herausforderung Ägypten denkt ein »Land«, das sowohl als eines der islamischen Kernländer als auch durch die unübersehbare Vergegenwärtigung einer Hochkultur der »orientalischen« Antike sich seine eigenartige moderne Präsenz in der Verbindung von Gegenwart und Geschichte erhalten hat. Denn der allenthalben in vielfältigen Formen sichtbare Pharaonismus ist nicht nur eine Sache des »Landes«, nicht nur ein wissenschaftliches Anliegen, der Archäologie und Ägyptologie etwa, sondern auch Bestand einer »Lebensform«, gelebte oder imaginäre, nostalgisch oder utopisch geglaubte, kulturstilistisch oder ästhetisch umgesetzte, moderne »Praxis«. So ist Ägypten auch Sache in der »musealen« Literatur (z.B. Nerval, Flaubert, Rilke, Mann), der Philosophie und vor allem der Religionsphilosophie (z.B. Hegel, Freud, Hornung, Assmann) und – nicht zuletzt – in der seit Herodot florierenden Reiseliteratur und seit Hadrian schon Land eines gewissermaßen saisonal institutionalisierten Mittelmeer-Tourismus. Dies sind durchaus Momente einer kulturellen Ikonisierung, und nicht umsonst haben die »Weltgeschichten« der Frühromantiker von »Statik« gesprochen. Mehr als anderswo scheint sich hier darüber hinaus aber – es sei gestattet ein von Stefan George für die Gedichtsammlung Algabal aufgegriffenes Wort Platons einzufügen – der ordnende Vorrang alles Staatlichen zu bewahrheiten: »Die musischen Ordnungen ändern sich nur mit den staatlichen« (vgl. Curtius 1963: 112). So war andererseits Ägypten immer auch schon Gegenstand staatsphilosophischer Betrachtung des einzigartigen Zusammentreffens von Gott-Königtum, kosmischer Ordnung und Überwindung des weltlichen Chaos mit Mitteln ritueller Integration der Gesellschaft (so etwa z.B. bei Voegelin 2002: 95-164). Nach dieser Aufzählung ist ein Zweifel in Bezug auf gängige, von Plato geprägte Vorstellungen vom »Wandel« angebracht. Denn im Ur-
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sprungsland des Monotheismus, heute zugleich das Land der islamischen Orthodoxie und der Begründung der verschiedenen Facetten des globalen islamischen Modernismus, haben sich zwar staatlicher und religiöser »Wandel« vollzogen, doch die »menschlichen Instinktordnungen« haben sich nur wenig geändert: »Antike« ist wie gesagt ein Stück moderner ägyptischer Lebensform geblieben. Allerdings präsentiert sich dieses Ägypten heute als alles andere denn in einem geschlossenen Ganzen. Die Zeitund Kulturvielfalt in den Landschaften am Nil ist selbst ein Wahrzeichen Ägyptens. Wie immer man seine Blicke dreht und wendet, »Kulturstil« ist das heute nicht mehr. Man wäre also aufgeschmissen, wenn man Stefan George, den »ästhetischen Fundamentalisten«, als der er von Stefan Breuer (1996) präsentiert wird, hier einbringen, und sehnend in Ägypten ein erhalten gebliebenes Ideal des Stil-, des Kunst-Ganzen suchen wollte. Und wenn man George, jenen »großen Modernisten«, der keine »Teil-Emanzipationen«1 wollte, der das »revolutionäre«, modern utopische Element als das Ganzästhetische der Kunst verstand, als den »Willen zum neuen Menschlichen«, hierher bemühen wollte, so wäre Ägypten vielleicht nur als das vollständigste Beispiel einer Mischung präsent, in dem wir – gewissermaßen das Bild von der statischen Geschichte aufhebend – die beständige Vermengung der stil- und kulturhistorischen Ablagerungen dieses in Wellen sich hier einfügenden ewigen Willens zu neuer Humanität finden. Das Gegenwärtige von Antike und Moderne im heutigen Ägypten kann man also kaum als eine Ganzheitsforderung des Wandels im Sinne der Einheit von »musischem« Leben und Staat deuten. Und dennoch bleibt Ägypten in vieler Hinsicht auch als Ganzheit eine Herausforderung an das moderne ästhetische Empfinden. Rilkes Reise von 1911 und die durch sie hervorgerufene Sinn- und Metaphern-Mischung ist hier keine Ausnahme (vgl. etwa Hermann 1966). Vor allem aber begegnet uns Ägypten als ein Moment der praktischen und utopischen Lebensgestaltung unter Bedingungen verarmter Massenund Konsumkultur: eine entscheidende Sonderform dessen, was »Antike« als Präsenz in »Leben«, »Kunst« und »Gestaltung« ermöglicht. So weitergedacht und vorgestellt als »Bild« zwischen Exotik und moderner Realität könnte »Ägypten« dann auch heute wieder als das gewissermaßen zur 1 | So erzählt George über seine Motivationen der Dichtung von Algabal nach Gesprächsdarstellungen von Ernst Robert Curtius mit George (Curtius 1963: 112f., 100-116).
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»heiligen« Landschaft geratene Versprechen der rituellen und gestalteten Integration von Mensch und Dingwelt, von Erde und Paradies erscheinen, allerdings nur wenn man das von Plato und George so unerbittlich gestellte Problem der »staatlichen Ordnung« einmal außer Acht ließe. Formalästhetik ist hier also nicht das Problem, ebenso wenig wie die Vorstellung von einem zur Weltkultur sich durchsetzenden Sozialhumanismus, der nur aus den Brüchen und in der Unzahl kultureller Wechselspiele, ja in den raren, aber hohen Momenten, wo überhaupt hier Gemeinsinn zum Ereignis werden kann, neue Kriterien für die »Humanität«, für »Menschheit-als-Ganzes« schöpft. Man denkt so eben auch Ägypten nicht einfach nur für sich, sondern meint den Fall »Ägypten« in seiner Bedeutung für die Welt in einer großen Krisenregion und darüber hinaus auch für Europa. Allerdings, und gerade wenn es um Kulturkontakt und neue kulturübergreifende Mitmenschlichkeit geht, kann Ägypten nicht primär unter den Gesichtspunkt »Islam« gestellt werden, auch nicht, wenn man die Religion in den neuen, immer stärker politisierten Formen geradezu als Mittel, als Kulturwerkzeug der ideologischen Fremdsteuerung entlarven möchte. Von innen betrachtet, transportiert das Religiöse durchaus auch die uralt eingenisteten Welten der Selbstbindung und der Aktivierung des Alltags. Massenarmut und Tradition stehen im Zusammenspiel mit Individualismus und Konsumkultur, auch darin bricht sich der neue »Humanismus« Bahn. Der gelebte und geglaubte »Islam« ist eben kein Abbild abstrakter Prinzipien, er scheint hier alles zu verkörpern, nur nicht das längst ausgeschaltete Erscheinungsmoment des autonom agierenden religiösen Intellektualismus. Der Diskurswert der Massenarmut ist anders als noch zu Zeiten der nationalen Bewegung gering. Also bleibt »Islam« als Selbstbindungsmoment im doppelten Sinne der gezielten, Prinzipien setzenden Fremdsteuerung, der man unterliegt, als auch im Bezug auf die Selbstvergegenwärtigung des im gelebten und habituell gefestigten Alltag handelnden Menschen präsent. Man mag diesen »Islam« als Pathos des »bloßen« Lebens banal nennen, allerdings, so scheint mir, ist er weniger aufgeheizt als das Pathos der politischen Intellektualisierung im Zeichen der »Islampolitik«. Ich fasse, hier in der Tat querdenkend, den »Fall Ägypten« als moderne gegenwartsbewegende Erscheinung zusammen und muss gerade deshalb aus dem Diskurs über »Islam und Moderne« ausscheren. Und auch das sei hier nachträglich angemerkt: Schon am Anfang meiner Vorbereitungen zu Ägyptische heilige Orte kam mir, einem Liebhaber
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der valdostanischen und piemontesischen Alpen, eine berühmte Studie von Robert Hertz (1913) in die Hände, die in einem engeren methodischen Sinne eine Reflexion über multiperspektivisches Denken in der Ethnologie in Gang setzte. Hertz’ Studie über den alpinen Lokalheiligen »Besse« hat mich insofern besonders beeindruckt, als hier eine offensichtliche methodische Häresie gegenüber der Tradition der Durkheim-Schule, gegenüber dem Prinzip, man könne »Emisches« nur durch das lange Liegen auf der Matte, auf der Bank oder in der Hütte, durch das »teilnehmende Beobachten« oder going native, erforschen. Hertz war als »Tourist« zu den Orten des St. Besse auf der Cogne gepilgert, sprach zu Pilgern, sprach viel auch mit »Lokalgelehrten« im weiteren Umkreis, und kam doch zu einem großartigen Ergebnis, das »innere« Verstehen der heutigen Wallfahrer erschließend, wie das »äußere« der Kirche und der öffentlichen Kultur. Es war Hertz’ Erfolg, eine Tiefenstudie zur »europäischen« Wirkungsgeschichte eines Heiligen vorzulegen, die sich aus einer Vielfalt von momentanen Zugängen und Perspektiven entwickelte. Hertz brach mit dem bis heute noch vorherrschenden ethnografischen Selbstverständnis und trat gewissermaßen »touristisch« aus dem konventionellen Forschungsfeld des teilnehmenden going native heraus. Besuche waren es, die ihn zu St. Besse führten, Relikte, Schriftstücke wurden identifiziert, orale »Geschichte« nachgeliefert. Meine Arbeiten – das wird im nachfolgenden zweiten Kapitel hier reflektiert – folgen insofern dem »St. Besse« von Hertz, als er mich zu ähnlichen methodische Freiheiten anregte. In den folgenden Betrachtungen bewege ich mich ebenfalls bewusst in der Vielfalt der Gegensätze zwischen mündlichen und schriftlichen Quellen, zwischen Beobachtung und Impression, zwischen Bild und Sprache, zwischen Kontakteffekten »moderner« Wissenschaft und lokalem Ritus, zwischen fluktuierenden, widersprüchlichen Ideen dessen, was lokale Authentizität noch sein kann, und was der Strom der Öffentlichkeit vorschreibt. Es kommt hier aber noch eine weitere Dimension hinzu: Wie werden diese Widersprüche in die Welt der Massen-(Industrie-, oder Konsum-)Kultur hinein transportiert? All diese Widersprüche und Fragen konnten in meinen Studien nur anspielend exploriert werden, sie sollen hier noch einmal offen gelegt und auch als solche bewusst gemacht werden. So aber ist – sicher entgegen so mancher Erwartung der Kollegen, und den Pfad der ursprünglichen Anregung, ja Anforderung verlassend – eher eine Sammlung von Residuen, Nachschriften und Reflexionen meiner Ägyptenarbeiten der letzten Jahre entstanden.
I. E INLEITUNG
»Herausforderung Ägypten« meint also zunächst nichts anderes, als aus der Logik des Einzelfall-Schicksals eines Landes herauszutreten. Ich unternehme hier den Versuch, das Land mit seinen sozialen und kulturellen Problemen einmal im Spiegel des Diskurses über die Herausbildung von globalen Kultur- und Regierungstechniken zu sehen. Weder die historischen noch die aktuellen Kräfte dieses Landes können allerdings darüber hinweg täuschen, dass es sich mehr um eine Kehrseite zentraler Prozesse dreht als um diese selbst: Bei aller historischer Größe, und der immer wichtiger werdenden Bedeutung ihrer menschheitsgeschichtlichen Repräsentanz, es dreht sich zuerst mehr um das Marginale als um das Zentrale. Gerade aber dieses Paradox interessiert: Die Aktualität der Kulturressource Ägypten im Spiegel des Diskurses von »Gouvernementalität« und Moderne einzufangen, macht es auch zu einem »Fall« derselben. Ägypten ist natürlich für »sich selbst« Fall genug, und doch kann es auch als »Fall« gelten, der für viele andere von Armut und Bevölkerungswachstum gezeichnete Länder steht: Staat und »nacktes« Überleben in modernen nichtwestlichen Massenbevölkerungen sind von zunehmender Bedeutung für die globale Moderne insgesamt. So gesehen ist Ägypten nicht nur ein Fall für globale »Gouvernementalität«, denn die innere, aus der Geschichte transportierte Kultur des »nackten« Subjekts: Der Macht vollständig ausgeliefert zu sein und doch so tun, als gäbe es sie nicht, ja, als könne es im Paradox des ständigen verbalen »Diskurses« mit der Regierung sich völlig ihrer Beherrschungslogik entziehen. Dem »Einzelnen«, dem in der »Naturalwirtschaft« seine Existenz sichernden Menschen, bleibt jenseits von staatlicher Ordnung die Illusion (ja manchmal gar der Ausweg) der magisch-mystischen Selbstbestimmung, er bleibt darin »wahrhaft nackt«, und in dem massenhaften, existentiellen Geworfensein gibt es keine »Irrenhäuser«, Magie und Mystik auslagernd zu bannen. So mancher Ägypten-Tourist hätte gern um die Armenmilieus einen Bogen geschlagen, sich gewünscht, dass um die »Lebenswelten«, denen er hier manchmal und doch meist nur am Rande begegnet, ein großer, undurchsichtiger Zaun oder ein Wall gezogen sei. Man wird sich zunehmend bewusst, dass das Bauen von Wällen immer schon ein Mittel der Behauptung von »Zivilisation« war, und dass wir uns darin nicht von den Alten so sehr unterscheiden. Nicht nur an der Grenze zu Mexiko und Palästina, sondern auch im geschichtlichen Prozess bis hin zu den alten Tempelwällen, Stadtfestungen und Burgen, den Limes und die Chinesische Mauer
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einbegriffen, finden wir diese Bauten als manifestierte kulturelle Trennwände. Ein touristisches Ereignis sind diese Lebenswelten »da draußen« auch dann, wenn man sie gewissermaßen bei der Einreise in die Metropole Kairo vom Flughafen kommend, an den Rändern der Autostraßen zu großen Teilen noch immer als »verbrettert« nur wahrnehmen kann. Bei der »Festung Europa« geht es ja bekanntlich auch um die »neuen Wälle« der Steuerung der Migrationströme. Wer aber zum Urlaub oder zur Stillung nostalgischer Bedürfnisse nach Ägypten reist, möchte sich dann im Konkreten nicht so gern um »Wälle« kümmern müssen. Ägypten hat Gegenwartswert als Reichtum eines in der Geografie und Historie liegenden ästhetischen Gestus. Fremdherrschaft und historisch tief eingewirkte Unmündigkeit haben – in nicht immer geraden Schattierungen – der »Musealisierung« des Landes einen Eigenwert sondergleichen auferlegt. Kein anderes Land der Regionen des geografischen Gürtels arider Zonen, von dem unter Bedingungen der globalen Moderne zu sprechen ist, hat sich so sehr von Innen her dem modernen westlichen Typ angeglichen, so sehr es immer auch auf seiner historischen Integrität beharrte. Hier sind jenseits von Industrialisierung, Urbanisierung, Individualismus und Massenkonsum Dimensionen der kulturellen Selbstvergewisserung angesprochen, die – wenn auch nur bedingt – das Thema »Islam« einbeziehen: Es ist das historisch tiefer verankerte Ägypten, das auch unter dem Gesichtspunkt des Willens zu neuer Humanität interessiert. Ich habe meine Betrachtungen deshalb auch mit Fragen nach dem »ästhetischen Utopismus« der Moderne unterlegt. Dieser, so scheint mir, verhilft Ägypten zu einem neuen modernen Diskurswert eigener Art. Das habe ich in einigen Deskriptionen der Landschaft des Manzala-Sees bei Port Said in meinem dritten Band zu Ägyptische heilige Orte (Stauth 2010) bereits anzudeuten versucht. Es wäre falsch zu glauben, das jetzt hinter uns liegende erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts habe sich in grundlegende Absagen an den modernistischen Willen zur Überwindung von Religion verstrickt. Die säkulare Gesellschaftsmaschine des modernen Kapitalismus und der Globalisierung dreht sich weiter, die daran gebundene Kraft des Liberalismus ist ungebrochen. Nur – anders als die Modernitäts-Soziologie glauben machte – ist auch »Religion« als Moment der »Authentizität« und als Ideen- und Kulturressource zugleich nicht einfach verschwunden. Das manchmal gefährliche, manchmal skurrile Spiel mit der Glaubensnostalgie wird, wie schon immer, weitergespielt, jetzt eben nur unter den blanken, zwanghaft direk-
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ten Vorzeichen kultureller Globalisierung. Dabei wird, so erkennt man, plötzlich »Ernst« gemacht. Es ist aber auch in den letzten dreißig Jahren durchaus deutlich geworden, dass religiöses Bewusstsein – selbst wo es »im Ernst« sich wiederzufinden versucht und dabei stärker in die Öffentlichkeit wirkt – keine eindimensionale Welle der »religiös« bestimmten Gesellschaftsentwicklung hervorbringt, es sei denn als religiös-symbolische »Authentizität« im Zeichen des Öl-Luxus, oder gelenkter Fremdbestimmung. Im Innern des neuen Gemeinsinns bleibt Religiosität das stumme, dem Zwang der Apparate und des Wirtschaftens unterworfene Leben, das formale Gewissen der Tradition und der Überlebensinstinkte, auch im Islam. Für das ländliche Ägypten habe ich das mit meinen Untersuchungen zu den Ägyptischen heiligen Orten zu zeigen versucht. Die vorliegenden Betrachtungen setzen hier nochmals an. Kapitel IV (Dorf) ist zwar ein Residuum der Anfangszeit der empirischen Arbeit, zeigt aber, trotz aller Verwunderung über die wachsende Bedeutung der materiellen Religiosität, dass es im Innern des sozialen Raums in der Marginalität nur um das Wiederfinden von Wert und um sozialen Rang geht, dass »öffentliche Religion« eine eher »sprachlose« Einrichtung bleibt – der Fluch eines Spielballs der Macht, kaum auf die Not der Alltags- und Instinktwelt reagierend. Kapitel III (Kontakt) ist Ergebnis aus der letzten Phase meiner empirischen Studien, vor allem der zweiten Studie (Stauth 2008). Sie greift dieses Thema nochmals von einer anderen Perspektive her auf. Am Beginn der Ägyptenforschungen standen aber die Überlegungen, dass man die gegenwärtige Lebendigkeit des sozialen und religiösen Denkens in islamisch geprägten Gesellschaften von den handelnden Personen, den von ihnen geleiteten örtlichen Institutionen und den über sie repräsentierten und durch sie zirkulierenden Ideen ausgehend untersuchen müsse (vgl. Stauth 2000). Diese Systematik sollte nicht durchgehalten werden. »Kontakt und Kultur« war vom Jahr 2000 an das bestimmende Thema. Ich wollte Kulturkontakt mit der westlichen Moderne in der realen Welt der örtlichen Bindungen und Vernetzungen der islamischen Akteure und Kulturinstitutionen manifestieren, Dogmengeschichte, Recht und Offenbarungsprinzipien sollten umgangen werden. Zu schwer schien es, den von den Bibelwissenschaften und Altertumsphilologien des 19. Jahrhunderts in die Islamwissenschaft transportierten und von dort in die inneren Richtungen und gegenwärtigen Interpretationen über das Wesen des Islams vordringenden Diskurs mit aufzunehmen. Es ist dies in islamischer Perspektive durchaus ein eigenes Interpretationsproblem, aber es ist auch
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im wissenschaftlichen Vergleich von außen gesetzt, in das »Eigene« selbst hineingetragen. Hier noch einmal an das früher zu »Islam und westlicher Rationalismus« (Stauth 1994) Erarbeitete anzuknüpfen, übertraf meine Kapazität. Es ging mir von Anfang an um manifeste Interpretation und gelebte Religion, Religiosität als Kulturpraxis, nicht um das vorgeprägte Thema der Zirkulation von Ideen oder vom sogenannten wahren Islam und seiner modernen Rationalisierungen. Kurz, es ging mir nicht darum, einen weiteren Beitrag zur gegenwärtig ganz in Mode gekommenen Erinnerungs- und Besinnungsgeschichte im Zeichen »des Islam« zu liefern, vielmehr sollte diese selbst zum Gegenstand gemacht werden. Nicht »Authentizität« als solche ist mein Thema, sondern die unter den gegenwärtigen, »bloßen« Bedingungen und Sichten des Kultur vergleichenden Austauschs sich entwickelnden lokalen Konstruktionsformen derselben. Die seit 2000 aus dem Mainzer Forschungszusammenhang2 gewissermaßen eigendynamisch sich entwickelnden und im Austausch mit Kollegen aus den Archäologien und den Altertumswissenschaften verstärkenden Anregungen bewirkten allerdings wieder einen stärkeren Bezug zu Geschichte und Geschichtsbewusstsein. Es ist einmal auf intelligente Weise vom »Provinzialismus des Heute« gesprochen worden. Mir scheint, dass die Strukturbedingungen des religiös motivierten Militantismus und Terrorismus, die ja durchaus auch – wenn nicht überhaupt gerade hier zuerst – in den Strategien der hegemonialen Politik spürbar werden, in der Tat zu hinterfragen sind. Hier ist Kulturkritik allerdings nicht nur eine Frage des modernen Geschichtsbewusstseins, sondern ein Problem der praktischen Lebensordnung und des Überlebens von vielen Menschen in der »Provinz«. So sind die fortlebenden »Mysterien des Lebens« und der »moralischen Ökonomie« nicht einfach nur Momente der »Geschichte«, sondern vor allem der sozialen Selbstorganisation jener verarmten Massenbevölkerungen, die in Marginalität lebend, auf sich selbst und auf »Wir« in Umwelt und Natur gestellt sind. Hier gehe ich einen Schritt weiter als in den Ägyptischen heiligen Orten und versuche die unterschiedlichen Formen des Präsentmachens von Geschichte in einen »weltkulturellen« Kontext zu stellen: Ägypten als den nur vage zu lokalisierenden »Fall«, der gewissermaßen meta-paradigmatisch einen Zugang zum Verständnis der sich globalisierenden Moderne 2 | Diese Anregungen können in Breite in den hierzu erschienen SFB-Sammelbänden zu Kultur, Sprache, Kontakt verfolgt werden (Bisang et al. 2004, 2005).
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eröffnet. Das Beispiel »Ägypten« signalisiert freilich dabei nur einen Pol unter vielen, vielleicht den für uns geschichtsträchtigsten. Es handelt sich um ein Ursprungsland der abendländischen Kulturentwicklung, und als solches ist es – in den affirmierten wie in den zurückweisenden Formen seiner Präsenz – zu aktualisieren und weiter zu reflektieren. Natürlich beschäftigten mich in der Ausgangslage Fragen des Zusammenspiels von moderner Ordnung mit den großen Projekten der Authentizitätssuche: Der »Pharao« und der »Prophet« sind eben keine toten Größen oder bloße schattenlose Denkmäler der Geschichte. Das Aktualisieren dieses Zusammentreffens in der Nachzeit der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat wird durch den Buchtitel einer Studie zum ägyptisch-islamischen Fundamentalismus (Kepel 1983) signalisiert, allerdings natürlich auch zu einem strategischen Angstpotenzial aufgebaut. Die Wirkungen, die vom »Fundamentalismus« ausgehen, machen einen Kulturbegriff obsolet, der nach der Raum- und Lebenseinheit eines Landes, einer Landschaft, eines Ortes, ja einer Tradition sucht. Hier war methodisch neu anzusetzen. Denn in der Paradoxie des Verhältnisses von Prophet zu Pharao, von Bruch und Kontinuität, von umwälzender Zerstörung und Wiederbefestigung kultureller Ordnung, ja, von gelebter Kulturkritik und Zivilisation, auch darin liegt die moderne Herausforderung Ägyptens. Aus diesen Überlegungen heraus schien es mir wichtig, den Kontext meiner Forschungssituation in dieser reflexiven »Nachschrift« einzubringen. Von Anfang an standen schlecht zu beantwortende Interventionen und Nachfragen auf der Tagesordnung, die sich immer wieder auf das gängige Muster hervorgehobener bipolarer Differenz-Momente bezogen. Schon »Kontakt« von »Islam« und »Moderne« unterstellt historisch-begriffliche Trennung und einen Gegensatz, der in methodischer wie in empirischer Hinsicht so heute nicht mehr zu erhärten ist. Die Denkgeschichte der modernen Islamwissenschaft etwa seit Ignaz Goldziher und C. H. Becker – in deren Tradition die führenden Islamwissenschaftler der älteren deutschen Generation, ich denke etwa an Josef van Ess, Angelika Neuwirth und Tilmann Nagel, stehen – weist aber in die andere Richtung und hebt immer nur diskursiv zwar anders gewichtete, aber im Grundprinzip »gleiche« Momente der Verankerung in Hellenismus und Monotheismus hervor. Im offenen und fließenden »Kontaktfeld«, das wir globale Moderne nennen, sind die Dinge zu komplex, als dass sie sich wie vielleicht noch in ethnologischen, linguistischen oder altertumswissenschaftlichen Projekten als von Tradition und Struktur her, also vom »Wesen« her, getrennte und zu
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unterscheidende und zugleich interagierende »Kulturen«, beschreiben ließen; zu lange schon bestehen und zu intensiv verlaufen noch gegenwärtig die vergleichenden Interaktionsmomente, zu schnell verschieben sich die »Kontaktformen«, Trennungslinien und deren Gewichtungen, historisch und gegenwärtig. Ich suchte deshalb von Anfang an nach exemplarischen Spannungsfeldern in Momenten der kulturellen Entwicklung und ihrer Präsenz im heutigen Ägypten selbst. »Kulturkontakt« als das bloße Aufeinandertreffen zweier, als homogen sich gegenüberstehende Blöcke gedachter »Kulturen« zu verstehen, hätte auch methodisch unmittelbar ein unbedachtes Zurückfallen in einen essentialistischen »Orientalismus« bedeutet. Die überragenden »irrationalen« Interaktionsmechanismen, die sich in der okzidentalen Beherrschung des Orients durchgesetzt haben, zum Tragen gekommen sind und übergreifend kulturelle Wirkungen hervorgerufen haben, wären unbeachtet geblieben. Ein eindringliches Beispiel für paradoxe Wechselwirkungen liefert vielleicht die von den Saint-Simonisten unter Enfantin, den fortschrittsgläubigen »bürgerlichen« Frühsozialisten, geforderte Monetarisierung der Fellachen-Fronarbeit beim Bau der barrages unter Muhammad Ali, die sich dann auch schrittweise umgesetzt hat. An den grundsätzlichen, kulturell eingeschriebenen Gegensätzen zwischen »Staat und Fellachen« hat dieser Prozess bis heute wenig geändert.3 Vielleicht ist das, was man in den 1970er und 1980er Jahren als Orientalismus bezeichnete, heute weniger überwunden denn je. Der soziologische Betrachter von kulturellen Spannungsfeldern muss der politisch und ideologisch konstruierten Duplizität der Verhältnisse zwischen den Kulturen allerdings selbst nicht Vorschub leisten. Entsprechend reduziert sich in meinen Betrachtungen das »Kontakt-Problem« auf Wirkungen, die sich aus dieser konstruierten Duplizität ergeben, nicht auf ein Nachbeten, Konstatieren oder Weiterbauen derselben. Insofern hoffe ich, auch hier ein kritischer »Querdenker« zu 3 | Vgl. hierzu den schönen Text von Sebastian Gießmann »To Canalize is to Colonize« (Gießmann 2010). Freilich hat sich diese Form der »Fellachen-Fron« noch unter Nasser und Sadat erhalten, nun als mager bezahlte Sechswochenschichten »freier« Landarbeiter, die man jetzt »Reise-Arbeiter« (´umâl al-tarahîl) nannte. Erst in den 1980er Jahren transformierte sich dieses System schrittweise in die neuen Regime der Migrationsarbeit in der Petrodollar-Region am Persischen Golf. Die aktuellen ländlichen Lebensformen, die unter »Islam« figurieren, sind ohne diese Entwicklungen grundsätzlich nicht zu verstehen.
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bleiben. Als solcher konnte ich mich – die heuristische und vielleicht auch ideologische Produktivität der Frage keineswegs ausschließend – auf das formal logische »Trennen« von »Islam« und »Moderne« in primär Gegensätzliches nicht einlassen. Die Abrisse und Stücke dieses Buches folgen – so »unwissenschaftlich« sie als »Nachschrift« nur sein wollen – dennoch einer gewissen Matrix, die sich aus der Negation von bloßem Beschreiben von Feld- und Ortssituationen, in denen »Kultur-Kontakt« fest zu machen wäre, ergibt. Weder »Islam«, wie er praktiziert wird, ist eine bestimmte, ausschließende, abgeschlossene »Kultur« noch die »Moderne«. So können nur die Folge und die Verflechtung der methodisch anvisierten Problembereiche genannt werden, um einen Faden, der sich auch durch die folgenden Textstücke zieht, wenigstens im Ansatz zu liefern. Ich will Ägypten als Sonderfall dreier allgemeiner Dimensionen von Kultur und globaler Moderne reflektieren: Erstens, man kann nicht von der Tatsache der globalen Umschließung allen kulturellen Lebens durch die moderne Massenkonsumkultur absehen, auch nicht, wenn man von »Kultur-Kontakt« spricht. Deshalb stoßen meine Überlegungen und Beschreibungen immer wieder auf die massen-, industrie-, und konsum-kulturelle Durchorganisation auch der marginalen Bereiche der ägyptischen Gesellschaft. Es ist auf die Folgen hinzuweisen, die dies für die lokalen Bedingungen sozialen und kulturellen Wandels hat. Noch im abgelegensten Dorf gibt es keinen Winkel, der davon nicht erfasst ist, wo nicht Massen- und Konsumkultur Dinge, Konventionen, Traditionen neu erfunden hätte, und wo vorgegebenes kulturelles Selbstverständnis nicht dauerhaft gebrochen wäre. Das Umformen von Dingwelt, Habitus und Vision ist beständig und unumstößlich. Das ist kritisch zu berücksichtigen, wenn von »Zivilisation« und »Differenz«, ja, von »Authentizität« gesprochen wird. Damit ist zweitens auch das weite Feld der massen- und konsumkulturellen Komponenten in der Bildung und Typisierung der modernen Handlungssubjekte zu berücksichtigen. Moderne Subjektbildung – und »religiöser Fundamentalismus« ist ein Ausdruck davon – spielt gerade auch unter den »exkludierten«, ja, den marginalsten Armutsbedingungen eine Rolle. Gerade hier spitzt sie sich zu einer Frage der kulturellen Selbstbehauptung zu. Es wäre naiv, den Einfluss zu unterschätzen, den die vielen politischen Reaktionen auf »Armut« dabei gewinnen. In Ägypten ist dieses Feld etwa der reaktiven Affirmation des damals noch als Armutsreligion gehandelten
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Islams früh schon auch unter Philosophen Gegenstand. Die Versuche, den modernen Existenzialismus als Ideenverwandten des Islams und der islamischen Philosophie zu bewerten (z.B. bei den ägyptischen Philosophen ´Abdarrahman Badawi und Hasan Hanafi), ist nur ein Beispiel dafür, wie tiefreichend das Problem dieses Spannungsfeldes liegt. Das schon im Islam als »freies« gedachte Ich-Sein galt als der Gegenpol zum »westlichen« Zweifeln, zum innengewandten Ich-Suchen, Ich-Werden-Wollen etc. Für die mediterrane Stimmungslage der frühen 1960er Jahre war wichtig, dass die moderne Literatur auch in Europa »wahre Existenz« in den lebendigen Figuren der Armutskulturen (bei Camus, Gadda, Pasolini z.B.), der Dörfer und »Borgate« aufgriff. Hier lagen auch die Wurzeln für die gewissermaßen anti-rationalistischen »Freidenker« und die Befreiungsästhetik der 1960er Jahre. Für Ägypten braucht man nur an Musik (Umm Kulthum), das Netz des neo-realistischen Films und in der Literatur an den mit ägyptischem Pathos und symbolischer Distanz ausgestatteten Naguib Mahfuz zu denken. Zu beachten ist also: Auch wenn an unterschiedlichen, noch über Religion vermittelten Handlungs- und Subjektvorstellungen gearbeitet wird, gibt es über das Mittelmeer hinweg die gewachsenen Vermittlungen des modernistischen Seins- und Emanzipationsdenkens. Die Suche nach Autonomie und Authentizität des modernen Subjekts ist eine globale Bedingung und als solche zu bedenken, wenn man von »Kultur-Kontakt« noch sprechen will. Schließlich bleibt bei aller Massen- und Konsumkultur dem »neuen Subjekt« im ländlichen Raum, ja, selbst für große Teile der städtischen Bevölkerung unter entsprechend modifizierten Bedingungen freilich, die naturalwirtschaftliche Subsistenz-Produktion eine bestimmende Form des Wirtschaftens, ja, des Lebens überhaupt. Es mag zynisch klingen, aber ich stelle fest, dass es sich dabei – global gedacht – nicht nur um Not, nicht nur um Armuts- und Überlebensproduktion – wie wir das früher einmal betrachtet haben (vgl. Evers et al. 1981) – handelt, sondern auch um »Geschichte«, ja, um eine »ästhetische« Dimension der globalen Moderne selbst, nicht nur um »Substitution« des Kapitalismus, sondern um ein – freilich illusionäres und nostalgisches – Insistieren in Lebenswert und Gestalt. Das unter den neuen Eliten kursierende Wort vom »Öko-Lifestyle« scheint mir diese Ambivalenz zwischen Überlebensnot und Sehnsucht nach ästhetischer Ganzheitsgestaltung des Lebens widerzuspiegeln. Und in der Erfahrung dieser Ambivalenz – so scheint mir – hat auch der aufgehobene »Dritte-Welt-ismus« neue Sehnsüchte freigesetzt. Zu fragen
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wäre, wie oben schon angedeutet, ob nicht bereits über ein dichtes Netz des Kulturaustauschs im Zeichen des Existenzialismus und Neo-Realismus der 1950er und 1960er Jahre von Grundmustern dieser Ambivalenz von Armut und Schönheit gesprochen werden kann. Wir finden diesen Zusammenhang von Armut und Schönheit in den großen ägyptischen Filmen des Neo-Realismus ebenso wie in China und Indien entwickelt. Das waren große Momente einer globalen modernistischen Kultur, die bis in die Dörfer kam, aber wenig später schon unter dem Einfluss von Hollywood und den »nationalen« Filmindustrien in einer Welt des SoapOpera-Stils unterging, in der Armut als Symbol von Dummheit propagiert wurde. Darf man sich wundern, dass die schrecklichen und strategisch verwerteten, neuen Glaubensnostalgien, mit denen hier reagiert wurde, als Befreiungsakte verstanden und schließlich auch so verkauft wurden? Zu fragen wäre also drittens, wie und inwieweit der am antiken »Körper« geschulte ästhetische Utopismus des Seins nicht auch das Spiel um Anti-Modernismus und Moderne beherrschte und beherrscht. Das schöpferische Sehnsuchtsgebaren und den gegenwärtig praktisch und visionär wirksamen Gestaltungswillen im Lebendigen, über Archäologie und Anthropologie überhaupt hinaustretendes modernes Leben, in all jenen Welten praktisch zu erfahren, die uns als Trennung, Grenze, »Differenz« vorgezeichnet zu sein scheinen – darin zeichnet sich der neue global vertretene ästhetische Wille aus, der sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts Ausdruck verschafft. Man verzeihe mir meine obskuren – wie ich meine allerdings ausdrucksstarken Beispiele: Unter den »Modernen« ist mir Pier Paolo Pasolini der Held, der solche Trennung als aufzuhebende beschrieben, abgebildet, gelebt und erlitten hat, man lese das zum Beispiel auch in Petrolio (Pasolini 1997) nach. Ähnliche Lebenstypen einer marginalen, man würde heute sagen trans-nationalen Welt zwischen New York und einem Bergdorf am Gardasee hatten schon D. H. Lawrence fasziniert. Noch im Habitus des imperialen Engländers verhaftet, verwunderte ihn die Lebenskraft dieser Unterschicht-Italiener im Italien des frühen 20. Jahrhunderts, in die er sich einzufühlen versucht (Lawrence 1960).4 Camus liefert in seinen Romanen und Erzählungen Schönes und Erschütterndes zugleich von algerischen Stränden. Im fremden und innerlich Verwandten, im fi4 | Besonders eindringlich hier sind seine Beschreibungen von »San Gaudenzio«, »The Dance« und »Italians in Exile« und die Exemplare à la »Il Duro« und »John« (Lawrence 1960: 88-147).
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gürlichen menschlichen Aufeinandertreffen, in Ansicht und Gestalt vermittelt sich das ästhetische Empfinden als Tiefendifferenz der »Kulturen« und der Wille zu ihrer Aufhebung zugleich. Hier war in der mannigfaltig wahrgenommenen Begegnung mit einer Instinktwelt, zu der man nicht zu gehören schien, eine neue Motorik der kulturellen Entfaltung entstanden. Möglicherweise verteilt sie sich über die unterschiedlichen Gewichtungen zwischen »arm« und »reich«, freiem Leben und »stählernem Gehäuse« des bürokratischen Rationalismus. Die Ambivalenz zwischen Existenz-haben-müssen und Existenz-haben-wollen. Fasst man die Bewegungen, Begegnungen, »Einfühlungen« und modernen Explorationen des Anderen zusammen, und bezieht sie auf den ästhetischen Totalismus des 20. Jahrhunderts, dann – so der hier unterliegende Gedanke – kann dies nicht ohne Folgewirkung für das Verständnis der globalen Moderne bleiben. Ägypten ist auch hier nur ein meta-paradigmatischer »Fall«. Pharaonismus, Islam und Moderne spiegeln im »Sonderfall Ägypten« – gewissermaßen auf ein Wort verkürzt – die breitere Bedeutung wider, die Masse, Subjekt und (geformte) Gestalt als Komponenten des globalen modernen Gestaltungswillens beinhalten. Das Paradox dieses »Falls« liegt nicht in den gängigen »Kulturbildern«, die wir von pharaonischer Geschichte, islamischer Religion und moderner Intervention haben, sondern in der Tatsache des Typs des menschlichen Daseins, das die Bevölkerungsmehrheit in Ägypten verkörpert: der Lebenstyp, der auch in den beständigen Variablen seiner auf das Unmittelbare reduzierten Existenzform ein massenhafter »globaler« Kulturtyp ist. Es handelt sich um eine Überzahl von Menschen in einer sozialen Gruppe, die vom »Ressentiment der Vorstellung des Nichtdazugehörens« (zur modernen Kultur, zu den Eliten der Fremden) geprägt ist. Es ist dies zugleich ein Kulturtyp, auf den sich die modernen Regierungsapparate »gouvernemental« beziehen. Wie zur Abwendung einer Bedrohung, mit dem Versprechen der Überwindung der »untermenschlichen« Lebenslagen, ja in der Rhetorik der Minderung der Gefährdung kultureller Auflösung, werden unzeitgemäße »Überallesstaate«, »Kirchen« und »NGOs« unterhalten, die zugleich einem Zu-Sich-Selbst-Kommen dieser Gruppe die Grenzen setzten. Man sollte sich dieser Paradoxien bewusst werden: Moderne Partizipation und Formen der Anerkennung und Subjektbildung bedeuten nicht nur »Emanzipation«, sondern auch kulturelle »Versteinerung«. Das ausbrechende, negative »Nichtdazugehören«, das in Graden Selbstrepräsentation ermöglichen könnte, wird verhindert, ihm stehen »Staat« und »Staatskirche« entgegen. Gleichzeitig wird die tradierte
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(versteinerte) Kulturgestaltung zum Gegenstand äußerer Kulturbedürfnisse (Sonnenmenschenkult; Massenparadies; Ganzheitsstil) des musealen, modernen Geschmacks. Auch dies ist eine Dimension des »Falls« als Paradox: Eine umgekehrte Form des Ressentiments des »Nichtdazugehörens« schlägt sich Bahn. Auch das »Fremde«, das »Fremdstämmige« bleibt als elitäres Herrschaftsmoment präsent (im Sinne Nietzsches als das Ressentiment der allgemein Hinblickenden, der Desinteressées). Auch dieses setzt sich schöpferisch um, behauptet sich als funktionale Differenzhaltung gegenüber dem ganzen menschlichen Sonnenglück, das ja, wie man dann bei den großen menschlichen Katastrophen sofort weiß, so verhängnisvolle Folgen nach sich zieht. Sicher wäre das alles im Vordergrund eine unzeitgemäße Betrachtung, ist sie deshalb aber weniger realistisch? Und doch behalte ich mir vor, sie im Hintergrund zu führen. Nun, mir liegt daran, auf diese Dimensionen des im unterliegenden Hintergrund meiner Betrachtungen wirkenden »Falls« hinzuweisen. Diese drei, nur hier so vorrangig herausgestellten Komponenten sind wichtig, weil sie zentrale Momente der »Globalisierung« der Kultur anzeigen. Vielleicht können sie, indem sie Wandlungs- und Strukturelemente bezeichnen, gewissermaßen auch als systemisch-systematische Anhaltspunkte der vorliegenden Betrachtungen gelten. Es handelt sich um Mischungen innerer und äußerer Proletarisierung, die zugleich universelle Dimensionen der modernen Massen-Kulturproduktion bezeichnen. Sie lassen sich – wie ich glaube – in »Ägypten« am offensichtlichsten darstellen und repräsentieren Momente jener sozialen Konfliktpotenziale, die die Lebenspraxis von Milliarden von Menschen am entschiedensten tangieren. 2 Islam, Gouvernementalität, Post-Säkularismus: »Islam« ist im gegenwärtigen Spiel der globalen Mächte zu dem geworden, was man mit einem modischen Wort als Politiktechnik bezeichnen könnte. Das Bild von einem sich ständig wandelnden Phantom der faktischen und potenziellen Bedrohung geistert durch die Weltpolitik. Die Zeit der existenzphilosophischen Möglichkeiten und des Freiheitsintellektualismus sind vorbei. Das kulturelle Leben bereichert sich nicht mehr am Austausch, am Verständnis, an Daseins-Selbsterfahrung in der Armutslebensform der Anderen. Es ist deshalb mit »Islam« nicht mehr zu spaßen, das war nicht immer so, daran sei erinnert. Als es darum ging, aus den Ruinen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg eine kulturelle »Wandlung« einzuleiten, eine authentische europäische Kultur neu zu erfinden, hat der hier eingreifende Philosoph
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Karl Jaspers das Wort »Islam« kaum in den Mund genommen, es ging um Öffnung des Christentums, ja, aber andere Bestände etwa der weltoffenen Kommunikation waren wichtig. Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (Jaspers 1952) denkt den Islam als historische Kraft nicht und kennt ihn, wie überhaupt die Kulturen der Anderen, nicht als Bedrohung. Erst mit dem Ereignis der Islamischen Revolution im Iran 1978/79 erhob man »im Westen« den »Islam« zum historischen Subjekt und damit zugleich zum Objekt des herrschenden bürokratischen Rationalismus. »Islam« selbst erwuchs zu einer solchen »Politiktechnik«, zu einem intra-kulturellen und transnationalen Regelungs- und Beherrschungsmittel. »Gouvernementalität« und Religion – diesen Bezug des französischen Philosophen Michel Foucault umschreibt, wenn heute auf Religion angewandt, keinen neuen Tatbestand. Nur in der Zeit vor der »islamischen Revolution« im Iran hatte man geglaubt, Religion sei, wenn nicht insgesamt schon auf Restelemte gewissermaßen privater oder »lebensweltlicher« Vorlieben von »Glauben« reduziert, so doch, als politisches Instrument »überwunden«. Michel Foucault hatte allerdings – fast meint man, er wäre der Perplexität der Situation damals nicht gewachsen gewesen – als er mit iranischen Revolutionsführern über den revolutionären Aktivismus im Zeichen der islamischen Religion sprach, gerade diesen technischen Aspekt der Religion durchaus zu umgehen versucht. Der überraschende »moderne« Aspekt, den er in dieser außergewöhnlichen Situation hervorhob, war die sowohl von ihm selbst als auch von den Revolutionären immer wieder ins Spiel gebrachte Sonderbedingung des »Islam«, die im Prozess der Revolution selbst und mit der rituellen Beglaubigung ihrer »Märtyrer« vertreten wurde: die unabdingbare »politische Spiritualität« dieser Religion. »Foucault und die iranische Revolution« könnte als das Extrembeispiel für das Ende eines auf Komplementarität angelegten westlichen Kulturaustauschs mit dem »Islam« bezeichnet werden.5 Mit der 1981 folgenden Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat setzt der Ernst des rationalistischen Gouvernements, der doppelte Fundamentalismus von islamischer »Revolte« und 5 | Der Leser möge mir geneigt bleiben und mir auch hier verzeihen, dass ich in diesem Zusammenhang nur auf frühere meiner Arbeiten hinweisen will (Stauth 1991, 2006). Foucaults Texte aus der Iran-Zeit sind nun aller Welt zugänglich, so auch die spärlich sich damit beschäftigende Literatur, die mitnichten bereit ist, die Iran-Erfahrung als einen der Bausteine für die Beschäftigung mit der »BioPolitik« zu erkennen.
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»Islampolitik« (Regieren mit oder durch den Islam) ein. Alle Maßstäbe der politischen und gesellschaftlichen »Kultur« in der Region wurden neu gestaltet. Foucault hatte aber lange schon aufgehört, sich mit »Orient« und »Islam« zu beschäftigen. Er setzte seinen departmentalisierten Blick auf den »Okzident« fort, 1976 hatte er die Problematik der Bio-Macht entwickelt (Sennelart 2004: 527), er griff diese nun wieder auf. »Bio-Politik«, die staatliche Körperverwaltung, »Macht über das Leben« war als bestimmendes Moment der europäischen Geschichte zu beschreiben, nicht aber auf kulturübergreifende Fragen und Perspektiven hin ausgelegt. Frankreich, und das bedeutet für die französische Philosophie immer schon Europa, beherrschte nun ganz seinen programmatischen Entwurf. So könnte es scheinen, dass die mit dem »Iran« verbrachte Zeit an Foucaults Denken völlig einflusslos vorbeiging. Foucaults Freunde und Kollegen in Paris, nämlich die öffentlichen Intellektuellen oder »Philosophen« Frankreichs, hielten denn auch die Behauptung der »politischen Spiritualität des Islam« für eine der »orientalistischen« Nostalgie des Autors entsprungene Floskel – als ein Zeichen der Unschuld Foucaults mit orientalischen Dingen umzugehen. Sie behaupteten diese Unschuld des Philosophen sei von seinen Gesprächspartnern in Teheran zielbewusst und umso entgegenkommender aufgenommen und weiter verfolgt, ja instrumentalisiert worden. Wer könnte heute behaupten, dass André Glucksmann und Co. darin unrecht hatten? Viele Fragen, die Foucault seinen Gesprächspartnern in Teheran stellte, entstammen nun dem bereits vor dem Winter 1978/79 entwickelten Komplex der Bio-Macht. Schon beginnend mit dem Erdbeben von Tabass behauptet er, dass der Niedergang der Legitimität der organisierten Macht des Staates eigentlich schon durch das Naturereignis erfolgte. Der Staat konnte vor diesem, den Menschen Gotteswillen verheißenden Ereignis, weder schützen noch leistete er die erforderliche Hilfe. Die sich dann allerdings in den Diskussionen entwickelnde Frage nach der »politischen Spiritualität« des Islams und seinem Potenzial eine nach-revolutionäre Basis-Demokratie im Iran zu regulieren, diese Frage gehört bereits zu dem Komplex einer neuen Frage nach der »Leitung des Selbst durch das Selbst in ihrem Zusammenhang mit den Beziehungen zum Andern« und zur »Ethik des Subjekts«. Diese ist dann aber schon in den sich anschließenden Pariser Vorlesungen in jeder Hinsicht auf nichts anderes mehr ausgerichtet als auf okzidentale Entwicklungen. Es kann nicht anders gedeutet werden, als dass von 1978 an die Thematik der »Körper und Bevölkerung«
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im »Iran« parallel mit der »Genealogie der Bio-Macht« im 18. Jahrhundert verlief. Dies manifestiert sich gewissermaßen in den verschiedensten Beschreibungen der Trauer-Demonstrationen, der »bloßen« Hände, der reversiven medialen Kommunikation (Foucault hatte die Kassettenrecorder ja auch bei den Vorlesungen vor sich auf dem Tisch, so wie er sie auch in Teheran unter den Demonstranten vorfand), in den Zeichen der »politischen Spiritualität« des Islams. Es bedurfte dafür auch des historischen Gespürs der Orientalisten Corbin und Dumézil, über das gewissermaßen aus dem Hintergrund des Collège de France heraus die gegenseitigen Kontaktmomente Foucaults mit dem Iran, etwa über die Entourage von Khomeini und Ali Sharia'ti und der »Zweiten Linken« in Paris, geschärft wurden. Das Iran-Projekt, wie überhaupt das der reportages des idées, fällt in eine Zeit des »Bemühen um die Teilnahme an einer Erneuerung der linken Kultur« (Sennelart 2004: 531). Seien es nun die auf Macht und auf eine utopisch zugespitzte Lebensform im Diesseits ausgelegte Religion, die zu beobachtenden Tendenzen der Totalisierung, seien es »Rationalisierungen«, wie Max Weber das noch nannte, seien es Kopie-Exemplare westlicher Manien, seien es jene Prozesse der Essentialisierung und Integrität der kulturellen Eigenheit des Iran (shi`a), alle diese Momente treten als revolutionäre »Staatsraison« auf, als die von Foucault abstrakt bezeichneten Momente der modernen »Gouvernementalität«. Heute, nach mehr als dreißig Jahren der politischen Praxis im Zeichen der »islamischen Revolution«, wird man kaum davon abkönnen zu sehen, dass sich »religiöse Spiritualität« vertechnisiert oder auf banale Weise wieder in die religösen Institutionen hinein zurückdifferenziert hat. Man wird vom chador – anders als in westlichen Diskussionen über das Schleiertragen – kaum mehr von politischer Spiritualität des religiösen Ausdrucks sprechen können. Oft ist ja schon der Schleier selbst zu einer Frage der Qualität von Bildtechnik geworden. »Islam« ist nicht mehr eine besondere, sondern eine banale, allgemeine »Politiktechnik«, und sei es nur, weil sie als solche totalisiert, im Innern und im Äußern so erscheint und von »Freund« und »Feind« so wahrgenommen wird. Im Beharren auf ihrer »Integrität« hat diese Religion, wie andere zuvor, ihre Integrität verloren und ist – ganz im Gegensatz zu ihrer Behauptung – zu einem internationalen politischen Funktionsmechanismus verkommen: eine Herausforderung des modernen »Liberalismus«, wie sich umgekehrt der »Liberalismus« schon immer auch durch selbst-beharrende »Religion« herausgefordert sah. Hier das Spiel mit »Spiritualität« und »Fröm-
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migkeit« zur Durchsetzung neuer Ordnungskollektive der Massengesellschaft, dort das Spiel mit no excuses des neuen »Hardcore-Liberalismus«, wenn es um – oft selbst religiös inspirierte – »Performanz« geht: Es ist wahr, neue »Ideen« zur »Aufhebung« sind auszumachen und »Islam« und »Religion« haben überhaupt aufgehört, das »Pulverfass« zu sein, als das Foucault es noch im Iran beschrieb. Die Dramatisierung dieser Facetten des Tages der aktuellen Medienpolitik bis hin zur Ankündigung eines neuen Zeitalters des Post-Säkularismus ist nun leicht selbst als ein Streich im Winde der Tagespolitik und manifester, säkular-strategischer Machtinteressen zu identifizieren. Das Stück von der politiktechnischen Funktion von Islam und Religion im aktuellen kulturübergreifenden Diskurs sollte man dennoch im Kopf behalten, denn fast alles, was zum Thema »Islam und Moderne« geschrieben wird, bewegt sich noch immer im »kulturtechnischen« Rahmen der uralten »Islampolitik«. Dass der »Islam« es ist, dem in der »europäischen« Politikgeschichte diese Rolle des ausgelagerten »Gegners« zuwächst, hat viele Gründe. In der objektbezogenen Strategie »globalen« Wandels haben sicher wirtschaftliche Faktoren (Öl, Energiegewinn) ebenso wie kolonialgeschichtliche (Orientalismus, Emanzipation und Anerkennung) und religionsgeschichtliche (monotheistische Offenbarungsreligion und darüber die Nähe zu Judentum und Christentum) eine große Bedeutung. Vor allem aber spielt das »okzidentale« Selbstbild eine Rolle, denn mit der modernen Aufklärung und Säkularisierung der Politik schien das Christentum als offenes Instrument der Politik weitgehend abhanden gekommen und kann jetzt im soziologischen Vergleich mit dem »Islam« selbst eine Erneuerungschance sehen. Wer hier die Zeit der Post-Säkularität ankündigt, kann nur Erneuerung des Christentums meinen. Die Besinnung auf die Austauschformen zwischen den Religionen kann nur gelingen, wenn kritisch die ungleichen Bedingungen der Verteilung struktureller Macht einbezogen werden. Leitbilder der Kulturkompetenz im Umgang mit dem »Anderen« sind nur dann akzeptabel, wenn sie zugleich die Kompetenz zu relativer Disposition des »Eigenen« mit sich bringen. Nur so wäre die Kontakt-bestimmte Moderne zu einem humanen Moment globaler Kultur zu gewinnen. Das schließt die doppelte Tauglichkeit von »Liberalität« ein. Wir können uns also der »Wahrheit« der »Politiktechnik« nicht entziehen, doch es ist hier nicht Anliegen, die immer bedeutsamer werdende globale Dimension von Gouvernementalität im Gegenspiel von Liberalismus und Islam zu erschließen. Sie kann hier nur angedeutet werden, und dabei
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sind mir Sätze wie »[d]ie Gouvernementalität darf nicht ausgeübt werden ohne eine ›Kritik‹, die viel radikaler ist als eine Prüfung der Optimierung« (Foucault 2003: 1022) durchaus präsent. Wichtig scheint mir auch der Hinweis, dass weltweit derzeit weit mehr als eine Milliarde Menschen als »Muslime« gelten, die vorwiegend in jenen Zonen des Globus leben, die zunehmend von Klimawandel bedingten Naturkatastrophen bedroht sind. Es gibt sie, die Muslime, eben nicht nur als Instrument (wie auch diejenigen behaupten werden, die im »Islam« selbst vornehmlich eine Politiktechnik sehen). »Islam« ist auch ein Prozess im Leben dieser Menschen, eine Komponente der Gestaltung von Landschaften und Dingwelten, von Charakteren und vor allem aber auch von lebendiger Vergegenwärtigung von Geschichte, und auch darin »Subjekt«. Für meine eigene Arbeit galt und gilt, dass man etwas über dieses »Subjektivische«, die praktische Lebensgestaltung der vielen Menschen, wissen muss und nicht nur über die großen »Feinde«, Dogma, »Tradition« und daran hängende »neue« Ideen, reden sollte. Fragt man sich, mit welchen Ländern und Gesellschaften wir es zu tun haben, schließt sich der Zirkel dieses Arguments: Von den Molukken im malaiischen Archipel bis hin nach Marokko und Westafrika, vom Herzen Afrikas bis ins Zentrum Asiens zieht sich ein Gürtel von Ländern mit vorwiegend muslimischen Bevölkerungen. Im Kern liegen jene großen Flusstäler der ariden Zonen, in denen sich die ersten »Zivilisationen« gebildet hatten, die Altorientalischen Reiche. Heute ist der Anteil der in Armut lebenden und von Analphabetentum geschlagenen Menschen in vielen dieser Gesellschaften besonders hoch. Auch unter dem Gesichtspunkt der Universalisierung der westlichen Lebensweise – oft genug ist sie gewünscht, aber nicht bezahlbar – handelt es sich um klassische Krisenregionen. Wenn von Islam als einem Moment globaler Politiktechnik gesprochen wird, darf auch nicht die historische Semantik vergessen werden. Wie sich muslimischer Zeitgeist in die im politischen Alltagsgeschäft korrelierten Fragen von Krieg und Wirtschaft einpassen lässt, hat schon in Zeiten der Kolonialherrschaft den »Islamdiskurs« bestimmt, wie auch die so aktuell scheinenden Fragen nach gesellschaftlichem Wandlungspotenzial und nach neuen »Ordnungskollektiven« in den Milieus der Massenarmut.6 6 | Ich habe auf dieses Problem mit dem dritten Band der Reihe Ägyptische heilige Orte (Stauth 2010) hingewiesen.
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Die Semantik der Geschichte der kolonialen Beherrschung dieser sozialgeografischen Zonen hat sich also gewissermaßen fortgebildet. Handelte es sich bei »Islampolitik« unter den Orientalisten und Islamwissenschaftlern des beginnenden 20. Jahrhunderts vor allem um ein eingeführtes Politikmittel der kolonialen »Habenichtse«, die Niederlande und Deutschland (Snouck Hurgronje im Fall der niederländischen Kolonie Indonesien; Carl Heinrich Becker im Zeichen des Bündnisses mit dem Osmanischen Reich für Deutschland am Beginn des Ersten Weltkriegs), so hat sich auch darin eine Art der Universalisierung vollzogen, wenn auch in den Tausenden von Kongressen und Workshops, die jährlich mit der Herausforderung »Islam« zu tun haben, von »Islampolitik« und ihrer Geschichte kaum noch die Rede ist. Auch darauf sei hingewiesen. 3 Rationalismus und Authentizität: Seit im Geist der frühen Soziologen, wie Herbert Spencer, Max Weber und Georg Simmel und dem Franzosen Emile Durkheim, der Begriff der »Moderne« für einen neuen Denk-, Gesellschafts- und Kulturtyp, in Wirklichkeit aber auch für einen neuen Menschentyp einzusetzen war, hat man zunehmend erkannt, dass das Werk dieser so verstandenen neuen Seinslage der Menschheit nicht nur auf den Bruch mit überkommener Tradition und konventionellem Geschichtsverständnis hin ausgerichtet war. Von den Anfängen der Aufklärung an besteht moderne Kultur nicht nur aus emphatischem Heraustreten aus der »Geschichte« und Ausgrenzung von allem Nicht-Modernen, sie schließt nicht einfach die sukzessive Zerstörung der Tradition ein, vielmehr ist sie vor allem auch von einem Drang nach Authentizität beherrscht, der »Geschichtsbewusstsein« fordert und sich, die vielverzweigten Erfahrungsspuren der ganzen Menschheit sammelnd und klassifizierend, der Welt-als-Ganzes annimmt. Das Selbstverständnis des modernen Historismus wurde als das liberale Fortschrittsgewissen der Menschheit installiert, gewissermaßen eine Eigenlogik der Geschichte zu mehr Befreiung und Entwicklung, eine Sachlogik, die ihre eigenen Selektivitätsmuster nicht mehr hinterfragt, sondern sie in einem zwanglosen Mechanismus des Weiterschreitens begreift. Dieser Logik folgt auch das »Ethos der Authentizität« (Taylor), das gewissermaßen die Vielfalt der Welt in einem Akt der moralisch-logischen Reinigung den historischen wie den gegenwärtigen Figuren und Charakteren, ja ganzen Kulturen einen Platz im »Museum« der Moderne anweist. Es ist dies das »Museum« der sich zunehmend als Ganzes verstehenden Menschheit. Die »Musealisierung«, um ein Wort
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von Karl Jaspers, dem Philosophen der Wandlung nach 1945, zu gebrauchen, wird hier nun erst wirklich als der eigentliche Motor der Weltpolitik in der globalen Moderne verstanden (vgl. Jaspers 1952). Für die praktische Musealisierung gilt, dass sie in der Tat auf die Sachlogik baut. Aber neben der wissenschaftlich begründeten Sachlogik treten auch andere Faktoren der Selektivität auf, die wir durchaus als irrationale bestimmen können: Macht, Nähe zum Ursprungsmythos, die immer selbst zum Mythos wird, historische Momente und Ereignisse des Aufgreifens und Nahebringens, fast möchte man vom Paradox der kollektiven Idiosynkrasien sprechen, die sich auch durch die Geschichte als Ganzes ziehen.7 Wenn, wie zunehmend gefordert, die Dingwelt historisierend in diese Form des modernen Zugriffs einzubeziehen ist, dann sind es nicht nur die Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern auch die Natur- und Lebenswissenschaften, die ihre gegenwärtige Bedeutung aus dem modernen »Traum der Authentizität« (Adorno) ziehen. Ob wir nun in den »tristen Tropen« weinen oder an den bleibenden Türmen von New York und Frankfurt uns ergötzen wollen, ohne die »Wallfahrt«, die Suche nach dem Authentischen, geht es nicht. Die Moderne bleibt dadurch auf erstaunlich intensive Weise mit dem Repertoire der verschiedensten Würfe des Alten, Neuen und der nackten Dinge verstrickt. Der moderne Motor der »Authentizität« verweigert sich jedoch der gemeinhin gängigen Vorstellung von einer tintenklecksartigen, quasi eindimensionalen Ausbreitung der Moderne. So total der Anspruch der Moderne als eigenständige, abgehobene, neue und zugleich nachhaltig währende Kultur, ja Zivilisation, in ihrer gegenwärtigen Repräsentation auch vertreten wird, so zunehmend komplexer und unbegreiflicher zeigen sich die heteronomen Erscheinungen ihrer Ausbreitung. Vielleicht lässt sich dies an einem Beispiel der modernen Musiktheorie demonstrieren, wo bereits in der frühen Nachkriegszeit, eben mit der großartigen Formel vom »Traum der Authentizität« als einem horror vacui, von der letztendlichen Vergeblichkeit eines quasi gewaltsamen Durchdringungsversuchs Au7 | Man findet diesen Gedanken schon in Ernst Robert Curtius berühmter »Wiederbegegnung mit Balzac«, – die Durchgängigkeit der »Menschheitssynthese« in der commedie humaine. Curtius entdeckt auch hier einen künstlerischen Totalitätsgedanken: das Fluidum des Lebens als Ganzes in einer Romanserie zu gestalten, eine Vorstellung der »vollständigen Gesellschaft« zugleich (vgl. Curtius 1963: 175-178).
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thentizität wiederherzustellen, gesprochen wird.8 Kein Zweifel, es geht um neue Totalität, die Adorno höchst sensibilisiert im Faschismus der Deutschen, hier übersensibel fast schon von der Musik Strawinskys, bereits angekündigt sieht. Allerdings würde man der fruchtbaren Doppelbödigkeit des Adorno’schen Verständnisses von Moderne einen schlechten Dienst erweisen, wenn man ihm einen Glauben an die Kraft des »gesellschaftlich Unerfassten« unterstellte. Allerdings macht er mittelbar eben deutlich, wie sehr eben im Spiel mit dem gesellschaftlich längst Bestätigten, wenn es denn mit der »Gewalt des So-und-nicht-anders-Könnens« ausstaffiert sei, eben dann doch eine Form der Kulturproduktion aufkommt, die es auf das Ausradieren des »Unfassbaren« angelegt hat. So wie die Berufung auf Verständnis des scheinbar Unerfassten, auf Heteronomie, eine durchaus moderne Form der Kulturproduktion ist, so allerdings ist es auch die »Negativität«, die in dem beständigen Bestreben liegt, in der Zerstörung des Unerfassten einen befreienden Kulturakt zu sehen. Dies geschieht paradoxerweise aber auch, wenn man ihm, dem bisher Unerfassten und eben Entdeckten, eine musealisierte Form gibt und so glaubt, dem historischen Gedächtnis der Menschheit es gewissermaßen gereinigt (wieder) einverleiben zu können. Insgesamt ist Adornos ambivalente Kulturkritik nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Amerika des Massen- und Industriekulturzeitalters verständlich. Doch könnte man sie eben heute mühelos auch auf 8 | Es war Theodor W. Adorno, der den modernistischen »Geist von Autoren wie Strawinsky« bemühte, um zu zeigen, wie sehr die Moderne – hier die ästhetische wohlgemerkt – von einer gewissen Negativität erfasst ist, wenn sie »vom Traum der Authentizität inspiriert ist, einem horror vacui, der Angst vor der Vergeblichkeit dessen, was keine gesellschaftliche Resonanz mehr finde und gekettet sei ans ephemere Schicksal des Einzelnen.« Der moderne Strawinsky reagiere »heftig gegen die nicht durch das Allgemeine sichtbar bestimmte Regung; eigentlich gegen alle Spur des gesellschaftlich Unerfassten. Es ist ihr Vorsatz, die Authentizität der Musik pointierend wiederherzustellen: ihr den Charakter des Bestätigten von außen aufzuprägen, sie mit der Gewalt des So-und-nicht-anders-seinKönnens auszustaffieren.« (Adorno 1958: 128) Die Aussage dieser Sätze, auf die modernistische Musik Igor Strawinskys bezogen, hat an Aktualität nicht verloren, man ersetze – unerlaubt neugierig einmal – das Wort »Musik« mit dem Wort »Islam« und finde auch hier das Einzelne, Unerfasste, heute in einem neuen »Charakter des Bestätigten von außen« wohlgemerkt.
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jene allgemein gestaltende – vielleicht nur scheinbar nicht so ästhetischen – Momente des Kulturwandels beziehen, die sich in den letzten dreißig Jahren in den islamischen Ländern angekündigt haben. Nichts Wesentliches, so möchte man behaupten, unterscheidet den modernistischen Kulturwandel im Zeichen islamischer Authentizität vom Erlösungs- und Allgemeinheitsbegriff der frühen Moderne, es sei denn, man halte die Sprache, die Zeichen und Symbole des Islams als das ausschließend Besondere dieses Wandels. Oder doch? Hat hier moderne Authentizität ganz andere Momente zu aktivieren? Geht es hier auf viele bestimmte Weisen darum, das »gesellschaftlich Unerfasste« aus dem »Allgemeinen« herauszuhalten? 4 Ressentiment, Paria-Religion: Die Kosten, Teil des »Allgemeinen« zu sein, sind hoch. Zugleich ist der Wille, das »Besondere« zu bleiben, groß. Im Zweifel optiert man in Ägypten für das »Besondere«. Über die »doppelten« Pfade des Verständnisses der Moderne, hier »Kosten der Rationalität«, dort »Freiheit« und »Sicherheit«, brauchte man in Ägypten wenig zu streiten. Über das Denken der »Tradition« hinaus gab es eigentlich nur den Abklatsch der Ideologien des 20. Jahrhunderts, immer aber die Affirmation des »Großen«. Wie groß die Brüche und Entbehrungen, die das Schwanken zwischen diesen mechanisch applizierten Orientierungsrastern auch sein mochten, das Stück vom »Ressentiment« der Selbstverleugnung, das Nietzsche in der Sachlogik der Modernen identifizierte, ist »dem Ägypter« fremd. Der im Großen der »Goldenen Zeitalter« (ob im Islam oder im Pharao) affirmierte Stolz überwiegt alles Denken über Geschichte und die Haltung zu Geschehenem überhaupt. Das Spiel vom »Besonderen« und »Allgemeinen« – ich erinnere mich dabei durchaus auch an das in jedem arabischen Politik- und Wissenschaftsartikel immer wieder als scheinbar gegensätzlich herausgestellte al-khâs (das Besondere) und al-´âm (das Allgemeine) – ist Teil der Ambiguität der lokalen Kultur. Nirgendwo aber ist das Besondere von so hohem allgemeinem Wert und das Allgemeine von so spezifischer Geringschätzung wie in jenem »Ägypten«, das sich als Kultureinheit begreift. Ja, es verkörpert selbst einen von Anfang an auf brennende Weise ungelösten Widerspruch zwischen dem unfassbar »Besonderen« und dem platt »Allgemeinen«, denn dieses Land und seine uralte »Kultur« waren auf das Tiefste daran beteiligt, diesen Widerspruch – der sich ja aus der ungelösten Verbindung des Einen mit dem Vielen durchaus ergibt – kulturhistorisch zu aktivieren und zu schärfen.
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So ist »Ägypten« auch heute noch vom »Ursprung« her als eine aktivierende Kraft und – im praktischen Unvermögen sie selbst umzusetzen – auf eine verheerende Weise zugleich ins Spannungsfeld des um sich greifenden Begriffs der »Menschheit-als-Ganzes« hineingesetzt. Man drückt sich am Problem der praktischen, gelebten Kulturkritik der Flusstal- und Deltabewohner am Nil gerne vorbei. Sie sind Nachkommen einer altorientalischen Zivilisation, die ein Schicksal mit einer unter ähnlichen Strukturen lebenden Hälfte der Menschheit (in Mesopotamien, Bangladesch, Pakistan, Indien, Vietnam, China u.a.) teilt. Es handelt sich eben nicht einfach um alte »Zivilisation« und »Geschichte«, es handelt sich um eine lebendige Instinktkultur – körperlich, sinnlich, herausfordernd und reaktiv zugleich –, die die Orientreisenden immer wieder bezauberte, so als wäre hier in Urform ein Stück des eigenen Menschseins, der Humanität überhaupt, noch erkennbar. Später transformierte sich solche Bewunderung in ein Spiel mit der »Kulturkritik«, die »Geschichte« als ein abgeschlossenes Theater repräsentiert, selektiv verabsolutiert und in einseitige ideologische Trennungen von Staat, Pharao und Alltagskultur übersetzt und gewissermaßen als Gegenbild in die Moderne integriert. Dabei werden die Akteure ihrer eigenen »Geschichte« entrissen. Das hat für die Massen, die hier leben, fatale Folgen. Am deutlichsten wird dies, wenn heute Nietzsches Ressentiment-Begriff wieder bemüht wird, um jene neuen kulturellen Haltungen – die als »Islam« oder »Islamismus« firmieren – als das Ressentiment der aus alten Kulturen zu uns herüberlebenden Armen, der »Zu-kurz-Gekommenen« oder der »Nicht-dazu-Gehörenden«, zu diskreditieren, um Eliten und Massen voneinander zu trennen. Will man vergessen, worum es Nietzsche mit diesem Begriff eigentlich ging? Die deprivierten Massen dieser Länder, darunter eben auch die Mehrzahl der »Ägypter«, sind keine »Parias«, nicht vom Bewusstsein her, nicht von der historischen Rolle her. »Ressentiment« bei Nietzsche entspringt nicht Armut und »Zu-kurz-Gekommensein« an sich. Nietzsche sieht im frühen Christentum einen psychologischen Machtmechanismus erwachsen, der sich als das rächende »Allgemeine« in die Kultur des Abendlandes und der Moderne eingepflanzt hat. Die Inthronisierung der religiösen »Wissenschaft« ist Voraussetzung, die Macht des »Besonderen«, Unerfassten, zu brechen. Man verstehe richtig, der abendländische Mechanismus universalisiert sich. Es geht nicht um Armutspsychologie und Sozialneid. Es geht um abendländische Kulturinstrumente in nicht-westlicher Kultur. Über das Ausmaß dieser »Sachlogik« kultureller Globalisierung sollte Einver-
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ständnis herrschen, bevor man der Kultur der Anderen wieder meint das Verdikt der gelebten »Kulturkritik« und des »Ressentiments« aufdrücken zu können. Ein modernes liberales Geschichtsbewusstsein und einen neuen Begriff des eigenen religiösen Metropolitanismus unterstellend, sucht man leicht die Besonderheit der abendländischen Entwicklung zu übertünchen. Die Universalisierung des im modernen Gesellschaftsbegriff angelegten und im interkulturellen Kontakt geschärften Realismus des Handelns und des Umgangs mit den Dingen hat ihren Preis. Hat man durch die Universalisierung der Zwecke etwas erreicht? Was war falsch am modernen sich der Welt öffnenden Existenzialismus? Was war falsch am Existenzialismus des Albert Camus, in seiner Sicht der lebenshungrigen algerischen Sommerjugend (vgl. Camus 1968: 31-49)? Es ist kein »Terror der Echtzeit« (vgl. Seibt 2005: 9-11), wenn gelebt wird. Und ist es nicht das in das »Echtzeitliche« gesetzte »Rom«, das uns jetzt als eine der Säulen des modernen Metropolitanismus angedient wird, jenes Rom, das dem »nackten« Barock Caravaggios schon immer näher stand als den Vorstellungen moderner Philosophen. Haben wir nicht schon selbst erfahren, wie »terroristisch« Geschichte und Geschichtsbild – und gar noch in dieser eigenartigen Mischung von »Rom« und Germanentum – eingesetzt wurde. Camus stellt auch deshalb ein erfrischendes Korrektiv zu konventionellen Geschichtsbild-Reihungen dar, indem er, wie man in Anlehnung an Ernst Robert Curtius’ Wertung des weltgeschichtlichen Blicks eines Toynbee sagen möchte, neue »Wege der ›inspirativen‹ und sozialen Mimesis« (Curtius 1963: 381) beschreitet. Allerdings – und das ist das wirkliche Moment dieses Korrektivs – bietet es die Möglichkeit, »Geschichte« nicht nur im »Gemeinbesitz der Denkenden« zu wähnen, sondern auch im manifesten Ausdruck des Lebensinstinkts der Anderen, der Vielen. Der Zeitgenosse als »Metropolitaner« in der Attitüde des Suchenden nach »kultureller Leistung« hält wieder die »exponierten Deutungen, die Nietzsche und Weber der Geschichte des ältesten Volkes der Welt widmeten« für wichtig. Die Verwunderung darüber, wie sich liberale Kultur als Leistung gewissermaßen aus den Anstrengungen eines Paria-Volkes erst entwickelt, ist natürlich entsprechend groß »in einer Zeit, die mit dem weiteste Zeiträume umspannenden Geschichtsbewusstsein der islamischen Welt konfrontiert« (Seibt 2005: 10) ist. Doch kann Nietzsches Ressentiment-Begriff eben keineswegs als äußeres Anzeichen von Entfaltung von Liberalität gedeutet werden. Das wissen auch Max Weber und Karl Jas-
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pers, weswegen sie den christlichen Liebesbegriff gerade vor Nietzsches Ressentiment-Vorwurf retten wollen. Deutung des Begriffs, der Nietzsche gerade in diesem Punkt überwinden will. Israel wurde als »Volk« in Ägypten geboren und auch jener Roman des Thomas Mann, der sich mit dieser Thematik beschäftigt, handelt vornehmlich in Ägypten und da ist es durchaus ein Problem, dass »Ägypten« gerade im Kontext dieser Neugeburt des einen Gottes fast völlig vergessen wird, bis es in den Arbeiten von Jan Assmann (und natürlich nicht nur dort, sondern vor allem schon von Breasted und von Freud) wieder aufgegriffen wird. Wer von Paria spricht, muss von Reich sprechen und umgekehrt, er sage aber nicht, er wolle mit »Identitätsfragen« nichts zu tun haben. Ägypten und Rom sind keine schleichenden Identitätsviren, sie sind manifeste Bedingungen der Ideenentwicklungen, in Athen ebenso wie in Jerusalem und Mekka. Wer also moderne Identitätsfragen an der Geschichte des Judentums – direkt oder indirekt, positiv oder negativ reagierend – fest macht, der kann, wenn er schon Rom im Fahrplan hat, Ägypten nicht unerwähnt lassen. Es ist das Verdienst Jan Assmanns, dieses wieder gezeigt zu haben. Die Herausforderung meines »Ägypten« liegt darin, dass es nicht nur »Kulturkritik« und »Liberalismus« konterkarierend gegenüberstellt, sondern dass es – von Geschichte und moderner Existenz her ernst genommen –, sagen wir es einmal, von Ägyptern und Europäern kulturelle Selbstdispositionen beansprucht, zu denen sie und vor allem auch wir offenbar noch nicht in der Lage sind. Auch hier setzen meine kritischen Überlegungen an. Noch ein Wort zum Ressentiment-Begriff: Es ist denn noch immer so, dass sich die großen Interpretationslinien, die sich ungeachtet aller Textevidenz gewissermaßen sedimentiert haben und natürlich der Lektüregewohnheit des orthodoxen Mainstream völlig entgegenkommen, immer wieder allzu leicht durchsetzen lassen.9 Auf Max Weber wird die These 9 | Seitdem Bryan Turner und ich in einem 1986 in der Zeitschrift für Soziologie erschienen Aufsatz die Ressentiment-Moral wieder in die Gegenstandswelt der aktuellen Soziologie einzuführen suchten (vgl. Stauth und Turner 1986, 1988; Stauth 1992, 2004), hat sich die Diskussion erweitert und vermeintlich objektiviert, ist dabei aber eben zugleich wieder in die alten Bahnen der protestantisch beherrschten Weberphilologie eingenistet worden. Dass es sich dabei um einen Kulturkampf im deutschen Innern handeln könnte, hat Seibt, dem die globalen Vermittlungen des Themas als einem der Wenigen bewusst sind, vermutet (vgl. hierzu Seibt 2005). Allerdings hat die in dieser Hinsicht wie überhaupt zur Be-
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zurückgeführt, das Christentum habe mit Paulus entgegen der von Nietzsche geerbten Einsicht das Ressentiment des Paria-Volkes, des alten Judentums, überwunden. Auch wenn man von Thomas Mann her kommt, lässt sich diese These der Liberalisierung des europäisch-christlichen Kulturgedächtnisses durchaus verstehen. Will man aber im Zusammenhang mit der »Ethik« des »Paria-Volkes« und des Ressentiments von Nietzsches Antisemitismus sprechen, so ist dies schlechterdings unangebracht. Schaut man sich dagegen die Religionssoziologie Max Webers etwas genauer an, so findet man hinreichende Textevidenz davon, dass Weber das Judentum für etwas verantwortlich machen will, wovon er das Christentum frei spricht: die christliche Liebesethik gewissermaßen als die Grundlage eines Wissenseros, dem das Ressentiment abgeht. Damit wird Nietzsche – wie später in noch subtilerer Weise in Bezug auf Universalisierung und Verallgemeinerung in Jaspers »Nietzsche und das Christentum« – auf den Kopf gestellt. Von Webers Liberalismus kann man aber in diesem Zusammenhang schlechterdings nicht sprechen, so wenig wie andererseits von Nietzsches Antisemitismus. Denn während Letzterer die Erfindung des Rachegottes für eine unmittelbar-reaktive Tat (Verlust der politischen Einheit) und die priesterliche Führung darin für ein so sehr verständliches, kultur-kreatives priesterliches »Pathos« hält, versucht Weber zu zeigen, wie das Christentum – den Umwertungsmechanismus von Rache in Liebe affirmierend – dieses »Pathos« überwunden habe. Es lässt sich möglicherweise verstehen, dass es Weber – und vielleicht auch Mann – gerade darum ging, das christliche Liebesethos vor Nietzsches Ressentiment-Vorwürfen zu retten und gerade zu behaupten, dass vom Christentum alles, was das Paria-Volk dort an ethischen Momenten des Ressentiments (und des Nihilismus) habe zurücklassen können, über die liebesethische Wendung des Christentums seit Paulus wieder herausgenommen wurde. So war Weber der Meinung, die Verwandlung des Rache-Gottes in den Liebes-Gott habe überhaupt erst das »Ressentiment« aus dem Christentum hinaus befördert. Nietzsche hielt dagegen gerade den allgemeinen Liebesgott des Christentums für das Übel, dem wir die eigentliche Durchsetzung des Ressentiments als »herrschende Moral« – und darum geht es – erst verdanken. Er setzt nämlich gerade an dieser »Umdeutung der sensiblen Nietzsche-Weber-Thematik wenig sensible Weberbiografie Joachim Radkaus keine neuen Gesichtspunkte zu liefern (vgl. Radkau 2005: 291f., 596ff., 687ff.).
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wertung« an. Es ging ihm weder um die grundsätzliche Verdammung des Paria-Volkes noch um das allgemeine Verdammen von Rache. Aus der besonderen Lage des Paria-Volkes heraus war ihm Rache im Unmittelbaren und der Rache-Gott als kulturschöpferisches Moment durchaus verständlich. Rache (für die gegenwärtige Unbill gewissermaßen auf das zeitliche Nichts hin gedreht) ist ihm so als ein aus der erlittenen Tat heraus wirkendes unmittelbares Reaktionsmoment erklärlich. Dagegen ist ihm die kulturelle Bedeutung, die die spezifische Form der Umwandlung, ja der Verschleierung des Rache-Motivs im »allgemeinen« Liebesbegriff bedingt, zum Verständnis des Christentums, ja, zum Verständnis der »Herrschaft« der modernen Kultur überhaupt wichtig. Denn er hält die trügerische Liebeslüge, die unerkenntliche Verallgemeinerung der »Rache« im Moment des Versuchs sie in Liebe aufzuheben, für den eigentlichen Grund des Ressentiments. In diesem Allgemeinen des Liebespostulats sieht er den Grund für das diffuse, unspezifische, desinteressierte Sich-Hinwenden, das sich ihm im »Amts«-Typus als das Bezeichnende erklärt. Der »Priester« wird ihm so zu einem allgemeinen Typ des modernen Menschen. Man könnte sagen, es war natürlich auch Weber geläufig, dass gerade im (protestantischen) Priester erst eine neue Instinktgeburt vollzogen wurde, die den modernen professionellen Menschen ermöglichte. Hierin aber, in der »Rache« des Enthobenen, des erhobenen Allgemeinmenschen also, sieht Nietzsche das Ende einer zauberhaften fröhlichen Wissenschaft aufziehen. Und in der Tat vom Erscheinen der »Fröhlichen Wissenschaft« an über »Jenseits von Gut und Böse« bis zum »Willen zur Macht« zur »Götzendämmerung« und zum »Anti-Christ« geht es Nietzsche um den inneren intentionalen »Lügen-Charakter« des abendländischen Erkenntnisethos, der zu nichts anderem als Nihilismus führen könne. Man mag zu dieser These Nietzsches stehen, wie man will, aber man muss sie erst einmal verstehen, gewissermaßen in sich klar erkennen, bevor man Webers und Jaspers’ Reaktionen auf sie verstehen kann. Weber, der vom Schock gereinigte Weber, lässt den Ressentimentvorwurf für das Judentum gelten, für das Christentum aber nicht, und unterstellt Nietzsche überhaupt diesen furchtbaren Begriff am Beispiel des Judentums erfunden zu haben. Ein genaues Hinsehen erlaubt schnell die Einsicht, dass es Nietzsche bis in die letzten Schriften hinein nicht um das Judentum, sondern um das Christentum geht. Wer diese Texte Nietzsches, dem Blick Max Webers folgend, dann noch einmal gelesen hat, wie Karl Jaspers in Nietzsche und das Christen-
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tum (1938), der kann denn auch nicht anders, als – wie Jaspers es tut – Nietzsche selbst die Verallgemeinerung des Ressentiments vorzuwerfen und den Rettungsversuch christlich-abendländischer Wissenschaftsethik (weder also am Paria-Volk noch an Jesus-Bild und scholastischer Theologie ansetzend) nur im perspektivischen Umsetzungsmoment vom Besonderen zum Allgemeinen sehen. Er wirft Nietzsche eine überhistorische Verallgemeinerung des Ressentimentbegriffs vor. Jaspers hat denn doch auch – im Gegensatz zum politisch-theologischen Weber – gesehen, dass es beim »Ressentiment« Nietzsches um das tödliche Allgemeininteresse allen abendländischen Wissensverständnisses geht. Jaspers entwickelt ein, wie er meint, anderes Allgemeininteresse, das der unter dem Faschismus leidende Philosoph als Rettungsinteresse am Christentum artikuliert. Er glaubt, Ressentiment nun im Verlust des Glaubens, im Faschistischen Terror, zu entdecken, ja, das Abendland durch Rückkehr zum Glauben wieder vor dem Nihilismus retten zu können. Nietzsche ging es um die Hegelsche Wende in der Erkenntnistheorie und ihre Kritik, ihm blieb die Ästhetik eines Schlegel suspekt, die das Erkennen des Allgemeinen, also das Objektive, über das unmittelbar Erfahrene stellt. Es geht ihm also nicht um das Ressentiment als eine Form der anti-jüdischen Erinnerungskultur, von der man im Gegensatz dazu bei Weber genug zu lesen bekommt, sondern eben um die im Allgemeinen, an allem konkret Seienden sich rächende wissenschaftliche und ästhetische Erfahrungsform der Moderne (nicht ohne allerdings diese selbst wieder durchaus als ein Moment der kulturellen Produktivität hervorzuheben). Wir erleben heute wieder neu, wie sehr die moderne moralische Ästhetik dazu tendiert alles ihrem »Stil« widersprechende, alle lebendige Wirklichkeit mit dem Bann der Grausamkeit zu belegen. Man will das Kritische eben nicht, man muss Weber für den christlich-modernen Liberalismus retten. Das wäre aber nicht möglich, könnte man Weber nicht als den prosemitischen und christlichen Retter bemühen (wie Jaspers es schon anlegt), als den Urvater der soziologischen Moderne. Nun, wenn man sich also über die Intentionen verständigt und Nietzsche als den »Teufel« aller modernen Kulturkritik festgemacht hat, kann man zur Weberphilologie zurückkehren und – Schluchter hat das ja schon in seiner Aufarbeitung der Webersichten getan, am deutlichsten in »Max Webers Sicht des Islams« – den Rationalismus weiter als liberales Selbstverständnis pflegen. Für dieses, das wäre zu zeigen, ist aber nicht nur der Islam, sondern auch »Ägypten« eine gegenfügige Herausforderung.
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Ich hätte mir diesen Hinweis auf die innere Bedeutung des »Nietzsche, Weber und die Juden«-Komplexes also sparen können, wenn in der Standardwertung des Ressentiment-Begriffs (auch diejenige, die sich auf Nietzsche beruft) nicht immer nur die Paria-, underdog-, Ausgeschlossenen- oder Unterschichtmoral als die bestimmende figurierte. Soviel wird zumindest bei Nietzsche noch deutlich, dass der »Priester« gewissermaßen potenziell die Instanz symbolisiert, die im Spiel mit dem Ressentiment (der Habenichtse) dieses erst verallgemeinert und als reflexives Moment einsetzt. Man erkennt in der gegenwärtigen Debatte über Islam und Kultur, dass das Ressentiment des »Eigenen« nicht mehr zur Diskussion steht. In dieser Debatte über Islamismus und Fundamentalismus gilt das »Ressentiment« als die Bezeichnung der Negativität des Anderen, der Vielen, der Habenichtse. Nie aber wird auch nur im Ansatz gesehen, dass das »Ressentiment« selbst zum »stillen« Bestand der operierenden Sieger-, Macht- und Reglungs-Moral gehört. Es lebt im rationalen Allgemeinheitsdenken fort. Auch bleibt das Ziel des beständigen contesting des Anderen unerkannt. Im »stillen«, im Kultur gewordenen Ressentiment kann gewissermaßen »produktiv« und ungehindert die Reversion, Umwertung, Aufhebung und Verneinung der Werte angegangen werden, am heftigsten aber vielleicht auch dort, wo jene Instinkte und Moralen des einfachen Lebens, gar noch gelebtes Lebensgefühls, das Genügsame und Glückhafte, überhaupt stören. Hier geht es – gegen die bedrohlich vorgestellte »Idylle« – um die »permanente Revolution« der Gefühle, denn es sind jene, sich gewissermaßen »kostenlos« aus den Gedächtnisinstinkten hervorzaubern lassenden »Mysterien des Lebens«, die noch alle »real existierenden« Armutsmoral stabilisieren. Diese lassen sich aber nicht offen, sondern nur »im Stillen« bekämpfen, d.h. hinterrücks als herrschende Feindkultur. Die Ressentiment-Moral des Rationalismus aber kann es nicht beim banalen, glücklichen oder grausamen Leben belassen. Die »Menschheit-als-Ganzes« verpflichtet und diejenigen, die sich auf der Stufe von Moralen der Unmittelbarkeit »einrichten«, können nicht zufrieden gelassen werden.10 Ressentiment-Moral ist moderne »Erlösungs«-Moral, das hat Nietzsche erkannt, die nicht erlöst, im Kleinen nicht und auch nicht im Großen, es sei denn als endloses Sich-Neu-Erfinden. Damit muss die Welt leben.
10 | Vergleiche hierzu meine Ausführungen zu Ressentiment und Religion (Stauth 2004).
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Es gibt also im Zeichen der Globalisierung und der Bestimmung des Einzelnen im Begriff der »Menschheit-als-Ganzes« keinen ressentimentfreien Raum, weder im Islam noch in Christentum und Judentum. Jetzt führen die unterschiedlichen Ressentiment-Lagen zu erheblichen Spannungen und virtuellen Kulturkonflikten, ja, sie scheinen – gewissermaßen als »führende« Hand – über Weltpolitik zu bestimmen. »Ägypten«, so behaupte ich, ist – nicht nur zurück blickend – ein »großes« Beispiel, an dem man das sehen kann. Und doch ist darauf zu insistieren: Die Dimensionen, die ich in diesem Buch zu explorieren habe, sind aus der Begegnung mit der – schlechterdings zu oft heute als moderne »Paria«-Existenz gedachten – Lebensform von der Mehrheit des ägyptischen Volkes hervorgegangen. Meine »Ägypter« haben sich unter Vorzeichen einer modernen, bürokratisch-totalitären »Staats-Verwaltung, -Wirtschaft und -Politik« und ihrer internationalen Vernetzungen »eingerichtet« und leben in einer Mischung von überkommenen und aufgesetzten Geschichtsbildern durchaus bewusst eine moderne Existenz weiter. Und zugleich sind sie in ihrer Armut von einer deprivierten, instinktgebunden-altertümlichen Authentizität gekennzeichnet. Darin aber korrespondieren sie mit einer modernen Altertumsästhetik und auch die auf »Altertum« fixierte global-ästhetische Moderne, die gerade – das hoffe ich hier zu vermitteln – als Maschine eigenständiger globaler Prägung eingreift, bestimmt hier über noch die tiefste, als ureigen erfahrene Praxis dieser gelebten Menschenkultur der Ägypter. So einfach also sind sie, die »Ägypter«, von denen ich rede, nicht aus dem mit der Nietzsche-Weber Frage angesprochenen Rahmen des Ressentiment-Problems herauszunehmen. Allerdings wird gerade daran deutlich – und auch das ist hier angesprochen –, dass die einfach historisierende Betrachtungsweise, die »Ressentiment« und »Charisma« aus der praktischen »Realgeschichte« der Instinkte und Bedingungen herausnehmen will und sie alleine wieder in monumentale Ursprungsfragen, des Dogmas und des Gottesbegriffs etwa, verwandelt, das Christentum, das Judentum oder gar den Islam auf orthodoxe Basisprinzipien und Traditionen zurückverwandelt, verheerende Konsequenzen für das Anheizen nicht nur sogenannter vergleichender Differenzerkenntnis, sondern auch der Konfliktpotenziale hat. Das ist eine Modernitätsperspektive, die es zu überwinden, nicht zu verschärfen gilt. Denn letztendlich handelt es sich in allen Religionen heute um nichts anderes als um fast gleichläufig gewachsene Fragen des modernen »Selbst-
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bewusstseins«, um Momente der Moderne. Dass Wissenschaft es darauf anlegt nun modernes Differenzdenken selbst zu verschärfen statt wenigstens tentativ daran zu arbeiten, sie aufzuheben, muss zu denken geben. Das moderne »Ressentiment«, und d.h. auch alle »Religion« und »Wissenschaft« in der Ambivalenz ihrer Verwicklungen darin, muss sich zur Disposition stellen, nicht es zu verklären versuchen Es ist am Beginn also hier festzuhalten, dass, wenn schon das Bild des über den König siegenden Propheten, mit dem gewissermaßen metaphorisch der Modernisierungszug des religiösen Fundamentalismus (hier die Vertreibung des Schahs, dort die Ermordung des ihm Asyl gewährenden Sadat) besiegelt wurde, dann ist die Besonderheit Ägyptens, dass trotz der historischen Siege so vieler Propheten in diesem Land, des Sieges der ersten asketischen Bewegungen und der Kirchenväter, trotz aber tausendjähriger Fremdherrschaft, der »Pharao« noch heute das »Innere« dieses Landes prägt, und Priester und Propheten ihm im politischen Spiel zur Hand gehen dürfen, ohne je – anders als im Iran – die Chance der Auflösung dieses säkularen Zentrums der Macht auch nur zu denken. Man mag hier von soviel »Post-Säkularität« sprechen wie man will, der »Stein des Pharao« ist so wenig »post-säkular« wie die Armee eines Landes, die Armeen der »christlich« sich verstehenden Weltmacht allemal. Aber gerade darin zeigt sich eine der vielen Facetten der modernen Herausforderung Ägyptens. 5 Differenz und Relativierung der Vernunft: Sich mit »Ägypten« (und dem Orient überhaupt) unter dem Gesichtspunkt der ästhetischen Prädispositionen und der Daseinserfahrung auseinanderzusetzen, ist im Verlauf der wissenschaftlichen »Entdeckungen« des 19. Jahrhunderts immer schwieriger geworden. Denn »Geschichte« wurde hier als Staatswissenschaft geboren und weitergeführt. Die machtvollen, jungen und doch bereits »musealisierten« Jetztzeitdispositionen, über die »Russland« und »Amerika« am Ende des Zweiten Weltkriegs verfügten, nahm Karl Jaspers zum Anlass, dem darniederliegenden Europa einen Neubeginn zu verschreiben, dem Niedergang mit der eigenen »Musealisierung« Europas zu begegnen, ein heute wieder in Mode gekommenes Unterfangen. »Russland« und »Amerika« standen Jaspers damals für eine »Musealisierung«, die säkulare Bedingungen der Lebensentfaltung und ihre Verallgemeinerung im Versprechen des materiellen Glücks ins Zentrum der kulturellen Orientierung stellt: Mannheim sprach noch von »säkularen Religionen«. Die
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genealogische Bindung Europas und – so Jaspers – des Christentums an »Griechenland« und den hellenistischen Humanismus standen für Neubeginn, »Ägypten« und der Orient eher für die Dekadenz einer überwundenen oder zu überwindenden historischen Bindung. Es ging ihm um die Emanzipation Europas, nicht um die des »Orients«. Man müsste heute fragen, ob nicht gerade eine Bindung der europäischen »Musealisierung« und Emanzipation an den Orient Produktivkräfte freigesetzt hätte11, die heute fehlen. Eines der Hauptprobleme war und ist dabei, dass man die Bindung gar nicht sehen wollte und will, sondern im »Griechentum« die Trennung aus dem Orient besiegelt fand. Aus diesem Trennungsdilemma – dem der algerisch/französische Islamphilosoph Muhammad Arkoun so emphatisch den Krieg erklärte – kommen aber die Kultur- und Geisteswissenschaften nicht heraus, wenn sie weiterhin in Dimensionen des »Kulturkontakts« verharren. Das Staunen, ja Erschauern, vor den Urtiefen der ägyptischen Geschichte bleibt ein Moment der Trennung, wenn nicht die inneren Bindungen (auch diejenige der »Griechen«) gesehen werden. Die Zurückweisung des Orients, die modernes Differenzierungsdenken und Individualismus auferlegen, wird sicher ein Moment der globalen Moderne bleiben. Wie in den Menschheitskatastrophen (Erdbeben, Klima, Seuchen etc.) bereits ersichtlich, kann kulturelle Differenz nicht weiter zum beständig bewegenden Moment kultureller Globalisierung gemacht werden. Es wird zunehmend um die »Einheit« und »Ganzheit« des kulturellen Naturbezugs der Menschheit gehen. Es wird um Welt-Gestaltung und -Bildung im »Ganzen« der Humanitas gerungen werden. Man kann also nicht immer neue Muster der »Exklusion« des Orients entwickeln. Auch das im »Orient« ruhende New Age – das im Westen selbst so aktiv wirkt – ist also keineswegs auszuschließen. In Bezug auf »Ägypten« brauchte man deshalb auch andere, neue Reflexionsebenen, nicht immer nur das stereotype Insistieren auf dem against the modern world (Sedgwick 2004). Es ist schlechterdings ein unmögliches Unterfangen, »Globalisierung der Moderne« bloß im Rahmen des Kulturkontakts (Moderne – nichtwestliche Anti-Moderne) zu denken. Das hat noch viel mit dem Absoluten des logischen Denkens zu tun, das oft nur einseitig wirkt und hilft. Das mo11 | Eine solche Bindung lieferte noch den untergegangenen Saint-Simonisten als Vision das Motiv für ihre messianisch-technologisch und ästhetisch begründeten Orient-Abenteuer in Istanbul, der Levante, Ägypten und Algerien (vgl. Musso 2008). War das schon der Kolonialismus, der noch folgen sollte?
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derne Ordnungsdisaster »Ägyptens« kann aus Sicht des Westens immer nur als irrational, unlogisch oder prä-logisch bezeichnet werden oder in Gänze als das nicht gelungene Aufeinandertreffen von modern und westlich mit nicht-westlich und orientalisch. Was passiert, wenn Kulturen dieses unterschiedlichen Typs aufeinandertreffen, ist – in diesem Modell vorgestellt – eben gerade das: A trifft auf B, vermischt sich mit B, gibt sich dabei aber nicht auf, sondern manifestiert sich auf der Ebene von B neu. Das Ergebnis ist eben eine Art von Protokultur, von Protomoderne etc., die sich in der Herausbildung von verschiedenen sozialen und kulturellen Segmenten zeigt, in denen A und B in unterschiedlichen Gewichtungen wie etwa von A/B oder B/A miteinander vermischt auftreten. Weder gibt es ein einseitiges manifestes Zurück zum Alten noch ein klares Aufheben, eine Begegnung hin zu gänzlich Neuem, eben C. Anders scheint es auf dem Gebiet der Religion zu liegen, wo der gestaltungstechnische Rahmen festen Grenzen zu folgen scheint, es bleibt immer die Religion A, obwohl sie sich mit völlig neuen Gestaltungstechniken auszuschmücken scheint. Darin liegt das große Problem, etwa mit logischen Konstruktionen das Verhältnis von Islam und Moderne zu denken. Die ägyptische, in sich gespaltene Chaoskultur, die in allen Segmenten der Gesellschaft mit einem hochgestaffelten Bewussten von technischem, vernünftigen und bürokratischem Denken ausgestattet ist, kann aber nicht einfach nur durch die Präsenz der Religion, noch nur durch von Kulturkontakt hervorgerufenen Mischungen erklärt werden. Auf allen Ebenen der Gesellschaft ist ein über das Islamische oder Modernhistorische hinausreichendes Mythengebilde erkennbar, das selbst gestaltend wirkt sowohl in lebenspraktischer als auch in symbolischer Hinsicht. Es ist nun gerade auf diesem Gebiet des Mythosproduzierens, des Mythoslebens im Gestaltgeben des Alltags, wo moderne Massenkultur und das alte Ägypten zusammentreffen, ja, ähnlichen Maximen des Denkens und Handelns folgen, ich habe das oben mit dem Fortleben der alten Instinkte im symbolischen Verstehen und Handeln erläutert. Dass dies an eine Kulturlandschaft gebunden bleibt, die in sich selbst Geschichte als Gestalt übermittelt, präsent macht, ist sowohl Anziehung als auch Herausforderung für die Moderne selbst. »Differenz« und andere dem Identifikationsmustern des logischen Denkens folgende Unterscheidungsmuster von A ungleich Nicht-A ungleich B sind hier kaum hilfreiche Begriffsbestimmungen der kulturellen Verfassung und des »Ordnungschaos«. Für »Ägypten« ist es gerade das hochgradige Ordnungswollen, der absolute Ordnungsintegris-
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mus, das sich auf allen Ebenen der Gesellschaft zugleich mit einer umfassenden Toleranz für Vielfalt, Abweichung und begrifflichem und stilistischem Herausfallen paart. Wie sehr gerade hier »Ägypten« zu einer Herausforderung der Moderne wird, zeigt sich, wenn man diese Paarung von Ganzheitsgestaltung einerseits und vielseitigem Beharren auf NichtIntegrierbarem und Nicht-Identischem andererseits nicht so sehr als moralisch-philosophisches Problem sieht, sondern als praktische Voraussetzung von Stilkultur und Alltagsästhetik begreift, die jeder Anspruch auf Ganzgestaltung produziert. Wenn es um die Kultur der Anderen geht: Wer sind wir und was ist die Kultur der Anderen? Da kommen die Begriffe, wie die von der Menschheit als Ganzem als quasi zeitlos logischer Praxis, vom gemeinsamen Inder-Welt-Sein, vom gemeinsam erfahrenen Ding, von gemeinsamer mythenbildender Praxis etc., abhanden. Zweifel sind, wo es um den anderen »Gott« geht und um das gemeinsame »Höhere«, nicht mehr angemessen. Am deutlichsten zeigt sich dies in den unterschiedlichen Ordnungsbegriffen oder, um ein Wort von Eric Voegelin aufzugreifen, »in der Suche nach Ordnung«. Es gehört wohl zum Erfahrungswert eines Jeden, dass, wenn Ordnungsbestimmung sich in den idiosynkratischen Reaktionen auf differentes Alltagsverhalten Ausdruck verschafft, das Festhalten an affirmativen Mustern der sogenannten Tradition als Gemeingut gilt. Ordnung erscheint dann als das, was man schon kennt, die Irrationalität per se also. Schon hier wird deutlich, wie sehr kulturelles Authentisch-sein auf idiosynkratischer Reaktion auf das Andere beruht. Das banalste Was-immer-schon-war wird auf das Schärfste bemüht, um das Andere zu diffamieren (so die Minarette etwa gegen die ewig grünen Almen und Kuhweiden im jüngsten Schweizer Kulturkampf). Darüber und danach kommt die Polemik, danach die Politik, Macht und Gewalt. Ist das in den Kulturwissenschaften anders, ist das Terrain hier dialog-offen? Kann es »objektive« Maßstäbe geben für »Differenz« und, wenn man solche Maßstäbe erst einmal gesetzt hat, was bedeuten sie für Dialog? Die wirklichen Probleme beginnen, wenn man Maßstäbe erst einmal gesetzt hat und sie als »objektiv« geltend macht. Ich erinnere an einen von Adorno zitierten Satz Horkheimers: »Wenn zwischen materiellen und ideellen Bedürfnissen schon einmal ein Unterschied gemacht wird, so muss man zweifellos auf die Erfüllung der materiellen bestehen, denn in dieser Erfüllung ist […] die gesellschaftliche Änderung mitgesetzt. Sie schließt sozusagen die richtige Gesellschaft, die allen Menschen möglichst gute Lebensbedingungen gewährt.« (Adorno
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1955: 130). Der Imperativ nach den »Lebensbedingungen« ist aber ebenso apodiktisch wie der Imperativ nach dem »guten Menschen« im Dienste Gottes. Nach Horkheimer führt die »Betonung der isolierten, ideellen Forderung aber zu wirklichem Unsinn. Man kann nicht das Recht auf Sehnsucht, auf das transzendente Wissen, auf das gefährliche Leben geltend machen« (ibid.). Aber warum nicht, wenn dies gerade getan wird, nicht dem Schein nach oder als bloßes Opfer der »opilen«12 Manipulation der Massenkultur, sondern einzig und allein aus der materiellen Bedürfnisnot heraus, den diese setzt. Die Berufung auf »Geschichte«, auf »Religion«, auf das Ganze des Kulturstils, kommt denn auch und vor allem als das Sichberufen auf Depravierung zum Zuge. Die Herausforderung Ägyptens liegt so gerade darin, dass das Land sowohl im Geschichtlichen als auch im praktischen Leben den Primat der »isolierten ideellen Forderung« pflegt und somit einer eigenen Mythos-Poesis folgt. Das hat wenig noch mit natürlicher Religiosität, naturwüchsiger Kontinuität der Tradition oder Kraft der neuen Religion zu tun, das hat viel mit der Sehnsucht, mit der Fluchtsuche zu tun. Es ist dies die Forderung nach Anerkennung, die historische mit armen materiellen Bedingungen gleichsetzt, das eigene historische und gegenwärtige Potenzial negiert. Eine Herausforderung für das moderne Verständnis sind auch jene besonderen Bedingungen, in denen das mentale Gedächtnis am Ding und seiner Gestalterfahrungen geschult ist: Man zieht nicht um der Transzendenz willen – auch wenn diese oft im Nachhinein zur Legitimation herangezogen wird – das »gefährliche Leben« dem »besseren Wissen« eben dann vor, wenn Knappheit und Unmittelbarkeit die Not des Lebens bestimmen. Hier setzen natürlich die abwehrenden Reaktionen ein, wenn diese Bedingungen überspielt und in jenen Diskurs des »Wissens« gestellt werden, den – wie uns Horkheimer lehrt – die Moderne so absolut setzt. Hier plötzlich erst werden – noch in den absurdesten Problemlagen – Tradition und Kultur zur Legitimation herangezogen. Denn hier zeigt sich zumindest im Ansatz, dass das moderne Ding- und Erfahrungsverständnis als utopisches, in Horkheimers Verständnis als das Postulat nach »geglückter Einheit von materiellen und ideellen Bedürfnissen«, präsent ist. Das sind nicht nur in Ägypten die unmöglichsten Diskurse über (die 12 | Hier handelt es sich offensichtlich um eine Anspielung auf das Wort von Marx: Religion ist Opium für das Volk. Schon die Saint-Simonisten betrachteten »Industrie« als eine Art »Religion«.
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ägyptischen, islamischen, magischen etc.) Grundlagen des Funktionierens eines Aufzugs, einer Waschmaschine, eines Autos, der Verkehrsreglung etc. Dass etwa das ägyptisch-arabische, ebenso wie das pharaonisch inspirierte Verhandeln über »Wissen« und »Gefährdung« auf je ihre Art auf andere Lösungsmomente rekurrieren, als jene, die das gesellschaftsutopische Denken des 20. Jahrhunderts zuzustehen bereit war, ist offensichtlich. Es gibt hier nichts zu idyllisieren, weder die »Sicherheit« noch die »Gefahr«. Dass aber die innere und äußere, ja, gewissermaßen reaktive Vormoderne – mit all ihren »logischen« und »irrationalen« besonderen Lösungsmomenten – mitzudenken ist, wenn von »Einheit der Menschheit« die Rede ist, ist offensichtlich. So ist es natürlich auch die an Unsinn grenzende modern idiosynkratische Exkludierung des Anderen, des »Ideellen« (als hätte man selbst je gerade darauf verzichtet). Darin liegt nichts Post-Säkulares, sondern lediglich die Notwendigkeit, den eigenen idiosynkratischen Umgang mit dem Andern zur Disposition zu stellen. Dazu ist man andererseits ja auch bereit, wenn es um »Tourismus« und exotische »Erfahrungserweiterung« geht. Der moderne ästhetische Utopismus – der nun selbst völlig aus der rationalen Verwaltung der Welt heraustritt – zeigt andererseits – so meine Überlegungen – wie jene Momente und Ebenen, jene Bedürfnisse nach Dingerfahrung und Weltbezug über Grenzen der Kultur (Nation etc.) hinweg zusammentreffen. Ohne Zweifel hat sich darüber der Wille zu ordnungssuchender Weltgestaltung gelegt, ohne die Spiele der praktischen Kulturkritik, die Knappheit und Armut bedingen, zu berücksichtigen, jedoch kann gerade dieser Wille die Welt als Ganzheitsordnung weder wiedererwecken noch neu erschaffen. 6 Kosmologische Macht und Instinktsicherheit: Wenn auch in eben der »Heidelberger Tradition«, wie vor ihm Max Weber und Karl Jaspers, Erik Voegelin sich mit den Folgen, die die Auflösung der alten »kosmologischen Reiche« für das abendländische Ordnungsdenken brachte, beschäftigt, so geht er doch gewissermaßen einen Schritt zurück und gibt der inneren Seelenwelt der alten voraxialen Reiche ein eigenes Gewicht. Es geht ihm nicht primär um Urformen der differenzierenden Vernunft, sondern um das Phänomen der integrativen Macht des kosmologischen Ordnungsdenkens. Es hilft nun aber wenig weiter, dies als den Ansatz zu einer Art ontologischen Evolutionstheorie zu verstehen, wie Jan Assman das tut, so sehr das theoriegeschichtlich gerechtfertigt erscheint (vgl. Assmann 2002:
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insbes. 19). Für den hier verfolgten Gedanken der relativen Gegenwärtigkeit der kosmologischen Ordnungsmuster und ihrer Wirkungsformen in der globalen Moderne sind Voegelins Einfühlungen, sowohl in Hinsicht auf die Seinslage der heute in den alten Landschaften lebenden »Nachfahren« als auch für das moderne ästhetische Bewusstsein insgesamt von Bedeutung. Man lese: »Die Gemeinschaft des Seins wird so intim erfahren, dass die Konsubstantialität der Partner die Getrenntheit der Substanzen in den Hintergrund drängt. Wir bewegen uns in einer verzauberten Gemeinschaft, in der alles, was uns begegnet, Kraft, Willen und Gefühl besitzt, in der Tiere und Pflanzen, Menschen und Götter sein können, in der Menschen göttlich sein können und Götter Könige sind, in der der gefiederte Morgenhimmel der Falke Horus ist und Sonne und Mond seine Augen sind, in der die hintergründige Gleichheit des Seins ein Leiter magischer Ströme von göttlicher und teuflischer Kraft ist, die über unterirdische Wege die auf der Oberfläche unerreichbaren Partner erreichen, in der Dinge dieselben und doch nicht dieselben sind und sich ineinander verwandeln können.« (Voegelin 2002: 41)
Voegelins Grundgedanke ist der vom »Ägypten« als einer ursprünglichen Gemeinschaft des Seins, die sich durch das enge, beziehungsreiche Zusammenspiel von Gott und Mensch, Welt und Gesellschaft herausbildet. Das Geheimnis dieses Zusammenwirken ist zugleich der Grund einer an dauerhafte und unverbrüchliche soziale Partizipation gebundenen menschlichen Existenz. Diese partizipative Sozialität der menschlichen Existenz erst bringt einen Prozess des ambivalenten Ausgleichs von Erfahrung und Symbolisierung in Gang, in dem Ordnung und Kosmos aufeinander bezogen werden. Die Kosmologien stehen dann für ein wachsendes Bewusstsein über die Analogie von Erfahrung und Symbol, deren zunehmende Reflexion in einen Gegensatz von symbolischer Pluralität und Allgemeingültigkeit der Symbolisierungssysteme führe. Aus der zunehmenden Rationalisierung dieses Widerspruchs entspringt nach Voegelin der evolutionäre Zug hin zum Monotheismus. Für die konkrete Form der gegenwärtigen Einzelgesellschaft »Ägypten« zählt das Evolutionsproblem des weiteren Zivilisationsverlaufs nicht. Was zählt sind die gegenwärtig tätigen, wirkenden Menschen, die menschliche Kultur der Gegenwart, die inneren Konvulsionen des Glaubens, der das uralte Partizipationsdenken auffrischt, man könne mit »guten Taten«
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dem hier und jetzt bekannten »Schöpfer«, dem Lokalheiligen, eine Neuschöpfung der Welt des Alltags abringen, wider das Böse, die Widrigkeiten des Schicksals, Rang und Reichtum der Bösen wieder auf die Stufe der guten Gleichen zurückholen etc. Das ist die Gegenwart, die zählt und die zugleich das Alte lebendig erhält. Die eingefleischte Alltagswissenschaft der Symbolisierung und Symboldeutung, aus der heraus auch so etwas wie eine partizipierende moralische Haltung gepflegt wird, ist immer spürbar und lebt weiter fort. Wie immer die historischen Differenzierungen des Ineinanderspiels von transzendenten und immanenten Ordnungen hervorgebracht wird, es bleibt ein tradierter Kern autonomer Lebenssubstanz, der bereits den Alten wichtig war: Ordnungskraft nur alleine aus einer »genuinen Öffnung der Seele gegenüber transzendentem Sein« (Voegelin 2002: 133) zu schöpfen. Diese Kontinuität der »ägyptischen mythischen Form«, die göttliche Substanz als überall im Seienden, in den niederen Stufen des Seins (Untermenschen, Tier- und Pflanzen-, Natur und Sonnenwelt) als manifest anerkennt, die Vorrausetzung des Monotheismus ist, nicht dieser selbst, ja man müsste sie ihm heute erst wieder abringen, ist es, die wir als Herausforderung wahrnehmen. Diese »Konsubstantialität«, von der Voegelin spricht, ist dem europäischen Nachkriegsexistenzialismus eine Erfahrung wert, ein neues Anliegen, ein Anliegen, das es gerade heute (mit oder ohne über diese Welt hereinbrechende Naturkatastrophen) wieder zu beleben gilt. Konsubstantialität – so ist zu fordern – ist gerade in der angesprochenen Seinsfrage auch eine Kulturfrage. Es wäre gerade hier das »Laboratorium der Moderne« zu ergänzen, handelt es sich doch nicht nur um ein »Syndikat der Seelen« (Breuer 1995), sondern um die kulturuniverselle Umsetzung – wie Breuer durchaus zu spüren scheint –, einer einstmals und zum Teil heute wieder als solche eingebrachten – wenn auch nur elitär gedachte – Seinslage. Die Soziologie des ästhetischen Utopismus hätte hier also einen großen Schritt weiterzugehen. Die Richtung könnte vielleicht mit der folgenden Ergänzung kurz angezeigt werden. Die ästhetische Bereicherung, die Albert Camus etwa in den Seinsweisen der algerischen Jugend – während des beginnenden Algerienkriegs – gefunden hat, vergegenwärtigt auf eine sehr eindringliche Weise, wie die ästhetische Moderne des 20. Jahrhunderts sich in der Vergegenwärtigung antiker Seinslagen als moderne Geworfenheit geahnt hat. Der sinnliche Reichtum dieser Jugend, der mit dem äußersten Elend zusammentrifft, wird als ein Reichtum der modernen Wiederentdeckung der antiken Körperlichkeit beschrieben, eine in Sonne, in Sand und Was-
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ser ausgelebte Schönheit, die über Armut und nahen Tod zu triumphieren scheint: »Keiner von ihnen hat die öden Traktate der Naturschwärmer gelesen – diese Protestanten des Fleisches (denn es gibt Systematiker des Leibes, die ebenso hoffnungslos borniert sind wie gewisse Systematiker des Geistes); aber sie fühlen sich wohl in der Sonne. Man kann die Wichtigkeit dieser Gewohnheit für unsere Epoche nicht hoch genug einschätzen. Zum ersten Mal nach zweitausend Jahren gibt es am Strand wieder nackte Leiber. Zwanzig Jahrhunderte lang haben die Menschen sich bemüht, der griechischen Unbefangenheit und Schamlosigkeit Sittsamkeit beibringen und das nackte Fleisch unter allerhand Kleidern zu verstecken. Heute sind diese Zeiten vergessen; und die Jünglinge, die am Strand des Mittelmeeres um die Wette laufen, reichen den Athleten von Delos die Hand.« (Camus 1968: 34) Camus hat es nicht mehr erlebt, wie binnen eines Jahrzehnts von 1980 bis 1990 diese bedeutungsvolle Nacktheit von körperlicher und mentaler Freiheit der Jugend, das Bei-sich-Sein einer uralten Existenzform für mehrere Generationen symbolisierend und auch – wie Camus beschreibt – durchaus die weibliche Jugend einbeziehend, wie diese Präsenz uralt geformter Lebensinstinkte unter dem Schleier neu zugewiesener, religiöser »Authentizität« hinweg gefegt wurde, von allen Mittelmeerstränden vom Libanon über Ägypten bis nach Marokko regelrecht mit Macht entfernt wurde. Und doch – natürlich – bleiben die »alten« Körper in den Partizipations- und Gemeinschaftsformen präsent, im »Ägypten« der Vorstädte und Viertel, der Fellachen- und Fischerdörfer allemal. Diese Anziehungskraft der sommerschönen Körper, der »nackte« Instinkthabitus der weiterlebenden, der weitergelebten Antike im modernen ästhetischen Sehnen hin nach wahrer »göttlicher« Existenz – man verzeihe mir die leicht als Zynismus lesbare religiöse Anspielung13 – stellt eine große, weitgreifende Tendenz im Realismus der Nachkriegsliteratur dar. Ich erinnere mich an die Menschen in den südrömischen Vorstäd13 | Die unvergesslichen mediterranen Einsichten eines dem sterbenden »Empire« entwachsenden Weltbürgers, der im »Recht« uralter Körper- und Instinkterfahrungen durchaus utopische Visionen von einem neuen weltumfassend erfahrenden Menschentum zu entwerfen versuchte, sind am eindringlichsten in Lawrence’ Etruskische Orte (1999) und Twilight in Italy (1960) zu entdecken. Ein schönes Beispiel für diese lebensästhetische Haltung und gelebte »Stimmung« in Istanbul liefert Leben und Werk von Traugott Fuchs (vgl. Viallon 2007).
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ten des Carlo Emilio Gadda, die Jugend der Borgate Pier Paolo Pasolinis, die sich sehnende und handelnde Jugend in den alten Vierteln des Kairo von Naguib Mahfuz (es bedürfte einer neuen Literaturwissenschaft dies angemessen zu würdigen – wenn es sie gibt, so muss ich gestehen, kenne ich sie nicht; und was machen wir mit den Raumtönen Bruno Madernas, den ästhetischen Tonnachrichten aus den Weltdörfern? Sie werden auch jetzt neu aufgelegt, neu gehört, wenn auch nur als ästhetische Ikonen begriffen). Das ästhetisch engagierte Staunen vor der antiken Körper- und Instinktrealität der modernen Jugend mediterraner Völker – immer präsent, ich wiederhole es, bleiben mir D. H. Lawrence’ Beschreibungen der kleinen modernen Etrusker an den Grabstellen von Cerveteri und Viterbo, und der Dorfemigranten vom Garda-See14 – ist sicher eine Komponente des modernen ästhetischen Bewusstseins, die der Beachtung bedarf. Eine weitere und gegenwärtig in Deutschland wieder ins Spiel gebrachte Komponente ist die unmittelbare ästhetische Durchdringung von »Ägypten«, Antike und Moderne im Bemühen um einen neuen ästhetischen Utopismus. Können da die Rekonstruktionen einer spezifisch deutschen, am Ästhetischen haftenden, von Invokationen des Altertums beherrschten Perspektive helfen, Kulturkontakt aus dem Feld des praktisch destruktiven Deprivierens des »Anderen« etwa in ein produktives Feld der doppelt gepolten Bereicherung und Kreativität zu überführen? Ich kann dies hier nur andeutend weiter verfolgen: Das Staunen vor dem Verlorengegangenen ist das Staunen darüber, dass es »Zivilisationen«, die alten orientalischen Hochkulturen, gab, die Bildsprache zugleich als Denksprache und Machtsprache vereinten und ein integriertes Stilganzes der Kultur vermittelten. Erstaunlich auch, wie etwa in den Reliefs der fürstlichen Gräber in Sakkara das praktische Leben als das Schöne der ganzen gestalteten Natur in Erscheinung tritt. In 14 | Es handelt sich ja in der Tat um einen weit über »Ägypten« hinausreichenden, trans-mediterranen ebenso existentialistischen wie neo-romantischen Realismus, der in all diesen literarischen Exemplaren hervortritt und der in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft kaum Beachtung findet. Hier nun über den zitierten Text von Albert Camus und die italienischen Reisearbeiten von Lawrence hinaus möchte ich auf eine zufällige und zugleich doch auch als exemplarisch gedachte Listung weiterer Autoren der Zeit hinweisen: Naguib Mahfuz, Midaq Alley (1966); Pasolini, Petrolio (1997); Gadda, Die grässliche Bescherung (1957).
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»Ägypten« war dies die ästhetische Bewältigung einer einzigartigen Flusslandschaft. »Weltkultur«, wie immer auch multipolar oder transzendent gedacht, stellt die Frage nach der ästhetischen Bewältigung der Welt-alsGanzes. Es gibt in der praktischen Alltagsgestaltung einen ästhetisch entmonopolisierbaren und zugleich als Ganzes belebenden Zugang zur gestalteten Welt. Das soll in diesen Betrachtungen in der Ambivalenz zwischen »Ägypten« als »Leben« einerseits und als Anspruch auf das Stilganze andererseits hervorgehoben werden. Es ist dies auch ein Widerspruch der dem ganzheitlichen Formungswillen selbst inhärent ist, dessen Zeuge wir auch in der globalen Moderne werden. Unter den Bedingungen der Globalisierung und den hier vorherrschenden Reproduktionsbedingungen der Kunst im Warenkorb der Industrie- und Massenkultur lassen sich Belebungsversuche – elitär noch – von Kulturganzem als Vorstellung erkennen. In Frankfurt, in Berkeley und London dagegen, wo in den Lebensstilen der Konsumkultur neue Kohärenzmomente der Moderne »Stilkultur« zu entdecken versucht wird, sind auch die kritischen Zweifel angebracht. »Ägypten« fordert heraus, weil es die alten »Kosmologien« in den Welt-Betrieb einzubauen scheint. Dafür stehen auch Stücke der frühen deutschen Moderne von Mann bis Hesse und neuerdings wieder der neu entdeckte »George«. So wichtig die Perspektive ist, so ambivalent sind diese frühen global-moderne Versuche der Re-Kosmisierung. Dennoch sind sie aufzugreifen und zu diskutieren, zu vergessen sind sie nicht.
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II. Eine andere Art, auf Ägypten zu sehen
1 »Große« und »kleine« Kultur: Ägypten hat viel »Großes«, ja, viel Großartiges. Millionen Ägypter aber leben in Armut, im »Kleinen« einer weitgehend engen, naturgebunden erscheinenden aber doch irgendwie »industriell« gestalteten, immer aber am krude notwendig gehaltenen Ding sich orientierenden Alltagslogik. Von »Kultur« zu reden, ist immer auch ein Spiel mit dem Allgemeinen; gemeint ist irgendwie vage immer auch das Ganze und darin geht das Kleine leicht unter. Seit der Französischen Revolution erwartet man von der »Kultur« einer Nation, dass sie an der »Aufrichtung des Menschentums« mitarbeite, um ein Wort von Ernst Robert Curtius (1975: 5) hier aufzugreifen. Wann immer aber sich Ägypten in moderner Zeit dazu erhob, zu solcher »Aufrichtung« beizutragen, war dies entweder nur unter Einsatz fremder Kräfte möglich, wie etwa im Fall der Bändigung der Nilfluten, oder, wie im Fall seiner Anstrengungen zur Arabischen Einheit, von erschütternden Niederlagen gezeichnet. Kann die ägyptische »Kultur« sich nur in jener Urform wiederfinden, die sie an der Wurzel des »zivilisierten« Menschentums zu diesem beigetragen hat? Bleibt denn – wenn schon der Rest zu Ruinen und Artefakten nur überlebt – das Lehmhaus der Fellachen, wie noch bei der ersten Weltausstellung in Paris gezeigt, das wahre lebendige Zeugnis dieser Kultur (Mitchell 1989)? Aber auch dieses ist heute weitgehend von der ländlichen Szene verschwunden und durch Beton- und Ziegelsteinbauten ersetzt. Man erinnere sich, noch in den 1970er Jahren trugen auch Frauen der oberen Mittelschicht zu feierlichen Anlässen die bunten Bänder und Bommel der Fellachenfrauen auf stolz gezeigtem schwarzem Haar. Davon darf man heute im Zeitalter der »Politik der Frömmigkeit« nichts mehr wissen, auch das ist »Kultur«. Und 1833 ausgerechnet nach Ägypten wallfahrend, suchten die Saint-Simonisten, die Priester der communion universelle und einer positivistischen Wissenschaftsmystik, die »Rehabilitation des Fleisches«
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und dessen Erlösung durch die neue »Madonna«. Wie ein roter Faden zieht sich seither das système de méditerranée durch die moderne französische Geistesgeschichte, in der das archäologische, das monumentale Ägypten seinen unerschütterlichen festen Platz gewonnen hat. Hier hat ein technikgläubiger, positivistischer Kommunikations- und Fortschrittsbegriff – bis zum Ausspüren der subtilen, physischen Verbindungen menschlicher und überhaupt natürlicher Körper – im Entfaltungsprozess moderner Sozialsysteme seinen Anfang: Im losen Bezug gedachter Gegenseitigkeit zwischen Ost und West werden hier im système du mediterranée die begrifflichen Grundlagen für Vorstellungen der kapitalistischen Universalisierung und der modernen Kultur gelegt: säkulare Religiosität, Feminismus, universelle instrumentelle Vernunft, nicht als Selbst-Idee sondern als dingliche Realisierung. Bändigung des Wassers, Monetarisierung der Arbeitskraft, reziproke Sexualität und Gleichstellung der Frau, Bildungssystem als Befreiung und kommunikative Kraft der Technik, das sind die Momente der modernen Theorie, die im »exotischen« Ägypten erstmals modellhaft ausgespielt wurden und in den einflussreichen Schriften von Michel Chevalier ihren Niederschlag fanden.15 Selbst wenn sie von kleineren »Einheiten«, von Stil, Religion oder Kunst sprechen, arbeiten die großen modernen Kulturtheoretiker immer auch auf das Ganze hin und beschränken dadurch die Perspektive auf die Konturen des Großen, das Monument, das gewissermaßen symbolisch für die Kulturleistungen eines Volkes oder eines Staates einsteht. Kulturtheoretisches Denken, man kann es nicht anders sagen, ist von daher immer auch pyramidal. Selbst so feinsinnige und von den kleinen Figuren der literarischen Weltbeschäftigung her denkende Kulturtheoretiker wie Ernst Robert Curtius (1975) oder T. S. Eliot (1961) scheinen die großen Sprachoder Lebenseinheiten, Regionen und Landschaften, Religionen und Denkbewegungen, auf das Ganze der Kultur hin zu denken oder über den Be15 | Vgl. Musso (2008). Mit Méditerranée, Islam und Theorie der Moderne (vgl. Stauth/Otto 2008) wäre hier neu anzusetzen und – für mich gesprochen – hätte ich die Schriften von Enfantin und Chevalier damals gelesen und ernst genommen, wäre dieses kleine Buch nie entstanden oder unter ganz anderen Vorzeichen geschrieben worden: Die Saint-Simonisten in Ägypten stehen von Braudel über die Lombards bis hin zu Foucault mit allem in tiefster Ideen-wirksamer Verbindung, was aus Frankreich zum Thema »Mittelmeer« (Orient) und »Welt« sich in den Diskurs der Moderne eingeschrieben hat.
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griff einer National-Kultur zu bestimmen. Eliot geht soweit, die Kultur als »fleischgewordene Religion eines Volkes« zu definieren (Eliot 1961: 30). Im Fall »Ägypten« wäre das nicht nur wegen des über »Jahrtausende« parallel verlaufenden Zusammenlebens von Kopten und Muslimen, sondern auch von seiner ganzen Geschichte her unangemessen. Wie will man die beständigen Wellen der Fremdherrschaft, fremd bleibend oder sich gar vereinheimischend, und die unauflösbare Hintersässigkeit des Nilbauerntums auf ein Kulturganzes hindeuten? Kulturtheorie so zu betreiben, führt wie etwa bei Eliot dazu, die Dimension von Kontakt und Austausch erst an nachgeordneter Stelle zu berücksichtigen. Allerdings spielte im Blick der Zeit damals die abgrenzende Perspektive, die Suche nach »Authentizität« nur indirekt eine Rolle, sie wird noch in purem Innenblick begriffen, als die Bestimmung der Mittel, die eine innere Kontinuität der Kultur gewährleisten, nicht als Prozess des differenzierenden Austauschs zwischen Menschen und Institutionen und in vergleichenden Interaktionen über Kulturgrenzen hinweg. So erkennt Eliot Ordnung als Problem der Kultur, ja, eben eher nur als Vorrausetzung derselben und so auch eher als Problem der innergesellschaftlichen Klassendifferenzierung. Ordnung gilt ihm vor allem als Verdichtung, also als das den Integrationsgrad von Sprache, Religion und Politik und eben als das Große, das übergreifend Bezeichnende, mit einem Wort, das Charakteristische.16 Der moderne Kulturbegriff, wie der Gesellschaftsbegriff, richtet 16 | Zu dem, was Elias fast zur gleichen Zeit über die »Differenz« des deutschen und französischen Kulturbegriffs zu sagen hat, bleibt auch heute noch das von Curtius (1975: 1-27) hierzu Erarbeitete hinzuzufügen: le bonheur commun meint eben in Frankreich etwas anderes als in Deutschland – und doch sind die Verwicklungen so dicht, dass das Trennende sich nur in Aporien der Volksgeschichte erschließt. In Ägypten hat man sich von 1952 bis 1981 an dem Versuch abgearbeitet, einen arabischen sens commun zu entwickeln, der sich an der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1795 orientiert, und ist daran kläglich gescheitert. Nichts wäre verwerflicher, als dieses Scheitern allein der »inneren Gesinnung« der Ägypter, dem Mangel einer eigenen inneren »Ideengeschicht« zuzuweisen. Dass Gesellschaft nur aus der Vorstellung von gemeinsamem Glück erwachse, kann man eigentlich im sich selbst immer nur fremdbestimmenden Ganzen des öffentlichen Handelns kaum ersehen. Und doch wäre es der Anstrengung wert, einmal im Kleinen der gesellschaftlichen Dynamik zu betrachten, wie sich trotz aller Hindernisse, die innere Gesinnung vom »gemeinsamen Glück« hier
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sich auf die Staaten und ihre Macht und auf die sie tragenden Nationen. Immer ist dieser pyramidale Monumentalismus im Spiel. Es war Friedrich Nietzsche, der als Erster und mit aller Radikalität dem von Volk, Staat und Religion geprägten Kulturbegriff ein Ende machen wollte. Gegen das Monumentale, das einschnürend Ordnung-Setzende, brachte er einen auf dem Einzelnen, dem Besonderen, dem Lebendigen beharrenden Kulturbegriff ins Spiel: Kultur als Findungs- und Schöpfungsprozess des Einzelnen. Allerdings wird Nietzsche in der angelsächsischen Welt, wenn nicht selbst als europäischer Monumentalist, dann als das Gegenteil, als subalterner Denker kleiner individualistischer Psychologie, gehandelt. Und so gilt den Empire-Denkern Nietzsche vornehmlich als Macht-Denker, von einen ihm durchaus geläufigen Kulturbegriff im Kleinen aber wollen die Stil-Denker nichts wissen. Und die potenziell subversive Perspektive von der »Welt der kleinen Dinge«, die Ludwig Klages (1977) noch erspürte, wird leicht als eine Nussschalenperspektive abgetan. Das Paradoxe ist, dass Nietzsche in der Tat ein Denker der europäischen Macht ist. Der »Prophet« und nachfolgend der Priester sind bei ihm die das »Ganze« der europäischen Kultur symbolisierenden Figuren. Wie könnte man diese, gerade im untergegangenen Christus noch monumentalisieren? Der Priester, mehr als der Pharao, ist der Schlüssel zum Verständnis des Kerns des modernen Typs. Monumentalistische Kultur aber braucht den Pharao, und sei es, dass man mit ihm als Gegenbild liebäugelte. Zum Problem wird der Monumentalismus der Moderne allerdings selbst, denn vom von der Nation reservierten »Monument« her kann einfach nicht die Schöpfungskraft des »Einzelnen«, wie überhaupt der Individualismus als kulturdynamisches Element verstanden werden. »Weltordnung« und »Weltkultur« oder gar »Weltgesellschaft« wäre vom stehenden Monument her nur als Repräsentanz von Nationen, ja, nur als Zusammenwachsen von Nationen zu denken. Als wäre ihm dies irgendwie bewusst, greift auch schließlich T. S. Eliot nach den Dingen und den kleinen Dimension der unmittelbaren Begegnung mit ihnen und über sie. Bahn bricht. Mir scheint, dass man an der immer noch geltenden Devise, was universell Geltung habe, nur in nationale Geltungsansprüche zu übertragen, nur überwunden werden kann, wenn man diese kleinen Entwicklungen des bonheur commun jenseits vom Staat und der »Nationalidee« wie der öffentlichen Religion und ihrer Glaubensnostalgie, überhaupt erst wieder als Reichtum des Menschlichen entdecken kann.
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Um diese aktuellen, unmittelbaren Begegnungen geht es in diesem Buch. Es wäre natürlich verwegen zu behaupten, Ägypten als modernes Gemeinwesen könne nur existieren, weil es weitgehend nur über solche, in Fakt »spontane« »Begegnungen« organisiert ist. Doch gewinnt man gerade im Blick auf den Ausdruck solcher Spontaneität eine Art nostalgische Ruhe. Dabei kommt man nicht umhin, von den großen Sehnsüchten zu reden; und Ägypten ist nicht nur den Ägyptern eine solche Sehnsucht, denn selbst in den großen Schriften steht es als Abbild des Paradieses, Wasser und Palmen, Milch und Honig, und wo das Grün von rotbraunen Felsen und Dünen abgelöst wird, auch als das Gegenbild, das den Zauber der Wüste einzuholen weiß. Und nicht erst seit Napoleons Expedition 180103, sondern schon zu Zeiten Alexanders und Hadrians war Ägypten, das müssen wir deutlich sagen, dem erwachsenden Europa eine ästhetische Utopie, ein Reiseland, ein Land für Kompradoren und Plünderer. Denn niemand, der nicht die Tempel- und Grabkammernreliefs, die Säulen und Stelen, die Fels- und Steinarbeiten ebenso wie die Zeichen und Figuren der Papyrusschriften und -Gemälde gesehen hat, kann ermessen, was Ägypten heute in ästhetisch utopischer Hinsicht heißt. Das Eingravieren der banalsten Dinge des Alltags, der Tiere, des Wassers, des Sands, der Felder und Pflanzen, der Verrichtungen der Menschen, ihre Taten und Untaten, in ein großes, steinernes Gemälde feinen Stils, dies erscheint uns in der Tat als ein »Ganzes«, in dem die Gestalt, die Diesseits und Jenseits miteinander verbindende Gestalt noch Leben-als-Ganzes war. Die Reliefs von Sakkara sprechen hier eine eigene alles überragende Sprache. In der Tat, die verloren gegangene Einheit des Stilganzen, in der Mensch und Natur – so müsste man es sagen – noch im Gott aufgehen, bindet unsere Sehnsucht, und das Wichtige ist, dass es keine Glaubenssehnsucht ist, sondern diese Einheit, die uns Europäern immer schon ästhetische Utopie war. Man käme also hier wieder in der Einheit der Dinge und des gelebten Stils zum Großen an. Doch gewinnt der Blick hier eine andere Dimension, indem er jener spezifischen Form, die das Ding jetzt nur für das Kleine, für die Wille-Welt des einzelnen Erfahrungsmenschen bereithält, erst große Bedeutung beimisst. Denn auch darin ist Ägypten pyramidal, in unserer kleinen modernen Welt der ästhetischen Utopie, dass es den Einzelnen schon als Erfahrungsmenschen prägte. Es gab und gibt vielleicht nur seltene Momente, in denen wir bereit sind, Ägypten als ästhetische Utopie anzuerkennen: Die Ägyptologie – ich denke nicht nur an die vielen Bildproduktionen in Textbüchern und im wis-
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senschaftlichen Vortrag, wo das ganz lebendig ist, sondern auch an den im Habitus vieler Ägyptologen zum Ausdruck kommenden Willen zur Bildnähe – ist ein solches Moment und auch mit jener Poesie, die mit Rilke das neue kosmologische Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Ägypten bezog, wird ein Ursprungsdenken deutlich, das freilich schon bald dem »Orientalismus« abschwor und zu den Griechen und Römern, den Romanen und Germanen zurückfand. Den Deutschen galten schon in Klassik und Romantik die Griechen als das ästhetische Vorbild. Der Blick war hier eben aber nicht durch die innere »romanische« Geschichte bestimmt, sondern als abstrakte Idee der Vermenschlichung. Und gerade dabei, in dieser »Aneignung« sind die Deutschen auf das ganz besondere Moment gestoßen, das die Griechen so ganz rabiat von den Ägyptern unterscheidet: Der reflexive Umgang mit Ägypten als einer anderen Kultur war ihnen selbst ein Moment des ästhetischen Differenzierens, des Aufsteigens von Kunst und Kunsturteil. Die Differenz von reflexiver Bildung und Leben, ja, von gesellschaftlicher Ordnung und Kunst, erwuchsen ihnen in einer Weise, wie das die Ägypter – gewissermaßen als Dauerusurpatoren ihrer eigenen in Landschaft und »Kultursteinen« präsenten Kultur – so nicht kannten. Denn war das Kunstgefühl bei den Griechen auch a l l g e m e i n – darauf legte Schlegel Wert –, so gab es aber schon die Kritik, die ihre Werke auf Basis allgemeiner Urteile, die sie schon vorfanden, bestätigen und erklären (Schlegel 1972: 251). Vielleicht war es diese Bewunderung des »Allgemeinen« in der Kunst und diese so früh ansetzende, ja, sich aus dem Leben und der Kunst selbst heraushebende Kritik, die einem Friedrich Nietzsche ein Leben lang so große Schmerzen bereitete. Mit dieser Form der reflexiven Differenzbildung hatten die Ägypter nichts im Sinn. Zwar war auch den Ägyptern die Kunst a l l g e m e i n, aber in einem ganz anderen Sinn als den Griechen. Kunst war Rang und Ritus zugleich, sie war in den Zyklus des Lebens integriert, in Haus und Hof präsent, und kannte so Bestätigung nur als Wiederkehr des Ganzen. Es galt den tradierten Stil zu hüten, ihn zu feiern und dabei zugleich alle Regungen des Lebens einzuformen.17 Zur unmittelbaren Begegnung mit diesem Land gehört aber auch, dass Ägypten in einem immer wieder angefachten Spiel zu einer Metapher für etwas ganz Anderes wird, für etwas statisch Negatives steht. Fürwahr, es 17 | Eine sehr erhellende Einführung in die »Stilkultur« der alten Ägypter und ihre die Jahrtausende überdauernde »Formensprache« liefert Jan Assmann (1986).
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ist etwas, wozu wir, die Modernen, nicht gehören wollen, etwas Uraltes, Überholtes, das, seit die Zeichen Europas aufgestellt waren, nicht mehr existiert oder nur noch in der Finsternis von Fremdherrschaft, Nepotismus und Armut. Dieses letztere Bild begegnet uns in der Soziologie und Orientforschung, aber auch in der modernen Reiseliteratur. Man erinnere sich an Max Webers Wort von der »Ägyptisierung«, womit nichts anderes gemeint war, als die Korrumpierung der Preußischen Sachverstands-Bürokratie durch das quasi-feudale Eigeninteresse der Junker; wie überhaupt war für ihn der materielle Machtzuwachs, den nachgeordnete Verwalter und Bürokratien im direkten Zugriff auf das öffentliche Gut gewannen, der Hauptgrund für den zyklischen Zerfall von Reich und Zentralmacht. Ohne seine Ägyptenstudie, so möchte man behaupten, wäre Webers Herrschafts- und Religionssoziologie, ganz zu schweigen von seinem Begriff von »Wirtschaft«, nicht zu denken. Dagegen ist Rilkes Ägypten-Erlebnis bis in seine späte Lyrik als magisch-charismatisches Aufbrechen einer urkulturellen Bilderfahrung in Sprache zu verfolgen. Und wenn Eliogabalus, auf den sich Stefan George, Urvater des schönen Machtgedichts, beruft, auch ein Levantiner und kein Ägypter war, so barg die Idee eine Art Sonnen-Gott im Symbol des »schwarzen Steins« wieder einzuführen, in der hybriden Kulturwelt des späten Hellenismus doch auch eine starke ägyptische Referenz. Auf drei weitere Verwicklungen der Herausforderung des Falls »Ägypten« für die Kultur der Moderne ist denn doch auch unter »monumentalistischen« Gesichtspunkten hinzuweisen: Es ist dies erstens die Tatsache, dass »Ägypten« jenseits der ganzheitlichen, rituellen Integration der Gesellschaft schon früh für das Modell eines militärisch-bürokratischen Zentralstaats steht. Die ursprüngliche ganzheitliche Legitimität als zentralistischer »Gottesstaat« ist allerdings über einen sehr langen, weil immer auch wieder von innen her bekämpften und so auch immer wieder rückgängig gemachten, in Wellen auftretenden Prozess der feudalem MachtDifferenzierung zum Opfer gefallen, schrittweise, nie aber – auch unter voller Fremdherrschaft nicht – gänzlich ausgelöscht worden. Die in diesem Differenzierungsprozess sich entwickelnden Spannungen zwischen »Pharao« und »Prophet«, zwischen säkular, machtpolitisch handelndem »König« einerseits, und religiös legitimiertem »Prophet« andererseits, sind unter den Stichworten »Imperium« und »Demokratie« – gewissermaßen unter Umgehung der Griechen oder auch durch ein ursächliches Wiederaufgreifen – als ein Grundproblem in die Diskurse der globalen Moderne
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auf uns gekommen. Das sozialwissenschaftliche Stichwort, unter dessen Bann wir heute stehen, und das diesen Prozess reflektiert, heißt »Politische Theologie« und ist von dem katholischen Sozialrechtler Carl Schmitt – durchaus den Coup d’État von 1933 legitimierend – eingeführt worden. Wer hätte noch in den 1970er Jahren, vor dem großen Ereignis unserer Zeit, der iranischen Revolution, gewagt, von Carl Schmitt als von etwas anderem als einem interessanten »rechten« Denker zu sprechen. (Und doch waren Walter Benjamin, Martin Buber, und Jakob Taubes auf der linken, Leo Strauss und Erich Voegelin auf der »rechten« Seite von Schmitt gleichermaßen wie bezaubert. Sie reagierten so, als deute er ein Problem an, das die Moderne gerade an diesem Punkt des wie immer imaginierten »Gottkönigs« ein Urerbe der Geschichte nicht umgehen könne.) »Ägypten« steht also mitten in diesem Komplex der »Politischen Theologie« und wird so auch zu einem gleichsam kulturtheoretischen Terminus, der sich in gegnerischer Spannung, wenn nicht in strikter Ablehnung von »Politischen Ökonomie« im Feld des modernen Geschichtsverständnisses behauptet. Es wäre, zweitens, aber falsch, die Macht des »Propheten« und seine historischen Wirkungen lediglich unter dem Gesichtspunkt der Revolte oder Revolution gegen den »Pharao« zu stellen. Ohne den »Propheten« ist das, was wir Individualismus nennen, sind die Formungen des modernen »Ich«, nicht denkbar. Die sich daraus ergebenden Diskurse und Potenziale religiöser Spiritualität einerseits und säkularer Kreativität andererseits sind zu inneren Momenten der Kultur- und Gesellschaftsentwicklung zeitgenössischer Gesellschaften geworden. »Ägypten«, das wird zu zeigen sein, ist ein überragend deutliches Beispiel für die Probleme der Entfaltung der massenkulturellen Widersprüche in den Zivilgesellschaften der globalisierten Moderne. »Ägypten« steht drittens in der Tat noch für die magische Kraft Afrikas, die Mysterien und Nostalgien, die immer auch mit dem Anspruch auf eine ganzheitliche Weltgestaltung auftreten. Es ist das Magische, das die Übertragung des Naturschönen in kulturell geformten Stil begleitet und ermöglicht, ja, sich als ein Lösungspotenzial in den Verwicklungen des Seienden anbietet. Kurz, hier treffen »Kultur« als Kunst und Massenkultur als im Konsum sozialisierter Lebensstil zusammen. Ich habe das oben bereits angezeigt, »Ägypten« steht auch in diesem Zusammentreffen für ein Moment der modernen »ästhetischen Utopie«.
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2 Ägypten: Kulturlandschaft als sozial-politische Metapher: Das moderne Ägyptenbild vermittelt zwei sich widersprechende Botschaften: hier die Goldene Zeit der alten Geschichte, das Beispiel einer unverwüstlichen altorientalischen Hochkultur, dort der krasse Gegensatz von heute, die Armut von großen Teilen der Bevölkerung und die vielfältigen Abhängigkeiten des Landes von fremden Mächten, allen voran die wirtschaftliche Abhängigkeit von Amerika und Europa und von den Öl-Staaten am Golf. Ägypten ist immer noch auf beträchtliche Hilfe von außen angewiesen. Diese gegensätzlichen Botschaften korrespondieren, wenn es um den kulturellen Dialog geht, mit der extrem gespannten inneren kulturellen Situation: Einerseits ist es eine Wiege Europas und des theologisch erwachenden Christentums, andererseits begreift es sich als ein islamisches Kernland. Ägypten kennt eine lange Tradition der Säkularisierung, basierend auf dem schon unter Napoleon eingeführten Bürgerlichen Recht, einem hoch differenzierten System moderner staatlicher Verwaltung wie den frühen Anfängen einer industriell-kapitalistischen Entwicklung nicht nur in den Städten, sondern auch in allen wichtigen Teilen der Landwirtschaft. Dem scheint der hohe Grad der Islamisierung des öffentlichen Lebens nicht zu widersprechen, auch nicht, dass in weiten Teilen der Bevölkerung ein Wirtschaften vorherrscht, das weitgehend informell ist und – durch Rimessen der Arbeitsmigration gestützt – in weiten Teilen noch Züge der Naturalwirtschaft ebenso wie der Basarökonomie trägt. Die tiefgreifenden Widersprüche in der Religionsgeschichte des Landes, die urtümliche Landwirtschaft, stehen einer gleichermaßen fest verwurzelten modernen Gesellschaft mit einem hohen Grad der Urbanisierung gegenüber. Solche Gegensätze korrespondieren mit Struktur-Problemen, wirtschaftlichen Armutssektoren, und »rückständigen« Anwendungen der Religion, bei gleichzeitig hochentwickelten Bildungseinrichtungen, Technologie-Sektoren und einer lebendigen intellektuellen Kultur. Mit einem Modewort könnte man diese Vielfalt der nach innen und außen verlaufenden Beziehungsgeflechte betonen: Wir haben es mit dem absoluten Fall einer »trans-nationalen« Gesellschaft zu tun, in der jeder Einzelsektor in sich grenzübergreifend strukturierte Verbindungen unterhält. Die nationale politische Verfassung bleibt davon nicht unberührt, sie bleibt aber bestehen. In der modernen Philosophiegeschichte figuriert Ägypten gleichermaßen widersprüchlich als das eigentliche Modell von »orientalischer« Gesellschaft, naturgebunden, statisch einerseits, andererseits zugleich
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auch das Land der primären Quellen der europäischen Kultur und des Westens. So etwa erscheint Ägypten schon in Hegels »Philosophie der Weltgeschichte« (Hegel 1923: 460-514). In der modernen vergleichenden Zivilisationsanalyse gilt das Ägypten des Pharaos, im Gegensatz zur herkömmlichen Vorstellung vom puren Heidentum, auch als das Land einer inneren, wenn auch widersprüchlichen Beziehung zum sich langsam durchsetzenden Christentum (Stroumsa 2005; Assmann 2003, vgl. Said 2003). Die Ägyptologie (Breasted, Hornung, Morenz, Assmann) hat gerade darin die metaphorischen, rituellen und symbolischen Momente der Kontinuität des »alten Ägyptens« im schleichenden Formungsprozess des erwachenden Europa entdeckt. In der Moderne erscheint Ägypten mit seinen religiösen Institutionen, vor allem die Al-Azhar Universität, als ein islamisches Kernland und zugleich und überhaupt als das Land, in dem die grundlegenden Diskurse über den Islamischen Modernismus, die schnell die ganze Islamische Welt beherrschten, zuerst geführt wurden Wichtig ist natürlich, wenn man das Land verstehen will, dass die Nillandschaft mit dem Rätsel der nicht identifizierbaren Flussquelle in Afrika und dem im Norden breit sich fruchtbar zum Mittelmeer öffnenden Delta selbst schon zu einer realitätsbindenden Metapher geworden ist. Aber auch in einem einfachen geografischen Sinn setzen Nil-Tal und Wüste auch heute noch die Grenzen: Der Gegensatz zwischen Sesshaftigkeit und Beduinentum war nirgendwo sonst so bestimmend für den gesamten Verlauf der Geschichte und Kulturentwicklung eines Landes wie hier. Überragend ist das Bild von der sich über Jahrtausende selbstbehauptenden Kultur als Gabe des Nils, das sich gegen das »Fremde« lange wehrende, und dann doch Opfer von Fremden gewordene Land der Fruchtbarkeit. Auch das ist eine historische Last. Immerfort fließt der Nil, aus rätselhaften fernen Quellen gespeist, mit seiner natürlichen Fruchtbarkeit und Schönheit tief aus dem Innern Afrikas heraus durch die Wüsten ins Mittelmeer hinein. Natürlich waren es diese Eigenarten, und vielleicht eben mehr die historische als die strategische Bedeutung Ägyptens, die Napoleon zur Invasion (1798-1801) verleitete. In der Folge entwickelte sich Ägypten unter dem Regime von Muhammad ´Ali (1805-48) zum ersten modernen arabischen Land, zu einem Beispiel von Industrialisierung und Modernisierung für alle arabischen Länder. Zwischen den 1850er und den 1920er Jahren entstand ein kleiner industrieller Sektor auf Basis der Verarbeitung und des Exports von Baumwolle, die nun selbst in großem, fast industriellem Maßstab angebaut wurde. Die mehr als hundertjährige Erfolgsgeschichte des
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ägyptischen Baumwollanbaus prägte das Land in seiner modernen Gesamtstruktur, nicht nur in der Agrarwirtschaft. Der Niedergang der ägyptischen Baumwolle in den 1930er Jahren verhinderte aber alle Anstrengungen, Ägypten insgesamt von einer zum Teil noch auf bloße »Subsistenz« hin produzierenden Wirtschaft in eine diversifizierte moderne Gesamtwirtschaft zu überführen (Mabro und Radwan 1976). Doch trotz aller strukturellen, wirtschaftlichen und technologischen Mängel blieb Ägypten ein zum Teil hoch modernisiertes Land, dessen Gesamtentwicklung jedoch immer – in positiver wie negativer Form – in enger Abhängigkeit von den politischen und kulturellen Entwicklungen in Europa stand, eine Abhängigkeit, die nach dem Friedensschluss mit Israel 1977 nur durch diejenige von Amerika und den Golfstaaten abgelöst wurde (Hopwood 1985). Und natürlich ist ein wichtiger Teil der intellektuellen und technischen Eliten des Landes heute noch an französischen, englischen und amerikanischen Universitäten ausgebildet. Viele Ägypter sind wichtige Funktionsträger in den Bildungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftseinrichtungen der Länder der Golf-Region, meist sind es beurlaubte ägyptische Beamte, die so ein auskömmliches Leben für ihre Familien in Kairo und Alexandria erwirtschaften. Insbesondere nach dem Oktoberkrieg von 1973 bilden die Heere von Millionen ägyptischer Bauern, die mit ihren Lohn-Rimessen aus der Arbeitsmigration im Golf den Umbau der ägyptischen Dörfer vom Lehmbau zum modernen Hausbau finanzierten, eine ganz eigene Komponente der wirtschaftlichen Dynamik des Landes. Doch nicht zu unrecht figuriert Ägypten, trotz der relativ guten modernen Infrastruktur, des hohen Grades der Urbanisierung und kulturellen Verwestlichung, im gegenwärtigen soziologischen Diskurs noch immer als der Urtyp des Agrarwirtschaftslandes und als der Prototyp für einen bürokratischen Staat, ein metaphorisches Modell, das in der Tat zurückreicht in die Zeit der antiken Geschichte, wie sie Max Weber (1988: 105-133) beschrieben hat. Aber das Weber-Modell, Zentrum und zentrifugale Kräfte in zyklischen Wellen der Entwicklung einander gegenüberstellend, blieb auch für Interpretationen des modernen Ägypten noch bestimmend: die Abwesenheit der äußeren Entfaltungsmöglichkeiten (zumindest bis zur Entdeckung der Wüste als potenzielles modernes Agrar- und Siedlungsland), die Abhängigkeit vom Nil und die Bedingungen der zentralen Organisation in der Bewässerungsanlage (hydraulische Gesellschaft – asiatische Produktionsweise), kollektive Arbeit, Bindung an die Dorfgemeinschaft und die Abwesenheit der Voraussetzungen für Individualismus und private Initia-
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tive (Baer 1969). Hier wird also die pharaonische Struktur schon als die unauflösliche und damit auch als die eigentlich moderne gesetzt. Das ging dann mit dem symbolischen Überleben des »Pharao« einher. Im modernen politischen Diskurs des Landes überwiegt das Bild des Pharao als handele es sich um die rein säkulare, absolute Staatsmacht über das Land der gläubigen Massen (Kepel 1983). Hier wurden dann schon die strukturellen Kontinuitäten des absoluten Staates – äußeres Zeichen der neue »pharaonistische« Staatskulturstil in der Architektur von Universitäts-, Justiz- und Militärneubauten – in die Auseinandersetzungen hineingelesen, die dieser in der Begegnung mit dem islamischen Fundamentalismus erfuhr. Bei diesen allenthalben spürbar aufbrechenden Bedingungen eines historisch tief wurzelnden strukturellen Erbes ist es nicht verwunderlich, wenn dörfliche, ländliche und überhaupt uralte Volkstraditionen in großen Teilen der Bevölkerung weiter fortleben. Die moderne ägyptische Gesellschaft erscheint immer als durch den offenen Gegensatz zwischen der gebildeten, im allgemeinen stark von westlichen Lebensstilen geprägten Mittelklasse einerseits, und den dörflich ländlich geprägten Bevölkerungsmassen andererseits, auf dem Land wie in den Massenwohnvierteln der Großstädte, gekennzeichnet. Die »Fellahin« (Ayrout 1952), ihre unter modernen Bedingungen oft obskur erscheinenden Überlebensstrategien, wie überhaupt das unwiderstehliche Naturell der ägyptischen Lokalkultur und die darin begründete Ambiguität der Ägypter, waren und sind Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher und literarischer Bücher, wobei diese Kultur für ägyptische Autoren die gleiche Perplexität zu besitzen scheint wie für die westlichen. Die Tatsache, dass sich eine ägyptische Anthropologin erst kürzlich für einen Neudruck von Winifred S. Blackman’s The Fellahin of Upper Egypt (ursprünglich 1927 erschienen; Ikram 2000) entschied, scheint mir auch ein Zeichen dafür, dass der Kontinuität der Lebensstile und der Mentalitäten der ägyptischen »Volkskultur« gerade auch im zeitgenössischen modernen Ägypten wieder Rechnung getragen wird. Die kulturellen Drehungen, mit denen sich dieser gespaltene ägyptische »Typ« in den alten und neuen Massen-Vierteln von Kairo wieder erfindet, beherrschen das Lebenswerk des Meisters der modernen ägyptischen Literatur, des Nobel-Preisträgers Naguib Mahfuz. So dreht sich auch die jüngere Literatur vornehmlich um diesen »Typ«. Noch ist in Ägypten und in der gesamten arabischen Welt der Ruhm der Umm Kulthum nicht verblasst, der ägyptischen Sängerin der 1940er, 1950er und 1960er Jahre, die es verstand, die klassische arabische Musik mit dem ekstatischen Ausdruck der
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ägyptischen Volksmusik zu verbinden und damit ein Millionenpublikum zu begeistern. Im Gegensatz zu den durchaus beständigen kulturellen und symbolischen Unterschieden zwischen Fellachen und Städtern und den deutlichen Kontrasten zwischen städtischen und ruralen Landschaften, zwischen den Orten der massengeprägten Lebenswelten und den Welten öffentlicher Institutionen, entfalten sich Bevölkerung, Warenwelt und Kommunikationsnetze in beständigem Wachstum. Trotz der mit bedeutsamer Allgemeinheit gesetzten statistischen Kategorisierung, die 1999 noch 60 Prozent der Bevölkerung als im Agrarsektor Beschäftigte ausweist und einen nahezu ebenso großen Anteil an Analphabeten, haben Geografen in neueren Untersuchungen einen wachsenden und sich ständig beschleunigenden Trend der Verringerung der sozialen und räumlichen Unterschiede und Disparitäten in der ägyptischen Gesellschaft ausgemacht. Besonders in der Deltaregion nördlich von Kairo können ganz neue Züge der Urbanisierung der Dörfer, ganzer Landschaften gezeichnet werden (Denis 1998, 1999). Für den heute dort Reisenden verstärkt sich der Eindruck, dass die alten ländlichen Stadtzentren des Deltas, Banha, Tanta, Damanhur, aufgereiht zwischen Kairo und Alexandria, sich gar bald zu einer eigenen Multi-Millionen-Stadt entwickeln könnten, zu einem neuen mediterranen »global« Metropolis. Dieser Prozess der Verdichtung von uraltem Siedlungsraum durch Bevölkerungswachstum, Massenmobilität, Konsumkultur und elektronischer Kommunikation, scheint unaufhaltbar zu sein. Es wäre unverzeihlich, wenn man den Islam als eine moderne Bedingung der Gestaltung dieses Landes vernachlässigen würde. Seit 1880 und hervorgerufen durch den panislamischen Aktivismus einer so schillernden Figur wie Jamal al-Din al-Afghani (1838-97) verwandelte sich Ägypten in ein Zentrum der sogenannten islamischen Reformbewegung und des islamischen Modernismus. Figuren wie Muhammad ´Abduh (1849-1905) und Rashid Rida (1865-1935) unterwiesen mit der Zeitschrift al-Manar (Der Leuchtturm) von Kairo aus islamische Gelehrte in der ganzen Welt, von China, dem malaiischen Archipelago bis Afrika und Amerika, darin, wie Muslime mit den Dingen der modernen Welt umzugehen hätten (vgl. Stauth 1999). Neben vielen anderen ägyptischen Gelehrten trugen sie dazu bei, dass die al-Azhar Universität und das später gegründete Dar al-Ulûm zu führenden Institutionen der modernen islamischen Wissenschaftswelt wurden. Ohne Zweifel trug Ägypten von hier aus zur Formung des modernen islamischen Selbstbewusstseins und zu einem neuen islami-
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schen Intellektuellentum und des modernen politischen Islam bei. Seit ihrer Gründung 1928 spielte die Muslimbruderschaft eine aktive Rolle bei fast allen wichtigen Ereignissen der Nah-Ost-Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts, wobei der von der Bruderschaft vertretene Typ des Islam beträchtliche Teile der Islamischen Welt und der ägyptischen Gesellschaft beherrschte und bis heute noch maßgebend wirkt (Ruthven 2000: 30522). Es darf aber nicht unbetont bleiben, dass die Herausforderungen des religiösen Modernismus und sein politischer Charakter, trotz militanter Unterdrückung durch religiöse und säkulare Kräfte, noch immer jedes Jahr Millionen von Menschen, Ägypter aller Schichten, zu den Festen ihrer Heiligen zurückkehren (Gilsenan 1973; Mayeur-Jaouen 2004, 2004a; Schielke 2004). Und es sind diese Wallfahrten, die anzeigen, wie wichtig die momentane Rückkehr zu Traditionen der alten »Volkskultur« auch eine Bedingung des modernen nationalen Selbstverständnisses bleibt. Mir scheint – und dies will ich mit diesem Buch durchaus zeigen –, dass diese Form der momentanen, still-religiösen Massenkultur, wenn auch noch wenig beachtet, ein entscheidendes Moment der Zukunft und der Entwicklung der globalen Moderne wird; spiegelt sich darin doch der – immer auch wieder steuerbare – kulturelle Wille von Millionen von Menschen wider. 3 Begegnung mit der Geschichte – Politische Kultur der Moderne: Ägypten ist also im Konkreten ebenso sehr Begegnung mit unserer Geschichte wie auch von Bedeutung für unsere Gegenwart. Ägypten unterliegt einem allseitigen touristischen Interesse, und Touristen strömen in der Tat aus aller Welt in dieses Land. Aber das Land steht auch, wie wir gesehen haben, als Symbol für eine soziale und kulturelle Realität, die für viele Teile der Welt gilt, die heute im Brennpunkt der strategischen und hegemonialen Interessen stehen. Man hat dieses Zusammentreffen von tiefen historischen Bezügen, Tourismus, moderner Massenkultur und Armut in solchen Regionen bisher allzu euphemistisch als »Globalisierung« bezeichnet. Das reale Problem bleibt; und auch unter kulturtheoretischen Gesichtspunkten sind die Wirkungen der in diesen Komponenten verankerten Kontaktprobleme kaum bewältigt. Wenn man sich also von der Seite der Beschäftigung mit heiligen Orten in Ägypten, deren Bedeutung für die ägyptische Geschichte und Kultur fast immer unterschätzt wurde, herkommt und das Nildelta betrachtet, dann rückt die tiefe historische Verwurzelung und die darin sichtbar gewordene besondere kulturelle Dimension dieses Landes als Grenz- und Kontakt-
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zone zuerst in den Blick. Woher kommt trotz allem die eigenständige und überzeitliche Kraft, auf der diese Kultur zu ruhen scheint? Von Weber – aber natürlich von Aufklärung und Romantik geprägt – ausgehend, über Jaspers, Arendt und andere, wurde Welt, moderne Welt, als aus den Prinzipien und Traditionen der Hochkulturen weiterlebende Gesellschaft gedacht oder als Bündel globalisierter kultureller Spannungen neu erfunden. Ägypten – das alte und, nur insoweit wir es mit den Resten der Altertümer zu tun haben, auch das neue – war immer dabei. Mehr als die Religion standen Staat und gestaltete Welt, »Stil« im Ganzen, »Lebensstil« oder »Kulturstil«, im Vordergrund. Die alte Religion war insofern – für die Nicht-Ägyptologen – abgehakt, als es sich ja seit Moses um etwas Ausgelagertes zu handeln schien. Über den Umweg der Wüste, über den Sinai, kam ein Bild dieser Religion nach Jerusalem, das gewissermaßen Prototyp des Heidentums war, nie aber eigentlich auch »Ursprung«. Erst mit Freuds »Moses ein Ägypter« (Freud 1939) und nachfolgend Manns »Josef und seine Brüder« (Mann 1960) gewann Ägypten Vorstellungskraft, die nicht nur fremd-orientalisch und exotisierend, nicht nur auslagernd feindlich dachte, sondern auch eine Form gewann, auf die der christlich denkende Teil der Welt sich ursprünglich beziehen konnte. Dem weltgeschichtlich denkenden 19. Jahrhundert war Ägypten zunächst und vor allem einmal das erste »Empire«, der erste große, bürokratisch ausgefeilte Zentralstaat, der in einem Dauerringen über mehr als 3000 Jahre, trotz der ständigen Bedrohung des Zerfalls, in Wellen sich gegen die Interessen der »feudalen« zentrifugalen Kräfte, ja, selbst in Zeiten der Fremdherrschaft, immer wieder rekonstituieren konnte. Woher kam diese Kraft der unauflösbaren gesellschaftlichen Integration des Ganzen? Man liegt sicher nicht falsch, wenn man diese Kraft auf die offenen, fließenden Formen der rituellen Gestaltung des menschlichen Lebens, der Öffentlichkeit wie des natürlichen Lebens zurückführt: Bestimmtheit in der stilvollen Gestaltung des inneren und äußeren Lebens, bei gleichzeitigem Primat der Offenheit in der Erfahrung von Welt und Ereignis als Ganzheit und elementare Einzelheit des einmal gesetzten Stilbewusstseins. Mag man heute in der Ägyptologie erkennen, dass hier im Kern schon – trotz aller äußerer Gebundenheit – der Gedanke von Moral und Pflicht, wie ihn das spätere Christentum verficht, aufgetreten ist. Zweifellos aber sollte der eine große Stilgedanke die sozial-integrierende Behauptung gegen das Zweifelnde sein, das der persönliche Gott erst in die Welt setzte; ein auch den Bruch, den der Islam bedeutete, überdauerndes, ja, in
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ihn hineingedachtes Integrationsprinzip. Die Ungebrochenheit des Stilganzen – und sei es nur im ideellen Sinne –, der Reichtum der äußerlichen Geste, wie auch der nur begleitende Anspruch auf das im Innerlichen gegründete und gestärkte Verhalten, das war das still weiterwuchernde Prinzip der ägyptischen Weltgestaltung. Der »Pharao« – welche Niederlagen er auch äußerlich hinnehmen musste – war von jenen Zweifeln kaum angekränkelt, die den das Innerliche überbetonenden »Propheten« bewegten. Es wäre fatal, »Ägypten« nur unter dieses bloße Prinzip der staatlichpolitischen Integrationskraft und Macht über das »Geistige« zu stellen, im »Pharao« nur die Ur-Macht des »Empire« und des bürokratischen Zentralstaats zu sehen. Darin allein ließe sich heute kaum noch von der modernen Herausforderung Ägyptens sprechen. Doch stellt sich die Frage, welche Bedeutungsmomente dieses »Reich« für die großen Mächte, die gegenwärtig die Weltgeschichte bestimmen, noch bietet. Es ist jedenfalls erstaunlich, wie wichtig das pharaonische, aber auch das moderne Ägypten – klein an Bevölkerung und wirtschaftlicher Kraft und mit den »großen Reichen« der Tradition in Indien und China nicht zu vergleichen – für den soziologischen Begriff und das innere Kulturverständnis des eigentlichen, des kulturellen »Empire« war und ist.18 Was von Ägypten über die Griechen und Römer als das wirkliche Bauwerk Europas und des Westens ersichtlich ist, scheint auf dieser kulturellen Kraft zu beruhen, selbst dann noch, wenn es als das Obskure, das Andere, das schwülstig Orientalische abgetan wird. Ägypten hat nicht nur eine monumentalische, es hat insgesamt eine musealisierte Präsenz im Denken Europas und des Westens. Angst davor und stiller Eifer darüber, dass man es im modernen Weltspiel der Kulturen als authentisch wiedererwecken könnte, halten sich dabei im Gleichgewicht. Ich denke an ein Wort von Karl Jaspers, der am Wendepunkt von 1945 die Notwendigkeit des Wandels in Europa beschwor. Europa brauche, so dachte Jaspers, um nicht im Schatten der neuen Siegermächte unterzugehen, eine eigene 18 | Man würde Indien, der älteren Kolonie im modernen »Empire«, einen schlechten Dienst erweisen und den Kern, der sie im britischen Sebstverständnis ist, missverstehen, wenn man Ägypten – und vielleicht keineswegs nachgelagert auch Arabien – als die wichtigste Kulturressource des Empires benennen wollte. Aber bei den hier so pragmatisch angetippten Worten »Empire« und »Kulturressource« wird schon deutlich, auf welche holprigen Sandwege wir uns hier begeben, vgl. Eisenstadt (2006).
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neue Kraft der »Musealisierung«, ein neues Geschichtsbild, das es aus der Dunkelheit der Vergangenheit herausheben und jenen Denkformen entsprechen, ja, über sie hinausweisen könne, die bei den Siegermächten entwickelt waren. Amerika und Russland, hier die »Freiheit«, dort die »Gleichheit« als »musealisierte« Totalismen, als neue nur – so muss er es verstanden haben – halbwahre Extrempole, die den Blick für das Ganze der Menschheitsgeschichte verstellen. Aus heutiger Sicht fällt es schwer, diese Ansicht zu teilen, ja, ihr noch irgendwelche Bedeutung beizumessen, der neo-idealistische Humanismus mit dem Blick auf die Menschheit als Ganzes scheint im gegenwärtigen Tanz der Macht, wo jedes Verstehen nur zum Mittel der Markterweiterung, des Wachstums und der Geldvermehrung noch gut ist, keine Basis mehr zu finden. Und dennoch scheint das Problem, was bei dieser Ballung von Macht noch tragfähig ist, wo Kraft zu gewinnen ist und wie sich die Träger äußeren Reichtums und politischer Macht noch unterscheiden können, ganze Heerscharen von Wissenschaftlern und Experten zu bewegen. Und zu keinem Zeitpunkt ist hier tiefer zurück in die Geschichte gegriffen worden als eben jetzt. Ob »Athen«, »Jerusalem« oder »Mekka« als geistige Symbolismen moderner Erneuerung, »Memphis« oder »Rom« wieder als »Stil-Güter« des neuen Reichsdenkens ins Spiel gebracht werden, musealisierendes Denken versenkt sich heute wieder in die Antike und Ägypten steht da mit unauflösbar scheinender Faszination am Anfang; und selbst wo der »Bruch« gemeint ist, den die Spätantike brachte, wird der große Gestus der Referenz etwa im Prinzip der Dauerkrise der modernen politischen Institutionen bemüht. Dies ist das Paradox des gegenwärtigen Kapitalismus: Die Suche nach Geld und Macht tragenden Kräften kann ohne Fundierung im Geschichtsbild und die tiefe Verwurzelung in der Antike nicht auskommen. Wenn wir also zunächst in ganz banaler Weise von der heutigen Bedeutung des »Pharao« sprechen und uns über diese aktuelle Herausforderung Ägyptens den Kopf zerbrechen, so spielt – ich habe das bereits angedeutet – die Frage eine Rolle, worin die kulturelle Macht dieser Kultur liegt, wenn sie auch das, was wir seit Jaspers den eindeutigen Offenbarungs-Monotheismus nennen, hervorgebracht – ja, man muss es sagen – bis heute mit geprägt hat. Ich sollte die Frage vielleicht eindeutiger stellen, wie konnte ein Urtyp der Zivilisation, der die eindeutige Neigung eines großen kulturellen Stils nur durch die flexible Umgarnung des Unerklärlichen mit Hilfe der Verbindung von mono- und polytheistischen Vorstellungen zugleich
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so nachhaltig pflegen konnte, sich in jenen Offenbarungsmonotheismus transformieren, der zugleich selbst zu einem Transportmechanismus und Bewahrer des hinter sich gebrachten Kulturerbes aufschwingen konnte, eines Kulturerbes, das er zugleich auf das Heftigste bekämpfte? Dies ist die einfache und zugleich erschreckende Wahrheit, die Amerika und Europa – wie immer man das unter den verschiedenen Bedingungen des Drangs nach Authentizität (nichts anderes ist die moderne Suche nach unverbrauchter und sich abgrenzender kultureller Macht) unter kapitalistischer Entwicklung konkreter betrachten möchte – zusammengeschweißt hat. (1) An dieser Stelle möchte man den ersten großen Punkt setzten und deutlich hervorheben, dass, wer heute nach der »Herausforderung Ägyptens« fragt, nicht an der Bedeutung gerade dieser Verbindung von Europa und Amerika aus dem Geist Ägyptens vorbeigehen kann. Die moderne Herausforderung Ägyptens fragt: Was bedeutet diese Verbindung? Paradoxerweise hat sich die Verbindung für die heutige Welt erst am Zeitpunkt eines unerwartet auftretenden Kulturereignisses manifestiert: die iranischislamische Revolution von 1978/79. Als ein bedeutender, heute verteufelter oder vergessen gemachter französischer Philosoph im Zusammenhang mit dem Phänomen Khomeini und dem Ereignis dieser Revolution von einem Aufschrei unterdrückter Geschichte sprach, von prophetischer Geschichte, die jetzt das moderne Zeitalter einhole, sich neuen freien Lauf suche, gegen eine öde weltliche Macht mit ihrer bürokratisch-militärischen Totalität (Prophet gegen Pharao), da war zumindest eines deutlich: dass der Spätantike und ihrer kulturellen Macht nicht einfach damit beizukommen ist, dass man jetzt selbst das Prophetische (und ein neues Menschenbild in ihm) zu postulieren begann. Man verfing sich selbst in Widersprüche. Denn die prophetische Legitimation weltlicher Macht, wie sie als allgemeines Muster der politischen Herrschaft aus dem Niedergang des »Pharaos« einst hervorgegangen war, ist ja nichts anderes als das Einholen einer quasi stillen europäisch-amerikanischen Entwicklung, jetzt nun nicht mehr still, sondern unter scheinbar anderen – orientalischen – Vorzeichen laut in die Welt hinausposaunt als prophetisch begründeter moderner Verfassungsstaat. Gerade aber hierin ruhen auch die aktuellen Herausforderungen: Denn es scheint, dass über das Prophetische sich die legitimierenden wie die kreativen Potenziale aktivieren lassen, die der auf »permanente Revolution« ausgelegte kapitalistische Verfassungsstaat braucht, um sich den Widersprüchen einer vom »Trägervolk« losgelösten
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Nationalstaatsverfassung einerseits und den universell totalisierenden Freiheits- und Gleichheitsgeboten andererseits stellen zu können. Die Zerstörung der Nationalstaaten wird (neben der militärischen) immer auf zwei Optionen zurückgreifen: a) die Totalisierung von Minderheits- und Armutsbevölkerungen als Momente des Anerkennungs- und Befreiungskampfs gegen wie immer »korrupte« und illegitime (andere) nationale Regierungen; b) die Aktivierung kultureller Authentizität als das »korrekte« Muster kultureller Emanzipation, Geschichte und Religion als die beiden Grundkomponenten permanenter Neubestimmung. In Ägypten tritt dieser Gegensatz zwischen »Pharao« (militärisch-bürokratisch bestimmte säkulare nationalstaatlicher Macht) und »Prophet« (zivil-religiöses Moment der Formen modern-westlicher, in den Verfassungsstaat als »Wert« demokratischer Allgemeinheit und Erneuerung eingebauter Governance) nur deshalb so deutlich hervor, weil man sie gewissermaßen in historischer Urform des »Reichs« vor sich sieht. Man kann »Pharao« und »Prophet« doppelt ins ideologische Spielfeld stellen: Einmal als exotisches Gegenbild zum modern-westlichen Selbst-Bild und dieses in der modernen Demokratie-Ideologie, dann gewissermaßen von den inneren Widersprüchen und realen Verfassungen westlicher Gesellschaften ablenkend, von außen als notwendigen Revolution-/Reform-Zwang gesteuert für Interventionen einsetzen, zum andern aber als faktisches Moment von Neuerfindungen imperialer Strategien im Zeichen einer politischen Theologie, die nun im imperialen Kontext gewissermaßen das Lehrstück dafür abgibt, wie auf ungelöste innere Widersprüche zu reagieren ist und zugleich als offen verschleierndes Moment von Weltherrschaft (Auflösung des Nationalstaats (der anderen); Auflösung von Verfassungsgarantien auch im Innern). So gesehen wäre »Ägypten« also der Kernfall von optionalen Entwicklungen imperialer Governance. (2) Über diese rein politischen Verschlingungen von Religion und Politik als unauflösbares Problem der modernen Herrschaft hinaus fragt die »Herausforderung Ägyptens« nach einem zweiten Punkt; es ist dies die bestimmte Form politischer Theologie der subtilen Zweifel, scheinbar zurückgenommener Macht und ästhetischer Performanz, wie sie sich schon im ägyptisch-griechisch-römischen Individualismus herausbildete: die Politik des Individualismus als Lebensstil. Von Schlegel über Nietzsche über Max Weber bis hin zu Foucault hat sich dieser Stil der Verobjektivierung der Nöte des Selbst als politisch-kulturelle Kraft in die Moderne hineingespielt. Das Potenzial des »Prophetischen« wäre hier eben über
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die polarisierende Betrachtung hinaus der Fall der sublimen, inneren kulturellen Rekreation. Man mag zu behaupten versucht sein, dass im heutigen Kapitalismus, die gerade von den Philosophen ja gewissermaßen evolutionstheoretisch bedingte Durchsetzung der Macht, der Repräsentation des Individuums und seines ganz spezifischen »nackten« Lebens nicht, wie schon von Schlegel vorhergesehen und von Nietzsche bereits bezweifelt, zunehmende »Objektivität« bedingt. Es ist vielmehr die »Objektivität«, die den ungeheuren Expansionsdrang dieses Kapitalismus stört. Das war in der Frühromantik so nicht erkennbar und die hier geforderte Kulturrevolution einer objektivierbaren Ästhetik des Allgemeinen – ganz noch im Hegelschen Idealismus begriffen (und später von Adorno wieder aufgewärmt) – diente ja nichts anderem, als dem Geschmack des sublimen, asketisch gereinigten Massenbürokraten die Notwendigkeit zum Selbststil gewissermaßen einzubleuen. Das Massenschöne war im Einzelnen wiederzuerkennen, das Desinteresse am Besonderen geradezu Mittel der Selbsterhöhung. Der starre Blick des Bürokraten – man nennt das heute anders: Manager – zählt heute, wo Welt- und Lebenserfahrung neue Märkte öffnen, nur noch an zweiter Stelle und post-asketische Performanznöte der Heere der neuen Bankmanager und Bürokraten treiben gewissermaßen dazu, das Repertoire der Verzauberung zu erhöhen und rücken dabei der Figur von dem näher, den Weber noch als den Ursprung des modernen Bürokratentums bestimmt hatte, dem »Zauberer« als Berufsmensch. Täuschung und Selbst-Täuschung gehören hier mehr denn je zur Trickkiste der kulturellen Produktivität. So zynisch es klingt, vielleicht ist es gerade Berlusconi, der cavaliere und Amtsführer der italienischen Regierung, der diesem Typ der Verbindung von zauberhaftem Leben, wirtschaftlicher und finanzieller Potenz, Medien- und politischer Macht am nächsten kommt, eine Figur, die schon früher gewissermaßen im »Öl-Scheich« sich verwirklicht hatte.19 Es darf also durchaus angezeigt sein, die »Herausforderung 19 | Nicht aufs Geradewohl sprach denn auch sein intellektueller Wirtschaftsminister, Giulio Tremonti, in Hinsicht auf den mit der Obama-Wahl zu erwartenden Wandel einmal von der Spannung zweier Regierungsmodelle der römischen Antike: Eliogabalus (der rosen-runkene Soldatenkaiser der ersten Hälfte des Dritten Jahrhunderts u.Z. und Hadrian, der Konstitutions- und Volks-Fördernde in der Mitte des Zweiten Jahrhunderts). Man verzeihe mir, auch daran wäre die Rede des deutschen Außenministers von der »spätrömischen Dekadenz« zu messen.
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Ägypten«, das Ur-Méditerranée, den Ur-Oikos und das ur-magisch belebte Arkadien, darin zu sehen, dass ihm eine durchaus produktive Rolle im neu-modernen Verzauberungsspiel zugewiesen wird, eine Rolle, die sich nicht nur auf den Tourismus beschränkt. Ägypten scheint – China und Indien darin immer schon weit voraus – andere, aufbereitungswürdige Formen des Stilbewusstseins und der Selbsterhöhung zu bezeugen, als es der alt-moderne Objektivismus seit Hegel und der Frühromantik noch sich vorstellen konnte. Wo das Schöne auf das Individuelle fallen muss, ist also keineswegs das Objektive gewonnen, im Gegenteil, es schließt dieser Weg geradezu die esoterische Promiskuität des (Massen-)Einzelnen mit ein. Das Geschichtsgegenbild, das Ägypten ermöglicht, scheint stark mit diesen neuen Bedürfnissen der Individuen, politisch ebenso wie im Massenalltag, zu korrespondieren und stellt ein höheres, erweiterndes Potenzial der inneren und äußeren Referenz dar. Es handelt sich nicht um eine artifizielle Gegenwelt, sondern um gelebte Geschichte, über die die Vorstellung überliefert wird, dass die Welt als Ganzes in Stil verwandelbar werden könnte. (3) Hier ist denn auch ein dritter Punkt anzuschließen, der mich schon im dritten Band meiner Ägyptischen heiligen Orte interessierte. Es ist dies die Frage, inwieweit der heute kapitalistisch produzierte Massenindividualismus in den Armutsregionen der Welt unter kontroversen Vorzeichen sein eigenes Gegenpotenzial geradezu selbst produziert. Die Nostalgie nach Handlungsunmittelbarkeit und »Instinktkultur«, die Sonnenmenschen und die algerischen Sommer eines Albert Camus – hier scheinen die letzten und tiefsten Konvulsionen des Insistierens auf direkter Erfahrung des Einzelnen möglich gemacht. Es ist das ganz eigentliche Beharren auf Unmittelbarkeit, die schöne Geste hier und jetzt, die Ästhetik des unmittelbaren Konsums, die eine Gegenwirklichkeit zum modern kapitalistischen Lebensstil zu sein scheint, in Wirklichkeit aber längst eingebaut ist, produktiv und destruktiv zugleich. Die moderne Herausforderung Ägyptens besteht so eben auch – wenn nicht zu allererst – darin, dass es in spannender Weise geradezu auf der Negation des Objektiven besteht. Es wird hier eine soziale Welt hervorgerufen, die ein sich auf alte kulturelle Instinkte berufendes Insistieren auf direktes, »nacktes« Leben bedingt und sich praktisch und symbolisch – und eben nicht im klassischen Sinne modernisierbar – dauerhaft regeneriert. Es ist dies ein Leben, das den unmittelbaren Zugang zum Ding gewissermaßen libidinös besetzt und so verspielt die Resistenz der Dingwelt gegen die Ordnung des allgemeinen
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Begriffs einrichtet.20 In der Negation des Objektiven und im alltäglichen Spiel der Täuschung, ja, der Magie, sich tummelnd, wird hier die Produktion des sozialen Chaos, das erst Überleben in Armut ermöglicht, betrieben. Mit Begriffen wie Tradition, Volksglauben, Superstition etc. ist dieser Welt der anderen Lebensorganisation, die längst im Machwerk des modernen Kapitalismus eingebaut ist, ähnlich wie der klassischen Angst vor dem »schwarzen Mann« nicht beizukommen. Die Herausforderung von »Ägypten« liegt hierin, dass ein Land mit ca. 80 Millionen Menschen in einem um es herum tobenden Meer von kulturellen und politischen Dauerkonflikten es sich erlaubt, sich mit Lebensmysterien und Altertumssymbolik einem ästhetischen Empfinden der modernen Welt nach »Ursprung« und neuem Willen nach »Gestalt« entsprechend einzuigeln, ja, als »Besonderes« sich auszugrenzen und darin neue riesige Armutsmilieus zu züchten. Dies wird ihm und den Menschen nicht bekommen. Man wird sie in der regenerierten Altertumsidylle als »Authentizität« nicht belassen, die moderne Maschinerie von sozialer Ordnung, »Menschheit-als-Ganzes« (Menschenrechte, Umwelt, Katastrophen, Lebens-Standards, wenn nicht Krieg), von wissenschaftlichwirtschaftlichen und -strategischen Interessen wird von außen über sie kommen, wenn sie nicht selbst dementsprechend planen und regeln. Da werden auch die Hinweise auf die (wenigen) kapitalistischen Tycoons und Technologie-Sektoren des Landes nichts ausrichten.
20 | Man muss hierzu Sartres Konfrontation von Hemingway mit Camus noch einmal lesen: Vielleicht ist ein Satz aus Camus’ Der Fremde wie »Ich bin aufgewacht mit Sternen auf dem Gesicht. Ländliche Geräusche stiegen bis herauf zu mir. Düfte aus Nacht und Erde und Salz erfrischten meine Schläfen. Wie eine Flut drang der wunderbare Friede dieses schlafenden Sommers in mich ein« für Europa nur verstehbar, wenn man ihn in die Nähe der Wüste oder in diese selbst verlegt, jedenfalls als eine Nachricht vom andern Ufer des Méditerranée. Für Sartre ist es abstrakt nur »Absurdität«, das »Irrationale«, »nur etwas Negatives: der absurde Mensch ist ein Humanist, er kennt nur die Güter dieser Welt.« (Sartre 1978: 84)
III. Kulturkontakt: Pharaonismus, Islam, Archäologie Ein Rückblick 21
1 Menschen und Steine. Archäologie als Kulturkontakt: Es scheint als wäre die »Delta-Archäologie«, eine Sparte der Ägyptischen Archäologie, zur Kleinarbeit und zu kleinen Funden verdammt: Was dort herrscht, sind zu viel Erde und zu viele Menschen. Archäologie hat sich hier den besonderen Herausforderungen des Nil-Deltas zu stellen, eine vom Schwemmsand des Nils fruchtbar bedachte, überbevölkerte Landschaft mit überaus vielen zerstörten Stätten und Städten des Altertums. Über das, was in Sand und Schlamm eingelagert wurde, droht nun eine neue Welt endgültig hinweg zu wachsen. Ich wage den Blick eines Laien und Außenseiters, eines Soziologen, der davon überzeugt ist, dass es durchaus hilfreich sein kann, die Perspektive über Wandel und Kulturkontakt einzubringen, ja, sie als 21 | Bei dem vorliegenden Kapitel, das ja vor allem meine Arbeiten zu Ägyptische heilige Orte II (Stauth 2008) reflektiert, handelt es sich zum Teil um Übersetzung, zum Teil um Ergänzung von im Oktober 2008 in Mainz auf Englisch und im Juli 2009 in Berlin auf Deutsch gehaltenen Vorträgen. Mein persönlicher Dank gilt Frau Professor Luig (Berlin) und Herrn Professor Bierschenk (Mainz). Ein weiterer Hinweis ist nötig: Das »Papier« erscheint in jeweils leicht abgewandelten Fassungen voraussichtlich im DAI-Anzeiger (Berlin) – für Unterstützung und Anregung sei an dieser Stelle Herrn Professor Hansen (Berlin) gedankt – sowie ebenfalls voraussichtlich in der Festschrift für Thomas Bierschenk. Die dort vorsichtig angesprochenen methodischen Probleme der »Ethnologie der Moderne« will und kann ich hier nicht ausbreiten. Da sich die Reaktionen auf den Band II und die Vorträge häufen, wird es mir vielleicht gelingen, dies demnächst in einer eigenen Schrift zu tun.
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Ausgangspunkt mit in die Betrachtung über die moderne Herausforderung Ägyptens zu nehmen. Es gibt nichts an den außerordentlichen Erfolgen der wenigen im Delta arbeitenden Archäologen zu deuteln, auch wenn ihre Ergebnisse heute wenig öffentlichkeitswirksam sind. Das war nicht immer so, denn ihre Vorgänger in der sogenannten »Biblischen Archäologie« des 19. Jahrhunderts brachten noch durchaus spektakuläre Funde ans Licht. Die Grabungsorte Tanis, Mendes und Sais sind vielleicht die berühmtesten aus dieser Zeit. Ein Franzose, ein Amerikaner und eine Engländerin leiten heute weiterführende Ausgrabungen an diesen Stätten, während österreichische und deutsche Equipen in Tell el Daba, Qantir und eine französisch-deutsche Gruppe in Buto arbeiten. Die Grabungen sind kaum mehr auf große Funde gerichtet, obwohl das Metier dazu drängt. Man muss sich vorstellen, wie hoch die Ablagerungen der jährlichen Nilfluten sind, die erst mit Nassers Assuan Staudamm ganz abgestellt wurden. Das Abtragen erfordert hartes diszipliniertes und geduldiges Arbeiten. Für die Kleinarbeiten im Schwemmland wurden spezifische Grabungsmethoden entwickelt. Manfred Bietak, der Grabungsleiter von Tell el Daba, hat das in einem wichtigen Buch genau beschrieben (Bietak 1975). Auch unter sozialen Gesichtspunkten ist die Grabungssituation eine besondere. Keiner der Grabungsleiter versäumt es, auf die Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die die Enge des sozialen Raums, die Einmischung und Kontrolle durch die lokalen Administrationen und Polizeikräfte, die oft genug auch die Arbeiter und Wächter aus den Nachbardörfern mit einbeziehen, bedingen. Ein großes Problem sind natürlich die Fellachen, von denen die Ethnologie spricht. Die Dorfbevölkerung verschafft sich Zugang zu den Kûms und Tells, die überall präsenten Reste der antiken Stätten. Sie sind auf Schatzsuche aus (kanz), ziehen aus den uralten Lehmruinen Düngemittel ab (sebah), oder lassen sich am Tell auf billigem Regierungsland nieder (wada’ al-yad). Es beginnt meist mit den Friedhöfen und endet mit Neubauten. So werden viele alte Ruinenstätten schrittweise überwohnt. Man gewinnt zunächst den Eindruck, als wären die Beziehungen der Equipen der meist ausländischen Archäologen zur bäuerlichen Lokalbevölkerung von einer unterliegenden Feindschaft geprägt, als münde der von Alltagsnöten überzogene Lebenskampf der Bauern und Dörfler in eine ständige, leise oder offene Behinderung der Archäologen, deren Beruf es ist, die Orte des Altertums und die einzelnen Fundstücke möglichst um-
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fassend und authentisch zu erhalten. Ohne Zweifel haben die von Alessandra Nibbi schon 1970 geäußerten Befürchtungen, dass die Kûms des Deltas mit dem Bevölkerungswachstum und den expandierenden Dörfern und Städten bald verschwinden würden, ihre Berechtigung (vgl. Nibbi 1992). Und doch sprechen noch viele bewachte und unbewachte Kûms, von denen es im Delta durchaus noch von Dörflern und Archäologen weitgehend unberührte gibt, und die wie Fremdkörper aus den grünen Feldern des Agrarlands ragen, von einer integrierten Gleichzeitigkeit. Auch sind viele alte Stätten weiterhin bedeutsam, ja, in gewisser Weise auch in das moderne ägyptische Leben eingelagert. Nicht nur schaffen die Friedhöfe einen gewissen Schutz vor Verwüstung, auch die an den Kûms angelegten Heiligengräber stellen einen solchen Schutz her, insbesondere an Orten, wo sie anerkannten großen Heiligen zugeordnet sind. Abdallah b. Salam in Thmuis und auf der Insel Tuna im Manzala-See oder Abu Mandur am Tell von Boulboutine bei Rosetta (vgl. Stauth 2005: 34-45, 51-60, 116-129, 146-159, 163) sind hier meine Beispiele: Im letzteren Fall sind die Gräber merkwürdigerweise nicht von Bürgern aus Rosetta (Rashid), sondern stammen von einem Dorf auf der gegenüberliegenden Nilseite. Da der Nil hier eine Provinzialgrenze ist, führt das zu besonderen administrativen Verwicklungen. Die Gräber und Qubbas aber bezeichnen eine wichtige Komponente der Integration der roten oder schwarzen Sand-Hügel in das moderne soziale und religiöse Leben. Doch man merkt auch, wie pragmatisch man sich letztendlich miteinander arrangieren kann. Die Orte bleiben erhalten, und trotz der schleichenden Zerstörungen überdauern sie in ihrem je spezifischen und unverwechselbaren Charakter. Dies liegt auch darin, dass sie für die Bevölkerung selbst einen tiefen kulturellen und historischen Sinn haben, der sich nicht zuletzt in der Vielfalt und Eigenart der Funde und der symbolischen Erscheinungen vor Ort widerspiegelt, ein Erbe, das weit davon entfernt ist, sich nur durch archäologische Forschung erschöpfen zu lassen. Es ist allerdings daran zu erinnern, dass in Zeiten der sogenannten biblical archaeology, die lokale Situation wesentlich entschärfter gewesen sein muss. So zum Beispiel zeugt das Vorgehen von William Mathew Flinders Petrie bei all seinen Delta-Streifzügen – er berichtete darüber in seinem Buch Ten Years of Digging in Egypt, 1881-1891 – von einem großen Einfühlungsvermögen in Leben und Mentalität der Fellachen (Petrie 1891). In der Tat ist dies eine Einstellung, die heute eher selten noch zu finden ist. Petrie war aber auch schon zu seiner Zeit vielleicht der Einzige, der einen ganz
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eigenen, engen Kontakt zu den Fellachen pflegte, ihre Sprache kannte, und ihre Esel ritt. So konnte er diesen Kontakt in ständigem Befragen selbst zur Bestimmung wichtiger Fundorte und Funde nutzen. Die ganze Kommunikationssituation zwischen Fellachen und Archäologen ist heute eine andere. Die modernen Intensivierungen des Kulturkontakts, das Ringen um Anerkennung, und um gleiche Rechte, um Menschenrechte auch, können sich nur entfalten, wenn immer neue, selbstreflexive Formen der Selbstbestimmung gefunden werden durch immer höhere Stufen der kulturellen Authentizität. Gerade in diesem Kontext des globalen Modernismus ist die lokale Situation des menschlichen Umgangs an den Stätten der Antike und um die Stätten herum einerseits, und der Umgang mit Spolien und Relikten und ihr Erscheinen in Moscheen und Heiligengräbern andererseits, viel komplexer geworden als in früher Moderne und Kolonialzeit. Die Beziehungen zwischen Archäologen, religiösen Spezialisten, staatlichen Verwaltungen und lokaler Bevölkerung erweisen sich als ein neues, zugleich signifikantes, potenziell konfliktträchtiges Kulturarrangement, das der Beachtung bedarf. 2 Frauen, Fruchtbarkeit, rituelle Integration der pharaonischen Relikte: Vielleicht kann ich am Beispiel einer Anekdote einen ersten Schritt machen und zur Konkretisierung des Problems beitragen. Schon in dieser Anekdote zeigt sich, dass das Zusammentreffen von Wissenschaft, politischer Verwaltung, Orthodoxie, Ritus und Heiligenglaube am Ort eine spannungsgeladene Gleichzeitigkeit historisch und praktisch differenter Kulturhaltungen bedingt, die immer auch Zeichen der Bedrohung und des Konflikts setzen und aktualisieren kann. Die Anekdote wurde von Axel Krause, einem deutschen Fotografen in Kairo, kolportiert. Phillipe Brissaud, der Leiter des französischen Grabungsteams in Tanis, bat ihn während eines Aufenthaltes im Kûm Fotos zu machen. Es sei dringend, denn wenige Tage zuvor sei eine Gruppe von Frauen unbemerkt auf die Statuen und Tempelsteine gestiegen. Diese waren nun ganz mit Menstruationsblut – so wurde vermutet – furchtbar verunstaltet. Es handelte sich um einen Fruchtbarkeitsritus, den die Frauen auf den Relikten aus der Ramessidenzeit veranstalteten. Die spontane Bitte, die Folgen dieses Ritus, die mit Blut überreichlich beschmierten Monumente, fotografisch zu dokumentieren, scheint einer gewissen Ratlosigkeit des Archäologen geschuldet, mit dieser Sache umzugehen. Kritisch war, dass die berufliche Aufgabe, die Monumente zu schützen und zu erhalten,
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der bekannten Toleranz Brissauds gegenüber volkstümlichen ägyptischen Eigenheiten dann doch heftigst widersprach. Die Aufforderung, die nun mit viel Rot beschmierten Blöcke und Statuen fotografisch zu dokumentieren, war wohl der – wie sich erst später zeigte durchaus irrtümlichen – Vorstellung geschuldet, man könne die ägyptischen Ethnologen auf diese Riten und ihre verheerenden Wirkungen für die Monumente hinweisen und so vielleicht durch lokale Bewusstseinsbildung Wiederholungen vermeiden. Soweit mir bekannt ist, blieben die Fotos folgenlos. Zwei Welten stoßen hier auf einander: Die Aufgabe des Archäologen, die Monumente sauber und unversehrt zu erhalten, kann nicht in Zweifel gestellt werden. Irgendwie aber erlaubt es auch nicht das moderne Anerkennungsdenken, den Anspruch der jungen, unfruchtbaren Frauen zurückzuweisen, deren Akt der Verzweiflung – wo moderne Medizin wirkungslos bleibt – dem sozialen Druck der ägyptischen Gesellschaft, der ländlichen allemal, geschuldet ist. Gebärfähigkeit ist ein bestimmendes Moment ihrer sozialen Existenz. Es handelt sich dabei oft um sehr junge, jungverheiratete Frauen aus allen sozialen Schichten, die in ihrer sozialen Not keinen anderen Ausweg wissen, als hoffend den Ritus dieser geächteten Tradition zu vollziehen. In Sais, Thmuis und Mendes stieß ich auf die Praxis dieser Fruchtbarkeitsriten.22 So zum Beispiel fand Axel Krause beim Rundgang in Sais abseits der ausgetretenen Pfade in einer Wiese am Rande des Great Pitt einen prächtigen Torso aus Assuan-Granit. Ein alter Mann hielt sich da auf, Schafe weidend und rastend. Die Aura des Platzes um den Torso ließ mich aufmerken und ich fragte den Alten, ob die Frauen zum Torso kommen. Die Antwort war ebenso kurz wie eindeutig: bishakhû damm fîh! Das braucht hier nicht wörtlich übersetzt zu werden, es ist mit einem eindeutigen »Ja!« zu übersetzen.23 Sei es, dass Penelope Wilson, die Grabungsleiterin in Sais 22 | Sie sind der Kern des Fortlebens pharaonischer Vorstellungen und magischer Praxis bis heute. Noch in den 1920er Jahren hat Winifred Blackman ihre Bedeutung auch für das moderne Leben wiederentdeckt (vgl. Blackman 1926, 2000). 23 | Über die soziale Kraft der »Scham- und Peinlichkeitsschwelle« im modernen Zivilisationsprozess hat Norbert Elias das Entscheidende gesagt (vgl. etwa Elias 1981: XI). Doch ist hier zu vermerken, dass sie nur schwer zu greifen ist. Nur die gegenseitige Beobachtung ist es, die mehr als alles andere zur Erhöhung der Scham führt. Weder am Torso selbst noch nach den freitäglichen Frauenbestei-
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meinte, es sei an der Zeit, den Torso aus der wilden Wiese zu entfernen, sei es dass die Altertumsverwaltung selbst von unserem Erscheinen dort informiert wurde und sich so veranlasst sah, zu reagieren, der Torso wurde aus der Wiese geholt. Schon bei unserem nächsten Besuch in Sais fanden wir ihn nicht mehr an seinem alten Platz. Er stand jetzt an neuer Stelle im bewachten Freilichtmuseum. Ich bedauere es heute sehr, dass ich damals zögerte, die Frauenriten in den Forschungsplan aufzunehmen. Ich war als Soziologe zu sehr an allgemeinen Interessen des Kulturkontakts am Ort interessiert, und wollte mich dem Problem nicht stellen, wobei natürlich auch die Angst (des Mannes) vor dem Tabubruch eine Rolle spielte. Das Wenige, was wir sahen und hörten, waren aber durchaus erschütternde Beispiele und erst in der nachträglichen Reflexion wird deutlich, wie wichtig sie sind. Unter Frauen, mehr als in der lokalen Bevölkerung insgesamt, hat sich eine Umgangsweise mit der Geschichte der antiken Stätten und ihren Relikten erhalten, die im Gegensatz zum Geschichtsverständnis der Archäologen steht. Es handelt sich um grundsätzlich verschiedene Erfahrungsformen und um unterschiedliche Grade der Intensität des Kontakts. Ich bin geneigt, dies als eine alternative Form der Authentizitätssuche zu umschreiben, eine Form, die über die nackten körperlichen Nöte der Frauen hinaus, jenseits von Moderne und Wissenschaft, eine innere kulturelle Verknüpfung von Frauen mit den antiken Stätten herstellt, eine Präsenz von Geschichte ganz eigener Art, ein akutes Erfahrungsmoment im gelebten Leben. Frauen und Heilige Orte, das war nicht mein Thema und dennoch, wie oft konnte ich verfolgen, dass die Frauen nach oder vor diesen Riten an oder auf den Monumenten, die Schreine des islamischen Heiligen dort besuchten, so in Tanis den Schrein des Yusuf. In Thmuis besuchte man erst die Hadra eines Sufi-Scheichs donnerstags am Nachmittag im Maqam des Abdallah b. Salam, dann gingen sie in Gruppen auf den Tell, eine Frau legte sich auf den Hügel am Rand des Tells und wälzte sich dann im Sand den Hang hinunter (magharra).24 gungen in Sais, konnten wir selbst Spuren von Menstruationsblut erkennen, obwohl auch hier das Besteigen der Steine durchaus zu beobachten war. Kleidung, Verwendung von Tüchern und der Zeitpunkt (Freitagsgebet) deuten auch hier auf einen Prozess der Sublimierung hin (vgl. Stauth 2008: 150-156). 24 | Einen Fall hierzu habe ich im ersten Band von Ägyptische heilige Orte beschrieben (vgl. Stauth 2005: 43f.).
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In der Verknüpfung von Alltagsnöten, wildem Ritus und Religion an den historischen Stätten und in der Nähe der Heiligen, zeigt sich die Brisanz der Orte: Die moderne religiöse, islamische Legitimation kann man an den anerkannten Schreinen, wie etwa dem des Abdallah und Yusuf finden, nicht aber an den alten halbverfallenen Qubbas der Fellachenheiligen, und die Praktiken an den Steinen der Tells können immer nur unter dem Deckmantel der Nacht oder unter sehr dezenten Schutzvorkehrungen stattfinden. So werden auch auf privater Basis insgeheim die alten Fellachen-Heiligen lebendig gehalten. Bei nachträglicher Betrachtung leuchtet ein, warum dann immer noch vereinzelt und verloren Säulen oder Kapitele auf den Tells liegen bleiben. Wir haben es mit einer Kreuzung von rituellem Kulturkontakt, Ausdruck von Alltagsnöten, und Suche nach religiöser Purifizierung zu tun. Das macht die besondere Authentizität des Ortes aus. Die »Steine«, auch wenn sie auf den ersten Blick als im wilden Raum stehend erscheinen, vermitteln offenbar eine intensive kulturelle Erfahrung auch für moderne ägyptische Frauen. Dann aber demonstrieren die Frauen auch, wie sehr sie mit der offiziellen Religion, dem Islam, einerseits, und andererseits mit der Archäologie selbst, interagieren, ja beide in den Ritus einbeziehen. 3 Die lange Geschichte der Usurpatoren, Invasoren und Reisenden: Lassen sie mich kurz die Brisanz der Orte als transkulturelle Interaktionsorte auf einer weiteren Ebene verdeutlichen. Diese besteht darin, dass die unterschiedlichen Formen der Beobachtung der ägyptischen Stätten der Antike selbst schon eine gewissermaßen literarische Vorgeschichte haben. In den klassischen Beschreibungen der modernen Reisenden ist sie durchaus präsent. Flaubert und Nerval sind da keine Ausnahmen, Rilkes Herbeizitieren der antiken Säule von 1911 bedürfte heute neuer Würdigung.25 Insbesondere aber den berühmten, quasi professionellen Reisenden des 19. Jahrhunderts fielen die als sehr fremd und eigenartig bewerteten Praktiken der modernen, zeitgenössischen Ägypter auf, wenn diese sich auf den Ruinen der frühen Antike bewegten.
25 | Zur Bedeutung von Rilkes Ägyptenreise in seinem Werk hat der Ägyptologe Hermann bereits eine sehr aufschlussreiche Materialsammlung geliefert (vgl. Hermann 1966; vgl. mein zweites Kapitel »Passagen im westlichen Nildelta«, Stauth 2008: 53-66).
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Es gibt in Goethes »Italienischer Reise« eine von ihm gemalte Szene »Landleute zwischen antiken Ruinen«, eine illustre Darstellungen ländlichen Lebens am antiken Ort. Aber Goethe ist vielleicht gerade darin eine Ausnahme, dass er zeigt, wie sehr das freie Leben der Menschen dort die alten Ruinen zugleich in einen Gegenstand menschlicher Würde verwandeln kann (Goethe 1976: 539). Nun, es handelte sich auch hier nicht um Ägypten. Im Allgemeinen ging es den Europäern nicht so sehr um die Leute, sondern um die Ruinen selbst. Da bleibt ein eher beunruhigter, ja, störender Eindruck, den die Menschen an den Stätten hinterlassen. Die meisten Beschreibungen und Berichte der europäischen Reisenden bringen Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass die Menschen ein anderes Leben an diese Plätze bringen und Verstörung, dass die Hütten und Schuppen, die Schafe und Esel jetzt da sind, wo früher die Gräber und Tempel von Pharaonen und Göttern standen oder die Festhallen von Kaisern und Königen.26 Ohne Zweifel war der Islam für die europäischen Reisenden des 19. Jahrhunderts etwas sehr Fremdes und wo er mit den Praktiken der lokalen Bevölkerung verbunden wurde, galt er als exotisch. Sie nahmen die Qubbas der islamischen Heiligen als betont orientalische Bereicherung, wenn nicht als Entfremdung der antiken Stätten wahr. Dagegen gingen islamische Fundamentalisten und modernistische Regierungsverwaltungen oft sehr militant gegen die Praxis der Heiligenverehrung vor, manchmal nur, um den vermeintlichen Ausdruck der Rückständigkeit den Ausländern gegenüber zu tilgen. Am härtesten traf es in den 1990er Jahren den traditionellen Sufismus der Fellachen und die Orte der Sufi-Heiligen, wenn sie nicht durch öffentliche Registrierung und entsprechende Renovierung vor den Vorwürfen der Ketzerei zu retten waren. Trotzdem, die Auseinandersetzungen waren erheblich und Polizei-Razzien und Jagden islamistischer Gruppen lösten einander ab. Früher waren die Orte am westlichen Nil, am Rosetta-Arm, von westlichen Reisenden noch häufig frequentiert, da man von Rosetta aus mit dem Schiff nach Kairo und über Kairo nach Oberägypten fuhr. Sonnini, der große französischen Naturwissenschaftler, folgte dieser Route in den 1770er Jahren. Es folgten ihm die Engländer Mayer und Lane in der ersten 26 | Signifikant hier das christliche, mehr als das islamische Istanbul von Bernhard Ritter, dem »anderen« älteren Bruder des deutschen Orientalisten Hellmut Ritter (siehe Ritter 1941).
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Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie alle lieferten kritische Bilder, in Zeichnungen und Berichten, von den Stätten und Qubbas. Am umfassendsten sind die Berichte von der Qubba des »Emir Abdallah« neben den Ruinen des alten Thumais bei Mendes: Hier etwa finden wir in den von de Meulenaire zusammengestellten Materialien die bis heute den Ton angebenden Bewertungen der Qubbas durch Mitglieder der »revolutionären«, französischen Expedition an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (Stauth 2008: 53-66). Sie stuften die islamische Heiligenverehrung als – so im Französischen – superstition und believe in pagan Talisman power ein (Stauth 2005: 35-46, insbes. 40). Erstaunlich, wie die innerislamischen Vorwürfe heute dem ähnlich sind: Mehr als 200 Jahre danach sprechen die islamischen Fundamentalisten, wenn nicht die gleiche Sprache, so gehen sie doch dieser Sprache folgend direkt gegen die Qubbas und lokale Riten vor. Man befindet sich eben in der gleichen monotheistischen Tradition, woran uns Jan Assman erinnert: »Monotheistische Religionen konstruieren den Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen nicht im Sinne einer Evolution, sondern einer Revolution, und lehnen alle älteren und anderen Religionen als ›Heidentum‹ oder ›Götzendienst‹ ab. In ihrer Sicht gibt es keinen natürlichen oder evolutionären Weg, der vom Irrtum der Idolatrie zur Wahrheit des Monotheismus führt. Diese Wahrheit kann nur von außen kommen, durch Offenbarung.« (Assmann 2003: 24)
4 Geschichte als kulturelle Usurpation: Die – zunächst zumindest nur für die westliche Authentizität – irritierende Präsenz der lokalen Bauern mit ihren profanen oder heidnischen Praktiken an den Stätten der Alten ist eine Tatsache, die allenthalben zu bemerken ist. Eine andere Tatsache, die allerdings auch in der westlichen Betrachtung weitgehend unbemerkt geblieben ist, kommt hinzu: Es ist das Verbauen von antiken Spolien in islamischen Moscheen, Medressen und Heiligengräbern vor allem der Mameluckenzeit. Der Handel mit alten pharaonischen Spolien hat selbst eine uralte Geschichte; er wurde nicht nur unter den griechischen und römischen Invasoren, sondern auch schon in der späteren pharaonischen Zeit betrieben. Zerstörung, Rekonstruktion und Wiederverwendung von Tempeln und Spolien reichen bis in die Frühdynastische Zeit zurück. Der Heidelberger, später Baseler Ägyptologe Erik Hornung erinnert daran, dass die Wieder-, man müsste eigentlich sagen Umnutzung von Tempeln mehr als 3000
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Jahre zurückreicht. Symbole und Inschriften wurden entfernt, von späteren Dynastien dann wieder für andere kultische Praxis und an anderen Plätzen benutzt. »Usurpation«, mit diesem Begriff belegt Hornung die Wiederverwendung von alten Tempeln und Gräbern früherer Dynastien. Damit geht auch eine Art erste »Hybridisierung« einher: Spolien werden in neue Stile integriert, in neuen Zeiten und in neuen Umgebungen wieder präsentiert, und ganz verschiedenen religiösen und dynastischen Zwecken zugeführt.27 Es ist wichtig zu betonen, dass für Hornung diese »Usurpation« nicht eben nur einfach der Not des Tages gehorchte und etwa nur auf Räuberei und Suche nach billigem Baumaterial aus war. Gegen diese quasi als Standardformel immer wieder erhobenen Vorwürfe wendet Hornung ein, dass solche »Usurpationen« schon früh vor allem die Aneignung des quasi fremden kulturellen Gutes zum Ziel hatte, ja, dass es sich dabei zugleich auch um eine neue kulturelle Attitüde der Rückbesinnung handelte, gewissermaßen also um den Beginn dessen, was man heute Erinnerungskultur nennt. Man hat Ägypten viel Einfluss auf den europäischen Esoterismus zugebilligt, dies ist nicht mein Thema. Aber es sollte angemerkt werden, dass – wenn man sie so nennen kann – Schüler Erik Hornungs, wie Jan Assmann und Terrence DuQuesne, gerade die besondere kulturelle Rolle Ägyptens für die europäische Kulturentwicklung auch im symbolischen Wert der nicht erst seit den Römern betriebenen Verbreitung der ägyptischen Spolien auf der anderen Seite des Mittelmeers sowie die ästhetischen, magischen and visionären Folgen für Europa und den Westen erkannt haben. 5 Ferne und Nähe des Pharao: Der Islam steht mit seiner in Perioden offenen Attitüde den Spolien gegenüber – ganz zu schweigen von der Idee des Pharaos – nicht alleine da. Die Monumente und alten Stätten und auch die Spolien in Schreinen, Medressen und Moscheen sind im heutigen Leben gegenwärtig, ja, sie spielen allein durch ihre gestaltende Präsenz in der Realität des Alltags, im traumatischen Bezug zur Geschichte, in Geschichten, Legenden und in den kanonischen Texten des Islams eine große Rolle.
27 | Ich habe auch das in Band II meiner Studien Ägyptische heilige Orte näher ausgeführt (vgl. Stauth 2008: 46f.). Dort auch die Hinweise auf Hornung (1982).
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Wie erkennt die Islamwissenschaft diesen inneren Bezug zur vorislamischen Geschichte, zum Pharao?28 Seit den 1990er Jahren konnte man ein insgesamt gesteigertes Interesse an der »klassischen« islamischen Wissenschaft beobachten. Fuad Sezgins Sammlungen zur arabisch-islamischen Wissenschaftsgeschichte haben hierzu beigetragen. Ulrich Haarmann hat sich stärker mit der Haltung islamischer Gelehrter dem »Pharao« gegenüber beschäftigt. Orientalisten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, wie Ignaz Goldziher, von den Wiederentdeckungen des Ali Mubarak Pasha (dem in Paris ausgebildeten ägyptischen Gelehrten) angeregt, haben Ortsgeschichte plötzlich auch unter Einbezug antiker und pharaonischer Stätten in der Provinz betrieben und sich den sogenannten pharaonischen oder allgemein vorislamischen Kontinuitäten in der Volkskultur zugewandt. Aus ägyptischer Sicht wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts, nun an die Orientalismuskritik Edward Saids anknüpfend, nach Alternativen und spezifisch arabischislamischen Sichtweisen gesucht. Die Art, wie die Araber den historischen Orten gegenüber standen, rückte immer mehr in den Blickpunkt. Orientalisten und ägyptische Ägyptologen, wie u.a. Okasha Al-Daly (2005), davor aber auch schon Ursula Sezgin (die Frankfurter Islamwissenschaftlerin), lieferten sich eine interessante Debatte. Der konventionellen Ägyptologie und Islamwissenschaft wird vorgeworfen, die Ergebnisse der arabisch-islamischen Wissenschaftsgeschichte nicht zur Kenntnis zu nehmen und die Leistungen der islamisch-arabischen Historiker und Gelehrten in Bezug auf methodische Betrachtung und historische Einordnung zu negieren. Die Debatte ist weit davon entfernt, beendet zu sein. Der Kieler Islamwissenschaftler Ulrich Haarmann und der Franzose Jean-Claude Garcin, beide Spezialisten für die Geschichte der Mameluckenzeit, haben die besondere Stellung der Mamelucken gegenüber den Pharaonen hervorgehoben. Dabei fiel Garcin auf, dass die Mamelucken mit ihrer Unterstützung der kulturellen Verehrung der Figur des Pharao die Idee einer ambivalenten Trennung von säkularer, staatlicher Macht und spiritueller, religiöser Macht, zwischen Pharao und Prophet, Sultan und Scheich, unter den von Ihnen geförderten Sufi-Zirkeln durchzusetzen suchten. Man könnte in der angeheizten kulturellen Bewegung der Ma28 | Ich greife hier auf das 3. Kapitel »Die Frage nach der ›Islamischen Archäologie‹« in meiner zweiten Studie zu Ägyptische heilige Orte zurück (Stauth 2008: 43-52), wo sich das zum Teil ausführlicher dargestellt findet.
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meluckenzeit durchaus einen Grund dafür sehen, warum gerade in dieser Zeit Spolien der Pharaonenzeit in Moscheen, Madrassen und Schreinen verbaut wurden. Ich will das weiter unten noch in Bezug auf Fuwa näher ausführen. Haarmann dagegen widmet sich allgemeinen Fragen des islamischen Rückbezugs auf die Pharaonen in der Mameluckenzeit. Der Durchbruch des Monotheismus in der Spätantike, der Sieg des Christentums im Vierten Jahrhundert, dann drei Jahrhunderte später der Sieg des Islams bezeichnen einen kulturellen Umbruch, der jede Art der Kontinuität im Selbstverständnis unterdrückte. Der mittelalterliche Islam sei durch ein Hinundhergezogensein der Gelehrten zwischen exotischer Bewunderung und Verteufelung der ägyptischen Antike gekennzeichnet. So sehr man das alte Ägypten als ein Land von technologischer Einmaligkeit und wissenschaftlicher Gelehrsamkeit pries, so sehr verteufelte man es als heidnisches Übel. Haarmann sieht darin ein Doppelbild, das auch heute noch vorherrsche (Haarmann 2001: 191). Haarmann listet die Momente der islamischen Behandlung der antiken Stätten und pharaonischer Relikte auf. Für ihn waren sie erstens Ziel frommer Bilderstürmer, die jedwedes bildliches heidnisches Erbe ablehnten (das Bild-Tabu im Islam), zweitens Anziehungspunkte für Schatzsucher, drittens lieferten sie billiges, aber zugleich ausgezeichnetes Baumaterial, viertens waren sie von Anfang an bevorzugte Orte für touristisch Reisende (Haarmann 2001: 193). Haarmanns Bewertung der muslimischen Haltung wurde vor allem von Ursula Sezgin (1994ff.) und Okasha Al-Daly (2005) heftig kritisiert. Man warf ihm vor, den in den arabischen Quellen sichtbaren wissenschaftlichen Umgang mit den Stätten und der Geschichte zu vernachlässigen. Man könnte dem natürlich auch hinzufügen, dass, wenn von Raubbau die Rede ist, sich dieser instrumentelle Umgang mit den Relikten nicht nur auf die mittelalterlichen Muslime beschränken lässt. Das gilt natürlich auch für die Tatsache, dass die ägyptologischen Wahrheiten vielleicht nicht nur darauf zu beschränken sind, dass sie vornehmlich islamischer Wahrheit widersprechen. Das alte Ägypten stellt sicher nicht nur für die islamistischen Fundamentalisten im Ägypten der 1980er Jahre eine Herausforderung dar, wie Haarmann noch argumentierte. Haarmann war sich aber durchaus bewusst, dass der islamische Umgang mit dem pharaonischen Ägypten und den Relikten – wie voreingenommen oder unvoreingenommen dieser auch gewesen sein mag – sich
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nicht nur in den Perzeptionen der Gelehrten und der Literatur abspielte. Allerdings enthält seine Liste durchaus entscheidende Kontaktmomente der Muslime mit dem »Pharao« nicht: die rituelle und ästhetische Kontinuität, die Praxis der Verehrung am Ort, die gezielte Wiederverwendung von Spolien. Und hier ist der Punkt an dem ich ansetzen möchte, die Praxis; also zurück zur Praxis. 6 Die Unausweichlichkeit des Kontakts am Ort: An dieser Stelle sei kurz an die beiden Beispiele aus der Region des westlichen Nildeltas südlich von Rosetta erinnert, die den widersprüchlichen Umgang mit dem »Pharao« im islamischen Alltag belegen. Diese Region ist nicht nur wegen der Vielzahl großer antiker Stätten wie etwa Sais und Buto bedeutsam, sondern auch wegen der Lebendigkeit der großen Orte der Heiligenverehrung. Tanta und Disuq sind große moderne Städte, Tanta eine Mehrmillionenstadt. Beide haben sich in weniger als hundert Jahren vom Dorf zur Stadt durch jährliche Massenfeste und Jahrmärkte um ihre Heiligen, die ägyptischen Nationalheiligen Ahmad al-Badawi und Ibrahim al-Disuqi, entwickelt. Ohne Zweifel ist diese Landschaft auch durch die Nähe zu den Seerouten des Mittelmeers geprägt, über die von den Griechen bis zu den Römern, von den mittelalterlichen Kreuzfahrern bis zu den modern Kolonialmächten, die Invasoren aber auch die beständigen Fluten der Reisenden ins Land einfielen. Fuwa29: Mein erstes Beispiel ist Fuwa, das etwa 50 km südlich der Mittelmeerküste von Rosetta liegt. An diesem Beispiel kann man sehen, dass der Umgang mit Spolien und Relikten der Pharaonenzeit sich durchaus etwas komplexer gestaltet, als die bloße Vorstellung von ungeteilter islamischer Zurückweisung einerseits oder Gelehrtenwissen und Stolz andererseits. In Fuwa gibt es eine große Anzahl von Moscheen und Schreinen, sie stechen besonders an der Nilfront hervor. Es handelt sich um eine früher einmal sehr bedeutende Stadt, von der heute fast niemand mehr etwas weiß. Sie war bekannt für Handwerk und Handel, der sich über das östliche Mittelmeer hinzog bis nach Istanbul. Die Moscheen und Maqame wurden in der späten Mamelucken- und frühen Osmanenzeit vom 14. bis 17. Jahrhundert etwa gebaut, und zum Teil in den 1990er Jahren prächtig renoviert. Man findet Säulen, Türschwellen und Blöcke aus Assuan-Gra29 | Vgl. hierzu Kapitel 5 der Ägyptische heilige Orte (Stauth 2008: 67-116).
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nit verbaut, die mit Hieroglyphen und pharaonischen Reliefs geschmückt sind. In der Großen Moschee in Dairut, einer Fuwa gegenüberliegenden Ortschaft, fanden wir einen großen Block aus sehr alter pharaonischer Zeit unterirdisch im Fundament des Minaretts – hochgestellt, dieses gewissermaßen in die Erde hinein fortführend – verbaut. Die mich begleitende Ägyptologin Silvia Prell hat das alles registriert und veröffentlicht. Ich will hier auf weitere Details nicht mehr eingehen. Doch scheint es mir wichtig auf die außergewöhnliche Toleranz hier hinzuweisen und einige Frage hinsichtlich dieses islamischen Umgangs mit Spolien anzusprechen. Erstens ist es natürlich völlig überraschend, wie diese Spolien in die Moscheen und Schreine eingebaut wurden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass man hier, wie etwa in manchen dörflichen Moscheen (nahariyya), wahlweise alte Steine eingebaut hat, um billig gutes Material für Wände und Fundamente zu haben. Vielmehr kann man von einem auswählenden Stilverhalten sprechen, denn es wurden durchgehend Säulen zur Gestaltung der Innenräume verbaut. Die Türschwellen stellen einen thematischen Zusammenhang zu »Transzendenz« her, der einer eigenen Untersuchung bedürfte. Das betrifft auch die unterirdische Welt, mit der in besonderer Weise umgegangen wurde. In der ägyptischen Archäologie ist der sirdâb als Grabkammer ein fest umrissener Begriff. Im lokalen Arabischen werden damit Treppengänge und unterirdische Bögen und Kammern unter den Moscheen hin zum Nil bezeichnet. In fast jeder Moschee in Fuwa wurde von der Existenz solcher unterirdischen Welten in der Verbindung zum Nil gesprochen. Die Berichte über die Renovierungen der Hauptmoscheen zwischen 1992-98 zeigen, dass es sich um ein Kulturereignis erster Sorte handelte. Es gab Konflikte, es wurden einzelne Spolien abtransportiert (andere vielleicht gestohlen). Aber im Großen und Ganzen gab es keinen Protest gegen die Freilegung der Säulen und Spolien, oder offene Forderungen, sie aus den Moscheen zu entfernen. Der Zorn der Fundamentalisten schien sich einzig gegen die alte Qubba eines Fellachenheiligen am Nil, das Abû Dabbâb, zu richten. Als dieser Heilige von seinen Verteidigern quasi in den Rang eines Nationalheiligen erhoben wurde, konnte auch er erhalten bleiben. In der daneben liegenden Moschee des Nasrallah, Schrein und Madrassa zugleich, einer hohen religiösen Autorität des 15. Jahrhunderts, der auch als Sufi-Scheich anerkannt war, die eine mit einer hieroglyphisch geprägten Torschwelle aufweist, gab es offenbar aber eine schwere Aus-
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einandersetzung über die Frage, ob ein unter der Moschee gefundener, mit Hieroglyphen verzierter unterirdischer Treppengang offen gehalten und erhalten werden sollte. Nach dem heftigen, die Polizei involvierenden Konflikt mit Salafiten-Gruppen fiel der Beschluss den Gang zuzuschütten und alle Öffnungen zuzumauern. Doch die Sufitischen Zirkel der Stadt trugen dazu bei, dass noch heute in den großen Moscheen Hadras stattfinden. Auch einige engagierte Bürger, Professionelle und Imame hatten ihren Anteil an der Beilegung der Konflikte, und die orthodoxe Sprachreglung, man müsse die Mawlids und die Praktiken der Sufis als muta´aqadât sha´bî, zulässige Volks- und Glaubenspraxis, zulassen, zeigte sich bei solchen Schlichtungen als sehr hilfreich. Fuwa hat sich in seinen historischen Vierteln am Nil entlang den Flair einer alten Metropole erhalten. Die Nilpromenade glänzt mit einer erstaunlich ruhig gehaltenen offenen Atmosphäre von Straßen-Cafés, wie überhaupt die Öffentlichkeit in der Straße am Nil entlang wie kaum in ländlichen Kleinstädten von Zurückhaltung und Diszipliniertheit geprägt ist. Dieser Eindruck erhält sich auch in den sich anschließenden BasarStraßen. Festzuhalten ist natürlich auch, dass es hier in der unmittelbaren Umgebung keine Ausgrabungen gab, und dass, trotz der langen Diskussion über die »Stadt unter der Stadt« (balad taht al-balad), die noch bis vor nicht allzu langer Zeit hinein von einem darunter liegenden, sagenhaften Mételis (Bernand 1970) beherrscht war, und der Unsicherheit über die wahre Vorgeschichte der Stadt, und der sich widersprechenden Legenden und Geschichten, sich der Streit über moderne Authentizität in Grenzen hielt. Die kulturelle Atmosphäre einer traditionsbewussten Stadt der Moscheen und Medressen, die bis heute noch fast keine Touristen und Ausländer sieht, hat sich voll erhalten. Sa el-Hagar (vgl. Stauth 2008: 117-156): Es liegt etwa 30 km südlich von Fuwa. Hier ergibt sich ein ganz anderes Bild. Es entspricht etwa in der Einwohnerzahl der Fuwas, auch hier ca. 30000. Aber in allem anderen unterscheidet sich Sa al-Hagar scharf. Es war immer ein kleines Dorf am Nil, gewissermaßen ein Appendix zum Tell des alten Sais, der ägyptischen Kapitale der 26. Dynastie der Spätzeit, und ein Tempel-Ort der Göttin Neith aus früher dynastischer Zeit. Nicht erst seit Petrie im späten 19. Jahrhundert mit der systematischen Grabung hier begann, war Sais ein Ort des europäischen Interesses und verschiedener Wellen von Ausgrabungskampagnen. Natürlich war Sais schon seit Herodot ein symbolischer Ort
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des Hellenismus, der der Beachtung der Reisenden sicher war. Vom sogenannten Hermetismus der Griechen an bis zur Romantik war Sais ein Topos in der literarischen Exotik. Die Lehrlinge von Sais von Novalis liefern davon ein Beispiel in moderner Zeit. Das Dorf gehörte also irgendwie zu dem Kûm und galt als ArbeiterReservoir für die Ausgrabungs-Kampagnen der ausländischen wie ägyptischen Equipen. Noch heute stammen die meisten Führer, Wächter und Arbeiter am Kûm aus dem Dorf. Das Dorf selbst wuchs mehr und mehr in den Kûm hinein. Überall die Expansion der bäuerlichen Lebensweise. Die Geschichte des Kûm und seiner Bearbeitung ist selbst eine Geschichte, für die der Begriff Hornungs von der Usurpation sehr gut zutrifft. Fast alles, was in Sais gefunden wurde, wurde nach Kairo oder Europa verbracht. Es gibt ein lokales Freilicht-»Museum«, wo unter Aufsicht der ägyptischen Altertumsverwaltung einige verstreute Blöcke, Säulen und Statuen sind, die in den letzten Jahren meist aus den Moscheen anliegender Dörfer hierher verbracht wurden. So auch der oben bereits erwähnte Torso. Wenn wir von einer islamischen Usurpation sprechen können, so entspricht diese ganz der Armut des Dorfes. Es gibt gewissermaßen zwei sich kreuzende Achsen, auf denen ungefähr den Himmelsrichtungen entsprechend vier Qubbas islamischen Heiliger – eben jene lokal spätestens im frühen 19. Jahrhundert erstandene Fellachenheilige, darunter eine Frauenheilige – angebracht sind. Die vier Qubbas wurden alle mehr oder minder in den 1990er Jahren verlassen. Es gab in dieser Zeit sehr viele Kämpfe um die Qubbas und die Feste der Heiligen, die Mawlids, mit zahlreichen Polizeirazzien. Seitdem finden keine Feste mehr statt. Nur an zwei der Qubbas finden sich Frauen zu stillen Besuchen ein und an einem Schrein werden zur laila, der Nacht vor dem Geburtstag des Propheten (mawlid an-nabi), Gedenkfeiern und Dhikrs zelebriert. Ein Besuch in der Großen Moschee des Ortes, der masgid al-kabir, hinterlässt den Geschmack einer äußerst unterdrückten Atmosphäre durch die sichtbaren Spuren des Übertünchens von Schwellen, des Neuverputzens von Säulen oder die Art ihres Ausbaus. Eine schreckliche Salafi-Renovierung fand unter der Ägide eines entsprechend robust auftretenden Imams statt. Die alten Säulen aus Assuan-Granit – so erfuhren wir später – wurden hinüber zum Freilichtmuseum gebracht und liegen dort gewissermaßen als Abgrenzungslinien zur Erde. Ähnliche Eindrücke der Intoleranz und Unterdrückung von Überlebenszeichen pharaonischer Kultur bei gleichzeitiger Missachtung der Spolien und Fundstücke findet man fast überall in dieser Gegend. Fast
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scheint es, als hätte der jüngste ungeheuere Aufstieg des Nationalheiligen Ibrahim al-Disûqî aus dem 13. Jahrhundert mit einem prachtvoll renovierten, immer an der Moschee von Mekka orientierten Maqam, und die unter Regierungsschutz organisierte neue Form der Heiligenverehrung zugleich den Niedergang von Sais und seiner Lokalheiligen bewirkt. Disûq ist heute eine kleine Großstadt, deren Wachstum und Ökonomie sich ausschließlich auf diesen einen Heiligen bezieht, dem alljährlich eine ungeheure Massen-Mawlid zuteil wird und dem über das ganze Jahr hinweg genügend Beachtung gezollt wird. Hier greifen offizieller Sufismus, Orthodoxie und staatliche Lokalverwaltung völlig ineinander. In Sais und den ringsumliegenden Dörfern dagegen, in Sanhur zum Beispiel, hören wir uns endlose Geschichten von Kämpfen und Entfernungen von Tell-Teilen und Relikten aus oder unter Moscheen an. Begleitet wird dies überall in den Dörfern von offener Unterdrückung des Fellachen-Sufismus und der Verehrung lokaler Heiliger. Mitten in all diesen Widersprüchen zwischen den normalen, der Subsistenz-Logik der Bauern folgenden Alltagszerstörungen am großen Kûm von Sais und den fundamentalistischen Interventionen an den Qubbas begegneten wir Penelope Wilson, einer jungen Archäologin der Universität Durham in England, die weitgehend auf sich selbst gestellt seit einigen Jahren hier Forschungen treibt. Sie lebt unter Frauen in einem Haus in der Nähe der alten Qubba der Frauenheiligen und macht sich die Erfahrungen und Kräfte der Frauen zunutze. Sie hat jüngst einen großen Bericht ihrer außergewöhnlichen Arbeit veröffentlicht. Wilson scheut die modernen Forschungsmethoden nicht, verbindet sie aber mit den aus den Frauennetzwerken hinter den Kulissen der Männeröffentlichkeit, der Wächter, Polizisten und Altertumsadministratoren, gewonnenen Erkenntnissen durchaus erfolgreich. 7 Ägyptische heilige Orte im dauerhaften Wechselspiel des Kontakts: Ich habe Fuwa und Sa al-Hagar als Fälle überspitzt einander gegenübergestellt, um anzuzeigen, dass es auch in der gegenwärtigen hochsensitiven Situation der ägyptischen Authentizitäts- und Religionspolitik sowohl suppressive als auch tolerante, ja, fürsorgliche Formen des Umgangs mit dem »Pharao« gibt, dass dieser durchaus auch in der offiziellen Religion gepflegt wird. Widersprüchliche Haltungen werden auch in der ägyptischen Soziologie und Ethnologie deutlich. Ahmad Zayed, einer der führenden ägyptischen
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Soziologen, kritisiert seine Kollegen unter den Folklore-Studien und in der Ethnologie, dass es nicht um eine authentische Kontinuität der ägyptischen Kultur an den Orten gehen darf und hebt die psychologischen und sozialen Momente der Rückständigkeit und Rückwärtsgewandtheit der Volkspraktiken hervor (Zayed 2008). Umso mehr wird auch hierin deutlich, dass »Ägypten und der Pharao« nicht einfach nur als Topografie des ägyptischen genius loci abgehandelt werden kann, wie viele ägyptische Geografen und Ethnologe es noch tun. Die Frage ist vielmehr, wie geht moderne Kultur in ihren vielen Sparten mit der Präsenz des Pharao, mit lokaler Mystik und Magie, mit Heiligenverehrung um. Meine erste vorläufige These ist, dass ein zu einseitiger Bruch und die Unterdrückung das Spektrum der Vielfalt und die Potenziale der Selbstbestimmung lokaler Kultur negiert, verflacht und verfremdet – was selbst wiederum nur zu falschen Reaktionen und Gegenreaktionen führen kann. Man müsste herausfinden, welche Unterscheidungen unter denen getroffen werden, die selbst unter der Spannung der modernen Realitäten stehen, und im Umgang mit dem »Pharao«, mit den lokalen Praktiken neue Wege kultureller Kreativität aufzeigen können. Es geht mir also selbst nicht so sehr darum, die Differenz in den Modellen des Umgangs mit Geschichte und ihrer Präsenz zu verniedlichen. Es kann aber auch nicht darum gehen, solche Modelle aus dem lokalen Kontext herauszulösen und die lokalen und epochalen Bindungen zu negieren. Zweifel sind gegen jede Form anzumelden, die die Kontaktperspektive auf die Interaktion und den Vergleich abgeschlossener und rein voneinander zu trennender Strukturen beschränken. Widersprüche, wie etwa zwischen Pharaonismus und Islam einerseits, islamischem Fundamentalismus und Modernität andererseits, oder Frauenpraxis und Patrimonialismus, werden dann leicht als unverrückbar objektiv zementiert. Die Kontaktsituationen und die Umgangsformen am Ort sind so schon im Vornhinein auf abstrakte Kulturideen hin vorprogrammiert. Wichtiger scheint mir, die Wirkungen derselben zu untersuchen. Die Formen, in denen sich kulturelle Erfahrungen umsetzen und wie die unterschiedlichen symbolischen Ausdrucksformen genutzt werden, sind sicher bedeutsamer als die Affirmation strikt struktureller Begriffe und Unterscheidungen, die selbst schon im Kontakt gehandelt werden. Nicht die Gegensätze allein, sondern die vielen Wandlungsformen sind interessant. Zum Schluss möchte ich die Strukturtrennungen und die verschiedenen Interessenlagen und instrumentellen Nöte beiseite stellen. Drei Haltungen zeigen sich vor dem »Bild des Pharao« von Bedeutung:
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Erstens ist es die aktualisierte Gegenständlichkeit des Objekts, sie ruft ungeteilte Aufmerksamkeit hervor, und Geschichte und Geschichten dieser Gegenständlichkeit sind nicht vornehmlich Informationsquellen als vielmehr Aufforderungen zur Liebe und Zärtlichkeit; schöne Gestalt, die uns in ihren Bann zieht (und natürlich nicht nur die lokalen Frauen). Zweitens ist die Vorstellung der unmittelbaren Präsenz der Alten im Objekt am Ort auch mit einem Erschauern verbunden, das sich in ganz vielen Bedeutungen umsetzt, die diesem Erschauern folgen. Der magische Charakter des Objekts kann angenommen werden, aber auch zu heftigsten Zurückweisungen führen. Dass der Pharao zurückkehren könnte, ist ein Gefühl, das seinen esoterischen Charakter verstärkt. Dies erklärt auch, warum er eine Art der transzendenten Gegenwart von Geschichte vermittelt. Die darin liegenden Überwindungen von Alltäglichkeit machen Entgrenzungen möglich, die das existierende religiöse Gesetz, die Regeln der öffentlichen Religion und der Administration als mindere Größen erscheinen lassen. In einem viel einfacheren praktischen Sinne als aus Sicht der Virtuosi, tritt Liminalität hier als transzendente Orts- und Objekterfahrung auf. Drittens wäre es falsch, die Orte und Objekte aus dem Kontext von »Kultur-Kontakt« herauszunehmen. Das Begegnungsmoment hat einen hohen Erfahrungswert. Das bezieht sich auch auf die »Ausländer«. Es waren die Osmanen und Türken, die dem Pharaonismus neue Formen der Repräsentation abgewannen, den Volkssufismus hoffähig machten. Die Begegnung mit Reisenden und Archäologen weckt neue Bedeutungsmuster, das übermittelte Wissen über historische Ereignisse und Stilgeschichte wird lokal verstanden, durchaus aufgenommen und im eigenen Kontext angeeignet. Es kann nicht geleugnet werden, dass der »Pharaonismus« heute wieder von großer öffentlicher Bedeutung ist – wie in der Nasserzeit, wo er bereits ein breites Spektrum der symbolischen Referenz für die politische Kultur des postkolonialen, säkular-modernistischen Nationalismus lieferte. Auch sind bestimmte Kontinuitäten der politischen Kultur einer stillen politischen Philosophie geschuldet, die in den Diskursen der Mamelucken- und Osmanenzeiten ihren Ursprung hat, nämlich die Befestigung staatlicher Macht im »Reich« und im »Glanz« des »Großen«, das der Pharao repräsentiert. Die ägyptische und Teile der westlichen Archäologie waren auch diesem »Reich« – ohne das auch heute bestimmte Facetten des Tourismus nicht auskommen – sehr verbunden. Auch die monotheis-
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tische, die islamische Usurpation des »Pharao«, und vor allem sein Ende in der Spätantike, führt heute wieder zu Bedrohungen, die in vielfältiger Weise als Landnahme (durchaus im kalten Sinn Karl Schmitts) verstanden werden. Die vielen Erben von »Israel in Ägypten«, von politisch werdender oder gemachter »Volksreligion«, ägyptischer und israelischer Kulturpolitik bis hin zu den vielen islamischen und jüdischen Schattierungen des modernen Fundamentalismus, Archäologie, Islamwissenschaft und Ethnologie sind davon nicht verschont und werden es auch nicht bleiben. Es ist deshalb auf das »Kleine« als Moment des Verstehens moderner Authentizität hinzuweisen. Die wohl interessanteste Begegnung in dieser Arbeitsphase hatte ich mit Penelope Wilson in Sais. Wie oben bereits beschrieben, setzt sich Frau Wilson mit Interesse in all diese Nebensachen hinein, die die Frauen, bei denen sie einquartiert ist, erzählend und tuend um sie herum aufrichten. Auch daraus schöpft sie ihre Geduld beim Sammeln der Tonscherben und der Verwaltung der Dinge am Tell. Unter den Fellachen genießt sie einen so guten Ruf, dass dies ihre Arbeit gewissermaßen aus den Hinterhöfen des Dorfes heraus ermöglicht und beflügelt. Da fühle ich mich an die Tonlage eines fremdartigen Wortes von D. H. Lawrence erinnert, der als Archäologe ganz eigener Art an den Etruskischen Orten tätig war. Er reflektierte am Beispiel der etruskischen Gräber über die Bedeutung der Großen Pyramide und verglich sie mit dem historischen Sinn der Nachtigall. Die kleine Nachtigall und ihr Abbild leben für Lawrence inniger und länger als die Pyramiden. Die sich auf das längere Leben der Nachtigall beziehende Metapher ist auch eine, die den Zusammenhang von Leben und Wissenschaft als Archäologie treffen soll. Frau Wilsons Archäologie in Sais ist mir hier ein Beispiel. Sie lebt mit den Frauen am Tell zusammen, taucht mit ihrem Wissen durchaus auch ins Alltagsleben der Fellachenfrauen ein, aber anders als im Widerspruch von Wissenschaft und Leben ist hier eine Gleichzeitigkeit angesprochen, die auch die symbolischen Widersprüche am Tell zwischen Leben und Archäologie, Praxis und Wissen im gegenseitigen Kontext aufzuheben scheint. In diesem Bezug zum überdauernden »Kleinen« der lebendigen Menschen und Dinge scheint mir die Chance zu liegen, in der Abwehr der herrschenden Ideologien, die nur »Großes« wollen, eine Authentizität zu finden, die vom Leben her die Kultur relativiert und regeneriert und rekreiert, und zugleich beide auf das Engste miteinander vereint.
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8 Die Richtungen der Authentizität: Mir scheint es sinnvoll, von drei verschiedenen Richtungen zu sprechen, in denen Authentizität, oder genauer die Suche danach, hier operiert. Erstens Wissenschaft: Wir sprechen im Anschluss an Jaspers von der Notwendigkeit zu moderner »Musealisierung«, Jaspers meint damit die wissenschaftlich selektive Aneignung von Geschichte als Mittel der Selbstbehauptung, nicht nur des Einzelmenschen, sondern auch von Nationen, ja, von Zivilisation insgesamt. Über die Selektivität dieses »Museums der Moderne« wird natürlich gestritten. Dafür haben wir die Wissenschaft. Archäologie und Religionsgeschichte sind vielleicht hier am wichtigsten. (Nebenbei bemerkt hat Jaspers seinen Verstehens- und Kommunikationsbegriff auf »Offenbarung« gegründet). Zweitens Religion selbst: Ägypten ist für die Entstehungsgeschichte aller monotheistischer Weltreligionen von Bedeutung. Der Islam mit seinem absoluten – wie Goldziher meint wissenschaftlichen – monotheistischen Bruch mit der Vorgeschichte zeichnet sich trotz seiner eigentümlichen Toleranz gegenüber den Volksheiligen durch eine unbestreitbar scharfe Auswahl im Umgang mit Orten und Relikten aus. Drittens lokale Lebenspraxis und historisches Gedächtnis: Wir sind hier mit einer Kontinuität ritueller Formen der Verehrung von Plätzen, Relikten und Spolien konfrontiert, die die Grenzen, die von religiösem Recht, staatlichen Gesetzen und wissenschaftlicher Einsicht gesetzt sind, wieder sprengen, ja, die sich auf physische und psychische Nöte beziehen, und die sich auf das unter armen Leuten herrschende Gewohnheitsrecht berufen. Letztendlich sind es aber die Politik und moderne Ordnungshaltungen, die über die Frage entscheiden, wie konfliktträchtig das Zusammentreffen dieser – wie ich es bezeichnen möchte – Momente moderner Authentizität im lokalen Raum wirklich ist.
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IV. Gemeinschaft: »Dorf« als Geschichte und gelebte Praxis
1 Berufszauberer – Eine Fortsetzungsgeschichte: Wenn wir in die Welt der dörflichen ägyptischen Scheichs eintreten, kann nicht der »funktionale« Gesichtspunkt im Vordergrund stehen. Das hieße, ihnen, diesen Oberhäuptern, den Vorständen der lokalen weltlichen wie heute vor allem der religiösen Gemeinden, nur soziologisch zu begegnen, quasi als »Kulturträger« des sozialen Kitts, eine Funktion, die sie natürlich auch haben. Vielleicht verdanken sie dieser Funktion der sozialen Verbindlichkeit gerade ihr »Überleben«. Aber sie sind natürlich eher und zuerst darin ihrer Umwelt verständlich, dass sie auf eine ganz imperative Weise der »Verkörperung« ihrer Idee dienen, »Geschichte« in das soziale Feld hineinzuprojizieren. Indem sie auf das Heute aus dem Wissen heraus über das, was immer schon war, hin agieren, lindern sie die Erschütterungen über die vielfältigen Arten der Präsenz »Gottes« in den Dingen dieser Welt. In Ägypten ist dies eben auch ein Akt der imperativen Achtung vor der »großen« Geschichte. Nach meiner Kenntnis ist Winifred S. Blackman die erste, die den Zusammenhang von lokaler Ordnung und religiöser Praxis, wie er für das ländliche Ägypten und für Teile der urbanen Welt kennzeichnend ist, verstanden hat. Sie spricht vom Kult der Lokalheiligen (»cult of local sheikhs«), wobei sie in Verbindung zu Analogien im pharaonischen Ägypten das besondere Zusammenwachsen von »modernem« Leben und lokaler Geschichte hervorhebt. Es ist das Verdienst von Salima Ikram und Niklas Hopkins, die umfassende Studie Blackmans aus den 1920er Jahren wieder ins Licht des anthropologischen Bewusstseins gebracht zu haben. Nichts zeichnet diese Studien mehr aus als das subtile Gehör für das Sprechen der Menschen, die sich vor allem im lokalen Raum einrichten und
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den Diskurs mit den historischen Ablagerungen dort aufnehmen (Blackmann 1926, 2000). Es ist dieses Sprechen im Alltag, das demjenigen, der neben den Texten auch dem Leben eine Bedeutung in der Formung von Kultur und Gesellschaft geben will, zu einem Untersuchungs- ja, selbst Literaturgegenstand von besonderem Gewicht wird.30 Darüberhinaus ist es natürlich auch das Problem des weit verbreiteten Analphabetentums, das gewissermaßen eine eigene Sprache des Lebens erfordert. Auch kommt ja die Textsprache vor allem als gesprochene Fremd-Sprache zu ihnen und wird als solche gehört. Die Bücher, die die Textsprache vergegenwärtigen, liegen in den Moscheen. Die daraus ausgemalten Zitatstellen schmücken auf Tüchern und Tafeln die Wände von Maqamen und Moscheen. Weise Männer bemühen sich sie zu erklären, und dann sind es vor allem auch die Bilder, die das Fernsehen verbreitet, und die Gesänge und Predigten auf den Kassetten und CDs. Aber auch dort findet inzwischen die heutige Volkssprache der Fellachen Verbreitung. Dass hier bei aller Armut die neuesten Billig-Handys etwa von Nokia massenweise erschwinglich werden, stellt durchaus kein Bruch dar. Schnell wurde die technisierte Welt der Kommunikation auf die einfachste Art angenommen, wenn auch nur scheinbar hier eine Autonomisierung der zwischenmenschlichen Verbindungen und Beziehungen stattfindet.31 Handys sind zu äußeren Zeichen des »Mannes« geworden, wie früher vielleicht die Waffe. Sie haben eben den kennzeichnenden komplementären Effekt, dass milliardenschwere Unternehmen entstehen, die eine neue, gegenüber den Verbrauchern hermetisierend eingerichtete Medien- und Warenrealität in den urbanen Zentren durchsetzen. Neben all diesen Entwicklungen bestehen die »Mysterien des Lebens« fort. Die um ihre Kulte herum sich formierenden Netzwerke und menschlichen Verbindungen und die neuen Verkehrstechnologien lassen Gesellschaftliches nur wieder allgemein werden, was in den lokalen Kulten
30 | Ich habe das im Band III meiner Ägyptischen heiligen Orte am Beispiel des Romans von Mohamed al- Bisatie (2004) zu zeigen versucht. 31 | Die »Neo-Basare« in »neuen« endlosen Straßenzügen Kairos und anderer Großstädte des Deltas, in denen offen kopierte oder origiäre Billigstware angeboten wird, sind ein Zeugnis für diese »Autonomie«, die auch »Marktautonomie« ist, wenngleich sie auf der anderen Seite der Deregulation zum Aufstieg der neuen Großmonople der T-mobile-Branche beigetragen haben.
IV. G EMEINSCHAFT : »D ORF « ALS G ESCHICHTE UND GELEBTE P RAXIS
weiterhin gefeiert wird.32 Über die Kulte und die hier aktivierten Kommunikations-Technologien wird diese unrealistische Welt mit dem Alltagsleben vernetzt und zusammengekittet, ja selbst wieder real gemacht. Warum aber sollten die heute fortlebenden Kulte der lokalen Scheichs unter den Fellachen ihre Bedeutung nicht nur durch die Parallelen im alten Ägypten gewinnen, sondern auch als aktives historisches Relikt, als lebendige Fortsetzung einer alten Praxis in neuer Zeit? Blackman bleibt uns eine Reflexion dieser Frage der Kontinuität schuldig, zu offensichtlich scheinen ihr nur die Spuren des Alten zu sein, die »survivals from Ancient Times«, das »Überleben«, die Kontinuität scheint ihr zu offensichtlich und ist ihr selbst ein Herzensanliegen. Der entscheidende Punkt, von dem aus sich diese Frage aber weiterentwickelt, ist andererseits ebenso offensichtlich: Die pharaonischen Kulte – mit ihrer umfassenden Ordnungskultur unter dem Begriff des »Gottkönigtums« nur vage zu erfassen – waren Kulte der Hochkultur und zugleich öffentliche Kultur. Beim Kult der lokalen Scheichs aber handelt es sich heute um einen – zwar geduldeten, so doch von der offiziellen Welt ferngehaltenen und oft auch zurückgewiesenen, von dem in den 1990er Jahren bestimmend gewordenen Salafismus, wie man heute so schön sagt »Reform-Islam«, regelrecht unterdrückten – »Volksglauben«, der nur äußerlich sich der islamischen Sprache anpasst, ja, sich ihrer bedient. Hier könnte man nun einen Schritt weiter gehen und etwa der Linie folgen, die Muhammad El-Gawhari, einer der Begründer der zeitgenössischen ägyptischen Ethnologie und Folklore-Studien, zieht. Er spricht von einer gebrochenen, in unterschiedlichen Kategorien sich ereignenden, doppelt gelagerten historischen Semantik. Es handelt sich – wie er es sieht – nicht nur um pharaonische, sondern auch um islamische oder zumindest islamisch gedachte und legitimierte Kulte. Schon der englische Ägyptologe und Archäologe Gardiner hatte in einem Aufsatz von 1917 von einem »professionellen Zauberer« gesprochen, einer sich gewissermaßen mit geheimem Wissen verselbständigende Spezies, die später auch bei den Griechen und Römern Bewunderer fand (Gardiner 1917)33 . 32 | Vgl. hierzu den sehr aufschlussreichen Aufsatz von Jennifer Peterson über Raum, Musik und Heiligenfeste (Peterson 2008). 33 | Die Metapher, dass der moderne Professionelle im altertümlichen »Zauberer« seinen Ursprung habe, könnte in seiner Deutlichkeit durchaus von diesem Aufsatz Gardiners ausgehend in die Gedankenwelt eines modernen Soziologen
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El-Gawhari, mit den ägyptischen Einflüssen in der Zauberliteratur des islamischen Spätmittelalters beschäftigt, zitiert den Aufsatz Gardiners nicht, aber er unterscheidet zwischen der Berufs- und der Volkszauberei. Das Interessante an dieser Unterscheidung ist, dass, wie El-Gawhari meint, das »Berufszauberertum« nach Einführung des Islams trotz aller Tendenzen zur Vermischung mit Volkspraktiken sich streng an die islamische Lehre hält und Magie nur in dem Rahmen auszuüben gewillt ist, der von den heiligen Texten selbst, etwa über die Gottesnamen, die Beschreibungen des Wesens Gottes, seines Thrones und seiner Diener, als erlaubt gilt. Das »Berufszauberertum« der Scheichs beschäftigt sich also im Rahmen des offiziellen Sufismus mit Schriftzeichen, Zahlen, Namen Gottes, mit dem Wissen über Pflanzen und Tiere, mit anderen Worten, es ist nach ElGawhari in die offizielle Kultur des Islams und seiner Schriften eingebaut. Dagegen ist die »Wissenschaft der Volkszauberei«, nach El-Gawhari, ein einziges »Unterwerfen unter die Dschinn, um etwas Böses zu verhindern oder jemandem zuzufügen« (El-Gawhari 1968: 28). Es handelt sich danach um eine Praxis ohne Theorie, um Glauben und Erfahrungen, die aus einer mündlichen Tradition stammen, um Überreste der »altägyptischen, frühchristlichen und frühislamischen Tradition« (ibid.: 29). Nun ist diese paradigmatische Unterscheidung zwischen Volkskultur und offiziellem Islam als Schriftkultur in letzter Zeit etwas in Verruf geraten. Doch für den hier verfolgten Gedanken ist sie sinnvoll. Man kann sich vorstellen, wie unter den vielen Eroberungen, die das alte Ägypten zu Fall brachten, sich im Leben der Menschen etwas erhielt, was in der Schriftkultur verloren ging. Diese »Wissenschaft« des Volksglaubens, der gelebten und als solche tradierten Lebensweisheiten, hat sich sowohl in der Morphologie der Lokalitäten, in die Ruinenfelder der Antike, die Tells und Kûms mit eingeschlossen, als auch in den lokalen Mentalitäten und Bräuchen der Menschen im Alltag eingelagert. Dies geschah wohlgemerkt im Austausch wie Max Weber eingetreten sein. Man vergegenwärtige sich Webers Ausführungen hinsichtlich der »Entwicklung zum Geisterglauben«: »Gefördert wird sie, wie alle Abstraktion auf diesem Gebiet, am stärksten dadurch, dass die von Menschen besessenen ›magischen‹ Charismata nur besonders Qualifizierten anhaften und dass sie dadurch die Unterlage des ältesten aller ›Berufe‹ wird, des berufsmäßigen Zauberers. Der Zauberer ist der dauernd charismatisch qualifizierte Mensch im Gegensatz zum Alltagsmenschen, dem ›Laien‹ im magischen Sinne des Begriffs« (Weber 1980: 246).
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und – wenn »gesprochen« werden musste – auch mit der semantischen Kraft der »Sprache« der neuen Schriftkulturen, der koptischen, wie der islamischen. Wir haben es also, wenn hier ein Begriff der politischen Anthropologie in übertragenem Sinne verwendet werden darf, mit einer »akephalen«, quasi »kopflosen« Kontinuität altägyptischen Lebens zu tun – mit einem gewissermaßen von Staat und Schriftkultur, wenn nicht allein gelassenen, so doch nicht mehr durchgängig organisierbaren kulturellen Leben. Gerade diese Akephalie, diese Kopflosigkeit, ermöglicht die vielfach beschworene, in allen sozialen Bereichen spürbare, offensichtliche ägyptische Ambivalenz, die sich in einem ständig in Gang befindlichen kulturellen Spiel der Ambiguität ausbreitet. In diesem Spiel pendeln die Prozesse der kulturellen Produktion gewissermaßen zwischen der sich assimilierenden, der fordernden Öffentlichkeit Genüge tuenden Offenheit gegenüber dem Fremden einerseits, und der Abweisung von allem Fremden, von dem Neuen, dem Wissenden wie auch dem von draußen her unwissend Kommenden andererseits. Die einmal von außen her eingedrungenen und sich als »Kephalos« inthronisierenden Fremden, mit den Kulturen der Griechen, der Römer, der Byzantiner, der Araber, der Europäer gerieten, den »Pharao« ersetzend, immer in diesen Strudel der kulturellen Ambivalenz und in der Tat kann man durchaus von einer sehr spezifischen Form der énergie histroique der Ägypter sprechen (Berque 1968: 535). Wenn Berque auch von einem allgemeinen arabischen Duktus spricht, so müsste man in Bezug auf die kulturgeschichtlichen Bedingungen der Fremdbeherrschung Ägyptens über Tausende von Jahren von einer ganz spezifischen Agilität (agilité) der Ägypter bei der Schöpfung neuer sozialer Bedeutungen ausgehen, die der Volkspraxis und Alltagskultur, wie gleichermaßen auch dem kulturellen Selbstverständnis der Gebildeten eingeprägt ist und dem kulturellen Leben insgesamt eine Originalität verleiht, die sich gegenüber allem Zwang geschlossener Sinn-Systeme der Hoch- und Schriftkultur, Religion und moderne Wissenschaft mit eingeschlossen, entzieht (vgl. Berque 1961: 50-67). Goldziher unterscheidet andererseits aber, auch das sei hier vermerkt, den klaren säkularen Umgang der Beduinen mit ihren Scheichs und Heiligen deutlich von der hochkulturell tief verwurzelten Heiligenverehrung unter Persern, Indern und Berbern. So nimmt er – anders als Berque – Ägypten, dem er ein eigenes Kapitel widmet, aus dem bloß »arabischen« Kontext heraus und sieht auch hier die alten großen Traditionen als ge-
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wissermaßen eigenlogisch historisch wirkende Kraft: »Der volkstümliche Islam in Ägypten« gilt ihm als das lehrreichste Beispiel für das Kapitel der »Umdeutung alter Traditionen durch neue Appercionsmomente« (Goldziher 1969: 336). Vermerkt wird auch: »Bei Persern, Indern und Berbern werden die »Localheiligen« mehr als bei den Beduinen ins Überirdische, Göttliche erhoben, und es wird bei ihnen die Grenze, welche die Sphäre des Menschlichen von der des Göttlichen scheidet, leichter überschritten« (ibid.: 323).34 Hieraus ergibt sich für Goldziher, wie er in einem besonderen Abschnitt zur Heiligenverehrung bei den Beduinen ausführt, eine neue kulturelle Spannkraft, denn er hebt quasi gegen das hohe Religiöse der alten Kulturen, das quasi tolerante Element der Beduinen hervor, das in seiner Vorstellung von der quasi weltlichen, ja weltbürgerlich ausgerichteten »Religion« des alten Beduinentums gipfelt (Goldziher 1969: 319-325). Für den Kontext der modernen inneren Konstitution der ägyptischen Gesellschaft, mit den gegenwärtigen kulturkritischen, wie ihren affirmativen Potenzialen in Staat und »Volk« ist die tiefere Spur der Frage nach den »modernen« Analogien zur Antike sichtbar: Warum also könnte das Gott-Königtum der Alten mit den Formen des Charisma, etwa auch mit der charismatischen Durchorganisierung der modernen Gesellschaft zu tun haben? Warum gehören solche symbolischen Momente des »Königs«, des »Khalifa« (Vertreter), noch weiter zu den Dauerbeständen der Kulte der lokalen Scheichs? Ist es dabei angebracht, so einfach der Spur Winifred Blackmans zu folgen, indem man die Morphologien, Plätze und Gebäude der Alten mit denen der Fellachen und ihren Dörfer von heute vergleicht? (Blackman 2000: 280f.) Blackman kann durchaus auf eine Reihe, möglicherweise fraglicher, Analogien (und natürlich ist die Bauweise der 34 | Es ist mir natürlich keineswegs entgangen, dass heute die »Forschungsmoden« alles, was »Volkspraxis« meinen könnte, aus dem Repertoire der Islamwissenschaft und Anthropologie gestrichen haben. Zu sehr erinnerte es noch an Potenziale des »Widerstands« und an das Dualitätsdenken der Modernisierungssoziologie. Es war letztendlich Talal Asad, der alles, was nach Resten traditionaler kollekiver Praxis roch, mit dem Begriff der »diskursiven Tradition« in den Kontext der neuen ideologischen Orthodoxie der Individualisierung hineinstellte. Wie daraus aber gerade die praktischen Reglungsmomente, die traditionellen Kollektive wie Wohnviertel, Geschlechtergruppen, Kulte und Wallfahrten etc. als Konfliktpotenziale noch erkennbar werden sollen, bleibt mir ein Rätsel. »Diskurs« hat hier weder Funktion noch Praxis ersetzt.
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Häuser ein ganz eigenes Kapitel) hinweisen, die sich unmittelbar auch auf die religiöse Praxis um die Tempel und Priestergräber einerseits, und die Praxis der rituellen Erhaltung der Gräber der lokalen Scheichs andererseits beziehen lassen. Hier ein besonders eindringliches Beispiel für solche Analogien: »In ancient Egypt the priest, before beginning the toilet episodes of the temple liturgy, swept the floor of the sanctuary with a cloth. As the king (the high-priest par excellence) is shown in a relief in the temple of Derr holding a ewer as well as the cloth used for sweeping the floor, it is highly probable that the priest often sprinkled water while the floor of a house was being swept, as we learn from a wall-painting found by Professor Petrie at el-›Amarneh‹.« (Blackman 2000: 313)
Mir selbst wurde in Rashid erzählt, wie man noch heute kurz vor der Niederkunft einer Frau den Platz vor dem Kindbett mit dem aus einem Quell unter einem alten Maqam geholten »heiligen Wasser« besprengt. Schön erzählt sind die zum Teil auf ethnologischen Studien beruhenden Geschichten über »Women and the Nile« von Anthony Sattin (2001: 46-75). In einem speziell den survivals gewidmeten Aufsatz – interessant ist dabei, dass hier immer wieder auf das Wort local in unterschiedlichen Konnotationen abgehoben wird – unterstellt sie gewissermaßen eine ungebrochene Kontinuität von Traditionen des (politischen) Priestertums des ägyptischen Altertums mit denen der (meist unpolitischen) lokalen Scheichs. »The cult of the local saints of Modern Egypt may also be compared with the cult of the ancient local divinities, the ancient Egyptian Priest being entiteled the ›servant of the god‹. The temples, as is well known, were amply endowed with lands for the maintenance of the priesthood and for the up-keep of the offerings.« (Blackman 1926:51) 35 35 | Kerzen: Es ist ein aus dem alten Ägypten herkommender Brauch Kerzen an den Gräbern der lokalen Scheichs anzuzünden (Blackman 1923:52). Ein deutliches Zeugnis der zeitgenössischen Kontinuität diese Brauchs ist uns in der Moschee nebst Maqam des Abu Mandur in Rashid/Boulbitine bezeugt, sie begegnete mir immer wieder auch bei den abgelegensten Schreinen, vor allem auch, wenn diese von Frauengruppen gezielt gepflegt werden, wie etwa am Schrein des »Nur« in einem Dorf Ezabi im Manzala-See (vgl. Stauth 2010: 54).
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All diese Parallelen erscheinen so eindeutig, dass eigentlich umgekehrt zu fragen wäre, warum eine so offensichtliche Sachlage weitgehend übersehen oder bezweifelt werden kann. In der Tat kann auch Blackman, obwohl sie vom König als dem Hohepriester par excellence spricht, keinen Begriff des politischen oder, wie wir sagen mögen, nur einen »Rest« des politischen Charismas unter den lokalen Scheichs bezeichnen. Es steht diese Frage für sie nicht an – auch nicht ihre Fortführung hinsichtlich der Auswirkungen auf die lokalen Ordnungen. Sie liegt gar nicht in der Reichweite ihrer Untersuchungen. Könnte man die Frage der Charismatisierung des Lokalgesellschaftlichen und seiner Wurzeln auch aus dem Kontext der »Kontinuitäten« herausnehmen, und sie stärker unter dem Gesichtspunkt der historischen und kulturellen Brüche betrachten, die Fremdherrschaft bedingen? Denn Charisma gewissermaßen unter modernen Bedingungen als ein rein priesterliches, spirituelles Phänomen zu betrachten – wie Weber es zumindest in der Religionssoziologie tut – widerspricht seinem Begriff etablierter Herrschaft, beziehungsweise trennt es vom Begriff von im Zentrum fokussierter Macht. Diese Trennung kannte das alt-orientalische Gottkönigtum nicht, beziehungsweise brachte es als Widerspruch am Ende seiner langen Geschichte erst hervor. Es gab hier also keinen gewissermaßen spirituell alleingelassenen und außerweltlich gereinigten Begriff des »routinisierten« Charismas. Charisma war Ritus und kollektiv integriert. Es bleibt zunächst identisch mit allen Insignien der Verkettung innerweltlicher und transzendentaler Macht. Erscheinung und Begriff sind identisch. Das von Blackman präsentierte Material der Analogie und Kontinuität reduzierte also einen altorientalischen Charisma-Begriff bei den lokalen Scheichs im modernen Ägypten auf ein – wenn wir das einmal so ausdrücken dürfen – »priesterliches Pathos der Décadence«, das kaum noch an ein »herrschaftliches« Pathos der Distinktion anknüpfen könnte. Denn nicht nur ist die Differenzierung zwischen Religion und politischer Herrschaft längst eingetreten, sondern auch die gesellschafts-reale Erscheinung von Charisma beschränkt sich auf die eher ärmlichen Welten kultischer Spiele. Es handelt sich also zunächst für sich genommen um keine rest-politischen, sondern um symbolische Kontinuitäten. Der Khalifa (Stellvertreter) der dörflichen Mawlid, der die Prozession beim Fest des Heiligen anführt, verkörpert eben nicht die weltliche Macht, wenn diese sich auch natürlich in den Ständen, den staatlichen, militärischer und wirtschaftlichen Eliten, bei den »großen« städtischen Mawalid wie etwa des Husein in Kairo, des
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Ahmad al-Badawi in Tanta und des Ibrahim in Disuq sich durchaus repräsentieren lässt. Mir scheint, dass die vorhandenen Anzeichen dafür eine lokale Praxis kennzeichnen, die Charismatisierung anders zu begreifen hätte, als in den Weber nur verständlichen Begriffen des spirituellen Charismas. Es geht hier vielmehr um Erscheinungsqualitäten, die im alltäglichen Umgang einen ganz natürlichen und unmittelbaren Transzendenzbegriff erfordern, ja, ihn aktualisieren. Wenn also von lokalen islamischen Ordnungsvorstellungen zu reden sein wird, dann sind diese stark mit dem letzteren Begriff des natürlichen Charismas, der erscheinenden – und nicht der protestantisch-transzendenten – Transzendenz in Zusammenhang zu bringen. Mir scheint dies auch darin sichtbar, dass es sich bei Verehrungen des ragul saleh, des guten Menschen, im Allgemeinen um eine Kontinuität der Gottesimmanenz im Diesseits handelt, eine Erscheinung, die das Priesterliche übersteigt: Anklänge an ganzheitliche Heilserfahrungen des im Diesseits verkörperten, und im Körper affirmierten Gottes um noch nicht klar vorgenommene Trennungen und Differenzierungen von Diesseits und Jenseits, die der Islam in seiner Gotteslehre sonst höchst strikt vollzieht. Es scheint aber an diesem Punkt der quasi ›körperlichen‹ Erscheinung die »Undifferenziertheit« des Weltlichen und Göttlichen darauf zurückzuführen zu sein, dass in der ägyptisch-islamischen Lokalkultur sich modifizierte Formen essen, was bei den Altägyptern als Gottkönigtum galt, erhalten haben. Wir finden dies auch in Ausführungen über das alte Ägypten bestätigt: »Dieser Staat stellt sich vielmehr als ein großräumiges Gebilde dar, dessen Mittelpunkt primär überhaupt nicht ein Ort, sondern ein Herrscher ist, der seine Residenz wechseln kann. […] Wenn anders die Orte ihre jeweiligen Götter haben und sie sich nicht zuletzt dadurch für uns als fixierte und differenzierte Größen bemerkbar machen, so erscheint doch – sit venia verbo – der König als ›Hauptort‹ der Gottheit, die sich in ihm für die Großgesellschaft verkörpert.« (Morenz 1974: 49)
Gottkönigtum wird hier zwar vornehmlich nur als – wenn auch nur symbolisch erscheinende – Gegenwart der Gottheit im König verstanden, aber darin spürt schon Morenz eine gewisse Undifferenziertheit. Die Kulturfrage, die sich mit den Lokalheiligen stellt, geht darüber hinaus. Man könnte meinen, es handele sich beim Kulturgestus des Walitums an den antiken Stätten – man kann dies in Sais etwa sehr deutlich verfolgen – gewisser-
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maßen um die Rückkehr des Waliköpers an den Ort des Gottkönigs, einerseits eine Pflege von kulturellen Kontinuitäten am Ort, andererseits aber auch ein ganz manifester Ausdruck der kulturell verhinderten Ausdifferenzierung des Heiligen. So bleibt das Gottkönigtum im alten Ägypten gewissermaßen symbolisch und praktisch in den Kult der lokalen Scheichs von heute mit einbezogen. Darin liegt ein Moment der Charismatisierung der »Volkspraxis« im Innern und im Äußern des »Ägypten« von dem ich spreche. Es geht dabei nicht darum, dass das religiöse Charisma lokaler Scheichs in der politischen Theologie der alten Ägypter ihren Ursprung haben könnte. »Politische Theologie« – etwa als spirituell begründeter Machtabsolutismus, den wir nicht los zu werden scheinen – ist dann durchaus aber im »Fundamentalismus« vorhanden und gewinnt so moderne Präsens, sowohl im »Diskurs« über Tradition, als auch im politisch-praktisch werdenden historischen »Instinkt« des Pharao. 2 Kulturelle Kontinuität und politische Ordnung: In einem Zitat, das der Kairoer Domenikaner Josef Dreher (1997: 197) aus dem Werk des andalusischen islamischen Mystikers des 12. Jahrhunderts Ibn Qasi, entnommen hat, steht es so: »L’isolement (al-´uzla) les a voilés parmi les hommes«, etwa »die Abgeschlossenheit muss man sich unter den Menschen erst erstehlen«. Es wird hier natürlich auch ein Moment der Theorie des Transsozialen sichtbar. Dreher, der sich nicht mit der Bedeutung der Mystik für die Entstehung des modernen Individualismus beschäftigt, fasst Ibn Qasis Erkenntnis über die Notwendigkeit der Isolierung so zusammen: »D’après lui, l’individu, surtout quand il fait parti d’élite spirituelle et religieuse, subit un détachement de l’environnement social dans lequel il est né ou dans lequel il est entré avec le temps. Ainsi il adopte l’état d’étranger et d’exilé parmi les siens (gharba) et se trouve dans une situation qu’Ibn Qasi qualifie du mot `uzla, terme qui vient de la littérature ascétique et mystique et même des belleslettres.« (ibid.: 198) 36 36 | »Nach ihm (Ibn Qasi) tritt das Individuum, vor allem wenn es zur spirituellen und religiösen Elite gehört, in einen Zustand des Abgehobenseins gegenüber seiner sozialen Umgebung ein, in die es hineingeboren wurde oder über längere Zeit hinweg eingenunden war. Auch übernimmt es die Haltung des Fremden und des Exils unter den Seinen an (gharba), eine Situation, die Ibn Qasi mit dem Wort
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Unter Hinweis auf das koranische Postulat des `amr bi l-ma´ruf (Berufung durch göttlich inspiriertes Erkennen) will Drehers Protagonist Ibn Qasi die Aufgabe die öffentliche Ordnung wiederzustellen, nur den Frommen und den Asketen übertragen wissen. Zweierlei ist hier bemerkenswert: Erstens stellt sich hier ein Zusammenhang von religiöser Spiritualität und gesellschaftlicher Ordnung her, und zweitens wird die Isolierung des Intellektuellen von der gesellschaftlichen Praxis zur Voraussetzung gerade von dessen Befähigung soziale Ordnung zu restaurieren abhängig gemacht. Mit diesem Bezug auf Ibn Qasi wird durchaus auf den in die schiitische Verfassung Irans eingeschriebenen Begriff des wilayete faqih angespielt: spiritualistisches Charisma gilt hier wie da als Voraussetzung gesellschaftlicher und politischer Macht des faqih, des islamischen Rechtsgelehrten. Nicht weniger wichtig aber ist, dass hier gerade eine Sonderheit der frühchristlichen Tradition der klösterlichen Askese angesprochen ist, die im Islam eben nur im absolut Abstrakten ihre Fortsetzung fand. Nicht immer läuft diese Tradition aber mit Volksverständnis und Anerkennung zusammen. In Ägypten bleibt ein gehöriges Maß an Ambivalenz. Der oft genug absolute orthodoxe Skripturalismus findet gerade in der Volkspraxis einen gesellschaftlichen Gegenpol. So groß der Ausdruck persönlicher Ehrfurcht und Anerkennung gegenüber einem einzelnen Gelehrten auch sein kann, begibt er sich offen in die Nähe zu Staat und weltlicher Macht, gilt hier als absolutes Moment, dass ihm der (meist schleichende) Verlust von Unterstützung von unten und damit auch von Charisma droht. Die »Ressource Dorf« bleibt so für die moderne ägyptische Gesellschaft gerade dieses, den Bruch zwischen den Segmenten signalisierendes Problem. Es hat hier mit der tief verwurzelten »Moderne« eben auch ein Bruch im ganzheitlichen Ordnungsdenken stattgefunden. Anders als im Iran der Jahre 1978/79, stand im Ägypten des Jahres 1981 die Frage der »politischen Spiritualität des Islam« als Aktualisierung neuer Macht nie auf der Tagesordnung. Das pharaonische »Gottkönigtum« hat weder als »Dogma« noch als »Ritus« auf die charismatischen und rituellen Ausdrucksformen der Menschen, nicht der islamischen Eliten und nicht der politischen Repräsentanten gewirkt, wenn es auch gewissermaßen bildlich im symbolischen Repertoire des modernen Staates durchaus noch erscheint. »Religiöse Spiritualität« bliebe so nur ´uzla belegt, ein Terminus, der aus der asketischen und mystischen wie überhaupt auch der Schönen Lirteratur stammt.«
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eine Frage nach dem Kult der lokalen Scheichs und wie sie sich auf die Religion der ägyptischen Massen heute auswirkt; dem politischen Denken ist sie weitgehend fern. Es bleiben also vornehmlich die Analogien und Kontinuitäten in den Lebensformen, sowie in der Glaubens- und rituellen Praxis. Allerdings wäre unter kulturtheoretischen Gesichtspunkten ein Schritt weiter zu gehen; die Kontinuitäten der Koinzidenz bestimmter Formen des Transzendenz-Denkens und der Charisma-Bildung spielen im »Dorf« eine bestimmte Kraft in der Vertretung und Verteidigung der Bestände der gelebten Kultur. Es stellt sich hier ein Zusammenspiel von »Geschichte als Fakt« und »Kultur als Bestimmung« her, das auf das soziale Ordnungsdenken einwirkt. Dabei meint Kontinuität nicht immer nur schicksalhafte Bindung an die Geschichte, sondern eben auch aktueller Handlungs(spiel) raum und Erweiterung des symbolischen Repertoires. Wenn auch die, wie etwa in Band II der Ägytischen heiligen Orte geschildert, lebendigen Besetzungen der Orte und Steine und auch die Analogien, die hier gefunden werden, von hohem Interesse für Archäologie, Geschichte und Religion bleiben, so geht es nicht mehr nur um den Beweis historischer Kontinuitäten in der rituellen Praxis. Vielmehr ist ein soziologisches Grundproblem angesprochen. Zu wenig wurde, so scheint mir, bisher bewusst, dass es auch um die charismatischen Bedürfnisse des modernen Menschen geht, und um die kulturellen Wechselspiele, die diese Existenzform mit den Topoi der pharaonischen Analogien und Relikte treibt, die sich heute auf allen Ebenen der ägyptischen Kultur und Gesellschaft in den historisch traditionsbezogenen, anthropologischen, ja, literarischen Produktionen finden. Das nicht- oder vormoderne »Gottkönigtum« ist dabei als Ausdruck der »Instinktbetonung« und der körperlich-seelischen Einheit präsent. Abstrakt formuliert ist das »Dorf« in der historisch entscheidenden und überwältigenden Form der Transzendenz-Immanenz-Lagerung von Interesse. Es wäre aber falsch, die Kulte der lokalen Scheichs als quasi unterstellte Fortführung einer Urform »Gottkönigtum«, von Charisma überhaupt, oder gar von Einheit von Religion und Herrschaft zu betrachten. Dennoch ein Schimmer des Glanzes eines alten großen Ganzen scheint hier weiter und spielt in einem ganz materiellen Sinn ein modernes ägyptisches Eigenleben. Es ist deshalb durchaus von Interesse, wenn wir uns den altägyptischen Ausdruck von »Gottkönigtum« kurz vergegenwärtigen. Wir sollten dabei natürlich auch nicht vergessen, dass wir damit in eine breitere modernitäts- und zivilisationstheoretische Debatte eintreten, die sich in den letzten
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30 Jahren entwickelt hat und die, an Jaspers und Weber anknüpfend, die transzendentalen Vorstellungen und Prinzipien unterschiedlicher Epochen und Kulturen in einen engen Zusammengang mit den heute vorherrschenden weltlichen Ordnungen stellt. Letztendlich werden so auch die uralten Traditionen in einen aktuellen Kontext der »Weltpolitik« gestellt, wie bereits unter dem Schlagwort des clash of civilizations viel diskutiert. Für die »Weltpolitik« steht aber »im Kleinen« auch der moderne Individualismus, dessen »globale« Wirkungen stärker in den Betrachtungszusammenhang kulturübergreifend vergleichender Interpretation rücken. Wenn wir also von den survivals der Antike redeten, so scheint sich hier der Gedanke anzudeuten, dass etwa im modernen ägyptischen Scheich ein anderes »Individuum« wirkt, eines das in sich den kosmologischen Anspruch nach Harmonie in der Weltordnung trägt, und damit ganz anders ausgerichtet ist, ein durchaus modernes Individuum, aber ein notwendig anti-individualistisches. Dieses will ich in den Ausführungen dieses Kapitels weiter verfolgen. Zunächst ist festzuhalten, dass der Begriff des »Gottkönigtums« nicht monolithisch klar zu umreißen ist. Das Phänomen erscheint von den historischen Kontraktions- und Destruktions-, den Zentralisierungs- und Dezentralisierungs-, den Aufstiegs- und Zerfallsprozessen der Perioden des ägyptischen Reiches her gezeichnet. Es kann sich schon deshalb nicht um eine bestimmte, unangefochtene Begrifflichkeit handeln, obwohl dies die über die fast 3000-jährige Reichsgeschichte unveränderten emblematischen Darstellungen der »Gottkönige« es nahelegen würden. Das Verhältnis zwischen Gott und König hatte immer auch eine praktische Seite in der Bestimmung der Funktion und der Handlungsfelder des Königs und in seiner doppelten Existenzform als Amt und Person. Es ist diese praktische Seite, die auch zu unterschiedlichen Formulierungen des Selbstverständnisses des Gottkönigtums führte. Mir scheint, dass man die ägyptologische Beschäftigung mit den mit der Reichsgeschichte sich wandelnden Bedeutungsmustern des Gottkönigtums auf zwei Felder reduzieren kann: a) das Feld der sich potenziell ausdifferenzierenden Legitimationsmuster von Herrschaft b) das Feld sich potenziell ausdifferenzierender Repräsentationsformen sozialer Ordnung. In beiden Feldern geht es im Prinzip um die ideologische Rechtfertigung von absoluter Herrschaft. Exemplarisch kann man hierzu die Arbeiten von Otto (1969) und Assmann (1984) heranziehen. Beide Autoren beziehen sich auf die beiden hier unterschiedenen Felder, der eine, Otto,
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stellt die dogmatischen Aspekte der Herrschaftsbegründung in den Vordergrund, der andere, Assmann, bezieht sich mehr auf das äußere symbolische und praktische Handeln. Beide aber kommen zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der potenziellen evolutionären Ausdifferenzierung in den Begründungs- und Handlungsformen des ägyptischen Pharaonentums. Sie zeigen, dass es aufgrund einer festgefügten Welt-ist-gleich-Lebensordnungs-Vorstellung der alten Ägypter – die sich wandelnden aber immer wieder auftretenden Bezugsmuster auf den Begriff der Maat, der Richter-, der Gerechtigkeits- Wahrheits- und eben deshalb auch der »Priestergöttin«37 sind hier wichtig – nur zu einer sehr gebrochenen, eher episodenhaften und unvollständigen Differenzierung zwischen weltlichen und transzendentalen Aspekten politischer Ordnung kommen kann. Assmann sieht im »Gottkönigtums« denn auch nicht so sehr das Problem »interner Machtkonstellationen und der ›Regierbarkeit‹ des ägyptischen Staates«, sondern fragt über das eigentlich Politische hinaus nach den »ägyptischen Wirklichkeitskonstruktionen und ihrer Handlungskonzeptionen« (Assmann 1984: 113). Es geht dabei um die harmonische Begründung des Weltganzen, der auch der »König« unterworfen ist. Schlüssel hierzu ist denn auch die Übertragung des Begriffs der Maat auf »Weltordnung«, ein sozial-ethischer Begriff: Es wäre zu paraphrasieren: »Handle stets so, dass deine Worte und Taten den Einklang zwischen dir und der Gesellschaft und zwischen den Menschen untereinander befördern«. Es geht also um einen harmonischen Ordnungsbegriff, der auch das Handeln des Königs einschließt, und zugleich um einen Wirklichkeitsbegriff als »Prozess der Ordnung, d.h. der Kohärenz und der Kontinuität der Wirklichkeit.« Diese gilt es »in Gang zu halten und den Bewegungen nach dem Verfall zu, der Gravitation des Chaos, entgegenzuwirken« (ibid.: 106). Damit ist das Handeln des Pharao in den »Mitwirkungszusammenhang einer Götterwelt« gestellt, »Sein Handeln hat mitwirkenden Charakter an einem immer fortwährenden kosmogonischen Prozess« (ibid.: 107). Ausdruck dieses Prozesses ist es natürlich, dass andere nicht eingreifen können, und zumindest nicht nach den Prinzipien der offiziellen Wirklichkeit, bleibt der Pharao dem Charakter jenes Gottes ähnlich, »der sich 37 | Der Begriff erscheint auch im »von Außen« geleiteten Blick erlaubt, denn die »Priester« der modernen fast geheimbündelnden Gruppe der Saint-Simonisten, die 1833 den Weg nach Ägypten fanden, waren ja offensichtlich auf der Suche nach der »neuen Frau« vom Erscheinungsbild dieser Göttin in Bann geschlagen.
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selbst erzeugt hat«. Eben deshalb kann auch von Absetzung oder Tötung des Pharao auch dann, wenn er seine Wirksamkeit verfehlt hat, nicht die Rede sein: »Statt dessen beschreitet der Ägypter den Weg zu einer fiktiven Wirksamkeit«, in dem er »dem König auch im Gegensatz zur Wirklichkeit alle Erfolge und Wirkungen zuschreibt, die von ihm erwartet werden« (Otto 1969: 394). »Andererseits werden Dinge, die dem widersprechen, durch Nichtaufzeichnen aus der Wirklichkeit herausgenommen.« (ibid.: 395) Dieses Prinzip der Wirksamkeit des Pharao verselbständigt sich als »säkulares« Legitimationsprinzip nach Otto erst in der ersten Hälfte des letzten Jahrtausends v. Chr. Otto liefert einen Überblick über drei von ihm identifizierte Formen der Legitimität des Herrschens im alten Ägypten, die festgestellte Wirksamkeit, die Erbfolge und die göttliche Bestimmung, die jedoch alle über die Zeiten getrennter philosophischer oder juristischer Formungen unterlagen und – wenngleich »historisches Faktum« – keine begriffliche Geltung erlangt haben. »Vielmehr entwickelten sich die Legitimitätsgedanken aus dem Gesamtbild der geordneten Welt, in deren Mitte als zentraler Träger das Königtum stand.« (ibid.: 410) Somit »gewinnen die Gedanken über die Legitimität des Herrschens für den Ägypter den Wert eines reichhaltigen und biegsamen Begriffsinstrumentariums, das die Welt in ihrer immer neuen Einmaligkeit ›ordnen‹, d.h. dem Ordnungsbegriff der Maat unterstellen konnte« (ibid.: 411). Noch im alten Reich waren die Spitzen der Bürokratie Richter und zugleich auch Priester der Gottheit Maat, der Wahrheitsgöttin. Es ist diese Göttin, die auch für die richterliche Ordnung steht, denn sie gilt auch speziell als heilige »Patronin« der Richter und alle höheren Richter trugen ihr berühmtes Wahrheitszeichen (ibid.: 139). Noch im Mittleren Reich war der oberste Richter und Beamte der Regierung qua Amt der Hohepriester der Maat und trug deshalb einen kahlgeschorenen Kopf (ibid.: 211, 290). Natürlich zeichnen sich in dieser Priester- und Richtermacht bereits im Kern schon durchaus auch Potenziale zu den ja auch auftretenden Widersprüchen und Differenzbewegungen ab. Insgesamt aber hat der Harmonie- und Ganzheitsanspruch über Jahrtausende hinweg obsiegt, und Otto zeigt uns diese Integration von gesellschaftlicher Ordnung und Welt – auch gestalteter Welt – wie folgt an: »Mit Recht bezeichnet man die ägyptische Ethik als eine sogenannte ›Standesethik‹, d.h., ihre Gebote resultieren aus Erfahrungstatsachen, die in kasuistischer Formulierung die Regeln über alle Möglichkeiten des konventionellen Verhaltens abgeben. Im Grunde gehören hierher auch die oben kurz
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gestreiften Gebote über das Verhalten gegen Gott. Dadurch erst, dass diese Lebensregeln Verwirklichungen des die Welt und das Leben durchziehenden Ordnungsbegriffes maat sind, erhalten sie einen Bezug auf Göttliches. Die Verletzung der Lebensregeln bedeutet dann nicht nur die Verletzung einer durch Klugheit und Erfahrung erkannten Richtigkeit, sondern die Verletzung eines in ihr lebenden, übermenschlichen Ordnungsbegriffes« (Otto 1963: 280). Zusammenfassend müssen wir feststellen, dass die mangelnde Ausdifferenzierung zwischen säkularen und jenseitsbezogenen Vorstellungen, zwischen Amt und Heil, Königtum und Gott im pharaonischen Ägypten, sich ganz im Gegensatz zu den Ergebnissen der zivilisationstheoretischen Diskussion – wie wir oben beschrieben haben – sich nicht aus einem bestimmten »Gottes-« oder »Jenseits-«Begriff ergibt, sondern aus einem sich im Verlauf der Geschichte immer mehr rein weltlich verstehenden integrierten Lebens-, Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff. Es ist die Philosophie dieses alles überschattenden Lebensbegriffs, als Handeln und Leiden, als Schöpfung und gewirktes Schicksal zugleich, der die ägyptischen Vorstellungen von Diesseits und Jenseits über die Geschichte hinweg, im Grunde noch bis heute, zusammenhält. Diese Lebensganzheit des Wahrheitsbegriffs – als Transzendenz und Immanenz zugleich – ist es, an der auch die moderne islamisch-ägyptische Philosophie festhält, die auch heute alle soziologischen Begriffe der systemischen Ausdifferenzierung, der Rationalisierung etc. an der ägyptischen Realität scheitern lässt. Man hätte also hier zu dem Schluss zu kommen, dass die alten Ägypter unabhängig von allen Tendenzen zur Zersplitterung der Macht, der Dezentralisierung und Feudalisierung, der immer wieder auftretenden ideologischen Trennungen zwischen Gott und Königtum an der Fiktion des Gottkönigtums als Idee der Harmonie und damit zugleich auch an der unauflöslichen Verschlungenheit weltlicher und göttlicher Mächte festhielten. Zugleich aber ist mit der Zersplitterung der faktischen Macht ein Aufstieg der lokalen Kulte und der lokalen Priesterschichten, die diese Kulte verwalten, zu beobachten. Man darf hierin eine der historischen Grundlagen des Kults der lokalen Scheichs im heutigen ländlichen Ägypten sehen. 3 Islam, Bruch, Revolte, lokale Ordnung, visible Religion: Die ersten Islamwissenschaftler haben mit einer Klarheit, die man in den heutigen Debatten über mangelnde Ausdifferenzierung sogenannter islamischer Gesellschaft vermisst, nach den historischen Ursachen gefragt. Sie hatten
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den ungeheuren Bruch, den der Islam darstellte, im Blick, aber sie fragten auch nach den »Kontinuitäten«. Man kann von daher einen ersten Schritt in Richtung auf das heutige islamische Ordnungsverständnis tun, und der Linie folgen, die Ignaz Goldziher in einem Aufsatz über »Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam« (Goldziher 1913/14) zieht. Goldziher hebt hervor, dass trotz aller Uniformität bei der Entwicklung des islamischen Ritus und Dogmas (im Prozess der Ausbreitung des Islams) von einem Triumph der Anerkennung »berechtigter Eigentümlichkeiten« (der Kulturen der Unterworfenen) gesprochen werden muss (ibid.: 115). Dabei sind es die regionalen Besonderheiten der vorislamischen Institutionen und der rechtlichen Praxis in den verschiedenen Provinzen, die dem Gewohnheitsrecht der lokalen Gemeinschaften, ´âda, trotz offener Widersprüche zum kanonischen Recht, eine tolerante Anerkennung in den Rechtsschulen verschafften. Diese Charakteristik der rituellen und dogmatischen Entwicklung im Islam fand in der islamwissenschaftlichen Forschung nach Goldziher und bis heute eine sehr starke Beachtung, wenn man auch heute eher von einer Mischung und flexiblen Verschlungenheit der kanonischen und der lebenswirklichen Praxis überzeugt ist als von einer strikten Trennung. Unter kulturtheoretischen Gesichtspunkten ist man von daher geneigt, zwar von unterschiedlichen und in unterschiedlichen Kategorien sich ereignenden, so doch von einer verschlungenen doppelten historischen Semantik sprechen. Denn es ist immer nur ad hoc der Grad der Intensität und der Präsenz von sozialen Gruppen, die an Volkspraktiken festhalten, ja, diese zu kanonischen Formulierungen bringen und damit auch die institutionellen Verbindungen zu Administration und Staat prägen. Nach wie vor sind es die lokalen Scheichs, die diese Verbindungsnetzwerke tragen. Die Kultstätten der lokalen Scheichs, ihre Schreine, sind im ländlichen Ägypten von einer in die Landschaft hineinwirkenden architektonischen Erscheinung, meist sind es von Palmen, Sykomoren oder Eukalyptus-Bäumen umgebene quadratische Kuppelbauten. Sind sie neu errichtet oder gerade wieder erneuert worden, dann scheint das weiße oder ins Gelbliche gehaltene Gebäude tief in das Grün der umliegenden Felder. Sind die Grabmale aber über mehrere Jahre vereinsamt, dann scheint es, als söge sie die Landschaft auf. Vom Staub erdfarben geworden, verliert die Qubba des Scheichs, der Kuppelbau des Schreins, dann doch die unverwechselbare Bildlichkeit nicht. Kommt man näher, bleibt der Kuppel auch in heruntergekommener Einsamkeit eine gewisse Ausstrahlung. Es sind
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Plätze, die von einem seltsamen Pathos beherrscht sind. Zumindest für den von außen eindringenden Betrachter kann noch die einfachste Lehmkuppel Evokationen der Außergewöhnlichkeit hervorrufen. Vielfältig sind die Vorstellungen von der Praxis aus vergangenen Epochen, von denen der Ort Zeugnis ablegt, und die Menschen am Ort, die sonst die Stätte längst in die Normalität ihres Alltags im Ackerbau eingeordnet haben, bemerken die seltsame Wirkung des Orts auf den Fremden. Sie kommen herbei, beginnen am Pathos des Besuchers teilzunehmen und entwickeln in Gestus und Habitus eine Ehrfurcht und Nostalgie, der man sich schwer entziehen kann. Spricht man mit ihnen über die Geschichte des Heiligen, so gewinnt man schnell den Eindruck – meist sind es eben ja auch Leute, die sich der Pflege der Qubba angenommen haben –, dass die Historie des Ortes auf das Engste mit ihrer eigenen Lebensgeschichte, mit ihrer Familie als Ganzes verknüpft sei. Richtet man sein Augenmerk auf die Kultstätte selbst, so gerät man immer wieder in die Verlegenheit, die Lokalen nach der Bedeutung von bestimmten Bildern und Formen oder, wenn vorhanden, Texten zu fragen. Dabei steht natürlich das Interesse an der Frage im Vordergrund, was eine bestimmte Symbolik mit dem Leben der Alten zu tun hatte, und was die Alten mit den Lokalen von heute zu tun haben. Die Frage, wann und wie die Kultstätten renoviert, neu zurechtgemacht wurden, ist gleichfalls in diesem Zusammenhang bedeutsam. Aber auch Gegenläufiges ist zu vermerken, wie etwa aktuelle Graffiti, die, der Geschichte gegenüber achtlos, den allgegenwärtigen Ungeist der Zeit zu versprühen scheinen. Letztere Ausdrucksformen braucht man nicht einmal auf die Kultstätten selbst zu beziehen, sondern darauf, wie im Zeichen des Islam neu gebaute Häuser gewissermaßen zu Kultstätten, als das allgemein Sichtbare gemacht und eingerichtet werden. Zum Beispiel trägt ein zurückgesetztes fünfstöckiges Haus an der Pyramiden-Straße in Kairo, das in den oberen Stockwerken Rohbau geblieben ist und auch sonst mit den nachbarlichen alten Prachtbauten nicht konkurrieren kann, die leuchtend große Inschrift im obersten Stock la illah illa lah.38 Ein trotziges Wort, das Gottesbezeugung soll zeigen, dass es Kraft gibt, den Bau zu vollenden, auch wenn das Geld fehlt und mit den Nachbarn schwer zu konkurrieren 38 | Dagegen findet sich weiterhin gerade in den Dörfern an wenigen, dann aber im Erscheinen vergleichweise aufwendigen Häusern das traditionelle, Zufriedenheit anzeigende ma shaa lah (etwa wie Gott es wollte).
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ist. Der religiöse Ausdruck solcher Stimmungen ist ein dauerhafter Begleiter auch bei Überlandreisen. Solche Stimmungen – sie haben in den letzten Jahren abgenommen – hängen natürlich auch mit dem ewigen Auf und Ab religiöser Kampagnen der Regierung zusammen. Eine Zeitlang gab es – aus Sicht des Fremden – so etwas wie den Versuch, ein zeitgenössisches islamisches Raumbewusstsein der Ägypter zu formen. An allen großen Autobahnen, wie etwa zwischen Kairo und Fayyum oder Kairo und Alexandria, wurden verschiedene auf grün-weißen Schildern angebrachte religiöse Sprüche gezeigt, die den über das Land Fahrenden langsam und beständig auf die Annahme eines »heiligen« oder eben nur gesegneten Wegs einstimmt. Manchmal werden die Reisenden auch über solche religiösen Schilder quasi auf Werbebilder hingeführt, so zum Beispiel subhan allah (Gott sei gepriesen) oder allah mawgud (Gott ist gegenwärtig) etc. in einer Folge von 500 m, bis man plötzlich zu einem Werbeplakat für eine bestimmte Ware geführt wird. Dies könnten böse Geister in der Tat als eine Art der religiösen »Vereinheimischung« der »Industriekultur« betrachten. Doch wie schon bei Marx, ist auch hier der religiöse »Fetisch« nicht etwa ganz instrumentell und zwingend auf eine Ware angesetzt. Es scheint mehr so, dass beide, der »Fetisch« und die Ware, auf eine religiöse, aus dem Gewöhnlichen herausgehobene Seinslage hinführen, ein besonderes Raumbewusstsein generieren, so dass sich auch beim Autoreisen eine fromme Bestätigung des Lebens einstellen kann. Diese Form des Raumbewusstseins ist aber schon eine längst in der Volkskultur praktizierte und angenommene Form. Es ist gerade vielleicht die gegenständliche Vermittlung der Massenkulturwelt als authentische Welt der »eigenen« Kultur, die sowohl Religion als auch lokale Tradition einbezieht. Aber wie alles in Ägypten hat auch diese Form der Eingliederung der »Welt« in das religiöse »Sein« der Menschen ihre Grenzen, und wo das Geld fehlt und die Verwaltung sich nicht mehr beteiligen will, verfallen die Zeichen der Zeit häufig sehr schnell, auch die religiösen. Doch über die Frage der symbolischen Bedeutung von Religion und »Volkskultur« im Prozess der Moderne hinaus sind die Verflechtungen der lokalen sozialen Gruppen untereinander, insbesondere auch der geschlechterspezifischen, der Berufs- und der Altersgruppen wichtig (Stauth 2010: 87-110). Wie oft habe ich mich gefragt, ob die lokale Jugend noch in Bezug zu den Kultstätten tritt. Wann und wie kann sich noch ein nostalgisches Pathos gegenüber den Orten entwickeln, was bedeuten die neuen Spiele der popular culture, wie etwa Fußball, Video- und Kassetten- Jeans-,
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Fahrräderkultur, im morphologischen Geflecht der lokalen Kultur.39 Natürlich arbeiten die islamischen Gruppen an einem neuen Pathos, das der besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Natürlich ist der Islamismus ein offizielles nationales Ereignis, das zugleich darauf ausgelegt ist, die lokalen Sinngehalte aufzubrechen und dabei auch den Volksritus dem offiziellen islamischen Ritus zu unterwerfen. Dies muss notwendig scheitern, denn der Volksritus sucht sich jenseits der offiziell besetzten Kultstätten eine neue Praxis. Genau das tritt ein. Denn die Volkskultur – dort wo sie in die Zyklen der bäuerlichen Subsistenz- und Naturalwirtschaft eingebettet bleibt – sucht nach Erdigkeit, Naturhaftigkeit und Körperlichkeit, die der schon nach Alter und Geschlecht trennende Hierarchismus der öffentlichen Ordnung, auch die scheinbar oppositionelle Islam-Ideologie, nicht leisten.40 In den lokalen mawalid brechen sich dann jene Sinne wieder Bahn, die unterdrückt oder auf andere Demonstrationsplätze verbannt waren und Musik und Tanz ziehen ihre Kreise, auch in ganz neuen Formen, nämlich den Video- und Kassettenrummel, und die Warenüberfrachtung des Jahrmarkts von Außen integrierend und auflockernd. Dass die religiösen lokalen Scheichs in dem eigentümlichen Verflechtungssystem zwischen Stadt und Land eine fast eigenständige Rolle spielen konnten, die sie zu Zeiten des Übergangs durchaus auch politisch ausspielen konnten, hat seine modern-historische Ursache darin, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem beginnenden Baumwoll-Boom und davor schon durch die Reformen Muhammad Alis den traditionellen politischen Herrschaftsschichten der Boden unter den Füßen wegzogen war und neue dörfliche Mittel- und Oberschichten sich noch nicht herausgebildet hatten. Immer wieder und geradezu in Schüben tauchten »Heilige« als Führer lokaler Rebellionen auf. Ja, die modernen Regierungen und Bewegungen von den Kommunisten zu den Muslimbrüdern, selbst die Nasserregierung, haben auf einzelne Persönlichkeiten oder eben auf das ganze Netz der »Lokalheiligen« zurückgegriffen. Hier, in den religiösen lokalen Erneuerungsbewegungen, hatte sich ein traditionelles Widerstandspotenzial gebildet. Die Fellachenrevolten wurden denn auch von Mahdis und 39 | Das Bild Axel Krauses vom Fußballplatz am Tell von Thumais vor dem Maqam des ´Abdallah b. Salam (vgl. Stauth 2005: 124-25) liefert hier einen deutlichen Hinweis. 40 | Vgl. hierzu den »Torso« (inzwischen regierungsoffiziell entfernt) am Kûm von Sais (Stauth 2008: 153).
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Sufi-Scheichs angeführt, und in den frühen 1990er Jahren konnte man der Meinung sein, dass sich auch nun über sie eine neue Welle der Revolte ergeben würde. Dem setzten die staatlichen Ordnungskräfte schnell ein Ende, und es kam ihnen dabei der nach innen wirkende Hass der Salafisten auf allen Volkssufismus sehr zu Hilfe. Die Verbindung der Sufi-Orden mit der modernen sogenannten Reformbewegung oder insgesamt mit die Wiedereinsetzung des Islams in den Diskurs sozialer Herrschaft in den 1980er und 1990er Jahren ist auch ein Zeichen für die vielfältigen Versuche und Bewegungen – von außen und von innen –, den Sufismus zu modernisieren oder gar ihn in den traditionalisierten Formen politisch zu instrumentalisieren. Schon in den 1960er Jahren herrschte unter jungen ägyptischen Studenten die Meinung vor, dass der Sufismus ein Weg sei, um die moderne Welt mit den wahren Idealen des Islams zu verbinden 4 Das »Dorf«: Öffentliche Räume zwischen Zauber und Fundamentalismus: In den endsiebziger, achtziger Jahren und noch zu Anfang der neunziger Jahre konnte man in den ägyptischen Dörfern eine Art »Zeit der islamischen Jugend« ausmachen. Sie war begleitet von demonstrativen Akten der Besetzung öffentlicher Räume durch islamische Jugendgruppen in »weißen Galabiyyas«,41 die damit für die Bevölkerung das Zeichen setzen wollten, dass es Zeit sei, ihnen zu folgen. Zugleich bewegten sie sich auch in den Feldern in diesen neuen weißen Gewändern der Salafis wandelnd, Arbeit zurückweisend und nur lesend sich auf die Schule und den richtigen Glauben vorbereitend. Es gab so etwas wie eine gemeinsame Lektüre neuer Islam-Schriften, der unterschiedlichsten Kategorie. Sicherlich traten die Laienschriften, etwa Hassan Hanafis, Tariq al-Bishris und Muhammad `Imaras etc. und anderer Art, darunter Mustafa Mahmuds etc., zu denen der alten oder auch neuen weniger bekannten Autoritäten der Al-Azhar hinzu. Nicht zu sprechen von den Massenpublikationen einzelner Scheichs wie Scheich Sharawi etc. Die Schriften dieser Autoren lagen überall breit auf den Straßen Kairos zur Auslage, so etwa beim berühmten Madbuli auf dem Sulaiman Pasha Platz im Kairoer Zentrum. Einzelne Jugendliche verbrachten ihre Zeit damit, das qira` zu lernen, das lesende Koransingen, andere begründeten in abgelegenem Agrarland liegenden 41 | Ein inzwischen doch auch wieder fast völlig verschwundenes Zeichen für den damals ganz sauditisch beherrschten Salafismus.
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Landarbeitersiedlungen (´ezbas), die vor Nassers Landreform zum Besitz der großen Landgüter gehörten, allmählich sich aber in regelrechte Dörfer ausweiteten, selbsttätig kleine Moscheen zu bauen. In diesen begründeten sie Zellen alternativen Lebens oder islamischen Widerstands. Wieder andere fuhren des Nachts in offenen Toyotas durch das Dorf und riefen zur islamischen Revolution auf. Solche Bewegungen des selbst-initiierten politischen Islams und islamischen Gesellschaftswandels fand man damals natürlich zuerst in einzelnen Kairener Stadtvierteln, dann in den Dörfern Mittel-Ägyptens vor allem um Asyut und Minya herum. Im Delta schien dies kontrollierter zu verlaufen, aber dem allgemeinen Trend nachfolgend, nicht zu widersprechen. Anfang der neunziger Jahre konnte man beobachten, dass die Initiative der Regierung, die islamische Bewegung in den Griff zu bekommen und selbst anzuführen, erste Früchte trug. Man hörte nun islamistische, aber regierungstreue Predigten (khutba) bei den Schulversammlungen an jedem Morgen zum Schulbeginn vor dem biladi, dem Absingen der Nationalhymne, in denen Sayyid Qutb, der islamische Märtyrer des Nasser-Regimes, nun plötzlich zum Nationalhelden erklärt wurde. Die Schuluniformen mit weißem Kopftuch der Mädchen waren nun alle »islamisch« vereinheitlicht, die weißen Galabeyyas unter den Jungen waren nun aber verpönt, farbiges Hemd und meist eine Art schwarzer Jeanshose ägyptischer Fabrikation wurden unter den älteren Jungen Mode. Ägyptische Galabeyyen waren unter den ärmeren Schichten weiterhin toleriert. Zum islamischen trat ein ganz weltlicher Ordnungsdiskurs der Befolgung gesetzlicher Regelungen hinzu, »korrekt« musste es auch hier zugehen, was unter Armutsbedinungen zu ganz misslichen Erscheinungen führen konnte. Doch blieben auch dies – wie immer in Ägypten – relative Angelegenheiten und der Islam-Diskurs blieb immer wichtiger als das Ziel der Regelungspraxis der sozialen Öffentlichkeit selbst. Im sozialen Leben kann man also von einer – je nach Ort und Zeit manchmal strengen, manchmal losen – Implementierung der »islamischen Frau« (Schleier) sprechen, bei gleichzeitiger Unterwerfung des islamischen Diskurses unter die Kontrolle der weltlichen Macht. Nach fast dreißig Jahren »islamischer Bewegung« in Ägypten gibt es heute nur noch den offiziellen Islam, den Staatsbegriff von Religion (dîn). Ein erstaunlicher Seiteneffekt dabei ist, dass über Islam und dîn, im öffentlichen Leben und schon gar nicht unter den Leuten selbst noch gestritten oder einfach nur diskutiert werden kann. Religiöses Leben und demons-
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trierte Religiosität werden zu einer stark formalisierten Ausdrucksform des gesellschaftlichen Standeswillens und des allgemeinen Ordnungsund Herrschaftsdiskurses der Medien. Erst darunter, dahinter und eher daneben, als irgendwie damit überhaupt in Verbindung damit tretend, steht die »weltliche« Maschine der islamischen Volkskultur. In den sufitischen Traditionen findet sie ihren religiösen Charakter, in den mawalid, den dhikrs, und den ziyarat zu den Maqams. Sie ist nicht der Gewinner der »neuen Ordnung«, aber sie überlebt. In einzelnen Gebieten, vor allem Stadtrandgebieten der Provinzstädte oder neu urbanisierten ländlichen Gegenden (Agami in Alexandria zum Beispiel), setzte sich die islamische Bewegung als die neue »Volkskultur« fest. Sie sind durchaus weiter politisch von den alten Gruppen (gamaat) kontrolliert oder dem, was von ihnen übrig blieb. Aus dem Gefängnis entlassen, arbeiten sie jetzt der Regierung zu: Vertreter einer neuen islamischen halb-pauperisierten Massenkonsumkultur, die die Codes der sozialen Kontrolle der Viertel aufrecht erhält, des Schleiers, der Einhaltung der Gebetszeiten, aber auch von Pepsi, ful wa taamiyya (das ägyptische Volksgericht) usw. Hier gehen die alten Elemente des säkularen Machtzentrums des Nasserismus mit den Restbeständen der islamischen Bewegung ineinander über und bilden die Stammbasis des gegenwärtigen national-islamischen Diskurses. Dies alles sind nur Beschreibungen der äußeren sozialen Phänomene eines Zustands, den wir als das Ende der Ideologisierung der Religion »von unten« bezeichnen können. Wo Religion weiterhin Gegenstand ideologischer Auseinandersetzung ist, blieb dies im Rahmen eng isolierter intellektueller Zirkel, wie etwa der Autoren der Zeitschrift el-manar el-gadid (Der neue Leuchtturm – im Gegensatz zum alten der al-Azhar Universität) weiterhin toleriert, Autoren, die ohnehin eher für ein sozialwissenschaftliches oder orientalistisches westliches Publikum zu schreiben scheinen als für ideologisch-politische Zwecke einer inzwischen inexistenten Bewegung. Diese intellektuellen Ereignisse scheinen eher der Staatsrepräsentation zu dienen als der Suche nach intellektuellen Antworten auf die Religion. Politiker, die andererseits den Ritus suchen und religiöses Prestige ernst nehmen, scheinen die Inhalte ohnehin nicht zu interessieren. Am Ende der »Ideologisierung der Religion« steht die Wiedereinsetzung der alten Legitimationsmuster von Herrschaft: Legitimität durch Ritualisierung. Im Dorf macht sich dies in den folgenden Formen bemerkbar:
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Ň Persönliche Religiosität der Staatspersonen, selektive Teilnahme am islamischen Ritus, islamische Kleidung und Habitus der Frau Ň Moschee als rituelles Zentrum, salat al-gumaa (Freitagsgebet) als das Ereignis Ň Dhikr, mawalid, religiöse Volkskultur stark vermischt mit der wirtschaftlichen und kulturellen Praxis der Fellachen-Kultur Ň Schule als Ort eines islamistischen Staatsrituals und des Glaubens an Aufstieg, Heirat etc. Was wirklich in den letzen fast dreißig Jahren im dörflichen Ägypten geschehen ist, ist das schrittweise Absterben der religiösen Ideologisierung »von unten«, die noch einen Prozess der Hoffnung auf die Machbarkeit einer neuen Welt aus dem Gewohnten heraus hätte erschließen sollen. Während wir heute nur sehen, dass sich dieser Prozess »von oben« im Faktischen des Lebens als »Islam« weitgehend konsolidiert hat, wäre zu fragen: Was ist aus allem geworden? Denn die »Kultur der Lehmhütten« besteht weiter fort, wenn auch die Morphologie des Dorfes vom Plastik-, Zement- und Backstein-Kult beherrscht ist. Der bei weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschende Wunsch, sich in die nachgelebte TV-Idylle einer Mittelklasse-Wohnung westlichen Stils retten zu können, mag hier und da gelungen sein, und es ist manchmal eher verblüffend zu sehen, mit welchen Anstrengungen, welchem Erfindungsgeist versucht wird, die Mängel in der Stromversorgung, die Reparaturnot, das geringe Geldeinkommen der Familien von Männern und Frauen gleichermaßen mit großen physischen Anstrengungen gewissermaßen »auszubügeln«. Doch sind es nicht nur mangelnde Erfahrung mit elektrischen und sanitären Anlagen und Geldsorgen, die das Projekt scheitern lassen, sondern auch die fortbestehende widersprüchliche Enge der Bindungen an Religion, Tradition und Prinzipien der Fellachenkultur. Die neuen Zement- und Backstein-Häuser haben die alten Lehmhütten eben nur äußerlich ersetzt. Das Leben darin geht weitgehend so weiter wie zuvor, auch wenn man – wie etwa bei der Benutzung eines Ventilators, von Küchengeräten und TV etc. mit lautem, Ölschmutz verbreitendem Strom, generiert von Dieselmotoren hinter dem Haus her – subjektiv von einem ganz großen Wandel überzeugt ist. Das moderne »Umweltproblem« ist eben relativ. Es ist diese Überzeugung, die zählt und die das gesamte Projekt des sozialen Wandels im Dorf beherrscht. Ausdruck dieser Überzeugung ist natürlich die Durchsetzung der Mediengesell-
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schaft, die Pfanne (disht) auf dem Dach und das mobile in der Hand. Zugleich aber finden sich in der Marginalität der Dörfer eben die uralten ölverschmierten Dieselmotoren unter einem kühlenden Schilfdach, damit wenigstens am Abend der Strom für Licht im Haus und alles andere gewonnen werden kann. Auf dem Feld, in der Organisation des agrarischen Produktionsprozesses, sind entsprechende Veränderungen eingetreten. Traktor und Dreschmaschinen sind Teilmomente dieses Wandels, die vorsintflutlichen Produktionsmethoden der Fellachen leben weiter und werden von diesem technologischen Wandel nur punktuell überlagert. Die Eigentumsverhältnisse der »Großen« haben sich durch die rückgängig gemachten Landreformen wieder stabilisiert; diejenigen der Kleinbesitzer sind durchaus aber auch profitabel. Die Kombination von Kleinbesitz, Verdienst durch Lohnarbeit oder hinzu gepachtetem Land zahlt sich aus, wenn die Familie genügend Kräfte mobilisieren kann. So kehrt auch die Tradition der auf die Ernte bezogenen Teilpacht zurück, selbst Großpächter gehen auf alte Pachtformen zurück. Vorherrschend ist die rub`a (Vierteilung), der Faktor Arbeit wird mit einem Viertel der Ernte entlohnt, dem Produzenten wird aber auch weitgehend die Organisation seiner Arbeit überlassen. Entscheidend ist ein Werteinkommen, das die Selbstüberzeugung stützen kann und das Gefühl bestärkt, dass man am »Aufstieg« beteiligt sei: an der Konsumkultur der Mittelklasse. So sind auf dem Feld wie im Dorf zwar die Frauen meist mit Symbolkleidung der Tradition bekleidet: Kopftuch und mit Röcken über langen Hosen. Die Männer aber tragen Clinton-Mützen und alte Jeans oder auffällige Plastik-Sport-Kleidung. Der Habitus des »Fellachen« bleibt an den Alten hängen oder den »religiösen« Menschen, den »Scheichs«. Bei Letzteren setzt sich zugleich etwas »Neues« durch, das nicht auf äußerem dinglichen Wandel insistiert, sondern eine auf innerer Überzeugung beruhende Demonstration des Selbst: eine gewisse Überbetonung der Gesichtszüge, bescheiden in Kleidung, aber immer auch paradox betonte Authentizität. Hier wirkt die Moderne als Kulturbegriff, nicht als Massenkulturereignis. Die Scheichs sind die Kultur-Modernisierer. Wenn sie auch in ganz verschiedenen Typen auftreten, so stellen sie doch auch eine Verkörperung moderner islamischer Ideologie im Bild dar. Zugleich übernehmen sie Verantwortung in der Gemeinschaft, schlichten zwischen streitenden Parteien, bleiben Vertrauensperson wo »Beamte« oft nur vom Ruch der Korruption geprägt sind.
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Doch sind auch sie »Opfer der Moderne«, denn ihre – man muss es ja betonen – nichtfundamentalistische »Ideologie«, abstrakte Tradition zu leben, steht im latenten Widerspruch zu den strukturellen Bedingungen und zur ganzen Gesellschaft als Massen- und Konsumkulturereignis. Das Gemeinschaftsprinzip, das sie aufrechterhalten, aber macht die »religiösen Männer« nicht einfach nur zu Opfern. Wenn auch ihr kulturkritisches Selbst-Verständnis des Islams als Religion der Armen ihnen Worte der Bescheidenheit und Beschränkung auferlegt, so sichern sie sich andererseits doch ganz individuell und lebenspraktisch ihre Teilhabe im Prozess des weltlichen Massenkonsum-Ereignisses durch gezieltes, oft recht rationales und wählerisches Vorgehen. So also sind die »normalen« Bedingungen des kulturellen Modernisierungsprozesses im Zeichen des Islams in unterschiedlichen lokalen Kontexten durchaus auch offen für das Wissen der Alten, über die auch die vorislamische Zeit, die Instinktkultur der Abstammungsgruppe, der Magie, der lokalen dörflichen Mystik, der körperlichen Unmittelbarkeit des Verbrauchs als Sonderbedingung im praktizierten Islam fortlebt. Dieses Fortleben traditionaler Strukturen ist auch in Vorstellungen des Heils und Charismas zu festzumachen. Sie stehen hier gänzlich denjenigen des modernen Fachbeamten, dem Vertreter der Wissenschaft, der Repräsentanten staatlicher Macht entgegen. Die Suche nach weltlicher Erfahrung der Teilhabe am Gottesheil ergibt sich nicht aus der Not zur Routinisierung des Charismas, die dem Fachbeamtentum und institutioneller Macht anhängt. Unter strukturellen Bedingungen, die auch hier zählen, sind die professionellen Bürokraten und Priester eher in der Minderheit. Doch besteht das Moment der individuellen außerweltlichen Heilssuche als Voraussetzung der harmonischen gemeinschaftlichen Weltversöhnung. Ja, es besteht über die Haltung der »religiösen Männer« hinaus. Die Dichte des menschlichen Umgangs ist ein ägyptisches kulturelles Absolutum, dem sich kaum einer entziehen kann. Man kann darin nur im Heilshabitus bestehen. Umso mehr diktieren Marginalität und Armut noch den Rhythmus der Zeit. »Gott« und das Moment der »Gottheiligkeit« konstituieren sich zu unantastbaren Haltungen des Alltagslebens jenseits von rarer fester Profession, Funktion für soziale Bindung, ja sogar von symbolischer Einheit der Gemeinschaft. Es tritt die absolute Gotteserfahrung als eine Sucht der individuellen Existenz auf. Zugleich wird auf absolut bindende Mechanismen und Techniken der Authentizitätssuche zurückgegriffen: im Gebet, im Habitus, im Sprachhabitus, in ekstatischen Übungen.
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Identity markers, wie die Ethnologen bestimmte Zeichen der Gruppenzuordnung verstehen wollen, ja, als Begriff verabsolutieren, sind das nicht. Der Heilshabitus vermittelt eher so etwas wie everything goes, wenn es nur gerade diesem Habitus des Heils dient. Individualistische, selbst-exotisierende und traditionelle Mechanismen der Individuierung kommen hier zusammen und haben ihre moderne gesellschaftliche Kraft nur im unantastbaren Gottessehnen. Dieses wirkt auf alle Formen der Alltagsbewältigung durch symbolische Idealisierungen, Gebet, Raum- und Zeit-Zuordnungen, Geschlecht, Rede, Ekstase. Das Erstaunliche ist, dass gerade das Nachlernen solcher Haltungen unter Jugendlichen zu einem Phänomen geworden ist, das die ländliche Gesellschaft in besonderem Maße ergriffen hat. Es wäre falsch zu behaupten, dass diese Haltungen der aufs Selbst gerichteten Heilssuche als Massenphänomen nicht zugleich eine der Voraussetzungen für das potenzielle punktuelle Umschlagen der »Sehnsüchte« in kollektivem Militantismus denkbar wäre. Letztendlich hängt alles vom Ausmaß der Deprivierung und der Definition vom möglichen Leben ab. Um die Aura des »Dorfes« in allen seinen Ambivalenzen in diesem Kontext nur annähernd anzuzeigen, seien im Folgenden einige wenige Beobachtungsfelder skizziert, aus Tagebuchaufzeichnungen gewissermaßen herausgerissene Fetzen. An der einen oder anderen Stelle wurden sie mit Zitatstellen aus im Feld mitgeführten Texten, doch deshalb nicht weniger »willkürlich«, angereichert: Zu den Grabmalen der ägyptischen Scheichs: Es gibt sie nicht ohne Bäume, es gab und gibt immer auch Bäume, in denen der Geist eines Scheichs weiterlebt. In der Ägyptologie kennt man die Berichte über den Osiris-Kult, Osiris, der bereits den »Geist« des Lebens im Baum weckte, so ist auch der Hain sein bevorzugter Kult-Ort. Und auch heute findet man meist einen Baum oder eine Baumgruppe an einem lokalen Heiligengrab, im Delta meist drei hoch über das Grab sich leicht neigende Palmen. Schattenspendende Baumgruppen an Nahtstellen von Bewässerungsgräben zum Beispiel oder am Nil oder großen Kanälen schützen solche Orte, die zugleich auch Plätze der Tierhaltung sind. Männer unterschiedlichen Alters treffen sich hier zum Gespräch, bei Sonnenuntergang zum Gebet. In der Nähe legen Frauen Steine aufeinander zum symbolischen Grabmal, das sich stufenweise zu etwas »Großem« entwickeln kann. Ergänzend hierzu sei die folgende von Winifred Blackman aufgezeichnete Geschichte erwähnt: »The soul (roh) of the dead Sheikh enters his
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tree on certain days, the day of the weekly visit to his tomb, and on the day on which his mulid, or annual festival, is held. Also, in cases where there is no tomb, but a tree only marks the burial-site, the soul of the Sheikh is in the tree, but only, I gather, on certain days. It seems that if such a holy man is murdered the people often erect a clay figure, supposed to represent him, on the spot where his blood was spilt. His soul is believed to enter this figure, at any rate for a time, and when, eventually the figure weathers away and disappears, a tree grows up from it, and the Sheikh thereafter is associated with the tree, and into it his soul enters on certain days.« (Blackman 1926: 52) In solchen Fällen also wird ein Baum unmittelbar mit dem Scheich identifiziert und obwohl es kein eigentliches Grabmal gibt, wird doch am Ort des Baumes ein Mawlid gefeiert, die eine große Anziehungskraft für Tausende von Menschen aus den Dörfern der Gegend ausüben kann. Es ist dabei von Interesse, dass die alt-ägyptischen Verbindung zum Gott Osiris im Baum selbst gesucht wird. Blackman schreibt: »Isis was supposed to pay a weekly visit to the Holy place of Osiris on the island of Bigeh, when she poured out libations to the iwy-tree, which overshadowed the burial place of the God, and also to the menta-grove, on the branches of which rested the bai (manifestation or soul) of Osiris. At Abydos also there was a sacred grove of trees where, according to a demotic papyrus in the Berlin Museum, water was poured out in libination to Osiris on 365 altars set up under ›the great trees‹ of the grove« (ibid.). Am Tell al-Muqdam (Leontopolis) in der Nähe von Mit Ghamr (in der Mitte des Deltas) und etwa 10 km westlich von Waleela, das ein Zentrum einer Heiligenfamilie des Salamiyya-Ordens ist, stehen am ansonsten nach Ausgrabungen verwüstet zurückgelassenen »Tell« zwei große Sykomoren, von denen eine mindestens 500 Jahre alt sein dürfte. Der Mann in traditioneller Fellachen-Galabeyya, der unter dem Schutz der riesigen Zweige seine Schilfhütte (`isha) für die Wasserbüffel angelegt hat, will nichts von einem Scheich im Baum wissen. Doch der mich damals begleitende Sch. Zak.42 sagt, als wir alleine sind, dass die Bäume haram (heilig) sind. Er sagt, wenn man einen Ast abschneidet und damit einen neuen Baum 42 | Als solchen bezeichne ich meinen wider alle »modernen« Regeln der Anthropologie immer wieder herangezogenen »Hauptinformanten« der Anfangszeit meiner Untersuchungen zu den heiligen Orten. Die Notiz seiner Aussagen stammt von einer gemeinsamen Fahrt am 22.09.2000.
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pflanzt, gerät man in Gefahr, schnell zu sterben, während der Baum ewig lebt. Deshalb auch lehnte er es ab, hier einen Ast mitzunehmen und ihn etwa als Gastgeschenk im Garten des bewirtenden Landguts zu pflanzen. Auf der Rückfahrt von Sinbelaween nach Kairo über Waleela finde ich etwa eine Woche danach auf dem Abschnitt zwischen Sinbewaleen und Diarb Nigm Qubba an der Abfahrt nach Balamun dann im Feld einen Scheich Metwalli, dann auf der Straße vor Diarb Nigm noch zwei weitere Grabmale. Erstaunlich, dass an einem Freitag die großen Gräber der »Salams« in Waleela (Salamiyya-Orden) unbesucht bleiben,43 während an allen kleinen Gräbern über Land reges Leben zu vermerken ist. An der Tür des Grabes an der Abfahrt nach Balamun sitzt eine Gruppe von drei alten Männern. Am Grab des Scheich Metwalli betritt eine Gruppe von etwa fünf Frauen andächtig den hohen, über das Feld reichenden, im Umfang aber kleinen Kuppelbau. Vor Diarb Nigm, rechts etwa 300 Meter im Feld, befindet sich eine kleine relativ niedrige Qubba, die aber leuchtend grün angestrichen ist, darüber weht eine neu-glänzende grüne Flagge. Daneben steht ein junger Tût-Baum, der allem Anschein nach gerade eben eingepflanzt worden war. Mir fiel hier auf, dass die Beachtung und Pflege der kleinen Schreine dort intensiver zu sein ist. Sicher ist der Zugang im Alltag leichter, je marginaler und weniger öffentlich die Plätze sind, an denen die Qubbas stehen. Die »Großen«, wie die Heiligengräber in Waleela, finden eben vor allem bei ihren »großen Festen« (mawalid) Beachtung. So ist auch hinsichtlich des Moschee-Besuchs gerade auch das Eigenartige zu beobachten: Die »großen« Moscheen und Maqame um und in Waleela sind – das Freitagsgebet hatte gerade begonnen – wenig besucht, in manchen ist innen nur ein Drittel des Raumes belegt. Dagegen sind manch anderen normalen Moscheen, etwa an der Straße von Mansura über Mit Ghamr nach Kairo, von überquellenden Menschenmassen besucht. Die Straße ist von den vor der Moschee ausgelegten Matten blockiert. Lastwagen, Busse, Taxis, Privatwagen, ein Gewühl von parkenden Fahrzeugen überall auf der Straße bis zu einem Kilometer vor und hinter der Moschee verhindern den Verkehr. Die Hauptmoschee von Kafr Shukr, einem ehemals linken, durch Zakariyya Muhyeddin (Freier Offizier und unter Nasser geduldeter Kommunist und noch heute ein Symbolcharakter für die Linke) beherrschten 43 | Die »Salams« beziehen sich auch auf »Emir Abdallah«, das Maqam ´Abdallah b. Salams am Tell Thumais und stellen bei der Mawlid-Prozession den Khalifa (vgl. hierzu auch Stauth 2005: 34-46).
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Flecken, ist so ein Fall. Diese Beobachtungen auf einer Rückfahrt nach Kairo lassen viele Deutungen zu. Wichtig scheint mir, dass die öffentliche, die als Massenereignis demonstrierte ›Religion‹, die Heiligenverehrung, auch die im Stillen und Persönlichen gepflegte »Religion« der kleinen Leute und der Frauen nicht ausschließt. Scheich Zak, so möchte ich meinen »Hauptinformanten« aus der Anfangsphase meiner Studien zu den heiligen Orten im Delta nennen, half mir sehr in die Welt der Scheichs und Scheichgräber der Region von Sinbelaween (Daqahliyya) einzudringen. 1943 geboren, zog er 1949, als er sechs Jahre alt war, mit seiner Familie in die kleine Arbeitersiedlung eines Landguts (´ezba) in der Nähe von Sinbelaween um. Der Vater hatte dort eine Anstellung als Fahrer des Gutsbesitzers gefunden. In einem nahe gelegenen kleinen Dorf besuchte er die Grundschule (´ibtita`i), brach die Schule aber nach fünf Jahren ab und trat als Gärtnerjunge in den Dienst des Gutsherrn, des Bey. Mit 14 starb seine Mutter, der Vater heiratete neu. An Geschwistern hatte er insgesamt drei Brüder und vier Schwestern. Im September 2000 frage ich ihn über das Gruppenleben unter den Sufi-Brüdern: Er berichtet von einem Dhikr seiner Sufi-Gruppe des Salamiyya-Ordens, ich notierte handschriftlich, aus den Notizen zog ich anschließend die folgenden Skizzen: Im Dorf gibt es unterschiedliche tariqas. In ´Ezbat al-´Asab (mit etwa 4000 Einwohner) soll es etwa 200 Rifa´is geben. In seiner kleinen ´Ezbat (mit etwa 400 Einwohner) gibt es aber nur etwa sieben Salamiyya-Mitglieder. Die Treffen zum Dhikr verlaufen etwa immer so: Man trifft sich bei einem der Brüder im Hause, trinkt Tee, Gebäck (´ara´ish) wird verteilt, und dann beginnt das eigentliche Dhikr. Es wird mit einem gemeinsamen Spruch eröffnet: adrekna, aghesna, ya muna `aini ya allah (etwa: Wir vervollkommnen uns, wir füllen uns, oh Speise meines Auges, oh Gott). In der Salamiyya scheint es verschiedene Sprüche zu geben, die beim folgenden allah hey die Brüder daran hindern soll die Selbstkontrolle zu verlieren: `owa t´amil wa ya agibak milak la yatraduk wa gannadu ghairak (Hüte dich zu tun, was dir passt, da kannst du dich nicht vervollkommnen, und manch anderer wurde schon verrückt). trad al-rigal an-nabi asab min trad umak wa abuk (Wenn einer den Propheten zurückweist, so ist das schlimmer als Vater und Mutter zu verleugnen).
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Nach den etwa eine bis anderthalb Stunde dauernden MeditationsÜbungen setzt man sich zu einem gemeinsamen Abendessen zusammen. Man trifft sich meist einmal in der Woche, die Häufigkeit der Treffen ist aber von den Jahreszeiten (musims) abhängig, durchaus also der weltlichen Ordnung des Agrarkreislaufs angepasst, man trifft sich immer bei einem anderen Gastgeber, damit die Last gerecht verteilt ist. Man bringt zu essen mit und die Frauen helfen beim Kochen. Die Parallelen zur laila, dem Hochzeitsfest, so ausführlich bei Lane (1944: 162ff.) beschrieben, sind eindeutig. Man könnte hier auch Parallelen zu der weltlichen maq´ad (Sitzung) etwa unter Freunden und Kollegen in Kairo ziehen. Später nahm ich öfters an solchen Ereignissen teil, die nur scheinbar rein säkularen Charakters sind und im funktionalen Sinne zumindest in der Eingangsphase ähnlich innerlich wie die Sufi-Treffen. Sie sind wichtig für das Prestige des Gastgebers. Anders als bei den Professoren ist die dem Dhikr folgende Sitzung (qa´da) unter ländlichen Sufis eher sparsam. Meist ist das Fleisch nicht genug und beim Verteilen der einzelnen Stücke (hetta) ist es nicht immer der Gastgeber, sondern der Khalifa, der auswählend zu dem oder jenem sagt het, nimm! Von Lane (1944: 247) wird berichtet, dass »the Saadeyya darweeshes of Rasheed exhibit their feast with serpents: some carrying serpents with silver rings in their mouths, to prevent their biting: others partly devouring these reptiles alive«. Davon konnte ich natürlich nichts erfahren. Das Fest (mawlid): Im Zentrum der Heiligenverehrung in Ägypten steht die jährliche Feier der »Geburtstage« der Heiligen, die Mawalid, dabei nimmt heute auch als öffentlicher Feiertag die Mawlid an-Nabi (das Fest des Propheten) einen immer wichtiger werdenden Rang ein. Bei den kleineren Patronatsfesten, ja, selbst oft auch bei den großen, mit Jahrmärkten sich paarenden, richten sich vor allem im ländlichen Ägypten die Termine oft stärker nach den Bedürfnissen des Agrar-Zyklus als nach den Geburtsdaten der Heiligen. Wie bei den Maqamen, den Heiligenstätten, tappt man auch hinsichtlich des wirklichen Grabesortes oft genug im Dunkeln. Trotz vieler Versprechen konnte man mir das Heft (sijil) mit den Mawlid-Daten, das in Kairo von der Verwaltung der Sufi-Orden geführt wird, nicht beschaffen. Im Allgemeinen liegen die kleinen, tief ländlichen Mawalid nach der Weizenernte Ende Juni, Anfang Juli und die großen Feste in den ländlichen Zentren, wie die von Sidi Shibl in Shuhada, die von Sayyid al-Badawi
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in Tanta und die von Sayyid Ibrahim ad-Disuqui in Disuq in der Zeit von Ende September bis Anfang Oktober. Aber auch die großen Kairoer Mawalid, wie die von Sayyida Zeinab etwa, liegen in dieser Zeit des Endes des Agrarjahres nach der Baumwollernte. Jedes Fest (mawlid, pl. mawalid; moulid) hat seinen eigenen Charakter. Doch kann man den allgemeinen Ablauf des Fests durchaus noch so fassen, wie Lane es schon vor mehr als 150 Jahren beobachtet hat. In der mir vorliegenden Ausgabe der Modern Egyptians (1944) stellt Lane eher auf den festlichen, religiösen Charakter ab, weniger interessieren ihn die ökonomischen Effekte dieser Jahrmärkte. Man müsste heute hervorheben, wie sehr hier die ökonomischen und die religiösen Interessen ineinander laufen. Das spirituelle Interesse, am Segen des Heiligen teilzuhaben, ist dabei mindestens so groß, wie eine bestimmte Spezialität des eigenen Hauses oder Dorfes feilzubieten. Während die Massen sich also zwischen den kleinen Ständen und Zelten zum Gebet oder einfach zu bestimmten Berührungsriten zum Zentrum des Maqam drängen oder beim Festzug der tariqas selbst die Straßen säumen, so sehr versammeln sich andererseits die fiqhis und Koranleser oder die faqirs und Mitglieder der Sufi-Organisationen an den ihnen zugewiesenen Plätzen in der Moschee oder in den Zelten der tariqas auf den Straßen zu Koranrezitationen oder dhikr-Übungen (Lane 1944: 246). Immer aber geht es in den Straßen auch – so müsste man heute sagen – um nach klaren und unklaren Regeln verlaufenden Warentausch, monetarisierten und nicht-monetarisierten. Im Gegensatz zu meinen Kairoer Informanten kennt Lane jedoch für die großen Heiligen, Sayyid al-Badawi und Ibrahim al-Disuqi, nicht nur jeweils eine, sondern drei Feste im Jahr. Aber die größte im Jahr findet in Tanta im Herbst statt. (Jeweils sieben Tage vor der Mawlid des Sayyed Ibrahim in Disuq).44 Notiz zur »Volksmedizin«: In einer Unterhaltung über magische Traditionen der »Volkmedizin« im September 2000 erklärt Scheich Zak., dass er – auch als Sufi-Scheich – alles, was hier noch als magische Restkunst, vom Tätowieren, Fakirpraktiken, oder einfachen Riten der Frauen etwa am 44 | Nachtrag zu den »Heiligen Orten«: Die Mawlid des Abdallah b. Salam in alAmir findet 2001 vom 23. bis 30. August statt. Die Mawlid des Mahmud Salam in Walaila findet 2001 am 23. bis 30 Juni statt. Die Mawlid des Abu Ghunaim am Tell al-Rub`a findet 2001 Ende April statt.
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Tell Thumais oder in Mendes (sie liegen nur ca. 15 km von seinem Wohnort entfernt) übriggeblieben ist, strikt ablehnt. Während es sich etwa in den zwanziger und dreißiger Jahren noch um gängige Praktiken handelt, ist das (bis auf die Frauenriten) weitgehend abgelegt. Es kommt zwar noch vor, dass ältere Männer und Einzelgänger noch Tätowierungen tragen, doch Scheich Zak. schwört auf den technisch-wissenschaftlichem Fortschritt. Andererseits folgt er gerade im Umgang mit Samen und bei der Pflege von Blumen und Pflanzen noch traditionellem Wissen. Er schimpft aber immer wieder auf einreisende Praktiken unter seinen Landarbeitern, die glauben noch an alte Zeichen, mit denen die originäre Körperkraft dargestellt wird. Er glaubt aber auch nicht daran, dass wir mit einem eintätowierten Vogelzeichen (asfûra) an der Stirn in der Lage seien, unsere Kopfschmerzen zu heilen, ein Aspirin – meint er – hilft da mehr. Als »Volksgenius« gilt es aber noch immer, dass auch noch die unsachgemäßeste Anwendung von Hygieneregeln und der übermäßige »Genuss« von Medikamenten immer wieder gerechtfertigt werden. Diese Haltung lässt sich auf fast allen Gebieten des Umgangs mit moderner Technologie im breiten Gebrauch der modernen Massengesellschaft auch in den Städten finden. Das Kairoer Beispiel par excellence sind die Aufzüge, und wenn etwa ein großer kräftiger Hausportier, zum Schrecken der Ausländer, den Kontakt im Fahrstuhl mit den eigenen Fingern herstellt, ohne sich dabei einem Stromstoß auszusetzen, so gilt das eben auch als Ausdruck des vorherrschenden genius loci. Es ist dieser ägyptische »Volksgenius«, der, gepaart mit Armut und Untätigkeit der Verwaltungen, dafür herhält, dass ganze Kleinstädte zu spezialisierten ägyptischen »Autofabriken« früh-industriellen Zuschnitts hergerichtet werden, wo Tausende unter anachronistischen, kleinwarenwirtschaftlichen Bedingungen, tagelang dengelnd, Autoteile herrichten, die heute überall auf der Welt in Minutenschnelle produziert werden können. Die Region zwischen den Orten Mit Ghamr und Sinbelaween liefert hierfür ein besonders krasses Beispiel mit kilometerlangen ölverschmierten Straßenzügen, die sich quer durch die Dörfer, ja von Dorf zu Dorf, ziehen. Anmerkung zur lokalen Visionen, Ideen, Praxis: Kann man es als eines der Lebensweisheiten dieser mentalen Projekte und sozialen Zustände sehen, dass die inneren Widersprüche dieses Lebens so groß sind und notwendig als solche immer wieder reproduziert werden müssen, weil gerade
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immer wieder der »Strom des Lebens«, der als »Mythos des Lebens« Sinn findet, in einer begriffslosen Entfaltung alles in sich aufzuziehen scheint, was auch ökonomischer Rationalität folgen könnte? Wenn alle Begriffe im Leben selbst aufzugehen scheinen, dann lässt sich paradoxerweise auch das Leben mit den abstraktesten und totalsten Begriffen versöhnen. Weder muss das Leben auf den Begriff gebracht noch das Begriffene zur ordnenden Macht des Lebens gemacht werden. Jaques Berque (wie ähnlich schon der Existenzialist Camus) zeigt, wie stark der poetische Charakter des Lebens erst im quasi nichtigen, nur vitalen Charisma sich Ausdruck verschafft: »La métamorphose, l’allégorisme, les associations par ressemblance, par voisinage et même par contradiction, la furie qui n’est peut-être qu’alibi, ou l’apparent qui n’est peut-être que trompe-l’œil: ces inflexions chaotique de leur discours et de leur démarche en font la valeur de témoignage.« (Berque 1961: 50f.) 45
Die zeitgenössische Religions- und Islamwissenschaft ist heute unter dem Zwang zu einfachen und positiven Beschreibungen zu schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei den modernen Lebensweisen der Muslime um verschiedene Variationen des Gebrauchs von Glauben und Ritus wie auch von politisch-intellektuellen Prinzipien handelt (vgl. etwa Rippin 1993). Dabei wird gerade völlig vergessen, dass diese Variationen nicht etwa einem modernen, unter dem Zwang der Globalisierung hervorgetretener »chaotischen« Wechsel im Gebrauch religiöser Haltungen, Bedeutungen, Begriffe, ja, Systeme entspringen, sondern möglicherweise völlig den Ambivalenzen eines längst kulturgeschichtlich vom Lebensinstinkt geprägten Kulturganzen entsprechen. Wenn es also heute gerade unter Religionsanthropologen zur Mode, wenn nicht zu einem Katheder-Prinzip geworden ist, von einem multiperzeptiven Islam, der in orthodoxer, wie in kritischer Weise, in Quietismus, wie in Atavismus, im Mystizismus und in Reformismus, in magi45 | »Die Metamorphose, die Allegorie, die nach Erscheinung, Nähe und sogar Gegensatz getroffenen Assoziationen, die Furie, die vielleicht nichts anderes als ein Alibi ist, oder sie nur so erscheinen lassen als sei sie nichts als ein Fehlblick: diese chaotisch-wechselhaften Anpassungen in ihrem Diskurs und in ihrer Orientierung geben hiervon Zeugnis.«
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schen Volkspraktiken und in rigidem Skripturalismus Anwendung finden kann, dann ist vergessen worden, dass Bedeutung und Ausdruck der Idee »Islam« seit der frühesten Zeit ihrer Ausbreitung auf einem kulturtechnischen Apparat beruht, der – symbolische Ambivalenzen des Ganzen und des Teils, des Allgemeinen und Spezifischen, des Weltlichen und des Außerweltlichen aktivierend – auf die innere, überbildliche Kohärenz des islamischen Systems abstellt. In diesem Sinne entspricht der Islam einem in der Systemtheorie aufgekommenen Begriff kultureller Selbststeuerung: dem der ständigen Selbsterfindung des Systems, eine chaotische Sinnerfindung, die nur bei Aufrechterhaltung einer terminologischen, überbildlichen Absolutheit der vorgegebenen Semantik des »Begriffs« sich entfalten kann. Die Perzeption einer islamischen sozialen Ordnung ist dann nur noch als ein auf verschiedenen Stockwerken unter dem Dach der regellosen, aber verpflichtenden Sinn-Symbolik des »Begriffs« Islam sich entfaltender Kampf um Lebenssteigerung zu verstehen, dessen Grenzen im Schicksal und im absoluten Willen Gottes vorgezeichnet sind, nicht aber in den Bedingungen einer sachlich geregelten oder zu regelnden Welt der Dinge. Die moderne Herausforderung liegt eben gerade darin, dass der »Mythos des Lebens« gerade unter modernen Bedingungen nicht nur eine selbst-zerstörende Komponente darstellt, sondern auch ein Paradox der ästhetischen Kreationen im All der Konsumkulturwelten. So kann man das im Alltag eines Scheichs, in seiner Geschichte, ja, in seinen Geschichten erleben. Er erzählt sie oft abends, wenn die Arbeit ruht, in den Männergruppen, die ihre völlig unorganisierten Sitzungen (a´da) haben. Dort ist es auch der Scheich, der das Wort führt: und auch wenn sie sich wiederholen, finden die Geschichten ungeteiltes Interesse unter den Anwesenden. Hier folgen einige Aufzeichnungen. Zunächst aber und zur Einstimmung stelle ich hier eine Geschichte aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts voran, die August Winkler berichtet: »Bei einer Nilüberschwemmung ertrank vor ein paar Jahrzehnten ein etwa zwölfjähriger Knabe namens Mahmud aus Kimram. Bald nach diesem Verlust wurde der Vater des Knaben krank. Er ging zu dem Schechbesessenen. Auch ihm erschien sein Knabe in dem Medium und befahl seinem Vater, ihm ein mauerumhegtes Kuppelgrab zu bauen und eine hölzerne Ehrenlade tabut darin aufzustellen. Dann würde er genesen. Der Vater tat so und wurde gesund.« (Winkler 1936: 29)
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Die folgenden Geschichten des Bauern-Scheich Zak. (Region Sinbelaween) wurden im September 2000 aufgezeichnet: Geschichte eins: Scheich ´Abd as-Salam (manchmal spricht Zak. vom Vater, manchmal vom Großvater des jetzigen Scheichs, Muhammad ´Abd as-Salam von Waleela – s.o.) sagte mir immer, wenn ich ihn gelegentlich traf, dass ich die Schafe verkaufen solle. Weder wusste er aber, dass ich Schafe hatte, noch kannte ich ihn irgendwie näher, so dass ich überhaupt nicht wusste, was das bedeuten sollte, wenn er mich darauf ansprach, dass ich die Schafe verkaufen solle. Als aber mein ältester Sohn die Schafe hütete und dabei in den turuq, den großen Bewässerungskanal (der an der Ezba, am Wohnflecken/Arbeiterlager, vorbeiführt), hineinfiel und ertrank, da wusste ich, was der Scheich ´Abd as-Salam meinte, und dass er recht hatte. Man könnte erinnernd einen Bericht von W. Blackman nachtragen: »It is, perhaps, to be remembered in this connexion that, according to more than one account, Osiris himself met his death by drowning. Possibly the water-spirit, who apparently claimed (in the end successfully?) the foredoomed Prince, is to be compared with the ›afrit‹ that the modern fellaheen suppose to be claiming one who is drowning« (Blackman 2000: 315).46 Geschichte zwei: Scheich ´Abd as-Salam reparierte einmal noch zu Zeiten des großen Bey (Grundbesitzer) den Backofen, furn, und ich traf ihn dabei. Er sagte zu mir, nenne deinen Sohn Yahya. Ich hatte ihn davor noch nie gesehen, er konnte also nicht wissen, dass ich verheiratet war und dass meine Frau schwanger war. Aber er sagte zu mir, nenne deinen Sohn Yahya. Als der Junge auf die Welt kam, nannte ich ihn Yahya, und es ging ihm gut. Geschichte drei: Als in seinem Dorf ein Junge starb, wurde Scheich ´Abd as-Salam beschuldigt, ihn getötet zu haben. Die Polizei kam und wollte ihn 46 | »In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass nach mehreren Berichten Osiris selbst seinen Tod durch Ertrinken fand. Möglicherweise war es der Wassergeist, der den als Prinz Vorgesehenen (schließlich vielleicht erfolgreich?) in den Tod geholt hat, was mit den ´afarît, (den ›Teufelchen‹), verglichen werden kann, die nach den (Geschichten der) modernen Fellachen jeden, der ertrinkt, für sich beanspruchen.«
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zum Verhör abholen. Vor den Polizisten sagte er zu seinen Leuten, bringt mir zuerst mein Pferd (farasa), die weiße Schimmelstute. Er bestieg das Pferd und die Polizisten und die Leute folgten ihm zum Friedhof, wo er das Grab des Jungen öffnete, den Leichnam herausholte und neben dem Leichnam zu einem langen Gebet niederkniete. Bis schließlich der tote Junge den Mund öffnete und den Namen des wahren Mörders aussprach. Die Polizei holte dann den wahren Mörder, nahm ihn fest und ließ Scheich ´Abd as-Salam frei. Nach einiger Diskussion über die zeitliche Lokalisierung und die involvierten Personen, die aber nur zur Wiederholung des hier wiedergegebenen Inhalts der drei Geschichten führte, erzählte Zak. eine vierte Geschichte, die er nun zeitlich genau an den Anfang der 1970er Jahre datierte, und deren Bezeugung er in der noch zu besichtigenden Moschee des Scheich Ahmad al-`Issawi in Mansura niedergelegt sah: Geschichte vier: Der Gouverneur (muhâfiz) von Mansura hatte einen Traum. Der Mann mit dem Namen `Isa hat ihn angesprochen und zwar drei Mal. In dieser Nacht aber starb der Mann in dem Traum. Als man `Isa am anderen Tag zum Grab tragen wollte, konnten die Männer den Sarg nicht von der Stelle bewegen. Als der Gouverneur davon Nachricht bekam, baute der Gouverneur eiligst eine Moschee. Erst dann konnte man den Sarg in die Erde senken. Die Moschee steht heute noch in Mansura, die Scheich Ahmad al-`Issawi-Moschee. Es handelt sich hierbei um eine Geschichte, die sich auf die späte Nasserzeit bezieht, denn nach anderen Berichten aus Mansura soll es sich bei Sh. Ahmad al-`Issawi um einen unbeirrbaren ragul saleh gehandelt haben, der Anfang der siebziger Jahre gestorben sei. Sein Maqam nebst Moschee gelten als die eindrucksvollsten von Daqahliyya, der Delta-Mittelprovinz. 5 »Volkskultur« und der Prozess der Moderne: Es ist durchaus nicht so, dass es sich bei diesen Geschichten um ganz besondere Wortmeldungen handelt. So sehr sie sich auf vergangene Ereignisse beziehen, so sehr sind sie ein Massenphänomen der ländlichen Männergesellschaft,47 werden 47 | Die Frauengesellschaft hat ihre eigenen Geschichten, von denen etwa die Erzählungen der Out el Kouloub el Demerdache aus dem frühen 20. Jahrhundert nur einen fernen, schillernden Eindruck verleihen. Immerhin zeigen sie, trotz der exotisierenden Sicht aus dem »Salon« der Kairoer Oberschicht heraus, wie eng
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von jung und alt geteilt und können durchaus im Kontext gerade auftretender Ereignisse aktualisiert werden. Ja, man könnte hier von einer eigenen Dynamik, einem inneren Motor der Massengesellschaft im ländlichen Ägypten sprechen (einzelne Stadtteile Kairos eingeschlossen). Man fragt sich, welche Bedeutung das für diese Gesellschaft hat. Wo bleibt das erkennende Individuum als handelndes Subjekt? Wie begreift man »sich selbst« unter dem Einfluss solcher Geschichten? Nun gilt seit Robertson (1992) die begriffliche Selbstbestimmung als Globalisierung der Moderne als das eigentliche Rückgrat der multiplen kulturellen Rekonstruktionen überall auf der Welt. Doch die kulturelle Praxis der Verwunderung über die Welt, der Verzauberung des Geschehens selbst, und mit dem Dämon des Alltags zu leben, bestimmt auch das soziale Leben unter den Massen der Bevölkerung in Ländern wie Ägypten. Die raum-zeitliche Gestaltung des Alltags schließt zwar moderne Formen des Selbstbegriffs nicht aus, sie folgen aber einem anderen Lebensverständnis. Die Selbstrepräsentation der ägyptischen Kultur unterliegt dem Zwang nationaler Politik oder den neuen Freiheiten, die die Massenkonsumgesellschaft heute auch den breiten Volkschichten bietet. Auf der Ebene der Nationalkultur erscheint Volkspraxis entweder als purifizierte Naturalwirtschaft mit magischen Anklängen an die große Vergangenheit – die »Fellachen-Ethos« als die Wiege des Staatsvolks –, in der Werbung gar als bildliche Repräsentation von einer neuen »grünen« populären Geschmackskultur. Auch dabei werden Geschichten vergleichbarer Art erzählt. Es geht also nicht primär um Kontinuität von Tradition und herkömmlichen Prinzipien, sondern um die Formen kontinuierlicher Neuerfindung, die gewissermaßen medientechnisch erzwungen sind. Es sind aber die »Metamorphosen« und Topoi die weiterhin innere Bindung erfordern und die sozialen Netze entsprechend ausweiten, Die Massen-Aspekte sind auch dann hervorzuheben, wenn man Volkskultur von ihrer herkömmlichen Seite her, gewissermaßen als segmentiertes Feld der Tradition betrachten wollte. Denn auch hier wird schnell deutlich, wie schnell das Armutssyndrom hinweggefegt, und der reine »Mythos des Lebens« als Ausdruck kollektiver Lebenssteigerungen aufgebaut wird. Die Bedingungen und gegebenen, meist ärmlichen Grenzen
die Vernetzungen des »Harems« mit den magischen survivals der uralten ägyptischen Kultur sind (vgl. Out el Kouloub 1998).
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des lokalen materiellen Lebens sind dabei eher fördernd als ein Mittel der Realitätskontrolle. Folgt man den Paradoxien dieser Sicht, so stellen sich grundlegenden Ordnungsfragen »der Moderne« in doppelter Weise neu, »Volkskultur« muss in Bezug auf zwei Dimensionen des modernen Ordnungsdenkens hin hinterfragt werden: erstens hinsichtlich des in ihr ruhenden Potenzials zur instrumentellen Reflexivität, d.h. hinsichtlich ihrer Nähe oder Ferne zu modernen Kulturtechniken; zweitens hinsichtlich ihres »Authentizitätspotenzials«, nämlich die hier ruhenden Möglichkeiten Kulturbestände der alt-orientalischen Zivilisationen für moderne Lebensstile zu mobilisieren. Von hier ausgehend lassen sich umgekehrt auch die Hindernisse sehen, die »Volkskultur« der gesellschaftlichen »Physis« des modernen Staatsund Instutionswesens entgegenstellt. Man könnte »Volkskultur« also auch im Sinne Eisenstadts als eine Form der »Transposition der immer wiederkehrenden Protestthemen – Gerechtigkeit, Freiheit und dergleichen – in die zentrale politische Arena« (Eisenstadt 1998: 46) und damit als eine Ressource für den Diskurs über die Erneuerung der Gesellschaft betrachten. Wenn Weber vom Zauberer als der Urform des modernen professionellen Menschen spricht, hat er nicht nur im Sinn, dass es sich hier um ein »Individuum« handelt, das in seinem Tun nur seinem, gewissermaßen außerweltlich gerechtfertigten Wissen folgt, sondern auch, dass er ein Wissen oder Glauben davon hat, inwieweit man »alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Er hat gewissermaßen »die Ekstase, als Objekt eines ›Betriebs‹ in Pacht genommen« (Weber 1980: 246). Allein schon hierin, in dieser doppelten Form der Rationalität, scheint die kulturelle Kraft des traditionellen Zauberers auch in der modernen Welt zu liegen, jedenfalls spiegelt diese doppelte Form auch das hohe Maß an Akzeptanz wieder, die dem heute praktizierenden »Zauberer« widerfährt. Man kann den Gedanken nicht loswerden, dass vielleicht nur wegen der nunmehr seit mehr als zweitausend Jahren währenden Geschichte der Fremdherrschaft oder des dominierenden ausländischen Einflusses das Volk am Nil seine antiken Sitten und Gebräuche, wenn auch nur in einer ganz bestimmten Form, erhalten konnte. Viele alte Glaubensformen und Künste sowie das alte Handwerk konnten nur so als Volkspraxis überleben, denn die Eroberer vermochten zwar die äußere Terminologie, nicht aber die inneren Verhandlungen der ägyptischen Kultur zu bestimmen. Obwohl viele Riten und Lehren noch bis in das 20. Jahrhundert fast unver-
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ändert überdauert haben und manche noch heute so bestehen, so mussten sie doch in die islamische und christlichen Glaubenslehren eingebaut werden, immer mit dem Verdacht der häretischen Praxis behaftet. Heute droht diesen Bräuchen, die zur Volkskultur geworden sind, eine Form der Vulgarisierung, die ihnen möglicherweise einmal den Todesstoß zu versetzen vermag: ihre Adaption in das Zeitalter des Massenkonsums und durch die allabendlichen Fernsehserien (al-tamsiliyyât). Ob und inwieweit der »Kult der lokalen Scheichs« selbst, von dem Blackman (1926: 48) in ihrem bewundernswürdigen Aufsatz spricht, zu dieser aus der Antiken überkommenen Kultur gehört, ist eine in der Literatur kaum erörterte Frage. Auch Blackman geht hierauf nicht ausdrücklich ein, obwohl sie die ländlichen Heiligengräber so beschreibt, als gehörten sie selbst zum Bestand des antiken Kulturerbes. Nur in Bezug auf den Grabwächter oder wie sie sagt »servant of the Shaykh« und seine Funktionen sieht sie Parallelen zum alten Ägypten, nämlich dem »servant of the ka«. Sie weist auch auf Frauen hin, die im alten wie auch im modernen Ägypten Funktionen hinsichtlich der Begräbnisriten sowie bei der Vermittlung heilender Praktiken beim Grabbesuch innehaben. Die Frage ist, ob das heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, noch Brauch ist, und ob den mit diesen Funktionen Betrauten auch heute noch durch spezifisches, dem Grab zugewiesenes waqf-Land Unterhalt gewährt wird. Dieser Brauch des waqf-Unterhalts von »großen« Scheichgräbern wird auch von einer kleinen Arbeit von Louis Massignon bestätigt, doch ist diese Quelle, nicht nur wegen der Lokalität der hier beschrieben Fälle außerhalb Ägyptens nicht sehr ergiebig (vgl. Massignon 1953). Blackman zieht hier vielleicht zu voreilig Verbindungen: »Women from the earliest times could hold the position and enjoy the emoluments of a prophetship (the office of ›servant of the god‹).« (1926: 51) Die Anzahl der Gräber der Lokalheiligen in einer ländlichen Region ist beträchtlich und es ist eine oft befolgte Praxis, in mehr als einem Dorf einer Gegend mehrere Gräber für ein und desselben Scheichs zu errichten. Es ist unzweifelhaft, dass auch heute noch die Verehrung dieser Scheichs und die Pflege ihrer Gedenkstätten eine besondere Bedeutung im Leben der Fellachen und der ländlichen Bevölkerung als Ganzes darstellen. Die Scheichgräber bilden noch heute für die Alten besondere Markierungspunkte, wenn sie über Land reisen. Anders als noch zur Zeit der Forschungen Winifred Blackmans in Oberägypten gilt für die von mir besuchten Delta-Regionen, dass es für die Gräber der »kleinen« Scheichs
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kaum noch einen besonderen Dienst zum Unterhalt und zur Pflege dieser im Allgemeinen als »qubba«, als Kuppelbau erscheinenden, und in aller Regel quadratisch angelegten Bauten, gibt. Ägypter leiden an Staat, Religion und Familie fast so sehr, wie sie andererseits auch aus den unterschiedlichsten Gelegenheiten der Demonstration ihrer staats-institutionellen Verbindung den höchsten Gefallen und Gewinn zu ziehen bereit sind. Doch ist gerade vielleicht die Tatsache, dass sie alle möglichen Beziehungen dieser Art zur besseren Bestimmung ihres Ranges in der Gesellschaft auf das Intensivste zu instrumentalisieren bereit sind, der Grund dieses Leidens. Denn Land, Gott und Familie stehen geradezu als Objekte einer erotisch-moralischen Wertung am obersten Ende der Skala ganz unmittelbarer Hochschätzung.48 Das aus diesen Widersprüchen hervorgehende allgemeine Leiden an der Gesellschaft spricht also von einer höchst hierarchischen Enge, in der solche symbiotischen Trennungen von Lebenswelt und System, wie wir sie als für westliche Gesellschaften einmal als kennzeichnend erachtet haben, kaum zu entwickeln oder, wenn gewollt einmal eingesetzt, kaum aufrechterhalten werden können: Es gibt überall und in fast allen Beziehungen eine Überdominanz des hierarchisch gegliederten sozialen Prozesses, an der auch strategische Trennungen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre scheitern. Es wäre zu fragen, ob und in welchem Ausmaß der Besuch von Kultstätten und die Pflege der Kultfeste – weitergreifender noch: die »private« Teilnahme der öffentlich hierarchischen Klasse an diesen Festen der Volkskultur – möglicherweise einen sozialen Gegenpol zu der sonst vorherrschenden Enge des sozialen Prozesses darstellen. Auf den ersten Blick scheint es nämlich so, dass etwa Heiligenfeste, mawâlid, im ländlichen Ägypten geradezu von der Abwesenheit dieser dreifaltigen institutionellen Hegemonie geprägt sind: Es sind nur auf die formellen Gelegenheiten begrenzte öffentliche Repräsentationen der Staatsmacht; die »Kirche«, der rechtlich-orthodoxe Apparat des offiziellen Islam hält sich bei diesen Heili48 | Das vielzitierte Beispiel, das Yusuf Shahin in seinem Film I’skandariyya lee? gibt, ist bezeichnend: Eine junge Frau bittet einen Offizier in einer Alexandriner Bar um Feuer (tesmah twallanî – wörtlich: gestatten Sie mich anzuzünden?), das er ihr gibt, sie bedankt sich mit dem folgenden Ausspruch: »behebb nugûmak yâ kapten« (ich mag deine Sterne [auf dem Schulterblatt der Uniform], oh, Hauptmann).
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genfesten zurück; die Ränge in der Familie und die Geschlechterordnung sind durch die höchst individuellen Heilsaktivitäten, aber auch durch die individuell-strategischen Formen des ökonomisch Handelns dann fast völlig außer Kraft gesetzt. Die Frage wäre also, inwieweit sich die Feste zu den zentralen kulturellen Eckpfeilern einer Volkssoziologie entwickelt haben, die dem offiziellen Hierarchismus der Gesellschaft polar gegenübersteht, ohne ihn jedoch – das ist das Entscheidende – in irgendeiner Weise aus den Angeln heben zu können oder überhaupt nur im Ansatz Elemente entwickeln zu können, die auf eine stufenweise Ablösung des öffentlich-hierarchischen Prozesses zielen könnten. Der erste Einwand gegen diese Sichtweise scheint auf der Hand zu liegen. Man wird argumentieren, dies – wenn überhaupt anwendbar – sei ein Modell der polarisierten traditionellen ägyptischen Gesellschaft, für die aktuellen Prozesse der an Tiefe und Breite längst auch das Hinterland beherrschenden Konsumgesellschaft und Globalisierung untauglich. Dem ist zu widersprechen aus vier Gründen: Erstens haben die gesamten neuen Ökonomie-, Medien- und »Cash-«Prozesse die traditionelle Polarisierung der ägyptischen Gesellschaft möglicherweise verlagert, in keinem Falle aber aufgehoben. Zweitens ist die ägyptische Volkskultur mit der neuen Ökonomie voll verwoben. Drittens folgt die Staats- und »Cash-«Kontrolle den konventionellen Mustern der Hierarchisierung und Polarisierung, was immer auch einer Aktualisierung der konventionellen Topoi und Raum-Zeit-Gestaltungen entspricht. Viertens gibt es weder eine Waren- noch eine Geldsicherheit im gesamten Prozess der neuen Ökonomie; so sind die an die Polarisierung und Hierarchisierung gebundenen Verteilungen die einzigen Ordnung, Stabilisierung und Kontinuität versprechenden Elemente. Die Volkskultur ist also gerade unter diesem Gesichtspunkt, nämlich als Element der Ordnung und Stabilisierung der Prozesse der Modernität, zu begreifen, obwohl und gerade weil sie immer wieder einerseits Gegenstand der Maschine der modernen »Ideologie-Produktion« ist und zugleich jenseits aller offiziellen Modernitätsideen im Staat, in der Religion, in der Familie operiert. Es wird schwer sein, gerade diesen Punkt analytisch einzuholen und abzuklären, was mich nicht hindert, darauf hinzuweisen.49
49 | Wie sehr auf der materiellen wie ideellen Ebene einerseits diese Lokalpraxis mit den Institutionen verknüpft ist, andererseits aber immer wieder auf Schaf-
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Eine entscheidende Rolle spielen notwendig die Frage des Umgangs mit Natur und Körperlichkeit, die Abwesenheit von Innerlichkeit, die moralische Unschuld und die Unmittelbarkeit der Bewunderung einer als einzigartig empfundenen Schönheit. Diese Art des unmittelbaren symbolischen Umgangs mit den Menschen und Dingen hat zugleich die Folge, dass man nicht kontrollierend in die Natur der Dinge, des Ortes etc., eingreift, sondern sich gewissermaßen platterdings in ihr ausbreitet, nach Lust und Belieben, angezogen von der einmal in Wirkung gesetzten Attraktion. So sind vielleicht auch die Stichworte zur Physis der Volkskultur, die ich mir einmal in der Kleinstadt Fuwa im Delta notierte, ergänzend anzuführen: »Ich beobachte eine animalische Gleichgültigkeit gegenüber Wunden, körperliche Behinderungen etc. bei Tier und Mensch. Steht das im Gegensatz zu den überfürsorglichen Demonstrationen von Anteilnahme, Hilfsbereitschaft etc. bei entsprechenden Ereignissen im Prozess der Öffentlichkeit?« 6 Kulturelle Ambivalenz und soziale Ordnung: Man zöge ein falsches Resümee der orientalistischen Forschung der letzten 150 Jahre, wollte man kulturelle Ambivalenz und Fatalismus zu den zentralen großen Wesenszügen der arabisch-islamischen Kultur zählen. In allen Kulturen spielen Reflexion der Ambivalenzen des Lebens und der natürlichen Erscheinungen sowie die Erkenntnis der oft schicksalhaften Aufhebungen intentionaler Projekte eine entscheidende Rolle. Wenn man jedoch die Weber-These von der unaufhebbaren Geworfenheit des modernen Menschen auf den Zwang zur ständigen Rationalisierung seiner Lebensverhältnisse verallgemeinern will, so müsste sie auch für die modernen Menschen des arabisch-islamischen Kulturraums zutreffen. Die wissenschaftlich-technischen und die kommunikationstechnischen Erweiterungen der Lebenssicht einerseits und die instrumentellen Bedingungen der Lebensentfaltung, die sie setzen, sollten über die Spezifität der kulturellen Eigenarten hinweg, den modernen Menschen überall auf der Welt gefangen genommen haben. Doch gibt es seit der weltweiten Verbreitung dessen, was man German Heideggerian ontology genannt hat, einen neuen Skeptizismus, der darauf zielt, wie in den alten Kulturen, Philosophie wieder auf Religion zu grünfung neuer Freiräume gedrängt, zeigen die Arbeiten von Schielke (2004); s.a. Mittermaier (2008); Peterson (2008); Zayed (2008).
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den, weil ja der letztendliche Grund menschlichen Denkens im Schicksal liege oder einer irrationalen Notwendigkeit folge. Man will und kann die schon in der Vormoderne gesetzten Einsichten über die Irrationalität des letzten Grundes nicht mehr zurückweisen: Wenn also von multiplen Modernitäten (globale Modernität unter Anerkennung der kulturellen Eigenheiten), Zwang zur systemischen Aufhebung von Komplexität (universellen Prozessen der systemischen Ausdifferenzierung) und von den notwendigen Affektmodulationen im sozialen Prozess der Zivilisation (Globalisierung des Prozesses der Zivilisation) die Rede ist – und andere Alternativen hat die Soziologie unserer Zeit nicht mehr zu bieten –, dann müssten zumindest einzelne Elemente dieser Gesellschaftsentwicklung auch unter den relativen Bedingungen nicht nur der sich aus dem bestimmenden Gegensatz zur Moderne ergebenden Rückständigkeit zu bestimmen sein, sondern vor allem auch aus dem lebendigen Sprießen der in den Wurzeln des »alten Denkens« gründenden Suche nach Gott. Ich habe unter diesen Prämissen die besondere Vitalität des »alten Denkens« in der Kultur und »Philosophie« des dörflichen Volkslebens skizziert. Sicher muss man von einem inneren Konflikt des lokalen Ordnungsdenkens zu sprechen: den äußeren Selbstversicherungen, die die Welt der Moderne in den Waren, in Bild und Schrift, in den neu geschaffenen Institutionen und Verbindungstechniken schafft, treten in aller Schärfe den inneren Versicherungen, die am Festhalten an den materiellen und idealen Morphologien der Tradition gewonnen werden, entgegen. Es bleibt eine offene Frage, wie sich diese Koinzidenz zweier verschiedener, gleichermaßen zwingend sich gegenseitig vermittelnder Ordnungswelten auf die weiteren geopolitischen und kulturellen Entwicklungen des Landes und der Region auswirken. Für den nostalgisch reisenden Europäer ist es aber sicher das kulturelle Amalgam, das hier in kontinuierlichem Prozess zu entstehen scheint und das zu Recht sein ganzes Interesse weckt. Es ist für das heutige Ägypten keineswegs hilfreich, von einem – auf den ersten Blick vielleicht noch so erscheinenden, auf den zweiten und dritten Blick hin aber kaum mehr verifizierbaren – abstrakt gegensätzlichen Wirken von Moderne und Vormoderne zu sprechen. Die rein modernitätstheoretischen Gesichtspunkte – immer von einer skeptischen Position ausgehend – hinsichtlich Industrialisierung, Globalisierung und Islamisierung (die Durchsetzung des Islams als einer modernistischen Kulturideologie) haben sich selbst obsolet gemacht. Überall sind in Ägyp-
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ten m.E. rationalistische Projekte moderner Ordnungspraxis klar zu sehen und zu bestimmen, nirgendwo fügen sie sich allerdings – für den Fremden – in ein ganzheitliches Bild. Es hat durchaus einen »rationalistischen« Sinn, von Imperialismus und Orientalismus, also von der politisch-ökonomischen und der kulturellen Hegemonie des Westens als Faktor der Unterentwicklung zu sprechen, es ändert am Prozess einer rasanten Marginalisierung ganzer Teile der Bevölkerung nichts. Und gerade die Kulturalisierung derselben ist es, die zu einer explosiven Selbstbegrenzung im Schnitt der sich intensivierenden Außenverbindungen geführt hat. Wenn es wahr ist, dass das islamische Denken seit dem 3. und 4. Jahrhundert davon bestimmt ist, Wahrheit nicht in der Realität zu suchen und das Rationale eher irrationalen Orientierungen unterordnet, dann hat der traditionelle Islam eine Komponente praktischen Lebens transportiert, das in diese Schicksalhaftigkeit im menschlichen Tun unter modernen Bedingungen hineinwirkt, ja, es selbst zum sozialen Ordnungsfaktor werden lässt. Die These ist, dass »Selbst-Unterentwicklung« durchaus im Rahmen der oben skizzierten Diskurse abläuft, sie reklamiert aber für sich nicht nur die Eigenständigkeit der Kultur, der »Gemeinschaftsmaschine«, sondern sie behauptet zugleich die »für uns beste« Eigenständigkeit der industriellen, monetären, sowie überhaupt aller sozialen Reglungsprozesse, die »beste« Anwendung der Errungenschaft des Westens. Dort, wo es »für uns« vergleichsweise nicht zum Besten bestellt ist, sind die vielfältigen Hegemonien der Anderen – der destruktiven, irrationalen Rationalität der Anderen – zuständig. Das Ergebnis liegt sichtbar auf der Hand: die immer weitergetriebene »Verslumung« der urbanen und ländlichen Lebenswelten und eine allgemeine soziale und ökologische Zerstörungsenergie, die in reziprokem Verhältnis zu dem ungeheuerlichen Grad der hier vor sich gehenden Kapitalvernichtung steht. Wir kennen solche Prozesse überall auf der Welt – auch im Westen – nur scheinen dort noch Erfahrungsebenen gegeben, die in rationalistischem Umgang mit diesen Zerstörungstendenzen Regeln des sozialen Umgangs und menschlichen Nutzens zu entwickeln versuchen, die negativen Auswirkungen des Kapitalismus aufzuheben, zu mildern oder in einem Projekt zivilisatorischer Entwicklung zu kontrollieren bereit sind. Ich kann hier auf die vergleichsweise hohe Entwicklung staatlicher Institutionen und wirtschaftlicher Einrichtungen in Ägypten, sowie auch auf den relativ hohen Grad sozialer Ausdifferenzierung der Gesellschaft nicht eingehen. Er muss als vorausgesetzt gelten.
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Ägypten steht hier anderen modernen Gesellschaften in nichts nach. Die »Selbst-Unterentwicklung« hat ihren Grund im kulturellen Selbstverständnis der Ägypter. Dieses ist der Gegenstand auf den wir hinweisen. 7 Außeralltäglichkeit und die relative Indifferenz von Ordnungspolitik und Religion: Das Problem des Zusammenhangs von Politik und Religion bezieht sich nicht nur auf philosophische Traditionen, die die religiösen Ursprünge der modernen Politik- und Rechtsbegriffe aufzuspüren in der Lage sind, es bezieht sich auch auf Fragen der Sozial-Anthropologie. Wo die philosophische Tradition die Erklärung des Ausnahmezustands als die Form jeder Souveränität begreift, müsste eine sozial-anthropologische Perspektive die Produktion von Außeralltäglichkeit als eine erste Stufe – nicht unbedingt immer friedliche – der Erklärung des Ausnahmezustands und der Konstitution von Souveränität verstehen. Hier ist also das Religiöse unmittelbar in den politischen Prozess eingebaut, denn ohne das Spiel mit der Außeralltäglichkeit ist politische Souveränität undenkbar. Hier liegt auch die Schnittstelle der relativen Indifferenz von Politik und Religion im heutigen Ägypten. Wie sehr man zwischen einem priesterlichen Charisma, karama, und dem Charisma eines Staatsträgers, bey oder basha, unterscheiden kann – baraka ist die »Bene-Diktion« als allgemeiner Prozess des öffentlichen Umgangs miteinander. So wirken religiöse und weltliche Macht ineinander, denn nur der Regelverstoß, und nicht die Institutionalisierung der Regel, kann vor dem Volk Gnade finden. Nicht der Offizier, der dem Gesetz Recht verschafft, hat baraka, sondern der die Ausnahme zulässt. Und karama hat nur der religiöse virtuosi, der transzendentale Zustände in sich erzeugen und sie in die Gemeinde um sich herum übertragen kann. Also nicht die Regelung der Gemeinde ist das Ziel, sondern die Konstitution der Teilhabe am baraka. In dieser Teilhabe erst erfüllt sich Lebenssinn. Auf die besondere Form des Zusammentreffens von Natürlichkeit und Außerweltlichkeit ist ebenfalls einzugehen. Natürlichkeit ist nur »schön«, wenn sie außerweltlich ist, d.h. als transzendent verstanden wird. In ihrer bloßen Erscheinung ist Natur eher Gegenstand von Armut, Angst und Schrecken. Sie muss also dauernd außerweltlich besetzt werden. Hier liegt einer der großen Gründe der »Selbst-Unterentwicklung«: das völlige Fehlen oder Unterdrücktsein vom Verständnis für natürliche Prozesse, die auch im sozialen Prozess Regeln setzen. Hierzu ein Zitat von Jacques Berque zu Ibn Khaldun: »Le naturalisme des Prolégomènes tourne court, la croyance, et même l’occultisme sem-
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blent l’emporter chez lui sur de magnifiques prémisses de critique et de l’observation. Son agnosticisme est plus dur envers l’audace des savants parler d’incohérence, ou même de prudence, ils font tenir compte de l’indistinction propre à une certain type des sociétés.« (Berque 1968: 64)50 Bei der gegebenen gesellschaftlichen Einbindung der Scheichs etwa findet aber der alltägliche Naturalismus seine Korrespondenz in der gelehrten Denkweise, und nur über Begriffe der Transzendenz lässt sich hier eine Beobachtung und Beschreibung natürlicher Vorgänge überhaupt vermitteln. Das »Reich der Notwendigkeit« ist ein absolut wildes und im Verdeckten angenommenes »Reich der Freiheit«; dieses wird aber in das »Reich der Unendlichkeit« hineingepresst und damit zum Verschwinden gebracht. Da sich Notwendigkeiten dann aber immer auch ungerufen und meist offen einstellen, muss man doch mit ihnen umgehen. Dadurch ergeben sich ein Wechselspiel der Reaktionen und eine Polyvalenz der Orientierungen und Begriffe, die sich zwischen beiden »Reichen« gewissermaßen unkontrolliert hin und her bewegen. Den Begriffen fehlt die Praxis, der Praxis fehlt der Sinn. Man kann in einem übergeordneten Sinne die Entfaltung des sozialen Prozesses im alten wie im heutigen Ägypten nicht trefflicher fassen als mit E. Hornungs Titel Geschichte als Fest (1960). Hierzu wäre natürlich auch Petries Egyptian Festivals and Nile Shrines (1911), wie auch Drioton Les fêtes égyptiennes (1944 zit.n. Hibbs 1985) einzubringen. Nichts, was nicht »Fest« ist, bedarf der weiteren Beachtung, nur durch das »Fest« lassen sich funktionale Prozesse in Gang setzen, auf der Bühne des »Festes« ebenso wie hinter der Bühne. Wenn man das lokale Ordnungsdenken heute in den philosophischen Zusammenhang stellt, der den Gegensatz zwischen instrumenteller und mystischer Lebensrationalität aufzuheben gedenkt, dann wäre auch darauf hinzuweisen, dass die Webersche Kreation der institutionellen Rationalisierung der Lebenswelt als Instrument der modernen Selbstversicherung erst entwickelt werden konnte, weil er einen »Begriff« hatte von dem, was 50 | Der Naturalismus (seiner) Prolegomena (Muqaddima) greift zu kurz, der Glauben, ja selbst der Okkultismus, scheinen sich bei ihm über wunderbare Versprechen der Kritik und der Beobachtung zu legen. Sein Agnostizismus wiegt schwerer als die Besorgnis der Gelehrten, die von Inkohärenz sprechen oder selbst von Zurückhaltung, man muss eben die feste Einbindung in einen bestimmten Gesellschaftstyp in Rechnung stellen.
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Nietzsche unter »Wissen« verstand: ein Akt der mystischen Inkorporation der externen Welt, ein Akt der erst die Dinge zu etwas Realem und Wahrem zugleich macht, und durch die diese Dramatisierung der äußeren Welt erst in sich selbst ein obskures Ereignis der Reaktion und des Rückspiels in Gang setzt, ein Akt den man die mystische Gleichsetzung des Selbst mit der Welt nennen könnte. Hier begegnen sich modernes Denken und mystische Praxis auf das Engste. Hierin liegt aber auch ein absoluter Positivismus begründet, eine Form des »Wissens«, die sich als sichere Balance zwischen Individuum und Gesellschaft versteht. Letztendlich müssen wir beide Wege als die großen »Illusionen« begreifen: zwei unterschiedliche Formen der Transgression der materiellen Welt im einfachen Materialismus des »sicheren«, des »besseren« Lebens. Natürlich kommen wir heute nirgendwo auf der Welt mehr daran vorbei, sie unter dem Gesichtspunkt der Lösungsumstände, die sie beide bieten, zu vergleichen.
V. Zivilisation: Ägypten als Urwelt und »Menschheit-als-Ganzes«
1 »Ägypten«: Kultur und Macht in der Moderne: Wir stehen an der Schnittstelle des Übergangs vom Ägypten, das sich einem über die Religionen hinweg historisch tief verwurzelten »Gemeinschaftsethos« verpflichtet fühlt, hin zu dem Ägypten, das schon ausgehend von den Vorformen monotheistischen Denkens her sich dem Drang zur Subjekt-Kultur öffnete. Hier sind ein paar Notizen zur geopolitischen Brisanz des schon seit den Zeiten der Französischen Revolution strategisch gewordenen Begriffs der Zivilisation einzufügen. Ägypten ist auch für diesen heute wieder gängig gewordenen Zivilisationsbegriff eine Herausforderung. Was wäre gewonnen, wenn wir unter den bisher vorgetragenen Gesichtspunkten »Ägypten« als zivilisatorischen Sonderfall der Moderne, als »ägyptische Moderne« eben, als hoffnungslosen Fall von »Semi- oder Proto-Modernität« beschreiben wollten. Als ginge es um leisure culture, um Freizeitkultur à la Egyptiènne. Schließlich werden ja auch die hybriden Welten der modernen Massenkonsumkultur seit Mitte der 1980er Jahre etwa als Segnungen zwischen Tradition und Moderne hervorgehoben, zuletzt gar als einzig noch gegenüber den stählernen »Apparaten« funktionierende demokratische Macht.51 Es macht im gegenwärtigen Szenario globaler
51 | Vgl. etwa die Betonung des virtuellen und zugleich allumfassenden Totalismus der Konsumkultur und ihrer simulierenden als auch verzaubernden Effekte bei Baudrillard (1998). Unter Soziologen sind in Deutschland die gesellschaftlichen Segnungen der consumer culture vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der modernen Freiheits- und Demokratie-Kultur von Autoren wie Ulrich Beck, Zymunt Baumann und Karin Knorr bekannt gemacht und vertreten worden. Für
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Kulturbewegung keinen »Sinn« gerade diese Apparate als die Quintessenz moderner Lösungen gegen »Rückständigkeit« zu bemühen. Mit heftiger Beständigkeit reagieren dann doch andererseits die lokalen Eliten in der alten »Dritten Welt«, fast wie einst schon Pasolini in seinen Freibeuterschriften (1987),52 auf »Massenkultur« mit Zurückweisung, mit dem Permissivitäts-Vorwurf und Angst vor Traditions- und Werteverfall. Oft wird dabei Adornos Kritik der »Industriekultur« ins Feld geführt. Indirekt halten sich in dieser transformierten »Dritten Welt« Visionen eines Gesellschaftsmodells, das – wenn auch halbherzig, weil auf Sonderbedingungen rekurrierend – »Wirtschaftsethik« und »Strukturentwicklung« als »Moderne« verkauft.53 Aber hilft es denn wirklich, wenn wir uns demgegenüber verbreiten, als wäre mit dem »Konsumismus«54 alles gerettet, gewissermaßen so, als könne die Teilhabe am »Leben als Konsum« ein neues Modell gesellschaftlicher Integration auch für diese Gesellschaften bieten? Natürlich muss man sich darüber wundern, zu welch überraschenden Lösungen ganz eigener Qualität der globale Konsumismus fähig ist, wie er durchaus lokale Bedürfnisse in strukturell unterentwickelten Regionen befriedigen kann, ja tendenziell die alten Grenz- und Rangsetzungen zwischen den »Vierteln« und »Regionen«, ja, zwischen den »Klassen«, Ägypten sind die Ambivalenzen dieser Entwicklung im metropolitanen Kairo von Mona Abaza (2006) aufgezeigt und diskutiert worden. 52 | Es ist deshalb auch in diesem Kontext an Pasolini zu erinnern, weil seine »Kulturkritik« mit den Freibeuterschriften selbst zu einem hochsensiblen Instrument des postasketischen Kullturbegriffs geworden ist (vgl. Pasolini 1978). 53 | Zum Beispiel die Schriften und Vorträge des ägyptischen Soziologen Ahmad Zayed gehen in dieses Richtung, so auch sein Aufsatz über Volkspraxis der Heiligenverehrung (vgl. Zayed 2008). Mona Abaza schägt hier einen Mittelweg ein und zeigt schichtbezogene Differenzierung des Konsummarktes wie auch den hohen Grad der Abschottung der internationalen Standards genügenden Konsumund Warenwelt (vgl. Abaza 2006). 54 | Der affirmative Rationalismus eines Zygmunt Baumann (2009) macht den Konsumismus zu einem verheißungsvollen Ersatz der konventionellen Arbeitswelt, der Zugang zum »Leben als Konsum« führt so zu einer obskuren, aber eben doch verzaubernden sozialen Realität. Diese ist aber auch so konstruiert, dass der Zugang zum Standard der globalen Konsumkultur eben noch immer den meisten verschlossen ist. Was bleibt, sind den Bedingungen der Armut erst anzupassende Erscheinungen: häufig nur die »Glasperlen« des globalen Konsummülls.
V. Z IVILISATION : Ä GYPTEN ALS U RWELT UND »M ENSCHHEIT - ALS -G ANZES «
Ethnien und Religionen aufzuheben in der Lage ist. Aber Zweifel sind auch hier angebracht.55 Immer steht der Blick auf das lebendige Leben im Dilemma zwischen Idyllisierung und Verteufelung. Hier als lokale Tradition (d.h. das Suchen von Indikatoren der Authentizität für die potenzielle moderne Inklusion), dort als abweichende, retardierende Kulturpraxis. Letztendlich aber vermittelt sich »Abweichung« – wie am Beispiel Dubai sehen kann – doch nur als »gegenfügige« Praxis. Die Zeichen des potenziellen wirtschaftlichen Wachstums, der Bereicherung, der Maximierung und Selbstbestätigung werden so als neue »Kultur-« oder »ZivilisationsModelle« gepriesen, und – wie in solchen Appendizes der kapitalistischen Globalwirtschaft – über Indikatoren des Verhältnisses zum reinen strukturellen Machtkontext des Zentrums bewertet. Das Beispiel »Dubai« zeigt, dass sich die kulturellen Ausgleichs- und Vermittlungselemente nur dann einbringen und aufrechterhalten, wenn sie dem »Wachstum« dienen oder strategischen Sicherheitsgesichtspunkten genügen können und zugleich »nachhaltig«, d.h. auf Dauer gestellt scheinen. Unter diesem Aspekt ist es hilfreich, noch einmal deutlicher auf jene Zusammenhänge zu blicken, die den gesamten Komplex von Kultur und Macht in der globalen Moderne betreffen, denn hier werden andere Maßstäbe gesetzt. So sehr die alten, aus dem letzten Jahrhundert herübergekommenen Begriffe maßgebend bleiben, so sehr aber geht es nicht mehr um die alten Gegensätze von »Versöhnung« und »Bruch«, Körper und Geist, System und Lebenswelt: Leben und Körper werden selbst zu inneren, anerkannten und deshalb auch manipulierbaren Momenten strategischen Handelns und staatlicher Regulierung. Zwei Erfahrungsmomente des globalen Kulturwandels sind deshalb hervorzuheben: erstens der Wert des »nackten« Lebens in der als Ganzes erfahrenen Welt und zweitens die Bewertung des Menschen nicht nur unter den Gesichtspunkten seiner funktionalen Fähigkeiten, sondern auch unter dem Gesichtspunkt seiner charakterlichen Integrität: Vorstellungen über Schutz des Lebens als Ganzes (gute Gesellschaft) und über den »Charakter« des modernen Typs (guter Mensch) treten in Konkurrenz zueinander. Wer den »guten Menschen«, den Menschen »im Heil« will, dem mag die Vorstellung von der vollkommenen, der guten Gesellschaft wenig bedeuten.
55 | Einen reflektierten und vorsichtig kritischen Schritt in diese Richtung unternimmt Mona Abaza (2006) in ihrem Kairo-Buch.
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Der sich akzentuierende Begriff von der »Welt-als-Ganzes« tritt selbst gewissermaßen eigenlogisch als kulturelles Wirkungsmoment auf. Aus der Globalisierungstheorie von Roland Robertson (1992), der zuerst am entschiedensten das Problem der kulturell übergreifenden Perzeption der »Welt-als Ganzes« gesehen hat, ist zu lernen, dass die im 19. Jahrhundert voranschreitende Universalisierung der Grundbegriffe der westlichen Aufklärung zugleich auch die Folie für höchst partikularistische Ausarbeitungen in den lokalen Kulturen lieferte. So sind etwa der westliche, der nationalstaatliche Demokratiebegriff, der bürgerlich-wissenschaftliche Begriff von Religion, von Zivilisations- und Modulierungsprozessen unter konfigurativen Bedingungen des Zusammenspiels von modernem Staat und Gesellschaft auch in jene anti-westlichen Rekonstruktionen von post-kolonialer Kultur eingegangen, die ebenfalls auf »Authentizität« rekurrieren müssen. Die Umsetzung dieser Begriffe setzt letztlich aber einen Hybridisierungsprozess in Gang, der vor allem die Länder der nicht-westlichen Welt trifft. Ohne Zweifel wirken solche Rekonstruktionen von »Nation«, »Religion« und »authentischem Subjekt« auch wieder prägend auf die westliche Welt zurück. In Ländern der einmal so genannten »Dritten Welt« wird heute zunehmend erkannt, wie sehr sie selbst – von der Ägypten-Mission der Saint-Simonisten (von 1833 an) über Fanons Algerien (1960) bis hin zu Foucaults Ideenreportagen zur Islamischen Revolution im Iran (1978/79) – als Ideenlieferer für Gesellschaftsprojekte von Generationen von westlichen Intellektuellen dienten.56 Doch die sukzessiven, durchaus vom Westen beherrschten Austauschmechanismen haben mehr und mehr bewirkt, dass die Werte der kulturellen Anerkennung und Emanzipation auf die äußere Form von Werkzeugen – man denke nur an die vielfältigen Bedeutungen und Konnotationen des »Islam«, der »Freiheit«, der »Demokratie« – reduziert wurden. Es sind diese kulturtechnischen Momente der »Begriffe«, mit denen heute überall in der Welt Ordnungsprinzipien und Visionen sozialer und lebens-technischer Sicherheit in lokale Kulturen hinein gepresst 56 | Der britische Kulturwissenschaftler Mark Sedgwick (2004), lange Jahre selbst in Kairoer Sufi-Kreisen verankert, hat mit einer brillanten Studie über die Netzwerke, die sich um René Guénon (1886-1951) zwischen Ägypten, Nordafrika, Europa und Amerika in sufitischen und radikal »traditionalistischen« Zirkeln entwickelten, ein neues Feld transnationaler, globaler anti-modernistischer Bewegungen umrissen, das weiterer Erforschung harrt und sich sicher auch auf die feineren modernistischen Schulen der Gegenwart hin ausdehnen lässt.
V. Z IVILISATION : Ä GYPTEN ALS U RWELT UND »M ENSCHHEIT - ALS -G ANZES «
werden. Die Vorstellungen darüber, was die »richtige« Gesellschaft, Nation, Zivilisation etc. zu sein hat, und verändern sich dementsprechend ständig. Wenn man utopisch von »Weltgesellschaft« spricht, ergibt sich eine Problemlage von Kultur als globale Moderne, die sowohl von der Universalisierung als auch von der Partikularisierung von Kulturbegriffen geprägt ist. Was »Bürger«, »Nation«, »Religion«, überhaupt »Zivilisation« etc. sei, wird immer also zunächst immer auch auf »das Eigene« bezogen ausgedrückt. Einerseits vollzieht sich eben eine technische gezielte Reduktion westlicher Kulturbegriffe schon bei ihrem Export in die nicht-westliche Welt, andererseits vermittelt diese technische Applikation ein kulturelles Spannungsverhältnis im Innern post-kolonialer Gesellschaften: Der Imperativ der modernen Selbstbestimmung bewirkt das Paradox, dass die »Authentizität« lokaler Kulturgeschichte sich nur mit universellen Geltungsmustern behaupten lässt. Der von außen bestimmte Selbstbegriff der »eigenen« Kultur löst eine kulturelle Motorik aus, deren explosiver Charakter schwer zu verstehen ist.57 Umso größer sind im Kontext globaler »Gouvernementalität« Anstrengungen gefordert, die ersten Regungen neuer Bewegung schon im Kern unter Gesichtspunkten des geo-strategischen Wettbewerbs zu bewerten und in die Kontexte eingespielter und kontrollierbarer Netze zu lenken. In vielem zeigt sich, wie sehr das Feld »Islam und Wissenschaft« heute gerade diese Funktion übernimmt. Dabei sind die Bearbeitungen der Prinzipien und Visionen der lokalen Kulturgeschichte nur das Material, an dem die 57 | Ein schönes Beispiel hierfür ist der jüngst in Mode gekommene Begriff der »Identitätsgruppen«, ich erspare mir Ausführungen über den engen Zusammenhang vom Identitäts- mit dem modernen Subjektbegriff. Zu offensichtlich ist, dass Differenz-Marker wie »Religion« und »Ethnie« in den gegenwärtigen Szenarien sozialer Konflikte an Bestimmungskraft verloren haben. Die sublimen Partikularisierungsprozesse bedürfen nun neuer diskursiver und gouvernmentaler Besetzung »Identität«, so als sei dies immer schon das eigentliche Problem »gelebten« Lebens gewesen. Mit dem Begriff der Identität (»Identitätsgruppen«; »Identäts-Marker« etc.) wird ein für die Geschichte der westliche Selbstbestimmung zentraler Diskurs zum Problem der »Anderen« gemacht, ohne »sich selbst« in den Diskurs einbeziehen zu müssen. Es liegt hierin in der Tat das entscheidende »regierungstechnische« Element der Ethnologie. Für einen ersten Schritt der Kritik dieser Re-essentialisierung von ethnologischer Begrifflichkeit vgl. Bierschenks Aufsatz zum Fall »Zidane« (2009).
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neuen, die »fremden«, emanzipatorischen Werkzeuge arbeiten, ohne die Ideen dieser Geschichte je auslöschen oder aus dem sozialen Gedächtnis verbannen zu können, oder sie kulturkreativ anwenden und verändern zu können. So ist denn die Vorstellung dessen, was »Islam« sei, durch die Ausbreitung der Moderne im 19. Jahrhundert sowie durch die reflexive Aneignung westlicher Gerechtigkeits- und Rechtsvorstellungen und Verwaltungsnormen selbst erst in Ansätze eines institutionalisierten Kultur- und Religionsverständnisses überführt worden. Was »Islam« heute ist, ist auch ein Ergebnis des modernen Kulturaustauschs. Die Geschichte des europäischen Denkens über Islam ist hier wirksam geworden. Man erkennt heute, dass es nicht mehr um ungebrochene islamische Kontinuitäten (oder um innere Rationalisierungen religiöser Ideen) geht, auch nicht um die bloße Durchsetzung des modernen Europas. Es ist die technische Wirkung von Kultur etwa über die Verallgemeinerung der Gleichheitsidee, der progressistischen Ideen von Wissenschaft und Industrie zum Beispiel, die den Drang zur kulturellen Anerkennung hervorrufen und eine neue, explosive Kulturentwicklung in Gang setzen. Sie führte zur zwanghaften, kontinuierlichen Ausarbeitung alternativer Varianten, höchst partikularistischer, modern-strategischer (und zugleich modernitätskritischer) Adaptionen des Islams quasi als moderne Selbstbestimmungen aus dem Repertoire der Geschichte. Die »Perversionen«, die solch technische Umsetzung etwa der »Islam«-Konzepte hervorrief und weiterhin unerschütterlich hervorruft, reichen tief in den Konstitutionsprozess lokaler Gesellschaft hinaus. Es ist ja an sich ein sehr lobenswertes Unterfangen, wenn man auch heute noch ein altes Anliegen der aufgeklärten Islamwissenschaft weiterverfolgt und etwa das Bewusstsein für rationalistische Denkschulen im Islam (wie die Mu´tazila, die bereits im 11. Jahrhundert mundtot gemacht wurde) über Lehrstühle wieder in die heutige Islamwissenschaft und auch in die islamische Theologie einbringen will; die Hoffnung aber, dass dies an den technisierten Differenzbildungen etwas ändern könnte, grenzt an Naivität. Und doch – so müsste man sagen – bleibt kein anderer als der einmal eingeschlagene Weg. Ein ambivalenter, von Nietzsche kulturkritisch vorgeprägter Begriff ist der des »Ressentiments«. Für den modernen zivilisationstheoretischen Diskurs, ja, das Selbstverständnis der Moderne selbst, hat er durch die Betrachtungen von Max Weber, Karl Jaspers und Max Scheler an Bedeutung gewonnen. »Ressentiment« ist also Teil des Diskurses über den »Typ«
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des modernen »Selbstbegriffs«, kulturelle Affirmation des durch »Neid« gegründeten Unheils. Man muss es betonen: Es handelt sich dabei um eine weltumfassende Kulturtechnik; nicht- oder anti-moderne Prinzipien und Wertorientierungen sind einbegriffen. Eine grundsätzliche Frage der modernen Grenz- und Differenzbestimmungen berührt dabei diejenige nach den in den unterschiedlichen Weltreligionen und Lokalkulturen geprägten Formen kultureller Affirmation des »Einzelnen«, der sich vor allem sowohl auf institutionelle als auch auf ganz subjektive Prinzipien und Praktiken der Selbstversicherung bezieht. Um ein Beispiel zu nennen, Affektmodulationen, die Norbert Elias noch als allgemeine Bedingung des »Prozess der Zivilisation« bestimmte, gehören nicht in allen Kulturen zum Repertoire der Wertorientierungen und Prinzipen, jedenfalls nicht in der von Elias beschriebenen imperativen Form. Es ergeben sich von daher auch möglicherweise keineswegs überall evolutionär gleichlaufende Konfigurationen von Sozio- und Psychogenese in »Zivilisationsprozessen«. In der konventionellen Zivilisationstheorie wurden Islam und Christentum häufig genug als Antipoden gezeichnet: Hier die auf dem Bild des sich selbst opfernden Jesu beruhende Vorstellung des reflexiven und differenzierenden »Hiatus« der abendländischen Kultur; dort die Vorstellung des Staatsgründers Muhammad und einer auf Gottes-Unmittelbarkeit, Beute, Krieger-Ethik und konsumtiver Heilsgewissheit beruhenden Form der Weltaneignung. Darüber hinaus läuft auch die Entwicklungsgeschichte des Selbstbegriffs der westlichen Moderne durchaus nicht teleologisch und eindimensional ab. So basierte etwa Nietzsches Kritik an der Entwicklung der abendländischen Moderne – ich habe darauf vielfach hingewiesen – auf der Einsicht, dass im Pathos des christlichen Priesters sich ein, seinem Objekt gegenüber desinteressiertes, allgemein gewordenes Ressentiment durchgesetzt habe. Es ist also danach die Einsicht, dass das sich in Bürokratie und Wissenschaft und mit zunehmender funktionaler Differenzierung verallgemeinernde Desinteresse, das im Blick fürs »Allgemeine« sich vermindernde Potenzial lebendiger Erfahrung, die Nietzsches Begriff der »Décadence« beherrscht. Ihm galt »Ressentiment« als das im Abendland vorherrschende Kulturwerkzeug des erkennenden, durch Zweifel aus der konkreten Erfahrung heraustretenden und damit »sich selbst« rettenden Subjekts. Er leitet das Ressentiment von einem »falschen«, auf Selbstopfer gestellten, christlichen Liebesbegriff her. Die vielfältigen, auf Nietzsche Kulturkritik reagierenden Affirmationen der Moderne, am deutlichsten bei Max Weber
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und Karl Jaspers, stellen dagegen die eigene Geworfenheit des modernen Subjekts als einen kontinuierlichen Prozess der Erkenntniserweiterung und der methodischen Anpassung an die konkrete Erfahrung heraus – im instrumentellen wie im symbolischen Sinne. Gegen die nihilistische Anfälligkeit wird der autonome Charakter des modernen Subjekts betont. Das Paradox ist auch hier, wenn man – wie heute häufig – das »Muhammad«Bild als das ressentimentfreie »eigener« Kulturaffirmation setzt, wird man eben doch dem modernen Spiel des Ressentiments nicht entrinnen. Mit dem Begriff des »Ressentiments« tritt zugleich auch der »gouvernementale« Aspekt in den Vordergrund: Man unterstellt gerne den auf Deprivierung reagierenden Gruppen der Marginalität in Armut (»Fundamentalisten«, »Identitätsgruppen« etc.) das »Ressentiment der Habenichtse«, fast möchte man behaupten, die legitime ökonomische Frage nach der Deprivierung großer Teile der nationalen Bevölkerung wird so zur illegitimen kulturellen Frage der »niederen Instinkte« der »Anderen« verklärt.58 Wollte man mit Blick auf die deprivierte Bevölkerungsmehrheit (womit ich das Heer der Analphabeten, Tagelöhner, Straßenhändler, Gelegenheitswirtschafter, Kleinstbauern etc. meine) vom »Ressentiment der Vorstellung des Nichtdazugehörens« (zur modernen Kultur der Eliten), also vom Ressentiment der »Habenichtse« sprechen, so verfährt man so ähnlich wie mit den Muhammad-Bild: Affirmation scheinbar ressentimentfreier Kultur, jetzt eben nur die der Eliten, die ja im Dienst des »Allgemeinen« der sozialer Entwicklung stehen. Die Konsequenz ist ein unzeitgemäßer Überallesstaat (nebst seinen inneren Kirchen), die unter den gegenwärtigen geo-strategischen Bedingungen unterhalten werden müssen, damit die »Nichtdazugehörenden« dazugehörig gemacht werden können. Die Momente der sozialen und kulturellen Desintegration werden überspielt, beständig drohende Auflösung verhindert. Das Spiel mit dem »Ressentiment« der Anderen wird hier regierungstechnisch »funktional«. Das Paradox ist, dass der moderne Staat so zu einer »ernsten« Form der Erhaltung der einmal eingepflanzten kulturellen »Versteinerung« wird. Einerseits stehen moderne Partizipation und die Formen der Anerkennung und Subjektbildung jedem negativen 58 | Es wäre vielleicht ein Schritt zu schnell getan, wenn man Nietzsche völlig von dieser Reversion des »Selbstbegriffs« ausschließen möchte, hat er doch durch seine Zuordnungen zu »Sklavenmoral« und »Herdenmensch« der eigentlichen Stoßrichtung seiner »Kritik« auch wieder die Brisanz genommen.
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Begriff etwa des »Nichtdazugehörens« entgegen, andererseits treten die wirklichen Probleme der strukturellen Armut aus dem Bild. Von den Deprivationen des »Nichtdazugehörens« will niemand mehr sprechen. Die Kultur der gelebten Praxis kann nur als Idylle überleben. Oder doch auch als produktives Moment des sozialen Prozesses: »Staat« und »Staatskirche« werden doch auch verlacht, doppeldeutig verhöhnt und insgesamt, wenn nötig und möglich, einfach übergangen. Draußen aber und »gleichzeitig« wird paradoxerweise die tradierte (versteinerte und »funktionale«) Kulturgestaltung zum Gegenstand äußerer, fremder Kulturbedürfnisse (Sonnenmenschenkult; Massenparadies; Ganzheitsstil) des musealen, modernen Geschmacks. Eine umgekehrte Form des Ressentiments des »Nichtdazugehörens« schlägt sich als »fremdstämmiges« elitäres Herrschaftsmoment (im Sinne Nietzsches als das Ressentiment der allgemein Hinblickenden, der Desinteressés) »schöpferisch« um,59 und behauptet sich als funktionale Differenzhaltung gegenüber dem ganzen menschlichen Sonnenglück etc. Sicher wäre das eine unzeitgemäße Betrachtung, ist sie deshalb aber weniger realistisch? Denker der nicht-westlichen Welt haben auf die inner-abendländische Dialektik von Kritik und Affirmation der Moderne reagiert und die Prinzipien und Praktiken der lokalen und religiösen Kultur in den Begriffen dieser Dialektik neu gedeutet. Das Spektrum der Deutungen reicht von rationalistischer bis zu lebensphilosophischen Umdeutung lokaler und religiöser Traditionen. Der Islam wurde so auch zu einem modernen Programm des Anti-Nihilismus. Iqbal für Pakistan, Shari’ati für den Iran, alAttas für Malaysia, Qutb für Ägypten stehen für einen produktiven islamischen Symbolismus ein, der sich als Abwehr des »guten Menschen« gegen den vom Ressentiment Gezeichneten abheben will. Trotz ihres – gleichermaßen vom Zeichen des Ressentiments geprägten – islamischen Moder-
59 | Ich denke dabei natürlich auch an so durchaus interessante Projekte wie jene, die Feldaufenthalte für deutsche Modedesign-Studenten unter Beduinen des Sinai organisieren und im Sinne der »Entwicklungshilfe« etwa den Beduinenfrauen bei der Gestaltung und Vermarktung ihrer »Mode« helfen, nun also das gewissermaßen auf internationaler Basis fortzusetzen, was Shahira Mahris u.a. bei der Gründung eines ägyptischen Ethno-Marktes schon in den 1970er Jahren begonnen hatte: ein Unternehmen, dessen Früchte man in den Boutiquen der internationalen Hotels genießen kann.
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nismus werden ihre Programme und Ideen lebendig bleiben. Moderne ist heute überall auf der Welt affirmative Kultur. Shmuel N. Eisenstadt – der zwischen Chicago, Heidelberg und Jerusalem wandelnde israelische Zivilisationstheoretiker – hat wohl auch aus dieser Einsicht heraus den Begriff der »multiplen Modernitäten« entwickelt. Was hat man damit gewonnen? Man hat damit einen kulturtechnischen Universalismus der Moderne benannt, weist den Kulturen Parameter zu, die einen modernen Selbstbegriff der »eigenen« Kultur unter dem Gesichtspunkt einer von religiösen Haltungen bestimmten Strukturentwicklung ermöglichen sollen. Die Voraussetzungen, unter denen Subjekte unterschiedlicher Kulturen unter Bedingungen der Moderne miteinander kommunizieren können, bleiben ausgeklammert, die politische Kultur der Differenz, die so gepflegt wird, bleibt so einseitig am »Eigenen« der Dogmen- und Prinzipien-definierten Staatsorthodoxien hängen. An dem Lebenschaos der ägyptischen Gesellschaft müssen solche Begriffe brechen: Ägypten stellt für »Kultur und Macht« (Eisenstadt 2006) insofern eine Herausforderung dar, als man hier von »Ohnmacht als Kultur« sprechen müsste, und gerade darin, wenn man die »Zivilisationsfrage« entnationalisierte, könnte man das frohe, das leichte, das vielleicht sogar produktive Moment der ägyptischen Herausforderung der Moderne sehen. Es steht eben auch gegen die ernste Rhetorik moderner Machtkultur. Das Forschungsfeld, das Foucault – nicht weniger »ernst« – eröffnete, hat allerdings eben auch zumindest jene Blickerweiterung für die subjektive Kultur des »Einzelnen« und des »nackten Lebens«, unter der die Lebensbedingungen und kulturellen Haltungen in den Massen- und Armutskulturen erfassbar werden. Foucaults Analysen, wie etwa in Wahnsinn und Gesellschaft, Geburt der Klinik und Überwachen und Strafen, handeln nicht von politischer Macht oder Macht-Strukturen im konventionellen Sinne. Aber auch Max Webers späte genealogische Studien des modernen Berufsmenschentums sind – der Einsicht Wilhelm Hennis folgend – nicht auf idealtypische Funktionstrennungen von Strukturen und Institutionen und Lebenshaltung ausgelegt, es geht um den »modernen« Typ als Charakter. In der Tat ging es beiden, Foucault wie Weber, darum zu zeigen, wie sehr bestimmte Kulturprägungen, Lebenshaltungen und Haltungen zur Welt Machtprägungen nicht nur einfach beinhalten, sondern selbst es sind. Daran könnte sich das »leichte« Spiel erst entwickeln, das den gegenwärtigen Massenkulturaustausch kennzeichnet.
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Es war Max Weber, der, von Nietzsche beeinflusst, die religiösen Grundlagen des neuen Typs der Moderne problematisiert. Für Michel Foucault standen die subjektiven Kulturen des »Einzelnen« und die intersubjektiven Austausch-Prozesse über Lebensordnung im Zentrum. Eisenstadt, seit seiner Auseinandersetzung mit dem modernen Fundamentalismus, hebt das machtvolle Umsetzten von religiös orientierten/bedingten Traditionen und Prinzipien hervor. Ein Kulturbegriff aber, der Armut, Unterdrückung und Ausbeutung und Marginalisierung nur noch gewissermaßen als ressentimentgeladene, religiöse Bewegungen verstehen kann, wird sich schlecht noch über die sachlichen Mechanismen von »Ausbeutung« etc. verstehen wollen. Am deutlichsten werden die Grenzen von Eisenstadts Ansatz klar, wenn er von den »islamischen Gesellschaften« spricht. Das historisch sich wandelnde, aber im »Islam« immer als grundsätzlich getrennt dargestellte Verhältnis zwischen vom Herrscher kontrollierten Institutionen öffentlicher Ordnung und Elementen der Orientierungen zivilgesellschaftlicher Gruppen – auch hierin trifft »Zivilisationsvergleich« Ägypten nicht – entspricht dem Bild, das Sesshaftigkeit und Nomadismus gegenüberstellt und eine Wandlungsdynamik des ewig Gleichen bezeichnet, den alten, mittelalterlichen Ibn Khaldun’schen Kreislauf bestätigt. Die Hypermodernität eines Landes wie »Ägypten« bricht an diesem Paradigma, das zu einer bloßen Bestätigung von »essenziellen« bio-sozialen historischen Prozessen wird. Die Subjekt-Perspektive Foucaults setzt dagegen die »Wahrheit des Selbst« als den Ort der Gesellschaft. Wenn nun also das singuläre Phänomen des »Selbst« und seine eruptiven Wahrheiten als Wandel-initiierende Grenzsituationen zwischen »Staat und Gesellschaft« angesprochen werden können, dann müsste es auch in Ägypten eine »Subjekt-Politik« geben. Es gibt sie, und alles was wir in den letzten dreißig Jahren als »Islam-Politik« gesehen haben, ist öffentliche »Subjekt-Politik« des Staates, wenn der diese auch nicht mehr »planen« kann. Es sind heute nicht einfach nur der Staat und die Religionen, die »Subjekt-Politik« betreiben, das verkörperlichte »Subjekt« ist in seiner Vermassung selbst der Inbegriff der modernen Kultur – der materiellen wie der ideellen. Die Massenkultur setzt ein neues Paradox zwischen individueller Bedürfnisbefreiung (auch der geistigen und spirituellen) und Unterdrückung durch ihre – »schamlose« – Kollektivität voraus, und darin wird die Ambivalenz des westlichen Individualismus besonders deutlich. Es ist dies die offen machtstrategische, universelle Dimension des Individualismus,
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der sich heute jede Religion und Politik zu unterwerfen haben. Und gerade an dieser Stelle wäre anzufragen, ob denn die politischen Theologisierungen des Wertediskurses, die sich in Eisenstadts Vergleichsmodellen hinterrücks wieder einfügen, überhaupt aus diesem Dilemma der sich globalisierenden Massengesellschaft herausführen und Vergleich noch möglich machen (Denn die religiösen Grundsatz-Paragrafen der neuen irakischen Verfassung können unmöglich noch dem beschriebenen Kontext der »islamischen Gesellschaften« geschuldet sein!). Wollte man nun »Welt-als-Ganzes« im Kontext dieser Dynamik verifizieren, so wäre diese als sachlogisches Entwicklungsmodell gegenwärtiger lokaler Gesellschaften und »Ägypten« ein Realfall dieses Modells. Das ist es allerdings insofern nicht, als hier weder die »Eliten« noch die »marginalisierten Massen« Verfügungsmacht über die Leitprinzipien haben. Was »religiöse Macht« und was »säkulare Macht« zu sein hat, wird hier keineswegs in einem inhärenten Austauschprozess zwischen Heterodoxismus und Orthodoxie bestimmt, sondern durch einen immer weiter ausufernden Apparat »wissenschaftlicher« Definitionen, was »Islam« sei und was nicht. Gerade darin liegt die potenzielle Nichtverfügbarkeit und Unsteuerbarkeit von »Kultur« im Zeichen der Globalisierung. So wird das Steuerproblem auf die Voraussetzung absoluter, d.h. militärischer Macht verlagert, denn es ist die Letztere, nicht die »religiöse Nation«, die einen Begriff von »Nation« hier noch ermöglicht. Das gilt heute im internationalen Kulturkampfspiel für alle Nationalstaaten, nicht nur für Ägypten. Dieses zu vergessen, hieße die Bedingungen vergessen, unter denen die Protagonisten dieses Kampfes antreten. Kulturvergleich, Kulturkampf, Kulturmacht sind hier nur ideologische Varianten, die den fortbestehenden Kontext von »Nation« und »Staat« vergessen machen (sollen). Hier wird und bleibt »Macht« wieder das, was sie bei Weber schon war, ein säkularer, sachlicher Mechanismus der Durchsetzung von Herrschaft und legitimer Ordnung und »politische Theologie«, die aus dem Legitimitätsproblem hervorstechende Aporie der Durchsetzung dieses Mechanismus. So denn, unter den Prämissen dieses Zielmodells, sind die weiteren großen Konflikte der gegenwärtigen Ordnungskrise vorgeprägt: Iran ist die erste Kehrseite dieses Prozesses, Ägypten, Pakistan, Bangladesch, Indien etc. etc. warten auf ihre »Erlösung«. Mir scheint dagegen notwendig, an der Perspektive festzuhalten, die Diskurse, Techniken und Praktiken der kulturellen Selbstaffirmation als eigenständige Austauschmuster bezeichnet. Diese selbst sind zum Gegen-
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stand der Analyse zu machen. Religiöse Orientierungen und Visionen können so nicht von vorne herein in starre Muster hineinpresst werden, sie sind im Kontext der Anwendung im kulturellen Austausch zu betrachten. Damit rückt das interkulturell virulente Problem der unterschiedlichen Strategien der Subjektivierung in den Fokus: unterschiedliche Formen der Authentizität – die Verbindung von materiellen und ideellen Aneignungen von »Geschichte« hervorhebend –, das sind Beobachtungsfelder und -muster, die Dekonstruktion des gehandelten »Essentialismus« ermöglichen. Nur so können die impliziten Wertsetzungen, Selbstverständnisse und Weltauffassungen im Zusammenhang mit den religiös-politischen Authentizitätsdiskursen und modernen Selbstverständnissen analysiert werden. Der monolithische Zivilisationsdiskurs hält dagegen für die Frage nach der globalen Moderne insofern keine Lösungen bereit, als er statisch an den monumentalen Begriffen wie Nation, Religion etc. festhält. Er verschleiert, worum es ihm geht, setzt allgemein »Struktur« und »Macht«, wo es ihm um Prinzipien des »Eigenen« geht, die er zugleich universell umgesetzt haben will. In der Tat ist hier auch die »unheimliche Macht« (Freud) im Spiel, die im Essentialismus der »Zivilisation« ankert, aber es geht gerade darum, das Spiel damit bloß zu legen. Die eigentlichen »Spielfelder« der globalen Moderne, die im Körper- und Visions-Kontakt der transnationalen Massenkonsumkultur ankern, werden im Zivilisationsdiskurs noch immer ausgelagert. 2 Moderne Weltaneignungen: An dem oben konstatierten »kommunikativen« Defizit des Ansatzes der multiple modernities wird auch deutlich, wie sehr der Blick zurück auf die Annahmen und Grundlagen, zurück auf den »Ursprung« der westlichen Moderne gerichtet wird. Aber auch wenn von modernem Kulturaustausch produktiv gesprochen werden soll, ist der Rückblick auf die hier gesetzten Parameter des Kulturvergleichs erforderlich. Ursprung und Zeitpunkt rationalistischer Haltungen zur Welt und der damit einhergehenden schrittweisen Bändigung des magischen Weltbildes spielen eine entscheidende Rolle im Bestimmungsprozess des modernen Selbstverständnisses. Die erste umfassende Theorie über den Durchbruch intellektualistischer Begründungen von Weltordnung – sie reagiert implizit auf Nietzsches ambivalente Kritik des priesterlichen Pathos – wird heute wieder mit großen Anstrengungen diskutiert: die Achsenzeittheorie
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der Geschichtsphilosophen Karl Jaspers, und nachfolgend Eric Voegelin und Leo Strauss. Es ist hier nicht der Ort, diese Theorie und ihre Folgewirkungen in extenso zu diskutieren. Sie bildet die Folie für eine Denkfigur, die sich gegen das vor allem in der herkömmlichen Soziologie weit verbreitete Bild von der homogenen, universellen Gleichzeitigkeit der Moderne durchzusetzen scheint: Um Shmuel N. Eisenstadts Theorem der »multiplen Modernitäten« herum entwickelt sich die Vorstellung, dass die Modernitätsentwicklungen sich in den Kulturen der nicht-westlichen Welt diversifiziert haben. Eisenstadt erkennt, dass die in der Achsenzeit entwickelten Spannungen zwischen der Erfahrung weltlicher und transzendentaler Ordnung den hohen Grad der Autonomie der kulturellen, symbolischen und politischen Systeme bedingen, durch den moderne Gesellschaften gekennzeichnet sind. Die Achsenzeit stellt gegenüber den alt-orientalischen, kosmologischen Kulturen Mesopotamiens und Ägyptens einen universalhistorischen Durchbruch Griechenlands und Israels heraus, in dem der intellektuell begabte Mensch zum Subjekt seiner eigenen Geschichte wird. Die historia sacra (unter dem einen Gott) Israels und die Freiheiten der Selbst-Reflexion in Philosophie und Wissenschaft der Griechen sind also auch Voraussetzungen der Autonomisierung des modernen Subjekts. Im Zentrum dieser Autonomisierung steht die Spannung zwischen Bruch und Kontinuität oder das gegen eine vor-axiale monolithische Kulturverfassung sich als gleichbedeutendes und erstmals dialektisch zu verstehendes Verhältnis zwischen Ordnung erhaltenden und Ordnung transformierenden Dynamiken, zwischen »König« und »Prophet«, zwischen Staat und Kirche, zwischen Orthodoxie und Heterodoxie. Wie immer man die unterschiedlichen Gewichtungen liest, die Karl Jaspers, aber auch schon Alfred Weber und später Voegelin, den einzelnen alten Hochkulturen bei diesem intellektuellen Durchbruch verleihen, dem Islam kommt in diesem Schema eine – kaum explizierte, weil weitgehend negierte – Sonderstellung zu. Die herkömmliche Vorstellung ist, im Islam seien das Heilige und Profane, »Staat und Kirche«, Recht und Religion wenig differenziert, eine Differenzierung, die die Moderne quasi eo ipso für sich in Anspruch nimmt. Darüber hinaus erscheint der Islam, sowohl zeitlich als auch räumlich, sowohl religiös als auch politisch herauszufallen, als eine zwar monotheistische, jedoch verspätete Achsenzeitkultur, die zudem im Mittelmeerraum selbst Platz griff. Und immer wieder wird dabei das Originäre dieser »Offenbarung« insofern relativiert, als auf Kulturmischung und Entlehnung hingewiesen wird. In dieser eigentümlichen zivi-
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lisatorischen Dynamik, verhärtet in der Differenzierung Orient/Okzident, gerät »Islam« zur Negativfolie des universalistisch verstandenen okzidentalen Rationalismus. Auch darin verliert der Islam axiale Kraft, dass ihm im Mischen und Entlehnen gewissermaßen die Überlieferung des »falschen« Originals der Antike unterstellt wird. Schon die ersten modernen Islamwissenschaftler (Goldziher, Becker) richteten ihr Augenmerk auf die vielfältigen Erscheinungen, die sich auf den Transport, die Transposition (oder in Anlehnung an Jan Assmanns »Übersetzung«), ja die spirituelle Erneuerung alt-orientalischer Vorstellungen und Praktiken im Islam beziehen. Gerade unter dem Aspekt dieser Bindung scheint es, dass der Islam aus dem allgemeinen Muster des Achsenzeit-Durchbruchs herauszufallen droht. Man darf unterstellen, dass auch aus der Sicht des Islams selbst das herkömmliche Paradigma der Achsenzeit-Kultur als westlicher Begründungs-Mythos gilt. Die achsenzeitlichen Parameter dürften als ungeeignet erscheinen, die besonderen Prinzipien und Visionen der alt-orientalischen Tiefe und auch die Besonderheiten der im Islam (wie gesagt: als modernes Prinzip) durchaus zu Tage tretenden achsenzeitlichen Brüche einzufangen. Die Achsenzeit-Perspektive führt noch zu weiterführenden TheorieProblemen: Jaspers beschreibt die Entwicklungen der nach-axialen Geschichte einerseits für jeden Zivilisations-Komplex als bezogen auf sich selbst als bindend, d.h. als Regionen und Traditionen mit periodischer Rückkehr zu den Ursprüngen. Andererseits behauptet er die übergeordnete, allumfassende Kraft des Achsenzeitdurchbruchs so, als wären alle drei axialen Regionen, der Mittelmeerraum und Europa mit dem christlich-römischen Reich sowie Indien und China, mit den gleichen Ordnungsproblemen befasst. Jaspers geht jedoch an zwei grundlegenden Problemen vorbei: Erstens werden die Muster der historischen Erfahrungen in jeder einzelnen der Achsenzeit-Kulturen nicht in Hinsicht auf ihre unterschiedlichen Potenziale für die Diversifizierung der modernen Welt hinterfragt. Doch wäre hier auch, was Eisenstadt tut, die Frage nach den Globalisierungsmöglichkeiten jedes einzelnen Zivilisationskomplexes anzuschließen. Zweitens geraten die kulturübergreifenden Interaktionen, die nach den Durchbrüchen der Achsenzeit komplexer und intensiver wurden und heute einem Zustand entgrenzter und weiter entgrenzender Kommunikation unterliegen, kaum ins Blickfeld der Perspektive.
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In diesem Sinne böte eine nähere exemplarische Betrachtung unterschiedlicher, regionaler und diskursiver Blöcke der islamischen Kultur die Möglichkeit, die Theorie der Achsenzeit insgesamt zu hinterfragen. Insbesondere müsste man die Analyse abstellen auf die beiden offenen Fragen nach den Modernitätspotenzialen und nach den Globlisierungspotenzialen. Dabei wäre aber auch die aus der Achsenzeit-Theorie hervorgehende Vorstellung einer universalhistorisch angelegten westlichen Moderne kritisch und genealogisch zu befragen. »Ägypten« wäre auch hier eine Herausforderung.60 In den lokalen islamischen Diskursen handelt es sich heute um Wertsetzungen, mittels derer sich so etwas wie westliche Modernität selbst überhaupt erst in diachroner wie in synchroner Perspektive profilierte und profiliert. In diesem Kontext bilden zentrale semantische Unterscheidungen, wie Vernunft/Sinnlichkeit, Institution/Unmittelbarkeit, Aufklärung/ Tradition, aber auch Gesellschaft/Gemeinschaft, ratio/eros und Okzident/ Orient etc. eigentümliche Konstruktionen neuzeitlicher, islamischer Authentizität. Doch ist durch den Verweis auf die für die westliche Kulturwelt konstitutiven Wertsetzungsmechanismen die ontologische Frage nach den inneren und rekursiven Techniken und Prinzipien der islamischen Kultur nicht aus der Welt geschafft. Die Rede von den unterschiedlichen Formen der Selbstaffirmation verweist auch auf Wege der Selbstdefinition/ Selbstbestimmung nicht nur des westlichen Subjektes, sondern auch auf Tradition und Dogma, mehr noch auf die islamisch geprägten, lokal bestimmten Formen der Selbstkonstitution. Allein schon die Frage nach Selbstaffirmation kann Subjektivierungstrategien auslösen beziehungsweise in die jeweiligen Kulturen herein interpretieren. Gleichwohl können wir von der Frage nicht absehen, welche Formen und Strategien denn das »Nichtwestliche« ausmachen. Schon im frühislamischen Entwicklungsprozess gehört der Bezug zu unmittelbaren Grenz- und Interaktionszivilisationen, eben nicht nur Judentum und Christentum, sondern auch Perser und Ägypter, als »Bestand« im Raum. 60 | Versuche in diese Richtung wurden in einer KWI-Studiengruppe in Essen, 2003-06, unternommen (vgl. Arnason, Salvatore, Stauth 2006). Wollte man nach den von Jaspers gesetzten Parametern verfahren, wäre man allein schon durch die begriffliche Bindung der Jaspers-These an protestantische Theologie zum Scheitern verurteilt.
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3 »Ägypten« – die anti-westliche Grundressource: »Ägypten« fällt weitgehend aus dem Grunddiskurs über die rationalistischen Grundlagen des europäischen Geistes heraus. Ob man nun »Athen« oder »Jerusalem« oder wie im Falle von Leo Strauss’ Maimonides und das »stille« muslimische Verstehen der griechischen Philosophie, das frühe islamische Wanken zwischen Esoterik und Fundierung einer neuen gegen-christlichen Orthodoxie, heranzieht oder nicht,61 Ägypten kann schwerlich nur am religiösen »Vernunft«-Diskurs gemessen werden. Man mag ja den Gott oder die Götter der alten Ägypter mögen oder nicht, dass sie in einem ganz »totalen« Sinne die Welt-als-Ganzes umspannten, im Kleinen wie im Großen, im Vielen wie im Einzelnen, im Guten wie im Bösen, und dabei so ganz, so allumfassend die Welt dem Gottesstil unterwarfen, das mag gerade der Gegenstand des Ressentiments der sich im Dialog mit dem »Pharao« bildenden, ja still aus ihm herleitenden Offenbarungsreligionen sein, nichts wird hier mehr bewusst – vor allem wenn man den »Offenbarungsbegriff« ernst meint – als dass Zeichen und Bild, Stil und Ritus, »Welt« auf umfassendere Weise zu ordnen in der Lage waren, als die auf das strenge Wort sich beschränkende »Offenbarung«. Es ist von daher nicht sehr verwunderlich, dass der unterlegene Christenfürst der Ägypter, Cyrus, der ägyptische Patriarch und Muqauqas, eigentlich hilflos dem »Wort« gegenüberstand, das der Eroberer, der schwarze »Offizier« der Muslime ´Ubaida b. as-Samit ihm entgegensetzte. Hilflos war Cyrus, deshalb, weil er die Niederlage gar nicht erfassen konnte, dass das »Wort« plötzlich weltliche Macht haben sollte und über die bildlichen, symbolischen, architektonischen Formungen der Welt, die ihm, dem Patriarchen, »geoffenbart« unterstand, über die er herrschte, ein banales, direktes »Wort«, das selbst Offenbarung erheischt, so machtvoll und andererseits auch »total« sein kann. Neben dem Allahu akbar warf ´Ubaida, der Schwarzafrikaner, der sie Muslime anführte, dem Christen61 | Rémi Brague, der katholische Philosoph des »neuen« Europa, hat in einem 1998 erschienen Aufsatz zu »Athens, Jerusalm, Mecca« über Leo Strauss’s Muslim-Interpretation der Griechischen Philosophie darauf hingewiesen, dass Strauss, basierend auf der Entdeckung einer esoterischen Interpretation Platons in Mecca, davon ausging, dass das unterdrückt esoterische Behandeln von Plato dort, wo sich die Wege von Jerusalem und Athen kreuzten, in Mekka eben, allein schon zeigt, wie sehr dort die muslimische Offenbarungsvorstellung erst in Opposition zur christlichen entwickelt (vgl. Brague 1998).
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fürsten, der mit einem Schwarzen nicht verhandeln wollte, ein paar Sätze entgegen, die ihn schnell gefügig machen sollten: »Es gibt Tausende Schwarze, so schwarz wie ich selbst, unter unseren Genossen. Ich selbst und diese alle wären bereit, jeder alleine es mit hundert Feinden aufzunehmen und sie niederzukämpfen. Wir leben nur als Kämpfer für Gott, und um seinem Willen zu folgen. Wir kümmern uns nicht um Reichtum, wenn wir nur überhaupt unserem Hunger widerstehen, und unsere Körper bekleiden können. Diese Welt ist nicht die unsere, die Nächste Welt ist alles.« (Butler 1978: 257)62 Diese Sprache zielte direkt in die Wunden, welche die inneren Dispute der christlichen Gemeinden in Ägypten hinterließen. Hier wird der »Bruch« deutlich und das geoffenbarte Wort öffnet den gefestigten Blick in die Zukunft und gewann so an Eigenkraft gegenüber der auf Tradition und gesättigter Macht gebauten Regierung des Muqauqas. Es ist aber auch die Sprache, die zunächst ganz äußerlich und doch auf tiefgreifende Umwälzungen drängend, bis heute den Diskurs über Religion und Politik beherrscht, und seit der mit der islamischen Revolution einsetzenden und mit dem Ende der Kommunistischen Herrschaft besiegelten Wende des globalen Machtdiskurses eine neue Belebung erfährt. Es ist bemerkenswert, wie stark der frühe Islam als »Erlösungsbewegung« in der Auseinandersetzung mit Ägypten vornehmlich eine auf militärische Sprache der Macht gegründete Offenbarungslogik der einfachsten Art umsetzt und sich dabei aller theologischen und intellektuellen Zweifel entzieht. Man kann in diesem Kontext Fowdens Vorstellung von einem »Regenschirm-Regime« durchaus folgen.63 Gerade weil hier der historische Rückbezug im Christentum noch so tief auf dem »Pharaonismus« ruhte, war das möglich. Andererseits blieben auch unter dem Islam die biblischen Geschichten in Kraft, sie fanden dann in frühislamischer Zeit noch lange praktische öffentliche Verbreitung, voll durchsetzt mit symbo62 | Vgl. hierzu insgesamt meinen Aufsatz »´Abdallah b. Salam: Egypt, Late Antiquity and Islamic Sainthood« in: Arnason/Salvatore/Stauth (2006:158-189, insbesondere S. 163-166). 63 | »Islam offered not just an umbrella political regime which protected all those who acknowledged a revealed scripture, but also a strictly monotheist doctrine of God which gave renewed energy to discussions seemingly stalled for ever in the hardened ruts of the Christianological controversies.« (Fowden 2005: 10)
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lischem und metaphorischem Material aus dem »magischen« Ägypten. Selbst in der islamischen Frühzeit und unter dem Schirm der islamischen Militärherrschaft florierte neben den Moscheen eine von öffentlichen Erzählern beherrschte »Volkskultur«. Die mit magischem pharaonischem Bildmaterial angereicherten Prophetengeschichten, Qisas al-Anbiyâ, wurden in einer parallelen islamischen Volksöffentlichkeit präsentiert. Diese Erzählpraxis drohte oft dem offiziellen Ritus den Rang streitig zu machen, handelte es sich doch um eine Kontinuität des Volksritus und der alt-ägyptischen »Bildsprache«. Weit in das Mittelalter hinein reichten diese pharaonischen Topoi – gerade als »israelitische« Tradition im Islam – und beherrschen die Öffentlichkeit bis sie schrittweise durch die Freitags-Predigten, das öffentliche Gebet und das Versammeln in der Moschee (majlis) abgelöst wurden. Wie oben bereits in Kapitel IV angedeutet, leben diese Topoi auch heute – wenn nurmehr spärlich – im Topos des frommen Geschichtenerzählens unter den Dorf- und Sufi-Scheichs fort. Darin liegt im Kern auch – mit der Sonderbedingung des koranischen Bezugs zum Pilgerwesen – eine Wurzel der Verehrung der Lokalheiligen und des als Amalgam all dieser Bezüge sich schrittweise herausbildenden islamischen Habitus. Es darf eben nicht unterschätzt werden, wie sehr »Ägypten« selbst seinen nachwirkenden Einfluss auf die sich instinktiv und schrittweiße hochreflexiv sich vollziehenden Konstruktionen einer neuen islamischen Realität hatte, und wie in der Levante wurde auch hier der christliche dogmatische Diskurs in die frühislamischen Dispute hineingetragen, im Islam selbst wieder aufgenommen, wie Noeldeke und Goldziher immer wieder nahelegen. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die erste Welle der islamischen Eroberungen (632-41) in Palästina, Syrien und Ägypten sich in Gebieten vollzog, in denen es eine durchorganisierte hellenistische Kultur gab (Rosenthal 1992: 2). Dabei hielten sich die erobernden Araber von den lokalen Bevölkerungsgruppen, ihren Sprachen und Religionen weitgehend fern. Sie lehnten es auch zunächst ab, sich mit den lokalen kulturellen Orientierungen auseinander zu setzen, während sie ihre eigene Sprache und Religion als ein übergeordnetes System einführten. Es ist dies in der Tat ein »römisches« Imperiummodell, das in der modernen Kolonialgeschichte durchaus sich ebenso als Erfolgsmodell erwies, weil es gegenüber den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerungen und ihren Traditionen ein hohes Maß an Flexibilität bot. Es war Albert Hourani, der darauf hinwies, dass
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einzig die Germanen, in der langen Periode ihrer Eroberung »Roms« gerade diesem Muster nicht folgten. Rosenthal allerdings macht es zu einem zentralen Punkt, dass die Araber dann doch schrittweise sich den Errungenschaften der Hochkulturen ergaben (vgl. Rosenthal 1992: 2). Es kann nicht bezweifelt werden, dass Ägypten gerade in der Entwicklungsgeschichte des Hellenismus als der dominanten Kultur der Spätantike schon allein durch die Eroberungszüge Alexanders und die Gründung der Stadt Alexandria eine zentrale Rolle spielte. Die Griechen bereisten Ägypten, zum Teil im Rahmen von und Gelehrtengemeinschaften, wie der Schülerkreis des Pythagoras, zu dem zeitweise auch Plato stieß, bevor er nach Sizilien ging und dann nach Athen zurückkehrte. Ägypten war durchweg das große Reiseland der griechischen Gelehrten (ibid.: 28). Bei alledem spielten natürlich die Idee des »einen Gottes«, die graduelle Vorgeschichte der Heraufkunft des Monotheismus eine entscheidende Rolle und gerade im Prozess der Umsetzung dieser Idee und der dogmatischen Auseinandersetzungen darüber kann die Bedeutung der frühislamischen Entwicklungsgeschichte nicht hoch genug angesetzt werden. Die allgemeine Vorstellung der Islamwissenschaft, dass es sich bei der frühislamischen Entwicklung um nichts weiter handele als die Fortsetzung der in den monotheistischen Religionen längst geführten Auseinandersetzungen unter einem neuen symbolischen Schirm, ist allerdings zu widersprechen. Denn die oben referierten Äußerungen des ´Ubaida b. as-Samid, des schwarzen muslimischen Heerführers, gegenüber dem Patriarchen Cyros muss man in dem durch die Kraft des Offenbarungswissens gestärkten Bruch ernst nehmen. Einerseits sind natürlich die christlichen und jüdischen Traditionen für die Entwicklung des frühislamischen Diskurses durchaus bestimmend, andererseits ist der »Offenbarungsbruch«, den Muhammad sucht, wenn er über Jesus und Moses hinausweist und sich auf den »Ursprung«, auf Abraham, bezieht, radikal. Das Hauptproblem war dabei nicht nur, dass der islamische absolute Monotheismus ein Problem für die bereits existierenden Offenbarungsreligionen bedeutete, sondern auch, dass die unterschiedlichen integrativen Formen, in denen gerade diese Religionen mit dem Erbe der altorientalischen Hochkulturen umgingen, auf dem Prüfstand stand. »Ägypten« darf hier als eines der Hauptproblemfelder betrachtet werden.64 Diese Ambivalenz »Ägyptens« 64 | »The birth of Islam stands fully in a ›native North-Arabian prophetic tradition‹, a ›native monotheistic tradition‹, then we may not be able to trace any
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im islamischen Diskurs bleibt bis heute ein entscheidendes Moment der kulturpolitischen Entwicklung innerhalb und außerhalb Ägyptens.65 Natürlich hat »Ägypten« bereits die Zivilisationstheoretiker interessiert, und die Bedeutung »Ägyptens« für den Monotheismus, für das Judentum und das Christentum, ja, für die Griechen ist vielfach hervor gehoben worden (vgl. Assmann 1997; Said 2003; Fowden 2005). Allerdings bleibt die Sache mit dem »Islam« ein Problem. Gerade für die islamische Dogmengeschichte der ersten 200 Jahre ist Ägypten nach wie vor ein blinder Fleck. Das hat zum Teil damit zu tun, dass die Hauptströme der islamwissenschaftlichen Forschung – nach den futûh – sich mit den einsetzenden Dogmenstreiten und Sektenbewegungen beschäftigten, ja gerade den Begriff des Islam weitgehend aus dieser Sicht her fassten (Noeldecke/Goldziher), zum Teil aber auch sicher damit, dass, gerade weil die frühislamischen Machtkämpfe in Arabien und zunehmend dann in Palästina, Syrien und dem Irak stattfanden, die ägyptischen Angelegenheiten aus den Hauptströmen der Machtbildung zunächst ausgelagert waren. Nicht zuletzt ist all dies ja auch für die »Quellenlage« von Bedeutung. Man könnte nun meinen, dass in letzter Zeit sich mit dem Schwerpunkt auf die religiöse Praxis der Menschen selbst – immer auch Gegenstand heterodoxer Bewegungen – sich ein neues interessantes Betrachtungsfeld eröffnet hat. In diesem Feld kommen die Querverbindungen zwischen den monotheistischen Weltreligionen klarer zum Ausdruck (als in der Dogmatik etwa). Gerade aber hier ist Ägypten mit seiner überdimensionalen historischen Tiefe, in der auch die Allianzen zwischen Macht und Religion geschmiedet wurden, von durchaus besonderer Signifikanz.
cross-culture–contact discourse with ›Egypt‹.« (Gibb 1978: 26f.) »In fact the general Idea is, that Muhammad out of a certain resentment as a prophet with his antecedents Moses and Jesus, went back behind both to the figure of Abraham ›the Hanif‹.« (ibid: 31) »It might be still subject to debate that Islam appeared, not as a new religion, but as a revival of pure Abrahamic monotheism, purified at once of the accretions of Judaism and Christianity, and superseding them as the final revelation.« (ibid: 32) 65 | Ich habe verschiedentlich auf die von Al-Daly angestoßene Diskussion hingewiesen, aber ich kann hier nur anzeigen, dass ich der Meinung bin, dass diese Frage in Hinsicht auf die strategisch-politische moderne Diskussion der Bindung von »Religion« und »Empire« von noch viel weitreichender Bedeutung ist.
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Dabei ist hier die offensichtliche Vielfalt der Ausdrucksmomente zu berücksichtigen, die in den frühen Prophetenerzählungen zu Tage treten und die in den ersten zwei Jahrhunderten öffentliche, später dörfliche Praxis sind. In diesen Geschichten spielen von Anfang an die Vorstellungen und Symbole des alten Ägypten, das Land des Pharao mit seinen grünen von Palmenhainen gesäumten Inseln am Nil, eine große Rolle. Es steht auch außer Frage, dass schon die christlichen Kirchenväter im Alexandria des 3. und 4. Jahrhunderts sich darüber stritten, wie mit der Realität der zum Teil noch unter Christen verehrten alten Götter und ihrer Orte umzugehen sei. Und wie neue, gewissermaßen christlich sublimierte Formen zu finden seien, die beidem gerecht werden konnten, dem Geschmack der Leute wie den Ideen der neuen Religion. Aber die alten Götter involvierten natürlich mehr als nur die Ideen und Symbole, sie betrafen den Glauben an ihre Heilskraft, den Frieden ihrer Feste und natürlich die Kraft der Jahrmärkte. Der »Heiligentourismus« zu den alten Plätzen der Ägypter lief bis in das 6. und 7. Jahrhundert weiter, und jenseits der islamischen Öffentlichkeit, oder inmitten ihrer selbst, lief dieses »Geschäft« weiter bis ins Mittelalter und wirkt fort bis heute. Anekdotisch sei angemerkt, dass der Ort Menouthis – ein im Frühislam noch von Muslimen und Christen der gesamten Levante besuchter koptischer Wallfahrtsort – bis 2005 noch auf einem Platz der Marine am Strand bei Abu Quir gepflegt wurde. Heute ist er nicht mehr zu finden und erst durch einen vehementen Polizeieinsatz im Jahr 2005 wurde er von der Öffentlichkeit völlig abgeschlossen (und was an »Resten« blieb möglicherweise gänzlich zerstört). In Bezug auf den frühen Islam muss man fragen wie groß der monotheistische Bruch war, und inwieweit Ägypten von seiner Geschichte her (der biblischen und der »realen«) als ein einzigartiges Modell gelten kann, als ein Modell der völligen Andersartigkeit gegenüber dem Rest der islamischen Welt. Wenn man natürlich die einzigartige Bedeutung, die die »Schrift« im Koran gewonnen hat, hervorhebt, dann wäre auch hier durchaus zu fragen, inwieweit »Ägypten« für diese Lösung Pate stand, im positiven wie im negativen Sinne. Im negativen Sinn wäre »Schrift« als das ablehnende Moment zu verfolgen, die Zurückweisung der Götzenbilder. Hier wäre das islamische Modell in der Tat radikal andersartig, in gewisser Weise bedeutet es die Vorwegnahme der protestantischen Bilderstürmerei. War die islamische Offenbarung so total, dass sie sich in ihrer Radikalität von Anfang an auf den Transport und die Durchsetzung der Offenbarung Muhammads, seiner Persönlichkeit als Ideal des außergewöhnli-
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chen Menschen und politischen Führers bezog? Oder prägten weiterhin Instinkt und Mentalität, in der Geschichte eingeschrieben, das Leben der Menschen. War der Gott Muhammads nicht vielleicht auch ein zu harter, zu ferner Gott, dass er nicht der Vermittlung, wie schon bei den Kopten, durch die alten Heiligen bedurfte. Natürlich ist auch die seit den 1970er Jahren unter einzelnen Islamwissenschaftlern kursierende Vorstellung einer erst späteren, nicht in den ersten dreißig, sondern in den ersten 200 Jahren islamischer Zeitrechnung vorgenommenen Fixierung des Korantextes nie auf den historischen Kontext eingegangen. Was die geringe Textpräsenz oder gar -abwesenheit für das reale Leben der Menschen im 7. und 8. Jahrhundert bedeutete, und wie sich Judentum, Christentum, ja, insgesamt die geistige und künstlerische Welt des Hellenismus zu diesem Leben, und dem erobernden Islam verhielten, ist dabei eine in den Hintergrund tretende Frage. Die Psychologie der Lebensinstinkte und der praktischen Alltagsregelungen der Menschen geht über die Frage nach der Authentizität der Textquellen des Islams hinaus. Es ist aber gerade diese Frage, die in den Islamwissenschaften – die Arbeiten Paul Kahles und Ignaz Goldzihers sind hier Ausnahmen – »fehlt«, während sie unter Religionshistorikern und Anthropologen, selbst in den Volks- und Folklore-Studien, nur indirekt gestellt wird. Es ist dies die Frage nach den lokalen Vermittlungen der kultischen Praxis und den Wirkungen der interregionalen Wanderungen, die über die Kultnetzwerke und Wallfahrten und die damit verbundenen Marktnetzwerke zustande kamen. Ohne Zweifel sind diese Netzwerke bis in die Zeit des frühen Mittelalters hinein für die Verankerung des Islams in einem breiteren Kontext der kulturellen Entwicklungen wichtig, ja, bis in die heutige Zeit hinein Teil der regionalen Formationen von Markt und Gesellschaft, denn noch immer unterliegt die Heiligenverehrung lokalen und nationalstaatlichen Interessen. Darüber hinaus sind auch heute wichtige transnationale Netzwerke in die Heiligenkulte eingelagert.66 Millionen von Menschen pilgern jährlich zu den großen Stätten der wichtigsten islamischen Heiligen. In kleineren Dimensionen können regionale Heili66 | Es ist in diesem Kontext noch einmal wichtig darauf hinzuweisen, dass Peter Browns und Ian Woods Diskussion des dramitischen Wandels der christlichen Vorstellungswelt im späten 6. Jahrhundert gerade die inneren Spannungen zwischen öffentlichem Ritual und perzeptiver Teilhabe der Massen zum Gegenstand haben (vgl. Brown 1999; Wood 1999).
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ge ganze Landschaften miteinander vernetzen. Die Pflege und Verehrung dieser Heiligen in den Dörfern richtet sich nach durch Wunderkraft und Stellung zur Tradition und orthodoxen Lehre bestimmtem Rang, und mit den mehrfach jährlich stattfindenden Jahrmärkten und Festen werden Dörfer zu Kleinstädten, ja, wachsen manchmal zu Großstädten: In Ägypten sind Tanta (Sayyid al-Badawi) und Disuq (Ibrahim al-Disuqi) nur die augenfälligsten Beispiele. Es sind auch hier nicht nur Leute aus Nachbarstädten und Dörfern oder eben nur Ägypter, die an diesen Festen teilnehmen, obwohl sie auch den Charakter von Nationalfeiern tragen. Darüberhinaus tragen in vielen Dörfern im ganzen Land einzelne Schreine den Namen dieser Heiligen, und es ist in Bezug auf die Unbestimmtheit und Offenheit der Verbindungen der Sufis und Heiligen über Orte, Regionen und Länder hinweg jüngst von einer englischen Anthropologin vom Sufismus als einer »Weltreligion« gesprochen worden (vgl. Werbner 2008). Und auch in den modernen, new-age-Netzwerken dieser »Weltreligion« spielt Ägypten eine sehr wichtige Rolle (vgl. Sedgwick 2004).67 Der Monotheismus und der Islam haben natürlich auch noch andere Bezüge, in denen »Ägypten« als Pfeiler der kulturellen Rückbesinnung erscheint. Freuds Moses etwa setzte eine heftige Debatte über die subtilen Auswirkungen und Bedeutungen des pharaonischen Ägypten für den Monotheismus in Gang. Ägypten ist hier natürlich auch immer ein Beispiel dafür, dass es die Einbahnstraße des Monotheismus hin zur modernen säkularen Vernunft nicht gibt, und dass das Ablegen sogenannter 67 | Ein faszinierendes Buch, dessen Bedeutung leider verkannt wird. Die »anti-modernen« inneren Verbindungen des ägyptischen, wie überhaupt des Sufismus mit modernen »Geheimbünden« in Europa und Amerika in der Zeit des Vorfaschismus – mit Auswirkungen auf Italien der 1960er Jahre) ist ein Thema von eigenem Rang (Der aktuelle Fall von Ford Hood in 2009 hat hierzu ein eigenes, freilich nur völlig belanglos aufgearbeitetes Kapitel geliefert). Aber auch die Wissenschaften (wie etwa Psychologie und Theologie) sind davon nicht unberührt. Immer wieder wird in der Forschung selbst versucht,etwa in die geistigen Hierarchien sufitischer Gruppen einzudringen, sich dort selbst mit charismatischem Rang einzunisten, währen man andererseits, sich in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als »Experte« für jene oder andere Sufi-Gruppen zu etablieren sucht. Fast möchte man sich davor hüten, dieses heiße Eisen einmal anzupakken. Sedgwicks Arbeit könnte hier durchaus den Hintergrund für ein eigenes Forschungsfeld liefern.
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heidnischer Riten und Vorstellungen ebenso wenig automatisch zu einem Verschwinden der Traditionsgebundenheit führen könnte. »Ägypten« aber – das habe ich mit meinen Studien über ägyptische heilige Orte gezeigt – stellt in einem viel größeren Maße die Frage, wie umgekehrt vorgegebene Lokaltraditionen auch das moderne Bild ländlicher Massengesellschaft prägen können. Zum Verständnis dieser Kontinuitäten ist es notwendig zu sehen, dass die Islamwissenschaft sich nicht nur der Frage nach der Authentizität der Quellen annimmt, sondern auch dem vernachlässigten Gebiet des Kulturkontakts und der dialogischen Ideen- und Begriffsdiskurse im Hinblick auf den Pharaonismus und seiner Bedeutung für das Judentum und das Christentum in der Zeit vor der islamischen Wende Beachtung schenken muss. »Ägypten« und der Islam sind somit in den weiteren, wenn man so will, globalen Kontext der modernen Bedeutung der Spätantike zu stellen. Man wird dabei auch hinterfragen müssen, inwieweit Ägypten – wie Nock mit dem Begriff der later egyptian piety (vgl. Nock 1972) behauptete – ein Spezialfall geblieben ist, ja, über den Einfluss des Hellenismus und des Christentums hinaus, im religiösen, kulturellen und geistigen Leben eine im Abseits stehende Welt darstellte. Diese Pekuliarität Ägyptens liege eben in der Tatsache begründet, dass über die Einflüsse der fremden Eroberer hinaus sich eine kulturelle Basis erhalten habe, die sich im Widerstand gegen eine innere Transformation seiner Kultur gebildet habe. Ein Oberflachenwandel quasi über Jahrtausende, der am inneren Kern dieser Kultur und Gesellschaft wenig gerüttelt hat. Es wäre darüber hinaus natürlich zu fragen, inwieweit nicht gerade auch die Perplexität der ägyptischen Kultur über Jahrtausende fremder Einwirkung hinweg nicht auch ein Moment kultureller Kraft darstellt, das gerade in der Spätantike und weit darüber hinaus, bis nach Europa hinein, gewirkt hat. Ansätze, die die Bedeutung dieser Einflüsse hervorheben, gibt es in der Ägyptologie hinreichend, auch wenn sie durch die Arbeiten Jan Assmanns erst auch für die Moderne bewusst gemacht wurden. Es ist in diesem Zusammenhang nochmals an das Werk von Alfred Hermann zu erinnern, der sich in besonderer Weise der kulturellen Wirkung der »Nilkultur« (Herrmann 1959, 1960) angenommen hat.68 Die Narrative der Nilkultur entbehren aber weiterhin einer Würdigung hinsichtlich ihrer über Ägypten hinausweisenden 68 | Ich habe mehrfach darauf hingewiesen, die literarische Expedition Rilkes nach Ägypten 1911 fand eine wunderbare »ägyptologische« Beachtung in Her-
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Bedeutung für das Judentum, das Christentum und den Islam. Ägypten, so wäre Nock heute entgegenzuhalten, kann eben schwerlich nur als »Welt im Abseits«, einer Welt von bloß lokal gebundener, innerer Kontinuität begriffen werden. Mit dem Erscheinen des Islams ist nun für Altertumswissenschaftler wie Nock das wirkliche Ende der Spätantike markiert, doch kann der »Bruch« so ausschließlich nicht gewesen sein, dass es eine Rolle »Ägyptens« im Frühislam nicht gegeben haben sollte, und sicher – ich habe oben darauf hingewiesen – geben die Koran- und Hadith-Geschichten über die alten Propheten hiervon ausreichend Zeugnis. Was aber waren denn nun die Wirkungen »Ägyptens« bei der Herausformung von Dogma, Ritual und Kulturvermittler/-träger? Ein Anhaltspunkt für diese Wirkungen könnten – wie schon angedeutet – die spezifisch innerägyptischen christlich-theologischen Diskurse gewesen sein, die vor allem in Alexandria vorherrschten und mit denen die einbrechenden Muslime konfrontiert waren. Allerdings wäre man dann sehr schnell an eine Perspektive gebunden, die sich fast ausschließlich auf »Monotheismus« und die geistigen Konstellationen der Spätantike richtet. Diese Konstellationen und die über sie entwickelten Begriffe wurden immer schon sehr schnell, am Ende des 19. Jahrhunderts ebenso wie auch heute als die großen »Ursprünge« der Moderne angesehen. Islam wäre dann im Wesentlichen die Konsequenz einer inneren Entwicklung des Hellenismus, seiner begrifflichen Wanderung nach »Osten«, von Ägypten und der Levante nach Süd-Arabien. Dabei werden die Zwänge und Widersprüche leicht übersehen, die der Monotheismus als »Diskurs« setzte und ebenso die dialogischen Muster, die sich aus dem Zwang zur Macht heraus und in den Prozessen staatlicher Institutionenbildung ergaben. In der Tat ist das spätantike Ägypten Gegenstand von sehr engen und spezialisierten Forschungsrichtungen in der Archäologie und Geschichte, und es kann hier nicht meine Aufgabe sein in dieses Gebiet vorzudringen. Einige Beispiele, die die Kämpfe über die Formen von Kontinuität und Bruch, die sich in der Literatur über die Wallfahrten, die frühchristlichen Asketen und die »heiligen Väter in der Wüste« niederschlugen, seien angeführt. Hier stehen moderne Fragen im Vordergrund, sie wurden im Protestantismus ausgeformt: innere Geistigkeit gegen äußere Hingabe, persönmanns »Rilkes ägyptische Gesichte«, vgl. Hermanns Aufsatz in Symposium, 24 (IV): 371-461 (Hermann 1966).
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liche Frömmigkeit gegen Ritualismus und Verehrung von Sinnbildern.69 Aber gerade in den ersten islamischen Missionskampagnen, den Konversionen etc. könnten dies Fragen von noch radikalerer Bedeutung unter den frühen Muslimen gewesen sein. Alexandria scheint insbesondere ein Ort der Herausbildung solcher historischer Konditionen des Dialogs zwischen »Pharaonismus«, Christentum und Islam gewesen zu sein, und die islamische Bewegung selbst stellte diese Spannung zwischen absolutem Monotheismus und persönlicher Innerlichkeit nicht nur in Frage, sondern es mussten sich auch Lösungen finden, die in etwa auch schon historisch vorgegeben waren, in der »Geschichte« ankerten. Ägypten figurierte dabei als die Macht der Geschichte, die schon Göttervielfalt und lokale Bindung der Riten und symbolisches Handeln als Bestand der religiösen Seele einbezog, eine Praxis die zum Teil auch hier schon als im Widerspruch zur sublimen individuellen, gewissermaßen ins passive Innere gekehrte Frömmigkeit (man denke nur an die frühe Entwicklung der Hauskulte) und zur Vorstellung der abstrakten Transzendenz des einen Gottes, betrachtet wurde. Und natürlich, je feiner der Diskurs an die politische Entwicklung geknüpft wurde, je stärker musste auch die Verteidigung der einen oder der anderen Richtung sich auf »theologische Orthodoxie« beschränken oder konnte als quasi weltliche, praktische oder philosophische Häresie verfolgt werden. Es waren diese tief im alten »Ägypten« wurzelnden Widersprüche, die die frühe Kirchenbildung insgesamt kennzeichnete. Ob es dabei wirklich so einfach in dieser klaren, alles polarisierenden Form zuging, wie Kannegiesser das zusammenfasste, sei dahingestellt, aber der Widerspruch zwischen allgemeiner kosmopolitischer Alexandrinisch-Hellenistischer Religiosität und der geistig im Niltal haften gebliebenen Christenheit mag beherrschend gewesen sein.70 69 | So werden wir auf diese alten Kämpfe hingeführt, als seien sie eben genau das erste Zeichen der Entwicklung eines »Protestant notion of distinguishing and even polarizing an interior ›spirituality‹ from the exterior devotions and images of traditional piety« (Frankfurter 1998: 5). 70 | So beschrieb er die grundlegenden Strukturen des ägyptischen Frühchristentums sicher zutreffend als »the constant and vital interplay between Christianity as emerging from the cosmopolitan religiosity proper to the Hellenistic city of Alexandria and Christianity as bound to the spiritual landscape of the Nile valley« (Kannengiesser 1986: 212).
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Der israelische Historiker Guy Stroumsa (2005) zeigt, wie stark sich Clemens von Alexandria gegen die ägyptischen Traditionen wendete. Der aber war eben nicht nur ein theologischer Feind der alten Kulte, sondern er erwies sich auch als ein geistiger Versöhner mit ihnen, ja, in gewisser Weise war er auch geradezu ein Ethnograf der alten kultischen Praktiken. Wenn aber, wie hier deutlich wird, das Christentum mit Sicherheit auf jeden Fall noch bis ins 4. Jahrhundert hinein auf die Koexistenz mit der alten ägyptischen Religion und den lokalen Kulten angewiesen war, so dürfte dies – auch auf die Zeit der Entfaltung des Islams im Ägypten des 7. und 8. Jahrhunderts, die in mannigfaltiger Hinsicht selbst auf die Koexistenz mit dem Christentum gebaut war, Auswirkungen gehabt haben. Sieht man sich allerdings nur die Extrempole einer Gegnerschaft, dann wird die kirchliche Versöhnung der Heiligen »Cyrus« und »Johannes« in Menouthis nicht verständlich. Plausibel wird sie erst dann, wenn man eine gewissermaßen verborgene Rolle »Ägyptens« mitdenkt. Die Doppelbödigkeit des Monotheismus in Bezug auf materielle diesseitige Inklusion des Heiligen wird später im Islam und in der koptischen Kirche fortgesetzt. Dominic Montserrats (1986) Beschreibung der spätantiken Wallfahrt zu den Schreinen der Heiligen Cyrus und des Heiligen Johannes in Menouthis (bei Abû Qîr östlich von Alexandria), macht deutlich, dass die Wallfahrten und der Schrein selbst quasi zu einem Symbol der religiösen Kontroversen geworden war, die im Ägypten des frühen 5. bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts herrschten. Der Schrein überlebte die islamische Besetzung und ist zu einem Zeichen der Koexistenz zwischen heidnischen und christlichen Interpretationen des »göttlichen Ortes« geworden (Montserrat 1986: 259). Hier lebten die Gegensätze fort, die bereits zweihundert Jahre früher unter Clemens noch in Alexandria getobt hatten (ibid.). Was Menouthis für »Ägypten« insgesamt bedeutete, ist mir persönlich erst klar geworden, als ich im Jahr 2005, zu einem Zeitpunkt also, als die islamischen Salafisten den offenen Kampf gegen den Volks-Sufismus und die lokale Heiligenverehrung bereits zurückgefahren hatten, Zeuge wurde eines gerade um Menouthis entbrannten unerbittlichen Kampfes zwischen Kopten und Fundamentalisten um die Überreste des Schreins dort. Als ich wenige Wochen nach den offenen Kämpfen in Abû Qîr nach dem Ort fragte, bezeugten mir zwei langbärtige »Sunniyyîn« (Sunna-Treue, wie sie in Ägypten heißen): »Wir haben sie platt gemacht«. Gemeint waren wohl die Kopten und die Heiligen gleichermaßen. Der Ort nahe einem Marine-
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Stützpunkt war denn auch von der ägyptischen Marine militärisch besetzt und für Einheimische wie für Fremde unzugänglich. Das Beispiel mag zeigen, dass die Wiederbelebung alter theologischer Auseinandersetzungen sich in völlig neue Aktualisierungen umsetzt, wichtiger noch, dass sie eine in Wellen sich wiederholende »ägyptische« Tatsache ist. Sie geht nicht nur in die Rückversetzung in Ursprungszustände des Heiligen in der Welt zurück, sondern offenbar auch auf den inneren Drang nach weltlichem Materialisieren des »Göttlichen«. Das ist eine Doppelbödigkeit des Monotheismus, die der Historiker Volokhine auch am Beispiel der an altägyptische Orte zurückversetzten Schreine zeigte. So wurden christliche Heilige noch im 6. und 7. Jahrhundert an Orte der Isis oder des Osiris zurückversetzt. Dabei spielte ganz offenbar die Vorstellung eine Rolle, dass es hier um das Wiederfinden der Kräfte der antiken Götter in einem christlichen Erklärungsrahmen geht. Natürlich stand dies alles mit theologischen Debatten, Sektenbewegungen, neuen asketischen Bewegungen etc. im vorislamischen Alexandria im Zusammenhang. Das »Ägypten«, von dem wir sprechen, endete nicht einfach mit der Zerstörung des Serapeum in Alexandria im Jahre 391. Volokhine (1998) kommt dabei sehr stark der materiellen Deutung der »geistigen« Notwendigkeiten in der Krankenheilung entgegen: Unzweifelhaft sind die funktionalen Zusammenhänge, die auch heute noch eine entscheidende Rolle spielen, vorherrschend. Neben den geistigen und mentalen sind es vor allem auch physische Heilserwartungen. Der »Markt« und gewissermaßen »göttlich« sanktioniertes Heraustreten aus den Alltagsnöten sind Hauptmotivationen der Pilger, so wie das auch die Neu-Erfindung des Orakels im 7. Jahrhundert war. Allerdings geht Volokhine zu voreilig wohl davon aus, dass dies alles mit der Durchsetzung des Islams ein Ende gefunden habe (ibid.: 96).71 71 | Volokhine spricht von »la motivation qui préside aux déplacements vers les temples concerne des soucis courants, et non pas une quête des salut : la santé, la bonne marche des affaires, le quotidien. Dans cette mesure, le développement des oracles, le recours aux dieux sauveurs, sont significatifs. Comme le remarquait J. Cerny, la teneur des pétitions écrites en grec adressées aux oracles correspond aux demendes égyptienne; de même, les papyrus coptes du VIIe ou du VIIIe siècle confirment que la pratique de l’oracle ne disparaît pas avec le paganisme. On s’adressait à Sérapis, à Sobek: on s’adresse à présent au dieu chrétien. L’Islam seul mettra fin à des millénaires de pratique. De même, on ne
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Die ägyptische Realität lebt weiter am Ort und das Nachleben dieser Kultur führt über den Ort hinaus. Wie in den Studien zu »Ägyptische heilige Orte« gezeigt, stellen die Kulte auch heute eine in jeder Hinsicht »offene«, manipulierbare Dimension der islamischen Massenreligiosität dar, die in den aktuellen strategischen Auseinandersetzungen zwischen »dem Islam« und »dem Westen« von entscheidender Bedeutung sind.
verra pas forcement de césure entre l’époque paienne et chrétienne en ce qui concerne les habitudes de déplacements vers les sanctuaires.« (ibid: 96)
VI. Individualismus: Der ägyptische Tanz um den »Einzelnen« Zur politischen Theologie des »nackten Lebens«
1 Schlachtopfer, Märtyrer, geistliche Führer: In Zeiten, wo die Welt als Ganzes auf jedem Einzelnen lastet, in Zeiten des Umbruchs, den alle spüren und der den Einzelnen zum Handeln zwingt, wo Weltreiche in immer kürzerer Abfolge stürzen und neue geboren werden, ja, selbst wenn man nur Vorspiele der Umwälzungen zu spüren bekommt, steigt die Zahl der Opfer, zunächst der geistigen, dann aber auch die der physischen Opfer. Bezeichnenderweise haben große, moderne Humanisten manchmal das Gegenteil gedacht, sie meinten, der Opfer wären zu wenige. Für die frühe Moderne hat Kierkegaard behauptet, dass es darum gehe, »die Ewigkeit« wiederzuerlangen und dass dafür kostbares Blut gefordert werden wird. Es war ein Schüler von Karl Jaspers, Karl Löwith (1956), der vor dem Hintergrund der Blutvergießen des 20. Jahrhunderts und des überwundenen Faschismus Kierkegaard aktualisierte und seinen protestantischen »Sprung in den Glauben« gegen die säkularisierte politische Theologie eines Carl Schmitt und den nackten Existenzialismus von Heidegger und Sartre verteidigte. Noch ging es, wie schon zur Zeit Kierkegaards, um planende Umsetzungen des Ewigen in weltliche Ordnungen, um weltliche Ewigkeiten, vor denen er warnte. Diese, die säkularen Ideologien, so müsste man Kiekegaard folgend für das 20. Jahrhundert am Ende sagen, ja, mehr noch, auch die Sichten der Existenzialisten haben sich – so scheint es – als kurzlebig erwiesen, und im 21. Jahrhundert ist man wieder zur Ewigkeit des Himmels zurückgekehrt, so als verspräche das Dauerhaftigkeit und Stabilität. Doch schon kämpft man wieder mit Blut darum, was »Ewigkeit« dem Menschen hier sein soll. Und alles, was an ernst gemeinter Regelungskraft aufgeboten wird, dieses unselige Ringen zu bändigen, scheint eitel Werk
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vor den Kräften, die ernst oder spielend oder einfach nur unbewusst, in jedem Fall ohne jede Trauer, das Unheil herbeireden, ja, den Einzelnen nun wirklich im Zeichen des Terrorismus zum Märtyrer des Faktischen oder Fakten-setzen-Wollenden machen. Im einfachen, täglich abgeleisteten Leben erscheint die Frage nach der Ewigkeit ein eitel Ding. Und doch behauptet der Ewigkeit Heischende, notwendig stärker zu sein als der einfach Seiende. Auch gilt ihm das bloße, einfach nur Da-Sein als Gefahr für die Ordnung. In dem Dauerwettbewerb zwischen den monumentalen Ordnungspolen, dem säkularen Selbstverständnis des Staates einerseits, dem Islam andererseits, und dem realen Existenzialismus der Massen, auf die sie sich beziehen, liegt der eigentliche Nihilismus aller sozialer Bewegung in diesem Land. Man muss fragen, welche Zerrüttung der nun offen austragungsfähige moderne Individualismus in das Feld hineinträgt, das dieses Dreieck von Staat, Religion und Masse absteckt. Das, was wir heute »Individualismus«72 nennen, ist ein historisch und sozial ungeheuer tiefgreifendes Konstrukt der europäischen Kulturentwicklung und der Moderne, das in der Geschichte der Erlösungsreligionen und des Monotheismus wurzelt. Man muss hier »Ägypten« gar nicht eigens bemühen. Es gehört zum Individualismus, dass das Moment der Selbstbeobachtung – die Überwindung des beobachtenden Gottes – dann nicht mehr nur ein allzu menschliches, narzisstisches Verlangen nach höherer Bestätigung umschreibt, sondern dass Selbstbeobachtung überhaupt erst die Grundlage dafür wird, dass wir uns selbst neu erschaffen und formen können. Es bedarf dieses sich selbst schöpfenden, sich selbst formenden Menschen, den erst wir als »modern« anerkennen können, heute in allen Gesellschaften. Die Soziologie sieht darin eine Art moderner Überbewertung des Subjekts und seiner Konstitutionsprobleme, mit 72 | Nirgendwo ist uns die Zeitlage, die dieses Wort für das ganze 20. Jahrhundert und mit einiger Sicherheit auch für das jetzige bemisst, deutlicher geworden, als in der Reformulierung der Geschlechterfrage. Das Werk zweier Autoren ist hier maßgebend: Virginia Woolf und Daniel Herbert Lawrence. Sie stellen gewissermaßen antipodisch eine geschlechterspezifische, soziale Entzweiung der Menschheit heraus, die so früher gedacht werden konnte und nach der eine »ewige« Verschlungenheit von Mann und Frau nur noch als »geistige« möglich und nur als solche als soziales Faktum anerkannt wird. Vgl. hierzu Virginia Woolf (1989). Für D.H. Lawrence vgl. Simpson (1982).
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denen weder die Institutionen der Gesellschaft noch der Einzelne mehr zurechtkommen. Zwei Modelle werden gehandelt, um das aktuelle Problem des Individualismus abzuwägen. Das erste beruht gewissermaßen noch auf dem Bild des herausgehobenen Funktions- und Professionsmenschen. Das zweite bezieht sich auf den durch Selbstbetrachtung handelnden und sich verkörpernden Ich-Menschen. Solange das moderne Subjekt noch vorwiegend von seiner gesellschaftlichen Funktionsseite her gesehen wurde, ging es um die Frage, wo die kulturellen und gesellschaftlichen Ressourcen liegen, die das moderne »Funktionieren« ermöglichen. Das war natürlich eine protestantische Erfindung und nur der Protestant (in seinem offenen, direkten und zugleich ambivalenten Verhältnis zu Gott) schien die notwendigen Hervorhebungs- Reinheits-, Standardisierungsund Konstitutionsmuster zu entwickeln, die »Funktionieren« in einem säkularen, ja wissenschaftlichen Sinne ermöglichen, d.h. unter Ausschluss sekundärer Beziehungen zur Wirklichkeit. Hier im protestantischen »Ich« schienen sich die Bedingungen zu realisieren, die allem Handeln die volle, im Innern getragene Verantwortung und Ernsthaftigkeit auferlegen. Hier wurde in der überbetonten Vorstellung vom »reinen Innern« die Andacht geschaffen, die es ermöglicht, dem »Außen« richtig zu begegnen. Erst so konnte auch das »Außen« dann in das Gefängnis der »Ordnung«, des »Systems« eingeholt, ja, in diesem nur betrachtet werden. Das zweite Modell beruht auf der Verallgemeinerung von Entgrenzungserfahrung im Außeralltäglichen. Es meint das Ich-Werden im Moment der körperlichen Spannung, im Moment der absoluten Frömmigkeit und Spiritualität. In der religionsethnologischen Betrachtung wird der Spannungseffekt gerade dieses Phänomens oft zu schnell in ein allgemeines »Identitätsmuster« hineingepresst, in dem das erfahrene Fremde zum Absolutum gemacht wird. Die Wahrheitserfahrung gerade auch in den Gebetsritualen unter jungen Muslimen macht dies sehr deutlich. Die kollektiven und individuellen Gebete zu Zeiten und zu »Unzeiten«, öffentlich und demonstrativ, im Ausdruck Stadien höchster Innerlichkeit vermittelnd, sind insofern schon »alltäglich«, setzen in einem ganz materiellen Sinn die Einheit von Körper, Bild und Sinn voraus. Unzweifelhaft ist eine ästhetische Aufhebung der Wirklichkeit am Werk, die im Ritus beides verbindet, Welt und transzendente Immanenz. Unzweifelhaft aber ist hier nicht von vornherein ästhetische Kohärenz möglich, denn die Spannung, welche die performative Totalität der Rituals erzeugt, überträgt sich
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in die Welt und dort gelten nicht einfach nur performative Gesetze, sondern Lebensnot und materielle Notwendigkeit, und fast wäre das Ritual ja selbst erst Ausdruck gerade dieser Spannungen. Der alles einbeziehende Körperausdruck – ich konnte das in so außergewöhnlichen Situationen wie die abendliche Rückkehr von jungen Fischern und Fischerei-Arbeitern auf dem Manzala-See beobachten – ist eben nur ästhetischer Ausdruck, Schein, nur ein kleines momentanes Ordnungsverlangen, wenn es auch weiterreichende »Vorstellungen« symbolisch vermittelt, die durchaus auf ein Potenzial körperlicher Modulation und moralisch-habitueller Organisation hinweist. Als Projekt bricht sich dieses aber gänzlich an der zweiten Welt der Notwendigkeit: Arbeit, Fischen, Überleben. Natürlich könnte man aber auch hier schon im Nukleus das Modell eines rituell performativen Typs finden, ein ultra-moderner Typ der rituellen, ästhetischen Utopie und Lebensgestaltung. Und doch beginnt man zugleich dieses Modell auch als utopisches zu hinterfragen, denn es hat kaum Bestand: Weder lässt sich das Moment des hier vorliegenden ästhetischen Ausdrucks »verlängern«, also auch als erweitertes Ordnungsmodell denken, noch ist es selbst vor jenem ultra-modernen Charakter gefeit, der zwischen den »Identitäten« oder unterschiedlichen Graden davon wechselt, noch ist es vor der camouflage und den strategischen Politiken der Selbstmaximierung und -repräsentation gefeit, die meist eine Vielfalt von körperlichen, intellektuellen und moralischen Dispositionen ins Spiel bringen. In der Tat, es ist offensichtlich, dass die Form der in diesem Modell eingeschlagenen Richtung der Selbstentäußerung nur für das insgesamt fromme und tugendhafte Individuum gilt. Die fließenden Aspekte, die Ambiguität des Umgangs mit dem Ritus, die instrumentellen Strategien, die hier investiert werden, bilden Aspekte der in diesem Modell angelegten sozialen Transformation, die diesem selbst widersprechen. Ritus ist also nicht – wie bei Weber noch – als Flucht und Falle zu deuten und vielleicht ist es nicht Frömmigkeit, die auf Utopie und Ordnung schon abzielt, sondern umgekehrt, dass sich über Frömmigkeit erst ein Gefühl von Ordnung und Utopie herstellen lässt.73 Es ist in der Tat so, dass der Fremde, der diese Kollektive erst einmal im Bild des gemeinsamen Ritus wahrnimmt, hier das »Andere« absolut setzt und eine rituell aktivierte Innerlichkeit am Werke sieht, die er für 73 | In diesen Überlegungen folge ich – wie an manch anderer Stelle – mit Dank einem Hinweis von Sigrid Nökel.
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sich und in seiner Gesellschaft vielleicht noch als Ideal der Brüderlichkeit kennt, aber eben nur als ein längst verblasstes Ideal. Dann bleibt aber das Prinzipielle der säkularen Umgebung, die gewissermaßen ästhetisch stimulierte Toleranz gegen die umweltfeindliche Unordnung und die Abwehr gegenüber jeder Herausforderung praktischer Notwendigkeit. Aus dieser Perspektive der ästhetischen Zurückweisung des Materiellen als Not, die den institutionellen Zwang und das Ökonomische des Alltags selbst noch als religiöse Camouflage betreibt, ist vielleicht doch eine ästhetische Opposition des Ritus durchaus wahrnehmbar. Das Modell greift zugleich auch wichtige Ströme dessen auf, was in der Literatur und in der Philosophie in den Begriffen von »innerem Exil« und Verinnerlichung von Anderssein figuriert. Hier wird ja auch der Essenzialismus des »Interieur« deutlich, der die empathischen Dimensionen des Verstehens des Inneren des »Anderen« ausmacht. So sehr also dieses Modell durchaus seine analytischen Stärken hat, so sehr ist es als utopisches, ja, als ideelles Moment auszuweisen. Es kann unter den gegebenen globalen Bedingungen nur auf die im ersten Modell schon gegebenen Spannungen und Inkonsistenzen des »funktionalen« protestantischen Typs zurückführen. Denn eine Überwindung desselben liefert es nur im »Bild«, das seine Regelungskraft verliert, wenn es aus der Vorstellung, das »Allgemeine« zu verkörpern, herausgenommen wird. Es stellt sich natürlich hier die Frage, ob es überhaupt eine ästhetische Moral gibt, sie kann nur selbst wieder im Wirken des Allgemeinen verstanden werden. Denn das im Bild untergeschobene Allgemeine soll Verbindlichkeit herstellen, so als sollte es zur allgemeinen sozialen Pflicht werden. Es vermittelt Pflicht, aber eben doch nur als fernes Ideal. Es fehlen dieser Pflicht die – so glauben wir – sie begleitenden institutionellen Mechanismen, ja, diese fallen eben selbst aus dem Bild heraus, werden verschwindend gemacht. Die im Bild unterstellte Vorstellung von Freiwilligkeit und Natürlichkeit kann aber nur erhalten werden, wenn das Institutionelle, Regelnde geleugnet wird. Man kann dies auf einer weiteren Ebene noch in ein anderes historisches Bild hineinstellen: Die alten Ägypter vereitelten die Aktualisierung der Ewigkeit, indem sie sie in die Welt als Ganzes einbauten. Sie wurde gleichmäßig auf Himmel, Erde und Unterwelt verteilt und verstanden als Götterwelt der Formelsprache, als die Kombination vieler Zeichen, die unbestimmte Unendlichkeit erzeugen, in etwa vergleichbar mit der Welt der Elementarteilchen, mit der die Physiker heute die Welt erfassen (vgl. etwa Hornung 1971: 248-54). Ist das tatsächlich so? Brauchen wir solche
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Vergleiche und solchen modernen Wissenschaftsbezug, um mit dem neuen religiösen Wahnsinn fertig zu werden? Kann die uralte »Religion« der Ägypter, wie sie aus der Ecke einer mit der Esoterik sympathisierenden Ägyptologie vielleicht umschrieben wird (wie etwa bei Morenz 1952; Hornung 1971, 1987; im Werk Jan Assmanns, passim, zusammenfassend DuQuesne 2003, Hermsen 2003), heute einer modern existentiellen Möglichkeit ein Beispiel sein? In der Tat, nicht nur die Existenzphilosophie, wie Karl Löwith (1956: 7) bemerkt, ersinnt »an Stelle des Glaubens an Gott ›Chiffren der Transzendenz‹«, die Wissenschaft selbst, die Philologie allemal, hat es unternommen, im neuen, an der Skepsis der Aufklärung geschulten »positiven« Geist des Wissens über den Fakt (in Text und Zeit) Spielarten des Religiösen zu identifizieren, die im modernen wissenschaftlich begründeten Leben als Religionsersatz herhalten können. Das »hohe« Wissen der neuen »globalen« Eliten, die sich wieder anschicken, entscheidungsfähig und souverän zu sein, schult sich am esoterischen Wissen der Alten, während sie die profane Religion unkritisch dem schnöden Wissen der Massen überlässt. Hier treten fast ebenso unheilvoll »Chiffren« einer Konvergenz von Altertum und Moderne in Sachen Politik, Theologie und Lebensstil zu Tage. Die Linie führt von »Jerusalem« über »Athen« nach »Rom«, weiter über »Heidelberg«, »Chicago« etc. zurück nach »Mekka« etc. Heil und Unheil liegen hier nicht weit auseinander. Es ist die Skepsis des Wissens, kritisches Denken und – wider alle Zweifel – Aufklärung neu gefordert, Aufklärung, die keine Denunziation sein muss. Zunächst sind ja die »Alten« nicht unentbehrlich. Auch kulturell verweltlicht kommt man vielleicht noch immer nicht ohne »Gott« aus, aber kann man von den Alten her mit »Religion« mehr Welt verstehen? Was bieten jene im Medium der Welt verhafteten Meta-Sprachen, fließender Bilder mit Formelcharakter, Diesseits und Jenseits verbindend? Wie kann der Einzelne mit sich in der Welt sein, mit seinen inneren und äußeren Dingerfahrungen sich auf diese Zeichenwelt beziehen? Die Universalität des Einzelnen, des konkret Gestalteten – mit einem Modewort gedeutet: des spirtualisierten Körpers – wird nicht nur als Ergebnis der »verwalteten Welt« denkbar, sondern als unmittelbar arbeitendes Kulturwesen. Er ist auch eben Opfer des Willens zum Universellen, das er sich als vorgestelltes Ganzes überstülpt. Doch auch vom Geschmack des Systems beherrscht, kommt der Einzelne noch als konkret Seiender und Erfahrender daher. Aber Assmann spricht schon ein neues, elitär modernes Lebensgefühl an,
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wenn er aus dem altägyptischen Jenseitsdenken ein quasi neu-protestantisches Erlösungsmoment hervorhebt: »The longing to be redeemed from this world instead of being piously incorporated into it was completely alien to Egyptian thought.« (Assmann 2002: 246)74
Das Bild vom Einzelnen ist auch ein Stück Religionsgeschichte. Im »Christus« des Kierkegaard, im Märtyrer des islamischen Frühsufismus »al-Hallaj«, den uns Massignon als (christliches) Sein, als Lebenswerk vermittelt hat, ja, auch im umgekehrten Sinne des sich verweltlichenden Charismas eines »Muhammad« – wie ihn Maxime Rodinson in den 1960er Jahren beschrieben hat –, sind Momente des permanenten Umschlags, wie sie die ägyptische Religion sich zum dauernden Element gemacht hatte, nachholend sichtbar geworden. Hier ist auf dem Höhepunkt der noch im 20. Jahrhundert säkular sich verstehenden Moderne von geistlichen Führern die Rede, und in den Werken der »Wissenschaft« werden diese alsbald wieder in Fixpunkte des Ganzen übersetzt, gewissermaßen als die Säulen des (geoffenbarten) Ursprungs. Wie wenn wir die aufs Ganze setzende Religion entbehren könnten? Wären wir dann die Märtyrer los, ersparten wir uns das kostbare Blut der Vielen, die sich mit ihnen opferten? Wäre Zivilisation im Bannkreis des innerlich zurückgeholten Bildes des spurenziehenden Formelreiches, des gestaltetet erfahrenen Konkreten, verträglicher, produktiver? Wäre der moderne Einzelmensch in den Möglichkeiten einer solchen formelhaften Metasprache des mischgestalteten Vielen wieder einzubinden? Gegen die Geister des Ganzen, der Totalität, die jetzt überall wieder wie vor Barbarei rettende Verkünder auftreten, hätte hier die Formelgestalt und Mischbindung des Vielen eine neue Kraft? Was die moderne Gouvernementalität, die »Sorge um das Leben«, die das »nackte« Leben übrig ließ, produzierte, die bloße Subsistenz- und Existenz-Sicherung des Einzelnen, der sich in seiner Kultur des Individualismus als Kranker fühlt und als solcher innerweltlich auch praktisch-politisch wirkt, ist zu überdenken. Die machttheoretisch ausgelegte Beschreibung der modernen Gouvernementalität liefert ein Bild vom Umbruch unserer Zeit, die Nicht-Entlassung des längst entlassenen Individuums als Einzelexistenz. Das ist über das bloß europäisch gemeinte Ereignis 74 | Das Sehnen von dieser Welt erlöst zu sein, anstelle fromm in ihr verkörpert zu sein, war dem ägyptischen Denken völlig fremd.
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hinaus zu bedenken. Sie hat eine Batterie religiöser commitments aufgefahren, mit denen wir heute zu leben haben. Von Fundamentalismus bis hin zu Körperbomben, Verplombung im Pomp und Verpriesterlichung, von Wissenschaftsreligionen und New Age bis hin zur Politik der inneren Religiosität, der »Frömmigkeit« und sodann folgend der religiösen Gestaltung des öffentlichen, ja, des machtpolitischen Raums (nebenbei mit durchdringender Sachlichkeit »Getaufte« von »Nicht-Getauften« trennend) wird so ziemlich alles aufgefahren, was religionsgeschichtlich schon einmal gedacht war. So wird das Religiöse als Lösung für den modernen Individualismus dann wieder neu ins Spiel gebracht. Der einst abgelegte religiöse Unsinn soll jetzt wieder, da die säkularen Ideologien verabschiedet wurden, die Körper von ihrer Nacktheit befreien, bis hin zur denunziatorischen Prüderie im post-asketischen Sexverständnis. Und doch bringt er die Körper zum Krispeln, bringt sie zugleich dem wirklichen Tod und dem blutigen gesellschaftlichen Opferdenken nur totaler noch näher. Wo ernsthaft der Weg der Anti-Religion beschritten wird, werden in wechselnder Intensität die Alten, die Griechen, die Ägypter mit Ihrer Weisheit des Ganzen herbei bemüht und fallen doch hinter den Glanz dessen zurück, was der Mythos der Moderne an Unmittelbarem längst erfahrbar macht. Ein Durchbruch ist möglich, aber wohin und wie? Vielleicht sollte man sich über das Durchbruchdenken zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das nicht zum Zuge kam, Gedanken machen, wenn auch hier, wie immer und überall, die Alten Pate stehen. Insgesamt sind die modernen »Ingredienzien« von christlicher – und überhaupt monotheistischer – Religiosität, die noch im Kleinsten auf das gleichmachende Ganze setzt, nur zu umgehen, wenn das davor liegende – die Zivilisation der 3000 davor liegenden Jahre menschlicher Existenz am Nil – zum belebenden Element bestehenden Kulturdenkens gemacht werden kann. Mit solchen Gedanken hat sich nicht nur ein Hanns Henny Jahnn an die Aufgabe der Kulturrettung im 20. Jahrhundert gemacht. Es ging ihm dabei nicht um gegenüber starren Fixpunkten wandlungsfähige Beschreibungsmuster für die immerfort wechselnden weltlichen und geschichtlichen Situationen (wie sie als Vorbild Erik Hornung vorschwebten oder früher schon Ludwig Klages, ihm jedoch weniger wissenschaftsgläubig), es ging ihm um die Wiedererweckung einer dauerhaft angelegten, Mensch und Tier rituell integrierenden Monumentalkultur. Jahnn sprach damit einen Punkt an, der in modernen säkularen Ideologien Kommunismus/Faschismus/Liberalismus durchaus – wenn auch auf ganz andere
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Weise als von Jahnn gedacht – eine Rolle spielte. Andererseits haben die »Ideologen« und die Entwicklungen des »Warenhauses« einen MassenBildwesen-Menschen geformt, der zumindest in der Illusion lebt, moderne Welt sei Ganzheitsgestaltung. Was bleibt der Welt des Einzelnen? Wir beschreiben nichts weiter als das, worin diese sich befindend noch verstehen könnte. Der letzte Satz von »Wissenschaft als Beruf« lautet: Die »Forderung des Tages«, der es gerecht zu werden gelte, sei »schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.« (Radkau 2005: 810) Hier wird eine urgeschichtliche Forderung vergegenwärtigt, die nicht nur der alte ägyptische »Magier«, von dem Rilke so sehr beeindruckt war, sondern sicher auch der moderne Muslim unterschreiben könnte, ebenso wie der protestantische Weber. Der Gehorsam gegenüber dem eigenen Dämon stellt eine andere, eine eigene, höhere Stufe der Erkenntnis her als die Freiheit der Wissenschaft. »Der Schicksalsglaube mitsamt der heroischen Bereitschaft, ein tragisches Schicksal auf sich zu nehmen, gehört wohl zum Kern von Webers eigener Religion, zumal die Macht des Schicksals auch den Eros legitimiert.« (ibid.) Diese innere Bindung von Webers persönlicher Religion an im Hellenismus geborene Seinsvorstellungen der inneren Bindung jedes Einzelnen an den persönlichen Gott, die ihren späteren äußeren Ausdruck in den Prädestinationslehren von Muhammad und Calvin fanden, sind zugleich eng verbunden mit der äußeren Begründung von Rationalität. Denn, so Weber, »jedes rein menschliche Heldentum, welches den Glauben an eine gütige Vorsehung überall stolz abgelehnt hat«, ist durch den Glauben an die »Vorherbestimmung als eines irrationalen Verhängnisses […], einer unpersönlichen Schicksalsmacht also gekennzeichnet« (Radkau 2005: 811). Im Kern sind diese Glaubensvorstellungen aber auch schon jenen ähnlich, die aus dem Hellenismus in den Islam hinübergerettet wurden, die den qutb – den Pol – des Einzelnen an die tragende innere Weltachse binden. Radkau scheint hierfür ein Gespür zu haben: »Dieser Glauben verbindet in gewissem Sinne die antiken Helden mit den ›stahlharten‹ Puritanern und ihrem Prädestinationsglauben, der bei ihnen nicht passiven Fatalismus, sondern heroische Selbstüberwindung hervorrief.« (ibid.)
Die Dimensionen unserer Betrachtung zu »Ägypten«, Islam und Moderne wären nicht vollständig, wenn nicht kurz ein paar Eigenschaften des
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Problems, das der Universalisierung des modernen Selbstbegriffs folgt, benannt werden. Ich sollte erwähnen, dass mich gerade dieses Problem bei allen Arbeiten in Ägypten immer wieder beschäftigt hat. Zu einer umfassenden Würdigung aber kann es im Fokus dieser Betrachtungen nicht kommen, weil ich »Individualismus« – die Dauerbestimmung des »ego« durch »alter ego« – für das beherrschende Thema der »Differenz« im Diskurs über Religion und globale Moderne halte. Die Differenzdiskurse und die rohen Aporien der »Individualität« in Bezug auf den »Gott«, die Feindbilder, die sich aus dem gegenseitigen Blick auf den anderen Gott ergeben, sollten hier den Gegenstand nicht beherrschen. Allerdings ist diese Frage nicht ganz auszublenden, wenn ich hier einzelne, mir für den »Ägypten«Zusammenhang wichtig erscheinende Punkte des Gottes- und Ich-Problems herausgreife. 2 »Ägypten«, »Europa« und moderne Konstruktionen des »Selbst«: Aus der Entwicklungsgeschichte des Monotheismus heraus lässt sich »Europa« mit seiner eigenartigen Subjektbildung durchaus nach »Ägypten« zurückverfolgen. Nichts anderes haben die großen Ägyptologen seit J. H. Breasted getan.75 Es ist das biblische, den Bruch mit dem Pharao beschwörende Geschichtsbild, das die moderne Archäologie und Geschichtsforschung zu Ägypten beherrscht.76 Nicht weniger und nicht mehr ist mit der Frage nach dem »Ich« gemeint, als eine Art Zustandsbeschreibung dessen, was »Ägypten«, »Europa« – die Folgen ihrer allmählichen Verlagerung nach »Westen« mit eingeschlossen – als »Sinn« noch sein kann. Dieses Europa begann mit der Freisetzung des »Ich« vermittels der Vorstellung von ihm als »Selbst« als gottnahes Wesen in der Wirklichkeit der Welt. Man kann also Europa und das »Ich« nicht anders als von den kulturgeschichtlich in Wellen sich verschärfenden Momenten des Monotheismus aus verstehen (auch wenn Christen heute wieder meinen, »Monotheis75 | Es ist die »Macht der Religion« die beispielhaft am Denken und Handeln des antiken ägyptischen Menschen erläutert wird, nicht nur über das gesellschaftliche Leben, sondern auch für die »Entwicklung von Literatur, Kunst und Wissenschaft« (Breasted 1936: 47). 76 | Ich habe in diesem Zusammenhang schon in ersten Band meiner Ägyptische heilige Orte auf die hierzu außerordentlich ergiebige Studie mit dem bemerkenswerten Titel Israel in Egypt von Hoffmeier (1997) hingwiesen.
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mus« sei eine unstatthafte, das Exzeptionelle dieser Religionen vergleichend minimierende Redewendung der Aufklärung). Doch das christliche »Ich« und seine Verschärfung im modernen Wissenschaftsmenschen ist, wie Nietzsche zeigt, nur aus der spezifischen Erklärung des Monotheismus heraus erkennbar: im Festhalten an der Vorstellung vom sich selbst opfernden Gott und des ihm gleich geopferten Menschen. Es sind die Propheten, die die kollektive rituelle Bindung der Gesellschaft an den Kultus durchbrochen haben, indem sie ihre Offenbarung über alles sozial Gelebte und Sichtbare stellten und Wirklichkeit neu setzten. In der je unterschiedlich offenbarten Mensch-Gottbeziehung der Propheten tritt die reflexive Betrachtung des Einzelmenschen seiner selbst vor Gott heraus. Sie wird sogar Teil des Religiösen und steht von daher auch in Spannung zum herkömmlichen kollektiven religiösen Erlebnis, zum äußeren Ritus und Kult. Dies ist – in der Vorstellung des geistigen Körpers – auch der erste Schritt zur Herauslösung des Menschen aus den Kontexten seiner materiellen Reproduktion. Je mehr die geistige Herauslösung fortschreitet, desto eher tritt die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass reproduktives Leben selbst, »nacktes Leben« gleichsam, unweigerlich einzubinden und in den Zustand des herausgelösten Seins mit zu überführen ist. Mit den Propheten und der von ihnen ausgehenden Identifikationskraft beginnt also das europäische »Ich« und damit auch die Geschichte vom »nackten Leben«, vom gesellschaftlichen Wert (oder Nichtwert) des Überlebens. Am Ende des langen Entwicklungsganges der prophetischen Offenbarungsreligionen steht der »Individualismus«, ein modernes Lebensmuster des sich im Massenbetrieb selbst versorgenden, wissenschaftlich erfassten und sich selbst erfassenden Überlebenssubjekts. Diese überwältigende Position des Einzelwesens in der modernen Vorstellung von Gesellschaft ist jedoch nicht alleine und unangetastet. Wenn uns heute gesagt wird, dass der oikos – der »Haushalt des Prinzen«, die Hauswirtschaft, die unmittelbar der Subsistenz- und Lustbefriedigung des Hausherrn unterstellt ist, dass diese, nach Weber, Grundform vorkapitalistischen mediterranen Wirtschaftens – in der modernen Konsumgesellschaft neue Bedeutung gewinnt, dann bedarf das Konzept erneuter Reflexion. Die von Erich Auerbach wiederentdeckte »Neue Wissenschaft« des Giambatista Vico (1924) begibt sich zuerst auf die Felsen und in die Höhlen des sesshaft gewordenen Heroen, jenes ersten »Übermenschen«, der sich das Sammlerwesen der in Wald und Aue noch herumstreunenden Frau untertan machte. Es war Vico, der zuerst herausstellte, dass die so
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entstandene oikos-Ordnung eine religiöse Idee verkörpere, so etwas wie die zweite, sich offenbarende Welt, oikonomia, ja, dass diese in der Welt die göttliche Ordnung realisiere. So wird im oikos gegen das Einzelwesen als Souverän – und zugleich ihn bestärkend – eine zweite Ebene der Verbindlichkeit eingeklagt. Nicht nur sich selbst darf er dienen, sondern auch gegenüber der im Reich der Notwendigkeit angesiedelten Kollektivordnung des Ganzen ist er verpflichtet. Letztere setze dem souveränen Einzelmenschen die Grenzen. Auch das ist schon ein Gedanke Vicos: oikonomia, die geheiligte Ordnung des Herrn, die ihn selbst bindet. Man muss hier ansetzen: Das »nackte«, das bloß reproduktive Leben, wie es so schon auf eine höhere Ordnung bezogen wird, gewinnt erstmals in der Soteriologie der prophetischen Religionen, wo es selbst zum Gegenstand reflexiver Betrachtung wird, eine eigenständige Kraft und hat nun Teil am strategischen Denken der Machtbildung des Sich-Selbst-Erlösens in Gott. Das reale materiale Leben wird als gewissermaßen schon divinisiertes Teil der körperlichen Existenz. Hier anknüpfend kann dann auch dieser wieder moralische Kraft zugewiesen werden und in katholischer Sicht, ja, gerade in der großen Perspektive dieser Tradition, darf man nun – das Einzelne eingebettet in das moralische Ganze – wieder von »the body’s goodness« (Brague 2002: 187) reden. Doch bleibt der Gegensatz zwischen dem Sich-Selbst-Erlösen im Anschluss an Gott und dem reproduktiven Kern der Existenz, dem Körper, dem einzubeziehenden, zum Erlösen notwendigen anderen Teil, ein vielfach beklagter Widerspruch des westlichen Denkens. In der Moderne tritt er gerade in ein neues Stadium der Reflexivität. Der verbreitete moderne Gedanke des »toten Gottes« hat – wie Nietzsche es vorhersah – zu einem unlösbar scheinenden Problem ästhetischer und politischer Ordnung geführt. Der Erlösung suchende Mensch ist zunächst auf sich selbst angewiesen und muss sich selbst existenziell erfinden. Die existenzialistische Antwort auf Nietzsches »Gott ist tot« ging jedoch nicht weiter als bis zu der Erkenntnis, die Karl Löwith wie folgt zusammengefasst hat: »Existenz, führt er (Thomas von Aquin) gegen die arabischen Aristoteliker aus, erscheint zwar als bloßer Zufall, wenn man sie an der essentia bemisst, wenn man aber vom Ganzen des Seienden als eines Seienden ausgeht, dann erweist sich Existenz nicht nur als eine exzeptionelle Kategorie, sondern als die unbedingt höhere Ordnung. Denn ohne das ipsum esse gäbe es auch kein ens und keine essentia. Insofern kann man sagen, dass der moderne Existenzbegriff, wie er sich
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von Pascal bis Sartre zugespitzt und entchristlicht hat, christlich-thomistische Seinslehre abzüglich der Schöpfungslehre ist.« (Löwith 1956: 86)
Jenseits von Seinslehre und Existenzialismus gab es im Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts auch Versuche vieler Kulturlehren – ich habe namentlich auf zwei Protagonisten77 hingewiesen –, die das körperliche und das sinnlich erkennende Ich gewissermaßen als neue Kultureinheit der Moderne denken und damit aus dem thomistischen Christusdenken auszubrechen suchten. Als solche sind diese Denkansätze heute weitgehend vergessen, im globalen Kulturdiskurs nicht zugänglich, ja scheinbar gar nicht mitzudenken. Dagegen haben wichtig gewordene arabisch-islamische Kenner des französischen Denkens nach dem zweiten Weltkrieg von Muhammad Benabbi, Ali Shari´ati über Abdarrahamn Badawi bis zum (westlich-)antiwestlich orientierten Zeitgenossen Hasan Hanafi78 den modernen Exis77 | Die wenigen Ansätze, die sich mit diesen scheinbar anti-modernen, antirationalistischen Richtungen des modernen Denkens auseinandersetzen, werden m.E. der faktischen Bedeutung dieses Denkens nicht gerecht. »Erotismus« oder »Kulturkritik« sind Begriffe, unter denen vornehmlich einzelne Vertreter oder lokale Denkbewegungen hier abgehandelt wurden und bezeichnen kaum die Momente kultureller Produktivität, die hier ankerten. So ist man auch in der angelsächsischen Welt wenig geneigt, die überragende Bedeutung eines D. H. Lawrence im Strom der Denkversuche aus antiken – hier etwa aus vor-römischen – Ursprüngen post-industrielle Erfahrungs-»reiche« zu bauen, zu erkennen. 78 | Anawati (1982: 53): »le Dr. Hasan Hanafi, exprimer sa facon d´envisager le renouvau islamique. Durant son long séjour à Paris où il a obtenu sa Thèse de doctorat, il a subi, reconnaît-il, l’influence du Coran, de l’Evangile et de la Thora, et aussi, entre autres, de Bergson, Husserl, Scheler, Bultmann, Loisy et Guitton. Il a également étudié les théories revolutionaires de Mao, Guevara, Castro et Camillo Torres. […] ›Dieu et l’Islam‹: On dit souvent que Dieu en Islam est un Dieu transcendant, un Dieu abstrai. On ne peut pas le présenter par une image rationelle ou sensible. Erreur! Dieu en Islam est ce Dieu immanent, ce Dieu qui apparaît partout dans l`âme et dans le monde.« »Hanafi est sur le point d’achever une immense ›anthroplogie‹ de près de mille pages où il essaie de ›repenser‹ à la lumière de la philosopie moderne l’heritage philosophique, juridique et théologique de l’Islam […] De toute facon elle représente une tentative courageuse, voir audacieuse, de sortir d’une traditionalisme sclérosé.«
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tenzialismus in positiv islamisches Denken zu überführen versucht und den Islam als den besseren Existenzialismus unter Erhalt der Schöpfungslehre »modern« gemacht: Sie bestehen auf den islamischen Gottesbegriff als Erhalt des Ganzen. Die Zweifel daran, dass menschliche Existenz als höhere Ordnung des Selbst – ohne den darüber hinausweisenden Gott – sein könne, die Zweifel an dieser das 20. Jahrhundert in vielen Facetten beherrschende Idee kamen aber nicht nur aus der arabisch-islamischen »Ecke«, sie wurden auch am Übergang zu unserem neuen Jahrhundert in »Jerusalem« und »Rom« geschürt, ebenso wie schon lange zuvor im Amerika Toquevilles. Gewissermaßen in Vollendung und Fortführung dieser Zweifel setzt sich heute der politisch-theologische Diskurs des totgeglaubten Monotheismus neu in Position.79 Die Frage nach dem Ich und seinem »inneren«, »frommen«, »höheren« Lebensbezug scheint sich zur Begründung und Durchsetzung neuer Formen der politisch-theologischen Gouvernementalität auszuweiten. Der Hinweis auf die Realität der »globalisierten« Kultur und die neue weltstrategische Bedeutung des Islams ist dabei nur Vorwand. Er ist gleichzeitig jedoch nicht ohne Wirkung für die Formulierungen der Richtung sowohl des westlichen strategisch-theologischen Diskurses als auch – und das erscheint als das wahre Problem – der gleichsam unmittelbaren Lebenserfindungen in den eigenen rituellen und reflexiven Nöten des »höheren« Ichs, das nun selbst von den Zeitströmen getragen und ohne die Ewigkeit Gottes etwas Feststehendes und Tragfähiges für das Ganze der Welt, in der es agiert, zu schaffen sich bemühen muss. So kann denn auch die religiöse Spiritualität, der innere Pietismus muslimischer Frauen, plötzlich als das große Moment moderner Akteursbefähigung herausgestellt werden (vgl. etwa den von Saba Mahmood in der Folge von Talal Asad initiierten Dis-
79 | Man informiere sich hierüber in den beiden Telos-Ausgaben von 2009. Es bedürfte einer eigens hierzu angelegten Monografie, um den Siegeszug des Werks von Carl Schmitt im heutigen Amerika in seiner ganzen Breite sichtbar zu machen. Insbesondere seit den 1980er Jahren gibt es eine weitverzweigte Rezeptionsgeschichte bis hin zu einer Art politik-theoretischen Orthodoxie in der post-9/11-Zeit. Die neuen Zivilisations- und Zivilisierungsdiskurs gehen damit einher und legen mit sehr einseitigen Interpretationen der kulturellen Momente der Spätantike den gegenwärtig bevorzugt Geschmack für religiöse Bindung politisch-strategischer Affiliation offen.
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kurs über die moderne, gewissermaßen alltagspolitischen Bedeutung von »persönlicher Frömmingkeit«, vgl. Mahmood, 2005). Konventionell politisch-religiöse Soziologien reagieren noch zurückweisend auf den modernen Individualismus im islamisch-nahöstlichen Kontext und sprechen vom Ende des bondage (Sherif Mardin), das sie noch als Grundlage des modernen Sozialstaats betrachten. Fast noch auf Termini der klassischen Soziologie rekurrierend wird hier Individualismus als Gegensatz von beiden, von Gemeinschaft und Gesellschaft, begriffen. Er steht für das zunächst säkular und manifest gewordene Herauslösen des Einzelnen aus den allgemeinen irrational-solidarischen, rituellen und theologischen Bindungen, ebenso aber auch für das potenzielle Zurückweisen moralisch-verantwortlicher Haltungen und institutioneller Verpflichtungen. Soziologisch gesehen dürfte man sagen, Individualismus stellt eine potenzielle Bedrohung für die planende Sinnkultur der Moderne dar: auf der einen Seite das konsumistische Maximierungsverhalten im modernen Massen-Individualismus, auf der anderen Seite das Moment der eigenverantwortlichen Selbststeuerung im vorgestellten Prozess der demokratischen, neo-liberalen Entstaatlichung. Beide Momente des Individualismus, das »auflösende« und das »ersetzende« Moment gelten in den modernen Demokratien gewissermaßen als Voraussetzungen einer funktionierenden liberalen Öffentlichkeit. Unter ägyptischen und türkischen Soziologen gelten die aus dem 20. Jahrhundert fortlebenden Vorstellungen vom Individualismus – wie überhaupt individualistische Überführungen religiöser und kultischer Traditionen in Formen der IchBemächtigung – als Ordnungsdefizite. Was bewirkt aber die kulturell übergreifende, sich durchsetzende Individualisierung für den Einzelnen, was für eine sich als islamisch verstehende (oder von außen so verstandene islamische) Gesellschaft? Die Globalisierung des Nationalstaats im Zuge der postkolonialen Emanzipation setzte bereits »individualistisch« geprägtes Regierungshandeln im neuen Staatsmenschen durch. Nun bleibt es zu fragen, was religiös vermittelte Subjektbestimmung Neues darauf zu setzen hat. Man wäre blind, dabei nicht auch nach den machtstrategischen Voraussetzungen zu fragen: Was bedeutet dieser neue Hyperexistenzialismus, der die nackte, die »körperstrategische« Dimension des religiös »inspirierten« im strategisch-reaktiv »aufgeladenen« Subjekt ausarbeitet? Was sind die neuen sozialen Formationen, die aus dieser kulturellen und politischen Vermassung des religiösspirituellen »Ich-Akteurs« erwachsen? Und natürlich ist die Propagierung
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dieses religiösen Ichs strategisch natürlich immer auch die still mitgedachte Anti-These zum »Eigenen«, die im »Anderen« ruht, in der erst eine erzwungene »Aufhebung« neue Ziele setzen kann. Wenn wir also von »Ägypten« im Zeitalter des modernen Massen-Individualismus sprechen, müssen wir auch von den möglicherweise bedrohlichen Konsequenzen des aus dem gottestrunkenen Freiheitsstreben der »Leidenden« hervorgedrängten Fortlebens eines seit langem unterdrückten Lebensgestus reden. »Freiheit« für die »nackt« gemachten und sich so erfahrenden Einzelmenschen, über diese Bewegung, über darin manifest gemachtes Historisches und Gegenwärtiges, gilt es nachzudenken. Sie manövriert sich bis in die machtstrategischen Konstruktionen globaler Regierungstechniken hinein. Was man heute den »nackten Körper« nennt, ein manifestes Objekt sogenannter Global Governance, ist die Restbasis des in abendländischer Kulturentwicklung fokussierten Subjekts. Dem vermassten Einzelmenschen wurden von hier aus die »höheren« – immer zu kurz greifenden – Sinnantworten geliefert und sie werden immer schneller und mit immer größerem kaum mehr zu gründenden Ballast der »Geschichte« in die Waagschale der Strategien über die Zukunft des Menschen geworfen: »Fundamentalismus« und »Zivilisation« ankern weiterhin in begrifflichen Nebenschauplätzen, während ganz »profanes«, konkretes, »nacktes Überleben« die strategischen und militärischen Kämpfe schon beherrscht. Aus dem zunächst religiös, wie schließlich auch säkular reflektierten Einzelmenschen als dem freien gottgeschaffenen Menschen der Natur, der in den, im gewellten Teppich der abendländischen Kulturgeschichte eingewobenen Durchbruch zum »Subjekt« hineinwirkt, lebt nun wirklich »Religion« als Ballast des »Ichs« fort. Das in den Weltreligionen haftende, modern wiedererweckte Sinndenken, sich neu an Überlebensoptionen wiegend, bestimmt – im Wechselbad von Schein und Wirklichkeit – als Restressource weltstrategischen Regierungshandelns das politische Geschehen. Es ist also verzeihlich, wenn ich hier auf die Probleme dieses Ballasts nur hinweisen kann, denn eine Lösung kann zwischen den einmal weltpolitisch gesetzten Polen von »Post-Säkularismus« (das neue Binnengewebe des »Abendlands« zwischen Israel, den USA und Europa) einerseits, und »Post-Islam« andererseits (das Spiel mit der Exklusion des Islams aus dem im Monotheismus verankerten Konstruktionsgebilde des Westens), derzeit nicht gegeben werden. Man kann sich der Tragweite dieses Dilemmas nur vergewissern, wenn man sich an die »großen« quasi programmatischen Entwürfe einer wirk-
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lichkeitsnahen modernen Kultur und eines säkularen Lebenssinns erinnert, die die Denkagenda am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beherrschte. Dem sich heute wieder religiös begründenden Ich-Sinn mögen sie kaum mehr als relevant erscheinen. Hier stelle ich exemplarisch einige wenige, aus der Masse der vielen literarischen und philosophischen Reflexionen des modernen realen, »nackten Lebens« heraus, die für die Zeit des »Vor-Faschismus« stehen.80 In ihnen erschien Säkularität nicht nur als das dürre Gerüst säkularer Wertrationalität, auf das man sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verständigen wollte, sondern es wurde hier auch noch in säkularer Absicht auf eine Lebenskultur der Ganzheit hin gedacht, eine in der Verknüpfung von Romantik und Wissenschaft am Realen der Welt sich formen wollende Vervollkommnung der modernen Lebenskultur. Es wurde hier der Schritt Nietzsches im Übergang vom Sinn zum Sein getan, den man mit dem Sieg der protestantischen Theologie später wieder – den »Glauben« vom Verdacht der »Irrationalität« befreiend – zurücknahm. Mir scheint der Hinweis auf zwei »Prä-Faschisten« angebracht, die beide dennoch nicht zu Faschisten wurden und beide ins Exil gingen, wenn auch in ein Deutschland nahes: Ludwig Klages aus der »kosmischen Runde« des frühen Schwabinger Kreises um Stefan George und Hans Henny Jahnn mit seinem in der Hamburger Heide gegründeten Ugrino-Bund. Beide stehen für die gescheiterte und heute vielleicht nur noch im Stilbewusstsein still weiterlebende Idee einer praktisch-materiellen Lebenskultur der Moderne ein. Schon Adorno zeigte, wie wenig das Denken solcher Protagonisten einen Weg zeigen konnten über das hinaus, was moderne Massenkultur liefern kann. Und wirklich, hier wurde ja eigentlich »hohes« Bewusstsein nur am »tiefen« Leben verschwendet. Denn dieses hatte sich selbst in der verregelten Industriekultur 80 | Es geht mir nicht darum mit »Vor-Faschismus« die kausalen Verwicklungen dieses Denkens mit den schrittweise eintretenden politischen Entwicklungen und der Akzeptanz des Faschismus herauszustellen (auch nicht darum sie zu bezweifeln). Wichtig scheint mir aber, dass das sich einzig auf die »Irrationalität« und den Hinweis auf die Momente dieser Kausalität berufende Denkverbot, die Offenheit des Diskurses über Romantik und Realismus, über Existenz und Sein, über Alltag und Ich in Frage gestellt hat und, wie die Beipiele Jaspers und Löwith zeigen, einseitig (und unter Berufung auf Kierkegaard gewissermaßen hinter Nietzsche zurück) zurückgedreht und in neue monumantale Dimesionen der »Religion« überführt wurde.
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schon »gewonnen«. Doch figurieren Klages und Jahnn als je einzelne, in die Marginalität gedrängte Menschen jener frühen Zeit des Modernismus, in der die erschütternden Momente der nachfolgenden »Weltkriege« des 20. Jahrhunderts ihre Schatten vorauswarfen. Um hier herauszukommen, versuchten sie, wie vielleicht viele andere Zeitgenossen weniger pointiert auch, in der absoluten säkularen Wendung des Problems des »toten Gottes« ein aristokratisches Pathos des modernen Ichs zu bewahren. Kann dieses Suchen im Eros des Dingerfahrens und der »Natur« im Instinkt des Unmittelbaren, kann es die Anforderungen der modernen Konsumkultur erfüllen? Wo Adorno elitär am Begriff und der Reflexion der Aufklärung, am »Objektiven«, hängen bleibt, ging es Klages und Jahnn, unter ganz verschiedenen Voraussetzungen und in verschiedenen Richtungen durchaus Vergleichbares denkend, darum, jenseits der wieder ins hegemoniale Sinnreich überführten Hauptströme – des Marxismus, des Existenzialismus und der Lebensphilosophie – um die Frage, wie Menschsein als in der Weltsein, in der Natursein, ja, gerade dieses als neue Kultur der Moderne anbietend seinen Ausdruck finden kann. Unter dem Blick der sich heute wieder formierenden Kultur des »Monotheismus« weisen diese Ansätze – über Adorno und den Existenzialismus hinaus – erfrischend auf »Echtzeit« gepolte, anders denkende Kulturpotenziale der Moderne hin.81 Der Hinweis auf solche radikal gedachten »Alternativen« ist wichtig. Sie bieten sich an, dem »Ich«-bezogenen »Rest-Sinn« der Religionen gegenübergestellt zu werden, weil sie Körper- und Dingwelterfahrung in einen ästhetischen Gestaltungszusammenhang bringen, der den Religionen weitgehend verloren ging. Und doch sollte eine Gegenüberstellung von Religion und Naturgestaltung nicht so verlaufen, als habe man – wie einst bei Marx und Kierkegaard – Alternativen im Sinne großer Programme der modernen Re-Orientierung vor sich: hier die neue Gesellschaftsordnung gegen den Kapitalismus bei Marx, dort die »Wiederherstellung des vor achtzehnhundert Jahren verkündeten Christentums« (Löwith 1956: 50). Das mythische Denken am Anfang des 20. Jahrhunderts war als »Alternative« zu den Überspannungen des Christentums gedacht. Die Strenge, die das Christentum auferlegt, in der unvermittelten Kombination von 81 | Man weiss heute, wie stark Adorno selbst mit diesen Alternativen rang und wie viel er diesem Ringen verdankt, ja, wie sehr vielleicht gerade darin heute seine große Bedeutung begründet liegt, vgl. Jäger (2005).
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innerer und äußerer Religion, von Fühlen und Erscheinen, von innerer Verschnürung und Ausbruch »selbst« zu werden, hatte zum Überdruss an allem Christlichen geführt. Versuche, es wieder einzuführen, beschränken sich auf »Religionspolitik« und sind insofern Reaktionen auf »Islam«. Sie als Bewegung in die moderne kulturelle Erneuerung einzubauen, sind deshalb zum Scheitern verurteilt. Man könnte sagen, in einem praktischen, lebensorientierten Sinne hat niemand Nietzsche so ernst genommen wie Klages, niemand Kierkegaard so in sich hineingelesen wie Jahnn. Beide wirkten so in einem großen Moment, der anti-bürgerlichen und zugleich anti-religiösen, anti-kirchlichen Rebellion vor dem Ersten Weltkrieg, der sich in der Zeit des ideengeschichtlichen Wendepunkts des 20. Jahrhunderts, in den 1920er Jahren, vollends entladen sollte. Nichts ist heute im Geflecht der globalen Kulturentwicklung mehr denkbar ohne das Andere, das nicht mehr nur als »nacktes Leben« zu denken ist, sondern als das andere Kulturleben, das sich im »nackten Leben« aufbaute, die Seins-Kultur, die sich in Sartres Vorwort zu Fanons »Verdammten dieser Erde« ankündigte. Das macht es so schwer, nur noch von innerabendländischen Entwicklungen auszugehen. Schon Freud beobachtete argäugig das »Nicht-Westliche« (Said 2003). Von den Zeichen des toten Gottes – so sehr Nietzsche auch den Löwen in der Höhle, den AntiChristen Muhammad im Hintergrund, schon mitgedacht hatte – bleibt der Islam nicht verschont. In der islamischen Welt vollzogen sich, nicht immer gewissermaßen second hand, die Erschütterungen des Abendlandes, begleitet von ähnlichen Klagen der »Amtskirche«, der sich zunehmend »amtskirchlich« gebärdenden Priesterschicht, den ´ulama, und Imamen, die mit gleichen Wehklagen wie die laizistischen Intellektuellen »Kulturkritik« ebenso feierten wie den »Abschied vom Christentum«. Die gouvernementalistische Maschine des post-kolonialen Nationalstaats hat nicht minder gearbeitet als die koloniale und führte, ebenso wie im »Westen« auch, zu analogen Projektionen der gesellschaftlichen und kulturellen Konstitution des »nackten Lebens«. Das bis in die 1980er Jahre hinein noch marginale Beduinenland Saudi-Arabien ist schon immer eine Ausnahme unter den »islamischen« Kernländern gewesen, und man fragt sich, mit welcher Hilfe es ihm schon damals schrittweise gelang, sich zum Muster einer quasi inter-staatlichen »islamischen Gemeindeordnung« zu erheben. Davor aber galten der säkulare Nationalstaat genauso wie die Öffentlichkeit als »national«, »Religion« galt wenn nicht als Kultur der Armen, dann als Privatangelegenheit und war auf eng umgrenzte öffentliche Bereiche be-
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schränkt. Die Intellektuellen versuchten – wie in Europa – allen Ansätzen der Re-Theologisierung ein modernes, ästhetisches und politisches Denken entgegenzusetzen. Das änderte sich schlagartig nach dem Jahr 1967 mit der Niederlage der Araber gegen einen »religiös« begründeten Staat und nach der »religiös« gewonnenen Revolution im Iran. Dass sich diese Sozialrevolution gegen den vom Westen gestützten Schah als »islamische« durchsetzte, änderte jeden Begriff von »Religion«, wie ebenso alles, was bis dahin unter sozialer Bewegung und Revolution verstanden wurde. Dies bedeutet auch, dass von nun an das kulturelle Verstehen von »Heterodoxie« ganz ausschließlich unter den einen Gesichtspunkt von politischer Macht gestellt wurde. Nichts was sich heute in Europa als »Ich« versteht, kann an dieser Entwicklung des »Nicht-Europäischen« noch vorbei, auch dann nicht, wenn es verzweifelt noch Stimmen gibt, die den Glauben predigen, es könne mit dem Aufzeigen von Grenzen gegenüber dem »Todfeind« seine »Identität« noch gerettet werden. Eben dadurch vielleicht, dass man ihn ummauert wie etwa einen Zoo? 3 Sein als Leben: Foucault hat uns ein Bewusstsein davon vermittelt, wie zunächst natürliches, reproduktives Leben aus dem Gottverständnis ausgegliedert wird und in die Kalküle der banalen Ordnung der Dinge eintritt. Darin aber bleibt die Ökonomie das wahre säkulare Element der Bemächtigung des Einzelnen auf der einen, wie sie sich auch der Staatmacht auf der anderen Seite annimmt. Diese säkularen, banalen Momente des fortschreitenden Reichtums objektivieren die lebendigen Körper, standardisieren ihre Möglichkeiten und verleiben sie der Maschinerie staatlicher Ordnungen ein. In besonderer Weise zielt sodann – wie ökonomisches Denken überhaupt – vor allem Verwaltungshandeln auf Bändigung und Eingliederung der lebenden Körper ab. Aber das ist erst der Beginn des neuen modernen Stadiums. Denn die Institutionalisierung der Lebensordnungspolitik bedingt zugleich eine potenzielle Umkehrung der Macht. Biologisches Leben verkehrt sich selbst in den Hauptgegenstand von Politik. Gerade darin liegt dann aber auch die neu gegebene Möglichkeit der Selbstbemächtigung des »Ich«. In dieser doppelten »Reversion« tritt hier nun die ganze Problematik des modernen Individualismus zu Tage.
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»Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet.« (Agamben 2002: 17)
Politik hat »nacktes Leben in »gutes Leben« und schließlich in »höheres« Leben zu verwandeln. Das kommt dem Einbezug des reproduktiven Kerns in die moderne Soteriologie gleich. Aber auch der wirkliche »Ausschluss« wird erkennbar. Ins Zentrum der Machtkalküle rückt erneut die metaphysische Definition des Menschen als Lebewesen. Sie schließt die Unterdrückung des Lebens und damit die Bemächtigung des gereinigten »Ich« mit ein, denn in dieser Unterdrückung, ja, in diesem Ausschluss wird auch »nacktes Leben« zum Subjekt der politischen Macht selbst. Darin können wir Agamben folgen. Wenn wir so mit der politischen Bedeutung des »nackten Lebens« beginnen, dann ist der Zusammenhang von »Befreiung« des »Ich« und Entkörperlichung im »Erlösungs«-Kontext der abendländischen Entwicklung erst einmal das Wichtigste und sein Überschlagen in die nicht-westliche Welt unvermeidlich. Nur so können wir den Wandel in Habitus, Pietätsformen und öffentlicher Moral in den ägyptisch-ländlichen Kontexten verstehen. Das Dilemma der Zeit beruht auf diesen Widersprüchen: Einerseits bedingt die Entmetaphysierung des Körpers im Zeichen des »toten Gottes« eine Politisierung der Immanenz des »Ich«, andererseits vermittelt gerade das Ausleben der »Physis« des »Ich« die Bedrohung des Rückfalls in die Barbarei oder die Rückkehr in den Zustand der prä-axialen Zeit, in der Religion sich als Imperialmacht gegen den »Mythos des Lebens« wendet. Der Übergang ist angedeutet, wenn dieses »Ich« sich gänzlich in das Spannungsfeld zwischen Gott und Welt begibt. Es wird dann zu einem für ihn fundamentalen Unterschied für seine Entscheidungen im Leben, ob es sich nur als »Geschöpf der Natur« begreift oder als »die übernatürliche Schöpfung eines göttlichen Willens« (Löwith 1956: 62). Der Mensch stünde als eine Schöpfung der göttlichen Vorsehung »in einem sinnvollen Zusammenhang mit der Schöpfungsordnung«. Ist dieser Gedankengang heute noch nachzuvollziehen? Ist die geschichtliche »Mit- und Umwelt« dieses »Einzelmenschens«, den das Christentum begründet hat, nicht eben gerade anders zu denken als im Zeichen einer höherer Sinnexistenz oder eines christlichen Gottmenschentums? Zwei Dimensionen also des denkenden Erfahrens werden hier wieder Mitte des 20. Jahrhundert als Gegensätze eingeführt, andererseits aber
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auch als Dilemma der Lebenspraxis sichtbar. Sie wurden über Jahrhunderte so gedacht, dann aber im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den hegemonialen säkularen Orthodoxien der Zeit, Marxismus und Liberalismus, die beide selbst Reaktionen auf die gestellten Fragen des »Ich« in der Welt sind, an den Rand gespült. Mit der Politisierung des Religiösen wurden sie erneut als Alternative und Ausweg, ja, als Überwindung des Säkularismus wieder ins Spiel gebracht: Erstens die Reinstitution der Religion als Element des zivilisierten, sich selbst modulierenden »Ich« – und von daher Gesellschaft mit spirituell interaktiven Formen der Kollektivorientierung (Vermassung der Transzendenz-Verwaltung mit den entsprechenden desaströsen Kulturkonfliktszenarien; tentative Entmächtigung des Selbst und seine erneute rituelle Integration in die Gesellschaft – selbst dann nur Ritus als Prozess). Zweitens die Wiederbelebung der materiellen Unmittelbarkeitskultur des Selbst, permanente Kritik ideologischer Sinnerfahrung als Medium der Selbstversicherung und der sozialen Immanenz, Liberalismus als Kultur. In Bezug auf den ersten Punkt zeichnen sich schon die Interventionen ab, die die avancierte Seite des katholischen Denkens einbringt. Es geht ihm nicht mehr um die reine »Souveränitätsbegründung« des säkularen Staates (Carl Schmitt) oder die moralische, an »Gott« gebundene Souveränität der Kirche (Erik Peterson). Es geht hier um die extensive, namenlose Souveränität des modernen Subjekts, das neu Aufnahme in der Kirche findet und als solches dadurch erst wieder neu legitimiert werden kann (Agamben). In Bezug auf den zweiten Punkt habe ich bereits auf Klages und Jahnn hingewiesen, zwei Vertreter einer von der offiziellen faschistischen Lehre unterdrückte, dieser in vielem nahestehende, in vielem sie unterminierende Theorieepisode. Sie sind als solche weitgehend vergessen und doch provozieren sie ein liberalistisch-säkulares Denken, eröffneten den säkularen Denkstrang der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und repräsentierten noch am deutlichsten die lebensphilosophischen und erotizistischen Stränge der Vorkriegszeit. Beide sind – wenn sie auch in Praxis auf subtile Ausarbeitungen der »kleinen Dinge« Wert legten – im Anspruch »monumentalistisch«, ja, sie nehmen im Denken eine gewisse »pharaonisch«-modernistische, gesamtkunstwerkliche »Architektur« auf. Ohne Zweifel kommt auch darin die moderne Kraft des konservativ neo-romatischen Geistes der Zeit zum Ausdruck.
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»Pharao und Ich« – religiöse Konstruktion des affirmativen Subjekts –, das ist es, was sich für die politische Theologie des Subjekts von hier aus im 21. Jahrhundert anbietet: die gottesfreie Natur des Subjekts unter Bedingungen eines neuen gesellschaftlichen und bürokratischen Totalismus. 4 Totalität und Selbstbemächtigung: Wenn man Foucault so verstanden hat, dass als Ergebnis staatlicher Gouvernementalität des »nackten Lebens« dieses selbst sich zunehmend seiner bemächtigt, so ist hier eine der wesentlichen Komponenten des modernen Individualismus angesprochen. Bio-Macht, die Verlagerung des politischen Kalküls auf das »nackte Leben«, ist auch Herauslösung des Subjekts aus dem einseitig, institutionell (System) ausgelegten Totalitätsverständnis der Gesellschaft. Individualismus und die »nackten Körper« lassen »Unterdrückung« nicht mehr nur einseitig aus dem Kalkül staatlichen Handelns erwachsen. Das Subjekt selbst in seiner körperlichen Verfassung kalkuliert seine Ansprüche, die es an das äußerliche Gesellschaftliche stellt. Darin liegt auch eine Dimension der scheinbaren Entinstitutionalisierung, ja, Entstaatlichung der Gesellschaft. Je mehr über Individualismus und Freiheit, Körper und Macht gesprochen wird, desto mehr gehen die noch im 20. Jahrhundert als gesichert erscheinenden Grundbegriffe gesellschaftlicher Beschreibung wie Religion und Staat, Vernunft und Wissenschaft verloren. Doch ist es durchaus problematisch, wenn man darin nur eine Komplementarität der Machtbeziehungen sieht und die entsprechenden Kulturformen, die entstehen und mitspielen, übersieht oder überhaupt die möglichen, im Prozess selbst angelegten Reversionen der Macht. Die Perspektive Foucaults ist deshalb zu erweitern, wenn nicht gar umzudrehen. Es kommt dabei darauf an, neue Beschreibungsebenen zu finden, die nicht – wie die globale reaktionäre Orthodoxie es will – die alten Begriffe verlängern und sie weiter als Mittel strategischer Herrschaft einsetzen. Im Blick auf den Iran (und natürlich die inneren Folgewirkungen in Europa und Amerika) kann Islam nur als ein universalisiertes Stück Kierkegaards im 21. Jahrhundert begriffen werden. Der Religions- und Kulturaspekt dieser Entwicklung – von Foucault in seinen Reflexionen über die iranische Revolution zunächst angesprochen, dann aber unterdrückt – zeigt bereits an, wo die politische Spiritualisierung des Subjekts zugleich Momente einer neuen gesellschaftlichen Totalisierung hervorbringen kann. Ich werde mich weiter unten damit noch intensiver beschäftigen.
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Bleibt man zunächst im Feld des modernen »Lager«-Problems – es umspannt (man kann »Auschwitz« nicht symbolisch als vorläufigen Endpunkt benennen) alle Formen der Internierung des Lebens (wie eng sie mit moderner Macht verbunden ist, mag man an der fortlaufenden Präsens solcher Einrichtungen wie Kloster, Internat, Campus, Kaserne, Gefängnis etc. bis hin zu Guantanamo erspüren) –, so wird man zwar die Extrembedingungen des Unterdrückungsmechanismus des »nackten Lebens« in ihrer Substanz als für den Zustand sozialer Verfassung und modernen »Totalitarismus« (Gulags, Konzentrationslager, Guantánamo etc.) verbindlich zu verstehen haben. Es handelt sich ja hier gewissermaßen um die »höchsten Stufen« der Umsetzung des Einbezugs natürlichen Lebens in moderne Politik. Andererseits bleibt die Perspektive ganz auf die Bedingung der Totalität der »Anstalt« eingeschränkt. Der politisch-spirituelle und kulturelle Akzent liegt auf der Transformation der Politik in einen Raum des »nackten Lebens«, der totale Herrschaft (des politischen Zentrums) voraussetzt. Foucault geht schließlich einen Schritt weiter und dehnt den Raum des »nackten Lebens« auf die gesamte Gesellschaft aus, wo Prozesse der Subjektivierung zur tragenden Komponente des gesellschaftlichen Lebens werden: die Totalität des sozialen Panoptikums, wo der Einzelne seine Stellung im Verhältnis zu anderen immer mehr an dem Grad bestimmt, in dem er auf das eigene Selbst reflexiv geworden ist. Diese allgemeine Selbst-Objektivierung ist Mittel der Konstitution der Gesellschaft als Ganzes. Sie ist zugleich aber nicht möglich, ohne dass sich der Einzelne an die äußerliche Kontrollmacht bindet. Er integriert sich so auch in die große Politik des »totalen« Staates oder, allgemeiner noch, in das Reich der institutionellen Totalität. Foucault versucht dies in der Metapher der bio-politischen Symbiose von Staat und Subjekt einzufangen. Es ist schon richtig, wenn behauptet wird, dass die kulturellen Aspekte dieser »Symbiose« völlig vernachlässigt werden, denn selbst in der Geschichte der Sexualität bleiben sie auf das enge Feld der »Sorge für das Selbst« reduziert. Mir scheint, dass der in den »Reportagen« zur iranischen Revolution angedachte Weg der »religiösen« Spiritualisierung (d.h. der antizipativen Befolgung und Vorwegnahme) der Politik ein utopisches Element aufzeigen will. Ist dies nicht schon insoweit realisiert, als dies durchaus heute den wahren Herrschaftsmechanismus der modernen Gesellschaft in sich birgt. Andere kulturelle Alternativen der Spiritualisierung
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des Subjekts (etwa in der Psychoanalyse) waren allerdings früher schon gedacht worden, die noch heute weitgehend unterdrückt sind. Wenn also von »Symbiose« die Rede ist, dann sind Auflösungen der herkömmlichen Regelungssysteme im Selbst gedacht. Insofern handelt es sich auch um die (utopistische) Entpolitisierung der institutionellen Verfassung der Gesellschaft und um eine neue Konstitution des sozialen Raums, in dem nun die moralische und die instinktive Solidarität zu einem neuen kulturell kreativen Bemächtigungsraum des Selbst zusammengeführt werden. Nichts, was den »Verwalter« höher stellt als den »Konsumenten«, nichts, was der Konsument mehr wollen darf als der Verwalter, Aufhebung des Allgemeinen im Besonderen und umgekehrt. Dies sind Dimensionen dieses Prozesses. Hier aber haben die »religiösen Spiritualisten« bereits eingegriffen und versuchen den Weg zurück zu beschreiten: das neue empowerment kirchlicher und staatlicher, immer wichtiger aber korporativer »Institutionen«. 5 »Struktur« als Missverständnis: »Ägypten« als Herausforderung des 21. Jahrhunderts vermittelt einen Geschmack von der Paradoxierung der Entwicklungs- und Strukturbegriffe des 20. Jahrhunderts. Die Rationalisierungs- und Planungsvorgaben für gesellschaftliche Entwicklung und »Struktur«-Bildung sind ja nicht aufgegeben, sondern leben als willkürlich wieder auffüllbare Hülsen im strategischen Denken fort. In der Praxis sind sie aber gar nicht darauf angelegt, einlösbar zu sein. In der konventionellen, sich auf Max Weber berufenden Soziologie, die nun wieder machtstrategisch ins Zentrum des Diskurses der Moderne gerückt wird, behauptet man, dass die strukturanalytische – begrifflich, d.h. idealtypisch gesetzte – Trennung von Macht und Kultur zugleich von der realen inneren Verbindung von Machtbeziehungen und kulturellen Orientierungen auszugehen habe. Institutionelle Strukturen, wie etwa Demokratie oder Recht und Gleichheit oder gar die Grade funktionaler Differenzierung, gelten wieder als eindeutig kulturell vorbestimmt. Man glaubt, sich damit – in der Tradition Max Webers verwurzelt – gegen marxistische und neuere von Foucault ausgehende Ansätze abzugrenzen. Letzteren unterstellt man, dass sie in der Kultur-Macht-Beziehung die Macht zum determinierenden, alle Arenen des sozialen Lebens durchdringenden Faktor machten. Dagegen argumentiert man, dass die Debalancen und Konflikte in einer regionalisierten Welt sich vor allem zwischen unterschiedlichen zivilisatorischen und kulturellen Orientierungen abspielten. Indirekt will man damit
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natürlich behaupten, dass es keinen machtstrategischen Universalimus der institutionellen, ökonomischen und politischen Durchrationalisierungen der modernen Gesellschaften geben kann, sondern nur die kulturell bestimmte Dezision über den Umgang mit denselben (die heute noch immer Nation heißt). Dass man sich dabei auf Max Webers zivilisationsvergleichende Analyse bezieht, ist nicht nur ein Anachronismus, sondern selbst eine machtstrategische Dezision, mit der diese Perspektive ideologisch abgeschützt wird. Es gibt hier also keine Globalisierung der Strukturen, sondern nur eine in eingeschränktem Maße fortschreitende Globalisierung der (Struktur- und Macht-)Diskurse als Mittel der Hegemonie. »Ägypten« hat hier seinen Platz, ist bereits exkludiert und marginalisiert. 6 Genealogien der Innerlichkeit: Die »Innerlichkeit« des 19. Jahrhunderts ist das Konstrukt des modernen professionellen Menschen als Subjekt. Dazu gehört, dass der Begriff des Allgemeinen (im Gotterkennen) zum inneren Anliegen des Subjekts gemacht wurde (Innerlichkeit als Gottmenschentum, sittliche Verantwortung). Die These lautet: In der deutschen Aufklärung ist die für die Soziologie heute so wichtige Trennung zwischen »innerer« und »äußerer« Religion entwickelt worden und der Orient spielte bei der Entwicklung dieser begrifflichen Trennung eine ganz entscheidende Rolle. Diese Trennung ist für die heutige Zivilisationsfrage (und damit natürlich für die vergleichende Zivilisationsforschung) von entscheidender Bedeutung. Wenn man einen Dialog will, so scheint mir, muss man sich über die Termini unterhalten, über die er geführt werden soll, auch und gerade weil diese Trennung in der säkularen Theologie der Moderne, eben der inneren Differenzierungslogik des modernen Denkens, eine neue Pointierung erfahren hat: Unter dem Begriff der »öffentlichen Religion« wird heute die Zivilisationsfrage völlig anders gestellt als im beginnenden 19. Jahrhundert, wo Zivilisation, moderne, hegemoniale Zivilisation im Bann des Begriffs der »Innerlichkeit« stand. Ich kann dies hier nur sehr beispielhaft und rudimentär entwickeln: Wenn wir uns zum Beispiel vergegenwärtigen, dass Hegel es darauf anlegt, Mentalität und Denkweise der alten Ägypter bereits unter den Gesichtspunkt der inneren Transformation des »Ich« zu stellen, wird ihre moderne Bedeutung klar: Die Ägypter stehen für »den Übergang vom Orientalischen zum Okzidentalischen« und bleiben dabei aber in einer durch »in die Natur versenkte«, »geistige Kraft« bedingten »Äußerlich-
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keit« stecken, die nicht zur »Innerlichkeit« kommen kann (Hegel 1923: 504). Im Ansatz wird deutlich, worauf Hegels Unterscheidung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit gerichtet ist: Erst das Christentum, in dem sich der Geist zum Einen erhebt, und die »Identität des Subjekts und Gottes« in die Welt kommt, nämlich »das Erkennen Gottes in seiner Wahrheit« (ibid.: 733f.) entwickelt, kann die für das Okzidentale spezifische Verbindung, die »Versöhnung des Sinnlichen mit dem Gedanken« (ibid.: 735) durchsetzen. Aber im »Gottmenschen« des Christus steckt noch der griechische Anthropomorphismus. »Er ist noch nicht fortgegangen bis zur subjektiven Freiheit des Ich selbst, noch nicht zu dieser Innerlichkeit, noch nicht bis zur Bestimmung des Geistes als eines Diesen.« (ibid.) Aus Hegels protestantischer Sicht kann sich der Eine, die Allgemeinheit Gottes, nur innerlich im Geiste erschließen. Diese Möglichkeit spricht er dem Islam nicht ab, doch ist für ihn der »Mohammedanismus« als der »Fanatismus des Einen, Absoluten« insofern nicht »allgemein« und von daher auch nicht innerlich, weil er immer nur das je Bestimmte absolut setzt. Man lese: »Wenn ein Mohammedaner hinterlistig ist, dann kann es nichts hartnäckigeres in der Hinterlist geben; jahrelang trägt er sich mit ihr herum.« (ibid.: 792) In der spezifischen Form, in der, bleiben wir bei Hegel, das Absolute je spezifisch gesetzt wird, handelt es sich also durchaus um eine große historische Bewegung, die der Begeisterung und in der Literatur und Kunst durchaus der Innigkeit fähig ist. In der spezifischen Konstruktion des Einen aber kann er nicht zu einer inneren Sittlichkeit des Subjekts hingeführt werden. Der erste religiöse Fanatismus ist im Islam, nach Hegel, auf »Religion und Schrecken« (Robespierre: die Freiheit und der Schrecken – »terreur« – sic!) gebaut, und so: »nachdem sich der Fanatismus abgekühlt hatte, war kein sittliches Prinzip in den Gemütern geblieben: sinnlicher Genuss tritt an Stelle des Fanatismus.« Deshalb ist der Islam »gegenwärtig«, »schon längst von dem Boden der Weltgeschichte verschwunden und in orientalische Gemächlichkeit und Ruhe zurückgetreten« (ibid.: 797). In dieser Form der spezifischen begrifflichen Begründung von Innerlichkeit, der einen allgemeinen standardisierten Begriff der Religion voraussetzt, und das Ganze, das Allgemeine der Menschheit zum Begriff des Menschseins macht (als Einheit Gottes im Subjekt), gliedert Hegel den Orient als das im Spezifischen stecken gebliebene Kulturgebilde nach zwei Richtungen hin aus dem Diskurs der modernen Zivilisationen aus: erstens als Vorgeschichte des Prozesses von Objekt-gebundener Äußerlichkeit des Religiösen im Ritual und im Symbol und zweitens als die (unvollkommen
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realisierte) Überwindung äußerer Religion im Prozess hin zur Innerlichkeit, hin zur Sittlichkeit in der sich Subjekt und das Eine verbinden. Von hier ausgehend hat Max Weber die Konstruktion der Moderne vollzogen, die den Hegelschen Religionsbegriff voraussetzt und zugleich eine Inthronisierung der in der deutschen Frühromantik erstmals kulturell entwickelten Tiefenerfahrung der historischen Geworfenheit des Menschseins vollzieht. Es gibt zwei Orientbezüge in Webers Konstruktion des westlichen Rationalismus, die dieser historischen Tiefenerfahrung vorgelagert sind. Weber nimmt die genealogische Frage nach den Grundlagen des Abendlandes auf, wendet sie aber zunächst auf materiale beziehungsweise auf Strukturmomente der gesellschaftlichen Entwicklung an. Er stützte sich dabei aber minutiös auf neues Material der Spezialfächer und arbeitete über seine Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike (unter Einschluss von Ägypten und Mesopotamien) hinaus sodann seine Institutions- und Herrschaftslehre des modernen Staates aus. Erst in der Gegenüberstellung zu den alten Reichen des Orients gewinnt seine »moderne« Institutionenlehre ihre Kontur. Webers zweite Orientperspektive, die hier Hegels Philosophie der Weltgeschichte durchaus nicht fern ist, folgt in einem späteren Stadium der Religionssoziologie. Sie fragt in den vergleichenden Studien zur Geschichte der Weltreligionen, die ja neben Hinduismus, Judentum auch den Islam einbeziehen, nach den unterschiedlichen religiös geprägten Subjekthaltungen zur Welt. Im ersten Fall geht es um strukturelle Prozesse der Wirtschaftsentfaltung und Bedingungen der Staatsentwicklung, schließlich um eine idealtypische Sonderheitenlehre des modernen Staates gegenüber den ursprünglichen Staatsentwicklungen in den alt-orientalischen Reichen. Im zweiten Fall ging es um die in den unterschiedlichen Weltreligionen vorgegebenen Sinnbezüge und Bedingungen des Einzelmenschen als Voraussetzung der Institutionenbildung. Bei aller notwendigen Vereinfachung lässt sich hier sagen, dass die erste Frage nach strukturellen Verbindungen von Wirtschaft und Staat stark an Marx anknüpft und, dass die zweite Frage nach dem Zusammenhang von Sinn und Macht erst zu einem späteren Zeitpunkt voll entwickelt wird und im Großen und Ganzen nach der ab 1894 beginnenden Beachtung Nietzsches aufgenommen wird. Erst durch Nietzsche wird Weber in aller Radikalität bewusst, dass es innere auf das europäische Selbst bezogene Bedingungen und Entwicklungen sind, die den Westen vom Orient unterscheiden und dass diese selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen sind.
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Ohne Zweifel stehen diese beiden Orientperspektiven in engem Verhältnis zueinander. Natürlich war diese Vermittlung von »neuem« Ich und »neuer« Gesellschaft in seinen Grundzügen schon in der deutschen Geschichtsphilosophie angelegt, wo Strukturanalyse orientalischer »Zivilisationen« einerseits, andererseits die nostalgische Sehnsucht nach der magischen Verzauberung des Orient, in Philosophie und Literatur längst an Bedeutung gewonnen hatte. »Orient« beherrschte den Geschmack der Zeit und trug so zur Bewusstwerdung der neuen inneren Sinnhaltung bei. 7 Die Veräußerlichung und Aufhebung der Innerlichkeit: Der neue objekt- und ordnungsgeleitete »Fanatismus«, der sich in der Verbindung von Kunst und Massenkonsum schon im »Gesamtkunstwerk« etwa des »Jugendstils« Bahn brach, findet heute in der Ethnologie und der Soziologie seine Fortsetzung: Gestaltung, Ritus, Symbol und Stil, Leben, Lust sind die entsprechenden thematischen Bezüge. Die Archaisierung der Symbolfrage und die politische Theologie der »nackten Körper« (nicht im Lager, sondern in der Massenkultur und äußerlichen Religion) deuten nur Momente der Verschärfung und »soziologischen« Radikalisierung an. Die Diskurse über Theos, Polis, Oikos (Agamben 2005) wären allerdings in Weiterführung von Agamben auch über »Ägypten« zu vermitteln. Wenn politische Theologie immer utopisch und auf die Endzeit gerichtet bleibt und agiert, d.h. letztendlich im praktischen Chaospolitik ist, weil sie »Souveränität« auf Ausnahmezustand derer, die ihn erklären können, bezieht, dann kann daraus zweierlei gefolgert werden: Erstens ist der Gegensatz zur oikumenia, zum gegliederten, geordneten Reich Gottes, dem Gesetz (der Kirche, den Versammelten etc., dem Staat etc. als Regelwerke) zu betonen. Oikos aber gilt auch als geordnetes Haus; es gibt hier kein Innen. Zweitens gibt es aber die massenkulturelle Freisetzung des Individuums, der Individualismus als die Gleichsetzung des Einen mit der Polis und damit wird virtueller Wegfall der Notwendigkeit des Staates denkbar, als »politische Theologie« im Einen, Souveränität des Individuums etc.82 82 | Theos, Polis und Oikos werden eins, (Schmitt et al. denken nur Polis, Oikos, (Kirche, Staat) aber sie denken nicht den Theos im Einen (Hegel/Protestantismus). Die Fragen, die sie entwickeln sind aber unter dem Gesichtspunkt des Einen nicht minder relevant. Der Eine stellt die Frage dennoch säkular, nur er ist heilig und die Welt ihm äußerlich, Gegenstand seiner Gottteseinheit – Polis/Oikos denkt die säkulare Welt/Ordnung als heilig, Heilsobjekt.
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Es liegen hier zwei völlig verschiedene Ordnungsvorstellungen vor, die sich nur aus dem Unterschied der Innen/Außenperspektive ergeben. Die einen haben Gott in der Welt, die anderen haben ihn in sich. Die ersteren müssen die Ordnung in sich aufnehmen, die zweiten ordnen von sich aus und machen die Ordnung vermittelnd respektive stellvertretend. Agamben macht diesen Schritt nicht. Ihm geht es nur um den Schmitt-Effekt, der die Politik als Freiheit, das ökonomische Kalkül aber als Hindernis derselben betrachtet. »Ägypten« wäre auch hier das »Ganze«. 8 Unersättlichkeit und Erlösung: Der Glaube, dass es eine bremsende Kraft gäbe, die im Zeichen des Reiches Christi die Vollendung der Geschichte verzögere und die Ankunft des Reichs, des Endes der Welt, verhindere, geht an einer grundlegenden Entwicklung vorbei, die sich heute abzeichnet. Weder der Staat – das wäre im katholisch-christlichen Glauben gut zu ertragen – noch die Kirche, deren Ende unabsehbar ist, können die übermächtige Kraft beherrschen, mit der sich die Ökonomie des Selbst vollzieht. Wenn sich die politisch-christliche Szene dem Ziel verschriebe, die innere Organisation des Lebens als religiöse Ordnung umzusetzen, dann wäre ihr theologisch-politisches Element selbst bedroht, dann wären Kirche und Nationalstaat in ihrer Existenz bedroht und obsolet geworden. Das Heraufkommen des überzeugend religiös begründeten Nationalstaats – das sind heute die USA, Israel und der Iran – ist aber vielleicht nur eine notwendige Stufe des Übergangs. Es werden ihnen vielleicht andere Staaten folgen. Den politisch christlichen Staat gibt es – mit Ausnahme des Vatikans – nicht. Was aus dem theologisch-ökonomischen Bestimmungszusammenhang der christlichen Szene bleibt, ist die politische Ökonomie des Ich – verbunden immer zugleich auch mit der Möglichkeit ihrer Umsetzung in eine politisch-theologische Bestimmtheit (Verteidigung des Lebensstils). An den Widersprüchen der hier aufgezeigten Dimensionen setzen die folgenden Überlegungen an: Erstens kann die Vorstellung der inneren Gliederung des göttlichen Lebens in Glück und Erlösung ohne die Wahrheit des Selbst im Hier und Jetzt nicht auskommen. Die religiösen Erwartungen liegen ganz auf der inneren, ordnenden Formung des Selbst als Vorbereitung des Heils. Nur über die innere Gottwelt (Ordnung) im Menschen ist Heilsgeschichte im christlichen Szenario denkbar. Ökonomisch gedacht kann dieses Selbst sich dann ganz unmittelbar veräußern: das Glück im »Haus« (oikos) und die verfügbare Ordnung der Dinge (heu-
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te: Markt, Medien, Massenkultur). Ich-Konstitution, so meine Annahme, ist immer schon auf ein unmittelbar Äußeres gerichtet (Heil und Glück, in dem sich das Ich auflöst), so auf Lebens- aber nicht auf Staatsorganisation (aus diesem Widerspruch zieht die Kirche ihre Kraft). Zweitens, und im Gegensatz zum ersten, vereinigen sich Kirche und Staat unter dem einen Gesichtspunkt der politischen Theologie, die ihnen ihre Daseinsberechtigung als äußere Formen der Sicherung des Selbst bieten. Sie unterliegen dem Widerspruch, dass sie immer auf das Selbst und die innere Göttlichkeit desselben zielen, dass sie aber nur äußerlichen Mechanismen der Macht unterliegen (Erweiterung des Lebensstils, der Lebenserfahrung des Selbst). Drittens ist das islamische Szenario auf eine ganz andere Dimension ausgelegt: Nicht die Formung für das Heil nach Innen ist wichtig, sondern die unmittelbare Heilsaneignung. Im Drang nach der Unmittelbarkeit des Heils stehen sich Muslime und Juden in nichts nach: Beide weisen Regelungsmechanismen auf, die das »Selbst« ausklammern beziehungsweise dieses nur im Grad der Heilsaneignung anerkennen. Islam und Judentum stellen die Mechanismen der inneren ethischen Selbstbildung im christlichen Szenario in Frage. Sie nehmen – wenn auch in unterschiedlichen Graden – die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Oikos in Polis vorweg. Was machen wir damit? Die Innen-Außen-Widersprüche sind hilfreich, weil sie etwas einbeziehen, was der konventionelle, (katholische) Diskurs über Oikos und Polis (politische/ökonomische Theologie) als »Unausgesprochenes« verdrängt, das aber im Zentrum des Diskurses steht: den modernen christlichen Gottmensch, das Selbst. Das Spezifische dieses Innen-Außen-Verhältnisses muss andere (Muslime und Juden) in gezielter Weise treffen. Für sie gibt es keinen »Gottmenschen«, denn sie sind »NurMenschen«, die sich, zunächst, jenseits von Kirche und Staat in einem »besseren« Verhältnis zu Gott befinden (Heilige; Auserwählte). Erst die politische Theologie des modernen Selbst zwingt sie zur religiös bestimmten Staatenbildung. Aus der modernen religiösen Staatenbildung (USA, Israel, Iran) ergibt sich eine eigenartige geo-politische Konfiguration: Glaubensgruppen in westlichen säkularen Staaten beziehen sich auf religiöse Staaten im Orient als ihre ideellen, religiösen Schutzmächte. Minoritäre Staatsbürgergruppen sind so potenziell in Fremdstaatenloyalitäten hoher Wertigkeit (Religion ideeller als ethnisch) verwickelt. Warum bilden sich solche Staaten im Orient? Wie wirken Sie im Westen? Hat dies etwas mit
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welthistorischen Konstruktionen wie etwa dem »Orientbild« in Bezug auf den Monotheismus und seine Bedeutung für die moderne Welt zu tun? Man könnte mit der Frage beginnen, wie die Orientbilder, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts das welthistorische Denken bestimmten, auch das aufkommende soziologische Denken am Ende des 19. Jahrhunderts beherrschten und heute gänzlich im Diskurs über vergleichende Analyse der Zivilisationen fortleben. Es handelt sich also um eine Aktualisierung der Perspektive, die sich aus der Entwicklung der deutschen Soziologie ergibt, die mit der bestimmten »weltreligiösen« Formulierung der Zivilisationsfrage – wie in den vergleichenden Analysen Max Webers – am radikalsten aus dem Unterscheidungsmechanismus des »Innern« und »Äußeren« schöpfte, ihn weiterentwickelte und die von daher auch den aktuellen Diskurs über Globalisierung, Kultur und Macht in der Moderne beeinflusst. 9 Orientalismus als Selbstfindung: Mit dem Rekurs auf die Präsenz von »Orientbildern« in der Ausformulierung der westlichen Zivilisationsfrage geraten wir zunächst zurück ins Zentrum einer von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler palästinensischer Herkunft, Edward Said (1978), aufgeworfenen Frage: Inwieweit entwickelte sich das literarisch philosophische Orientbild der Aufklärung und der Romantik zu einem systematischen Differenzierungsmuster gegenüber dem Orient? Es sind die reflexiven Außensichten, die die europäische, die moderne Gesellschaft, auf neue Kulturgrundlagen stößt. Entsprechend anders entfalten sich auch die inneren Differenzierungsmuster auf ganz andere Weisen als die – dem Fremden gegenüber verschlossenen – vormodernen Gesellschaften des Orients. Said, auf einen Differenzierungsgedanken Foucaults zurückgreifend, meinte, dass erst die Unterscheidung zwischen den rationalistischen Grundlagen der abendländischen Entwicklung und dem magischen Weltbild, das im Orient vorherrsche, die Grundlagen für die kolonialistische Beherrschung des Orients geschaffen und immer weiter ausgebaut hätte. So gesehen wäre also das europäische romantische Sehnen nach dem Orient nur ein Vorspiel der kolonialen Beherrschung und später eine Art der kulturellen Kommunikation zwischen Herrscher und Beherrschten. Es wäre vielleicht zu kurz gegriffen, wenn man hier bereits ein radikales Denkmuster identifizieren wollte, das zu jenen Entwicklungen führte, die wir heute als die Orientalisierung des Orients und des Islams bezeichnen, also die bewusste Selbstannahme eines von Außen, von anderen produ-
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zierten Bildes des kulturellen, sich emanzipieren müssenden underdogs der arabisch islamischen Welt. Die Entzauberung des westlichen OrientBildes wurde erst also durch die Annahme desselben in Gang gesetzt. Und ganz in den durch die Annahme der vorgezeichneten Bahnen gestaltete sich zum Zwecke der Anerkennung seine heterodoxe Machtentwicklung im globalen Diskurs. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung waren jene Ereignisse, die wir heute als eine Wasserscheide der zeitgenössischen modernen Gesellschaften betrachten: die seit dem 11. September 2001 über das Symbolische hinaus sichtbar gewordene Präsenz des Islams als einer praktisch politisch-sozialen Antithese zur westlichen Welt. Wie immer man zu der fachlich und sachlich vielfach kritisierten »Orientalismus-These« Edward Saids steht, man kann sich ihrer nicht einfach durch philologische Einfalt entziehen. Zu bestimmend ist Saids Differenzierungs-These selbst geworden. Das betrifft sowohl die gegenwärtige praktische politische Entwicklung als auch (und natürlich damit zusammenhängend) den kulturübergreifenden Diskurs in den Geistesund Sozialwissenschaften. Können dagegen die Rekonstruktionen einer spezifisch deutschen Entwicklung noch helfen? So sehr von hier interessante Einzelergebnisse über Leben und Werk, modifizierte Sichtweisen über Intentionen und Symbolik einzelner Autoren, so wenig wird man die deutsche Denklinie des Jahrhunderts der Aufklärung nicht mehr vom wie immer pauschalen »Orientalismus«-Vorwurf erretten können. Und was wäre gewonnen, wenn man »sich selbst«, das authentisch Deutsche an dieser Zeit genealogisch und das hieße immer auch selbst als kolonialer underdog, vom Orientalismus freisprechen wollte. Mit Ausnahme vielleicht von Goethe und Rückert haben wir es doch bei der deutschen philosophischen weltgeschichtlichen Positionierung des Islams und der Araber oder Perser am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mit geistigen Migrationen zum inneren Verständnis oder gar zur lebendigen Anteilnahme an der Kultur des anderen zu tun, sondern mit macht- und kulturgeschichtlich bedingten Positionierungen. Doch handelte es sich damals nicht um professionalistisches, spezialisiertes Wissen über die andere Kultur. Ja, auch jene, von Voltaire erfundene, traurige Figur des von der Aufklärung besessenen Weltdeutschen, Candide, endet nur aufgrund eines großen Missverständnisses über die »beste aller Welten« unter den Olivenhainen und Weinhügeln an den Ufern des Bosporus. »Orientalismus« hat schrittweise auch zu »Orientalisierungen« des sozialen Lebens in der Moderne geführt.
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Die Said-These ist also gerade auch in Bezug auf »Ägypten« so ernst zu nehmen, wie sie es von ihrer Wirkungsgeschichte her verdient: In welchem Verhältnis steht das Denken in Orientbildern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum manifesten soziologischen Differenzierungsdenken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Differenzierung bezieht sich in der Sozialphilosophie der Zeit äußerlich zunächst auf die Trennung der Räume zwischen Orient und Okzident, im Innern schließlich geht es um Differenzierung zwischen Macht und Kultur, Institutionen und Mensch, Funktionen und Sinnwelten, oder wie man das in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts genannt hat, zwischen System und Lebenswelt. Diese innere Differenzierungsfrage wird aber dann auf die äußere übertragen und so zum Schlüssel im Verständnis der aktuellen globalen Differenzierungslagen gemacht. Der Dualismus des modernen Denkens ist ein Ergebnis des achsenzeitlichen Bruchs. Die Einheit von Gott, Mensch, Gesellschaft und Ordnung wurde in der Begründung des Monotheismus aufgebrochen, der Gegensatz von Subjekt und Objekt, von Körper und Geist, von Transzendenz und Immanenz, von Staat und Volk, von Macht und Leben wurde geboren. Wie schon Aristoteles bei der Gegenüberstellung von Herrschafts- und Lebensarena arbeitete sich die moderne Philosophie an diesem Dualismus ab. Im 20. Jahrhundert wurde schrittweise begonnen die Frage der Einheit, der Ganzheit der modernen Zivilisation neu zu stellen. In soziologischer Sicht stehen sich zwei Perspektiven diametral gegenüber: Aus Webers These von der bürokratischen Geworfenheit des modernen Menschen und des unauflöslichen bürokratischen Asketismus aller modernen Verhältnisse, entwickelten Plessner und Gehlen die institutionelle Anthropologie. Das Wesen Mensch geht hier in seinem institutionellen Handeln und Denken auf und die modernen Institutionen sind nur der allgemeine Ausdruck dieser Anthropologie. Hier wäre gewissermaßen der Marx’sche Dualismus zwischen Subsistenz und Akkumulation auf einen neuen, einseitigen Nenner gebracht. Der bürokratische, rationalistische Mensch ist, in höchster Stufe, der Mensch an sich. Der Produzent, der arbeitende Mensch, verschwindet hinter der Maske, die er produziert hat und für deren Reproduktion er sorgt. Utopisch aufgehoben: Der Mensch geht in der sozialen Institution auf. Der antagonistische Dualismus ist so falsch wie die Vorstellung von seiner Aufhebung. Der Mensch denkt sich noch in seinem kreatürlichsten Sein nur auf die Institution hin. Kulturtheoretisch gedacht: Innere Religion wäre immer schon äußere Religion, denn nur in
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dieser liegt das erlösende Element (Mensch in Institution – Papst, homo sacer). Die gleiche Frage ist allerdings auch lebensphilosophisch gedacht und umgedreht worden. Es gehe nicht um Versöhnung Mensch und Institution, sondern um die Versöhnung Mensch und Natur und unter diesem Blickwinkel ist »Institution« der Fluch, der die Trennung besiegelt, Versöhnung aber unmöglich macht. Die Institution muss sich im Menschen auflösen, nicht umgekehrt. Am Anfang dieser Umdrehung der Perspektive stehen Nietzsches »organische Macht« als »Wille« und Foucaults »Bio-Politik«. Mit der Entdeckung des »nackten Lebens« als innerer Motor und als letztendlicher Zuschreibungspunkt des politischen und sozialen Denkens werden »Staat«, »Religion«, »Recht« und »Ordnung« zu ununterscheidbaren Elementen des Denkens ums »nackte Leben«. Jetzt zentriert das Projekt der modernen »Zivilisation«, gewissermaßen postdualistisch, in der erneuerten Einheitsvorstellung von Zivilisation und Welt und von daher von der Neubestimmung der Elemente in der Einheit von Menschen und Welt. Am deutlichsten wurden solche Entwicklungen am Prozess der Innenverlegung von Macht und der sich gegenseitigen Vermittlung von Individualisierung und Totalisierung, von Archaischem und Modernem, von Heiligem und Profanem. Gedacht wurden sie aber auch in der philosophischen Anthropologie als Einheit von Mensch und Natur. Mit der modernen Animalisierung des Menschen werden zugleich auch Recht und Politik als vom Leben getrennte Bereiche in Frage gestellt, Macht wird entterritorialisiert (Institution in Mensch – Wille zur Macht, Nacktes Leben). Was die Perspektive der Anthropologen noch beherrscht, das potenzielle Aufgehen des Menschen in den Institutionen, ja von der Vorstellung, dass der Einzelmensch sich zunehmend in institutioneller Pflicht aufreibe, ist heute umgekehrt als eine Identifikationskomponente des »Ganzen« der Gesellschaft hingenommen. So stellt die neue Diskussion über Massenkonsumkultur, über die von Benjamin und Adorno vorgetragene Kritik hinaus, Konsum als ein Potenzial der Autonomisierung des Selbst dar, als »Befreiungsmoment« des Subjekts im Konsum, als Affirmation und neue Verzauberung des Lebens. Die von der »Bio-Politik« aufgeworfene Frage des »nackten Lebens« wird hier unter völlig anderen Vorzeichen neu gestellt: Der emotionale Umbruch des späten 20. Jahrhunderts wird als Voraussetzung einer neuen Ganzheit des Sozialen gesehen, wobei Autonomisierung und Selbststeuerung des balancierenden Gegenpols der
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vermittelnden Vernunft schon nicht mehr bedürfen. Auch darin liegt ein neuer »Orientalismus« der modernen Gesellschaft. 10 Massenkultur und die Archaisierung der modernen Vorstellungen von Mensch und Kultur: Die implizite Kulturkritik des Massenkulturbegriffs von Adorno verhinderte offenbar den Blick für die hier erstmals gesehene und theoretisch entfaltete Dimension des modernen Bedürfnismenschen als Konstitutionselement gesellschaftlicher Entfaltung des Selbst jenseits institutioneller Dominanz. Schon Adorno zeigt auf, dass der Massenkulturmensch auch einem Rückfall in vormoderne, archaische Zustände unterliegt. In der Tat unterstellt die Massenkultur eine neue Akkulturation bloßer Körperlichkeit. Die Perspektive der Kulturalisierung des Massenkonsums, der affirmativen Körperlichkeit und die Mythologisierung der Vernunft bedürfen immer auch den Blick auf Bedrohungen durch Re-Institutionalisierung und der neuen Legitimierung von moderner Korporationskultur und Macht. Dabei werden die subtilen, doch nicht weniger faktischen Bindungen demokratischer Institutionen an totalisierte Macht (»Märkte«, »der Westen« etc.) leicht übersehen. Weder ist die Kritik der Massenkultur als das eigentlich Regressive, als das falsche Versprechen des Sinnlichen, als das »Bessere Leben« wider allen Glücks des Geistes, als das Mögliche noch möglich, noch ist das »orientalisierte« Aufgehen in der »Macht« der Gesellschaft (Institutionen, Märkte etc.) nichts anderes als ein Ausdruck der quasi selbst-affirmierenden Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen. Eric Voegelin ist der erste der modernen Denker, die sich die Frage nach der Ganzheitssuche im modernen Diskurs stellen. Die aus dem Altertum herübergekommene Zivilisationsfrage, jetzt gestellt als Erstaunen vor der »Dauer« und Persistenz einer zivilisatorischen Einheit, die den Gott in die Welt holte, den Menschen dadurch an ihm teilhaftig macht, daran ihre inneren Hierarchien und Unterschiede baut und zugleich auch die symbolische Gestaltung und Durchordnung der physischen Welt vornimmt. Agamben erweitert und reduziert die Fragestellung der politischen Theologie auf das Individuum. Er erweitert die Frage der Biopolitik in historischer Perspektive auf das Lagerwesen als Bestand moderner Gesellschaft. Dennoch nimmt er den Zusammenhang vom »vogelfrei« sich stärkenden, im Chaos strategisch überlebenden Einzelmenschen, dem homo sacer, einerseits, und andererseits dem deprivierten Massenkultur-
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menschen in der nicht-europäischen Welt, nicht auf. Denn hier liegen die wirklichen Bedrohungen der neuen Autorisierung des »Holocaust«. Wo ergibt sich bei Agamben das Problem der Einheit? Politik und nacktes Leben! Er entfaltet den Begriff des homo sacer als Angelpunkt dieser Einheit, natürlich mit dem Versuch einer Dialektik seiner Auflösung. Das juridisch-politische Problem des sacer liegt natürlich in der Exklusion, dem allgemeinen Ausschluss, der den – weiter gedacht – Einzelmenschen von der allgemeinen religiösen Kategorie des Heiligen trennt. Das Heilige der Einheit der Menschen wird gerade erst in diesem Ausschluss erfahrbar, distinguierbar. Und so wird andererseits gerade dieser ausgestoßene Unheilige – der im sozialen Tod lebt – zu einem neuen, eigentlichen Souverän des Individualismus, darin verallgemeinerbar und zugleich wieder als sozial denkbar (vgl. Agamben 2002: 90ff.): »Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.« (ibid.: 93)
Im Begriff des »heiligen« oder »nackten Lebens« sind Politik und Leben eng verflochten. Der politische Charakter des »nackten Lebens« ist zu durchschauen, während der Verlust der Intelligibilität von Politik jedoch zur Bedingung wird, denn darin ist sie erst einmal »symbiotisch mit dem nackten Leben verwoben« (ibid.: 128). Nimmt man Agambens homo sacer ernst, so hat die globale Moderne drei Tatsachen Rechnung zu tragen: a) das Holocaust-Problem bleibt – man kann nicht sagen in Variationen – in der globalisierten Welt bestehen b) die Kontinuität des Territorialstaats scheint die institutionelle Realität weiterhin zu prägen c) es wird kulturell unterschiedlich geprägte Formen des Zugangs, des Einbezugs, des Exkludierens von »nacktem Leben«, von Duldung, Umgang mit und zugleich Verallgemeinerung des Einzelmenschenwesens geben. Die politische Theologie des »nackten Lebens« geht genealogisch immer auch schon auf Vorstellungen zurück, die den Gesellschaften des altertümlichen Orients bereits eine verlorengegangene Lösung des Problems unterstellen: Dort haben wir es mit einer »Gesellschaft und Natur integrierenden Kohärenz« zu tun, mit einer »übergreifenden Kategorie« des Sozialen. Was konstituiert die »soziale Solidarität«, wenn »die Gottheit als das alleinige Subjekt der Vergeltung« betrachtet wird? (Assmann 1984;
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Brunner 1963) In der Darstellung der Transzendenzlagen der Alten wird die moderne Immanenzlage gesucht, die herausgelöste Körpergestaltung, die durch gestylte Geste, die Identität von Symbol und Gedanke im alten Ägypten, Griechenland und Rom. Das sind die materiellen Utopien des neuen Selbst. 11 Religion, Individualismus und Islam: Die Zeit des emotionalen Umbruchs, in der sich der moderne Individualismus mit der Politik des »nackten Lebens« verbindet, setzt dem Selbst eine neue Perspektive. Es kann sich nicht mehr in dem alten Widerspruch zwischen Selbsterfahrung und sozialer Pflicht binden lassen. Längst ist alles, was Pflicht und soziale Institution erforderten, inkorporiert. Religion, die hierfür eine so große Mittlerrolle gespielt hat, sollte nun unter dem Gesichtspunkt der Selbstfindung ganz aus der Welt des Wirklichen herausfallen und doch bleibt sie Teil einer neuen Visionswelt, einer fantastischen Spielwelt, in der Erzählungen, Mythen, Illusionen und Bilder geschaffen werden, die nur dem Zwecke des abschließenden Heraushebens des Menschen aus der konkreten Natur dienen. Was von dieser an seinem Körper bleibt, die nackte Kreatürlichkeit, wird zum neuen Terrain von Selbst und Sozialität. Allein die einzig übrig gebliebene körperliche Entäußerung des Selbst bestimmt nun alle »wirklichen« Beziehungen. So stellen die visionären und letztlich illusionären Beziehungen der Herauslösung des nackten Körpers aus der Natur, »Religion« neu in den Vordergrund der eigentlich sozialen Beziehungen am Ende des 20. Jahrhunderts dar (Hier setzte Agambens »Heiliger« ja an). Man könnte auf einfache Weise sagen, dass der Zusammenhang von Religion und Individualismus dann doch nicht nur eine Frage der Entwicklung des Monotheismus ist. Die »Heiligen« waren ja schon davor da. Und doch waren sie immer auch schon im katholischen Christentum und im Islam mit dieser Entwicklung des Monotheismus verbunden. Am intensivsten hat dies das Lebenswerk des französischen Orientalisten Louis Massignon demonstriert. Massignon verkörpert in gewisser Weise eine sehr intrinsische Verbindung von christlichem Verständnis des Individualismus mit einem großen islamischen Mystiker und Märtyrer der Frühzeit: al-Halladj. Massignon unternimmt den Versuch, al-Halladj in der Ganzheit des sozialen Lebens im mittelalterlichen Persien und Irak darzustellen und in einer »subjektiven Perspektive« alle institutionellen und sozialen Beziehungen im Zeichen der »Sorge« um das Leben dieses »Einzelmen-
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schen« zu betrachten. Es geht dabei nicht primär um Fragen des Islams und der islamischen Mystik in Bezug auf »Institutionen«. Es geht um den Einzelmenschen, der durch seinen Lebenskampf, durch seinen tiefen Spiritualismus, soziales Leben prägt. Halladj wurde zum Opfer der Orthodoxie und ihrer Institutionen und war doch so, wie Massignon zeigt, eine Art »Christus«. Massignions Bearbeitung des Christusthemas im Leben des islamischen Heiligen Halladj ist einzigartig. Wo sich die Ganzheit des Sozialen im Leben und im besonderen Tod dieses ausgestoßenen Einzelmenschen zeigt, ja, gewissermaßen verkörpert, da ist er sicher auch Symbol des im Islam unterdrückten Individualismus. Wie Massignon hinsieht, ist es vor allem auch ein Stück Theorie darüber, wie sich der moderne katholische Christ als Individuum versteht. Für Massignon ist das Erlösungswort des Halladj anâ al-haqq (»Ich bin die – ewige – Wahrheit«) – wie schon bei Christus – die einzige und absolute Wahrheit der Ich-Existenz: die »Wahrheit des Selbst« – später von Foucault unter dem Begriff der Pharrhesia zu einem säkularen Modell moderner Individualität ausgearbeitet. Massignon zeigt wie die Orthodoxie und das orthodoxe Richtertum diesen Mystiker überführt, das »Geheimnis« der Immanenz Gottes preisgegeben zu haben und dabei selbst »die innere Präsenz der heiligen Wahrheit« zum Gegenstand der Sünde seiner eigenen Hybris gemacht zu haben (Massignon 1980: 126ff.). Massignons Lesart der islamischen Reaktion auf Halladj stellt die Tatsache der Außenseiterstellung dieses »Einzelgängers« in den Vordergrund. Er sei verurteilt worden, weil er den Propheten selbst und die Gemeinde zurückgestellt, unterbewertet habe und in Bezug auf höchste islamische Werte des Gotteswissens die Hybris seines eigenen, individuellen Zugangs zu Gott in der Liebesekstase (wadjd) reklamiert habe. Die Folge der Verurteilung des Halladj war, dass im Islam kaum noch Referenz auf Christus als dem singulären Wahrheitspropheten möglich war. Nach Halladj nahm der islamische Mystizismus einen anderen Weg, er folgte allen dogmatischen Anstrengungen, Behauptungen und Verabsolutierungen der individuellen Gotteserfahrung im wadjd zu unterdrücken. Alle methodischen Schulungen in den Sufi-Orden wurden von nun an entsprechend neu geformt. Ein Hauptvorwurf war, dass Halladjs individualistischer Absolutismus, einer Zurücksetzung des Propheten gleichkomme, der ja selbst durchaus existenziellen Zugang zu Gott – existenzielle Einheit in der Präsenz der Wahrheit – hatte, der dies aber selbst als ein Geheimnis
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behandelte. Die in die Schulen der Mystiker einziehende Orthodoxie zog hier Muhammad als einen Zeugen für die Überlegenheit des Schweigens in allen auf das »göttliche Wesen der menschlichen Existenz« gegründeten Fragen heran (Ein Schweigen gegenüber der »Wahrheit«, dem die unter dem Primat der Unantastbarkeit der Würde des Einzelmenschen stehende Moderne – darin Halladj gleich – sich nicht beugen kann). Im Gegensatz also zur Orthodoxie, die den kollektiven Körper auf eine höhere Stufe der göttlichen Inkarnation stellt als den Einzelnen (Kollektivität als die »Heilige Kirche« der Muslimen), sieht Massignon in Halladj den substitutierenden Heiligen (abdâl) »as one of these given souls, substitutes for the Muslim community, or, put it more Biblically, for all men, among Believers in the God of Abraham’s sacrifice and among the expatriated pilgrims, the gèrim, who desire to find their way again upon dying back to the ›bosom of Abraham‹, where this God will bring about their immortal spiritual promotion« (Preface of 1962, Massignon 1980: LXV). Dagegen ist es nur Muhammad, der für die Orthodoxie eine solche Position einnehmen kann. Man mag heute in Massignons Werk den Versuch eines christlichen Missionars sehen, der zugleich an einer tiefen christlichen Version des frühen Sufismus arbeitet, wenn er die frühen »Heiligen« als sozial engagierte Mystiker beschreibt: »aspiring the qibla of sacrifice« – wie er sagt – against an »immense flow of mercenary prayers and perfidious works« which »foamed forth against the pure prayer of a few solitaries and against the spirit of poverty, fasting, and sacrifice« (ibid.: LXIV). Er betrachtete den Sufismus als einen sozialen Aufschrei nach einer »Reform« des Islams im Zeichen der (sozialen) Gerechtigkeit. Für unseren Kontext ist interessant, dass Massignon das Konzept des ikhlâ,(die Reinheit der Absicht im Handeln und im Glauben zu Gott und die Reinheit der Einheit Gottes) als einen Begriff der »absolute transcendence of the humblest of heroic acts« herausarbeitet und ihn gewissermaßen als die einzig mögliche Erlösungshaltung beschreibt: »The isolated heroic act, whose formal object is divine, as a pivotal value that is ,transsocial‘ (ibid.: LXII). Mit dem Begriff des »transsozialen« Aktes wird ein ins Außen gestellter homo sacer als Individuum sichtbar, das über weltliche Notwendigkeiten hinweg handelt, ein Subject, »whose acts are not only a solitary reaching beyond but a sublimation not discontinuous with the masses« (ibid.: LXII). Der Fall des Halladj und die Bekämpfung des Ich-Modells durch die Orthodoxie weist natürlich auf ein wichtiges Kapitel im kulturübergreifenden
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Dialog hin, das im Zeichen der Universalisierung des Individualismus an Bedeutung gewinnt: Denn die »Wahrheit des Selbst« ist nun auch unter islamischen Vorstellungen präsent, wenn eben auch über andere von außen vordringende Kulturmechanismen »identifiziert« und übertragen. Es ist in diesem Kontext heute nicht mehr möglich, sich einfach nur (wie noch Rodinson in seiner wichtigen Biografie von 1975) auf Muhammad als eine säkulare Figur mit äußerst charismatischen Charakterzügen zu beziehen. Das Martyrium des Halladj, in dem die theologischen Waffen für die Abwendung vom christlichen Erlösungssubjekt geschmiedet wurden, schafft eine Säkularisierung des Selbst ganz anderer Art: Selbst-Authentizität entwirft sich nicht (mehr) im Zeichen der persönlichen Immanenz der Wahrheit Gottes. Orthodoxe Methodisierungen und im kollektiven Recht gefundene Bestätigungen gelten nun durchgängig auch im modernen Sufismus als Regeln für das Selbst. Dies kommt einer Immunisierung gegen die heroische Aktualisierung der Wahrheit gleich, ja, einer Bestätigung des Selbst gerade gegen das Ereignis des Realen und der Tiefenreflexion desselben. Unter diesen Gesichtspunkten bedeutet »Hallâdj« noch heute etwas sehr Reales, ein Moment, in dem sich »Transsozialität« als das durchsetzt, was man einen souveränen Akt des Ichs bezeichnen könnte, nämlich als ein Modell der Erklärung des permanenten Ausnahmezustands, in welchem die Ausgestoßenen und die modernen Ego-Players sich gleich kommen, wo die »Sorge für das Selbst« in einen Akt der »Selbst-Politik« umschlägt und zur Souveränität des Selbst beiträgt. Massignons »Halladj« liefert also bereits ein sehr heroisches Beispiel für die »politische Theologie« des modernen Selbst. Hier liegen, wie ich meine, durchaus Parallelen zu Louis Dumonts Vergleichsstudie zum Individualismus. Wie in Massignons Perspektive auf die Transsozialität und den stubstituierenden Heiligen stellt auch Dumont die komplementäre Beziehung zwischen dem Einzelnen als outcast und dem Kollektiv als Ganzem heraus. Wo Massignons »Islam« im Konzept des abdâl in den theologischen Diskurs der Orthodoxie eingebettet und zugleich ein Fundament des politisch-religiösen Diskurses heterodoxer Intellektueller bleibt, ist Dumonts indischer outcast eine Art komplementärer Gegenpol zur Kaste, der in der Negation des Sozialen ein hierarchisches System, das indische Kastensystem eben, gewissermaßen von außen her balancieren hilft, ja, es stabilisiert. Über diese Parallelen und Unterschiede hinaus weisen Dumonts Betrachtungen des westlichen Individualismus
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und indischen Holismus auf einen wichtigen Aspekt hin, denn die unterschiedlichen Formen der Konstitution des Erlösungssubjekts bedingen unterschiedliche Haltungen in Bezug auf Toleranz gegenüber dem Differenten. Man könnte fast sagen, es gibt offenbar unterschiedliche Funktionen des Erlösungsgedankens in Bezug auf das Soziale. Die religiös etablierte Souveränität des outcast führt uns hin auf ein hoch sensibles Gebilde der Dialektik von Toleranz und Ordnung, Wissen und Regel, Ausgleich und Macht. Dumont zeigt, dass dieses dialektische Komplementärspiel auch unter Bedingungen der modernen, egalitär sich organisierenden Gesellschaft nicht aufgehoben wird. Er unternimmt den Versuch, den modernen Egalitarismus aus Sicht des indischen outcast zu verstehen: Was würde passieren, wenn er jetzt integriert würde, welche Erlösungsnöte würde er dann entwickeln, wie organisierte er sein kulturelles Überleben, wenn er unter den Zwang der Arbeiten des Egalitarismus gerät? Dumont beginnt die subtilen Werkzeuge des Egalitarismus zu entschleiern und kommt von hier zu einer erleuchtenden Kritik dessen, was heute so gern als »Anerkennung« gehandelt wird. Ich bin der Überzeugung, dass diese Kritik zur Kenntnis genommen werden muss, wenn man sich mit den sozialen Folgen des universellen Erlösungssubjekts und des Individualismus in seinen sozial totalitären Erscheinungen unter Bedingungen der globalen Moderne auseinandersetzen will. Dumonts »Indien« trägt hier durchaus vergleichbare Züge zu dem hier behandelten »Ägypten«. Denn von Dumont ausgehend kann man die Frage des interaktiven Konstruktivismus kulturübergreifend verfolgen. Und seine Betrachtungen der begrifflichen Übertragungen und Transformationen im Zeichen kulturübergreifender Interaktion sind sehr erhellend: »Yet it is only by a perversion or impoverishment of the notion of order that we may believe contrariwise that equality can by itself constitute an order. To be explicit: alter will then be thought of as superior or inferior to Ego, with the important qualification of reversal (which is not present in the Great Chain as such). That is to say that, if alter was taken as globally inferior, he would turn out as superior on secondary levels of consideration.« (Dumont 1983: 259f.)
Diese Umkehrungen ließen sich auch im Zusammenhang mit der unbegrenzten, globalen Generalisierung des Ressentiments feststellen, wo ja keine hegemoniale Macht sich ohne das Spiel mit dem Ressentiment
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verankern kann und gewissermaßen die »niedersten Instinkte« zu einer ausgeklügelten Moral von Oben werden. Erst in der totalen Verallgemeinerung des Ressentiments scheint nur das Andere aufhebbar, vernichtbar gemacht. Dumont weist auf eine Notwendigkeit zum Paradigmenwechsel in den Kulturwissenschaften hin, die explosive Umsetzung des Individualismus auf der globalen Bühne birgt soziale und kulturelle Folgen, derer wir uns – im Angesicht von Selbstmordbomben und aggressiver Kulturverkörperung – nur langsam bewusst werden. Individualismus fordert die Frage heraus, wohin sich die neue Logik des Sozialen entwickelt, die er durchsetzt. Wenn es wahr ist, dass die moderne »conception of man as an individual entails the recognition of a wide freedom of choice«, und dass diese choice sich gegen alle Vorschriften »von oben« richtet (Dumont 1983: 260), dann ist es wichtig anzumerken, dass sich im Kontext von globaler Kulturszene, Massenkultur und Konsumismus, die Vorschriften »von oben«, die superior prescriptions, weitgehend auf Bereiche verkürzt haben, die sich auf – religiöse oder nicht-religiöse – Körperpolitik beziehen, bis hin zu den unmittelbaren, aber im Verborgenen operierenden Ecken der Befreiung, in denen sie sich abspielt und aus denen sie so massiv ins Zentrum der »neuen« Sozialität wirkt. Foucault hat uns mit der »Body-Politik« einen Begriff davon vermittelt, was Individualismus bedeutet, indem er die Möglichkeit der Selbstbemächtigung im Zeichen institutioneller – virtuell totaler – Macht beschreibt. Er zeigt an, wie sich potenziell der Übergang vom »gebildeten« und informierten Staatsbürger zum Individuum des »nackten Lebens« vollzieht.83 In der Tat hat schon die modern-klassische Soziologie, von Weber bis Horkheimer und Adorno das Problem der Totalisierung der Gesellschaft im Innenblick der modernen Bedeutung von Bürokratie und Verwaltung aufgeworfen. Und auch Foucault scheint noch in diesem Dilemma der rational »verwalteten Gesellschaft« hängen zu bleiben. Der Zusammenhang von moderner Governance und »nacktem Leben« ist allerdings nicht nur unter dem Schirm von Totalität und verwalteter Gesellschaft abzuhandeln. Individualismus wirft das Problem der formativen Kraft, der potenziellen 83 | Vielleicht bin ich zu sehr geneigt, dies überzubewerten. Allerdings hat Agambens Homo Sacer (2002) den Weg aufgezeigt, die Dinge des Indivisualismus so zu sehen, wenn er auch des Blicks auf »Indien« und »Ägypten« völlig entbehrt und sich auch dem kulturübergreifenden globalen Diskurs entzieht.
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Autonomie, der Souveränität des Einzelnen auf. Was folgt aus dem »Ego«, dem freien unantastbaren Menschen und der freien Wahl, was folgt aus dem Erlösungssubjekt, das unmittelbar und radikal als wandlungsinitiatives und kulturproduktives Element auftritt und das über die »Ecken«, in denen es handelt, auf das Soziale als Ganzes wirkt. In der Tat erfordert der Blick auf das heilige »nackte Leben« – wenn es auch noch nur metaphorisch gemeint sein kann – die Erkenntnis, dass sich zunehmend der schrittweise Übergang – wie immer auch unvollständig natürlich – von der Souveränität der institutionellen auf die individuellen Szenarien vollzieht, jene »Ecken« eingeschlossen, von denen heraus Individuum als Körper und Bedürfnis sich neu formt. Kann hier schon vom Übergang der Souveränität vom Staat auf das Individuum gesprochen werden? In diesem Übergang, bei dem alle gesichert geglaubten Formen des allgemeinen Wissens verloren gehen, arbeitet sich – ist das wirklich erst seit der Revolution im Iran und der Auflösung der Sowjet-Union so? – das »Ich« und seine »Wahrheiten« an den modernen globalen politischen Projekten ab, die ihm selbst gar nicht mehr kommunizierbar sind. Die Souveränität des Individuums bleibt eben auch in jenen »Ecken« hängen, in denen sie produziert wird und zunächst erscheint. Wenn man dieses Szenario als realistisch ansieht, so sind die Reflexionen, die Giorgio Agamben in seinem interessanten Buch vom homo sacer (2002) liefert, als elementar zu berücksichtigen, worauf ich oben bereits hingewiesen habe. Er listetet eine Reihe von liminalen Wirkungen der Gegenseitigkeit von selbst-zentrierten Handelns und Governance auf, die ich hier in umgekehrter Reihenfolge präsentiere: das Lager und die Überlegenheit des internalisierten Todes (man verzeihe diese »Verdeutlichung«: das modern generalisierte »Auschwitz«); der Außenseiter und der individuelle Ausnahmezustand (das Beispiel des römischen homo sacer und das moderne Individuum in seiner Freiheit der Wahl); die potenzielle Übertragung der Souveränität vom Staat auf das einzelne Subjekt (ausgehend von Carl Schmitts politischer Theologie des Ausnahmezustands und der Souveränität). Ich tue Agamben sicher nicht unrecht, wenn ich behaupte, dass hier auf der Basis von hypothetischen Modellen »neuer« sozialer Realitäten, die Notwendigkeit neuer religiös begründeter politischer Ethiken gefordert wird, ein neues (religiöses – in diesem Falle christlichkatholisches) Ethos der Politik des modernen Individualismus. So wenig ich dieser impliziten Forderung folgen kann, so sehr teile ich die Befunde
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– mit den bereits genannten Einschränkungen in Bezug auf die globale Moderne. Nicht durch Zufall, so scheint mir, sind die katholischen oder katholisch orientierten Theoretiker heute diejenigen mit den interessantesten und erhellendsten Einsichten in kritischer Tradition. Dennoch ist es nicht Ziel und nicht Absicht dieser Abhandlung, sich mit den Feinheiten des aktuellen katholischen Theroiediskurses zu beschäftigen (in seiner aktuellen Positionierung der philosophischen Reklamierung von Religion als modernes Lösungsmodell scheint hier viel Ähnlichkeit mit den laizistischen Islam-Diskursen der 1970er und 1980er Jahre gewissermaßen auf neuer Stufe entwickelt). Agamben ist aber ein darüber hinaus weisendes Beispiel. Am Anfang steht die Frage, inwieweit die politische Theologie Carl Schmitts Grundlagen setzt, die für eine neue Bedeutung des Individualismus ausschlaggebend sein können. Wenn nämlich von einem totalisierten Individualismus, von einer Verlagerung der Souveränität auf das Selbst, also vom »nackten Leben« in seiner verallgemeinerndsten Form gesprochen wird, so ist der moderne Ego-Akteur in allen sozialen Feldern, die er besetzt, gemeint. Die Frage ist, ob der Ausnahmezustand, den der Ego-Akteur für sich reklamiert, mit Schmitts Analyse-Parameter zu beschreiben ist. Das schließt natürlich auch die religiös gebundenen Ego-Akteure von heute mit ein. Der paradigmatische Wechsel in Fortführung des politisch-theologischen Diskurses der 1920er und 1930er Jahre betrifft im Wesentlichen die Frage, ob die ursprünglich auf den Staat und den über ihn politisch Handelnden Annahmen über die außerhalb der institutionell legalen Ordnung stehenden Handlungsformen staatlicher Souveränität (die von Schmitt sowohl in säkularer Hinsicht) aus dem Bereich der transzendenten, religiösen »höchsten Zwecken« abgeleitet sind, nicht auch im formativen Prozess des Ego-Akteurs eine Rolle spielen. Das wäre die eine Seite des von Agamben ausgehenden Paradigmenwechsels. Die andere ist die, dass die heutigen Ego-Akteure – unter der Bedingung der kulturellen Globalisierung – nicht mehr ausschließlich in einer einzigen, in der westlichen Kultur verankert sind. Damit stellt sich die Souveränitätsfrage nicht – wie noch bei Schmitt – eingleisig nur aus der abendländischen Entwicklung heraus. Gerade diese doppelte Erweiterung der Perspektive macht die Sache so schwierig und stellt uns im Hinblick auf die heutigen staatlichen und persönlichen Akteure, insbesondere auch im Hinblick auf Konvergenzen und Konflikte, die sich in der Universaliserung des Individualismus
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ergeben – westlich oder nicht-westlich, jüdisch, christlich oder islamisch –, vor unlösbar scheinende Probleme. Wir können konstatieren, dass in der politisch-philosophischen Analyse der heutigen lebenspraktischen Geworfenheit des Einzelnen nicht nur dessen bloße Existenz als strategisches Moment erscheint, sondern dass die spirituelle Orientierung und kulturell definierte Haltung, gewissermaßen die religiöse »Aufladung« der Einzel-Akteure, das Wechselspiel der Machtentfaltung unterhalb und innerhalb der institutionellen Gesellschaft, ja über sie hinaus, mit bestimmen. In dieser Hinsicht sind die Beobachtungen »der Politik der Frömmigkeit« von Saba Mahmood (2005) ein Indikator für Momente der individuell-religiösen »Aufladung« der Akteure. Doch darf man davon ausgehen, dass die Entwicklung in den sozialen Milieus weiter fortgeschritten ist, als es Mahmood noch beobachten konnte. Die individualistische Explosion, die auf den wechselseitigen Beziehungen von der Suche nach Authentizität und der Teilhabe an der Globalisierung beruht, schließen nicht nur ein »neues Subjekt« ein, sondern auch eine neue soziale Realität, die auf der zirkulären Erweiterung und überlegenen Strategie im autonomen, souveränen Subjekt – des spiritualisierten »nackten Lebens« – basiert. Dies zu verstehen, bedarf es eine »politischen Theologie« des existierenden Einzelnen. Es ist also der Sprung zu vollziehen, das moderne Individuum in seinen materiellen wie in seinen spirituellen Lebensweisen als das Paradigma der modernen globalen Gesellschaftsanalyse zu betrachten: als den Kreuzungspunkt zwischen sich immer mehr erweiternder sozialer Beziehungen und den inneren Einschreibungen und »Aufladungen« von historischen, religiösen und politischen Ideen. Dabei sind insbesondere die verschieden Formen von Innerlichkeit und die individuellen, fast unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten sich nach außen zu wenden, zu berücksichtigen. Die Neugestaltung lokaler Kontexte und die gleichzeitige visionäre Möglichkeit der dauernden Ortsverschiebung sind die Gegenstände solcher Nachfrage, paradigmatisch gesetzt. Für Louis Dumont stand die Idee des Christus im Zentrum der Erlösungsorientierung aller westlichen Vorstellungen des Selbst. Sie gilt ihm deshalb als wirkungsreichste Idee, die dem modernen Heraufkommen des Individualismus zugrunde liegt. Folgt man dieser einzigartigen und – in gewisser Weise säkularen, hierin aber bereits die modernen christlichkirchlich-theologischen Fragen der einzigartigen »westlichen« Begründung der Menschenrechte vorwegnehmend – monokausalen Erklärung
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des modernen Individualismus, so kann man natürlich in den großen Schriften des 19. Jahrhunderts seit Renan, die Biografie Jesus als das große essenzialistische Moment mit paradigmatischem Charakter für die Frage nach dem Selbst zurückverfolgen. Christus ist so etwas wie der zentrale Punkt der westlichen Ich-Bildung und der ihr unterliegenden moralischen Prinzipien und Vorstellungen über richtiges oder verworfenes menschliches Leben. Die Theologie macht die demgegenüber »absolute« Unantastbarkeit des menschlichen Lebens an dem in vielem im »Ägypten« ruhenden, sublimierten Bild des im geopferten »Sohn« menschwerdenden Gottes fest. So also verkörpert Jesus die Erlösungserwartungen und die eschatologischen Wurzeln der westlichen Subjektivität. Und Massignon zeigt uns, dass der Islam diese Form der Subjektivität letztlich nicht akzeptiert. Sind deshalb alle Muslime aus dem modernen System des Individualismus oder gar aus dem Diskurs über die »Unantastbarkeit« auszuschließen? Hier scheinen die Fragen zu liegen, die so uralt sind, die aber heute wieder im Zeichen des globalen Individualismus neu gestellt werden. Auf einer höheren Stufe des kulturell-interaktiven Konstruktivismus sind heute die Technologien der Masssenkultur von besonderer Bedeutung, gerade auch, wie schon erwähnt, für die Konstitution der körperlichen und spirituellen Entfaltung des Einzelnen. Es hat hier eine moderne Technik der instrumentellen Authentizität Platz gegriffen: Die Verbindung von Identisch-Sein-Müssen und Technisch-Sein-Müssen (Horkheimer und Adorno 1971: 108-50). Leider haben sich auch Horkheimer und Adorno gar nicht mit nicht-westlichen Kulturszenarien beschäftigt. Sie interessiert die Universalisierung der archetypisch modernen Form und die Bedeutung dieser für die Autonomie des Einzelnen. Man kann von hier aus also kaum auf andere Formen der Authentizität blicken oder diese sehr schlecht oder nur vermittelt einbeziehen. Von ihrem Blickwinkel aus wäre – wie so lange immer angenommen – eine islamische Authentizität ein Rückfall in Nicht-Identisches, weil ein mit der Moderne nicht mehr kompatibles Sein entstände: falsches Bewusstsein, rückwärts gewandte Ideologie, mit dem Verlust sowohl der individuellen als auch der kollektiven kulturellen Autonomie. Natürlich ist vor dem Hintergrund solcher Parameter »Anerkennung« und Verhandlung von der »Identität« des Anderen nicht möglich. Doch auch hier hat man von der Existenz eines gegenläufigen, irritierenden Erklärungsmuster auszugehen. Die Theorie der modernen Massenkultur und die ihr unterliegende Betrachtung der technischen und instrumentellen Aspekte der modernen Authentizität lassen durchaus einen
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Blick auf andere Kulturen offen. Dies zeigt auch wie gering die Spielräume sind, in den Arenen der Massenkultur »Identität« zu verhandeln. Aus dem Blickwinkel des modernen globalisierten Instrumentalismus und der Massenauthentizität trifft das, was für Europa gilt auch für den Islam zu. Muslime stehen unter dem gleichen kulturellen Druck der totalen Integration des Einzelnen unter die »fremden« unsichtbaren Hände der modernen Gesellschaft. Wenn wir also vom Individualismus sprechen, so kann dieser nur in den »Ecken« der Massenkultur verortet werden, über die er sich ausbreitet. Das gilt wie schon oben gezeigt auch für den Muslim als Individuum. Es ist gerade diese Dimension der kulturellen Interaktion, die völlig übersehen wird, wenn man von comparative civilizational analysis spricht. Was ich hier vorschlage ist, also auch irgendeine Art und Weise auf diese Analyse einzugehen. Denn die Rekonstruktion des Massindividualismus spielt Prinzipien und Vorstellungen nach oben, die seit dem ausgehenden Mittelalter zunehmend als »vergessen« betrachtet wurden. Sowohl die Sorge für das Selbst als auch die Wahrheit über das Selbst wecken somit den Drang zur historischen Tiefenforschung. Der moderne Individualismus hat seine Tiefendimension im Monotheismus, und es ist hier, dass man schon früh Interaktionsmuster und Vergleich gesucht hat. So hat schon Karl Jaspers die Erlösungsvorstellungen der monotheistischen Weltreligionen und die gemeinsame Erfahrung der Offenbarung als ein großes Interaktions-, ja, als Verständigungspotenzial zwischen Judentum, Christentum und Islam herausgestellt (Jaspers 1949, 1952: 15-48). Wir können also konstatieren, dass über den Rahmen, den Massenkultur und »totale Integration« setzen, hinaus eine Kommunikationsstruktur zwischen den Weltreligionen existiert, die sich auf die Positionierung des Individuums in der Gesellschaft spezialisiert hat. Heute kann man feststellen, dass es nicht mehr nur um die institutionelle Einbettung des Individuums geht, wie noch Max Weber gedacht hat, sondern dass Machtformen und Ordnungsvorstellungen sich in einen kompetitiven Rahmen gestellt sehen, innerhalb dessen es zu einer konstanten Reformulierung der »Differenz« kommt. Gleichsam kann man aber auch festhalten, dass hegemoniale Macht sich auf Begriffe der moralischen Überlegenheit zu stützen sucht (Eisenstadt 2006). »Hegemoniale Governance« und die Kämpfe über sie sind in quasi paralleler Form auf kulturelle Rekonstruktionen geworfen, die zwar mit dem gleichen technischen Potenzial hervorgerufen werden, sich jedoch auf kulturell verschiedene Erlösungsmuster und Prinzipien beziehen.
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Eisenstadt erscheint mit seiner vergleichenden Analyse nun durchaus selbst schon fast als ein Spieler in diesem Kampf um hegemoniale Rekonstruktion zu sein. Jedenfalls sind seine Studien wichtig, um diesen Mechanismus überhaupt zu begreifen. Es wird hierin deutlich, dass nicht nur der globale Prozess des Individualismus (in der Massenkultur), sondern auch der Zwang zur Authentizität an der globalen modernen Kulturprägung arbeitet. In anderen Worten, der scholastische Streit darüber, was etwa Islam, Judentum, Christentum, ist, wird jetzt nicht mehr nur jeweils unter Juden, Christen, und Muslimen geführt, sondern auch unter Bedingungen der vergleichenden Interaktion in der weiten Arena hegemonialer Strategien. Dabei werden in jeder Religion uralte Visionen neu konstituiert. Als hätte es den Befreiungskampf gegen den Kolonialismus, nationalistische und sozialistische Revolutionen in muslimischen Ländern nie gegeben, wird dem Islam heute nicht nur vorgeworfen, er habe die Entwicklung hin zum Rationalismus verhindert, sondern vielmehr, er habe rationalistische Selbstbefreiung nie erfahren. Allein an solchen, heute allenthalben sichtbaren, Denunziationen des Islams wird deutlich, wie sehr dieser gezwungen wird, wieder in die Mottenkiste der Geschichte zurückzugreifen, um affirmative oder kritische Muster hervorzuzaubern, die ihn glauben lassen, im hegemonialen Diskurs bestehen zu können. Erst darin zeigt sich, dass nicht nur westliche Kulturtechniken, sondern auch die – zwanghafte – Wiedererweckung von überwunden geglaubten historischen Begriffen und Visionen das aktuelle Spiel beherrschen. Eisenstadts Ansatz unterstellt in aller Stille, dass der relative Erfolg im hegemonialen Kulturdiskurs davon abhängt, inwieweit die monotheistischen Religionen institutionelle Kristallisierung hervorbringen, die den Herausforderungen der heterodoxen modernen Bewegungen gewachsen sind und sich dabei die maximalen Abschöpfungsmöglichkeiten der Quellen des Reichtums sichern können (ibid.). Hier wird nun auf globaler Ebene ein Zwang zur religiösen Authentizität nicht mehr nur kritisch analysiert, sondern dingfest gemacht und postuliert. So als wäre nun weit über Max Webers »Protestantismus-These« das Religiöse überhaupt nur das konstitutive Element aller Prozesse der sozialen Regulierung. Hatte Adornos Kritische Theorie »totale Integration« als jenen säkularen Mechanismus verstanden, mit dem der Einzelne hinterrücks Vollzieher der Massenkultur und aller ihrer Vorgeben wird, so versucht Eisenstadt den Zwang zur unausweichlichen religiösen Authentizität zum Gradmesser der relativen Stärke hegemonialer Mächte zu ma-
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chen. Das Kulturpotenzial, das sich daraus ergibt, und nur dieses gilt ihm als der entscheidend Grund dafür, dass die Organisation der gesellschaftlichen Produktion und der Fluss und Austausch der Güter kontrolliert werden können. Dabei scheint es ihm geradezu als ein Imperativ, dass ein solches Potenzial nur über die zu entwickelnden Formen der Integration und des flexiblen Managements von Heterodoxien sowie die von ihnen inspirierten Bewegungen und rebellischen Riten zu erreichen sei. Authentische Kultur – die ja am Anfang meist selbst auf dem Boden der Heterodoxie gewachsen ist, wird so zum eigentlichen Element der Absorption des Amalgamierens oder der Zurückweisung der zentrifugalen Kräfte an der Peripherie. Nur diese Eigenschaften entscheiden über imperialen Erfolg.
VII. Gesamtkunstwerk »Welt« Skizzen zu Ägypten als ästhetische Utopie
1 George und die ästhetische Integration der Gesellschaft: Das Thema »ästhetische Integration« hatte ich bereits mit der Verwendung eines Romans von Muhammad al-Bisati für die ethnologisch-literarische Einführung in die Überlebenswelt der Fischer und Fellachen am Manzala-See aufgenommen (vgl. Stauth 2010). Massenarmut – so wurde gezeigt – lässt sich weder nur in Termini des seelischen Drucks auf die moderne Individualexistenz beschreiben noch können die Momente »ästhetischer Utopie«, die sich im Existenz und Überleben sichernden Austausch mit der Natur zeigen, als Ideale sozialer Integration angeboten werden. Die Aktualität Stefan Georges liegt aber in seinem Drang nach einer absoluten Überführung der Sichten der Dinge, der natürlichen wie der sozialen, in ästhetische Begriffe. Gerade hierin war er auch für Theodor W. Adorno interessant. Hier möchte ich fragend ansetzen. So können Betrachtungen über die moderne Herausforderung durch »Ägypten« nicht einfach mit der Behandlung der Frage nach der Weltbedeutung der Armut, ja, des Hungers großer Bevölkerungsteile stehen bleiben. Sie stellen in der Tat eine Kehrseite des modernen Individualismus dar, der sich im Drang nach viel mehr als nur dem »Traum vom Brot« zu realisieren scheint. Das zu zeigen, war mir wichtig. Die oben verschiedentlich gemachten Hinweise auf die Literatur des Existenzialismus und NeoRealismus sollten andeuten, dass es beim Leben in Massenarmut um mehr geht als nur die demokratische Anerkennung einer existenziellen Lebensform der Vielen. Wer von Tag zu Tag über das ganze Jahr hinweg die Mittel seiner Subsistenz als gewissermaßen natürliches Material erst sammeln muss, scheint im Erhalt menschlichen Lebensausdrucks auch ästhetische Geltung zu gewinnen. Das hört sich schrecklich an und lässt sich rational nicht vermitteln. Ist das nur allzu menschliche Menschheitsnostalgie?
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Wenn ich gefragt würde, wie kommst Du darauf, Armut schön zu finden, könnte ich sicher zunächst nur mit einer Anekdote antworten, die mich durch ihre Perplexität lange Zeit verfolgt hat: Es war etwa am Anfang der 1960er Jahre. Am Ende einer Übung zur alt-arabischen Wüstenpoesie trat der Professor des Orientalistischen Seminars an die Fensterwand des Seminar-Raums im 6. Stock des damaligen Frankfurter Philosophikums und zeigte hinunter auf die, im Gras liegend, sich sonnenden Studentinnen und Studenten. Fett und faul liegen die da unten, so ähnlich sagte er, dagegen waren die alten Araber arm und schlank, von der Wüste abgemagert aber – das müssen wir uns vorstellen – sie waren schön. Perplex waren wir, die beiden übrig gebliebenen Studenten, weil der kleine aber allmächtige Professor, dem wir zuhörten, keineswegs schlank war und weil wir selbst damals diesen Begriff von Schönheit gar nicht verstehen konnten. In die Zeit meiner Arbeiten am Manzala-See bei Port Said (2005-09) fiel auch die »Wiederentdeckung« von Stefan George. Meine »erste Liebe« zu George war über den Darmstädter Herrengarten (»todgesagten Park«) direkt ins Orientalische Seminar der Frankfurter Universität verlaufen. Manches aus der »George-Ecke«, was andere damals nicht hören wollten, hatte ich unter dem Einfluss eines »wissenden Freundes« bei Adorno herausgehört. In der Welt des Manzala-Sees aktualisierten sich Bilder und Ideen über die transhistorische Bedeutung des »Naturschönen«. Kann die im Prozess der kulturellen Gestaltung der Welt getroffene Form der rituellen Integration nicht in eine künstlerische Integrationsform überführt werden? Ritus und Kunst, waren sie nicht schon immer unmittelbar zusammenliegend und liegt darin nicht die Weltgeltung von »Ägypten«? Das Glück des Ersten war Stefan Breuer beschieden, Glück insofern als er in der Fülle der Verbindungen und Verflechtungen die soziologische Bedeutung der Figur »George« erfasste und damit natürlich auch Georges »moderne« Bedeutung. Keiner der aus der George-Tradition heraus sichtenden Nachfolger (Karlauf 2007, Raulff 2009) reichen darin an Breuers George-Studie (1996) heran. Da sie kritisch, im Prinzip »links« ist, muss Breuers Studie immer wieder kritisiert, als Quelle und möglicher Wegweiser verschwiegen werden. Und in der Tat, wo Breuer noch sich als Kritiker des deutschen Neo-Konservativismus der 1990er Jahre versteht und zu trocken noch große, neue »Soziologie« will, muss er sich auch jeglicher Sicht für die zeitgerechte Bedeutung dieses Neo-Konservativismus verweigern. Er kann von daher auch nicht die globale moderne Bedeutung des »Antimodernismus« verstehen. Die globale Moderne ist nur im erfassend um-
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fassenden Spiel mit dem »Antimodernismus« – »Ägypten« ist hier unser Thema – »global«. Die globale Moderne ist nur im erfassenden Spiel mit dem »Antimodernismus« »global«. Darin war George seiner Zeit voraus. So wichtig und hilfreich die Biografie von Thomas Karlauf (2007) und die Wirkungsgeschichte von Ulrich Raulff (2009) sind, so wenig sind ihnen die gesellschaftlichen, »ideengeschichtlichen« Dimensionen der Herausforderung Georges für den modernen Selbstbegriff, die Breuer (1996) bereits gewärtig waren, ein Anliegen. Diese sind verschönend und Netzwerk-linear einer im Wesentlichen, dem gegenwärtigen, monumentalistischen Geschmack Rechnung tragenden »germanistischen« Betrachtung, zum Opfer gefallen. Dass es aber wirklich auch unter »Germanisten« anders geht, schien mir Jürgen Osterkamp mit seinem in einem Vorwort umrissenen »George« zu zeigen. Wie immer man zu Stefan George als Mensch und als Dichter steht, er hat in einem sehr absoluten Sinne – und darin über den »moralisch« gebliebenen Nietzsche hinausweisend – die »ästhetische Frage« ins Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses der Moderne gerückt. Die Kultur übergreifenden Momente des ästhetischen Denkens, von denen Ernst Robert Curtius84 noch einen Begriff hatte, sind in den jüngsten Studien allzu offensichtlich an den Rand gedrückt. Das wundert, wenn man berücksichtigt, dass man mit den darin einschlägigen Sparten zu Heroismus, Caesarismus, Archaismus, Esoterik und Orientalismus etwa ganze Bibliotheken füllen könnte. Heute aber stehen andere Fragen im Vordergrund. Heute verwundert es zunächst nicht, wenn ein türkischer Künstler und Architekt etwa, ein zerstörerisches Erdbeben zum Anlass nimmt, ein berühmtes Wort von Adorno über Kunst nach Auschwitz ins Feld zu führen, um Zweifel an der Möglichkeit seines Berufs zu erheben. Nach einem Erdbeben in einer kurdischen Stadt, das wegen bewusst schlampiger Bauweise Abertausenden von Menschen das Leben gekostet hat, ist es Adorno und Auschwitz, was ihn danach fragen lässt, ob nach diesen Zerstörungen Architektur als Beruf und Kunst noch möglich sei. Wäre man selbst mit einer solchen Stellungnahme gefordert, so könnte man doch nur mit einem irritierten Kopfschütteln antworten: Die Metapher dieses Vergleichs ist unangemessen. Und doch kann man sich vorstellen, dass auch ein so 84 | Vgl. schon die Orient-Hinweise für sein Die französische Kultur (Curtius 1975) und die vergleichend herausgearbeiteten »romanischen« Süd- und Orientbezüge in seinem »George, Hofmannsthal, Calderon« (1947).
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angestellter Vergleich zu bisher im Türkischen kaum gedachten Tiefen des Selbstzerwürfnisses führen könnte. Damit ist das wesentliche gesagt: Ästhetik ist auch in globaler Kultur moralische Veranstaltung und als solche mehr als nur eine Frage des Stils, des Stil-Kreislaufs oder -Übergriffs überhaupt. Wo Adorno noch »Ästhetik« als Kunsttheorie betreibt, interessieren ihn Fragen der »Produktion« und des »Verstehens« von Kunstwerken, wenngleich schon Benjamin und Simmel in der Thematik von Produktion und Verteilung von Kunst ureigene soziologische Gegenstände in die »Ästhetik« eingeführt hatten. Das utopische Moment des »Ästhetischen« liegt aber darin – auch hier wird der »Antimodernismus« virulent –, die modernen Voraussetzungen für die »Versöhnung« mit Natur und Geschichte zu hinterfragen. Adorno hatte von Jugend an ein Gespür für die Bedeutung der »großen« Antimodernen (Klages, George). Gerade aber auch in der Frage nach dieser Bedeutung bleibt er letztendlich einer ambivalent-rationalistischen »Theorie« der Moderne verhaftet. Außer »Europa« gab es eigentlich für ihn keine Welt draußen. Wie konnte er auch den »außermoralischen« Problemlagen des deutschen Vorfaschismus – immer schon im Judentum die Welt draußen als »nacktes Leben« denkend – wirklich gerecht werden? Er begegnet ihnen nur halbherzig; alles wird unter den Teppich der Rettung der Aufklärung im Dienste planend regulierender Moral gekehrt. Die »ästhetische Frage« verdunstet im Konstrukt des Gegensatzes zwischen moderner Kunst und Massenkultur. Georges ästhetischer und charismatischer Absolutismus wirkt aber heute weiter (und über Adorno hinaus), weil er daran erinnert, dass sich Ästhetik letztendlich nicht auf den Gehalt von Kunstwerken reduzieren lässt. Für George ist Kunst in der Moderne »Alles«, und Adorno fällt hier auf einen elitären reduktionistischen Kunstbegriff zurück: die »Sondersphäre« des Künstlers, der sich der bürgerlichen, entfremdeten Welt entgegenstellt. Zwar ist es der Weltbezug von Kunst, der sich nach Adorno als »besonderer«, als Synthesis der »Fülle des Seienden« annimmt, die Verwirklichung des Wirklichen kann deshalb nie »allgemein« werden. Bei Adorno tritt Kunst immer aus dem Leben heraus, wenn sie auch die »Verflochtenheit des Lebendigen« gerade in diesem Heraustreten artikulieren kann. In der Welt Georges aber kann das Lebendige nur Kunst und Kunst nur das Lebendige sein. George hebt die rationalistische Bestimmtheit des Kunstbegriffs auf. Kunst wird Ausdruck eines allgemeinen modernen Lebensdrangs. Kunst ist Leben und umgekehrt ist Leben Kunst. Er hat so – trotz seines hoch esoterisch-elitä-
VII. G ESAMTKUNST WERK »W ELT «: S KIZZEN ZU Ä GYPTEN ALS ÄSTHETISCHE U TOPIE
ren Anspruchs und der Vorstellung von notwendig geheimer Leitung – bis in die subtilsten Internatsstuben der neuen Republik bis auf heute noch hineingewirkt. Die zunehmende Vermassung von Kunst und Kultur ist ihm kein Problem, weil ihm Masse fremd ist, nichts ist. Man mag es deshalb kaum als Paradox erkennen, dass gerade heute von einem anderen »Frankfurt« her George wieder in die ausufernden Dimensionen eines neuen »Charisma-Projekts« hineingestellt wird. Fast wäre man daran erinnert, als ginge es darum den quasi universellen deutsch-romantischen Kulturbegriff neu ins Spiel zu bringen, fast so, als läge hier der Quell, im Unausgesprochenen, für einen neuen entgrenzten, global-kulturellen »Erneuerungsbedarf«. Und in der Tat, das Utopische der Kunst liegt auch in dieser Verallgemeinerung Georges, und auch davon hatte Adorno einen Begriff, wenn er auch gerade dieser sich entgegen zu stellen trachtete. Wenn »ästhetischer Fundamentalismus« gerade der utopische, von Unrast gezeichnete Drang zu dieser Verallgemeinerung der »Kunst« liegt, dann ist mit der George-Renaissance auch »Ägypten« gefragt. Man reflektiere es einmal nur als Gegenstand im Kontext des schwelenden »ästhetischen Utopismus« der George-Renaissance und wird schnell finden, dass das Land des Nils auch da als Herausforderung zu betrachten ist. Warum? Nun, zwei Gründe lassen sich anführen: Erstens stellt – lange vor Georges Rückgriff in die orientalisch-römische Antike, vor »Algabal« – der Pharaonismus die große, die ursprüngliche Realisierung des Anspruchs auf eine dauerhafte gesellschaftliche Ganzheitsästhetik her, die kunstvolle Durchstilisierung von »Mensch« in Gesellschaft und »Natur«. Zweitens sind die manifesten Zeichen der pharaonischen »Stilgesellschaft« – ich habe das in Kapitel II bereits aufgezeigt – über Ägyptologie/Archäologie, Staatssymbolismus und Architektur bis hin zu reduzierten Formen lokaler Riten und Mysterien in ganz exemplarischer Weise in der globalen Moderne präsent. Ich behaupte deshalb, dass sich gerade mit dem »Exemplar« »Ägypten« die Richtungen und Probleme des »ästhetischen Fundamentalismus« für die globale Moderne anzeigen lassen. 2 Das Schöne der Natur selbst als das Ganze: Wenn das Schöne Naturversöhnung sein soll, wie kann es helfen, die Widrigkeiten des Lebens zu überwinden? Das Gedicht ist, wie Rilke es sieht, das auf einen Brennpunkt gebrachte »Zueinanderstehen der Dinge«, ist Kunstwerk als »Inbegriff des Naturschönen«. Nun ist das »Schöne der Natur« schon bei Kant Gegen-
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stand der »Wollust für seinen Geist« und es sind eben die wahrhaft Seligen (und die Dichter vielleicht), die nur ein so hohes Interesse an ihren Gegenständen entwickeln können. Das war selbst dem rationalistischen Objektivisten Adorno bewußt (Jäger 2005: 294f.). Selbst ein so aufs »Allgemeine«, auf gesellschaftliche Wirkungsmöglichkeit hin Denkender wie Adorno, spricht dem Erlebnis des Naturschönen noch die Kraft zur ästhetischen Erfahrung zu. Gedicht ist Individuation. Und da ist Gedicht auch für Adorno schon verdächtig, sich dem allgemeinen Erzeugen von Verpflichtendem und Authentischem zu entziehen, »Selbst-Zweck« zu werden, einem »individuellen Zweck des Verstandes nur zu dienen«, ein Moment bloßer Subjektivierung zu sein. Dies droht der Kunst aber dann, wenn sie sich dem Gesetz der Objektivität entzieht. Erst im Unterdrücken und Verdrängen des Individuellen durch die Ansprüche des Kollektiven, nur wo es Unerfasstes, nicht Subsumiertes, als unterdrückt und verdrängt erscheinen lässt, nur in diesem Aufatmen vor dem Schönen der Natur gilt ihm Poesie als möglicher gesellschaftlicher Akt. Das Schöne gewinnt in diesem Vermittlungsakt erst seinen gesellschaftlichen Wert. Dabei ist Lyrik als das bloße Schöne schon verdächtigt, etwas objektiv zu machen, was bloß Ausdruck von Subjektivität ist, der nur die Sprache Objektivität verleiht. Wenn er allerdings auch Ästhetik denkt, so geht es Adorno zuallererst um Kritik und Utopie der Gesellschaft, des Besseren und Höheren, und wie könnte vor dem Hintergrund des in ihm konfigurierten Zusammentreffens von Objektivem und Subjektivem, von gesellschaftlicher Macht des Faschismus und subjektivem Erleiden noch Poesie möglich sein. Wo Poesie »Schweigen« über Unrecht einschließt, macht sie sich andererseits selbst schuldig. Aber ist das nicht mit jeder Ästhetik so, und eben auch mit jedem Gedicht. Adorno aber geht es um das ästhetische Urteil, um die Poesie und Poetik Celans. Deshalb, weil sie im Widerspruch steht zwischen dem Ansingen des unerhört subjektiven Leids, das Massentod war, und dem Versuch auch darin noch unfassbares Leid lyrisch zu beschrieben, scheitert sie zugleich, das Schöne als lyrisches Gesetz neu zu erfinden. Adornos Vorwurf traf hart: Nach allem was mit deutscher Sprache veranstaltet wurde, konnte man in Rilkes und Georges »Ästhetik« nicht mehr dichten. Und doch konnte auch Adorno, der Kritiker, vor dieser Ästhetik nicht halt machen. Deutlich ereignen sich solche Widersprüche der ästhetischen »Vertiefung« auch auf ganz anderem Gebiet. Der Ägyptologe Hermann setzte sich Anfang der 1960er Jahre mit dem in den Gedichten Rilkes zu Tage tre-
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tenden ägyptischen Urweltbild auseinander. Das bloß vertiefende Erschaudern vor den Zeichen der Urwelt allein genügt nicht den Anforderungen des Wissens, über das, was einmal war. Und doch werden dem unwissend Erspürten Genialität der tieferen »Wahrheit« im Sehen der Ursprungswelt bescheinigt, wenn auch nur eingeschränkt. Der Wissenschaftler will – ergänzend oder berichtigend – ägyptische Motive der Urweltdeutung herausstellen, deren historische und kulturelle Nähe im erschauernden Vertiefen nur als »Fremde« erfahren wird. Wissenschaft vermöge dem modernen Dichter den Weg zeigen, dort nicht nur das Trennende und andere zu sehen, das er in der Vertiefung zu überwinden suchte, sondern auch schon das Gemeinsame, das was als Vorgeprägtes schon als Eigenes erfahrbar wäre (vgl. etwa Hermann 1966: 430). 3 Weltgedicht als Idee des höheren Menschentums: »Alle Dichter haben das Menschliche erhöhen wollen«, sagte George zu Curtius (1963: 113). So reicht das neue deutsche ästhetische Zeitalter von hier in die Klassik zurück, wo man zuerst das Weltgedicht zur allgemeinen Erhebung des Menschen zu dichten suchte, aber auch, wie schon Jean Paul, der von George favorisierte Klassiker, zumindest auf Seitenpfaden, gänzlich den Kontrast zu dieser allgemeinen Idee des Weltgedichts humorvoll beleuchtete. Der Ballon, etwa des Luftfahrers Gianozzo, den Jean Paul über Deutschland und Österreich schweben lässt, verkörperte schon in der Fülle des metaphorischen Spiels jenen neudeutschen Geist, der sich, wie es heißt, eines prosaischen Jahrhunderts satt, in den Äther der Freiheit und der Poesie denken mochte. Wie schon Jean Paul seinen Kollegen Gianozzo beschrieb, handelte es sich bei den »Gedichten« der wirklichen Klassik um einen kraftvollen, im deutschen Leben tief verankerten Ersatz für die abgeschaffte, alte Theokratie. Denn anders als die Propheten und Heiligen waren die Priester seit alters her mehr mit Begriffen befasst als mit poetischer Sprache. War Gianozzo noch das humorvolle Exemplar des in den Gesetzen der Poesie Kraft suchenden, über der Welt schwebenden Menschen, so machte Stefan Georges Ästhetik aus dem von Jean Pauls lustvoll vorgetragenen Spiel Ernst. Die innere Macht der Poesie sollte auch einen Zweck erfüllen, sie sollte die prosaisch Deutsch sich einlullenden Geister im Entdecken des Schönen aufwecken, das Schöne sollte dabei auch den neuen Ruf zum allgemeinen sozialen Aufbruch verbreiten. Man darf sich heute zu Recht fragen, ob George Jean Pauls Warnung letztendlich wirklich ernst genommen hat, und nur das innere Gesetz der poetischen Sprache als die
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einzig wirklich umwälzende Kraft erkannte. Vielleicht ja, vielleicht aber hat er auch Jean Paul nur in der eingeschränkten, ja, behinderten Art verstanden, die sich letztlich unter dem Zwang seiner eigenen individuellen »Geschichte«, wie der des ganzen, so gesehenen »deutschen Volkes«, nur als unlösbares Problem der Selbsterhebung vollziehen konnte. Als einseitig solches wäre dem Weltgedicht nun wieder die durchbrechende Objektivität genommen: »die Poesie kann ja eben als eine höhere Geschichte nur dadurch das Individuum zur Gattung der Menschheit erheben, dass sie unparteiisch vor ihm die Menschheit auseinander breitet und alle Kräfte derselben getrennt und ungeschwächt vor ihm spielen lässet.« (Paul 1925: III/IV)
Der humorvolle Jean Paul war aber zweifellos einer der großen »Ideenlieferer« des aktiv ernsten, nach seiner und seines ganzen deutschen Volkes, ja, für die erwählte Menschheit als Ganze Erhebung suchenden Stefan George. Anders als George aber machte sich Jean Paul über die Romantiker und deren kulturellen Totalitarismus lustig, anders als Cassirer wohl spürend, dass das »Poetisieren« aller Sphären des sozialen Lebens, ja, der Religion, Geschichte und Wissenschaft, eben nicht nur »poetischem«, sondern auch »politischem Geist« ebenso sehr gehorchte, wie die Romantiker ja letztlich ihn sich unterwerfen wollten. Es begann hier etwas, was bis zu den »jungen Deutschen«, die das Vermischen von Tagesfragen und Dichtung, von Politik mit schöner Literatur, zum dichterischen Programm erhoben hatten, vordrang. Ein George schulte sich darin und an den Auseinandersetzungen darüber sein all-instinktives politisches Gespür. Hier entstand sein »geheimes Deutschland« gewissermaßen als Politik des Ästhetischen oder eben auch »ästhetische Politik«. 4 Das Schöne in der Natursprache des Weltversunkenen Heiligen: Andere Weltenfahrer und Aufsteiger zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich weltoffen singend dem ernsten deutschen Geist Georges zwar entzogen, blieben aber mit ihren weit verteilten Lesern der Idee des Weltgedichts verschrieben. Ich erinnere zum Beispiel an Hermann Hesses herzerschütternde Biografie des Franz von Assisi. Er kann als Dichter den Heiligen nur bewundern, ja, beneiden, der selbst im Leben der Natur, in der Kraft der Erde, die Kunst seines Lebens findet. Wer selbst mit Blumen, Gräsern, Wellen, mit Tieren redet, wer sich in der Natur mit preisenden Liedern Ge-
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hör verschafft, der bedarf des ästhetischen Gesetzes nicht. Für den Dichter scheint der Heilige gerade dieses, das ästhetische Gesetz, selbst zu verkörpern wie Salomon das magische Geheimnis, »welches dem Menschen die Sprache der Tiere und das innere Wesen der Pflanzen, Bäume, Steine und Berge erschließt« (Hesse 1996: 442). In der Sprache des Heiligen also scheint die Kunst des Dichters vorweggenommen, in seinem magischen Geheimnis liegt die Kraft des Gesetzes der Poesie. Es sind nur die unterschiedlichen Zeitalter, die den Heiligen vom Dichter trennen, und auch hierin liegt ein Stück Aufbruch, denn wer mit der Sprache den Gesetzen der Natur nahe steht, darf sich auch dem Heiligen darin verwandt sehen, dass auch er ein Stück des Reiches der Gerechtigkeit im Gedicht zu verwirklichen trachtet. Bei aller Trivialität ist das sakral-utopische Element des »Gedichts« nun gerade die Unmittelbarkeit, mit der Natur in der gesprochenen, ja, auch in der gesichteten Zuweisung, im überwältigenden Anblick, wenn nicht im Ereignis überhaupt, erfahren wird. 5 Die »Gesichte« der urgeschichtlich gestalteten Dinge, als Drang nach »Stil«: Bei Rilke sind Gedichte immer auch Beschwörungen des ersten Gottes und von den Göttern der Alten und von den Dingen und Landschaften, die sie zurückgelassen haben. Im Entsunkensein der Altäre, Brunnen, Säulen, ja, der Grabeskultur überhaupt, erweckt sich moderne Daseinsbezeugung neu, denn die altägyptische »Säule« ist unweigerlich hier und jetzt da. Von »Gesichten« der Altvorderen, die die Identifikation mit den Alten suchen, wird an einer längst versunkenen Seelenlage der Blick für das Hier und Jetzt geschärft. Rilke sieht im Ägypten der Alten die Dinge und die mit ihnen verflochtenen Bildwelten von einer ungeheuren Intensität, sieht in ihrer Ursprünglichkeit das verlorene und doch in der Fremde da seiende Ganze. »Wir Europäer des 20. Jahrhunderts sind nicht mehr im Besitz der ins Sichtbare greifenden Raumgestalt, ohne zwingenden Formvorrat, ohne ›Stil‹, wie er gerade in Ägypten alle Lebensgebiete durchflutet hat.« (Hermann 1966: 422).
Zweck und Ziel, oder vielmehr innerer Anlass, dieser ägyptischen Bauten und Bilder liegen in ihrer Verbindung von Transzendenz und Immanenz. Sie sind allumfassend. Über Tausende von Jahren immer in fast gleichem Stil gestaltete Ding- und Zeichenwelt, allumfassend gestaltetes Naturschö-
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nes zugleich, darin liegt die Anziehungskraft des ägyptischen Stils. So war es nach Assmann schon Platon, der diese Besonderheit Ägyptens hervorgehoben hatte: »Umso bedauerlicher, dass die Maßstäbe dessen, was als schön zu gelten habe, überall den Künstlern freigestellt seien, das einzige Ägypten ausgenommen.« Nur hier habe man früh erkannt, dass die Kunst sich nach den höchsten Maßstäben des Schönen zu richten habe und diese Maßstäbe in der Form eines Inventars von Standardtypen (schemata) auf den Tempelwänden fixiert« seien. In dieser Beschränkung, »Standardisierung sowohl der Darstellungskonventionen als auch der Bildinhalte und ein noch ungewöhnliches Maß an Langlebigkeit dieser Standards« lag für Platon das Besondere des ägyptischen Stils (Assmann 1986: 520). Darin erweckt der ägyptische »Kulturstil« auch das Interesse der Modernen des frühen 20. Jahrhunderts. Die charismatisch, kosmologische Wiedererweckung der Welt, dafür steht die neo-romantische Bewegung. Und doch muss sie erkennen, dass die »Statik« der alten Reiche – wie in Ägypten so deutlich – auf strikter integrativer bürokratischer Routinisierung beruht. Ein eigenartiger Kreislauf entfaltet hier historische Kraft. 6 Das natürliche Filigran der Seele: Ein englischer Zeitgenosse Rilkes und Georges, der wohl beobachtete, was sich in Deutschland bewegte und vom kosmischen Kreis in Schwabing und vom Ideenbrunnen in Heidelberg durchaus beeinflusst war, stellt – freilich stark phallisch orientiert – Instinkt-Harmonie ins Zentrum seines Werkes. Dem für die angelsächsische Literatur äußerst wirkungsreichen, ins deutsche Kulturdenken hineingreifenden (aber es selbst kaum beeinflussenden) Engländer David Herbert Lawrence (D.H.L.) bedeuten richtige Instinkte mehr als das Schöne. Letzteres sieht er nur in der Instinktbalance zu erreichen. In einer sehr ambivalenten Haltung zur Männlichkeit, von der feineren Mutter beeinflusst und in die Welt der intellektuell leidenden Frau eingeführt, und auf die rohen Instinkte der männlichen Bergarbeiterkultur wiederum durchaus fremd reagierend, schuf Lawrence moderne, wankende, aber Harmonie suchende oder verkörpernde Menschenbilder. In allen seinen Reiseforschungen war er nah an den Dingen, Natur, Instinkten und besonders erspürten Relikten aus der Geschichte. Können wir etwas von D.H.L. lernen? »Wer überlebt, die Nachtigall oder die Pyramiden?«, war eine seiner Fragen, Rom, die monumentale Kultur, oder die etruskische als Filigran in der italienischen Seele? Wie denn kann Italien nur als Erbe des römisch-lateinischen Mechanismus der Unterdrückung gedeutet werden?
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Liegt denn überhaupt etwas Bedeutendes in der stilistischen Gleichmacherei, die »Globalisierung« schon im Zeitalter des Hellenismus bedeutete? Das Griechische, das immer auch ein anti-römisches Element bedeutete, kannte den Begriff des Hellenismus nicht. D.H.L. suchte im sublimen griechisch-etruskischen Filigran das farbig ausufernde Material für das lokale Verwobensein von Lebenskultur. Das »Etruskische« war ihm der Findungspunkt seiner Haltung gegen alle Staatskultur, die nur räuberisch, unterdrückend und kolonial sein kann und einer stillosen Gleichmacherei verpflichtet war (Lawrence, Etruskische Orte). D.H.L will, wie George und seine deutschen Zeitdichter (alle Nietzsche folgend), mit dem »Allgemeinen«, das uns seit Sokrates bedrängt, Schluss machen. Aber alle wollen sie doch auch etwas Allgemeines. Die »Erhöhung«, die die Deutschen suchen, allerdings braucht der Brite nicht, ihm geht es im umgekehrten Blick (den schon Gianozzo kannte, den Blick aus dem Ballon hinunter) um Entgrenzung des Menschen in der dinglichen Welt, um ins Materielle ausufernde Körpererfahrung. Der sich gewinnende »nackte« Naturkörper war ihm Ort der eigentlichen Kreation der Kunst, ja, auch der Welt. Lawrence’ Etruskische Orte verkörpern – wenn auch ursprünglich von »München«, »Heidelberg« und »Berlin« inspiriert (vgl. etwa Green 1974) – ein paralleles angelsächsisches, dem new age entwachsenes Projekt des modernen Eindringens in die menschheitsgeschichtliche Tiefe, die dem aus Rilkes Reisen gewonnenen ägyptischen Ausdruck durchaus vergleichbar ist. 7 Kunst als Erlösung in der Jetztzeit: George und seine Zeit sind mit Ernst angetreten. Seine Gedichte stehen für die dreifache Erhöhung: In Sprache, Natur und Geschichte, die das Gesetz der Poesie miteinander verbinden soll, eine Erhöhung, in der der neue Mensch sich finden soll. Ein neues Stilganzes ist zu kreieren, dafür ist er angetreten, um eine verpatzte Stilmöglichkeit der Moderne zu überwinden. Die Postulate der totalitaristischen Monumentalarchitekturen vertreten offen die noch im Jugendstil und in der Neuen Sachlichkeit verspielt erscheinenden, ästhetischen Programme des symbolisch und rituell gestalteten Naturraumes und seiner gesamtsozialen Integrationsmöglichkeiten. Stile der Urgeschichte werden zu sozialintegrativen Massenprogrammen. In diesem neuen Massenstilgefühl verbreitet sich George und so ist das Projekt George im Ausgangspunkt dem Projekt Adorno schon Feind, denn Adorno wollte im Bruch mit der Tradition selbst noch Momente eines erhöhenden Stilgefühls retten, wenn nicht neu setzen. Er wollte das »Allgemeine« der Poesie in die
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Pflicht nehmen, nämlich sich gegen die ständig und repetitiv subjektivierende Objektivität der Massenkultur zu objektivieren. Im Subjektbegriff der Kunst hat Adorno gegen die neue Geschichtsphilosophie der Moderne (gegen Jaspers und gegen Heidegger und das beginnende systemtheoretische Denken) das Subjekt als Moment universeller Gesellschaftsmöglichkeit erst ins Spiel gebracht. 8 Neu-liberale »Poesie«: Wer Poesie als Lebenserneuerung gegen die Enge des asketisch ausgerichteten und doch weltinteressierten modernen Rationalisten fordert, meint ein Mittel für die post-, ja, die anti-bürgerliche »Revolution« der neuen Konsum- und Medienkultur gefunden zu haben. Ästhetische Kreativität im Stile marktcharismantischer Durchsetzung gilt heute als kontinuierliche Innovation des neuen, über die Grenzen des bürgerlichen Alltags hinausweisenden, modern bleibenden Selbstverständnisses der Eliten im »Glaskasten« oder im »Techno-Bunker«. Sich neu wieder auf das »Projekt George« einzulassen, erscheint deshalb so revolutionär, weil es scheinbar auf Befreiung des Lebens in der Kunst setzt, nicht nur für den Künstler selbst, sondern als Hoffnung und Verpflichtung für alle, ja, als Imperativ neuer menschlicher Zivilisation: »[…] wer gar keiner Kunst angehört darf sich der überhaupt rühmen dem leben anzugehören? Wie? Höchstens in halb-barbarischen Zeitläuften.« So hören wir von George. Und an dieser Stelle treffen sich George und Adorno, wenn letzterer an dieser Aussage vielleicht auch nur das utopisch Höhere als Punkt hätte abgewinnen können. Die Dimension der virtuellen Vermassung des Kunst- und Kulturbegriffs (den konventionellen Gesellschaftsbegriff, der nur institutionelle Bindung des Lebens kennt, ersetzend) bedingt beides: Exzellenz und Massenkultur in Einem. Einerseits Adornos Moderne als Postulat der Hochkultur, andererseits stilisierter Massenwaren-Konsum als Lebensgefühl. Dies kommt einem paradoxen Spiel zwischen selektiver lebenspraktischer »Logik der Warenästhetik« und metaphorischem »Distinktionsgewinn« für den »Einzelnen« (dem darin »Einzelner« gewordenen) gleich. Es geht um die Bezeichnungsformen von Exklusivität in der Massenexistenz. Paradoxerweise ist die Symbolsprache des »George-Projekts« durchaus auf kreative Neuerfindungen aus, die Exklusivität bezeichnen können, das zur potenziellen Vermassung stilvoll herausgerissene »singuläre«, »einzigartige« Zeichen (zugleich endlos und bewusst aneinandergereiht). Gegen Baudrillards kulturkritisches »Massengrab der Zeichen« soll der moderne
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»Massentempel der Zeichen« in die Vision eines Ideals geformt werden: Gesellschaft als künstlerische Formvollendung, deren äußeres Symbol zur Pyramide wird. So kann auch dem »modernen« Massentourismus ein Zeichen gesetzt werden, der vom Louvre nach Dubai und bis nach Hongkong und Shanghai reicht und sich als Ausdruck der neuen weltgestaltenden Stilsucht durchsetzt. Allerdings bedarf es auch immer noch der sublimen Pendants, der geschichtlichen Gebilde der »Morgenlandfahrt« ebenso wie der äußeren Naturwelten, die der charismatischen Gestaltung von Naturund Dingsichten unterworfen werden sollen. Die Bestrebungen dieses Projektes finden dort fruchtbaren Boden, wo die modernen Rollenfigurationen immer schon ganz offensichtlich auf den einzelnen Akteur, den Ich-Handelnden, bezogen sind. Gerade wenn man weiß, dass die Akteure sich in multiplen Rollenidentitäten ausspielen, gelten Kunst und Kultur als die Staffage, als Angebotsseite, über die ein immer reich sich wandelndes Ich verfügen muss. Erst der Ich-Bezug liefert in seiner vorgestellten Vermassung im »Wir« den Objektivitätsanspruch, der jeder Distinktionssprache untergelegt werden muss. Aber auch der Zwang zur Bildung, etwa im Medienangebot punktueller Kulturinformationen für Manager. Hier wird Kunst selbst zum Mittel einer politischen Instrumentalisierung des Kulturbedürfnisses überhaupt. Wo die Autonomie der Kunst gefordert wird, wird sie selbst – auch dieses Paradox hat Adorno schon gedacht – auf politische Wirkung und gesellschaftliche Erneuerung abgestellt: die Inhärenz von Autonomie und Wirkung von Künstler und Werk. Jenseits von Macht, Machtdenken und Machstreben eignen sich Person und Leben des Stefan George schlecht als Leitbilder. Sie können keine Ich-Ideale für die neuen Lebenswürfe kulturell produktiver Menschen liefern. Da sind Biografien von marginaleren Künstlern der Vor- und NachGeorge-Generation – wie etwa Rilke, Hesse und Fuchs – für die Auflösung des Subjekt-Objekt-Trennens in Leben und Kunst, nicht als das berühmte »Happening«, sondern als eine entscheidende Komponente des Daseins als Kunstgestaltung ergiebiger und sinnträchtiger. Da diese aber Künstlersein als eine habituell statuslose Angelegenheit begreifen und das In-derWelt-sein und Welterleben als Kunst und damit auch zu einem Muster sozialer Haltung machen, gelten sie im Programm des George-Projekts nichts. Insbesondere aber das Modell des Traugott Fuchs, das ich dem Romanisten und Künstler in Istanbul zuschreibe, könnte, so wie es auf intersubjektiver Zuweisung und Einfühlung im lokalen Raum und nicht
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auf Ämter-Akquisition oder »Staatsrang« baute, hier in einem ganz neuen kritischen Sinn entwickelt werden. Es könnte als das »Modell« eines »Lebensgesamtkünstlers« gelten, der auf der Begriffsebene und in manchen Gedichten, Kunst als Leben im Exil propagierte. Er war durchaus an George orientiert, lehnte ihn aber gerade wegen seiner inneren und äußeren »Staatsmacht« wohl ab und fühlte sich schließlich Hesse sehr nahe. Und noch ein Nachtrag: Daran, dass sie es so einseitig auf George absehen, mag man erkennen, wie wenig es den »Machern« mit »George« wirklich um Poesie, Kunst und Leben geht, und wie sehr sie selbst nur auf Maximierung und Gewinn des »Reichs« als quasi geheimem politischen Symbolgedanken für ein neues deutsches Erlösungsdenken, Totalitätsdenken selbst, abstellen. 9 Kunst als Ethos: Nach Adorno kann bloß der Totalitarismus höchste Subjektivität, die Gedicht meint, als Gefahr begreifen wie der des Franco gegenüber Garcia Lorca. Erst darin wird soziale Kraft von Lyrik spürbar, dass sie im Unterstrom des Individuellen zum Allgemeinen sich erhöhen kann, also zu platter gesellschaftlicher Erfahrung wird. Die innere Kraft zum Aufbruch hat Poesie bei Adorno aber nie, nicht einmal bei Brecht, dem »sprachliche Integrität zu teil ward, ohne dass er den Preis des Esoterischen hätte entrichten müssen« (Adorno 1958: 90). »Der Begriff des Radikalen, gänzlich ins Ästhetische transportiert, hat etwas von ablenkender Ideologie, vom Trost über die reale Ohnmacht der Subjekte« (Adorno 1963: 68.). Auch das wäre den Frankfurter »Machern« vorzuhalten. Aber damit umzugehen, ist für sie ja alltägliches Geschäft. Durch Poesie wie durch bloße Rede wird man schuldig, weil man zu gesellschaftlichen Missständen schweigt, indirekt zum Mitläufer, ja, zum Mittäter, aber nicht, weil man mit Gedicht die Welt umwälzen könnte, das lehrt uns Adorno (vgl. Adorno 1958: 197ff.). Mit George setzt ein neues Projekt ein, das sich auf ein modernes Ethos der Kunst beruft. Georges moralisches Aufmischen der Kunst folgt nicht dem längst bekannten, seit Schiller aber massiv verbreiteten Muster, dass Kunst als eine ethische Aufgabe anzutreten habe. Für George ist Kunst Moral an sich. Ethos ist – umgekehrt also – nicht Anliegen, Aufgabe, Zweck und Ziel von Kunst, vielmehr hat Kunst nur als Ethos Bestand. Kunst ist – soweit hier auf Nietzsche reagiert wird – Anti-Ressentiment, Anti-Zweck, Anti-Niedrigkeit (der Instinkte), Anti-Moral – sofern Moral bloß moralisch (wie etwa als priesterliche Moral) sein will. Die hier behauptete oder gefor-
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derte Identität von Moral und Kunst baut auf der Vorstellung vom »Ethos der Handwerklichkeit«, wobei Handwerklichkeit ja doch so etwas wie ein völlig Neutrales, Vermitteltes und Vermittelndes meint, eine Sachlichkeit auf Seiten des Subjekts, das mit dieser seiner erworbenen Sachlichkeit der Sachlichkeit in der Dingwelt draußen sich am nächsten fühlen kann. Kunst scheint so zunächst einmal auf einen post-asketischen Handlungsbegriff abgestellt, denn im abstrakten »Ethos der Handwerklichkeit« wird etwas Neues gefordert, das an die Stelle des »Wirtschaftsethos«, das – nach Weber – den asketischen Professionellen auszeichnen sollte, tritt: das Handwerkliche quasi charismatische Auszeichnung des Subjekts. Eine neue Ebene kultureller Sublimierung deutet sich an, sie stellt Interesse und Zweck zurück; »Ethos der Handwerklichkeit« hebt Handeln über das bloße Alltagsinteresse hinaus. Die formale Konzentration, die allen äußern Zwängen enthoben erscheint, gerät hier zu einem allgemeinen zivilen Ethos der neuen Modernität. Das entscheidende – und sicher verführerische – Moment dieser Vorstellung ist, dass die im »Ethos der Handwerklichkeit« gebundene Sachlichkeit in der Kunst eine hermetische Verschlüsselung der menschlichen Kultur setzt, eine Welt über der Welt, die fern allen logisch-mathematisch orientierten Beschreibungsmechanismen liegt und von diesen nicht erreicht werden kann, während »Handwerklichkeit« einen symbolischen Parallelismus ermöglicht, ein gegenseitiges Unangetastet-lassen, aber zugleich ein kommunizierendes. Der von George verfolgte Hermetismus dringt auf Sprache als symbolischer Gewinn gegenüber »Welt« und »Natur«, nicht auf Sezieren, Aneignung oder instrumentelles Parallelisieren. Es handelt sich beim »George-Projekt« nicht um ein Bekenntnis zur l’art pour l’art. Das war George selbst immer verdächtig. Der ästhetische Formalismus darf sich nicht selbst genügen, nicht hermetisch sein. Die Kraft der Form und der inneren ästhetischen Gesetzlichkeit sind zwar auf Kunstwirkung bedacht (Hermetisieren), sie sind aber auch Lebensmaßstab als solche und stehen so auch im programmatischen Gegensatz zur Ratlosigkeit und Brüchigkeit rationalistischer Modernitätsprojekte und ihrer politischen und sozialen Repräsentanten. Die »Gebärde des Lebens«, die Kunst werden muss, unterstellt – und im Fall George ist dies Programm – die reinigende Kraft der Kunst gegenüber den »niedersten Instinkten« des Lebens. So ist das »George-Projekt« auch eine Antwort auf Nietzsches Kritik der Moderne. Wie Nietzsche hätte George es nicht ausgehalten, hätte er nicht eine Lösung zu diesem inneren
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Druck des modernen Rationalismus gefunden, das programmatische Insistieren auf den künstlerischen Reversionen des Lebens auch noch in moralisch niederster und schlechtester Form, die die fleurs du mal ermöglichten. Das »neue Reich des George-Projekts« erkennt die Verbrechen der sozialen Außenseiter gewissermaßen als epochal oder generationsbedingte Freveltaten mit kreativer Kraft an. Es versucht zugleich die »bürgerliche« Welt als »Welt des universalisierten Frevels« und der »camouflierten Immoralität« nicht so sehr zu enthüllen als metaphorisch und symbolisch zu übertünchen. Will man hier die Kraft – delirio amoroso – neuer sozialer Produktionen erkennen, dann beruht sie vielleicht auf der Gegenspannung, welche die totalistischen Kunstgebärde dem wirklichen Leben erneut aufdrückt. Das absolute »Gedicht« steht nicht im unversöhnlichen Gegensatz zur Gesellschaft, sondern es erzeugt Spannung dadurch, dass es Gesellschaft ästhetisch erfahrbar zu machen sucht. Wie im »Gedicht« geht es im »George-Projekt« um die Autonomie des formal durchgebildeten Ichs, um die im Ästhetizismus gewonnenen neuen Formen der Lebensgestaltung und den Halt – den Kern einer neuen Form der sozialen Stabilisierung im Individualismus –, den sie vermittelt. 10 Der Berg: »Algabal ist ein revolutionäres Buch«, sagt George (Curtius 1963: 112). »Algabal« (al-gabal) ist es der Berg des Philosophen? Oder ist es der Gebel, den man sonst Tell oder Kûm nennt, der Hügel, den zunächst die ägyptische Dorfjugend, von allerlei Mythen gefangen, besteigt, um Schätze des Altertums zu suchen. Ist er sodann der »Berg« der Archäologen? Der Berg des Orients, der Antike, unser »Berg« also? Oder ist es nur ein dekadent verkommener römischer Kaiser?85 Hört man George – und es muss in diesem Kontext noch einmal betont werden –, dann ist mit dieser Gedichtsammlung erstmals etwas ganz anderes als bloß »Künstlerisches« gewollt, sondern eben etwas Neues: »der Wille zu neuem Menschlichen«. George, so lesen wir in den Aufzeichnungen von Ernst Robert Curtius, geht es um das Ganze: »Alle Teil-Emanzipationen, Teil-Reformen (›Frauenfrage‹, Kinder-Erziehung, Arbeiterfrage) sind wahnsinnig« (Curtius 1963: 112-13).
85 | Geht es nicht auch bei der, nach der George-Biografie Karlaufs, zweiten großen Tat der neuen Kulturminderheit des Jahres 2007, der Neuübersetzung der Odyssee, um den sich nach Osten verschiebenden Gebel?
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In der Hellenomanie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war der Orientbezug vielleicht schon immer ein erfrischendes, ja, erweiterndes Element. Algabal mag hier als ein frühes Schlüsselwerk für das Vordringen in einen ganz neuen Orient gelten. Nur während sich Goethe die orientalische Literatur noch aneignete, spielte George mit der hermetisch abgegrenzten Symbolik der Duft- und Glanzwelt eines aus dem Orient herübergekommenen Soldatenkaisers der Spätantike. Nichts scheint heute so überflüssig wie diese Verse, die wenigen ausgenommen, die zum »Muss« der modernen deutschen Lyrik gehören. Es erstaunt dann auch nicht, dass George heute nicht in seinen »Texten«, sondern in seinem ästhetischen Lebensanspruch als charismatischer Mensch des 20. Jahrhunderts, des Vorfaschismus und des Nachfaschismus, in den Wirkungen der von ihm geforderten Revolution Bestand hat. Die Bücher von Breuer (1996), Karlauf (2007) und Raulff (2009) enthalten typischerweise kaum eine Zeile eines George-Gedichtes. Und doch steht der Algabal-Komplex aus der jüngeren Phase dieses Dichters unter den Kritikern und unter den Protagonisten des neuen »George-Projekts« auch für die »Theorie« Georges an zentraler Stelle. Algabal ist die erste zyklische Dichtung in Georges Werk, 1891 entstanden. Es führt in die »hermetischen Kunstwelten« des Algabal mit seinen »kristalin verkohlten Schattenreichender Kunst« (Osterkamp 2005: 242). Darf man rätseln, dass die »Gegenbildlichkeit der Kunst zur Wirklichkeit« im Algabal vielleicht doch nur aus dem Gemälde von Lawrence Alma-Tadema von 1888 »The Roses of Heliogabalus« gewonnen werden konnte.86 Was die Adepten damals wie heute an George faszinierte, war der unbedingte Wille aus dem Gebilde einer »artifiziellen Gegenwelt von vollkommener Geschlossenheit«, die sich auf die Welt eines römischen Kaisers bezieht, eine neue soziale Welt zu gestalten. In Glanz und im Schrecken bleibt der ästhetische Standpunkt absolut; und über die ästhetische Gegenwelt »regiert mit grenzenloser Machtfülle und stupender Inhumanität ein jugendlicher Kaiser, dessen antikes Vorbild der im europäischen Symbolismus hochbeliebte römische Soldatenkaiser Elagabalus war, der den Sonnengott Elagabal zum höchsten Staatsgott erhoben hatte. Aber natürlich weist Georges Identitätsfigur des Algabal, in der Kaiser, Gott und Künstler identisch geworden sind, über ihr antikes Vorbild hinaus »wie schon die Tatsache zeigt, dass der Band dem Gedächtnis des bayrischen 86 | Ausstellung in Neapel 2007/2008.
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Königs Ludwig II. gewidmet ist. Wie dieser sich vor der Machtpolitik des hochtechnisierten und hochgerüsteten Bismarckschen Kaiserreichs in die künstlichen Paradiese seiner einsamen alpinen Schlösserwelt zurückgezogen hatte, bis ihn der eigene Schönheitskult auslöschte, so regiert Algabal über die künstlichen Paradiese eines Unterreichs, in dem noch die grausamste Gebärde zum künstlerischen Ornament erstarrt« (Osterkamp 2005: 242). In dieser Ganzheit von Kunst, »Religion« und Politik stellt sich der Bezug zur politischen Modernität des »neuen Reichs« her. Das AlgabalProjekt ist also nicht das Projekt einer einfachen Politischen Theologie, wie andererseits im Zug der Zeit, gewissermaßen parallel zur Wirkungszeit des George-Kreises in den Philosophien und im historischen Interesse eine gewissermaßen anti-säkulare Politik-Theorie mit Bezug zu Spätantike und »Reich« wirksam zeigte: Schmitt, Erikson, Voegelin, Strauss, Taubes. Moderne »Politische Theologie« reduziert – wenn hier anzuknüpfen ist – »Gegenbildlichkeit« auf das unversöhnliche Gegenüber unterschiedlicher Gott und Weltbegriffe in den monotheistischen Weltreligionen. Das Ganze, das ästhetische Umfassen der Welt, ist hier nicht Gegenstand. Vielmehr möchte man politische Theologie einfach als eine new mode of governance bezeichnen, die damit ansetzt, dass sie den »Gott des Anderen« und die »Religion des Anderen« zum Gradmesser seiner eigengesetzlich und hermetisch konstituierten Andersartigkeit und von daher zu seiner potenziellen Feindstellung macht. Der so zum »Feind« gemachte wird in das »Gegenbild« so sehr verwickelt, dass er es zur Folie der Ausarbeitung seines »Selbstbildes« macht, die zugewiesene »Feindstellung« also verschärft, das dezisionistisch gesetzte Gegenbild also nicht zurückweisen kann. Die Universalität der politischen Religion des Anderen unterstellt wird sie gleichsam zum philosophischen Schlüssel eines neuen dezisionistischen Weltverständnisses. Der eindimensionalste aller Weltzugänge, die »Hermetisierung von Religion« als »Moral« aller Gesellschaft unterliegend, setzt auf äußere kulturelle und damit auch faktisch politische Hegemonie und imperialen Machtzuwachs. Von daher ist es ist sofort ersichtlich, dass »Kunst und Kultur« als hermetisch geregelter Lebensbezug auch »Ägypten« trifft: »rituelle Integration der Gesellschaft« (Voegelins Verständnis des Pharaonismus; Assmanns am Ägypten Platos gewonnene »Stilkultur«; Straussens hermetisch abgeschottete »Philosophie«). Algabal ist gleich Dichter, ist gleich Künstler, ist gleich Philosoph, ist gleich Prophet. Dieses »Ich« als Verallgemeinerung
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des »neuen Menschlichen« gedacht bedeutet zugleich aber die Abdankung der reinen institutionellen Politik und zumindest »ideell« auch der bürokratischen Herrschaft. So sehr auch äußerlich zunächst das stilistische Selbstverständnis dieser Reaktion auf die »Moderne« am Beginn des 20. Jahrhunderts, zumindest in der Lyrik vor dem Zweiten Weltkrieg, in dem Versuch einer hermetischen Lyrik gipfelte, so sehr zielt es schon bald auch auf einen Gesamtentwurf hermetischer Kultur als Lebenserneuerung in der Moderne. Möglicherweise ist dieser Übergang in der Orientierung Georges (vielleicht aber schon insgesamt im Denken der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg angelegt) durch die Runde mit den Kosmikern erst ins Rollen gekommen. Breuer spricht von einer quasi persönlich biografisch gemeinten »Wandlung Stefan Georges vom symbolischen Dichter nach dem Vorbild der Parnassiens zum Propheten einer Quasireligion« (Breuer 1996: 95). Hier wäre dann anzuschließen und zu fragen, worum es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geht und warum nach dem »Abgrund« gerade hier dieser »Übergang« nach »Spengler« so allgemein, ja, zum Gestus der kulturellen Elite überhaupt verkommt. Für George war diese Zeit die Zeit der »großen Wirkung« und es war George dabei wichtig, ja, ein Mittel des geistigen Überlebens, dass er Dichter, d.h. auch »Magier«, blieb und sich der »Politik« des Tages entsagte. In diesem geistigen Milieu in seiner am Symbol haftenden Sprache, entfaltete er seinen ambivalenten Prophetismus, der in den letzten Fragen rührte, die die Kosmiker von Schwabing bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf die Tagesordnung gesetzt hatten. Im Wiederanknüpfen an die »Macht« des Algabal (und im Maxim-Mythos) wird sein »Charisma« gewissermaßen entsubjektiviert und doch gewissermaßen wieder auf den Lenker zurück gewendet. »In Paris da, das bisschen schwarze Messe, das war Literatur. Hier waren Kräfte, alle einig im Wissen, dass es so nicht weitergeht, dass auf diese Weise Menschheit zugrunde geht, und dass nicht soziale Utopien da helfen, sondern allein das Wunder, die Tat, das Lebendige. Aber sie wussten alle nicht zu zeugen. Sie hatten keinen einzigen Jünger, so wenig wie Nietzsche.« (Landmann 1963: 72; nach Breuer 1996: 95) Interessant ist die Deutung und Gewichtung der Parallelität der Werke von George und Hofmannsthal (Curtius 1947). Curtius geht es durchaus auch – wie später Adorno – um moderne Stilbegründung in der Ideengeschichte und Dichtung. Der »Süden«, der »Orient« bleibt aber auch hier – im Gegensatz zu Adorno – ein unterliegendes Thema. Fast möchte man
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meinen, er legt es auf ein Überwinden orientalischer »punktueller Ekstasen« zu Gunsten einer auf Dauer angelegten »Würde des Geistes« an, die aus dem Orient, dem Süden, schöpft (Curtius 1947: 423). In Lebenswerk, Sein und Denken Hofmannsthals spielt der Drang zum »romanischen Süden« eine wichtige Rolle. George und Hofmannsthal teilen sich diesen Drang. War es bei George »die Vervollständigung suchen«, gegen oder über den »nordischen Geist« hinaus, den »normalen«, dagegen »vom romanischen die Klarheit, Weite, Sonnigkeit« suchen (403) und das Spanien, in »Pilgerfahrten« entdecken und »Hängende Gärten« »eine neue, stärkere Resonanz für die Gestalt des Algabal« suchen. Kann die »romanische Welt« – der Midi, das Mittelmeer, der Süden – bei George ein Moment der Bildung zum Diktator sein, so ist sie bei Hofmannsthal ein Moment der befreienden, offenen »Weltkultur«? Gegen den Algabal Georges setzt Curtius den Calderón Hofmannsthals, aber zugleich wendet er sich gegen banale Säkularität und die Denkansätze der ersten Nachkriegszeit – wie schon Jaspers in seiner Kritik Nietzsches (Jaspers 1938) – bleiben im Suchen »theozentrisch«. Auch Curtius hebt am Hofmannsthal der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg das Hinwenden zu Spanien hervor, um dort in der Geschichte Spaniens (das selbst in einer Uralchimie des Geistes ruht) den Schlüssel zum bleibenden Gott zu finden. So deutet der schon 1934 schreibende Curtius auf die Möglichkeit einer Weltkulturreferenz hin, die über die 12 Jahre des Faschismus hinausweist. Ja, durch sie hindurch führend sind Momente des Wiederfindens à la 1947 eröffnet. Zu fragen aber wäre, was die Resonanzböden von Algabal und Semiramis in der differenten Vorstellung der Vereinung von Westen und Osten (Curtius 1934: 421) unterscheidet. Ich frage mich, ist das Frankreich, sind das die Saint-Simonisten, die hier weiterwirken? Was trennt das Ziel von Hofmannsthal: »poetische Wiederherstellung jenes christlichen Weltkreises« und »aus den verschütteten Schätzen der Überlieferung Heilkräfte gewinnen« von den Ideen dieser Orientabenteuerer? Ist dies auch eine »Lösung«, von Georges Selbstbegründung als Algabal, »Diktator« im oder aus dem Orient? Auch hier ist über das Mittelmeer als Referenzboden von Weltkultur und als »Sinnbild« moderner Neuerfindung zu reden! Algabal setzt als Projekt auf die Intergrationskraft von künstlerischer, religiöser und politischer Neuschöpfung der Welt. Elagabalus, (al-gabal), Algabal ist – man darf dies nicht vergessen gerade auch wenn man den gegenwärtigen Stellenwert des charismatischen Ästhetizismus für die Kul-
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tureliten bemessen will – geradezu parallel zum Projekt der kulturellen Anerkennung der Homosexualität angelegt.87 Der Kult des Algabal bezog sich in Emessa auf einen schwarzen konischen (kegelförmigen) Stein, der nach Rom gebracht wurde und als deus sol invictus im römischen Pantheon installiert wurde: Elagabaleum, darin wird auch ein Bezug zum abrahamischen Stein und zur Mekkanischen Kaaba offenbar. Bei diesem »Priesterkaiser« scheint es eher noch, um eine Reversion der axialen »Errungenschaften« der griechischen Philosophie und des Christentums zu gehen. Eine andere Parallele scheint mir wichtig: Der Koran als »Gottesgedicht«. Die absolute Sprachkultur des Arabischen, die mit dem Koran einsetzt, findet in Georges Versuch mit Algabal eine moderne integristische Gedichtkultur zu entfalten, die das absolute prophetische Weltgedicht neu denken und schreiben will. Es ergibt sich hier die doppelt gelagerte Problematik des Weltumspannens: Einerseits Algabal als die frühe Reaktion gegen die »geistigen Errungenschaften« der »Achsenzeit«, andererseits 400 Jahre später Muhammad als Offenbarungsreaktion auf axiale Trennungen; einerseits Aufhebung des Glaubens im Wissen, andererseits Entdifferenzierung der Offenbarung, die dann auch wieder als neue Sprachkunst, Körper, Schrift-Integration gegen die weltlichen Separierungen von Macht, Religion, Kunst. etc. ins Feld geführt wird. Dies stellt sich auf heutiger Ebene neu dar und erklärt die Grenzziehungen und klare Frontstellung des »Geheimen Deutschland« gegen den hier so stark konkurrierenden Islam. 11 Poesis: Zunächst gilt es aber die Algabal-Problematik noch vom poetischen Gehalt her zu entwickeln, ja, die sich an der Deutung der Gedichte selbst auffächernden Diskurs-Felder zu umschreiben. Man würde es sich dabei zu einfach machen, wenn man Algabal vornehmlich unter dem Blickwinkel des Nietzsche-Problems des Künstlers betrachtet, Algabal gewissermaßen als das künstlerische Substitut des Philosophen/Propheten, 87 | Vgl. im Ansatz etwa das Gedicht »Vorspiel« zu »Teppich des Lebens« (George 2005: 109), hier heißt es: »[…] da trat ein nackter engel durch die pforte/entgegen trug er dem versenten sinn/die reichsten blume […]/und rosen rosen waren um sein kinn/[…]/da kniet auch Er – ich badete beglückt/mein ganzes antlitz in den frischen rosen […]«. Ein Nach-Algabal-Gedicht, das das Gemälde von Lawrence Alma-Tadema The Roses of Helogabalus sehr unmittelbar nachpielt.
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als Georges Antwort auf Nietzsches Zarathustra betrachten würde. Es geht um mehr. Zunächst bietet aber die Vorstellung, dass George mit Algabal eine Selbstbeschreibung betreibt, die ihn in ein Spannungsverhältnis zum Dekadenz/Nihilismus Vorwurf stellt, einen Kampf um das Herauswollen. In einem ganz einfachen soziologischen Sinne ginge es dann hier ja nur um das Ringen um eine positiv affirmative Antwort auf ein modern kulturkritisches Problem, nicht der Künstler muss sich in einen Propheten wandeln, um anti-nihilistisch die Dekadenz überwindend zu agieren, sondern es muss eine ureigenste Künstlerantwort gefunden werden. Und natürlich im soziologischen Sinne des Modernisten weitergedacht, nicht müssen wir den Wissenschaftler und damit uns alle, den modernen Menschen überhaupt, aus der Dekadenz- und Ressentiment-Bindung befreien, sondern es muss sich der von der Dekadenz befreite Künstler als das Ideal des neuen Menschen bestimmen. Diesen Widerspruch muss man bedenken. Es geht aber um die Vermassung des Künstlerideals, das vom Nihilismus befreit ist, andererseits kann sich – das ist George bewusst und anders als es Gundolf denkt – der Künstler selbst nur in der Dekadenz als Künstler retten. Nur darin ist künstlerisches Charisma noch möglich. Zunächst einmal als was ist Algabals Künstlerantwort auf das Problem der Dekadenz? Von Gundolf her gesehen ist es der »Wille zur Meisterschaft«, der es erlaubt, in der Gegenüberstellung von Zarathustra contra Wagner, das George-Problem der künstlerischen Selbstdisziplinierung gewissermaßen zum Thema eines »Willens zur Macht« schlechthin zu wandeln. Dieser aber verlangt den Asketen, denn wer großen Stil »will«, der »überredet nicht« mehr. In diesem Sinne liegt dann die politische Wende in der Kunst: »Chaos überwinden«, »Gesetz werden« heißt aber nicht mehr Liebe zu fordern, sondern eine Einöde, ein Schweigen, eine Furcht legt sich um den Künstler, in seinem Schweigen liegt die ganze »Politik«. Das wäre also der wahre George, wie er schon von Nietzsche in Wagner gesehen wurde, und wie George ihn für sich jetzt mit Algabal auf eine neue Stufe stellt. Es hilft auch nicht, George lediglich unter den Gesichtspunkt des pur Ästhetischen, »Artifiziellen« und seiner neuen modernen Bedeutung zu stellen, es etwa Mode war, Georges Künstlichkeit bis zur Karikatur ihrer selbst, Ausdruck negativer, exzentrischer Kunst, hervorzuheben. »Künstlichkeit« lässt diese sich in eine Dimension moderner Massenkultur übertragen? Sind die Lebensansprüche der Kunst in Pop Art, Kunst im Zeichen der Massengesellschaft schlechthin, narzisstischer Bricolage und SelbstKarikatur als wichtigstes Stilmittel einsetzen, ja, wie bei Warhol etwa, als
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Kunst im eigentlichen Ausdruck modernen Lebens? Eine solche Karikatur Georges kann also nur zur »Aufhebung« führen, das George-Projekt schlechthin. 12 Das post-asketische Zeitalter: Das asketisch post-asketische am GeorgeBild (realiter ja des hinterrücksen Wüstlings, Pädophilen, Homosexuellen und Enthemmten) zum Symbol der »Bändigung des triebhaften Lebens« zu machen, mit dem Algabal zum Repräsentanten des »Gesamtwillen« stilisiert wird (Gundolf 1921: 92), ist das eigentliche Werk des post-GeorgeProjekts seit Gundolf, mit dem George auch für die neue Moral des scheinbar unpolitischen, agonal orientierten Post-Asketismus als Orientierungsfigur gerettet wird. Hier ist es nicht mehr die Nietzsche-Frage nach der Moral der Dekadenz, die den Stimuli und Impulsen waffenlos preisgegeben ist und eben deshalb dem Ressentiment verfällt, sondern es ist umgekehrt das Arbeiten an der Bestätigung aller Bedingungen der »Dekadenz« als neue Kultur. Auch hier kann Nietzsches Kritik, von George noch ernst genommen, nur in der Affirmation des Kritisierten »produktiv« gewendet werden. Die Welt als Kreation des ruhelosen individuellen Willens und Welterfahren durch Weltersinnen beschwören, das sind die Eckpfeiler des neuen moralischen Bewusstseins. Natürlich ist George auch das vervollkommnende Programm zum aristokratischen Individualismus: Das Artifizielle an der Kultur kann aber immer nur »einen« Meister haben, der den spezifischen »Gesamtwillen« repräsentiert. Dieses Projekt hat aber schon Adorno als das Paradox des individualistischen Objektivismus in der modernen Kunst entlarvt – wenn er auch meinte, gerade dieses Paradox im »Sinn« des »Allgemeinen« aufheben zu können. Worum geht es? Das Sinnlose der äußeren Welt hebt sich bei Adorno noch durch ästhetisch produktive Inhibition der Natur- und Menschenwelt auf, die objektive »Natur«, die Hegelisch selbst das »Allgemeine« repräsentiert, während Nietzsche und George sie zum willenlosen äußeren Gegenstand des individuellen Willens machen, der selbst nur im Willen den amor fati finden kann, mit dem er inneres Sein als Schicksal, das »Interieur« des Künstlers und Philosophen, mit der Erfahrung im Außen eben schicksalsbedingt verbindet, und erst hierin den Gegensatz aufhebt. Das Individuum gewinnt sich erst selbst in der erfolgreichen Zurückweisung der Versuchungen des Lebens. Das Individuum bedarf zu diesem »Abheben« der inneren Methodik. In dieser Methodik entwickelt und entfaltet sich der kreative Machtwille: ein auszuführendes Schicksal,
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das für den obersten modernen Individualismus steht, und der in der Tyrannei des individuellen Schicksals zugleich sein absolutes, übermenschliches Detachment vom Gegebenen begründet. Das Erstaunliche ist dabei, dass es nicht ein geistiges Abheben ist, eine Abstraktion des Willens, was hier gefordert wird. Die Tyrannei der Individualität soll, so schon Gundolf, auf »eine heilige Schau und göttliche Norm« zwar, aber vor allem auf »eine lebenshaltige Leibwelt« hinauslaufen. Es geht also um eine Umkehrung des abstrakt erfahrenden Subjekts, zum Einholen der nackten, leibhaftigen Lebensbedingtheit (Gundolf 1921: 90). Aus dieser Perspektive wirkt Adornos aufs individuelle geworfener Künstler, den »die Gesellschaft« zum Objektiven zwingt, eher als Ausdruck der verdinglichten Massenkultur selbst (Kunst ist, was sich als solche verkaufen lässt), und zugleich als blindes Fortschreiben von Instinkt und Ratio-Antagonismen. 13 Nochmals Orientalismus: Romantische Agonie sucht in den Zeugnissen der Geschichte Rettung, denn die unnatürliche künstliche Welt hat hier zum ersten Mal im großen Stil die ganze Welt gestaltet. In dieser Ausstattung erst kann das neue Individuum seine Bühne finden und imaginäre Selbstgestaltung betreiben. Hier kann es kühn und erhaben sein, selbst unter »schwarzen Blumen«. Die Instrumente der »Gesichte Rilkes« im Urheiligtum Ägypten gleichen denen von Georges Algabal. Weltgestaltung ist die Rückverzauberung der modernen Welt, Anrufen, Aufrufen der alten Welt, alle Verführungen des Lebens einschließend, darin ist das Neue zu gestalten und darin gewänne natürlich auch der »Orient« ein neues Gesicht. Was hat Saids Orientalismuskritik anderes bewirkt als die affirmative Kultur des Orientalismus etwa im Islamismus zu ermöglichen, zu befördern. Die Folge hiervon ist das Hereinnehmen des Orientalismus in die neo-moderne Begründung, die als die neue Kulturrichtung überhaupt gelten darf. Hier erst findet die romantische Agonie ihren Gegenstand, bei George und Rilke gleichermaßen. Einerseits liefert der Orient den vorgegebenen morphologischen, gestalterischen Hintergrund für das hermetische Aus-der-Welt-Heraustreten, die symbolisch gestaltende, rituelle Integration der ganzen Welt ins neue Menschsein. Andererseits wird aber in der Anschauung schon die orgiastische Kultur des »Flötenspielers« vom Nil überwunden. Er ist betörend »entrückt« und »tötet« zugleich. Man muss ihn überwinden (Ein ähnliches Projekt verfolgt Ludwig Klages im Kosmogonischen Eros allerdings sich jeglichem Orientalismus entsagend, lediglich
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einer universellen Folie der Kosmogonie und dem Germanismus Wagners folgend). Algabal und Zarathustra sind orientalische Figuren der Antike, die in die Jetztzeit hineingedacht werden. Es ist die Aura der exotischen Extravaganz, die sie umgibt. Als Urphilosophen/Künstler sind sie mit allen Problemen des modernen Individualisten mit seiner Orgiasmus/Askese behaftet und verkörpern ein aufgenommenes »allgemeines« Schicksal des weltversöhnenden amor fati, der zugleich jedoch alle im »Ich« – die Ganzheit fordernde Welt-Versöhnung eingeschlossen – zu überwinden trachtet. Rilke tut dies als Pilger, George als geheimer Ausflügler in die »orientalische« Politik. Im Orientalismus – darin ist er der Hellenomanie eines Vico durchaus ähnlich (und die Philologen, so Auerbach in seiner Vorrede zur von ihm neu übersetzen »Neuen Wissenschaft« 1924, und Gundolf, wie etwa im Kleist von 1922, sind die wahren Hellenomanen) – zeichnen sich die Züge eines neuen Modernismus ab. Die Geschichte der Menschheit, das von großer Realität gezeichnete, gestaltete Gesetz (bei George), als »Geometrie«, die Formen schafft und erkennt, wo die Taten der Menschen real sind wie Punkte, Geraden und Ebenen (bei Vico/Auerbach), wird neu erfunden. So wie ja auch Rilke das Da-, das Jetztsein der Steine der Alten in Ägypten zu einer neuen »Geometrie« formt. Es ist deshalb völlig daneben gegriffen, etwa die Begegnungen von D. H. Lawrence (Etruscan Places 1926) oder Aldous Huxley (Those Barren Leaves, 1925) mit den Etruskern als bloße Arbeit am Mythos einer untergegangenen Kultur der Früh-Antike zu desavouieren, als die Verkörperung eines Impulses, des Eskapismus und der Flucht aus der eigenen Zeit. Es ging Lawrence und Huxley – wie überhaupt streng im Geist der Zeit verwurzelt – um die Flucht in die Früh-Antike, es ging nicht darum, die »Etrusker« in das Paket wissenschaftlicher Authentizität einzuschnüren und dann wegzutun, zu erledigen, sondern vielmehr darum, sie anzufassen, zu spüren, sich in Geist und Körper ihrer Kultur so einzufühlen, dass sie zum lebenden Bestandteil des modernen Fühlens und Lebens werden konnten. Gerade an dieser Stelle liegt die Verbindung zum George-Projekt nahe, das doch zunächst in kruder Weise nur auf das Ästhetische hin denkt, dann aber doch auch das Ganze meint und den Algabal als Muster des modernen Akts gewinnen wollte. Moderne Wissenschaft soll obsolet gemacht werden. Die historische und die archäologische wie überhaupt die Geisteswissenschaften mögen ja in Sternstunden zu der Erkenntnis in der Lage sein, dass die sogenannte »Vernunft des Herzens«, die intuitionsgeleiteten Untersuchungen, der systematisch sammelnden und unter Umständen
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vergleichenden Wissenschaft etwas zu sagen hat. Sie selbst tut aber immer so, als wolle sie den Punkt nicht erkennen. Der Punkt aber ist, dass die eine wie die andere auf die moderne Sichtbarkeit des Alten abstellt. Nur die »Wissenschaft« gibt das nicht zu, verlängert ihr Bild ins Allgemeine, Unendliche. Der intuitiv geleitete, berührende und berührt sein wollende Beobachter legt es darauf an, seine Eindrücke von der Schönheit der Landschaft nicht nur mit denen der Schönheit der antiken Steinen zu mischen, nicht nur die natürlichen Erscheinungen mit den Spuren uralten menschlicher Arbeiten, sondern beides mit seinem Jetztsein, mit seinem Dasein und Schaffen zu verbinden. Dies macht die Bedeutung dieses Versuchs aus, Wissenschaft abzumildern, eben aber nicht nur. Die Kritik lautet, dass die Wissenschaft Antike und Natur in eine nur entfernt bedeutende Position des Außen versetzt, das nur wirken darf, wenn es »richtig« ist, also in die meist als Hypothesen stehenden Positionen der historischen Verortung integriert ist. Während auch die Intuition von Fakten gefüttert wird, will sie sich doch dieser erfahrend selbst aneignen. All diese methodischen Probleme sind längst durchgedacht und breit erörtert worden. Doch das Wichtigste, was Poesie und Kunst seit George bewusst und unbewusst betreiben, ist, dass sie das Gefühl des Jetzt-darin-Seins (Geschichte und Welt) in kulturproduktive Haltungen umzusetzen vermögen. 14 Bürokratie und Charisma: Wo Bürokratien eigenes Machtinteresse entwickeln, zerbröckelt das Reich, aber aus zunehmender zentrifugaler Zersplitterung entsteht auch wieder der Zwang zu charismatischer Erneuerung des Welt-Pols im Zentrum neu. Aus dieser ungeklärten Ambivalenz, diesem zwischen bürokratischer Routinisierung und charismatischer Erneuerung hin und her schwingenden Pendulum, entwickelte sich in Heidelberg am Ende des 19. Jahrhunderts die Vorgeschichte des deutschen desaströsen Versuchs aus diesem Kreislauf herauszutreten als Programm. Heidelberg steht auch heute noch für eine Urgeschichte des modernen Charisma-Begriffs und für die Kritik der großen Bürokratie. Dies war das Denkprojekt, dessen sich der George-Nachgeborene Alfred Weber in der unmittelbaren Nachkriegszeit annahm, hier gewissermaßen in Begründung eines neo-liberalen Diskurses für die entstehende Bundesrepublik. Erstaunlich ist auch hier, wie sehr die vor- und nicht-axenzeitlichen Gebilde herangezogen wurden. Wenn es um Bestimmung von Freiheit, Bürokratie und Diktatur ging, standen hier Charisma und Stilvollkommenheit als Angelpunkte moderner Vernunftorientierung immer Pate. Bei
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Bürokratie ist immer eine Idee des Pharaonischen oder Asiatischen im Spiel (man vergesse nicht den Hintergrund der »Weltgeschichte« Hegels, Marx’ »Asiatische Produktionsweise«, Wittvogels »Hydraulische Gesellschaften«, was Vorstellung von staatlichen Strukturbedingungen anlangt). In Bezug auf den Kultur-Orientalismus, der hier ins Spiel kommt, sind Alfred Webers Ausführungen über »rationalisierende Kanalsysteme«, Magismus und Bürokratie interessant: Der Pharao mit der totalitärsten Bürokratie der Geschichte basiert auf einem priesterlich hieratisch geordneten Schreibertum, wie auch das Brahmanentum in Indien als Priester- und Herrscherkaste und der kosmische all-Magismus des Mandarismus mit seiner gelehrten Schreiberbüreaukratie. Historisch werden dem die nichtbürokratischen, religiös-mythologischen Macht-Gebilde des Judentums, der Griechen und der Römer gegenübergestellt (über die erste achsenzeitliche Durchbrüche des Verschlungenseins von Individualität und Kollektivität zum Tragen kommen) (vgl. Weber 1945/46: 1034-1036). Alfred Weber sieht vor allem die Unausweichlichkeit der Bürokratisierung (sprich Asiatisierung) der modernen kapitalistischen Organisation der Massengesellschaften und warnt vor einer kulturellen Überladung und kastenartigen Abschottung durch bürokratische Herrschaftsträger, die quasi wiederherstellen würden, was bereits vor 5000 Jahren im Pharaonismus, etwa im Zusammenspiel von Magismus und Bürokratie, bereits einen gesellschaftlichen Totalitarismus begründete (vgl. ibid.: 1048). Hier, bei diesem Heidelberger Spät-Georgianer, stehen eindeutig die prophetischen und mythischen Helden der Achsenzeit als Ideale einer charismatischen Wandlungsdynamik, die auch in der neu zu gründenden deutschen Demokratierepublik als Moment der kulturellen und politischen Erneuerung zu erhalten seien. Wer heute der Meinung ist, die geistige und demokratische Entwicklung Europas habe den charismatischen oder »aristokratischen Individualismus«, der im Heidelberg des Vorfaschismus vorherrschte, überwunden und, dass »die Zeit der großen Kapitäne« vorbei sei (Breuer 1994: 188), muss sich natürlich wundern, wie beständig und über die Wirkungsgeschichte über Europa hinausweisend, die kulturellen Aspiratitionen sind, die nach ins Ganze greifenden ästhetischen Lösungen rufen, und deshalb George und das »Geheime Deutschland« wieder ins Zentrum von Kulturerneuerung und Entfaltung einer politischen Kultur für die neuen »Kapitäne« einzufahren hoffen. »Ägypten« ist hierzu kein kompetitives, sondern ein komplementäres Moment der gegenwärtigen kulturellen Herausforderungen.
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15 Das schöne Leben. Wo? Es gibt zwei große Mythen der die »Menschheit-als-Ganzes« betrachtenden Soziologie. Erstens ist dies der Mythos vom Ende der primitiven Gesellschaft und des exotischen Zaubers und der Anziehungskraft, die von ihnen ausging. Mit dem späten Levi-Strauss könnte man der Meinung sein, der Prozess der Eroberung der Welt sei beendet, vom Westen nicht-kontaminierte Sitten, Glaubensformen, Gebräuche und Institutionen gibt es nicht mehr, und deshalb auch nicht mehr das weite Feld der Differenz, aus dem die Moderne ihre eigene Kulturentwicklung heraus zu bestimmen versuchte. Der zweite Mythos, der mit dem soziologischen Selbstverständnis der Moderne auf das Engste verknüpft ist, ist der der absoluten Universalisierung vom zweckorientierten Differenzierungsdenken und Vernunft, als dem eigentlichen Konstitutionselement dessen, was globale moderne Gesellschaft sein soll.88 Der erste Mythos operiert mit einer sublimierten Form der modernen Kulturkritik, gewissermaßen ein Beklagen der aussterbenden Artenvielfalt dieser Welt und die Suche nach neuen Partikularismen. Allerdings wird dabei übersehen, dass es sich in der Differenz nicht um sublimierte Geschichtsideen handelt, sondern um praktische Lebensgestaltung des auf Natur und Mysterien des Lebens zurückgeworfenen Armutsmenschen. Ich habe das oben am Beispiel des »Dorf«-Syndroms zu zeigen versucht. Die Ressentiments der gebrochenen Gegenseitigkeit zwischen Modernem und Nicht-Modernem, Westlichem und Nicht-Westlichem, wandeln sich 88 | Ein dritter Mythos darf nicht vergessen werden, wenn er hier auch nicht Gegenstand der Betrachtung ist. Es handelt sich dabei um den Mythos vom Zusammenhang von »Globalisierung« und dem »Ende des Nationalstaats«. Ich habe dazu bereits oben angezeigt, wie irreführend die Vorstellung vom Ende des Nationalstaats sein kann. Ergänzend wäre zu bedenken, dass es bereits seit Ende der 1960er Jahre die Vorstellung von der internationalen »Durchkapitalisierung« aller Lebensbereiche und -zustände gibt, Vorstellungen, das Ende der »Subsustenzproduktion« oder ihre innere kapitalistische Verwertung und Eingliederung sowie »Globalisierung« und »Weltkultur« eine ähnlich neue Welt-Totalität denken. Es hilft aber wenig, denn alle Vorstellungen der »Einebnung« müssen letztlich immer wieder auf Zustände der »Auslagerung« und »des »Anderen« zurückführen und für die »Selbstblicke« der Massen, in natürlich gesetzten oder auf »Natur« zurückgeworfenen Lebenszusammenhängen ist es im Fakt des Lebens unbedeutend, wie das »Ganze« sich auf sie bezieht. Dieser »Fakt« muss zuallererst organisiert werden, bevor er sich in den großen Zusammenhang der »Welt« stellen kann.
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in ein tragendes Moment der neuen fluktuierenden Bestimmungsapparate des »kulturell« Anderen. Die kulturübergreifend arbeitenden Sozialund Geisteswissenschaften wären aber gerade hier gefordert, der allgemeinen Sprachlosigkeit, die das Massensyndrom, nur scheinbar vom globalen Konsumkultursyndrom überdeckt, hervorgebracht haben, ein Ende zu bereiten. Denn es ist offensichtlich, dass die Art wie Mysterien des Lebens und uralte Riten als gelebte Praxis in diese neuen Differenzkulturen hineinwirken, auch mit Stichworten wie »Hybridisierung« kaum angemessen erfasst werden. Es zeichnet sich hier insgesamt aber ein neues eigenständiges anthropologisches und soziologisches Forschungsfeld ab.89 Der zweite Mythos stellt ein Wirkungsfeld ganz eigener Art dar. Die Sucht nach Verbreitung abendländischen Differenz- und Vernunftdenkens hat im Abendland selbst früh schon das Suchen nach Ressourcen einer post-asketischen, post-rationalistischen Kreativität in Gang gesetzt. Nach der Wieder(er)findung von »Ideen« und »Visionen« der Verzauberung und der Bereicherung des gegebenen, eingefahrenen, routinisierten Kulturbestands, die Suche nach dem »wirklich Herkünftigen«, um noch einmal dieses bezeichnende Wort Rilkes zu bemühen, mündete in ein Absolutum der Sehnsucht. »Orientalismus« kann hier sehr vorläufig nur als eingespieltes Wort benutzt werden, um anzuzeigen, wie sehr »Entzauberung« des »Andern« auch zugleich »Verzauberung« des »Selbst« meinte. Man kann aus dieser Perspektive nicht anders als die Archäologie, die Anthropologie, die Ethnologie und allgemein gefasst die »Orientalistik« und Altertumswissenschaften als Fachmaschinen zu bezeichnen, die in hohem Maße auf die Bereicherung der Formerfahrung zielen, auf transzendentalen Materialismus. Damit wird auch einen Mechanismus in Gang ge89 | Mir scheint, dass hier Thomas Bierschenk mit seinem Zidane-Aufsatz eine Richtung anzeigt, die ambivalenten Kultursyndrome der neuen Peripherie auch ohne neue Essenzialisierungen zu bearbeiten. Allerdings bin ich der Meinung, dass es ohne »Essenzialisierung« nicht geht. Sie bleibt ein wichtiger Faktor im Spiel der Bestimmung des Anderen, auch dann, wenn das »Eigene« sich selbst ursprünglich gar nicht essenziell begreifen lässt. Die Wirkungsgeschichte der »Orientalismus-These« zeigt sehr deutlich wie stark die Annahme »fremder« Essenzialismen« zur Waffe der Anerkennung, ja der »Emanzipation« werden kann. Zidanes Akt ist überall, es kommt also darauf an, wie man ihn begreift und gerade auch in seiner vermassten Allgemeinheit weiter untersucht ( vgl. Bierschenk 2009).
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setzt und weiter in Gang gehalten, den ich als »ästhetischen Utopismus« beschreiben möchte. Von »Heliogabalus« bis »Guernica«, von »Salambo« bis »Josef und seine Brüder« beruht die ästhetische Bearbeitung des europäischen Modernismus des ausgehenden 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder auf scheinbar »exotischsten« »Entdeckungen« der Altertumsforschung. Dem zweiten Mythos folgend hat man »den Islam« (den religions- und sozialwissenschaftlichen) entweder als eine im Großen und Ganzen dem unseren entsprechenden monotheistischen Rationalisierungsapparat anerkannt oder man hat ihn einfach als eine gegenfügige Maschine gesehen, die »Differenzierung« und »Vernunft« nicht zulässt. Die Rolle, die »der Islam« dabei spielt, uns sowohl bestätigend als auch bedrohend zu »dynamisieren«, ist Dauerthema von Tausenden von »aktuellen« Büchern. Hier werden immer auch die moralischen, die Ordnungsbezüge vom Ästhetischen und den Gestaltungsbezügen insgesamt getrennt und zugleich auf die vielfältigste Art interpretiert und ideologisiert. Der Mythos vom Rationalismus/Anti-Rationalismus verdeckt die ästhetische Seite des Kulturkontaktproblems. Mir scheint, dass es an der Zeit ist, einige Momente des »Ästhetik«-Problems anzudeuten, die sich auf »Ägypten« und die »islamische Lebensweise« beziehen. Momente, die wie ich meine, so sehr die Ambivalenz des modernen Toleranz/Intoleranz-Problems anzeigen, weil es um Basisprodukte einer Kultur geht, die in der jeweils anderen aufgegriffen worden sind. So bleiben denn doch die Anthropologie und Soziologie durchaus im Sinne von Levi-Strauss utopische Wissenschaften, weil sie in der Vorstellung von und im Umgang mit dem Schönen dessen paradiesische Urform mitdenken. Das alte »Ägypten« ist auch darin präsent, dass es »eine Welt des Ursprungs« ist, die »ewige Gegenwart« besitzt, denn diese haben »dort bereits die Griechen gefunden« (Hermann 1966: 429). Und so haben andererseits die »Rationalisten« den Kulturwert der Araber immer wieder nur darüber zu bestimmen versucht, dass sie uns die Quellen der griechischen Philosophie erhalten und übermittelt haben. Das hat ihnen für eine Zeit im Diskurs der modernen Anerkennung bis hin zur Selbstannahme dieser Form der »Essenzialisierung« ihrer Kultur in den modernen arabischen Nationalstaatsideologien geholfen. 16 Gegenseitigkeit und Harmonie: In der Tat, wer nicht vom »Staat als Leitstern der Bildung«, von Kunst als fixiertem abstraktem Ordnungsdrang überhaupt mehr sprechen will, kann nur, wie Nietzsche, »in der Ordnung
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der Geister eine gegenseitige Prädisposition, ja eine Art von praestabilisierter Harmonie« sehen (Frenzel 1966: 59).90 Hier in der Übersetzung von Ästhetik in die gegenseitigen Beziehungen der Menschen untereinander, liegt das eigentlich Revolutionäre von Nietzsches Denken: Der Einzelmensch gestaltet sich im Verhältnis zum Anderen neu, zum geforderten Künstler überhaupt, das später nirgendwo so radikal weitergedacht wird wie im Kreis Stefan Georges. Harmonie als Gegenseitigkeit, das ist die utopische Transposition des Ästhetischen, mit der Nietzsche die deutsche Romantik in die Moderne überführt. Freilich hat Nietzsche dies als durchgängiges Thema der Antike – in durchaus variierter Gewichtung – bei den Griechen entdeckt. Ihnen scheint das Schöne ohne den Schrecken der Welt gar nicht erst erkennbar zu sein. Erst in der Polarisierung konstituiert sich Harmonie. Darin sucht George, wie vor ihm schon Wagner, den Sinn moderner Kunst. Das Schöne bringt im Umgang mit dem Schrecken erst Gewinn. Mit dem Schrecken haben sich aber allzu schnell auch die »Idole des Tages und der Lärm des Marktes« eingenistet, und wenn Kunst letztlich doch auf eine »ewigkeitshaltige Harmonie zielt«, so darf ihre Gestaltung nicht nur von »Zuckung und Verzerrung« beherrscht sein. Sie kann sich nach Ernst Robert Curtius, dem modernen Anti-Poden zur Ästhetik des Negativen, aus dem »Barbarisch-Rohen« kaum erretten oder sie entgeht ihm nur um den Preis, »dass sie im Eitel-Spielerischen versandet« (Curtius 1964: 132). Werden hier Proust und Baudelaire gegen Wagner und George ausgespielt? Oder dürfen wir George doch noch zu jenen rechnen, die wieder eine Kunst formen können, »die klar und reich, ist, geformt von meisterlicher Hand, gefüllt mit Seele, beherrscht vom Geist; eine Kunst, wahr bis ins letzte, die das ganze der menschlichen Natur umfasst und vor Leben und Tod besteht« (ibid.: 133). Die Umkehrung des Wagner’schen Ideals, Kunst vermöge das Leben zu erlösen, ist Nietzsches Anliegen. In Überwindung von Wagner erkennt er, dass nicht der Künstler allein und an erster Stelle dem Leben gegenüber
90 | Aber kann es Nietzsche wirklich um die »Ordnung der Geister«, um diesen rationalistischen Ordnungsbegriff, gegangen sein, wie Frenzel meint. War es nicht gerade Nietzsche, der diese »Ordnung« hinterfragte, wenn er auch gerade da keinen Ausweg fand? Frenzel ist natürlich zu bestätigen, wenn er das Moment des Austauschs hervorhebt.
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steht: »die Kunst vermag immer nur ein vereinfachendes Bild des verwickelten Lebens zu geben« (Frenzel 1966: 74). Es war Marx, der eine neue Formel des Weltverständnisses anbot. Das Hereinnehmen der Welt in den Gestaltungszusammenhang des sich erhebenden Menschen ist zu entschlüsseln. Ebenso auch die Art und Weise, auf die er die »Natur« ihrer selbst enthebt: »Die Formel, nach der die Welt verhext ward« ist, dass das bloß Gedachte des Tauschwerts – der Schein über die Wirklichkeit gelegt – zum Allerwirklichsten wird (Scheible 1989: 131). Aber ist nicht der Gebrauchswert selbst eine Erfindung gerade dieser Formel? Ist sie nicht selbst Ausdruck jener Distinktion, die das betrachtende Intellektuellentum auf alles Beständig-Scheinende, Tätige, NotwendigScheinende legt? Die verallgemeinernde Abstraktion, die die Unterscheidung zwischen Tauschwert und Gebrauchswert beinhaltet, fällt unter die heute gängige Formel von Kunst: Was gekauft und gehandelt wird und den Künstler ernährt, ist Kunst. Diese Formel schlägt heute auf alles Künstlerische zurück. Kunst kann aber schlecht als der subjektive Kern noch verstanden werden, der dem Weltlauf der Entfremdung noch widerstehen könnte. Denn diese einmal gewonnene Form der »Versinnlichung des Allgemeinen« zielt nur auf eins, Verobjektivierung des Einzelnen im Mehr.91
91 | An diesem Punkt ist Adorno kaum weiter gekommen als Friedrich Schlegel schon am Beispiel der »griechischen Poesie« zeigt (vgl. etwa Schlegel 1972: 144).
Nachschrift an Stelle eines Epilogs
Vielleicht ist der Herausforderung Ägyptens noch in einer Erinnerungsgeschichte nachzuspüren, die ich hier anfügen möchte. Ohne Zweifel liest man Zeitungen aus der »Heimat« in der »Fremde« intensiver als im heimischen Alltag. Am Mittwoch, dem 14. Oktober 2009, betrachtete der Autor – abends in einem Restaurant am piemontesischen »Becetto«, der Wallfahrtskirche eines »Urheiligen«, eines »Bruders« des durch Hertz berühmt gewordenen Heiligen Besse, in einem Borgo über Sampeyre (Val Varaita, Piemont, Italien) – ein Bild aus dem zur Buchmesse angezeigten Foto-Band »Straßen Bilder« von Barbara Klemm. Das Bild zeigt eine Straßenszene in einem »Dritte Welt«-Slum. Es ist auf der neunten Seite der Literaturbeilage der Frankfurter Allgemeine Zeitung abgebildet, die ich an diesem Morgen gleichen Datums in Saluzzo erstanden habe. Ich betrachte das Bild immer wieder neu. In Pausen. Ich bin etwas verunsichert, denn ich meine das Bild zu kennen. Ich bleibe daran hängen, weil ich glaube, es schon immer in mir zu tragen, glaube, es sei aus »meinem Ägypten«. Es zeigt einen in die Wüste gebauten »Slum« mit auf einer breiten Sandstrasse vereinzelt spielenden Kindern. Im Vordergrund ein fast in die Kamera hüpfendes Mädchen, braune Haut, schwarzes Kräuselhaar. Dann vereinzelt kleine Kinder mit den typischen Spielzeugen, von rechts dringt ein Hund ins Bild. Während ich allein beim Abendessen im Saal sitze, schlage ich ab und an wieder diese FAZ-Seite auf, es geht um die Fotografin Klemm. Für mich ist dies ein Bild vom Ende der 1960er Zeit, ein in einer Wüstensiedlung im King Mariout oder in Hamam hinter Alexandria oder im Nord-Osten Kairos, in den Slum Siedlungen nördlich der Straße nach Isma`iliyya entstandenes Foto. Aber mein erster Eindruck ist falsch. Das präsentierte Bild der Fotografin Klemm kann gar nicht in Ägypten aufgenommen sein.
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Heute würde jeder auf den ersten Blick es ja schon sehen, dass es nicht Ägypten sein kann. Warum? Weil das Mädchen, die bildliche Hauptfigur, ein Kleid mit kurzem Rock und keinen Schleier trägt, würde man antworten. Aber auch damit läge man völlig falsch. Das Erstaunliche ist gerade, dass das Mädchen – wie alle Figuren im Bild hier, braune Haut, weiße Zähne, offenes schwarzes Haar, sehr bewegt wie tanzend auf offener Straße – eben genau einen Typ verkörpert, den man in den 1960er Jahren überall im ägyptischen »Straßen-Bild« sehen konnte. Die Hauswände sind aus weißen Kalk-Ziegeln, in Beton eingefasst, wie es im wüstennahen Neubauslum auch heute noch typisch ist. Was also irritierte mich? Warum doch nicht Ägypten? Zwei Dinge. Erstens gab es zwar durchaus gerade in Wüstenslums breitere Straßen als sonst, aber so breit, wie die hier gezeigten, gab es und gibt es in vergleichbaren ägyptischen Slums kaum. Zweitens überall auf solchen Straßen, gerade auch in wilden Wüstenmassenquartieren gab und gibt es die Hunde einer Mischrasse (Fuchs/Wolf/ Hund etc.), die auch hier zu sehen ist. In Ägypten haben diese Hunde aber eine Art uni-fuchsbraunes Fell, nie habe ich in Ägypten den schwarz-weißscheckigen Typ des FAZ-Bildes auf offener Straße frei herumstreunen gesehen. Trotz all dieser Merkmale, die nicht in das Ägyptenbild passen, bin ich auf den ersten Blick auf das Bild hereingefallen, so als handele es sich um ein Bild aus Ägypten. Nicht nur wegen des Mädchens, sondern wegen der Grundmorphologie, die Häuser – man riecht geradezu die trockene Fäulnis zwischen Sand, Beton, Ziegelstein –, das Öl der verrottet stehen gebliebenen Autos, man kennt die riesigen versilberten Bogenlampen als Reste staatlicher Gegenwart, in Ägypten so wie auch anderswo. Also, bin ich denn wirklich darauf hereingefallen, frage ich mich. Tut es zur Sache, dass hier Ägypten nicht ist. Vielleicht eher doch Pakistan oder doch Lateinamerika, Chile oder Mexiko, oder ein anderer gesamtamerikanischer Hinterhof. Ist das wichtig? Gerade aber diese Beliebigkeit der Zuordnung wahrnehmend, möchte ich bestätigen, was mit der »Herausforderung« Ägyptens gemeint werden muss. Wären nämlich gerade auf diesem Bild nun im Hintergrund die in Staub eingenebelten Umrisse der Pyramiden von Gizeh erkennbar, so hätte jeder, schwarz-weiß gescheckter Hund hin oder her, gesagt, hier handelt es sich um Ägypten. Es ist also dies, was hier erinnert, mit oder ohne Pyramide, die Verallgemeinerung des Slums und die Urtümlichkeit der menschlichen Existenz in ihm und zugleich in ihrer Allgemeinheit, eine
N ACHSCHRIFT AN S TELLE EINES E PILOGS
Allgemeinheit der Kultur der Armut, die uns in der Tat eine im doppelten Sinne quälende Herausforderung sein musste. Ästhetisch und moralisch! Wer glaubt, diese Herausforderung mit auf neuer »politischer Theologie« gegründeten und sich legitimierenden Kriegen auflösen zu können, wird da enden, wo einst der Begriff »Reich« enden musste, in der alten Vernichtungstheologie. Wer glaubt, die »Menschheit-als-Ganzes« erstehe im »Zeichen« der objektivierenden Macht der Medien- und Konsumkultur, möchte gern die hier betriebenen »Zeichen« der Spaltung der Menschheit übersehen und mit der »Allgemeinheit« – der Unantastbarkeit der Menschenwürde – dieser anderen Seite der »Kultur« leben, solange sie »da draußen« bleibt (Schleier hin, Schleier her), wo sie allerdings von sich aus, und wie das Bild (im Trennenden, wie im Erinnernden) zeigt, auch von den Medien aus nicht mehr so gerne ist. Diese »Kultur da draußen« ist das Produkt von Tätern, in der Tat, und ein doppelbödiger Höllenfall wirklich. Ich möchte mit der Bemerkung über diesen Blick auf ein »Straßen-Bild«, der mich am Beschluss der ersten Fassung in fremder Umgebung traf, darum bitten, jene Herausforderung der Jetztzeit anzunehmen. Wir, die wir Täter sind, und im Höllenfall dieser Jetztzeit gerne uns mit den Erbfolgen einer »fremden« Geschichte abmühen, vergessen leicht, dass das Fremde sich letztlich als nicht die eigene »Geschichte« herdrängt, sondern in konkreter Gestalt von Menschen und Dingen. Becetto, Val Varaita, Piemont, Italien, am 14. Oktober 2009.
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Georg Stauth Ägyptische heilige Orte II: Zwischen den Steinen des Pharao und islamischer Moderne Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta: Fuwa – Sa al-Hagar (Sais) 2008, 246 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-432-4
Georg Stauth Ägyptische heilige Orte III: Der Manzala-See bei Port Said und der Heilige der Fischer Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta: Abû al-Wafâ‘ August 2010, 162 Seiten,kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1200-4
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Globaler lokaler Islam Schirin Amir-Moazami Politisierte Religion Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-410-2
Sabine Berghahn, Petra Rostock (Hg.) Der Stoff, aus dem Konflikte sind Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz (unter Mitarbeit von Alexander Nöhring) 2009, 526 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-959-6
Nilüfer Göle, Ludwig Ammann (Hg.) Islam in Sicht Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum 2004, 384 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-237-5
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Globaler lokaler Islam Irka-Christin Mohr, Michael Kiefer (Hg.) Islamunterricht – Islamischer Religionsunterricht – Islamkunde Viele Titel – ein Fach? 2009, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1222-9
Abbas Poya, Maurus Reinkowski (Hg.) Das Unbehagen in der Islamwissenschaft Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien
Ruth Klein-Hessling, Sigrid Nökel, Karin Werner (Hg.) Der neue Islam der Frauen Weibliche Lebenspraxis in der globalisierten Moderne. Fallstudien aus Afrika, Asien und Europa 1999, 324 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-933127-42-6
Irka-Christin Mohr Islamischer Religionsunterricht in Europa Lehrtexte als Instrumente muslimischer Selbstverortung im Vergleich
2008, 336 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-715-8
2006, 310 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-453-9
Heiner Bielefeldt Muslime im säkularen Rechtsstaat Integrationschancen durch Religionsfreiheit
Sigrid Nökel Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie
2003, 146 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN 978-3-89942-130-9
Hans-Ludwig Frese »Den Islam ausleben« Konzepte authentischer Lebensführung junger türkischer Muslime in der Diaspora 2002, 350 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-933127-85-3
Gerdien Jonker Eine Wellenlänge zu Gott Der »Verband der Islamischen Kulturzentren in Europa« 2002, 282 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-933127-99-0
2002, 340 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-933127-44-0
Mechthild Rumpf, Ute Gerhard, Mechtild M. Jansen (Hg.) Facetten islamischer Welten Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion 2003, 319 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-153-8
Georg Stauth Islamische Kultur und moderne Gesellschaft Gesammelte Aufsätze zur Soziologie des Islams 2001, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-933127-47-1
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