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German Pages 260 [259] Year 2015
Christine Matter »New World Horizon«
2007-01-10 10-55-28 --- Projekt: T625.sozialtheorie.matter.amerikanische / Dokument: FAX ID 0216136406921882|(S.
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) T00_01 schmutztitel.p 136406921890
For Sayan
Christine Matter (Dr. rer. soc.), Soziologin und Historikerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Luzern.
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) T00_02 autor.p 136406921898
Christine Matter
»New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität
2007-01-10 10-55-28 --- Projekt: T625.sozialtheorie.matter.amerikanische / Dokument: FAX ID 0216136406921882|(S.
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) T00_03 innentitel.p 136406921906
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) T00_04 impressum.p 136406921922
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Moderne und Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.1 Theoretische Zugänge zum Problem der individuellen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.2 ›Individuum‹: ein Blick auf seine historische Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Das transzendente Fundament amerikanischer Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Alltägliche Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 ›Journey‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 »Always getting, being close« – Zeit und Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Die Symbolisierung immanenter Transzendenz: das ›amerikanische‹ Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
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) T00_05 inhalt.p 133476303338
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) vakat 06.p 133476303418
Vorwort | 7
Vorwort
Zwischen 1998 und 2000, während eines längeren Aufenthaltes in Boston, ist dieses Buch gleichsam im Schnittpunkt mehrerer Horizontlinien entstanden. Begonnen und beendet wurde das Projekt am Bodensee, wo ich an der Universität Konstanz seit den späten neunziger Jahren meinen wissenschaftlichen Horizont mit der Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen erweitern konnte. Mein besonderer Dank geht an Hans-Georg Soeffner (Universität Konstanz), der das nun in Buchform vorliegende transatlantische Unterfangen von Anfang bis Ende mitgetragen und durch zahlreiche Anregungen und Ratschläge bereichert hat, von denen sowohl mein europäisches wie auch mein amerikanisches ›Kulturverständnis‹ viel gewonnen haben. In der Konstanzer Forschergruppe habe ich mir über die Jahre einen Begriff der Wissenssoziologie zu eigen machen können, der mich auch weiterhin in meiner Arbeit anleiten wird. Auf der anderen Seite des Ozeans hat mich Peter L. Berger (Boston University) mit meinem Projekt mehr als zwei Jahre an dem von ihm geleiteten Institute for the Study of Economic Culture beherbergt, mir manche Tür zur vielfältigen Welt amerikanischer Religiosität geöffnet und wissenschaftliche Kontakte vor Ort ermöglicht, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Achim Brosziewski (PH Thurgau) hat meinen Text mit kritischer Lektüre bedacht, und ich danke ihm für viele wertvolle Anregungen. Mein Dank geht auch an Franziska Meister (Zürich) sowie an Jochen Dreher (Universität Konstanz), die das Manuskript gelesen haben. Asha De (Universität Rostock) hat mich in den letzten Monaten immer wieder zur Fertigstellung des Manuskripts ermuntert, so dass es tatsächlich fertig wurde. Jürgen Raab (Universität Luzern) hat mir bei der Schlussbearbeitung des Textes mit seinen Anregungen grosse Hilfe geleistet.
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8) T00_06 vorwort.p 133476303442
8 | »New World Horizon« Mein grosser Dank geht auch an die vielen Amerikanerinnen und Amerikaner, die ich im Verlaufe der Untersuchung kennen gelernt habe und die mich in oft langen Gesprächen in ihre Welt blicken liessen und damit das Fundament geliefert haben, auf dem diese Studie ruht. Auch danke ich den beiden Institutionen, die meine Arbeit unterstützt und gefördert und sie dadurch ermöglicht haben: dem Schweizerischen Nationalfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die transzendente Komponente amerikanischer Naturwissenschaft schliesslich hat mir indirekt und mit Sicherheit, ohne dass er dies beabsichtigt hätte, Sayan Mukherjee (MIT, Duke University) näher gebracht. Darüber hinaus hat er mein soziologisches Projekt mit andauernder leichter Irritation und gelegentlich skeptischen Blicken verfolgt und damit dieses Buch – mehr als er sich wohl bewusst ist – mit auf den Weg gebracht. Dafür und für vieles mehr danke ich ihm ganz besonders. Christine Matter Zürich, im November 2006
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Einleitung | 9
Einleitung
Die Moderne definiert sich zu einem grossen Teil über ihr Individuum. Wenn man sich in die umfassende Forschung zur Individualisierung vertieft, welche in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf die Wege gebracht wurde, so zieht sich eine Erkenntnis bei allen Unterschieden in den einzelnen Ergebnissen durch: an der Verfasstheit des Individuums lässt sich der Grad an Modernität der Gesellschaft ablesen. Die moderne Gesellschaft verständigt sich über sich selbst, indem sie die Sprache der Individualisierung spricht. Der Diskurs über das Individuum in seinem Verhältnis zur Gesellschaft und die Frage nach der gesellschaftlichen Bedingtheit von Individualität ebenso wie nach den Grenzen der Vermittelbarkeit von Einzelnem und Gesellschaft bilden eine der zentralen Achsen des modernen Selbstverständnisses. Was uns als Paradigma philosophischer und sozialwissenschaftlicher Diskussionen fast unumstösslich entgegentritt, hat jedoch eine Geschichte vielfältiger Veränderungen hinter sich. Während mit der Rede vom ›modernen Individuum‹ eine wesentliche Erkenntnis erschlossen wird, ist damit jedoch noch wenig gesagt. Auch mit dem etwas inflationären Verweis auf funktionale Ausdifferenzierung als Kennzeichen moderner Gesellschaften ist noch nicht allzu viel gewonnen, wenn das dadurch entstehende Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht mit Blick auf den historischen und kulturellen ›Einzelfall‹ rekonstruiert wird. Das Problem, welches durch gesellschaftliche Ausdifferenzierung für das moderne Individuum überhaupt erst entsteht, findet unterschiedliche »Lösungen« – so zumindest die These, die in dieser Untersuchung vertreten und die am Beispiel Amerikas untermauert wird. Doch wie sieht die Problemlage moderner Individualität aus? In
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10 | »New World Horizon« der Einleitung zu dem von ihnen mitherausgegebenen Band zum modernen Individualismus stellen Thomas Heller und David Wellbery fest, dass sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das bis dahin gültige Paradigma einer kohärenten Erzählstruktur in der Literatur aufzulösen begann.1 Darin spiegelt sich ein Umbruch von grösserer gesellschaftlicher Tragweite. Die Gesellschaften der westlichen Hemisphäre erreichen nach dem Aufschwung der Industrialisierung und den durch sie ausgelösten tiefgreifenden sozialen und kulturellen Veränderungen für die Gesellschaft ebenso wie für die einzelnen Menschen einen Zustand der »Ernüchterung«. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden über den engeren Kreis der Intellektuellen und der Literaten hinaus Stimmen laut, in denen sich die enttäuschten Hoffnungen auf die Versprechungen artikulieren, die im Projekt der Aufklärung für die menschlichen Gemeinschaften, besonders jedoch für das einzelne Individuum ausformuliert wurden. An die Stelle des prognostizierten autonomen Menschen, der sein Schicksal mit Hilfe der modernen Wissenschaften selbst in die Hand nimmt und der in einer überschaubaren, auf eine lichtere Zukunft hin sich entwickelnden Welt moralische Verantwortung für sein Tun und Lassen trägt und dafür mit der Realisierung seiner individuellen Neigungen belohnt wird, schiebt sich mehr und mehr – zuerst als Ahnung, dann als perhorreszierte negative Vision der Zukunft – ein Bild des Menschen, das diesen als Gefangenen einer kulturverneinenden »Maschinerie« begreift, die ihm den letzten Rest an freiem Willen und an Selbstbestimmtheit raubt. Damit gehen die bekannte »Entzauberung« der Welt und eine zunehmend als akut empfundene Sinnentleerung des Daseins einher. Bis zu welchem Grad auch immer diese Wahrnehmung vom »normalsterblichen« Menschen des 19. Jahrhunderts geteilt wurde – sie hat auf der Ebene des intellektuellen und des literarischen Diskurses zur Folge, dass die ältere Konzeption einer Ontologie des Individuums in Frage gestellt und von neuen Vorstellungen abgelöst wird. Während dieses ältere Individuum als wesentlicher, konstitutiver Bestandteil der Welt und der Wirklichkeit begriffen wurde – sei es in psychologischer, ethischer, ziviler, künstlerischer oder ökonomischer Hinsicht –, wird es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – oder, wie andere Autoren plausibel argumentieren, bereits im 1 | Thomas C. Heller, David E. Wellbery, 1986, Introduction, in: Tho-
mas C. Heller, Morton Sosna, David E. Wellbery, eds., Reconstructing Individualism. Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought, Stanford, California, 9.
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Einleitung | 11
ausgehenden 18. Jahrhundert2 – vor dem Hintergrund einer veränderten gesellschaftlichen Erfahrungslage neu gedacht. Vor dem Hintergrund einer deterministischen Weltsicht verliert der Einzelne seine kreativen, »weltschöpferischen« Entfaltungsspielräume, die sich erst hundert Jahre zuvor geöffnet hatten, und findet sich den Zwängen des modernen Gesellschaftssystems ausgesetzt. Diesen Zumutungen entwischt er nur, wie es scheint, indem er sich zunehmend nach innen, in sein Innenleben zurückzieht. Das nächste Jahrhundert steht für die westliche Kultur ganz im Zeichen des sich selbst entdeckenden und erforschenden Individuums, das über immer ausgefeiltere Methoden seiner inneren Selbstschau und über Zugang zu immer mehr Expertenwissen verfügt. Die »Gefahr«, die dem Gesellschaftszusammenhalt von diesem modernen Individuum angeblich droht, das zur »Selbst-Vergötterung« neigt und sich durch eine »Unfähigkeit«, gemeinschaftliche Bindungen einzugehen, auszeichnet, wurde oft auch von sozialwissenschaftlichen Beobachtern der Zustände diagnostiziert und beklagt. Heute scheint man soweit zu sein, dass man nicht nur die Negativseiten, sondern zunehmend auch die »Chancen« oder zumindest einige positive Aspekte der modernen Individualisierung zu erkennen glaubt. Wenn gemeinsam geteilte moralische Wertorientierungen, Ideen und Interessen als dem Einzelnen vorausliegendes Fundament der Gemeinschaftsbildung fehlen, so lässt sich – wie Ronald Hitzler feststellt – gerade im diesbezüglich »voraussetzungslosen« Handeln der individualisierten »Existenzbastler« eine solche gemeinsame Basis erzeugen.3 Die Chance für die Soziologie könnte dann darin bestehen, dass sich Gesellschaft so gleichsam zumindest annäherungsweise im Zustand sozialer Gärungsprozesse, und bevor sie zur ›objektivierten Faktizität‹ geworden ist, studieren lässt und dass so gesellschaftliche Konstitutionsprozesse nicht erst mühsam »hinter« und »unter« den aus ihnen resultierenden Objektivierungen herausziseliert werden müssen. Wo auch immer hier die Chancen und Grenzen für die Sozialwissenschaften liegen mögen – nicht weniger bedeutsam ist, dass diese 2 | So zum Beispiel Marianne Willems, 1999, Vom ›blossen Men-
schen‹ zum ›einzigartigen Menschen‹. Zur Entwicklung der Individualitätssemantik in Rationalismus, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, in: Herbert Willems, Alois Hahn, Hg., Identität und Moderne, Frankfurt am Main. 3 | Ronald Hitzler, 1999a, Individualisierung des Glaubens. Zur reli-
giösen Dimension der Bastelexistenz, in: Anne Honer, Ronald Kurt, Jo Reichertz, Hg., Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz, 364.
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12 | »New World Horizon« Wissenschaften bei ihrem Beobachten und Diagnostizieren einen Diskurs nachvollziehen, der sich historisch entwickelt hat und der sich für die europäischen Gesellschaften mindestens bis zur Reformation zurückverfolgen lässt. Dass die Wissenschaften selbst Produkt der Kultur sind, innerhalb derer sie praktiziert werden, und dass sie diese ihrerseits prägen, ist mittlerweile keine besonders originelle Einsicht mehr. Aufschlussreicher ist hingegen – vor allem mit Blick auf die vorliegende Untersuchung –, wie sich eine bestimmte europäische Modernisierungserfahrung zum sozialwissenschaftlichen Paradigma heranbilden konnte und in einem modernisierungstheoretischen »Siegeszug« auch auf die Analyse historisch anders liegender Fälle angewandt wurde und wird. Die wirkmächtige Vorstellung eines autonomen, sich selbst als aussergesellschaftlich definierenden Individuums, das, sobald es zum Gegenstand der Erörterung wird, als die »andere Seite« von Gemeinschaft und von Sozialität erscheint, selbst dann, wenn es gerade darum geht, dieses Individuum als ein im sozialen Prozess Konstituiertes zu fassen, zeigt, wie grundlegend und unhintergehbar4 diese Idee für das moderne, westliche ›Weltbild‹ geworden ist. Dabei kann man bereits seit Georg Simmel wissen, dass Individuum und Gesellschaft in einem gegenseitigen Steigerungsverhältnis zueinander stehen und nicht als Gegensätze zu begreifen sind.5 Die Grundpfeiler der traditionell-›westlichen‹ Konzeption des Individuums sind die Unterscheidungen von Allgemeinem und Besonderem einerseits sowie von Innen und Aussen andererseits. Die erste Unterscheidung ist alt. Sie hat bereits die antike Philosophie ausgiebig beschäftigt und wurde auch als Frage des Verhältnisses von Teil und Ganzem oder von Stoff und Form diskutiert. Die zweite Unterscheidung hat ihren Ursprung im weitesten Sinne im Christentum, insbesondere als Folge von Reformation und Protestantismus. Mit dem Aufkommen der christlichen Religion verschiebt sich die Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem und damit der Begriff des Individuums, der sich ursprünglich auf jedes geistig oder materiell unteilbare Objekt der Sinne oder des Denkens bezog6, in Rich-
4 | Vgl. Manfred Frank, 1986, Die Unhintergehbarkeit von Individuali-
tät. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlass seiner ›postmodernen‹ Toterklärung, Frankfurt am Main. 5 | Georg Simmel, 1992 (1908), Soziologie. Untersuchungen über die
Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main. 6 | Vgl. Lucien Sève, 1990, Individuum/Individualismus, in: Hans Jörg
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Einleitung | 13
tung auf den Menschen beziehungsweise auf die Person. Das unteilbare Einzelne – das ›in-dividuum‹ – ist nun in erster Linie ein Mensch, und dieser Mensch gewinnt sein Selbstverständnis in seiner Beziehung und in seinem Verhältnis zu Gott. Zu den grossen Themen, die nun aufgeworfen werden, gehören die unsterbliche Seele und das Innenleben des Gläubigen. Jeder Mensch wird zu einem besonderen Einzelwesen, welches gegenüber der übrigen Schöpfung in seiner Unvergleichlichkeit herausragt. Die Individualität des Menschen erhält als Folge der Reformation schliesslich schärfere Konturen, indem die »Auseinandersetzung« des einzelnen Glaubenden mit »seinem« Gott nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Von da war der Weg hin zu einem innerweltlichen, erfahrungszentrierten und von seinem Innenleben sowohl faszinierten wie erschreckten Subjekt, das den (vorläufigen) Höhepunkt seiner Selbststilisierung im ausgehenden 20. Jahrhundert erlebt, keineswegs geradlinig. So betonen Empirismus und Aufklärung das allgemeinmenschliche, nicht das besondere Subjekt und loten auf der Grundlage von Vernunft und Sinneserfahrung dessen Möglichkeiten der Welterkenntnis aus. Und eine andere Frage, die die Moderne begleitet, das Problem universeller Menschenrechte, setzt ebensowenig an der inneren Erfahrungsdimension und an der inkommunikablen Besonderheit des Subjekts an, sondern an der Idee der Gleichheit. Verfolgt man die grossen Entwicklungslinien zurück, so scheint ausser Zweifel zu stehen, dass im Zusammenspiel mit Prozessen der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft der Religion eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des modernen Verständnisses von Individualität zukommt. Das ergibt sich allein schon daraus, dass es sich bei der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz, die – für den westlichen Kulturraum – sowohl für kollektive wie für individuelle Identität konstitutiv ist, um eine Unterscheidung handelt, die dem Bereich der Religion entstammt und auch den meisten Definitionen des Religionsbegriffs zugrunde liegt. Während im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass die moderne Welt eine Welt des Immanenten ist, die sich mit dem Verlust ihres transzendenten Hintergrundes konfrontiert sieht, zeichnet sich diese moderne Welt auch durch ein permanentes Bemühen aus, sich die verlorenen Räume des Transzendenten zurückzuerobern. Dass die traditionellen religiösen Institutionen dieses Problem unter den BedinSandkühler, Hg., Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, Hamburg.
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14 | »New World Horizon« gungen der modernen Gesellschaft heute nicht mehr für sich monopolisieren können, ist seit längerem erkennbar. Das Problem der Transzendenz und damit die Vorstellung einer über die gegebene Welt hinausreichenden »weiteren Welt« begleitet die Moderne jedoch nach wie vor. Sie ist davon nicht weniger betroffen als die religiös eindeutiger »rückversicherte« Vormoderne. Es ist auch schwer vorstellbar, dass sich die historisch weit zurückreichende und philosophisch-weltanschaulich schwergewichtige Dichotomie von Transzendenz und Immanenz innerhalb von nur wenigen Jahrhunderten auflösen sollte. Im 20. Jahrhundert hat diese Unterscheidung – so lässt sich für die europäische Entwicklung mit gutem Grund argumentieren – im autonomen, selbstgenügsamen, sich selbst zum Gott machenden Individuum vielmehr eine Steigerung im Sinne einer neuen inhaltlichen Füllung erfahren. Dieses Individuum versucht, sich selbst zum unhintergehbaren Zentrum der Welt zu machen, indem es sich absolut setzt. Und es versucht entsprechend immer auch, sich selbst auf sich selbst hin zu überschreiten, um sich so innerweltlich für den Verlust der religiösen Transzendenz zu entschädigen. Das kann nur bedingt gut gehen, weil hier sogleich eine Paradoxie aufbricht, der sich nur mühsam und nur unter dem Einsatz vielfältiger Techniken der Identitätskonstruktion und der Identitätskonfirmierung begegnen lässt. Dieser Eindruck scheint sich zu bestätigen, wenn man das reichhaltige Angebot an und die entsprechende Nachfrage nach Methoden der »Selbstfindung« und der »Selbstverwirklichung« betrachtet, die heute verfügbar sind. Das Bemühen, das radikal innerweltliche, moderne Subjekt zu transzendieren, lässt sich jedoch auch in die Aussenwelt verfolgen, etwa dann, wenn der Alltag als letztlich einzig möglicher Lebensbereich des radikal innerweltlichen Individuums ästhetisch überhöht und so seiner Alltäglichkeit enthoben und auf das ›Religiöse‹ hin überschritten wird. Das Interesse der vorliegenden Untersuchung richtet sich vor diesem Hintergrund auf die Frage nach den spezifisch amerikanischen Formen von Individualität. Die amerikanische Gesellschaft wird im Allgemeinen mit denselben modernetheoretischen Sensoren abgetastet und gelesen, wie die übrigen westlichen Gesellschaften auch. Ein in der Regel im Vergleich mit den westeuropäischen Gesellschaften sogar als stärker wahrgenommener Individualismus wird dabei oft als Indiz dafür genommen, dass sich die »Unverträglichkeit« von Individuum und Gesellschaft in Amerika zu ihrem modernen Höhepunkt gesteigert hat. Dies scheint jedoch, was die Sozialwissenschaften betrifft, auch eine Folge davon zu sein, dass Unterscheidungen wie jene
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von ›innen‹ und ›aussen‹ – und damit die Vorstellung, dass subjektive innere Erfahrung kommunikativ für die Aussenwelt unzugänglich bleibt – oder auch jene von ›heilig‹ und ›profan‹ auf den amerikanischen Kontext übertragen wurden und werden, wo sie sich in dieser Polarität jedoch nicht in gleicher Weise plausibel machen lassen – dies zumindest legen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung nahe. Damit ist freilich nicht gesagt, dass diese Konzepte im Fall der amerikanischen Gesellschaft keinen Sinn machen würden. Die amerikanische Kultur hat aufgrund ihres besonderen historischen Werdeganges gerade auch an den religionsgeschichtlichen Entwicklungen Europas Anteil gehabt und ist von diesen – eine Binsenwahrheit – stark beeinflusst worden. Dennoch scheint sich besonders im Verhältnis von Transzendenz und Immanenz und im Umgang mit dem ›Heiligen‹ ein Unterschied gegenüber den europäischen Gesellschaften abzuzeichnen, dem im Folgenden nachgegangen werden soll. Als Konsequenz einer bemerkenswerten Verbindung von innerweltlicher Wirklichkeit und von deren im Transzendenten verankerter Letztbegründung wird das amerikanische Individuum – so lässt sich eine der gewonnenen Einsichten vorwegnehmen – nicht so sehr auf sich selbst zurückgeworfen, als vielmehr in der Welt, die in ihrer Diesseitigkeit immer auch Ausdruck des Transzendenten ist, aufgehoben. Das Individuum wird dabei in die Dynamik einer sich auch kollektiv entfaltenden Symbolik eingebunden, die einen Bruch zwischen Subjekt und Gesellschaft nicht wirklich entstehen lässt und die sich darüber hinaus in einem besonderen Zeitverständnis manifestiert. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht eine empirische Untersuchung, die in den Jahren 1998 bis 2000 im Raum Boston durchgeführt wurde. Auf der Grundlage zahlreicher aufgezeichneter Gespräche mit den Mitgliedern von drei unterschiedlichen religiösen Gruppen – Unitarier, Katholiken und Buddhisten – werden Aspekte der symbolischen Struktur von Individualität rekonstruiert. Diese Rekonstruktionsarbeit bildet den Kern der Studie. Dabei ist zu betonen, dass sich das empirische Material auf den amerikanischen Kontext beschränkt. Im Hinblick auf die empirische Anlage handelt es sich bei der vorliegenden Untersuchung nicht um ein kulturvergleichendes Vorgehen. Dennoch werden zur Einordnung des amerikanischen empirischen Materials vielfältige Bezüge zur ›europäischen‹ Individualisierungsdiskussion hergestellt. Die Kontextualisierung innerhalb der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Diskussion zur Individualisierung dient der Arbeit am empirischen Material
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16 | »New World Horizon« gleichsam als Reflektor. Der Eindruck einer gewissen »Beliebigkeit« der hergestellten Bezüge mag sich dabei einstellen. Dies ist ein durchaus tragbarer und sogar willkommener Nebeneffekt, denn er schärft einerseits den Blick für die schiere Uferlosigkeit der Individualisierungsdiskussion, welcher hier in keiner Weise mit dem Anspruch auf vollständige Darlegung ihres ganzen Facettenreichtums begegnet wird. Es ist nicht Ziel der Studie, in irgendeiner Form eine »Geschichte der Individualisierung« zu leisten. Von daher erklärt sich auch das weitgehende Fehlen der in dieser Untersuchung nur am Rande berücksichtigten sozialstrukturellen Rückbindungen der dargelegten ideengeschichtlichen Konzepte der Individualisierung. Auch die identifizierten »Epochenschwellen« und »Entwicklungsbrüche« dienen lediglich als Diskussionsaufhänger – im vollen Bewusstsein, dass über die Plausibilität der jeweiligen »Zäsuren« nach wie vor gestritten wird. Andererseits erfährt die Interpretation des empirischen Materials durch die ausgewählten Aspekte der Entwicklungslinien moderner Individualität einen orientierungsstiftenden »Halt«, der die Interpretation letztlich überhaupt erst möglich macht. Die Reichweite und die Grenzen des hier Geleisteten sind im Rahmen dieser Kontextualisierung zu sehen. Charles Taylor und Michel Foucault, auf welche sich die Darstellung der historischen Genese des Individuums dabei ausführlich bezieht (siehe Kap. 2.2), haben wichtige Aspekte der Individualisierung herausgearbeitet und den historischen Bogen gleichzeitig weit gespannt. Dass es sich hier jeweils nur um eine mögliche Lesart von Individualisierung handelt, versteht sich von selbst. Auch die darin enthaltenen normativen Schlussfolgerungen, so beispielsweise Charles Taylors mittlerweile bekannte Vorliebe für gemeinschafts- und einbindungsorientierte Konzepte von Individualität und sein Unbehagen an der modernen Fragmentierung des Individuums7, werden zur Kenntnis genommen, jedoch nicht weiter in zustimmendem oder ablehnendem Sinne diskutiert. Am Anfang der Untersuchung steht eine theoretische Einführung in den Begriff der Religion, so wie er im Rahmen dieser Arbeit auf der Grundlage einer phänomenologischen Theorie des Transzendierens und des Symbols verwendet wird (Kap. 1). In einem nächsten Schritt (Kap. 2) werden die theoretischen Grundlagen des Individualitätsbegriffs erörtert und im Rahmen eines überblicksartigen, relativ weit 7 | Siehe Charles Taylor, 1991, The Malaise of Modernity, Concord,
Ontario.
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ausholenden historischen Abrisses auf die Veränderungen des Religionsverständnisses rückbezogen. Damit werden wichtige Schritte der Genese des ›europäischen‹ Individuums rekapituliert – dies mit der Absicht, gleichsam im kulturell-historischen ›Kontrastverfahren‹ die Besonderheiten des amerikanischen Falles besser beleuchten zu können. Auf den empirischen Hauptteil (Kap. 4), dem Ausführungen zum methodischen Vorgehen vorangestellt sind (Kap. 3), folgt mit Blick auf wesentliche Aspekte der amerikanischen historischen Entwicklung der Versuch einer Synthese der Ergebnisse, die sich insbesondere entlang der Rekonstruktion eines spezifischen amerikanischen Zeitverständnisses entfaltet, an dem sich die typischen Elemente amerikanischer Individualität, so wie sie am empirischen Ausschnitt aus der Wirklichkeit rekonstruiert werden konnten, erkennen lassen (Kap. 5). Damit öffnet sich der Kontext schliesslich nochmals weit mit der Absicht, eine möglichst stabile »Brücke« zwischen Materialität und Theorie zu bauen.
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) vakat 018.p 133476303594
1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 19
1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung
Die Religion zielt auf ›das Ganze‹ der Welt. Es ist der umfassende Anspruch religiöser Wissenssysteme, dass sie sich auf alles und damit auf die letzten Dinge beziehen, die über die gegebene Welt hinausreichen und diese gerade deswegen konstituieren. Es gibt nichts, was vom Absolutheitsanspruch der Religion nicht erfasst würde. Religion zieht eine mehr oder weniger deutliche Linie in die Welt ein, an der ein Bereich des dem Menschen direkt Zugänglichen und Erfahrbaren – der Bereich des täglichen Lebens – von einem Bereich Gottes oder der Götter geschieden wird. Die Formen, die die historischen Religionen dafür gefunden haben, unterscheiden sich zum Teil beträchtlich im Ausmass einer konsequenten Trennung oder aber einer Fusionierung der beiden Bereiche. So oder so jedoch verliert der Kosmos durch die Religion seinen äussersten »Rand«: Jenseits von Gott oder vom göttlichen Prinzip ist nichts denkbar – auch ein möglicherweise dort aufscheinendes Nichts würde vom Göttlichen sogleich absorbiert. Einem solchen Religionsverständnis entspricht die von Emile Durkheim in die Religionssoziologie eingeführte Unterscheidung von ›heilig‹ und ›profan‹1, wobei sich das Heilige dadurch auszeichnet, dass es dem Profanen ein absolut Anderes ist und so mit diesem in radikaler Entgegensetzung eine einzigartige Unterscheidung bildet.2 Bei Durkheim allerdings verschiebt sich die Unter1 | Emile Durkheim, 1994 (1912), Die elementaren Formen des reli-
giösen Lebens, Frankfurt am Main, 62. 2 | »In der Geschichte des menschlichen Denkens gibt es kein Beispiel
zweier Kategorien von Dingen, die so tief verschieden und einander so radikal entgegengesetzt sind. Der traditionelle Gegensatz zwischen Gut und Böse ist
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20 | »New World Horizon« scheidung ins Diesseits, indem hier die Funktion der Religion an die gesellschaftliche Ordnung gebunden wird: Die zweiseitige Teilung, die das religiöse Phänomen ausmacht, bezieht sich bei ihm auf das bekannte und erkennbare Universum und bestimmt das Heilige als dasjenige, was Verbote schützen und isolieren, das Profane jedoch als das, »worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten müssen«3. Dass Durkheim im Zusammenhang mit dem Heiligen von heiligen »Dingen« spricht und nicht etwa vom »Heiligen« schlechthin, unterstreicht seinen innerweltlichen Ausgangspunkt und sein Interesse an der Integrationsfunktion der Religion, die in der modernen Gesellschaft von der ›Zivilreligion‹ in Form gesellschaftlich geteilter Normen übernommen wird. Die Gesellschaft wird selbst zum religiösen (Erfahrungs-)Gegenstand.4 Ei-
nichts dagegen; denn das Gute und das Böse sind zwei entgegengesetzte Gattungen einer und derselben Art, nämlich der Moral, so wie die Gesundheit und die Krankheit nur zwei verschiedene Seiten einer gleichen Ordnung sind, nämlich des Lebens, während das Heilige und das Profane von den Menschen immer getrennt gedacht wurde, wie zwei Welten, zwischen denen es nichts Gemeinsames gibt.« Durkheim (1994), 64. Diesseits von dieser formal grundlegenden radikalen Entgegensetzung bestimmen sich die Bereiche des Heiligen und des Profanen jeweils historisch entlang der ihnen in verschiedenen Religionen unterschiedlich zugeschriebenen Inhalte, ebd., 64ff. 3 | Durkheim (1994), 67. 4 | Zu Durkheims »Soziologisierung« des Verhältnisses von ›heilig‹
und ›profan‹ siehe auch Horst Firsching, Matthias Schlegel, 1998, Religiöse Innerlichkeit und Geselligkeit. Zum Verhältnis von Erfahrung, Kommunikabilität und Sozialität – unter besonderer Berücksichtigung des Religionsverständnisses Friedrich Schleiermachers, in: Hartmann Tyrell, Volkhard Krech, Hubert Knoblauch, Hg., Religion als Kommunikation, Würzburg, 61: »Die authentische Erfahrung der äusseren Macht der ›Gesellschaft‹, die als kollektive Erfahrung gleichzeitig individuelle Erfahrung des Kollektivs wie Selbsterfahrung des Kollektivs als Kollektiv ist, wird in der Theorie in letzter Konsequenz als asymbolisch konzipiert. Diese Erfahrung muss nun innerhalb der Äusserlichkeit der kollektiven Vorstellungen aufbewahrt werden; der Erfahrungsgegenstand bedarf folglich einer Symbolisierung, welche aber zwangsläufig inadäquat sei – zumindest bis die Soziologie sie ›entzaubert‹ und vielleicht ersetzt […].« Zur Nähe von religiöser und sozialer Form vgl. auch Georg Simmel, 1995 (1912), Die Religion, in: ders., Philosophie der Mode. Die Religion. Kant und Goethe. Schopenhauer und Nietzsche, Gesamtausgabe Band 10, Frankfurt am Main.
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ne in irgendeiner Form mitgedachte Existenz des ›Numinosen‹ (Otto) ist hier kein Thema. Dass Religion irgend etwas mit der Unterscheidung von ›heilig‹ und ›profan‹ zu tun haben soll, ist – darauf hat mit Nachdruck Joachim Matthes hingewiesen – eine »christozentrische Projektion par excellence«, die sich in den wissenschaftlichen Gebrauch des Religionsbegriffs »eingenistet« hat. Sie vollzieht ein der nachreformatorischen Weltsicht verpflichtetes Verständnis von einer diesseitigen, profanen Wirklichkeit einerseits sowie einem Heiligen andererseits, wobei Letzteres nicht real gegeben ist, sondern in symbolischer Repräsentation in Ersterer aufscheint.5 Auch die Differenz von Transzendenz und Immanenz, die mit jener von ›heilig‹ und ›profan‹ in enger Verbindung steht, sieht sich leicht dem Vorwurf kultureller Selbstbezogenheit ausgesetzt, vor allem dann, wenn sie unhinterfragt auf nicht-westliche Religionskontexte übertragen wird.6 Dennoch orientiert sich auch die vorliegende Untersuchung bei der Bestimmung des Religionsbegriffs an den zwei »Bereichen« des Transzendenten und des Immanenten, dies zumal, als es nicht um einen transkulturellen Religionsvergleich (Westen/Nicht-Westen) geht. Die Fragestellung bewegt sich vielmehr im eigenen erweiterten Kulturbereich – wenn die Ergebnisse auch zeigen werden, dass für den westli5 | Joachim Matthes, 1993, Was ist anders an anderen Religionen?
Anmerkungen zur zentristischen Organisation des religionssoziologischen Denkens, in: Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann, Hg., Religion und Kultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, Opladen, 22. Vgl. ähnlich kritisch Detlef Pollack, 1995, Was ist Religion? Probleme der Definition, in: ZfR 3, 169. Pollack weist auch darauf hin, dass die Abgrenzung eines ›heiligen‹ von einem ›profanen‹ Bereich oft praktisch nicht so eindeutig ausfällt, wie das von Religionswissenschaftern theoretisch gemeinhin suggeriert wird. 6 | Besonders brisant wird es, wenn – worauf u.a. Matthes (1993), 28f.,
hinweist – das westliche Religionsmodell und der westliche Religionsbegriff, für welchen sich im ausserwestlichen und im vorrömischen Kulturbereich kein entsprechendes Äquivalent finden lässt, in fremde Kulturen exportiert und dort zur Analyse religiöser Phänomene herangezogen werden. Vgl. dazu auch Friedrich H. Tenbruck, 1993, Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann, Hg., Religion und Kultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, Opladen, 55ff. Zur Kultur- und Sprachgebundenheit des Religionsbegriffs vgl. auch Art. ›Religion‹, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Hg., 1992, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt, 632f.
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22 | »New World Horizon« chen Kulturraum nicht minder ein Differenzierungsbedarf besteht, wenn es um das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz geht. Gerade an der (US-)amerikanischen Variante der westlichen Tradition lässt sich aufzeigen, wie problematisch eine strikt gedachte Polarität von ›heilig‹ und ›profan‹ und von ›Transzendenz‹ und ›Immanenz‹ ist. Setzt man zuerst einmal an vormodernen Kulturen an und geht im religionstheoretischen Denken von einem ›Heiligen‹ aus, stellt sich sogleich die Frage, worum es sich denn bei diesem überhaupt handeln soll. Für die meisten Religionen ist der heilige Raum ein wesentliches Element des religiös-mythischen Weltbildes. Dies lässt sich selbst da noch erkennen, wo, wie im Falle der Puritaner Neuenglands, die Kirche durch ein prosaisches ›meeting house‹ ersetzt wurde, um dadurch das Sakrale gleichsam auf die ganze Stadt als der Gemeinde der Auserwählten und damit auf den ganzen Lebenszusammenhang auszuweiten – und nicht, um die Bedeutung des heiligen Raumes säkularisierend zu relativieren: die »city upon a hill« wird schliesslich auch räumlich gleichbedeutend mit einem irdischen Paradies fern der Sündhaftigkeit der Alten Welt und stellt so die gewissermassen grösstmögliche Ausdehnung des Heiligen im Diesseits dar. Hier findet sich eine extreme Form dessen, was Mircea Eliade als ›heiligen Raum‹ (›sacred space‹) identifiziert hat: die Ausgrenzung eines besonderen Territoriums vom Rest der Welt, das so zu einem qualitativ ›anderen‹ Raum wird. Im Zuge der Weihung eines solchen Territoriums entsteht aus dem Chaos ein göttlicher Kosmos. Der göttliche Kosmos wird im Diesseits »wiederholt« und die Welt so erst eigentlich begründet und geordnet.7 Die Religion bestimmt sich jedoch nicht allein durch eine besondere Symbolik des Raumes, sondern auch durch ein besonderes Verhältnis zur Zeit.8 Dieses gestaltet sich je nach religiöser Tradition verschieden, immer jedoch mit der Absicht, die Rigidität der irdischen Zeit mit ihrer Unerbittlichkeit des Irreversiblen und des Vergänglichen zu durchbrechen. Das gelingt mithilfe der Vorstellung einer – sieht man von der christlich-jüdischen Religionstradition mit 7 | Mircea Eliade, 1987, The Sacred and the Profane. The Nature of Re-
ligion, San Diego, 26ff. 8 | Eliade (1987), 68ff. Vgl. z.B. auch zum besonderen Zeitverständnis
Altägyptens Jan Assmann, 1992, Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken, in: Heinz Gumin, Heinrich Meier, Hg., Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Band 2: Die Zeit. Dauer und Augenblick, München, Zürich.
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ihrem linearisierteren Zeitbegriff ab – unendlichen »Wiederkehr des Gleichen« und einer ewigen Präsenz der mythischen Kraft und des Göttlichen. Beide Konzepte, das eines heiligen Raumes und das einer heiligen Zeit, legen ein Religionsverständnis nahe, das an »radikale« Transzendenz gebunden ist. Das Heilige ist das ganz Andere, das unbegrenzt Mächtige, das Unheimliche, das Geheime und Geheimnisvolle, das Nicht-Irdische und Nicht-Menschliche, wenn es auch in dieser oder jener Form innerhalb der Welt aufscheint und hier im Irdischen »Hinweise« auf sich selbst erzeugt.9 Mit dem Übergang der mittelalterlichen in die frühmodernen europäischen Gesellschaften entlang der bekannten sozialstrukturellen und kulturellen Ausdifferenzierungsprozesse verändern sich auch die gesellschaftlichen Bedingungen der Religion. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass der im europäischen Mittelalter begründete umfassende Welterklärungsanspruch des Christentums zwar einen beträchtlichen Stoss in seinen inhaltlichen Grundfesten erfahren hat, so dass er zunehmend in Reih und Glied konkurrierender weltanschaulicher Konzepte hat zurücktreten müssen. Gleichzeitig hat die Moderne der Religion und der kollektiven wie individuellen religiösen Erfahrung keineswegs den Boden unter den Füssen weggezogen 9 | Vgl. Rudolf Otto, 1991, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee
des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München. Otto unterscheidet begrifflich zwischen ›Numinosem‹ und ›Heiligem‹. Während das ›Heilige‹ sowohl aus rationalen wie auch aus irrationalen Bestandteilen zusammengesetzt ist, bezieht sich das ›Numinose‹ auf das Irrationale allein, indem hier von den Momenten des Sittlichen und des Rationalen abgesehen wird: »Da unser Sprachgefühl heute zweifellos immer das Sittliche unter Heilig einbezieht so wird es dienlich sein bei Aufsuchung jenes eigentümlichen Sonder-bestandteiles, wenigstens für den vorübergehenden Gebrauch unserer Untersuchung selbst, einen besonderen Namen dafür zu erfinden der dann bezeichnen soll das Heilige minus seines sittlichen Momentes und, wie wir nun gleich hinzufügen, minus seines rationalen Momentes überhaupt.« A.a.O., 6. Entsprechend ist das Numinose auch nicht »lehrbar«, sondern nur »anregbar« und »erweckbar«. Es setzt sich aus dem Element des »Schauervollen« genauso wie aus jenem des anziehenden Faszinosums und des Wundervollen zusammen, a.a.O., 43ff. Hier schliesst auch Peter L. Bergers an Schleiermacher und Otto orientierte Religionssoziologie an, wenn er in der Domestizierung der religiösen Erfahrung »eine der fundamentalsten sozialen wie auch psychologischen Funktionen religiöser Institutionen« sieht, siehe Peter L. Berger, 1980, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt am Main, 63.
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24 | »New World Horizon« – dass viel eher das Gegenteil zutrifft, lässt schon ein Blick auf die rege religionsphilosophische Tätigkeit an der Wende zum 19. Jahrhundert (Schleiermacher und andere) erkennen. Ebenso aufschlussreich ist in soziologischer Perspektive, dass insbesondere auch »unterhalb« der intellektuellen Eliten das religiöse Interesse mit der Moderne in Europa nicht verblasst ist. Kirchen- und konfessionssoziologische Zugänge zum Phänomen der Religion in der modernen Gesellschaft haben eher in die falsche Richtung (vgl. die »Säkularisierungsthese«) geführt und eine vielschichtigere Sicht des Problems verbaut, wie bereits vor längerer Zeit festgestellt wurde.10 Nicht erst wieder seit der – unter anderem – religiösen Experimentierphase der sechziger Jahre, sondern seit den Anfängen des Zeitraums, den wir als Moderne und – darüber hinaus – als Neuzeit bezeichnen, bleibt Religion ein zentrales lebensweltliches Thema für viele Menschen. Entsprechend hat die jüngere religionshistorische Forschung das zählebige Paradigma eines kontinuierlich voranschreitenden Säkularisierungsprozesses aufgegeben zugunsten eines Modells, das Phasen der Sakralisierung und Resakralisierung beziehungsweise der Rechristianisierung von solchen der Säkularisierung unterscheidet.11 Dennoch bleibt es trotz der weit zurückreichenden und bis heute kulturwirksamen Kontinuitäten im geschichtlichen Prozess wichtig, den historisch-soziologischen Blick auch weiterhin auf die Diskontinuitäten und Zäsuren fokussiert zu halten. So sind zwar die moderne Naturwissenschaft und das ihr entsprechende Weltbild historisch nicht zu denken, ohne dass man deren religiöse Wurzeln aufdeckt. Wohl kaum irgendwo wird das Herauswachsen der modernen Wissenschaft aus dem christlichen Mittelalter so deutlich wie im europäi-
10 | Siehe Thomas Luckmann, 1960, Neuere Schriften zur Religionsso-
ziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 315-326. 11 | Jüngere, aus einem entsprechenden interdisziplinären Forschungs-
schwerpunkt des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen hervorgegangene Fragestellungen und Forschungsergebnisse sind in einem von Hartmut Lehmann herausgegebenen Sammelband zusammengestellt, siehe Hartmut Lehman, Hg., 1997, Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen. Siehe auch Hartmut Lehmann, 1994, Aktueller Forschungsschwerpunkt: Dechristianisierung, Säkularisierung und Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, in: Max-Planck-Gesellschaft Jahrbuch 1994, hg. von der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft München, Göttingen, 592-597.
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schen 17. Jahrhundert.12 Die Folgen, die dieser Umbruch dann jedoch vor allem für die späteren Phasen der Moderne in ihrem Selbstverständnis zeitigt, sind unübersehbar und tief. Sie betreffen vor allem die Pluralisierung weltanschaulicher Konzepte – nicht einfach nur die »Säkularisierung« christlicher Glaubensüberzeugungen.13 Ein neues Wissenschaftsverständnis ist dafür ebenso verantwortlich wie die – damit in Zusammenhang stehende – geographische und kulturelle Entdeckung der aussereuropäischen Welt – gleichsam die »Globalisierung« der frühen Neuzeit, oder besser: der Versuch einer »Europäisierung« bislang unbekannter Weltregionen. Ein sozialstruktureller Ausdifferenzierungsprozess, der auch innerhalb der europäischen Gesellschaften zu Veränderungen führt, indem er mehr oder weniger voneinander unabhängige, zunehmend nach eigenen Gesetzen und Regeln funktionierende ›Teilsysteme‹ hervorbringt, löst den religiösen Zusammenhang auf: auch die Religion wird zu einem gesellschaftlichen Subsystem. Sie wird – so Alois Hahn – zunehmend zu einem ausdifferenzierten Funktionsbereich und lässt sich nicht mehr als eine alle Lebensbereiche umfassende Zugehörigkeit verstehen. Aus der konfessionellen Identität wird eine Funktionsidentität. Die strukturelle Ausklammerung der Religion geht dabei intellektuell formuliertem Zweifel voraus und macht diesen erst »sozial kursfähig«: »Nicht der kognitive Konkurs führt zur Begrenzung der Anschlussfähigkeit der Religion, sondern ihre Untauglichkeit zur sozialen Integration der Gesamtgesellschaft führt zu ihrer Verwandlung in einen funktional ausgliederbaren Aspekt der Daseinsführung.«14 Die Gründe dafür sieht Hahn im Scheitern einer Einigung über konfessionelle Divergenzen und im Nichtgelingen einer gewaltsam versuchten Schaffung eines »Konsenses«. Die Religion wird durch diese Prozesse von ihrer zentralen Rolle als Identifikationsinstanz durch den Staat beziehungsweise durch die Nation abgelöst.15 Ohne also die Kontinuitäten zu unterschätzen, die sich über die historisch-kulturelle Zäsur, wie sie das Aufkommen der modernen Welt mit ihren weitreichenden Folgen darstellt, hinweg erstrecken, 12 | Vgl. Donald H. Pennington, 1989, Europe in the Seventeenth Cen-
tury, London, New York. 13 | So argumentiert auch Peter Berger, der jedoch an der Säkularisie-
rungsthese für den europäischen »Sonderfall« festhält, siehe Peter L. Berger, 1993, A Far Glory. The Quest for Faith in an Age of Credulity, New York, 31f. 14 | Alois Hahn, 1997, Religion, Säkularisierung und Kultur, in: Leh-
mann (1997), 21. 15 | Hahn (1997), 21.
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26 | »New World Horizon« gilt es dennoch auch das Neue als solches zu erkennen und zu kennzeichnen, besonders da, wo sich das Neue der Moderne auch an den Formen der Religion festmachen lässt. Die Letztabgeschlossenheit des Denkens und Handelns im religiösen Weltbild des Mittelalters bedeutete Aufgehobensein des Menschen als Teil – dem eigentlichen Kernstück – im Plan Gottes. Letzte Sinnfragen fanden damit ihren Abschluss, und insbesondere die Frage nach dem Tod wurde dadurch beantwortet. Mit Bernhard Groethuysen16 betonen heute auch manche Religionssoziologen die wesentlichen Differenzen, die zwischen einem mittelalterlichen und einem neuzeitlichen wie auch zwischen einem europäisch-christlichen und einem aussereuropäischen Religionsverständnis bestehen.17 In der allgemeinen Frömmigkeit des Mittelalters lässt sich der Glaube nicht vom Leben separieren. Groethuysen hat diesen mittelalterlichen Glauben als »schlichten Glauben« bezeichnet, der nicht auf abstrakte Wahrheit und auf Dogmen abzielt, sondern Welt und Religion in einem umfassenden »way of life« (Groethuysen) zusammenschliesst. Der Glaube ist gleichsam etwas »Natürliches«, das nicht im Konkurrenzkampf mit der Welt liegt, sondern sich in dieser Welt als Teil dieser Welt ausdrückt. Dem einzelnen Menschen wird weder ein Glaubensentschluss noch eine Entscheidung für ein bestimmtes Bekenntnis abverlangt. Dies ändert sich mit der Reformation und den durch sie ausgelösten Turbulenzen, welche nun auch die Grundfesten des mittelalterlichen Weltbildes ins Wanken bringen. Die Autorität der Kirche und der Absolutheitsanspruch der Religion erfahren eine Neuformulierung erst, als die Redimensionierung der Religion zu einem gesellschaftlichen Subsystem anfängt, diesen Anspruch in seiner ursprünglichen Form zu hinterfragen und zu brechen. Erst vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann sich die Vorstellung herausbilden, dass Religion und Leben zweierlei Dinge sind, oder – wie Joachim Matthes sich ausdrückt – dass sich Religion als etwas vom übrigen Leben »Apar-
16 | Bernhard Groethuysen, 1927, Die Entstehung der bürgerlichen
Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Bd. 1, Halle/Saale. 17 | Unter Bezug auf Groethuysen (1927) siehe Hahn (1997) sowie Alois
Hahn, 1987a, Religion und Welt in der französischen Gegenreformation, in: Dirk Baecker et al., Hg., Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main. Vgl. auch Matthes (1993) sowie Tenbruck (1993).
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tes« begreifen lässt.18 Die darauf aufbauenden neuzeitlich-europäischen Konzepte der Religion etwa bei Emile Durkheim, der – wie bereits erwähnt – auf der Differenz von Sakralem und Profanem aufbaut oder bei Niklas Luhmann, der seinem Religionsbegriff die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz zugrunde legt19, verfehlen gemäss Matthes aufgrund dieses Ethnozentrismus sowohl das Religionsverständnis der europäischen Vormoderne wie auch jenes der aussereuropäischen Gesellschaften. Vor dem Hintergrund dieser im Folgenden am empirischen Material zu reflektierenden konzeptuellen Grenzen wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung dennoch von einem Religionsbegriff ausgegangen, dem die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz zugrunde liegt. Die theoretische Herleitung eines an der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz orientierten Religionsbegriffs ergibt sich durch das von Edmund Husserl entwickelte Konzept der Appräsentation.20 Es ermöglicht grundsätzliche Einsichten in das Phänomen des Transzendierens, welches sich nicht nur für Religion, sondern darüber hinaus für Gesellschaft im Allgemeinen als konstitutiv verstehen lässt. Bevor der Begriff der Transzendenz genauer gefasst werden kann, müssen wir uns mit dem diesen fundierenden Vorgang des Transzendierens beschäftigen. ›Transzendieren‹ meint zuerst einmal nichts weiter als ein »Überschreiten«, ein »Über-etwasHinausgehen«. Im Transzendieren ist ein »Ausgangspunkt« oder ein Standpunkt gegeben, über welchen mittels ›Appräsentation‹ hinaus18 | Matthes (1993), 23: »Da ist, zum Beispiel, die Konnotation von der
›Religion‹ als etwas ›Apartem‹, als ein Etwas, das sich als eine eigene und eigenartige Gefühls-, Denk- und Handlungswelt darstellt, apart von dem, was man sonst noch alles fühlt, denkt und tut. Diese Konnotation stellt eine gleichsam ›säkularisierte‹ Version der asymmetrischen und in sich doppeldeutigen kulturellen Unterscheidung von ›heilig‹ und ›profan‹ dar. Dem westlichen Christenmenschen ist spätestens seit der allmählichen Auflösung der nachreformatorischen sozialen Formen der Frömmigkeit mehr und mehr geläufig geworden, sein ›religiöses‹ Leben – und überhaupt die Existenz von ›Religion‹ – als eine eigene, gesonderte Sphäre zu erfahren und zu betrachten.« 19 | Niklas Luhmann, 1993a, Die Ausdifferenzierung der Religion, in:
ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main, v.a. 313ff. 20 | Edmund Husserl, 1995, Cartesianische Meditationen. Eine Einlei-
tung in die Phänomenologie, Hamburg.
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28 | »New World Horizon« gegangen wird. Appräsentation meint das ›Mitvergegenwärtigen‹ des nicht Gegebenen beziehungsweise des nicht direkt Erfahrbaren. Bewusstseinsphänomenologisch bedeutet Appräsentation oder der Prozess der ›passiven Synthese‹ das Zusammenbringen von Präsentem und Nicht-Präsentem (die »Rückseite« des Phänomens) durch primordiales Schliessen. Darin erklärt sich der Gebrauch von Zeichen und Symbolen als konstitutiv für menschliche Existenz, insofern diese immer in irgendeiner Weise über sich »hinausreicht«, das heisst, auf ein Anderes hin transzendiert werden kann, welches als über den einzelnen Handelnden hinaus als weiter und grösser erfahren wird. Auf dieses Andere verweisen Zeichen und Symbole. Transzendieren und die Zeichenhaftigkeit der Welt sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Zeichen erhalten ihren Sinn in einer Welt, in der Handelnde die Erfahrung von Grenzen und von – je nach Situation – möglicher wie auch unmöglicher Grenzüberschreitung machen. Es ist der Verweischarakter der Zeichen, ihr Hinweisen auf das jeweils Andere, das sie zu einem wesentlichen Mittel der kommunikativen Bewältigung von Erfahrung als Grenzerfahrung macht. Wir leben in einer Welt voller Zeichen, die menschliches Handeln und Verhalten interpretierbar machen. Der menschliche Interpretationshorizont formiert sich dadurch, dass Handelnde sich selbst und ihrer Umwelt Zeichenqualitäten zuordnen und immer dazu gezwungen sind, alles Wahrnehmen, Verhalten und Handeln zu deuten.21 Zeichen – die sich sowohl auf sprachliches wie auf nichtsprachliches Handeln und Verhalten beziehen – bilden einen grundlegenden Bestandteil unseres lebensweltlichen Wissens. Als Menschen werden wir – so Hans-Georg Soeffner – »in eine von anderen Menschen bereits weitgehend ausgedeutete Welt hineingeboren«22, in der wir den Umgang mit Zeichen in der Interaktion mit anderen lernen. Damit erschliesst sich uns der Sinn der Welt in ihrer Zeichenhaftigkeit. Die einzelnen Zeichen sind dabei Teil eines übergeordneten Zusammenhangs beziehungsweise eines Zeichensystems, dem Systematik jedoch nicht per se, sondern nur als Resultat unserer Sinngebung zukommt: »[…] die von uns konstruierten Zeichen-, Symbolund Verweisungssysteme repräsentieren die Strukturen unserer Sinnorientierung. Ihre Systematik ist unser Produkt. In ihr bestätigen wir unsere 21 | Hans-Georg Soeffner, 1991, Zur Soziologie des Symbols und des
Rituals, in: Jürgen Oelkers, Klaus Wegenast, Hg., Das Symbol – Brücke des Verstehens, Stuttgart, 65. 22 | Soeffner (1991), 66.
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eigenen Hypothesen über die Strukturiertheit der Welt, über eine Strukturiertheit, die sich ihre Ordnung aus den Strukturen unserer Wahrnehmung und Zeichenverwendung entleiht.«23 Zeichen verweisen auf das jeweils andere, nicht unmittelbar Gegebene. Sie repräsentieren etwas, welches nicht unmittelbar sichtbar ist und verweisen uns als »Erinnerungsmarken« (Soeffner) auf das von ihnen Repräsentierte und ›appräsentieren‹ es damit. Mit dem von Husserl so genannten Prinzip der Appräsentation ist der fundamentale Wahrnehmungsvorgang der ›Mitvergegenwärtigung‹ gemeint, in dem jedem erfahrenden Bewusstsein über die unmittelbare Erscheinung hinaus ein Nicht-Sichtbares, jedoch zur Erscheinung Gehörendes appräsentiert, wieder herbeigeschafft, beziehungsweise mitvergegenwärtigt wird. Der Vorgang der Appräsentation verläuft in passiver Synthesis des Bewusstseins und meint ein primordiales Schliessen von einem Präsenten auf ein Nicht-Präsentes.24 Damit erschliesst sich gleichsam eine Welt »hinter« der Welt, die auf die sichtbare Welt zurückverweist. Zeichen und Symbole schaffen »Zugang« zu dieser »Welt dahinter«. Sie tun dies selten in geradliniger Weise, und in manchen Fällen bleibt die unsichtbare Welt jedem Versuch des Eintritts zuletzt verschlossen. Daran lässt sich – weiter unten – der Begriff – oder besser: ein Begriff – der Religion anschliessen. Soeffner fasst die Appräsentation als dreistellige Beziehung und legt sie einer Theorie der Intersubjektivität zugrunde.25 Die Appräsen23 | Soeffner (1991), 66. 24 | Soeffner (1991), 68. 25 | Soeffner (1991) stützt sich unter anderem auf die entsprechenden
grundlegenden Arbeiten von Edmund Husserl und vor allem von Alfred Schütz und Thomas Luckmann, wobei er deren jeweilige Konzeptionen weiterentwickelt, siehe Jochen Dreher, 1997, Die Entwicklung des Symbolbegriffs im Werk von Alfred Schütz. »Die Überwindung der Transzendenzen der Lebenswelt durch Zeichen und Symbole«, Magisterarbeit, Universität Konstanz, 120ff. Bei den Arbeiten der genannten Autoren handelt es sich um Edmund Husserl, 1950, Husserliana – E.H., Gesammelte Werke Bd. I, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hg. Stephan Strasser, Den Haag; Edmund Husserl, 1958, Husserliana, Bd. II, Die Idee der Phänomenologie, Fünf Vorlesungen, hg. und eingeleitet von Walter Biemel, Den Haag; Alfred Schütz, 1932 (1974), Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt am Main; Alfred Schütz, Thomas Luckmann, 1979 und 1984, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Frankfurt am Main.
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30 | »New World Horizon« tation ist die Beziehung zwischen einem appräsentierenden Element, dem appräsentierten Element und dem erfahrenden Bewusstsein. Appräsentation ist demnach die »primäre, Intersubjektivität stiftende Erfahrung«: ein sich selbst unmittelbar, ›primordial‹ gegebenes Ich erfährt ein anderes koexistierendes Ich (ein ›Alter‹), zu dem kein unmittelbarer Zugang besteht, als ›Mit-da‹ und als Mitmenschen. Sozialität konstituiert sich entsprechend auf der Grundlage von Appräsentation als der Anschauungsform transzendentaler Intersubjektivität: »Die menschliche Gesellschaft ist im wesentlichen eine Beobachtungs-, Darstellungs- und Interpretationsgesellschaft von einander appräsentierenden Subjekten, die in einer ›Monadengemeinschaft‹ miteinander leben.«26 Die Mittel, mit denen in der Beobachtungs-, Darstellungs- und Interpretationsgesellschaft operiert wird, sind Zeichen beziehungsweise Symbole, welche einen Spezialfall von Zeichen darstellen. Zur Differenzierung verschiedener Ebenen der Zeichenverwendung beziehungsweise der unterschiedlichen Verweisungszusammenhänge von Zeichen schlägt Soeffner ein »Drei-Sphären-Modell« vor, das an das Konzept der Transzendenzen bei Alfred Schütz und Thomas Luckmann anschliesst und auf drei konzentrisch auseinander hervorgehenden Sphären gesellschaftlichen Handelns und Wissens aufbaut. In den Strukturen der Lebenswelt unterscheiden Schütz und Luckmann drei Ebenen von Transzendenz: sogenannt »kleine«, »mittlere« und »grosse« Transzendenzen.27 Auf der Ebene der »kleinen« Transzendenzen haben wir es mit der Grunderfahrung von Raum und Zeit zu tun, insofern es sich dabei um unmittelbar überschreitbare Grenzen handelt. Man kann, zum Beispiel, jetzt gerade an einem bestimmten Ort sein und diesen soeben auf einen anderen hin »überschreiten«, indem man sich in Raum und Zeit repositioniert. Die Grenzen, die durch die »mittleren« Transzendenzen gegeben sind, sind nicht konkret und unmittelbar überschreitbar, sondern nur mittelbar bewältigbar. Auf dieser Ebene haben wir es mit der Welt der anderen zu tun, also mit unseresgleichen. Dabei kann es sich um aktuell, face-to-face Anwesende handeln oder aber um nicht anwesende Zeitgenossen sowie auch um nicht mehr anwesende Vorfahren.28 Ohne die Grenze zum anderen überschreiten zu können, sind wir in der Lage, von unseren eigenen Erfahrungen her auf diejenigen 26 | Soeffner (1991), 68. 27 | Alfred Schütz, Thomas Luckmann, 1994, Strukturen der Lebens-
welt, Bd. 2, 139ff. 28 | Vgl. dazu Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 151ff.
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 31
des anderen zu schliessen und unser Handeln entsprechend zu gestalten. Dabei orientieren wir uns am »Aussen« und leiten daraus gewissermassen die »innere« Erfahrung des anderen ab: »Das ›Aussen‹ des anderen verkörpert ein »Innen«, das als solches nicht unmittelbar erfahren werden kann. Aber es verkörpert es so vertraut, dass wir meinen können, das Innen sei unmittelbar im Äusseren erlebbar.«29 Wir meinen es, und wir handeln entsprechend. Dabei sind jedoch die Welt in meiner Reichweite und die Welt in der Reichweite des anderen nie identisch, da sich die gemachten lebensweltlichen Erfahrungen aufgrund der unterschiedlichen und je einzigartigen Lebenssituationen nie ganz decken. In der Welt der Mitmenschen, in der Welt der gegenwärtigen anderen als der anderen »in meiner Reichweite« also, in welcher der andere in seiner Körperlichkeit unmittelbar gegeben ist, verweist die Erfahrung über die Wahrnehmung einer typischen Gestalt des Körpers hinaus. Sie erschöpft sich nicht in dieser Wahrnehmung: »Der Körper, den ich wahrnehme, verweist auf etwas, das ich nicht wahrnehmen kann, von dem ich aber »weiss«, dass es mit-gegenwärtig ist: ein Innen. In dem Wahrnehmungskern der Erfahrung ist mir der Andere von aussen gegeben, aber eben nicht als ein blosses Aussen; in der vollen Erfahrung ist mir sein Innen mit-gegeben. Das andere, dessen Körper ich wahrnehme, ist in der Erfahrung von vornherein meinesgleichen.«30 Wie Schütz und Luckmann in den Strukturen der Lebenswelt selbst bemerken, haben wir es hier mit einem merkwürdigen »Wissen« zu tun.31 Die Wahrnehmung des Körpers beschränkt sich nie nur auf diesen selbst, man »weiss« immer – und das anleitende Modell ist hier die Appräsentation –, dass zum Aussen ein Innen »dahinter« gehört. Bei diesem »Zusprechen« eines Innen zu einem Aussen findet eine »Sinnübertragung von mir auf anderes« statt. Wie Schütz und Luckmann festhalten, ist es insbesondere bei der »Sinnübertragung« auf Gegenstände fraglich und etwas willkürlich, in welchen Fällen man einen Sinn der Art »meinesgleichen« oder »fast meinesgleichen« zuschreibt und wann man von »nur in wenigen Punkten vielleicht meinesgleichen« oder »ganz und gar nicht meinesgleichen« spricht. Hier verweisen die Autoren auf die in historischen Lebenswelten von gesellschaftlich objektivierten, übergeordneten Deutungs-
29 | Thomas Luckmann, 1991, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am
Main, 168f. 30 | Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 153. 31 | Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 153.
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32 | »New World Horizon« systemen abgeleiteten Wissenselemente, die die konkreten Ausprägungen der Typisierungen mitbestimmen.32 Die »grossen« Transzendenzen schliesslich stellen grundsätzlich unüberschreitbare Grenzen zu anderen Wirklichkeiten dar. Es sind diese Grenzen, die durch die »grossen« Transzendenzen markiert werden, auf die – wie weiter unten gezeigt werden soll – Religion zielt und woher sich ihre Funktion erklären lässt. »Mittlere« Transzendenzen und die durch sie markierten Grenzen sind ebenso wie »kleine« Transzendenzen im Unterschied zu den »grossen« Transzendenzen im Bereich des Alltags angesiedelt: »Hingegen kann er [der Mensch, C.M.] im Unterschied zu den ›grossen‹ Transzendenzen über diese Grenze nicht nur hinüberblicken, sondern auch die dahinterliegende Landschaft in deutlichen Umrissen erkennen. Sie gleicht in ihren Hauptzügen der ihm vertrauten, heimatlichen.«33 Soeffner schliesst nun mit seinem Drei-Sphären-Modell an den »mittleren« Transzendenzen des Sozialen an.34 Er unterscheidet drei Ebenen der Bewältigung mittlerer Transzendenzen des Sozialen, die jeweils mit einem bestimmten Zeichengebrauch verbunden sind. Dabei interessiert ihn vor allem der Zusammenhang von Wahrnehmung und Erfahrung einerseits sowie der damit einhergehenden, die Ordnung des Sozialen fundierenden Zeichenkonstitution andererseits: »Wie aber lässt sich der Zusammenhang von Wahrnehmung bzw. Erfahrung und Zeichenkonstitution, von Zeichenwahrnehmung und Zeichengebrauch, von zeichenhaft und symbolisch vermittelten Interaktions- als Lernprozessen und relativ festgefügten, situationsübergreifenden Wissensbeständen und Handlungsmustern beschreiben? Wie wird dieser Zusammenhang konstituiert? Wie lernen
32 | Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 154. 33 | Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 152. 34 | Hubert Knoblauch weist darauf hin, dass diese Konzeption jener
von Schütz entspricht, da bei Letzterer Symbole nicht nur Erfahrungstranszendenz bewältigen, sondern auch auf die Transzendenz der Gesellschaft verweisen, ebenso wie Anzeichen und Markierungen in Interaktionen über die situative Handlungskoordination hinaus auch als Träger von sozialen Typen dienen: »soziale Position, Status, Rolle und Prestige lassen erkennen, welche Markierungen und Anzeichen und andere Hinweise auf den sozialen Status einer Gruppe sozial approbiert sind.« Siehe Hubert Knoblauch, 1995, Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte, Berlin, New York, 82.
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 33
wir, mit der ›Welt‹ der Zeichen und der Zeichengebundenheit der Interaktion umzugehen?«35 Die drei Ebenen, auf denen wir uns bewegen und das Soziale dadurch mitkonstituieren, sind erstens die Welt in unmittelbarer Sichtund Reichweite, die Wir-Welt, Mitwelt und Wirkwelt, die in der faceto-face-Beziehung gründet; zweitens die Welt in ›potentieller Reichweite‹, die Welt des vermittelten, institutionell bestimmten Handelns und Wissens; und drittens die Welt des symbolisch ausgeformten Wissens, der Kosmien und Weltbilder. Jede der drei Sphären konstituiert, so Soeffner, einen spezifischen appräsentativen Verweisungszusammenhang.36 Die drei Sphären stehen jedoch keineswegs einfach nebeneinander, so dass wir uns gleichsam nur auf jeweils einer Ebene bewegen würden und von Ebene zu Ebene »springen« könnten. Sie existieren für die Handelnden gleichzeitig37 und auch dort, wo die Wissensbestände wie in der dritten Sphäre über die vis-à-vis-Interaktion hinausreichen, wirken sie auf diese ein. Während also mit jeder der mit den drei Sphären verbundenen Handlungs- und Wissensebenen die jeweils anderen beiden verwoben sind, eröffnet sich mit dem Überschreiten der Sektorengrenzen ein jeweils anderer Auslegungs- und Sinnhorizont, was sich in der Verwendung besonderer Zeichenarten ausdrückt. Die Gesellschaft stellt somit eine Wirklichkeit dar, die sich als Deutungszusammenhang fassen lässt. Dieser Deutungszusammenhang entsteht, reproduziert und variiert sich im sozialen Handeln. Soziales Handeln findet unter Verwendung von Zeichen statt. Die Welt ist uns in ihrer Zeichenhaftigkeit gegeben, und deswegen erscheint sie uns als ein sinnhafter Ordnungszusammenhang, in dem durch Deuten und Interpretieren mithilfe von Zeichen und Symbolen Handeln möglich ist. Historisch-kulturell gewachsene Zeichensysteme erlauben so, die Mehrdeutigkeit und Komplexität der Welt zu bewältigen. Die Zeichen, so Soeffner, suggerieren »eine Ordnung, weil sie ihre Legitimation und ›Existenz‹ als Einzelzeichen aus einem übergeordneten Zusammenhang ableiten: Sie suggerieren – trotz, aber auch wegen ihrer prinzipiellen Mehrdeutigkeit – die Existenz von Zeichensystemen, weil sie in Verkettungen auftreten und aufeinander verweisen. Zugleich bleiben sie selbst den Beweis ihrer Systematik schuldig – auch wenn wir uns aus praktischen Zwängen (Verständigung, Kooperation, Konsensunterstellung etc.) oder artifiziell35 | Soeffner (1991), 66. 36 | Soeffner (1991), 69. 37 | Soeffner (1991), 67.
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34 | »New World Horizon« theoretischer Verführbarkeit (Harmonie-, Erklärungs- und Gestaltschliessungsbedürfnis) als Systemkonstrukteure betätigen.«38 Soeffner geht von drei Bedeutungshorizonten aus, die sich als Verweisungszusammenhänge in Interaktionen finden. Die Sphäre der unmittelbaren Wir-Welt strukturiert sich über Anzeichen, Merkzeichen und Symptome, die unmittelbar erschlossen und gedeutet werden.39 Soeffner bezieht sich auf Schütz und nennt dies die »immanente Transzendenz« (Schütz) der Appräsentation: »Appräsentierendes und appräsentiertes Element gehören in der Regel zum gleichen ›geschlossenen Sinnbezirk‹, dem des alltäglichen Lebens. Gegenstände sind das, als was wir sie hic et nunc benutzen. Ereignisse sind das, auf was wir hier und jetzt reagieren. Individuen begegnen einander als Mitmenschen mit jeweils einzigartigen, aber wechselseitig vermittelbaren Biographien.«40 In der Sphäre der ›Welt in potentieller Reichweite‹, also der Welt des vermittelten institutionell bestimmten Handelns und Wissens, haben wir es mit der symbolischen Appräsentation (erster Stufe) zu tun: »das Appräsentierende erscheint in der Wirkwelt, das Appräsentierte dagegen verdankt sich den jeweiligen gesellschaftlichen Konstruktionen und Auslegungen der Wirklichkeit«.41 In dieser Sphäre wird folglich über die unmittelbare Handlungssituation hinausverwiesen (so wird, um zwei diesen Sachverhalt illustrierende Beispiele Soeffners hier anzuführen, aus dem Mann in glänzendem Eisen ein Ritter und aus demjenigen im blauen Anzug ein Postbote). Das über die unmittelbare Interaktionssituation hinausweisende Appräsentierte wird mit Indirektheit und Anonymität des Verweisungszusammenhanges erkauft. Das Entscheidende dieser Appräsentationsbeziehung ist, dass sie die Voraussetzung von dauerhaftem kollektivem Handeln bietet. Kollektives Handeln und damit die Dauerhaftigkeit von sozialen Beziehungen beruhen, so Soeffner unter Bezug auf Max Weber, »in der Chance, Handeln kollektiv zu organisieren, zu interpretieren und damit als erwartbar, motiviert und kalkulierbar darzustellen«42. Da über die unmittelbare Interaktion hinausverwiesen wird und das 38 | Soeffner (1991), 66. 39 | Vgl. die Unterteilung in Alfred Schütz, 1973a, Symbol, Reality and
Society, in: Alfred Schütz, Collected Papers I. The Problem of Social Reality, The Hague. 40 | Soeffner (1991), 69. 41 | Soeffner (1991), 70. 42 | Soeffner (1991), 70.
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 35
Appräsentierende damit im Vergleich zur ersten Sphäre die Qualität der Indirektheit erhält, wird dementsprechend vom Symbolcharakter des Appräsentierenden gesprochen. Bei der dritten Sphäre schliesslich könnte man – so Soeffner – von einem »verdoppelten Symbolismus« sprechen. Diese Sphäre umfasst die Welt des symbolisch ausgeformten Wissens, der Weltbilder und Kosmien. Warum »verdoppelter Symbolismus«? Weil hier, so Soeffner, das Repräsentierte die Erscheinung legitimiert. Die Erscheinung ist »der Abkömmling dessen, was (›in Wahrheit‹) wirklich ist«43. Damit verschiebt sich die ›eigentliche‹ Wirklichkeit ins Transzendente und lässt das Erscheinende zu einem »Nichts« werden, insofern der transzendente Hintergrund nicht miterscheint. Man kann bereits erkennen, dass sich hier der Religionsbegriff anschliessen lässt. Im Unterschied zur von Schütz und Luckmann in den Strukturen der Lebenswelt ausgeführten Konzeption der »kleinen«, »mittleren« und »grossen« Transzendenzen setzt Soeffner den Begriff des Symbols in der Sozialwelt selbst – also gleichsam an den »mittleren« Transzendenzen – an und eröffnet so die Möglichkeit, die Erfahrung »grosser« Transzendenz als die Erfahrung des ganz Anderen, über die konkrete Handlungssituation Hinausweisenden als Resultat von kommunikativen Prozessen zu erschliessen und damit auch empirisch zugänglich zu machen.44 Der Umgang mit Symbolen ist für jede Gesellschaft grundlegend. In den Symbolen drückt sich ein für die Mitglieder einer Gesellschaft verbindlicher Wissenszusammenhang aus, der in Form eines Weltbildes auskristallisiert. Symbole erlauben damit, die Welt sinnhaft zu lesen. Weltbilder beziehungsweise ›Weltansichten‹45 sind historische Sinnzusammenhänge, die über den Einzelnen hinauswirken und ihn durch seine Teilhabe an ihnen an die Gemeinschaft binden. Das symbolisch ausgeformte Wissen der dritten Sphäre von Soeffners Drei-Sphären-Modell kann von unterschiedlicher Reichweite 43 | Soeffner (1991), 71. 44 | Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, Kapitel VI. Siehe auch Knoblauch
(1995), 82, und Hubert Knoblauch, 1998, Transzendenzerfahrung und symbolische Kommunikation. Die phänomenologisch orientierte Soziologie und die kommunikative Konstruktion der Religion, in: Hartmann Tyrell, Volkhard Krech, Hubert Knoblauch, Hg., Religion als Kommunikation, Würzburg, 162ff. 45 | Siehe Thomas Luckmann, 1988, Die »massenkulturelle« Sozial-
form der Religion, in: Hans-Gerog Soeffner, Hg., Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen, 40f.
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36 | »New World Horizon« sein und sich auf verschiedene Bereiche beziehen, solange es die für es charakteristische Bedingung erfüllt, dass es etwas repräsentiert, das über die Gesellschaft beziehungsweise über das soziale Kollektiv hinausgeht. Ein solches Kosmion repräsentiert innerhalb der Gesellschaft einen Kosmos beziehungsweise eine das Kosmion transzendierende Ordnung, »die sich in der ›Erscheinung‹ (Hierarchie, Institutionen, Grenzen, Charakter etc.) der Gesellschaft widerspiegelt«.46 Das gesellschaftliche Kosmion umfasst zwei Stufen der Repräsentation, i.e. einerseits den immanenten Ordnungszusammenhang der Gesellschaft und andererseits eine allgemeine Idee: »Zum einen repräsentiert der Repräsentant eines Kollektivs (selbst unser ›Volksvertreter‹) den immanenten Ordnungszusammenhang seiner Gesellschaft. Zum anderen appräsentiert er, indem er (wie im übrigen auch jedes andere Mitglied dieser gesellschaftlichen Ordnung) sich und sein Handeln durch eine allgemeinere Idee legitimiert, die symbolische Teilhabe seines Kosmions und seiner selbst am Kosmos eines umfassenden Sinnzusammenhanges, eines umgreifenden, einheitsstiftenden Mythos, der jedem Detail einen Sinn verleiht, den Zufall eliminiert und alle Erscheinungen zu Chiffren seiner Existenz und seines Wirkens verzaubert.«47 Dieser Zusammenhang gilt auch für religiöse Symbolik. Nicht sie allein, aber sie ganz besonders erfüllt diese Repräsentationsfunktion innerhalb einer Gesellschaft. Wie die zitierte Passage deutlich macht, haben wir es gleichsam mit einer zwar notwendigen, jedoch noch nicht hinreichenden Bedingung zur Erklärung des gesellschaftlichen Phänomens der Religion zu tun. Eine »abschliessende« Definition des Religionsbegriffs kann selbstverständlich auch mit dieser Begriffsklärung nicht geleistet werden – es ist mittlerweile hinlänglich bekannt, dass jeder solche Versuch, sobald er mit der Mannigfaltigkeit historischer Erscheinungsformen konfrontiert wird, zum Scheitern verurteilt ist.48 Ein »allgemeiner« Begriff der Religion, der es 46 | Soeffner (1991), 71, bezieht sich mit dieser Unterscheidung von
›Kosmos‹ und ›Kosmion‹ auf Eric Voegelin, siehe Eric Voegelin, 1952, The New Science of Politics. An Introduction, Chicago, London. 47 | Soeffner (1991), 71. 48 | Die Zahl der Definitionsversuche geht gemäss Knoblauch in die
Hunderte, was zum Teil seinen Grund darin hat, dass die etymologische Ausgangslage des Wortes ›Religion‹ unklar ist, siehe Hubert Knoblauch, 1999, Religionssoziologie, Berlin, New York, 8f. Distanziert gegenüber mit Verve vertretenen Definitionen von Religion gibt sich Peter Berger, siehe Pe-
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 37
erlauben würde, sämtliche uns bekannten kulturellen und historischen religiösen Phänomene unter einem einzigen terminologischen Dach zu subsumieren, wird zwangsläufig unscharf und verliert die jeweils historisch besondere Problemlage aus den Augen. Gerade deswegen sind im Folgenden einige weitere den Begriff eingrenzende Überlegungen und Präzisierungen im Hinblick auf die dieser Untersuchung zugrunde liegende Forschungsfrage notwendig. Religion soll in dieser Untersuchung als etwas verstanden werden, das sich auf den Bereich des Ausseralltäglichen bezieht. Mit Alfred Schütz – und mit all denen, die ihm in dieser Frage gefolgt sind, vor allem Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Hans-Georg Soeffner und Hubert Knoblauch49 – wird davon ausgegangen, dass sich die Lebenswelt aus verschiedenen ›Ordnungen‹ aufbaut, von denen der Alltag eine – die dominierende (›paramount reality‹) – ist.50 Der Alltag zeichnet sich durch die routinemässige Bewältigung ›kleiner‹ und ›mittlerer‹ Transzendenzen aus, wohingegen ›grosse‹ Transzendenz auf Ausseralltäglichkeit verweist. Schütz spricht in diesem Zusammenhang weiter von ›mannigfaltigen Wirklichkeiten‹ beziehungsweise im Anschluss an William James’ Theorie der Subuniversa von verschiedenen Sinnprovinzen.51 Sinnprovinzen sind ›endlich‹, insofern sie sich durch einen besonderen kognitiven Stil der Erfahrung auszeichnen.52 Religion ist eine von mehreren Sinnprovinzen des Ausseralltäglichen, das heisst derjenigen Bereiche, die über die ›geter L. Berger, 1990, The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion, New York, 175ff. Vgl. ausführlich zur Geschichte des Religionsbegriffs Falk Wagner, 1986, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh. Zeit- und kulturspezifisch für das achtzehnte Jahrhundert siehe Gerhard Alexander, Johannes Fritsche, 1989, »Religion« und »Religiosität« im 18. Jahrhundert. Eine Skizze zur Wortgeschichte, in: Karlfried Gründer, Karl Heinrich Rengstorf, Hg., Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung, Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 11, Heidelberg. 49 | Vgl. Peter L. Berger, Thomas Luckmann, 1990 (1969), Die gesell-
schaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main; Hans-Georg Soeffner, 1989, Die Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt am Main; Knoblauch (1998). 50 | Siehe Schütz (1973a). 51 | Schütz (1973a), 230. 52 | Schütz (1973a), 230.
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38 | »New World Horizon« schlossene Sinnprovinz der alltäglichen Lebenswelt‹ hinausreichen und auf nichtalltägliche Wirklichkeiten zielen. Zu den Sinnprovinzen der Ausseralltäglichkeit gehören neben der Religion die Welt der wissenschaftlichen Theorie, der Kunst, des Mythos, der Politik sowie die Welt der Phantasien und Träume.53 Alle diese Erfahrungsbereiche transzendieren die Lebenswelt des Alltags und verweisen auf nichtalltägliche Wirklichkeiten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich die Sinnprovinz der Religion von anderen Sinnprovinzen des Nichtalltäglichen unterscheiden lässt. Während Knoblauch die Besonderheit des Religiösen empirisch als besonderen Kommunikations- beziehungsweise Erkenntnisstil herausarbeiten will, der sich vom Kommunikations- und Erkenntnisstil anderer ausseralltäglicher Wirklichkeiten unterscheidet54, wird in der vorliegenden Studie versucht, innerhalb der ›grossen‹ Transzendenz gleichsam Bereiche verschiedener transzendenter Reichweite zu identifizieren, um das Religiöse nicht nur seiner Form nach, sondern auch inhaltlich als besondere Antwort auf ein besonderes Problem zu fassen, womit Religion funktional von Kunst, Politik und Theorie unterschieden wird. Damit lassen sich anthropologische Anliegen mit modernetheoretischen gleichsam verbinden und das Dauerhafte und möglicherweise Gesellschaftsübergreifende des religiösen Weltzugangs dem Wandel der Moderne aussetzen und so auf die Spezifika moderner Gesellschaften hin untersuchen. Ausseralltäglichkeit allein macht demnach Religion noch nicht aus. Wie Knoblauch feststellt, zeichnet sich Religion darüber hinaus durch einen besonderen Anspruch aus: auch unabhängig von der religiösen Kommunikation zu sein. Damit ist die Wirklichkeit der Religion im Unterschied zu anderen nichtalltäglichen Wirklichkeiten ihrem Anspruch nach quasiontologisch.55 Dagegen erhebt die von der ebenfalls dem Bereich des Nichtalltäglichen zugehörenden Kunst in der Kommunikation geschaffene Wirklichkeit keinen Anspruch auf ein Etwas jenseits von Kommunikation und Erfahrung. Sofern sie es getan hat bis zum Beginn der Neuzeit und darüber hinaus, symbolisiert sie religiöse Wirklichkeit mit entsprechendem Anspruch auf sinnvolle Letztabschliessung einer nur scheinbar offenen, unabschliessbaren Welt. Im Gegensatz zur (modernen) Kunst schaffe die religiöse Wirklichkeit – so Knoblauch – »eine Wirklichkeit, die nicht wirkt, und doch erhebt sie den Anspruch, dass sie auch unabhängig 53 | Schütz (1973a), 234ff., Schütz/Luckmann (1994), Bd. 2, 161ff. 54 | Siehe Knoblauch (1998). 55 | Knoblauch (1998), 181.
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 39
von der religiösen Kommunikation ›ist‹.«56 Wir haben es also mit Wirklichkeit zu tun, die sowohl absolut ist als auch absolut unzugänglich ist – woran dann zum Beispiel die negative Theologie anschliessen kann. Die Frage, die sich sogleich aufdrängt, ist, wie Religion unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft einen solch umfassenden Anspruch, der sich auf die Repräsentation einer die Wahrheit und die »letzten Dinge« verkörpernden Wirklichkeit richtet, aufrechterhalten kann. Dies führt nochmals zurück zu Soeffners Symbolbegriff. Symbole weisen eine paradoxe Struktur auf.57 Sie erscheinen als rhetorische Figuren, die einen Widerspruch aufdecken und ihn gleichzeitig harmonisieren. Der Umgang mit Paradoxien verweist entsprechend auf das, was Helmuth Plessner die ›exzentrische Positionalität‹ des Menschen genannt hat.58 Indem Symbole Paradoxie zum Ausdruck bringen, zeigen sie einen Weg, mit Widersprüchen umzugehen. Diese für die vorliegende Arbeit zentralen Zusammenhänge erfordern einige präzisierende Überlegungen, denn es ist die diese Widersprüche und Paradoxien »bearbeitende« Funktion des Symbols, die ihm letztlich seinen entscheidenden Platz im Kontext von Religion und in den damit verbundenen kommunikativen Prozessen zuweist. Soeffner versteht – in Anlehnung an Fritz Mauthner59 – unter einem Paradox etwas den gewöhnlichen Erfahrungen beziehungsweise dem allgemeinen Sprachgebrauch Widersprechendes. Mithilfe von Symbolen lassen sich Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit bewältigen: »sie repräsentieren gleichzeitig einen punktuellen Widerspruch und den Prozess seiner Harmonisierung«60. Symbolen kommt eine wichtige Funktion zu in Problemüberwindungsprozessen, indem sie helfen, von anfänglicher Unsicherheit zu einer »ästhe56 | Knoblauch (1998), 181. Zum Verhältnis von Kunst und Religion vgl.
auch Hans-Georg Soeffner, 1998, Zum Verhältnis von Kunst und Religion in der »Spätmoderne«, in: Dieter Fritz-Assmus, Hg., Wirtschaftsgesellschaft und Kultur. Gottfried Eisermann zum 80. Geburtstag, Bern, Stuttgart, Wien. 57 | Soeffner (1991), 73. 58 | Helmuth Plessner, 1981 (1928), Die Stufen des Organischen und
der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt am Main, 360ff. 59 | Fritz Mauthner, 1980, Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Zürich,
231. 60 | Soeffner (1991), 73.
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40 | »New World Horizon« tischen Balance der Widersprüche« fortzuschreiten. Das Symbol, formuliert als Paradox, ermöglicht es, Ambivalenz gleichzeitig zu betonen und auszuhalten und aus dem Gegensätzlichen Konsonanz hervorgehen zu lassen. Das Grundproblem der Widersprüchlichkeit der Welterfahrung, das hier sehr allgemein angesprochen ist, lässt sich im Hinblick auf Religion zuspitzen. Religion hat es nicht mit Ambivalenz per se und in allen ihren mannigfaltigen, sowohl die alltägliche wie die ausseralltägliche Erfahrung betreffenden Variationen zu tun. Religion antwortet vielmehr auf eine im Hinblick auf die Frage der Sinnhaftigkeit der Welt besonders fundamentale Erfahrung von Kontingenz. Sie besteht darin – und drückt damit gleichzeitig das Problem des Wissens in der Moderne aus –, dass die Welt in ihrem Charakter des Kontingenten wahrgenommen wird. Daraus folgt entsprechend die Suche nach der Verankerung des Kontingenten im Konsistenten. Eine solche Problemsituation »signalisiert« – so Detlef Pollack61 – möglicherweise Religion. Kontingenz ist die Erfahrung, dass das, was so ist, wie es ist, auch anders sein könnte. Diese Erfahrung ist nicht allein Grundlage der Religion, denn sie taucht in den verschiedensten Zusammenhängen auf, worauf auch Pollack hinweist: es handelt sich zumindest auch um eine wissenschaftliche, philosophische und existentielle Frage, denn die darin aufbrechende Sinnfrage »bietet Anschlüsse nach vielen Seiten«62. Religion hat es mit der Bewältigung der Erfahrung der »prinzipiell unaufhebbaren Ungesichertheit des Daseins« (Pollack) zu tun. Das erinnert an den Sinnbegriff von Niklas Luhmann, der Sinn als Einheit der Unterscheidung von Wirklichkeit (Aktualität) und Möglichkeit (Potentialität) bestimmt: »Denn Sinn hat etwas (was auch immer) dann, wenn im aktualen Erleben oder Kommunizieren (in dem, was vorkommt) auf andere Möglichkeiten verwiesen wird; und zwar so, dass ohne diese Verweisung auch die Aktualität als sinnhafte Aktualität gar nicht möglich wäre. Sinn ist demnach (und wieder: für einen Beobachter, der so unterscheidet) die Einheit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit.«63 Religion hat es vor diesem Hintergrund mit der Frage zu tun, wie überhaupt noch etwas als gegeben, als Ausgangs- und Orientierungspunkt für Handeln angenommen und lebensweltlichen Ent61 | Pollack (1995), 184. 62 | Pollack (1995), 184. 63 | Niklas Luhmann, 2000, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt
am Main, 19f.
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 41
scheidungsprozessen zugrunde gelegt werden kann, wenn dabei immer auch jeweils andere Möglichkeiten aufscheinen und dem so und nicht anders Unterschiedenen (nicht jedoch dem Zwang des Unterscheidenmüssens selbst) jede Notwendigkeit nehmen. Durch Religion werden »Lösungen« dieses Problems entwickelt, indem die Möglichkeit des Anderssein in einer Weise relativierend mitthematisiert wird, so dass diese Möglichkeit durch ihr Thematisiertwerden entweder das Gegebene nicht infrage zu stellen vermag und es so auch nicht bedroht, oder aber gerade umgekehrt darüber hinaus auf die Möglichkeit einer anderen, »besseren« Welt als der im Diesseits gegebenen verweist. Wie das geschieht, ist abhängig von der jeweiligen historisch-kulturellen Lage und lässt sich nur in empirischer Untersuchung rekonstruieren. Entscheidend ist, dass Religion über Kontingenz zu kommunizieren erlaubt, ohne dabei Konsistenz, auf deren Grundlage überhaupt erst eine solche Kommunikation möglich ist, zu verlieren. Das ist – und bleibt – ein Widerspruch, der sich im religiösen Symbol gleichzeitig ausdrückt und aufhebt. Das christliche Symbol des Kreuzes kann hier als Beispiel angeführt werden: es steht für das Leiden in dieser Welt und zugleich für dessen Überwindung im »ganz anderen«, erlösten Leben. Es scheint deswegen sinnvoll zu sein, mit Luhmann Religion nicht als Antwort auf konkrete inhaltliche »Sinnkrisen« zu fassen, sondern als »Lösung« für das Problem, dass Sinn nicht abschliessbar ist und gerade deswegen das Paradox von Kontingenz und Konsistenz mehr oder weniger glaubwürdig zum Verschwinden gebracht werden muss, soll Handeln im Alltag möglich sein.64 Dass diese Paradoxie überhaupt oder doch zumindest immer schärfer gesehen werden kann, macht dann allerdings die spezifisch moderne »Sinnkrise« aus, die sich unter Umständen nur noch bedingt mit Religion oder mit religionsähnlichen »Mechanismen« und deren Symboliken bewältigen lässt. Man kann nun davon ausgehen, dass die Erfahrung von Kontingenz im Bereich der kleinen und mittleren Transzendenzen nicht in existentielle Krisen führt. Ob man nach rechts oder nach links abbiegt an einer Strassenkreuzung hat zwar Konsequenzen, sie sind in der Regel jedoch einigermassen überschaubar und vorhersagbar. Anders im Bereich der ›grossen‹ Transzendenz beziehungsweise in der Sphäre der Kosmien und Weltbilder, mithilfe derer wir unser Dasein legitimieren und ihm im Anschluss an die Tradition positiven Sinn zu geben versuchen. Kontingenzerfahrung wird hier zu einem grundle64 | Vgl. Luhmann (2000), 35.
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42 | »New World Horizon« genden Problem der Orientierung, das unter Rückgriff auf Symbole und deren Fähigkeit, auf das Mehrdeutige und Paradoxe zu stossen und es zugleich zu entschärfen und zu harmonisieren, gelöst wird. Religion hat es also mit einer besonderen, gleichsam qualitativ eigenen Form der ›grossen‹ Transzendenz zu tun. Qualitativ eigen ist sie, weil sich die durch sie hervorgerufenen Vorstellungen und die von ihr geleisteten symbolischen Repräsentationen zwar innerhalb des Horizontes der Lebenswelt bewegen, die von ihr repräsentierte Wirklichkeit selbst dem Anspruch nach jedoch jenseits davon ist, wobei die Lebenswelt damit Teil von etwas wird, das »mehr« ist als sie selbst, denn die Lebenswelt wird vom Letztsinn (von der »anderen« Wirklichkeit) mitumgriffen. Auf diese andere Welt kann man sich »hin zu transzendieren« versuchen, erreichen kann man sie nicht, was die religiösen Symbole zum Ausdruck bringen müssen. Symbole sind nicht das, was sie repräsentieren. Sie stehen für etwas Unzugängliches, das sie selbst nicht sind. Oder, mit Luhmann: die Bezeichnung trifft das Gemeinte nicht, »und daraus mag sich ein Verständnis für Symbole entwickeln, die genau diese Unangemessenheit gezielt reflektieren«65. Interessant ist in diesem Zusammenhang, worauf Pollack hinweist: dass durch die Verknüpfung des Unzugänglichen mit dem Zugänglichen (der ›grossen‹ Transzendenz mit der Lebenswelt) die religiösen Sinnformen selbst wieder kontingent werden.66 Was man sich innerweltlich vorstellt als das »wirklich Wirkliche« des Jenseits, ist – so muss man zumindest mitbedenken – wahrscheinlich etwas ganz anderes als das »tatsächlich wirklich Wirkliche«. Es ist zumindest immer auch anders möglich. Und diese Kontingenz, diese Ambivalenz, diese Unsicherheit spiegelt sich im Symbol. Gleichzeitig konstituiert das Symbol jedoch auch Wirklichkeit, indem es etwas so und nicht anders »festschreibt«. Im Symbol ist Raum für den Zweifel wie auch für dessen Überwindung. Gemäss Soeffner verweisen Paradoxe »auf die Notwendigkeit, mit und in Widersprüchen zu leben und zugleich auf eines der Hilfsmittel, mit diesen Widersprüchen umzugehen«67. Die symbolische Arbeit besteht in der Formulierung von Paradoxen. Und sie besteht in deren Auflösung: »Symbolische Handlungen sind die Antworten auf Paradox, Widersprüchlichkeit
65 | Luhmann (2000), 31. 66 | Pollack (1995), 186f. 67 | Soeffner (1991), 74.
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 43
und Grenzerfahrung, ein Rezept gegen die Kapitulation vor der Sinnlosigkeit durch Sinninflation.«68 Religion und religiöse Symbolik stellen eine »Verbindung« in Form einer gegenseitigen Verweisung her zwischen Lebenswelt und ›grosser‹ Transzendenz und erlauben so die Konstituierung von Weltbildern und Kosmien, die unser Dasein legitimieren und ihm Sinn zuschreiben. Sie erlauben die Verankerung des Kontingenten im Konsistenten. Die Suche nach dieser Verankerung und die entsprechenden symbolischen Formen, die dafür gefunden werden, sind dabei abhängig von der geschichtlichen, sozialen und kulturellen Lage und können beträchtlich variieren. Dies führt zurück zur Frage nach dem Religionsbegriff beziehungsweise nach dem Begriff der ›grossen‹ Transzendenz als dem Bereich des Ausseralltäglichen, auf den sich Religion und Religiosität beziehen. Welche ›grosse‹ Transzendenz ist die ›grosse‹ Transzendenz der Religion? Denn beispielsweise auch die ästhetische Kommunikation schafft – wie bereits oben im Anschluss an Knoblauch festgehalten – »eine nicht-alltägliche Wirklichkeit, die ebensowenig wie die der religiösen Kommunikation in den Alltag hinein ›wirkt‹«69, indem sie diesen gezielt verändern würde, wie dies etwa die Magie oder das alltägliche Handeln tun. Religiöse und ästhetische Kommunikation sind entsprechend entpragmatisiert, wobei die Religion jedoch im Unterschied zur Kunst mit »quasiontologischem« Anspruch auftritt. Damit ist der Wirklichkeitsanspruch des Religiösen so sicher und gegeben wie derjenige des Alltags, auch und vielleicht gerade weil das, was im religiösen Symbol repräsentiert wird, letztlich nicht zugänglich ist. Es verweist auf das »Ungewisse«, verstanden als das, was man nicht wissen kann und nicht wissen muss. Gott weiss, das genügt. Die Grenze kann nicht überschritten werden. Man hat es gewissermassen nicht nur mit ›grosser‹, sondern mit »grösster«, grösstmöglicher Transzendenz zu tun – mit einer Erfahrung, die auf eine ihrem Anspruch nach ontische Welt jenseits der gegebenen Welt abzielt, auf die man sich unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft jedoch nicht mehr so ohne weiteres zu beziehen vermag.70 68 | Soeffner (1991), 75. 69 | Knoblauch (1998), 181. 70 | Zum »Rückzug« Gottes in die Unansprechbarkeit und zu den
Schwierigkeiten einer Kommunikation mit dem Transzendenten unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft vgl. auch Niklas Luhmann, 1987, Lässt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu?, in: ders., Soziologi-
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44 | »New World Horizon« Aus der Unabschliessbarkeit sowohl der erfahrbaren wie auch der vorstellbaren Welt, ihrem »Mehr-« und »Anderssein« und dem darin angelegten permanenten »Anders-möglich-Sein« des Verfügbaren, aus dem Problem der Kontingenz also, das von vielen Religionstheoretikern als das eigentliche »Bezugsproblem der Religion«71 angesehen wird, lassen sich unterschiedliche Dinge folgern. Für Hermann Lübbe etwa besteht – in Anlehnung an Schleiermacher – der religiöse Akt in der »Anerkennung schlechthinniger Abhängigkeiten«. Gerade im Anerkennen einer absoluten, handlungssinntranszendenten Kontingenz lässt sich diese bewältigen – nicht weil sich die schlechthinnigen Abhängigkeiten deswegen ändern würden: »[…] vielmehr ändern wir uns, nämlich in unserem Verhältnis zu diesen Abhängigkeiten«72. In einer solchen Wahrnehmung ist die Möglichkeit von Religion in existenzieller Weise immer schon angenommen. Wenn man sich jedoch nicht auf das Gebiet der Philosophie oder des Glaubens begeben will, lässt sich ein einfacherer Begriff von Kontingenz zugrunde legen, wonach eben »Kontingenz meint, dass etwas so ist, wie es ist, und doch auch anders sein könnte«73. Religion hat mit dieser Erfahrung etwas zu tun. Wie Pollack festhält, ist das Bezugsproblem der Religion universell: »Es kann an jedem gesellschaftlichen oder individuellen Ereignis, an jedem Prozess, an jeder Struktur erscheinen, denn jedes Ereignis, jeder Prozess, jede Struktur stellt eine Auswahl aus einer Vielzahl von Möglichkeiten dar.«74 Und je nach dem, wo es erscheint, ist Religion oder aber ein anderer gesellschaftlicher Wirklichkeitsbereich für Lösungsvorschläge herausgefordert. Demgegenüber lässt sich die Funktion der Religion für Thomas sche Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen. 71 | Pollack (1995), 184. Für Robert Spaemann macht es geradezu die
Besonderheit von Religion im Unterschied zu Wissenschaft aus, dass sie die Kontingenzerfahrung steigert und den Sinn für das »Wunderbare« und für das »Geheimnis« weckt. Die Religion löst die Frage nicht, warum die Dinge sind, wie sie sind, sondern lässt diese Frage überhaupt erst entstehen, siehe Robert Spaemann, 1985, Funktionale Religionsbegründung und Religion, in: Peter Koslowski, Hg., Die religiöse Dimension der Gesellschaft. Religion und ihre Theorien, Tübingen, 19. 72 | Hermann Lübbe, 1998, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbe-
wältigung, in: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard, Hg., Kontingenz, Poetik und Hermeneutik 17, München, 43. 73 | Pollack (1995), 184. 74 | Pollack (1995), 184, in Anlehnung an Luhmann.
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1. ›Religion‹ – eine Begriffsklärung | 45
Luckmann, der einen besonders umfassenden, funktionalen Religionsbegriff in die Diskussion eingeführt hat, ganz allgemein in dem Satz zusammenfassen: »Die Funktion der Religion ist die Vergesellschaftung des Umgangs mit Transzendenz.«75 Luckmann verwendet zwei unterschiedliche Transzendenzbegriffe: einen anthropologischen des Transzendierens und einen phänomenologischen der Transzendenz.76 Unter anthropologischem Gesichtspunkt betrachtet ist Religion »etwas allgemein Menschliches«77. Sie ist das, was den Menschen zum Menschen werden lässt, indem er in der Religion sein biologisches Wesen auf das Soziale hin überschreitet und somit Teil eines geordneten moralischen »Kosmions«78 wird: »Religion findet sich überall dort, wo aus dem Verhalten der Gattungsmitglieder moralisch beurteilbare Handlungen werden, wo ein Selbst sich in einer Welt findet, die von anderen Wesen bevölkert ist, mit welchen, für welche und gegen welche es in moralisch beurteilbarer Weise handelt.«79 Voraussetzung dafür ist die für die Ausbildung einer persönlichen Identität grundlegende Fähigkeit des Menschen, sich von unmittelbarer Erfahrung abzulösen und so überhaupt erst die Welt als Welt, als das Andere seiner selbst wahrzunehmen.80 Die Genese von Identität ist somit an Sozialität, an die Präsenz anderer gebunden – ein Thema, auf das im nächsten Kapitel zurückzukommen sein wird. Die Vergesellschaftung des Umgangs mit Transzendenz, die der Funktion der Religion zugrunde liegt, ist in ihren je spezifischen Ausprägungen an den geschichtlich-kulturellen Prozess gebunden und ist abhängig von den jeweiligen historischen Gegebenheiten. Ist Religion für Luckmann dem Menschen also gewissermassen »natürlich« gegeben durch deren Funktion des Transformierens des Biologischen ins Soziale, so ist über das »Wie« der Transformation im jeweiligen historischen Fall noch nichts gesagt: »Wohin der Mensch den Alltag transzendiert, wie er dieses Transzendieren deutet und 75 | Thomas Luckmann, 1985, Über die Funktion der Religion, in: Peter
Koslowski, Hg., Die religiöse Dimension der Gesellschaft. Religion und ihre Theorien, Tübingen, 26. 76 | Vgl. Luckmann (1985). Siehe auch Knoblauch (1998), 150ff. 77 | Luckmann (1985), 27. 78 | Luckmann übernimmt den Begriff des ›Kosmion‹ von Eric Voege-
lin, siehe Thomas Luckmann, 1988a, Religion and Modern Consciousness, in: Zen Buddhism Today. Annal Report of the Kyoto Zen Symposium 6, 13. 79 | Luckmann (1991), 165. 80 | Luckmann (1991), 82.
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46 | »New World Horizon« mit Hilfe von Symbolen – und Ritualen – zum Thema macht, ist jedoch keine Sache einer universalen, ›natürlichen‹ Religiosität, sondern eine Sache der historischen Gesellschaftlichkeit des menschlichen Daseins. Damit erst betreten wir den Bereich, den man in einem prägnanten Sinn als transzendent bezeichnen kann.«81 Hier handelt es sich um intersubjektive, gesellschaftlich mitgeformte Erfahrungen, die in Kommunikation und Interaktion »als eine zweite Wirklichkeit«82 konstruiert werden. Religion hat es also mit einem ausseralltäglichen, auf die Welt des Alltags zurückwirkenden Anspruch zu tun. Es handelt sich dabei um einen Anspruch auf Sinnstiftung und damit auf lebensweltliche Orientierung durch Bezug auf etwas, das der Lebenswelt des Alltags, aber auch der Kunst, dem Träumen sowie anderen nicht-religiösen Sinnprovinzen entzogen ist, weil Religion etwas fundamental anderes, etwas »ontisch« anderes meint – eine andere, eigenständige, göttliche oder sonstwie transzendente Wirklichkeit, die gleichwohl nur innerhalb der Lebenswelt erfahrbar und kommunizierbar ist. Aber die Wirklichkeit der Religion ist – dem lebensweltlichen Anspruch nach – nicht Lebenswelt. Sie ist »mehr«. Sie ist jenseits des Horizontes der Lebenswelt angesiedelt. Dass die Symbole der Religion in ihren historisch variierenden Formen beanspruchen, »Brückenköpfe« (Soeffner) zu formen hinüber in dieses andere Reich, das nicht von dieser Welt ist, aber dennoch nur in dieser Welt, im Diesseits, auf der Grundlage lebensweltlicher Erfahrungen »vorgestellt« werden kann, macht ihre besondere Funktion sowohl für die Gesellschaft als auch für die Individuen aus. Ihr Grundproblem findet die Religion jedoch im alltäglichen und im ausseralltäglichen Diesseits: Was die Religion anspricht und wofür sie Lösungen anbietet, ist das Problem von Kontingenz und Komplexität, welches gerade für die moderne Gesellschaft aufgrund ihrer besonderen Lage als hochausdifferenzierte Gesellschaft besondere Brisanz erlangt hat. Deswegen ist die Sache der Religion gerade in der modernen Welt nicht erledigt – wenn sie sich auch, zumindest im theologischen Diskurs, vor vielfältige Herausforderungen einer sich stärker aufdrängenden Selbstreflexivität gestellt sieht. Die Komplexität der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft bringt die Mehrdeutigkeit von Wirklichkeit und damit deren Kontingenzcharakter neu ans Licht – das berühmte »Esist-auch-immer-anders-möglich«, je nach eingenommener Perspekti81 | Luckmann (1985), 33. 82 | Luckmann (1985), 34.
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ve. Dabei tut sich – worauf Hartmann Tyrell hinweist – gerade die Religion mit der Akzeptanz von Perspektivengebundenheit und damit auch mit der Reduktion auf ein »blosses« gesellschaftliches Teilsystem aufgrund ihrer im Hinblick auf eine Letztabschliessung von Weltkomplexität formulierten »Höchstrelevanzansprüche« eher schwer.83 Aber die – auch sozialwissenschaftlich wiederentdeckte – Präsenz der Religion in ihren mannigfaltigen Spielarten verweist auf die Rolle, die sie auch innerhalb moderner Gesellschaften weiterhin spielt. Während Religion über die Lebenswelt hinauszielt, also innerhalb der Lebenswelt als Transzendenz ebendieser Lebenswelt erfahren wird, nimmt sie gleichzeitig – worauf Pollack hinweist – Bezug auf diese Lebenswelt.84 Neben allem Bedrohlichen des Ausseralltäglichen, der Erfahrung Unzugänglichen und deswegen Ungewissen – und gerade darin ganz besonders Kontingenten – bietet der Bereich der ›grossen‹ Transzendenz auch Sicherheit, da das Unerreichbare nicht in gleicher Weise in Frage gestellt werden kann wie das Erreichbare. Gerade die Tatsache, dass man nicht wissen kann, was sich jenseits des Erfahrbaren »wirklich« abspielt, kann eine gewisse Gelassenheit auslösen, denn was man nicht beeinflussen kann, dafür kann man auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Die Kontingenz des verborgenen, unergründlichen Gottes – neben der Erfahrung »hochmoderner« Kontingenz als ›Unübersichtlichkeit‹ und ›Sinnlosigkeit‹ gleichsam die am entgegengesetzten Pol angesiedelte »absoluteste« Kontingenzerfahrung überhaupt – wird in der gerade auf diesen Gott abzielenden ›grossen‹ Transzendenz aufgehoben – ein Paradox, das sich im religiösen Symbol auffangen lassen muss: »Nur in dem, was dem Menschen nicht zugänglich ist, kann er Sicherheit finden. Was er mit seinen Mitteln zu erreichen vermag, das vermag er auch zu hinterfragen, zu relativieren und zu bestreiten. Die Bewältigung des Kontingenzproblems kann also nur durch Bezug auf das Unerfassbare erfolgen.«85 Dieser Bezug auf das Fremde 83 | Hartmann Tyrell, 1996, Religionssoziologie, in: Geschichte und
Gesellschaft 22, 448. Siehe auch Hahn (1987a), 92. 84 | Pollack (1995), 185f. 85 | Pollack (1995), 186. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Be-
merkungen von Alois Hahn zum Problem des Abstraktionsgrades von Paradies- und Höllenvorstellungen, Alois Hahn, 2000, Tod, Sterben, Jenseits- und Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt am Main, 171ff.
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48 | »New World Horizon« und letztlich Unzugängliche und das Verhältnis zu ihm müssen sich mit mehr oder weniger konkreten und lebensnahen Vorstellungen und Praktiken herstellen und ordnen lassen.86 Hier finden nicht nur Symbole, sondern auch Rituale ihre Funktion.87 Für Religionen ergibt sich damit die typische Grundstruktur einer Verbindung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Zugänglichem und Unzugänglichem – von Immanenz und Transzendenz.88 Religiöse Symbole sind Kontingenz bearbeitende Symbole und finden darin ihre Funktion für die Gesellschaft. Die Geschichte der Moderne zeigt, dass die überlieferten Symboliken der religiösen Grosstraditionen zunehmend wo nicht durch moderne Symbole abgelöst, so doch durch sie konkurrenziert werden. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang der gesellschaftlichen Thematisierung von Individualität zu. Die Entwicklung insbesondere im neunzehnten und im 20. Jahrhundert zeigt, dass sich die Vergesellschaftung des Umgangs mit Transzendenzerfahrung und Transzendenzwahrnehmung zunehmend auf das Individuum hin verschiebt und diesem die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft überbürdet, indem im Individuum und in seiner inneren Erfahrungswelt der unhintergehbare, letzte Referenzpunkt gesichtet wird. Das Individuum wird zum Ort der ›grossen‹ Transzendenz und in diesem Prozess mit einer entsprechenden Symbolik und Semantik aufgeladen. Damit beginnt sich eine moderne Spannungslage abzuzeichnen, die für Religion typisch ist. Haben religiöse Symbole – wie dargelegt – die Funktion, als »Brückenköpfe« auf eine transzendente, unzugängliche Wirklichkeit zu verweisen, ohne dass sie dieser Wirklichkeit selbst angehören, so fallen nun im modernen Individuum die Wirklichkeit der ›grossen‹ Transzendenz mit deren Symbolisierung zusammen. Das moderne Individuum ist einerseits das auf das ganz Andere verweisende Symbol, andererseits ist es selbst von genuin transzendenter Qualität – es wird zu seiner eigenen »anderen Wirklichkeit«. Innerweltlichkeit und deren Überwindung fallen nun im Subjekt, das selbst in der Welt leben muss, zusammen. Daraus entstehen Paradoxien und widersprüchliche Lagen für die Herausbildung individueller Identität, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Die im Verlauf der letzten etwa drei Jahrhunderte 86 | Pollack (1995), 186. 87 | Siehe Soeffner (1991), 76ff. Vgl. auch Hans-Georg Soeffner, 1992a,
Rituale des Antiritualismus – Materialien für Ausseralltägliches, in: ders., Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2, Frankfurt am Main. 88 | Pollack (1995), 186.
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entstandene kollektiv verfügbare, um einen bestimmten, an Innerweltlichkeit orientierten Individualitätstypus herum angelegte Symbolik erschliesst innerhalb der modernen Gesellschaft einen Raum des Transzendenten, indem sie auf die Letztgrösse des unhintergehbaren Subjekts verweist. Die »zweite Wirklichkeit«, die »hinter« der Wirklichkeit des Alltags liegen und diesen mit Sinn versehen soll, rückt so gefährlich nahe an Letztere heran und setzt sich damit dauernd der Gefahr des »Funktionsverlusts« aus, da ›grosse‹ Transzendenz in Innerweltlichkeit aufzugehen beziehungsweise in dieser aufgelöst zu werden droht. Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die vorliegende Studie das Interesse am ›amerikanischen Fall‹ als einem besonderen Fall von Modernität. Amerikanische Individualitätskonzeptionen – wie sie aufgrund des empirischen Materials herausgearbeitet werden – folgen in wesentlichen Aspekten dieser Wendung nach Innen nicht, und dies, obwohl die für das innerweltliche Subjekt typischen Semantiken innerer Erfahrungswelten auch in diesen Konzeptionen als ein grundlegendes Element individueller Selbstdefinition zu finden sind. Die Semantik des Individuums gründet sich im amerikanischen Fall anders als in Europa auf eine Kollektivsemantik des Transzendenten, die das Individuum nicht als eigenen, selbstgenügsamen Kosmos, sondern als Teil eines übergeordneten Ganzen versteht, zu dessen Aufrechterhaltung ihm eine entscheidende Rolle aufgegeben ist. Die besonderen Individualitätskonzeptionen, die anhand der geführten Interviews empirisch rekonstruiert werden, gründen dabei – so die These – in einem seinerseits besonderen Verhältnis von Transzendenz und Immanenz. Dies lässt sich an den Funktionsweisen des ›verdoppelten Symbolismus‹ im Fall der herausgearbeiteten Individualitätskonzeption aufzeigen und führt so zu besonderen Einblicken in das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Modernität und Religion in den USA. Vorausgehen müssen einige theoretische Überlegungen und Begriffsklärungen zum Problem der individuellen Identität sowie eine im historisch weit ausgreifenden Bogen und anhand ausgewählter Beispiele erfolgende Rekonstruktion des Werdegangs des ›europäischen‹ Individuums.
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2. Moderne und Individuum
2.1 Theoretische Zugänge zum Problem der individuellen Identität Es scheint recht aussichtslos zu sein, sich über das weitläufige, verzweigte und breit behandelte Thema der Identität unter den Bedingungen der Moderne einen Überblick zu verschaffen. Die Versuche, den Identitätsbegriff unter theoretische Kontrolle zu bringen, offenbaren ein beträchtliches Dickicht begrifflicher Konzeptionen.1 Einigkeit herrscht insofern, als es die Identität für das Individuum in der modernen Welt nicht gibt. Identität wird vielmehr entlang von vielfältigen Rollenanforderungen in viele Identitäten aufgelöst, die sich nur noch in Form eines – wie dies oft genannt wird – »Flickenteppichs« zu einem Ganzen fügen lassen. Die Metapher des »Flickenteppichs« deutet dabei sowohl auf die gesteigerten Anforderungen an moderne Identitätsbildung hin, indem sie auf die Disparatheit verschiedener Identitäten – auf die »Flicken« – verweist, sie scheint jedoch nach wie vor auch die Idee eines möglichen Ganzen nicht aufgeben zu wollen: die Flicken bilden, wie zahlreich sie auch sein mögen, letztlich einen Teppich, der eine Bordkante und damit Gren-
1 | Dieses Malaise trifft nach Ansicht von Dieter Henrich vor allem auf
die Sozialwissenschaften zu, die besonders ausgeprägt zur Verdunkelung und Verwirrung des Identitätsbegriffs beigetragen haben, siehe Dieter Henrich, 1996, ›Identität‹ – Begriffe, Probleme, Grenzen, in: Odo Marquard, Karlheinz Stierle, Hg., Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München, 133.
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52 | »New World Horizon« zen zur Umgebung hat, auch wenn diese öfter in Form von Fransen gegeben sein mögen. Trotzdem bleibt zuweilen der Eindruck bestehen, dass die Lebenswelten der Einzelnen heute – folgt man dem soziologischen Kanon – so fragmentiert sind, dass man sich manchmal wundert, wie sich die Handelnden überhaupt noch in der Welt zurechtfinden können. Sie sehen sich in dieser Perspektive dauernd gezwungen, einen Rollenwechsel und einen damit verbundenen Identitätswechsel vorzunehmen: vom Ehemann zum Liebhaber, zum Elternteil, zum Computerfachmann, zum Kinobesucher, zum Skifahrer, zum Staatsbürger und zurück. Für die Frauen verhält es sich im Grossen und Ganzen nicht anders. Und jede Rolle verlangt ihren eigenen kognitiven »Stil«, eine je besondere Kompetenz an Wissen zu ihrer Bewältigung. Überlappungen scheint es kaum zu geben, weil die Rollen an Funktionssysteme gebunden sind und diese – auch dies ein Stück soziologischen Grundwissens – je eigenen Gesetzen folgen und funktionssystemspezifische Erwartungen freisetzen und erfüllt sehen wollen. Die gesellschaftliche Differenzierung, das heisst die Herausbildung der komplexen modernen Gesellschaft mit ihren verschiedenen Teilsystemen, hat zur Folge, dass die Einzelmenschen nicht mehr eindeutig »verrechnet«, also Letzteren zugeordnet werden können. In der modernen Gesellschaft haben die Individuen an mehreren gesellschaftlichen Zusammenhängen teil: als Staatsbürger am Staat, als Rechtssubjekte am Rechtssystem, als Gläubige an der Religion, als Produzenten und Konsumenten an der Wirtschaft. Die Rollenanforderungen sind in jedem dieser Zusammenhänge verschieden. Man muss Identitäten für alle diese Bereiche separat ausbilden. Das Neue wäre dann also, dass nicht mehr nur ein Lebenszusammenhang – z.B. ein ›mittelalterliches Dorf‹ – zu bewältigen ist und dass man nicht nur in diesem einen Lebenszusammenhang Orientierungs- und Handlungssicherheit erlangen muss, sondern in mehreren zugleich. Dabei kann dieselbe Handlung in unterschiedlichen Teilsystemen verschiedene Folgen zeitigen: ein kriminelles Vergehen wird vom Rechtssystem anders geahndet als vom Religionssystem. Entsprechend ist das Besondere an der gesellschaftlichen Differenzierung nicht einfach die Zurechnung verschiedener Lebensäusserungen und ihrer je unterschiedlichen Materialität an verschiedene Teilsysteme, sondern die ›Zerlegung‹ ein und derselben Materialität in unterschiedliche, gleichzeitig stattfindende Ereignisse: »Ebendies ist hier Moment der für die Moderne charakteristischen Differenzierung der Systeme, dass nicht einmal die zu einem gegebenen Zeitpunkt sich abspielenden materialen Ereignisse mit sich selbst identisch sind. Sie
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sind in ihrer Identität durch die jeweils sich anschliessenden Folgen in den verschiedenen Systemen jeweils etwas anderes.«2 Die Diagnose der ›Zerlegung‹ bringt uns zur Frage nach der Möglichkeit eines Zusammenhaltes der verschiedenen Lebensäusserungen. Solange Individuen handlungsfähig bleiben, weil sie sich als Personen gegen andere Personen und gegen die Umwelt als Subjekte mit einer Ich-Identität abgrenzen, muss man davon ausgehen, dass sich die durch den modernen Fragmentierungsprozess entstehenden zahlreichen »Identitäten« in einem übergreifenden orientierungsstiftenden Ganzen einbringen lassen. Wie ist das möglich, wenn das Individuum durch sein Engagement in den verschiedenen Kultursystemen (Dilthey) »zersplittert« wird – ausgerechnet jene seit der Antike für unteilbar gehaltene Entität?3 Das Problem, auf das Herbert Willems und Alois Hahn hinweisen, besteht für die Moderne im Verlust einer gesamtgesellschaftlichen Realität. Während die frühen Soziologen (Durkheim, Marx) noch von einer solchen die gesamte Gesellschaft definierenden Realität ausgingen, die von den einzelnen Gruppen jeweils nur partiell repräsentiert werden konnte, wird die Situation zumindest von der soziologischen Theorie hundert Jahre später anders wahrgenommen. Das Individuum lässt sich keiner einzelnen sozialen Gruppe mehr allein zuordnen. Es fällt gerade dadurch aus der Gesellschaft heraus, dass es »überall« in ihr, in den verschiedenen Teilsystemen präsent ist, und seine Identität losgelöst von den Teilsystembindungen zunehmend in seiner Einzigartigkeit zu bestimmen sucht. Es ist gerade die besondere moderne Sozialität, die damit ein ›extrasoziales Individuum‹ (Willems/Hahn) produziert. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es nirgendwo mehr als Ganzes kommunikativ eingebracht werden kann. Jedes Individuum bildet einen eigenen Kosmos, indem es eine je eigene Konstellation und Kombination von durch Partizipation an den verschiedenen Teilsystemen gebildeten lebensweltlichen Zusammenhängen darstellt. Damit radikalisiert sich ein Tatbestand, der aus der Lebenswelttheorie
2 | Herbert Willems, Alois Hahn, 1999, Einleitung. Modernisierung,
soziale Differenzierung und Identitätsbildung, in: dies., Hg., Identität und Moderne, Frankfurt am Main, 13. 3 | Vgl. Individuum, Individualität, 1976, in: Joachim Ritter, Karlfried
Gründer, Hg., Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4, Basel, Stuttgart. Beim antiken Begriff handelt es sich jedoch um einen allgemeinen Begriff des Nicht-Teilbaren, der sich noch nicht auf den Menschen eingeschränkt hat.
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54 | »New World Horizon« länger schon bekannt ist: »In jeder einzelnen Handlung stecken mehr Bedeutungen als direkt anschlussfähig sind.«4 Das Resultat dieser Umstrukturierungsprozesse ist – so zumindest sieht es die Theorie – ein von der Gesellschaft exkludiertes Individuum. Dieses moderne Individuum kann dann nur noch »ausserhalb« der Gesellschaft existieren, gewissermassen als »System eigener Art« (Luhmann), das aufgrund seiner Teilsystemexistenzen als gesamt-gesellschaftliches Wesen keinen Ort mehr findet.5 Das Individuum wird dabei jedoch nicht »abgelöst« oder »abgetrennt« von der Gesellschaft, da es ja gerade der gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozess, also die Gesellschaft selbst ist, die das moderne Individuum konstituiert und die damit auch die Erfahrungsgrundlagen und die Semantiken individueller Selbstwahrnehmung, insbesondere die Semantik des einzigartigen, »asozialen« Subjekts, hervorbringt. Das moderne Individuum, wie sehr es auch versucht, sich gegen die Gesellschaft und in Abgrenzung von ihr zu bestimmen und seine Einzigartigkeit zu betonen, bleibt Ergebnis des sozial-strukturellen und kulturellen Wandels. Mit dem strukturellen Prozess ist eine Veränderung der Semantik verknüpft, welche ein reiches Angebot an Möglichkeiten identitätsstiftender Thematisierungen des Ich entfaltet. Letzteres erlaubt dem Einzelnen, sinnhaft mit der lebensweltlichen Situation der Fragmentierung umzugehen. Einer solchen Sichtweise liegen auf der theoretischen Ebene ein Kulturbegriff und damit einhergehend gesellschaftliche Vorstellungen zugrunde, welche davon ausgehen, dass soziale Wirklichkeit von den Handelnden in ihrem Handeln unter der Wirkung des immer schon Gegebenen und damit ›Objektivierten‹ hervorgebracht, das heisst reproduziert und verändert wird.6 Der Identitätsbegriff, so wie er in der vorliegenden Arbeit verwendet wird, setzt nicht an der Vorstellung eines isoliert dastehenden Subjekts an. Er zielt nicht auf ein substantielles Innenleben, dessen inhaltliche Elemente man gleichsam beschreiben und so die Identität objektivieren, »dingfest« machen könnte. Im Unterschied zu einem 4 | Willems/Hahn (1999), 14. 5 | Niklas Luhmann, 1993, Individuum, Individualität, Individualis-
mus, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3, Frankfurt am Main, 158. 6 | Siehe Hans-Georg Soeffner, 1988, Kulturmythos und kulturelle Re-
alität(en), in: ders., Hg., Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen, 3.
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solchen Identitätsverständnis wird in dieser Studie das Phänomen der Identität einerseits anthropologisch, andererseits historisch verstanden: Identität hat eine gattungsgeschichtliche Dimension, die die Sozialität des Menschen zeit- und kulturübergreifend betrifft; sie hat darüber hinaus jedoch auch eine geschichtliche und kulturspezifische Dimension. Unter gattungsgeschichtlichem Blickwinkel sind persönliche Identität und Individualität keine Erfahrungsbestände allein der Moderne, sondern konstitutiv für auf Interaktion basierende menschliche Existenz allgemein.7 Identität bildet sich, unabhängig von den historisch jeweils verfügbaren spezifischen inhaltlichen Ausformungen, auf der Grundlage interaktiver Prozesse. Wie George H. Mead gezeigt hat, geht die soziale Gruppe dem Einzelnen voraus.8 Er wird in sie hineingeboren und entwickelt in ihr ein Bewusstsein seiner selbst, indem er lernt, sich selbst durch die Augen der anderen zu sehen. Durch die Verwendung signifikanter Gesten und Symbole im Austausch mit den anderen legt sich einerseits eine Distanz zwischen Ich und Umwelt, andererseits wird das eigene Ich als Objekt erfahren. Erst die Wahrnehmung von Alter Ego und damit der soziale Zusammenhang erlauben die Wahrnehmung des eigenen Ich, indem sich Ego in Alter »spiegelt«9. Der Einzelne tritt damit gleichsam aus sich heraus, indem er die Rolle anderer und damit deren Perspektiven übernimmt. Für Mead ist die Genese der Ich-Identität ein fundamentaler sozialer Vorgang. Sie konstituiert sich im Prozess 7 | Hans-Georg Soeffner, 1983, »Typus und Individualität« oder »Ty-
pen der Individualität«? Entdeckungsreisen in das Land, in dem man zuhause ist, in: Horst Wenzel, Hg., Typus und Individualität im Mittelalter, München. Ebenso unterscheidet Luckmann persönliche Identität als »eine allgemeine gesellschaftliche Gegebenheit menschlichen Lebens« einerseits und andererseits als »subjektives Problem, das geschichtlich von ganz besonderen gesellschaftlichen Strukturen abhängig ist«, siehe Thomas Luckmann, 1996, Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz, in: Odo Marquard, Karlheinz Stierle, Hg., Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München, 295. 8 | George H. Mead, 1967 (1934), Mind, Self and Society. From the
Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago, London. 9 | Die Metapher des »Spiegel-Selbst« (»looking-glass self«) geht auf
Charles Horton Cooley zurück. Bereits wesentlich früher findet sich die Idee jedoch – worauf Hahn hinweist – bei Adam Smith in dessen Theory of Moral Sentiments, siehe Alois Hahn, 1987, Identität und Selbstthematisierung, in: Alois Hahn, Volker Kapp, Hg., Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main, 9.
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56 | »New World Horizon« der Sozialität und ist dem Subjekt nicht als Substanz gegeben.10 Die persönliche Identität steht nicht für das Subjektive, nur einem Einzelnen zukommende, sondern, indem sie die Hereinnahme der Umwelt ins Ich bedeutet, für das »gesellschaftlich Allgemeine«11. Zu einem Verständnis und zu einem Bewusstsein seiner selbst zu gelangen, heisst immer, Teil eines sozialen Kontexts – einer sozialen Gruppe, einer Gesellschaft, einer Kultur – zu werden und an einer bestimmten ›Weltsicht‹ zu partizipieren und deren Orientierungsund Wertschemata zu übernehmen. Mead hat für die aus der Gemeinschaft hervorgehende individuelle Identität den Begriff des ›generalisierten Anderen‹ (›generalized other‹) in die identitätstheoretische Diskussion eingeführt.12 Die Herausbildung der Ich-Identität auf der Basis von Sozialität ist von grundlegender Natur. Wo immer man auf Interaktionsgemeinschaften trifft, findet man den beschriebenen Vorgang der Objektivierung des Selbst durch »Spiegelung« im anderen. Während damit die Genese von Identität in ihrer durch die Gattung gegebenen Grundstruktur identifiziert ist und mit ihr auch Individualität als Konzept, insofern als sich das Individuum in diesem Prozess objektivierend selbst gegenübertritt und sich so als von den anderen unterschieden erkennt und wahrnimmt, sind die Möglichkeiten der Individuen, sich selbst als solche in ihrer Individualität zu thematisieren, im historischen Zeitlauf einem Wandel unterworfen. Zum Zweck des Auseinanderhaltens dieser beiden wesentlichen konzeptionellen Aspekte innerhalb der Individualisierungsdiskussion unterscheidet Alois Hahn zwischen Lebenslauf und Biographie. Der Lebenslauf ist universal. Er ergibt sich – wie das Wort suggeriert – aus dem kontinuierlichen Lauf des Lebens in dessen unendlicher Ereignishaftigkeit: »Der Lebenslauf ist eine Gesamtheit von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen.«13 Er hat ein Selbst zum Gegenstand, das nicht das Resultat sozialer Zurechnungen ist. Das Selbst ist auf der Ebene des Lebenslaufs vielmehr »blosses Lebenslaufresultat«14. Auch der Lebenslauf entfaltet sich zumindest zum Teil vor dem Hintergrund beziehungsweise auf der Grundlage sozialen Handelns, denn er lässt sich gerade dadurch charakterisieren, dass er alle Erlebnisse und Handlungen, die 10 | Siehe dazu auch Soeffner (1983). 11 | Soeffner (1983), 17. 12 | Mead (1967), 152ff. 13 | Hahn (1987), 12. 14 | Hahn (1987), 12.
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jeweils von Augenblick zu Augenblick entstehen und vergehen, ausnahmslos umfasst. Hahn führt dazu den Begriff des ›impliziten‹ Selbst ein: »Einmal nämlich ergibt sich eine Identität als Inbegriff von im Laufe des Lebens erworbenen Gewohnheiten, Dispositionen, Erfahrungen usw., die das Individuum prägen und charakterisieren. Man könnte vom Ich als einem Habitusensemble sprechen. Es geht dann um ein eher »implizites« Selbst, das sich durch sein Handeln zeigt, festigt und verwirklicht, das aber nicht deshalb schon im eigentlichen Sinne selbstreflexiv ist. Die Identität in diesem Sinne wäre lediglich das Selbst in der Form des An-Sich.«15 Davon zu unterscheiden ist das ›explizite‹ Selbst. Es handelt sich dabei um »ein Ich, das seine Selbstheit ausdrücklich macht, sie als solche zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation erhebt«16. Demnach haben wir es mit einem Selbst zu tun, das durch soziale Zuschreibungen entsteht. Ein solches Selbst konstituiert sich nicht mehr aus allen Elementen seines Lebenslaufs, sondern es entwickelt eine Selbstsicht, die durch die soziale Gruppe beziehungsweise durch die sozialen Gruppen, in denen es sich bewegt, geformt wird. In Anlehnung an Mead und dessen Konzept der Übernahme von Fremdperspektiven sieht Hahn dieses Selbst als etwas, das sich über die Zeit hinweg mithilfe der ihm durch die soziale Gruppe zugeschriebenen Akte als ein Identisch-Bestehendes zu begreifen lernt. Die Gruppe erinnert die Handlungen in einer bestimmten zeitlichen Abfolge. Es ist damit die Gruppe, die letztlich auf der Grundlage dessen, was sie für »gedächtniswürdig« (Hahn) hält, verantwortlich dafür ist, was dem Handelnden als seine Vergangenheit zugeschrieben wird. Damit lernt der Einzelne, sich gewissermassen mit den Augen der Gruppe zu sehen. Auf der Grundlage sozialer Zurechnungen kann er sich nun selbst zum Gegenstand der Kommunikation machen und sich in einer bestimmten Weise darstellen. Er entwickelt ein Bild von sich. Was jedoch leicht als Akt der Selbstkreation erscheinen könnte, bleibt angewiesen auf die jeweils in einem bestimmten sozialen Kontext zu einer bestimmten Zeit gegebenen Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Es handelt sich um eine Abstraktion vom reinen Lebenslauf, die Abstraktionsleistung ist jedoch nicht individuell: »Das Selbstbild als Resultat von zurechnungsfähigen Selbstäusserungen ist stets durch einen bestimmten Aufbau charakterisiert, einen Zusammenhang, in den Wertvorstellungen, Wirklichkeitsauffassungen, Richtigkeits- und Wichtigkeitskriterien der 15 | Hahn (1987), 10. 16 | Hahn (1987), 10.
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58 | »New World Horizon« umgebenden Gesellschaft eingehen. Der Sinn, den meine Identität darstellt, ist also von Anfang an verwoben mit einem Sinn, der nicht von mir stammt. Welche meiner Akte ich nicht vergesse, welche mir nicht vergessen werden, welche Akte und Erlebnisse also zu mir gehören, ergibt sich einerseits aus Sinnzusammenhängen, die die soziale Gruppe schon zugrunde legte, bevor ich geboren wurde, andererseits aber auch aus den Darstellungsgelegenheiten, die die Gruppe zur Verfügung hält, in denen ein Individuum sich in sozial zurechnungsfähiger Form »ausdrückt«.«17 Unter Rückgriff auf die durch die soziale Gruppe zur Verfügung gestellten, historisch und kulturell relativen semantischen und symbolischen Mittel können Individuen sich selbst als solche darstellen. Im Gegensatz zum ›impliziten‹ Selbst drückt das ›explizite‹ Selbst seine Selbstheit aus. Dabei bezieht es sich auf soziale Zuschreibungen, auf Bilder, die durch den Prozess der Übernahme fremder Perspektiven verfügbar werden. Diese Bilder sind immer weniger als der ganze Lebens- und Handlungszusammenhang in seiner fast endlosen Vielfalt der Verknüpfungen. Es handelt sich um abstrahierende Vereinfachungen. Ohne sie wäre Kommunikation kaum möglich, da sie über kein Strukturierungsprinzip in Form von möglichen Selektionen verfügen würde. Nun hängen diese Bilder, wie Hahn gezeigt hat, wesentlich von institutionellen Zusammenhängen ab, die die Individuen mit den entsprechenden Selbstthematisierungsmöglichkeiten als den je historisch-kulturell variablen Ausdrucksformen versehen. Institutionalisierte Möglichkeiten der Selbstthematisierung sind entweder an den situativen Kontext gebunden oder sie verweisen auf eine Zeitspanne, die bis zur Biographie als Ganzes ausgedehnt werden kann. Situationale Selbstthematisierungen erlauben dabei noch nicht, das Selbst als Ganzheit, sondern bloss fallweise zum Thema der Darstellung zu machen. Das Individuum gibt dabei zu erkennen, dass es mehr ist als dasjenige, was situativ gerade als es erscheint. Selbstdarstellung im situativen Fall bleibt an den Handlungsfluss gebunden beziehungsweise in ihn integriert. Gemäss Hahn handelt es sich dabei noch nicht um ein umfassendes Bekenntnis zur eigenen Person: »Trotzdem ist hier schon mehr als die bloss implizite Selbstpräsenz sichtbar. Wenn auch mit knappen Zeichen, durch einige handlungsbegleitende Worte, Gesten oder Arrangements verweist der Handelnde absichtlich auf situationsübergreifende Selbstbezü-
17 | Hahn (1987), 11.
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ge.«18 Während sozial geprägte An-Sich-Formen der Identität ebenso wie situative Selbstdarstellungen historisch universal sind, trifft das auf die eigentliche biographische Selbstreflexion nicht zu. Geht es nicht um situationale Selbstthematisierungen, sondern um biographische Gesamtdarstellungen, die aus dem blossen Lebenslauf eine Vita machen und die entsprechenden Symboliken bereitstellen, haben wir es mit bestimmten sozialen Institutionen der Darstellungsform zu tun, die Hahn ›Biographiegeneratoren‹19 nennt. Diese Generatoren erlauben die Rückbesinnung auf das eigene Dasein und geben der biographischen Selbstreflexion eine bestimmte Richtung. Es war und ist nicht zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften möglich, überhaupt über Biographie zu reden, sie zum Thema der Kommunikation zu machen. Nicht überall spielt das Ganze eines Einzellebens in chronologischer Abfolge eine Rolle. Möglichkeiten der umfassenden symbolischen Selbstthematisierung der Biographie finden sich vor allem in den europäischen Gesellschaften seit dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Als Biographiegeneratoren institutionalisiert haben sie sich beispielsweise in Form von Beichte20, Psychoanalyse, Tagebuch und Memoiren, aber auch als medizinische Anamnese und als Geständnis vor Gericht, sowie – eine neuere Errungenschaft, auf die Hahn hinweist – als biographisches Interview in den Sozialwissenschaften.21 Biographiegeneratoren generieren Biographien. Die Biographie wird dabei erschlossen beziehungsweise überhaupt erst »geschaffen«, indem sich bestimmte Schemata herausbilden, mithilfe derer auf den unstrukturierten, unendlichen Erlebnis- und Handlungsstrom zugegriffen wird. Schemata erlauben das Herstellen von Anschlüssen für weiteres Erleben und Handeln, indem sie die Bezugspunkte für diese Anschlüsse bestimmen.22 Schematisierungen machen Wirklichkeit ausschnittweise zugänglich und ermöglichen so 18 | Hahn (1987), 12. 19 | Hahn (1987), 12. 20 | Siehe dazu vor allem Alois Hahn, 1982, Zur Soziologie der Beichte
und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 407-434, sowie Alois Hahn, Herbert Willems, 1993, Schuld und Bekenntnis in Beichte und Therapie, in: Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann, Hg., Religion und Kultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, Opladen. 21 | Hahn (1987), 12. 22 | Hahn (1987), 13.
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60 | »New World Horizon« überhaupt die Interaktion mit anderen, indem sie aufgrund ihrer typisierenden Leistung Orientierung stiften und Erwartungssicherheit im Umgang mit anderen herstellen. So kann etwa die Identitätszuschreibung durch einen Namen »die Kommunikation gegen die Überfülle komplexer Wirklichkeiten und Möglichkeiten meiner ›empirischen‹ raum-zeitlichen Existenz«23 immunisieren. Die Handlungskomplexität reduzierenden biographischen Schemata unterscheiden sich je nach Gesellschaft in ihren Anforderungen an die Konsistenz des durch sie ausgedrückten zeitlich strukturierten Identitätszusammenhangs. Für den europäischen Kontext lässt sich dabei zeigen, dass erst in kulturgeschichtlich jüngerer Zeit überhaupt umfassende, Konsistenz fordernde biographische Schemata zur Verfügung stehen, die durch Biographiegeneratoren Wirkung entfalten. Zu denken ist hier etwa an die Institution der Beichte, aber auch an die psychoanalytische Couch. Bei der schematisierten Biographie handelt es sich entsprechend um ein historisches Phänomen jüngeren Datums. Sowohl einerseits spezifische Ausdrucksweisen wie andererseits auch die je besonderen institutionellen Kontexte – religiös, gerichtlich, medizinisch-therapeutisch, beruflich, privat, wissenschaftlich oder ästhetisch – bestimmen dabei die Selektionsmuster der Identitätskonstruktion. Für alle diese Bereiche ist wesentlich, dass – so Hahn – die Steigerung der Konsistenzanforderungen erstmals »so etwas wie die Frage nach dem Sinn des Daseins als ganzem« ermöglicht. Auch werden bestimmte Thematisierungsebenen festgelegt: äusseres oder inneres, Gefühle mitberücksichtigendes Handeln? Einmalige Ereignisse oder Alltagskontinuität? Konstanz des Charakters oder Entwicklung?24 Wie immer auch diese Fragen letztlich beantwortet werden, zeigen sie vor allem, dass Identität zunehmend reflexiv wird. Eine für das Ganze stehende Selbstabstraktion ist dabei das Ergebnis. Unter kulturgeschichtlichem Blickwinkel hat dies schliesslich auch den Effekt, dass sich die Individuen zunehmend stärker ausgebildeten Mechanismen der Selbstkontrolle unterworfen sehen.25 Biographiegeneratoren machen individuelle Identität in der Form von Biographie thematisierbar. Darin lässt sich die für die moderne individuelle Identität dominante Form der Selbstthematisierung er23 | Hahn (1987), 14. 24 | Hahn (1987), 17. 25 | Siehe auch Norbert Elias, 1990, Über den Prozess der Zivilisation.
Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt am Main.
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kennen. Moderne Identitätskonstrukte nehmen auf der individuellen Ebene typischerweise die Form der Biographie an. Doch ist damit noch nicht viel mehr als ein weit offenes Feld abgesteckt, innerhalb dessen sich Individuen selbst definieren können. Freilich sind die entsprechenden Möglichkeiten dazu nicht unendlich, sondern jeweils durch die historische Lage begrenzt. Soeffner führt, um diesen Sachverhalt theoretisch zu fassen, das Konzept des Individualitätstypus ein. Darunter sind besondere historische Ausformungen von Vorstellungen zu verstehen, die einzelne Individuen auf sich anwenden können. Sie bilden ein entweder explizites oder implizites kollektives Wissen, das die Interpretationsmuster für das eigene Leben zur Verfügung hält. In den Individualitätstypen einer bestimmten historischen Epoche finden die Einzelnen die symbolischen Mittel, typische Charaktere und typische Haltungen für sich selbst zu reklamieren. Als »Lebensverlaufs- und Lebensinterpretationsmuster« kulminieren sie – so Soeffner – »in historisch typisierten und demonstrierten Lebensentwürfen und typisierter Lebensführung (der Hellene, das Genie, das an sich selbst leidende Subjekt)«26. Während persönliche Identität und die Möglichkeit zur Individualität, das heisst zur Fähigkeit, sich selbst reflexiv und dadurch als von anderen und von der Umwelt verschieden wahrzunehmen, dem Menschen auf der Grundlage seiner Sozialität per se zukommen, somit historisch universal sind, verweist der Individualitätstypus auf die historische und kulturelle Variabilität der Form von Individualität. Individualität lässt sich nur typisierend thematisieren, und die Art und Weise, wie dies getan wird, war und ist nicht überall die gleiche. Erst durch die Geschichte konkretisieren sich bestimmte Muster des Selbstbezugs und des immer damit einhergehenden Bezugs zu anderen. Was erklärungsbedürftig bleibt, ist nicht die gattungsbestimmte Struktur von persönlicher Identität – hier würde es sich anthropologisch grundlegend um die Analyse von sozialisatorischen Interaktionsprozessen und um die Aneignungsweisen von Symbolstrukturen handeln –, sondern Struktur und Herkunft der Symbole selbst, auf die Individuen zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten kulturellen Bedingungen zurückgreifen können. Es geht darum, »historische Begründungen für die historisch unterschiedlichen Ausprägungen und Artikulationsformen einer universalen Struktur zu diskutieren«27. Dies führt zurück zu Hahns Biographiegeneratoren. In den Biographien, die durch sie hervorgebracht werden und die sich an be26 | Soeffner (1983), 31. 27 | Soeffner (1983), 16.
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62 | »New World Horizon« stimmten biographischen Schemata orientieren, spiegeln sich die Typen der Individualität, die als Rahmen mögliche Selbstbeschreibungen zu einer gegebenen Zeit eingrenzen und aufgrund derer aus der unendlichen Fülle an Elementen des Lebenslaufs dasjenige selektioniert wird, wofür entsprechende zeitspezifische Darstellungsmuster vorhanden sind. In ihnen spiegeln sich »nicht nur die Interaktionsgeschichten und Strukturen der Teilhabe an Interaktionsgemeinschaften wider, sondern auch das System sozialer Kategorien und Typisierungen, das der einzelne in diesen Interaktionsgemeinschaften vorfindet, das ihm vorgegeben ist«28. Die inhaltliche Ausformung eines Identitätstypus und damit auch eines Individualitätstypus ist – so Soeffner – eine Frage nach der Teilhabe an Interaktionsgemeinschaften und nach den sozialen Kategorien der biographischen Artikulation.29 Soeffner spricht demnach von ›Sinnbildungsstilen‹, die von historisch spezifischen Identitätstypen in ihrer Form als zeichenhaft gefasste Darstellungs- und sinnerschliessende Interpretationsschemata repräsentiert werden: »unterschiedliche Formen der Individuierung und der Bewusstheit von Gesellschaftsmitgliedern über eigene Aktionen und Reaktionen gegenüber anderen, Gruppen, Gemeinschaften und dem eigenen Selbst«30. Die historische Entwicklung hat – so zeigt die entsprechende Forschung – seit dem ausgehenden Mittelalter und in der Neuzeit zunehmend Individualitätstypen bevorzugt, deren Struktur sich an der Biographie und an der Autobiographie als deren Spezialform orientiert.31 Die in der Biographie die Form ihres Ausdrucks findende Individualität wird in der Moderne – vor allem in Europa – zum Symbol für ein Individuum, das sein »wahres Wesen« in der Innerlichkeit des Ich und in der Besonderheit eines nur einmal sich genau so entfaltenden Lebenslaufs sucht. Sie wird damit zugleich auch – als zentrales Element des sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskur-
28 | Soeffner (1983), 22. 29 | Soeffner (1983), 21. 30 | Soeffner (1983), 23. 31 | Georg Misch, 1969, Geschichte der Autobiographie, 4. Bd., 2. Hälf-
te: Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main. Vgl. auch Volker Kapp, 1987, Von der Autobiographie zum Tagebuch (Rousseau – Constant), in: Alois Hahn, Volker Kapp, Hg., Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main.
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ses – zum Symbol für die moderne Gesellschaft schlechthin, die sich in diesem selbst beschreibt und repräsentiert.32 Die Biographie ist das Mittel, mit dem der ›blosse‹ Lebenslauf zum Thema gemacht werden kann. In ihr steigert sich der Grad an Selbstreflexion, der in einer Gesellschaft möglich ist. Auf der Grundlage sich entwickelnder Möglichkeiten der selbstreflexiven Thematisierung und Darstellung des Ich bildet sich die für die Moderne charakteristische Einzigartigkeit des Subjekts heraus. Das Individuum, das sich mit der ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr als Ganzes verrechnen lässt, stilisiert sich nun als eigene »Einheit« in Absetzung von der Gesellschaft. Gesellschaft ist dann nicht Individuum, und Individuum ist nicht Gesellschaft. Damit sind zwei sich ausschliessende, wenn auch sich gegenseitig bedingende Grundgrössen der Soziologie und der gesellschaftlichen Wahrnehmung überhaupt ins Leben gerufen. Cornelia Bohn und Alois Hahn verstehen Individualität entsprechend als eine Form der Schliessung, die das Besondere vom Allgemeinen und Individuen von anderen Individuen unterscheidet.33 Die Konstitution von Individualität und die sie thematisierende biographische Identität lenken den Blick schliesslich auch auf das in diesem Zusammenhang wesentliche Problem der Zeitstrukturen. Biographie meint die Gesamtheit des Lebens als Gesamtdauer, die sich durch die einzelnen durchlebten Augenblicke hindurch »aufbaut«. Jeder Augenblick und damit jede Situation, in der sich das Individuum wiederfindet, ist ein Teil des Ganzen – das Ganze baut sich über die Teile auf und ist ohne diese nicht vorstellbar. Der einzelne Teil allein enthält jedoch umgekehrt nie das Ganze, solange sich das Ganze vorzu im Prozess seiner Formierung befindet und erst ab32 | Dabei reklamiert die Soziologie das Thema der gesellschaftlichen
Integration der Individuen und damit das Thema der Gemeinschaftlichkeit und des sozialen Bandes als eines ihrer Kernthemen für sich und hat entsprechend verschiedene theoretische Modelle entwickelt, um hier ihrem Erklärungsanspruch gerecht zu werden, vgl. Bernhard Giesen, 1999, Identität und Versachlichung: unterschiedliche Theorieperspektiven auf kollektive Identität, in: Herbert Willems, Alois Hahn, Hg., Identität und Moderne, Frankfurt am Main, 389ff. 33 | Und Identität wird sodann als Beschreibung von Individualität auf-
gefasst, siehe Cornelia Bohn, Alois Hahn, 1999, Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft, in: Herbert Willems, Alois Hahn, Hg., Identität und Moderne, Frankfurt am Main, 36.
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64 | »New World Horizon« geschlossen ist, wenn die Biographie selbst im Tod an ihr Ende kommt.34 Damit steht die Biographie unter dem Zeichen der Zeit. Sie erhält eine besondere Dynamik, indem der Lebenslauf als Ereignissequenz sich vorzu, von Ereignis zu Ereignis, in die Zukunft hinein entfaltet. Für diesen Ereignisablauf müssen Deutungsmuster zur Verfügung stehen, mithilfe derer man ihm Sinn abgewinnen kann und die Einzelheiten miteinander in sinnvolle Verbindung gebracht werden können. Biographiegeneratoren erfüllen diese Funktion, indem sie solche Deutungsmuster bereitstellen. Biographie öffnet sich damit in der Moderne immer mehr der Zeitdimension der Zukunft als dem Erwartungshorizont, den man immer vor sich »herschiebt«.35 Individualität lässt sich dann nicht als Zustand fassen. Vielmehr ist sie eine »Verlaufsform bzw. eine auf Entfaltung gerichtete Struktur; nicht inhaltlich bestimmbar, sondern prinzipiell auf eine offene Zukunft hin angelegt, in der sich alles ändern kann. Anders gesagt: Individualität konstituiert immer auch Emergenz; es gibt keine verbindliche Festlegung auf einen wie auch immer gearteten Zustand.«36 Offenheit und Unbestimmtheit, die dadurch für den Einzelnen entstehen und eine anomische Grundbefindlichkeit auslösen können, lassen sich auffangen durch die Ordnungsleistung des Biographiegenerators, der das Leben auf einen Fluchtpunkt hin ausrichten kann – zum Beispiel als »Selbstverwirklichung« oder im Fall der Beichte auf Sündenerlass und auf Erlösung im ewigen Leben. Die zugrunde liegende Mitteilungsform wird dabei oft durch eine bestimmte narrative Struktur gebildet, die den die ganze Biographie umgreifenden Zusammenhang der Einzelereignisse herstellt.37 34 | Für den Tod gilt das gleiche. Er ist nicht mehr Sinn und Ziel des
Lebens, sondern seinerseits ein Einzelereignis, das seinen Sinn aus dem Leben heraus erhält. Siehe dazu Hahn (1982), 422, der diese neue Wahrnehmung des Todes im Kontext der puritanischen Heilslehre und des Aufkommens des modernen Romans erörtert. 35 | Vgl. Reinhart Koselleck, 1992, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungs-
horizont‹ – zwei historische Kategorien, in ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main. 36 | Martin Kohli, 1988, Normalbiographie und Individualität: Zur insti-
tutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes, in: Hanns-Georg Brose, Bruno Hildenbrand, Hg., Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen, 39f. 37 | Zur Verzeitlichung der Selbstdarstellung im Rahmen gesellschaftli-
cher Komplexitätssteigerungen siehe auch Alois Hahn, 1988, Biographie und
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Noch ist die Frage nicht beantwortet, wie es zu einer solchen Situation der Dynamisierung des Selbst in der Biographie überhaupt kommen konnte. Woher kommt das gesteigerte Interesse an der Biographie, sei es an der eigenen oder aber an derjenigen der anderen?38 Die Beantwortung dieser Frage zielt auf eine historische Rekonstruktion der gesellschaftsstrukturellen Veränderungen in ihrem Zusammenspiel mit entsprechenden semantischen Transformationen, die den hier gegebenen Rahmen sprengen würde und entsprechend im Folgenden nur in oberflächlichem Zugriff geleistet werden kann. Sie verdient jedoch besonders vor dem Hintergrund der jüngeren Individualisierungsdiskussion vor allem im deutschsprachigen Raum einige Aufmerksamkeit. Manche der an dieser Diskussion beteiligten Autoren sehen das Individuum heute zunehmend vor die Aufgabe gestellt, sich situationsgerecht und den Erfordernissen wechselnder Kontexte entsprechend immer wieder neue Identitäten »zusammenzubasteln«, gleichsam als »Do-It-Yourself-Werkler, der eben immer aus dem, was ihm gerade so zur Verfügung steht, oder was sich ohne allzu hohe ›Kosten‹ besorgen lässt, ›irgendwie‹ und ›ungefähr‹ das zusammenmontiert, was ihm je gerade wünschenswert, brauchbar, nützlich oder nötig erscheint«39. Auch Hahn sieht das Individuum, Religion, in: Hans-Georg Soeffner, Hg., Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen. Vgl. auch Martin Kohli, 1986, Gesellschaftszeit und Lebenszeit. Der Lebenslauf im Strukturwandel der Moderne, in: Johannes Berger, Hg., Die Moderne – Kontinuitäten und Zäsuren, Soziale Welt, Sonderband 4, Göttingen. 38 | Man führe sich nur – als ein Beispiel dieses Interesses – die unge-
bremste Publikation von Biographien und Autobiographien vor allem im angelsächsischen Raum vor Augen. 39 | Hitzler (1999a), 357. Siehe auch Ronald Hitzler, Anne Honer, 1994,
Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim, Hg., Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main; Ronald Hitzler, 1994, Sinnbasteln. Zur subjektiven Aneignung von Lebensstilen, in: Ingo Mörth, Gerhard Fröhlich, Hg., Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt, New York; Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim, 1994, Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies., Hg., Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main. Das entsprechende soziologische Forschungsprogramm fasst Hitzler zusammen: »Die in allen möglichen ›Soziotopen‹ sich entwickelnden habituellen Eigen- und Besonderheiten, die
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66 | »New World Horizon« zumindest so wie es uns in der progressiven literarischen Produktion entgegentritt, »als unverwechselbare, über längere Zeitstrecken für sich selbst verantwortliche Einheit« als »weitgehend zerstückt« an.40 Er zieht in Betracht, dass die Geschwindigkeit des sozialen Wandels und die Komplexität der Systemstrukturen zu gross sind, als dass die Anpassung daran dem Individuum (bzw. seiner Persönlichkeit oder seinem Charakter als inhaltlich fester Struktur) über längere Dauer hinweg noch gelingen könnte. Der Einzelne sieht sich nicht mehr nur mit einer einzelnen, sondern mit einer Vielzahl von Gruppen konfrontiert, in denen ein je anderes Selbst thematisch wird. Damit wird der eine Zeitstrom der Biographie gebrochen. Selbstthematisierungen verschwinden allerdings deswegen nicht, sie verändern jedoch ihren Charakter. Es kommt zu einer Privatisierung des Selbst, das nach aussen immer nur in Facetten in Erscheinung tritt, das dem Einzelnen jedoch, da er die Vielheit der Facetten eher zu einem Ganzen zusammenzusetzen vermag oder darum zumindest bemüht ist und den Zusammenhang der Identitäten eher erkennt oder besser vielleicht: zu erkennen versucht, einheitlicher erscheint, als dies der Umwelt jeweils möglich ist, die immer nur einen Ausschnitt der Person zu Gesicht bekommt. Damit einhergeht eine Pluralisierung der Techniken der Identitätsbildung, die fallweise Sinnstiftung ermöglicht. Ein selektiver, durch die Erfordernisse der gerade aktuellen Gegenwart gegebener Zugriff auf Vergangenheit verlangt nun auch das Vergessen des Disparaten anstelle etwa des in der Beichtkultur zentralen Bekennens. Und die eine in sich stimmige Biographie macht einer Vielzahl von Neuanfängen und Neuentwürfen Platz41: »War einst die Beichte das Vehikel der Festlegung des Ichs auf seine Inhalte, so stehen die neuen Bekenntnisformen eher im Dienst der Dyspeziellen Praktiken und Riten, die identitätsstiftenden Emblematiken und Symboliken, die Relevanzsysteme und Wissensbestände, die Deutungsschemata und Distinktionsmarkierungen werden zu zentralen Gegenständen einer individualisierungstheoretisch orientierten Diagnose des Wandels der modernen Gegenwartsgesellschaft.« Siehe Ronald Hitzler, 1999, Die ›Entdeckung‹ der Lebens-Welten. Individualisierung im sozialen Wandel, in: Herbert Willems, Alois Hahn, Hg., Identität und Moderne, Frankfurt am Main, 244f. 40 | Hahn (1982), 428. 41 | Vgl. zur Aufgabe der selbstgestalterischen Inszenierung der Indivi-
duen auch Hansfried Kellner, Frank Heuberger, 1988, Zur Rationalität der »Postmoderne« und ihrer Träger, in: Hans-Georg Soeffner, Hg., Kultur und Alltag, Soziale Welt, Sonderband 6, Göttingen.
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namisierung des Selbst angesichts fremderzeugten Anpassungsdrucks. Was man von totalitären Régimes behauptet hat, dass sie ihre Geschichte ständig neu schrieben, das gilt auch für das moderne Individuum und die Inhalte seiner Bekenntnisse. Dieser Wechsel der Selbstdefinitionen wird dann selbst als Teil der Autonomie des Individuums erfahren, das sein Leben (genauer: sein Privatleben) schlechthin subjektiv interpretieren kann. In dem Masse, wie unser Ich an objektiv verbindlicher Verpflichtung verliert, wird es für uns zum narzisstisch empfundenen Quellgrund immer neuer, stets interessanter Romane.«42 Ein – an ausgewählten Beispielen orientierter und damit selektiver – Blick zurück in die Geschichte kann zumindest ansatzweise Aufschlüsse darüber geben, aus welchen Zusammenhängen heraus sich dieses »hochmoderne« Selbst im Verlaufe der Zeit formiert hat.
2.2 ›Individuum‹: ein Blick auf seine historische Genese Das Individuum, so lässt sich ohne grosse Schwierigkeiten und ohne dass viel Widerspruch zu erwarten wäre, argumentieren, ist das eigentliche Kernstück des modernen Weltverständnisses. Es ist das Konstituens der Moderne und ihres Selbstverständnisses schlechthin. Wer sich mit der modernen Gesellschaft beschäftigt, handelt sich dabei immer in irgendeiner Form auch das Problem ein, dass er das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv, von Individuum und Gesellschaft zumindest versuchsweise (er-)klären muss. Man kann dabei die moderne Gesellschaft unter mancherlei Aspekten beschreiben und unterschiedlich charakterisieren: als funktional differenzierte Gesellschaft im Gegensatz zu einer ständisch integrierten Gemeinschaft, als Zusammenschluss im Rahmen einer Nation, als ›Risiko-‹ oder ›Erlebnisgesellschaft‹ oder heute immer mehr auch als globalisierte ›Weltgesellschaft‹. Die sich die Diagnose der Zeit zur Aufgabe machende Wissenschaft ist kaum verlegen um neue Formeln im Angebot ihrer Gesellschaftsetiketten.43 Alle diese Beschreibungen entfalten sich immer auch vor dem Hintergrund der Frage nach dem Ort des handelnden Einzelnen im Rahmen der strukturell und kulturell typischen Gegebenheiten moderner Gesellschaften. So 42 | Hahn (1982), 430. 43 | Vgl. Axel Honneth, 1994, Desintegration. Bruchstücke einer sozio-
logischen Zeitdiagnose, 7f.
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68 | »New World Horizon« hat man es – wählt man, wie in der Soziologie üblich, funktionale Differenzierung als Ausgangspunkt – letztlich zu tun mit der Exklusion des Individuums aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang beziehungsweise mit einer gemessen an den gesellschaftlichen Subsystemen strukturalen Aussenstellung des Individuums und mit den besonderen Problemen, die sich aus dieser Lage für die Identitätsbildung ergeben.44 Die Nation beispielsweise zielt dann auf die Integration der durch die strukturellen Entwicklungen freigesetzten, in der Moderne aus einem übergeordneten Weltzusammenhang entlassenen und in die nationalstaatliche Gemeinschaft einzubindenden Einzelnen. Inklusion des Exkludierten ist dementsprechend das Thema.45 Der Hintergrund jeder intellektuellen Auseinandersetzung mit der modernen Welt scheint der individuelle Mensch zu sein.46 Das ist nicht erstaunlich, wenn man an die Einrückung des Menschen ins Zentrum des Kosmos denkt, wie sie prononciert seit der Renaissance zum Thema gemacht und über das aufklärerische Denken bis in die späte Moderne hinein vermittelt worden ist, bis schliesslich die Überzeugungskraft dieser Vorstellung an der Wende zum 19. Jahrhundert gebrochen und die Individualitätsvorstellungen in neue Formen übergeleitet wurden. So drückt sich in der Geistesgeschichte der westlichen Neuzeit ein Bemühen aus, das, was dieses Individuum »ausmacht«, in den Griff zu bekommen – ein Bemühen wie es älteren Zeiten fremd war. Wohl lassen sich die Spuren von Individualität und Subjektivität zurückverfolgen bis ins klassische Griechenland, und selbst die Helden Homers haben in den meisten Fällen 44 | Luhmann (1993). 45 | Vgl. Bernhard Giesen, Kay Junge, 1991, Vom Patriotismus zum Na-
tionalismus. Zur Evolution der »Deutschen Kulturnation«, in: Bernhard Giesen, Hg., Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt am Main. 46 | Insofern wäre die Behauptung von Beck/Beck-Gernsheim zu relati-
vieren, dass das Denken in grossen Einheiten historisch die Grundkonstante der Sozialtheorie sei und dass es entsprechend an der Zeit sei, auf das Individuum umzustellen. Das ist längst geschehen, wie gerade die das Individuum problematisierenden, am gesellschaftlichen Ganzen und seinem Zusammenhalt interessierten ›klassischen‹ Gesellschaftstheoretiker deutlich machen (Durkheim, Simmel, indirekt auch Weber), vgl. Beck/Beck-Gernsheim (1994), 26ff. Die Sensibilisierung für die problematisch gewordene Stellung des Individuums innerhalb der modernen Gesellschaft ist dabei Ausgangspunkt der Thematisierung des gesellschaftlichen Ganzen.
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nicht gerade unter mangelndem Selbstwertgefühl gelitten. Aber der Blick zurück unter dem Gesichtspunkt solcher Kategorien wie ›Selbstwertgefühl‹ oder – als Gegenstück – ›Minderwertigkeitskomplex‹ kann sich selbst als moderner blinder Fleck entlarven, welcher uns Phänomene in ferner Vergangenheit »entdecken« lässt, die kaum in der Sichtweise und im ›Weltbild‹ unserer Vorfahren abrufbar gewesen sein dürften. Jedenfalls macht der Stand der Forschung mittlerweile deutlich, dass das auf sich selbst gestellte, vergleichsweise isoliert dastehende und sich gegen die und in Absetzung von der Gemeinschaft definierende Individuum der Vormoderne so nicht bekannt war. Die Philosophie der Antike kannte kaum einen Begriff des Ich. Er scheint zwar durch andere Begriffe hindurch, so etwa durch den Begriff der Seele, des Leibes, der Selbstanschauung und des Bewusstseins.47 Die aristotelische Vernunft kann sich selbst jedoch nur mittelbar auf dem Umweg des jeweils Gedachten denken. Auch das Mittelalter kennt, was das philosophische Denken betrifft, keinen eigentlichen Ich-Begriff, bei dem sich das Ich durch sich selbst als sich selbst erkennen könnte. Für Thomas von Aquin ebenso wie für Nikolaus von Kues erkennt sich die Seele nur auf dem Umweg ihrer Akte, nicht in ihrem An-Sich. Und der menschliche Geist erkennt die ewige Wahrheit und seine Teilhabe an ihr, indem er sich selbst als Instrument einsetzt und auf sich selber blickt.48 Erst mit Descartes hat das philosophische Denken schliesslich einen distinkten Begriff des Ich zur Verfügung. Auch wenn es nicht zur Herausbildung eines fest umschriebenen Begriffs des Ich gekommen ist, so hat die Philosophie der Antike doch wesentliche Grundlagen geschaffen, die es schliesslich dem nachfolgenden philosophischen Denken ermöglichten, mit einem klarer ausgearbeiteten, pointierteren Verständnis von Individualität aufzuwarten. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Platon eine entscheidende Rolle zu. Sein Werk stellt nicht nur einen wichtigen Schritt für die Moralphilosophie dar, sondern macht uns auch vertraut mit einem bestimmten Verständnis des Selbst. Charles Taylor geht in seiner detaillierten Studie zu den historisch-philosophischen Ursprüngen des modernen Selbst so weit, an der Möglichkeit der Herausbildung moderner Konzepte von Innerlichkeit überhaupt zu zweifeln, hätte Platon dazu nicht entscheidende Vorarbeit geleis47 | Ich, 1976, in: Historisches Wörterbuch des Philosophie, Bd. 4, Sp.1. 48 | Ich (1976), Sp. 1.
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70 | »New World Horizon« tet.49 Seine Vernunftethik hat ein neues Verständnis des Handelnden zur Folge. Ein Blick zurück auf Homer und seine Helden zeigt, wie neuartig sich die Situation bei Platon präsentiert.50 Was den homerischen Helden zu fehlen scheint, ist ein eindeutiger, klar definierter Ort, dem sich Gedanken und Gefühle zurechnen liessen – eine »Lokalität« für die Seele gewissermassen oder für das Bewusstsein. Ausdrücke, die unseren Worten ›Bewusstsein‹ oder ›Seele‹ in ihrer nach-platonischen Bedeutung entsprechen würden, finden sich in den homerischen Epen keine. Die ›psyche‹ bei Homer stellt so etwas wie eine Lebenskraft dar, die dem Körper im Moment des Todes entflieht, und impliziert keinen bestimmten oder irgendwie bestimmbaren Ort des Denkens oder Fühlens. Diese Lebenskraft wird vielmehr verschiedenen Körperteilen und -regionen zugeordnet, und es bleibt anatomisch und topographisch meist unklar, wo sich was abspielt. Auch ist bekannt, dass die homerischen Helden des Öftern mal von der Macht der Götter heimgesucht werden – im Guten wie im Schlechten. Es ist gerade dieses Einwirken von aussen, was den Helden letztlich zum Helden macht: »A great hero remains great, though his impressive deeds are powered by the god’s infusion of energy. Indeed, there is no concession here; it is not that the hero remains great despite the divine help. It is an inseparable part of his greatness that he is such a locus of divine action.«51 Damit wirken die homerischen Helden jedoch für unsereins merkwürdig unselbständig, manchmal geradezu etwas kindlich in ihrer Abhängigkeit von den ihrerseits in ihrem Verhalten sehr menschenähnlichen Göttern und von deren Idiosynkrasien. Sie treten jedoch vor allem – worauf es hier ankommt – nicht als in sich geschlossene Einheiten auf, denen moralische Verantwortung für ihr Handeln klar zugeschrieben werden könnte, sondern als in sich fragmentiert, mit einer Dominanz des Einzelnen über das Ganze: »To the modern, this fragmentation, and the seeming confusion about merit and responsibility, are very puzzling.«52 Dieser homerische Individualitätstypus, der durch die Kennzeichen der ›Fragmentierung‹ und des ›göttlichen (Ein-)Wirkens‹ be49 | Charles Taylor, 1989, Sources of the Self. The Making of the Mo-
dern Identity, Cambridge, Massachusetts, 120; siehe auch Platon, 1982, Der Staat (Politeia). Übersetzt und herausgegeben von Karl Vretska, Stuttgart. 50 | Taylor (1989), 118, bezieht sich hier u.a. auf Bruno Snell, 1953, The
Discovery of the Mind, Cambridge, Massachusetts. 51 | Taylor (1989), 118. 52 | Taylor (1989), 118.
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stimmt wird, steht im Widerspruch zu den platonischen Vorstellungen einer Seele, die – im Vergleich zu Homer unserer Vorstellungskraft näher – in sich selbst eins ist und damit als ein »Ort« gedacht werden kann. Die Fragmentierung der Seele erscheint dabei als schlecht und fehlerhaft. Während es bei Homer unklar bleibt, welchen körperlichen Organen Denken und Fühlen genau zugeordnet werden können, erhält die Seele als Ausdruck von Denken und Fühlen bei Platon eine eigene Lokalität. Damit werden die Grundlagen für ein neuartiges Moralverständnis gelegt: »The unicity of locus, and hence the new notion of the soul as this single site of all thought and feeling – as against the ›psyche‹ as life-principle – is an essential concomitant of the morality of rational hegemony. The soul must be one if we are to reach our highest in the self-collected understanding of reason, which brings about the harmony and concord of the whole person.«53 In Platons Denken ist die Unterscheidung von Seiendem und Erscheinungswelt wesentlich. Aus dieser Differenz geht die Vorstellung eines Guten hervor, welches seine Quelle in einem Bereich hat, der jenseits der Erscheinungswelt angesiedelt ist. Gleichzeitig ist das Gute Ausdruck einer absoluten Ordnung, auf die hin sich die Seele mittels der Vernunft richtet. Die Seele, die von der Vernunft beherrscht wird, befindet sich in Harmonie mit der Ordnung, an der sie teilhat. Damit wird die Vernunft bei Platon zu einem Kernstück seiner philosophischen Konzeption von Mensch und Welt. Sie erschliesst die Ordnung und das Gute, wie es ist. Sie ermöglicht richtiges Sehen seiner selbst und damit immer auch der grundlegenden Ordnung, an der das Selbst in Form der Vernünftigkeit der Seele partizipiert. Wie Taylor betont, lässt sich Platons Anliegen nicht entlang der Unterscheidung von ›innen‹ und ›aussen‹ verstehen, an die wir uns heute so sehr gewöhnt haben, wenn die Rede auf das Individuum und auf das Selbst kommt. Vielmehr denkt Platon die Welt in den Dichotomien von Seele und Körper, von immateriell und körperlich, von ewig und wandelnd.54 Die platonische Seele formiert sich nicht als ein Reich innerer Wesentlichkeit, sondern wird mit dem Ganzen des Kosmos zusammengeschlossen, indem die Vernunft die gleiche Geordnetheit für die Seele herstellt, wie sie der Welt als Ganzes, an der sie teilhat, zugrunde liegt. Zwischen den Menschen und dem Guten des Ganzen reisst gleichsam ein »Raum« auf, ein Abgrund entsteht, der durch die Vernunft überwunden werden soll. Die Vernunft reali53 | Taylor (1989), 120. 54 | Taylor (1989), 121.
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72 | »New World Horizon« siert sich, indem sie das Gute schaut. Erst so kann sich die »richtige« Ordnung auch in uns einstellen. Hier lässt sich eine wesentliche Differenz zum modernen, bereits bei Augustinus sich abzeichnenden Moralverständnis erkennen, indem die Moral bei Platon ihren Ursprung nicht im Subjekt, sondern ausserhalb von diesem hat: »Reason reaches its fulness in the vision of the larger order, which is also the vision of the Good. And this is why the language of inside/outside can in a sense be misleading as a formulation of Plato’s position. In an important sense, the moral sources we accede to by reason are not within us. They can be seen as outside us, in the Good; or perhaps our acceding to a higher condition ought to be seen as something which takes place in the »space« between us and this order of the good. Once reason is substantively defined, once a correct vision of the order is criterial to rationality, then our becoming rational ought not most perspicuously to be described as something that takes place in us, but rather better as our connecting up to the larger in which we are placed.«55 Nicht die Seele selbst mit ihren Inhalten ist bei Platon Thema, sondern das Gerichtetsein der Seele auf das ihr übergeordnete und – wenn es erreicht wird – sie erfüllende Gute, wonach sie streben soll: »Not only is the inner/outer dichotomy not useful for this purpose, but it actually tends to obscure the fact that the crucial issue is what objects the soul attends to and feeds on. The soul as immaterial and eternal ought to turn to what is immaterial and eternal. Not what happens within it but where it is facing in the metaphysical landscape is what matters.«56 Die Ordnung der Welt ist damit gegeben. Sie wird nicht als im Innern der Seele und als durch diese hervorgebracht gedacht, sondern als das ewig Unveränderliche des Kosmos. Das gute Leben ist ein Leben, das sich durch die Vernunft gleichsam »hinaufarbeitet« zum allgemeinen Guten und so Teil davon wird. Es geht letzten Endes nicht um die Ordnung der Seele, sondern um die Ordnung und um das Gute des Ganzen. In der Schau des Guten wird die Verbindung von Seele und Welt perfekt: »And we cannot see one of these orders without the other. For the right order in us is to be ruled by reason, which cannot come about unless reason reaches its full realization which is in the perception of the Good; and at the same time, the perception of the Good is what makes us truly virtuous.«57 Die Liebe 55 | Taylor (1989), 123 (Hervorhebung C.M.). 56 | Taylor (1989), 124. 57 | Taylor (1989), 122.
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zum Ganzen und zu seiner Ordnung bildet die Grundlage jedes tugendvollen Handelns und eines harmonischen Lebens. Dieses Streiflicht auf Platon kann annäherungsweise verdeutlichen, wie weit wir noch von einem modernen Individualitätsverständnis weg sind und wie leicht wir von unserem modernen Standpunkt aus Gefahr laufen, durch Rückprojektionen den antiken Philosophen »falsch« zu verstehen, in dessen Denken sich viele Elemente finden, die dem unseren scheinbar nahestehen. Taylor weist auf diese Gefahr nachdrücklich hin, wenn er festhält, dass es bei Platon nicht in erster Linie um – wir wir leicht meinen könnten – Selbstbeherrschung und um Kontrolle der Leidenschaften durch die Vernunft geht. Viel zu sehr trennt man damit – von einem post-cartesianischen Standpunkt aus – die Bereiche ›innen‹ und ›aussen‹ und impliziert letztlich deren fundamentale Inkongruenz. Seele und Welt werden bei Platon durch dieselbe gute Ordnung zusammengehalten, die sich in beiden ausdrückt und in der beide aufgehoben sind und die durch die Vernunft erkannt werden muss: »To be ruled by reason means to have one’s life shaped by a pre-existent rational order which one knows and loves.«58 Dies ist eine andere Form der »Selbstbeherrschung« (»self-mastery«) als jene, die durch die Internalisierung der Moral ins Ich entsteht. An diesem Punkt verzweigen sich die Wege Platons und jene der modernen Moralphilosophen. Dazwischen steht an entscheidender Wegbiegung Augustinus. Er hat einen weiteren grossen Schritt in Richtung auf unser neuzeitliches Individualitätsverständnis getan. Von Platon zu Augustinus und schliesslich zu Descartes – da besteht die Gefahr, dass man die »grossen Denker« für die breitere, allgemeinere Entwicklung hält und sich anhand weniger uns überlieferter Texte ein inadäquates, zu einseitig philosophiegeschichtliches Bild macht. Das ist aufgrund der Quellenlage wohl kaum zu vermeiden. Michel Foucault hat dem jedoch ein Stück weit vorzubeugen vermocht, indem er sich in seinen Studien zur Geschichte der Sexualität auf breiteres – wenn auch immer noch auf ein an den verfügbaren Äusserungen gesellschaftlicher Eliten orientiertes – Quellenmaterial abstützt und daran heidnische und frühchristliche Praktiken dessen, was er »Technologien des Selbst« nennt, untersucht.59
58 | Taylor (1989), 124. 59 | Michel Foucault, 1995, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit
3, Frankfurt am Main, sowie Michel Foucault, 1988, Technologies of the Self,
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74 | »New World Horizon« Die Ergebnisse von Foucaults Nachforschungen zeigen, wie sich die Vorstellungen des Selbst von Platon bis ins Zeitalter des Hellenismus verändern. Von einem dem modernen Individuum nahe kommenden Begriff kann auch jetzt keine Rede sein. Noch ist das Subjekt, das sich auch in vormoderner Zeit durchaus selbst zum Thema zu machen weiss, im relationalen Gruppenkontext fest verankert. Die »Sorge um sich« ist gerade nicht – wie Foucault am Beispiel des frühkaiserlichen Rom zeigt – ein Ausdruck von zunehmendem Individualismus, sondern ein Zeichen der Entwicklung einer besonderen »Kultur des Selbst«60, bei der sich die Gewichte nun jedoch vom platonischen Wissen seiner selbst in Richtung Sorge um das Selbst verschieben.61 Dabei bilden die ersten beiden Jahrhunderte der Kaiserzeit gleichsam einen Scheitelpunkt – eine »Art goldenes Zeitalter«62 – auf dem Weg hin zu sich selbst beobachtenden und ihre Stellung in der Gemeinschaft erforschenden und reflektierenden gesellschaftlichen Eliten, die sich dadurch aber nicht von der Gemeinschaft lossagen und zu vereinzelten Individuen werden, sondern gerade umgekehrt hoffen, als Folge der Selbsterforschung ihre Rolle als Teil des Ganzen besser spielen zu können. Die Zuwendung zu sich selber und die damit einhergehenden Tätigkeiten und Verhaltensweisen – wie Körperpflege, gesundes Leben, ausgewogene körperliche Übungen, massvolle Befriedigung von Bedürfnissen, Meditation, Lektüre, Aufzeichnung des Gelesenen oder im Gespräch Vernommenen, Überdenken von Wahrheiten, Gespräche mit Vertrauten, Freunden, Lehrern, Briefwechsel, Ratschläge empfangen und erteilen – bilden im betrachteten Zeitraum einen »ganzen Rede- und Schreibbetrieb«, »in dem die Arbeit eines an sich selber und die Kommunikation mit dem anderen verbunden sind«63. Wie der angeführte Katalog zeigt, handelt es sich bei dieser Kultur des Selbst nicht um eine Übung in Einsamkeit, sondern um eine eigentliche gesellschaftliche Praxis.64 Der gesellschaftliche Zusammenhang löst sich nicht auf, sondern er wird enger gewoben.
in: Luther H. Martin, Huck Gutman, Patrick H. Hutton, eds., Technologies of the Self. A Seminar with Michel Foucault, Amherst. 60 | Foucault (1995). 61 | Foucault (1988), 31. 62 | Foucault (1995), 62. 63 | Foucault (1995), 71. 64 | Foucault (1995), 71.
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Die erwähnten praktischen Tätigkeiten der Selbstzuwendung finden ihren Ausdruck in einer veränderten psychisch-geistigen Einstellung. Selbsterkenntnis als Ziel nimmt dabei – so Foucault – einen beträchtlichen Raum ein und wird als eigentliche Kunst praktiziert, bestehend aus Vorschriften, Prüfungen und Übungen. Durch verschiedene Formen der Selbsterprobung sollen dabei Fortschritt und bereits Erreichtes auf dem Weg zu wahrer Tugendhaftigkeit gemessen werden. Ziel ist es, Souveränität über sich und damit Unabhängigkeit von allem Überflüssigen und Nutzlosen zu erlangen. So übt man sich im Ertragen von Missgeschick und gewinnt damit unter dem Strich fürs Leben überhaupt – an »Lebensqualität«, wie man heute sagen würde. Denn im Enthalten und im Sich-Versagen überzeugt man sich davon, »dass selbst das schlimmste Missgeschick einem nicht das Nötigste nehmen wird, und dass man ständig aushalten kann, was man hie und da zu ertragen weiss«65. Dazu kommt eine verstärkte Aufmerksamkeit, die man dem Gewissen zuwendet.66 Die Prüfung des Gewissens dient sowohl der Versicherung, dass die jeden Tag anstehenden Aufgaben und Pflichten erfüllt wurden, als auch der Bilanzierung der gemachten Fortschritte auf dem Weg hin zur angestrebten Selbstperfektion. Am Beispiel von Seneca zeigt Foucault, dass die Prüfung des Gewissens Anklänge an eine Gerichtsszene haben kann, indem man über sich selbst zu Gericht sitzt und es so gleichsam mit einer Spaltung des Subjekts in richtende Instanz und Angeklagten zu tun bekommt. Auch zeigt die Gewissenserforschung Züge einer verwaltungsmässigen Kontrolle, die Korrekturen von Fehlern in künftigem Verhalten erlauben soll: »Die Rolle eines Richters klingt also aus Senecas Worten, aber ebenso die eines Inspektors oder die eines Hausherrn, der seine Konten überprüft.«67 Dabei dient die Erforschung des Gewissens nicht der Frage der Schuld, die später im christlichen Kontext 65 | Foucault (1995), 83. Foucault stützt sich hier auf Seneca. Heute fin-
den sich Versuche, eine »Philosophie der Lebenskunst« neu zu begründen – dies im Anschluss an Nietzsche und in Anlehnung an das antike Verständnis der Askese – mit dem Ziel der Selbstformung und Selbststärkung, um so eine Freiheit des Masses und darin »Selbstmächtigkeit« zu gewinnen, siehe Wilhelm Schmid, 2000, Was ist und zu welchem Zweck betreibt man Askese? Kleine Geschichte eines missverstandenen Begriffs, in: Neue Rundschau, Heft 4, 9-14. 66 | Vgl. Heinz D. Kittsteiner, 1995, Die Entstehung des modernen Ge-
wissens, Frankfurt am Main. 67 | Foucault (1995), 85.
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76 | »New World Horizon« zentral werden wird. Das Vorgehen erscheint vielmehr pragmatisch und lebenspraktisch orientiert: aus Fehlern soll gelernt werden, wie man die legitimen Zwecke mit den passenden Mitteln erreicht. Darüber hinaus erwähnt Foucault die Notwendigkeit einer Arbeit des Denkens, die von seinen römischen Gewährsmännern als Mittel zur Verbesserung der Selbsterkenntnis ins Feld geführt wird. Sie besteht im Kontrollieren, Prüfen, Sortieren sowie im fortwährenden Filtern von Vorstellungen. Aus der blossen Übung wird eine Haltung gegenüber sich selbst. Der Einzelne wird sich selbst Beobachtungsobjekt, und doch hat dies mit Sinnsuche im modernen Sinne noch nichts zu tun. Es gibt kein tieferes Verborgenes zu entdecken – eine Wahrheit, die im Innern des Selbst schlummern würde. Es geht hier vielmehr um die Vernunft des Subjekts, welches sich selbst in Beziehung zum Gedachten zu setzen und so seine eigene Stellung als freies und vernünftiges Wesen einzunehmen vermag.68 Die Wortwahl der antiken Autoren, die diese auf das Selbst bezogene Kultur zum Thema machen, verleitet leicht dazu, hier einen neuartigen Individualismus am Werk zu sehen. Wo so viel vom Selbst die Rede ist und von »Umkehr zu sich selbst«, scheinen modernere Konzepte der ›Selbstfindung‹ nicht allzu weit zu sein. Dieser Blick auf der Grundlage moderner Sehgewohnheiten trügt jedoch – wie Foucault nachweist – und trifft das Neue der Zeit nicht. Wohl haben wir es mit einer Verschiebung hin auf Moral beziehungsweise auf das Moralsubjekt zu tun. Es sind vor allem die Reflexionen über die Moral der Lüste, die sich in diesem Zeitraum entwickeln. Für die Individualisierungsdiskussion liegt das besondere Interesse an der untersuchten Periode in der objektivierenden Konzeption des Selbst als eines anderen, zu dem man sich in Beziehung setzt und mit dem man sich kritisch befasst. Erst als Folge dieser Auseinandersetzung mit dem »anderen« des Ich kann man letztlich sich selbst erreichen und zu sich selbst kommen. Juridische Besitzmetaphern drücken diese Beziehung aus: »sich selber gehören«, »sein eigen sein«. Man untersteht sich selbst und übt Macht über sich aus. Man kann sich selbst jedoch auch geniessen »wie ein Ding, das man zugleich in Besitz und vor Augen hat«69. Über das Disziplin- und Herrschaftsverhältnis hinaus kann man sich so auch an sich selber erfreuen – Freude an sich selber wird so zu einer neuen Möglichkeit der Selbsterfahrung. Doch hier zeigt sich der Unterschied zur Befindlichkeit 68 | Foucault (1995), 88. 69 | Foucault (1995), 90.
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des modernen Individuums deutlich: »Wer es vermocht hat, endlich Zugang zu sich selber zu finden, ist für sich ein Objekt der Freude.«70 Damit beginnt das Ich in Subjekt und Objekt auseinander zu fallen – eine Kluft zeichnet sich ab, die dem modernen Individuum zum Kernproblem werden und die es in der angestrebten Erfahrung innerer »Ganzheit« zu überwinden suchen wird. So wird der um sich selbst besorgte Römer schliesslich Herr seiner selbst, sowohl, was die eher harscheren als auch, was die vergnüglicheren und erfreulicheren Aspekte seines Lebens betrifft. Darin scheint eine gewisse Selbstbezogenheit im Sinne einer Selbstgenügsamkeit auf. Der Einzelne soll keinem äusseren, von ihm unabhängigen und deswegen nicht zu kontrollierenden Einfluss und keiner Macht preisgegeben werden. Seinen letztgültigen Massstab, von dem her das Modell der ›Kultur seiner selber‹ seine Attraktivität und seine Berechtigung erfährt, findet das Subjekt jedoch nicht im sich selbst aus der Welt hinausdefinierenden, sondern im integrierten sozialen Ich, das sich über Tugend und Moral mit der Welt und den anderen Subjekten verbunden erlebt. Der von Foucault beschriebene Zeitraum ist für die Geschichte der Individualisierung bedeutsam, weil er uns klar macht, wie weit wir konzeptuell entfernt sind vom Individualismus moderner Prägung. Gleichzeitig finden sich jedoch in diesem Zeitraum wichtige Veränderungen im Moralverständnis, die die christliche Morallehre für eigene Zwecke absorbieren und zur Konstituierung eines ›christlichen Individualitätstypus‹ herbeiziehen wird. Bei Augustinus erfährt das Innenleben gegenüber der früheren Entwicklung dann eine neue Gewichtung, ohne dass der äussere Referenzpunkt verloren gehen würde – im Gegenteil. Das Neue bei Augustinus besteht in einer ›radikalen Reflexivität‹ (Taylor), die sich in einer neuartigen Zuwendung zum eigenen Ich ausdrückt. Niedergeschlagen hat sich diese neue Sehweise in den Bekenntnissen71, die später für mittelalterliche Autobiographen Modellcharakter gewinnen sollten. Augustinus findet seine Radikalität darin, dass er sein eigenes Ich zum Ausgangspunkt nimmt und es in allen seinen Äusserungen und Handlungen einer minutiösen Beobachtung unterwirft. Er wird sich seiner selbst in einer neuen Weise bewusst, indem sich bei ihm die Beziehung von Mensch zu Mensch auf die Bindung des Einzelnen zu 70 | Foucault (1995), 91 (Hervorhebung C.M.). 71 | Augustinus, 1987, Bekenntnisse, Frankfurt am Main, Leipzig.
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78 | »New World Horizon« Gott verschiebt und Ersteren so ein Stück weit in die soziale Isolation treibt. Er tritt gleichsam aus dem Fluss der alltäglichen Erfahrungen heraus und konfrontiert sein Tun und Lassen ständig mit kritischer und umfassender Aufmerksamkeit. Das Innenleben und die innere Haltung werden dabei jedoch nicht zum Ausgangspunkt der letztgültigen Wahrheit, sondern lediglich zu jenem Ort, an welchem die Wahrheit, die durch den christlichen Gott gegeben ist, in erster Linie offenbar wird: »The truth dwells within […], and God is Truth.«72 Augustinus bleibt »platonisch«, insofern er die Quelle des Guten und damit jene der Moral ausserhalb des Subjekts im geordneten Kosmos findet. Im Unterschied zu Platon ist dieser Kosmos nun jedoch vom christlichen Gott geschaffen und geordnet. Und die Teilhabe des Menschen am Guten ist nicht mehr einfach dem Gebrauch der ihm gegebenen Vernunft zu verdanken. Das Heil ist vielmehr nur erfahrbar in der Gnade Gottes. Am Anfang steht der Sündenfall und die daraus sich ergebende Heilsbedürftigkeit des Menschen. Das Subjekt wird nun auf die Suche nach dem Heil geschickt, das sich im Auffinden Gottes erfüllt. Diese Suche richtet sich nunmehr auf sich selbst, denn die Wahrheit und Erlösung suchende Seele wird zum eigentlichen »Ort« Gottes. Wer Gott kennt in seinem Innern, hat Teil am Guten. Die Selbstsuche wird damit zum Mittel, das in der Seele, im Innern und durch das Innere des Menschen (»in interiore homine«) auffindbare, jedoch im Innern über dieses Innere hinausreichende und das Innere so mit der höchsten Wahrheit verbindende beziehungsweise es mit Letzterer in eins setzende Gute zu erreichen: »By going inward, I am drawn upward.«73 Ziel ist es, sich selbst, sein eigenes Denken, Handeln und Fühlen zu kennen, um so das alles zusammenhaltende göttliche Prinzip zu erkennen. Während für Platon das Gute ausserhalb des Subjekts in der Ordnung der Dinge und in den diese Ordnung hervorbringenden Ideen ruht und die Seele mithilfe der Vernunft nach dieser Ordnung gleichsam ausgreifen muss, um an ihr teilzuhaben, verschiebt sich bei Augustinus das Gute in die Seele selbst. Bei Platon ist es das Hinaufreichen der Seele durch eine Kraft – die Vernunft –, die ihr immer schon gegeben ist, die die Seele mit dem Guten – mit den Ideen als Ordnungsprinzip der Objektwelt – verbindet. Bei Augustinus hingegen geht es nicht darum, mithilfe eines »Instruments«, gleichsam eines »Kompasses«, die Seele auf die Wahrheit ausserhalb der Seele »auszurichten«, die somit erst »im Nachhinein«, nach dem 72 | Taylor (1989), 132. 73 | Taylor (1989), 134.
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Einsatz des »Instruments« zur Teilhabe an der Wahrheit gelangt. Vielmehr ist die Wahrheit dem augustinischen Menschen innerlich – nicht »instrumental« – gegeben: »God is not just what we long to see, but what powers the eye which sees. So the light of God is not just ›out there‹, illuminating the order of being, as it is for Plato; it is also an ›inner‹ light.«74 Als Sünder ist der Mensch bei Augustinus jedoch von der Wahrheit getrennt. Und nur auf der Suche nach sich kann diese Wahrheit (wieder-)erlangt werden. Im Blick nach innen drückt sich damit die Sehnsucht nach der Liebe Gottes aus, die nun im Wissen über sich gefunden wird: »God is behind the eye, as well as the One whose Ideas the eye strives to discern clearly before it. He is found in the intimacy of my self-presence. Indeed he is closer to me than I am myself, while being infinitely above me; he is »interior intimo meo et superior summo meo«. God can be thought of as the most fundamental ordering principle in me. As the soul animates the body, so God does the soul. He vivifies it.«75 Mit Augustinus ist somit ein wichtiger Schritt getan in Richtung Innerlichkeit. Seine intensiven Auskundschaftungen des suchenden und oft auch zweifelnden und mit sich und der oft undurchschaubaren und verwirrenden göttlichen Ordnung ringenden Ich – man denke nur an das elfte Buch der Bekenntnisse über das Phänomen der Zeit76 – legen neues Gewicht auf die Dimension des Wissens, das als Selbsterkenntnis zur Erkenntnis schlechthin wird. Augustinus überwindet damit den in der Antike vorherrschenden Glauben an das Schicksal als treibender Kraft und auferlegt dem Einzelnen ein Stück Selbstverantwortung im Sinne einer permanent geforderten disziplinierten Selbstsuche und Perfektion des Ich zum Zwecke eines wahrheitsgemässen und gottgefälligen Lebens.77 In dieser suchenden Haltung gegenüber seinem Innern fühlt man sich entfernt erinnert an den »klassischen« religiösen Typus des ›Suchenden‹ – oder des ›seekers‹, wie er im anglo-amerikanischen Sprachraum, wo er in der Neuzeit vor allem Karriere gemacht hat, genannt wird. Augustinus weiss jedoch, wonach er sucht, auch wenn sich das Rätsel Gottes in seiner letzten Wahrheit nicht entschlüsseln lässt, da Gott allein alles weiss und nur er sich selber kennt und damit über absolutes Wissen verfügt. Und nicht nur weiss Augustinus, wonach er sucht, sondern 74 | Taylor (1989), 129. 75 | Taylor (1989), 136 (Hervorhebung C.M.). 76 | Augustinus (1987), 601ff. 77 | Aaron J. Gurjewitsch, 1994, Das Individuum im europäischen Mit-
telalter, München, 119.
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80 | »New World Horizon« er kennt auch die dazu unerlässliche Methode. Davon unterscheidet sich jener moderne Typus des ›seekers‹, dessen Suche sich durch grössere Offenheit und grössere inhaltliche »Strukturlosigkeit« charakterisieren lässt. Aber auch hinsichtlich eines anderen Aspekts nimmt Augustinus spätere Zeiten vorweg. Das Ich in seiner Beziehung zu Gott bildet das Zentrum der augustinischen Welt. Diese Beziehung gestaltet sich als eine intime und persönliche, in der das Moment der göttlichen Gnade die alles entscheidende Rolle spielt und so auf die Reformation vorausweist. In vielem erinnert Augustinus noch an Platon. Und doch hat sich im Verhältnis von Innen und Aussen eine Veränderung vollzogen, die für die weitere Entwicklung wichtig wird. Taylor positioniert Augustinus auf der historischen Zeitachse der Individualisierung entsprechend zwischen Platon und Descartes. Augustinus jedoch durch die moderne Brille als »modernen Denker« zu lesen, würde seinem Weltbild und damit dem historisch-kulturellen Rahmen, den seine Welt bildet, freilich nicht gerecht werden. Es fehlt ihm jene existentielle Skepsis und jener bodenlose, sich durch metaphysisches Verlorensein auszeichnende Zweifel, der für die europäische Moderne mit der Romantik typisch wird.78 Die Frage – die sich in die Erkenntnistheorie hinein fortsetzt –, ob Innen und Aussen überhaupt in irgendeiner Verbindung zueinander stehen, und damit die Frage nach der Möglichkeit einer sinnerfüllten Welt stellt sich für Augustinus nicht, denn trotz aller Verlagerung in Richtung auf Innerlichkeit sind Innen und Aussen eins: sie sind die zwei Seiten des göttlichen Kosmos und damit Ausdruck des einen Gottes, der mehr ist als das, was dem einzelnen Subjekt je intelligibel zu werden vermöchte in seiner Innenschau, der aber dennoch in der menschlichen Seele zu Hause ist. Zum Abschluss sei hier nochmals Taylor zitiert, der vor der Gefahr einer post-cartesianischen Augustinus-Interpretation warnt: »But it may seem strange that Augustine goes to all this trouble to establish that there are higher standards common to all thinkers, something which Plato already had laid out in the Ideas. Was it simply that he felt he had to meet a stronger sceptical challenge? This is how we would tend to look at things with our post-Cartesian eyes. But to see 78 | Für die neuzeitliche literarische Entwicklung in Europa (vor allem
für Deutschland und Frankreich) hat dies Albrecht Koschorke herausgearbeitet, siehe Albrecht Koschorke, 1990, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt am Main.
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this as Augustine’s principal preoccupation is to assume that the sceptical challenge of his day was couched in the form familiar to us: How can one get beyond first-person experience and conclude to a world out there? But this was neither how the challenge was put nor how people thought to answer it before Augustine. The relation of historical causation seems rather to be the reverse: the idea of seeing scepticism as the question whether I can get beyond ›my‹ inner world is much more a product of the revolution which Augustine started, but which only bore this fruit many centuries later.«79 In der hier rekonstruierten Entwicklung hin zur modernen Individualität war es Augustinus, der unseren Blick für die psychologische Dimension des Subjekts geschärft hat. Ihm selbst allerdings wäre das Vokabular moderner Psychologen wohl etwas befremdlich vorgekommen. Es brauchte eine ganze Reihe weiterer Veränderungen in der Geschichte des philosophischen Denkens, um schliesslich beim modernen Individualitätsbegriff anzugelangen. Eine wichtige solche Veränderung gegenüber Augustinus hat sich in Descartes Denken ereignet. Descartes führt uns näher an die Moderne und ihr Verständnis des Individuums heran, als dies Augustinus getan hat, in dessen Werk nur für den modernen Betrachter überhaupt etwas »Modernes« aufscheint. In der Philosophie Descartes’ stossen wir auf eine Internalisierung der Moral, die in ihrem Ausmass und in ihren Konsequenzen neuartig ist und die Gewichte gegenüber Augustinus entscheidend verschiebt. Sie baut auf einem Dualismus von Körper und Seele auf, der sich von demjenigen Platons unterscheidet. Während sich bei Platon die Seele auf die Ordnung ausserhalb ihrer selbst richtet, um an dieser Ordnung schliesslich selbst teilzuhaben und damit am obersten Wert des Guten als einem »unbeweglichen«, ewigen Gegebenen, in welchem sich eine bestimmte Tugend- und Moralordnung ausdrückt, existiert für Descartes keine solche ewige Ordnung der Ideen ausserhalb der Seele. Für Descartes bildet vielmehr das immaterielle Sein den Ausgangspunkt und daraus folgend wird die materielle Welt lediglich zu einer »Verlängerung« desselben. Die materielle Welt, entleert von jeder geistigen Essenz, verkommt zum blossen Mechanismus. Das Bewusstsein wird demgegenüber zum »eigentlichen Ort des Geschehens«. In dieser »Mechanisierung« beziehungsweise »Neutralisierung« der Aussenwelt haben wir es, so Taylor, im Sinne
79 | Taylor (1989), 134.
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82 | »New World Horizon« Max Webers bereits mit einer ›Entzauberung‹ der Welt zu tun.80 In unserem Zusammenhang ist entscheidend, dass es nun nicht mehr um Adaption an eine gegebene äussere Ordnung geht, sondern um die Aktivitäten der Seele selbst. Rationalität definiert sich entsprechend nicht mehr substantiell im Hinblick auf die gegebene Ordnung, sondern »prozedural« als nach bestimmten Regeln sich vollziehendes Denken: »For Descartes rationality means thinking according to certain canons. The judgement now turns on properties of the activity of thinking rather than on the substantive beliefs which emerge from it.«81 Hierin kündet sich eine Verschiebung von einer vorgefundenen hin zu einer konstruierten Ordnung an, die bei Descartes aber an die Existenz Gottes rückgebunden und auf ihn bezogen bleibt. Wahrheit wird jedoch nicht in der Ordnung der Dinge gefunden, sondern sie geht aus dem Denkprozess hervor: »Of course, Descartes holds that his procedure will result in substantively true beliefs about the world. But this is something which has to be established. Indeed, to establish it is one of the most important goals of Descartes’s philosophy. We make the link between procedure and truth with the proof that we are the creatures of a veracious God. The procedure is not simply defined as the one which leads to substantive truth. It could have been leading us entirely astray, if we had been victims of a malicious demon. Rationality is now an internal property of subjective thinking, rather than consisting in its vision of reality. In making this shift, Descartes is articulating what has become the standard modern view.«82 Im Unterschied zu Augustinus, bei dem die Wende nach Innen eigentlich eine Wende »nach oben«, nämlich eine Wende hin zu Gott und dessen Gnade ist, ist die Wende bei Descartes »re-flexiv« in einem radikaleren Sinne: das Subjekt Descartes’ findet Sicherheit als Selbst-Sicherheit in sich, indem es denkt. In dieser Hinwendung findet der Einzelne nicht Gott, sondern sich selbst. Auch für Descartes bleibt die Abhängigkeit von einem wahrhaften Gott bestehen. Während jedoch bei Augustinus das Subjekt schliesslich bei sich ist, indem es sich in seiner erfüllten Sehnsucht nach Gott in diesem gleichsam »auflöst« und mit dem göttlichen Prinzip eins wird, verfestigt sich das Subjekt Descartes’ in seinem Dasein, indem es in der Methode des Denkens zur »Selbstfindung« und damit zur Selbstgewissheit gelangt – die Anklänge an moderne Befindlichkeiten werden 80 | Taylor (1989), 148. 81 | Taylor (1989), 156. 82 | Taylor (1989), 156.
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nun deutlicher: »The thesis is not that I gain knowledge when turned towards God in faith. Rather the certainty of clear and distinct perception is unconditional and self-generated. What has happened is rather that God’s existence has become a stage in my progress towards science through the methodical ordering of evident insight. God’s existence is a theorem in my system of perfect science. The centre of gravity has decisively shifted.«83 Die Rekonstruktion philosophischer Gedankengänge eröffnet zwar wichtige Einsichten in die historische Genese des Individualitätsverständnisses, sie lässt uns aber weitgehend im Dunkeln, was die Denk- und Handlungsweisen der »einfachen« Menschen betrifft. So wurde denn auch in der Geschichtswissenschaft immer wieder die Frage aufgeworfen, in welchen Epochen sich die Wahrnehmung des Individuums als einer eigenständigen Grösse so tiefgreifend verändert hat, dass sich möglicherweise eine deutliche Zäsur zu früheren Vorstellungen und zu historisch älteren Konzeptionen des Selbst markieren lässt. Die Renaissance in Italien, vor allem in der Form, wie sie uns durch Jacob Burckhardts Untersuchung nähergebracht wurde, hat lange die Funktion eines kultur- und sozialgeschichtlichen Eingangstores in die Moderne – und in zeitlich umgekehrter Richtung rückwärts aus ihr hinaus – innegehabt.84 Vor dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in der norditalienischen Stadtstaatenwelt des 15. und 16. Jahrhunderts bildet sich gemäss Burckhardt ein neuer Menschentypus heraus. Die individuelle Persönlichkeit erwacht und der Einzelne erkennt sich selbst in seiner Besonderheit als geistiges Individuum. Der neue Individualismus findet seinen höchsten Ausdruck – so Burckhardt – in der Form des Kosmopolitismus.85 Der Horizont weitet sich für den Einzelnen, vor allem für den vom politischen Exil Betroffenen und zum Verlassen seines angestammten Kreises Gezwungenen. Die Welt wird gross. Ihre geweiteten Dimensionen schlagen sich nieder in Sprache und Bildung und – für die Nachwelt das Neue am deutlichsten offenbarend – in der Kunst. In der Renaissance scheint der Mensch zu einem in sich stimmigen Ganzen zu werden, indem er sich als ›uomo universale‹ zu seinem vollen Potential entfaltet und seine Möglichkeiten zugleich ausweitet und aus83 | Taylor (1989), 157. 84 | Jacob Burckhardt, 1956, Die Kultur der Renaissance in Italien, Zü-
rich. 85 | Burckhardt (1956), 69.
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84 | »New World Horizon« schöpft. Von Lernbegierde getrieben – so zumindest will es das zuweilen etwas idealisierende Bild, das sich die Nachwelt von der Renaissance und »ihrem Menschen« macht – arbeitet sich der Mensch zu einem Wissen empor, das durch seine Breite und durch seine Vielfalt besticht. Mit dem modernen Vokabular würde man das wohl Bewältigung von mehr lebensweltlicher Komplexität nennen – und das nicht nur beim herausragenden Genie, sondern bei einem breiten Teil der Eliten. So kann Burckhardt denn auch sagen, dass das 15. Jahrhundert das Jahrhundert des vielseitigen Menschen ist.86 Die Renaissance ist in dieser Perspektive der Anfangspunkt einer auf die Neuzeit hinführenden Entwicklung, die einen sich »selbst-bewussteren« und damit selbstreflexiveren Menschen hervorbringt. Burckhardt verdeutlicht dies an einem bemerkenswerten Detail: am Aufkommen des modernen Spotts und Hohns. Beide tauchen nun im verbalen Waffenarsenal von Gegnern und Feinden auf und finden am nach Ruhm und Anerkennung strebenden und damit in seinem Selbstwertgefühl verletztlich werdenden Individuum Angriffsflächen, die es so vorher nicht gab, denn »ein selbständiges Element des Lebens konnte der Witz doch erst werden, als sein regelmässiges Opfer, das ausgebildete Individuum mit persönlichen Ansprüchen, vorhanden war«87. Die besondere Bedeutung, die der Renaissance als eigenständiger Epoche der Individualisierung zukommt, ist nicht mehr unumstritten. Im Rahmen der Diskussion zur Entstehung des modernen Individualismus haben sich vor allem seit den sechziger Jahren skeptische Stimmen zu Wort gemeldet, die das Augenmerk diesbezüglich stärker auf andere Phasen gerichtet sehen wollen.88 Walter Ullmann hat anhand der Entwicklung des politischen Denkens und des Wandels vom Subjekt zum Bürger die entscheidenden Veränderungen im 12. Jahrhundert gesichtet.89 Und Colin Morris, der als einer der wichtigsten Vertreter der Kritik des Renaissance-Paradigmas gilt, hat 86 | Burckhardt (1956), 70. 87 | Burckhardt (1956), 78. 88 | Vgl. hier auch die von Louis Dumont angestossene Debatte um die
frühchristlichen Ursprünge des modernen Individualismus, siehe Louis Dumont, 1982, A Modified View of Our Origins: The Christian Beginnings of Modern Individualism, in: Religion 12, 1-27, und die Antwort von S. N. Eisenstadt, 1983, Transcendental Visions – Other Worldliness – and Its Transformations. Some More Comments on L. Dumont, in: Religion 13, 1-17. 89 | Walter Ullmann, 1966, The Individual and Society in the Middle
Ages, Baltimore, Maryland.
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ähnliche Entdeckungen in Bezug auf die Religion, jedoch auch in Bezug auf die Erneuerung der Wissenschaften und auf den kulturellen Aufschwung zwischen 1050 und 1200 gemacht.90 Der strukturelle Wandel bringt in dieser Phase eine ganze Reihe neuer sozialer Gruppen hervor. Wertkonflikte und konträre Stellungnahmen zu ethischen Fragen, die durch die neue Vielfalt möglicher Gruppenbindungen nun hervorbrechen, waren – so Morris – um das Jahr 1000 noch unvorstellbar. Seit Mitte des 11. Jahrhunderts jedoch finden sich die Einzelnen immer mehr in neuen Entscheidungssituationen wieder, was sich in einem höheren Grad an Selbstreflexivität auszuwirken beginnt. Auf dem Gebiet der Literatur – in Prosa und Poesie – lässt sich zudem für die Zeit nach 1100 eine deutliche Zunahme hochqualitativer Erzeugnisse feststellen. Und auch auf dem engeren Gebiet der Religion, bei den Predigten, kann man für den Zeitraum von 1050 bis 1200 nicht nur einen quantitativ höheren Ausstoss nachweisen, sondern darüber hinaus auch eine Tendenz zur vermehrten Aufbewahrung der Predigttexte für die Nachwelt, was ebenfalls auf ein neues Bewusstsein und auf einen Wandel der Einstellungen hindeutet.91 Das schlagkräftigste Argument für die stärkere Ausprägung individueller Identität wird von den Verfechtern der These einer zunehmenden Individualisierung im 12. Jahrhundert jedoch in einem bislang unbekannten Bewusstsein für die eigenen Absichten und für die im Inneren des Menschen lokalisierten Motive gesehen. Am prägnantesten lässt sich dies an Abaelard zeigen.92 Morris spricht von einer neuen »Psychologie«, die sich zwar nach wie vor innerhalb des durch Augustinus vorgegebenen theologischen und philosophischen Rahmens bewegt, die sich nun jedoch auf die Analyse der Gefühle und der inneren Stimmungen zu verlegen beginnt und sich für die Entdeckung des Selbst und für neue Formen innerer Frömmigkeit interessiert. All diese Indizien führen Morris zum Schluss, dass die »Entdeckung des Individuums« weniger der Renaissance als vielmehr dem 12. Jahrhundert – der »Renaissance des 12. Jahrhunderts« – gutgeschrieben werden muss.93 Aaron Gurje90 | Colin Morris, 1972, The Discovery of the Individual 1050-1200, New
York. 91 | Morris (1972), 67. 92 | Vgl. auch Ronald Kurt, 1999, Heilswege heroischer Individuen, in:
Anne Honer, Ronald Kurt, Jo Reichertz, Hg., Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz, 420ff. 93 | Caroline Walker Bynum relativiert die These einer »Entdeckung des
Individuums« im 12. Jahrhundert, indem sie auf die neuen Gemeinschafts-
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86 | »New World Horizon« witsch stimmt diesem Befund grundsätzlich zu, wenn er auch zur Vorsicht mahnt. Das Bild, das sich für das 12. und für das 13. Jahrhundert ergibt, resultiert möglicherweise aus einer quantitativ günstigen Quellenlage, also aus einer besonderen Anhäufung an Schriftquellen, welche für die Analyse früherer Zeiten nicht in gleichem Ausmass zur Verfügung stehen. Auf Augustinus verweisend steht für Gurjewitsch ausser Zweifel, dass der Höhepunkt in der Entwicklung des Individuums an der Eintrittsschwelle zum Mittelalter, nicht an dessen Ausgang, gesehen werden muss. Mit Petrarca erreicht dann die Entwicklung einen weiteren Höhepunkt, nun jedoch bereits unter veränderten Voraussetzungen. Mehr als Augustinus ist Petrarca an sich selbst als Person interessiert und sich seiner Bedeutung als einzelner Mensch bewusst. Entsprechend fliesst bei ihm mehr an Energie in den Versuch, sich selbst als Persönlichkeit zu formen und zu bilden.94 Und es ist wohl auch kein Zufall, dass es – worauf Karlheinz Stierle hinweist – vor Petrarca keinen Menschen gibt, von dem wir aufgrund seiner Selbstdarstellungen mehr wüssten, als wir über Petrarca wissen.95 Während sich Dantes und Petrarcas Lebenszeiten überschneiden, scheinen sich die beiden dennoch in verschiedenen Welten zu bewegen. Die Welt des älteren Dante ist noch ganz von der gottgegebenen Ordnung inspiriert, bei der alles auf das Überirdische hin fokussiert ist. In diesem Kosmos gibt es – wie Stierle bemerkt – keine Irrungen und kein Umherirren. Alles geht auf in der durch die Dreieinigkeit gegebenen vertikalen Seinshierarchie, die alle Kontingenz absorbiert. Der Einheit von Dantes Welt und Werk steht der sich bereits »näher« an der Neuzeit bewegende Petrarca gegenüber. Seine Welt ist unabgeschlossen und vielfältig, und sie fordert dem einzelnen, in ihr nicht mehr aufgehenden Individuum mehr eigenstrukturierende Leistung ab: »Petrarca erblickt, wo Dante den einen Berg sieht, die vielen Berge, sein Weg in der Landschaft wie in der Lebenslandschaft ist ein richtungsloses, neugieriges errare auf vielen Wegen.«96 An die Stelle der vertikalen Hierarchie tritt die Horizontalität der Vielfalt der Perspektiven. Eine solcherart veränderte weltanformen, die zu dieser Zeit entstehen, und auf die nach wie vor starke Rollengebundenheit individueller Identität hinweist. Von einem Individuum im modernen Sinne kann noch nicht die Rede sein, vgl. Caroline Walker Bynum, 1980, Did the Twelfth Century Discover the Individual?, in: Journal of Ecclesiastical History, Vol. 31, No. 1, January, 1-17. 94 | Gurjewitsch (1994), 305f. 95 | Karlheinz Stierle, 1998, Petrarca, München, Wien, 9. 96 | Stierle (1998), 13.
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schauliche Topographie impliziert auch, dass man sich stärker an der irdischen Welt zu orientieren beginnt und eine innerweltliche Ausrichtung zunehmend das Jenseits als Form des Weltbezugs ablöst. Sobald aber die Spannkraft der ordnenden Klammer des christlichen Kosmos nachlässt, eröffnet sich ein Raum von Alternativen. An die Stelle der einen Frage und der in ihr enthaltenen Antwort, was die Welt ist und woraufhin das Leben gelebt werden soll und muss, tritt ein »radikales Entweder-Oder«, das sich in der Unruhe von Petrarcas Lyrik widerspiegelt.97 Dabei bleibt Petrarca – vielleicht charakteristisch für eine »Übergangsfigur«, die in zwei Welten und damit zwischen zwei Welten zuhause ist – hin- und hergerissen zwischen Weltflucht einerseits und Weltverfallenheit andererseits. Weltzugewandte Aktivität – was bei Petrarca vor allem heisst: Zuwendung zu sich selbst und seinem Innenleben, wodurch sich die neue, moderne Grenzlinie zwischen Individuum und Gesellschaft abzuzeichnen beginnt – wechselt sich ab mit dem Gefühl, dass das menschliche Tun und Streben leer und eitel und einem nie endenden Wandel unterworfen ist. All dies wissen wir heute über Petrarca oder können es zumindest so mit unseren Augen sehen und interpretieren, weil sich sein Lebensgefühl lyrisch Ausdruck verschafft hat: »Petrarcas Lyrik in der Volkssprache, einem neuen Konzept subjektiver Komplexität und innerer Vielfalt entsprungen, steht unter dem Gesetz einer nichtlinearen problematischen Simultaneität der Kontexte als Ausdruck eines problematischen, in sich selbst entzweiten lyrischen Ich.«98 Die Widersprüche, in die sich das lyrische wie das reale Ich verstricken, zeigen auch ein neues Zeitverständnis an, indem nun in einer Welt der Alternativen immer wieder neu anzusetzen und Neues zu versuchen ist. Aus der Zeitlosigkeit des geordneten, ewigen göttlichen Kosmos heraus entsteht erst dann eigentlich die Zeit, wenn sich der Raum des Handelns und der Vorstellungen auf die Welt hin einzuschränken beginnt und die Welt ohne ihren transzendenten Hintergrund unmittelbar zur Bearbeitung aufgegeben ist. Nun kann die Zeit vor dem Hintergrund der zahllosen Möglichkeiten knapp werden – statt dass die Zeit unendlich ist, sind es nun die Möglichkeiten. Zumindest kann sich dieses Gefühl einstellen, und sechshundert Jahre später wird man sich dieses Eindrucks dann kaum mehr erwehren können. Auch wenn sich bei Petrarca jedoch ein neues, in97 | Vgl. dazu die ausführlichen Analysen in Stierle (1998), 45ff. 98 | Stierle (1998), 70. Petrarca hat auch der Briefform wieder (nach Se-
neca) zu Bedeutung für die literarische Selbstdarstellung verholfen, siehe Misch (1969), 579.
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88 | »New World Horizon« nerweltliches Zeitverständnis andeutet, triumphiert das zeitlose Ganze immer noch über die Zeit.99 Noch ragt das eine Ideal erkennbar aus dem Meer der Möglichkeiten heraus, und das Streben hat ein klares Ziel: die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der antiken Kultur und auf ein Wiederauferstehen Roms als deren Zentrum, symbolisiert in der Lorbeerbekränzung des Dichters als Erfüllung eines tiefen persönlichen Wunsches, in der sich vielleicht eine Frühform individueller Selbststilisierung erkennen lässt. Nach wie vor ist es im 14. Jahrhundert denkbar und auch erwartbar, dass sich die Zeit erfüllt. Wie Alois Hahn anhand der Entwicklung der Beichte gezeigt hat, beschäftigt sich auch die Sündenanalyse bereits seit dem 12. Jahrhundert immer mehr mit dem Innenleben des Fehlbaren, das heisst, nicht mehr in erster Linie mit seinen äusseren Handlungen, sondern mit den diesen Handlungen zugrunde liegenden Intentionen und Motiven. Wie bereits bemerkt, ist die Schlüsselfigur hier Abaelard mit seiner Sündenlehre, bei welcher sich die Sünde über einen intentionalen Akt – der Zustimmung zur Sünde – und nicht über äusseres Tun bestimmt. Dieses Sündenverständnis unterscheidet sich vom frühmittelalterlichen Sündenbegriff und dessen Vorstellung einer an Taten gebundenen Schuld.100 Rückblickend lässt sich so erkennen, dass sich die Veränderungen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bereits vor der Renaissance und vor der Reformation, die beide zentrale Transformationsphasen in der Geschichte der Individualität darstellen, deutlich ankündigen. In der Auseinandersetzung um die Thesen von Burckhardt101 hat sich dabei ein zunehmend differenzierteres Bild 99 | Stierle (1998), 48. 100 | Hahn (1982), 408. Vgl. auch Alois Hahn, 1984, Religiöse Wurzeln
des Zivilisationsprozesses, in: Hans Braun, Alois Hahn, Hg., Kultur im Zeitalter der Sozialwissenschaften. Friedrich H. Tenbruck zum 65. Geburtstag, Berlin. Vgl. auch Benjamin Nelson, 1965, Self-Images and Systems of Spiritual Direction in the History of European Civilization, in: Samuel Z. Klausner, ed., The Quest for Self-Control. Classical Philosophies and Scientific Research, New York, London, 61ff. 101 | Vgl. in diesem Zusammenhang auch Natalie Zemon Davis, 1986,
Boundaries and the Sense of Self in Sixteenth-Century France, in: Thomas C. Heller, Morton Sosna, David E. Wellbery, eds., Reconstructing Individualism. Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought, Stanford, California. Davis erachtet das soziale Feld von Gruppenbezügen als wesentlich für
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der ›Anfänge‹ des modernen Individuums herauskristallisiert, das von der pointierten Entgegensetzung eines »kollektivistischen« Mittelalters einerseits, in welchem sich der Mensch in erster Linie über allgemeine Kategorien und Rollen zu definieren wusste, und einer »individualistischen« Renaissance und Neuzeit andererseits, wo er um seiner selbst Willen zum Menschen wird, absieht. Die »Entdeckung des Selbst« im 12. Jahrhundert meint gerade in dieser Zeit auch: Wahl von Gemeinschafts- und Gruppenzugehörigkeiten. Das Neue besteht dann weniger in der Betonung des Individuums als des Nicht-Gesellschaftlichen, wie es zum Kernstück moderner Individualitätssemantik werden wird, sondern in der selbstbewussteren Entscheidung des Einzelnen für eine oder mehrere Gruppenbindungen mit der Folge einer Differenzierung und Pluralisierung der Identitäten: »There was no single, all-pervasive, overarching ›society‹, but a wide variety of compulsory and voluntary groups, and a corresponding variety of sentiments about social bonds and societal authority.«102 Das mittelalterliche Latein kennt eine ganze Reihe von Begriffen, die »das Gesellschaftliche« beziehungsweise »das Gemeinschaftliche« zum Ausdruck bringen: societas, communitas, corpus, universitas, multitudo, congregatio, collectio, coetus, collegium.103 die Formierung des Individuums im Frankreich des 16. Jahrhunderts: »Especially I have urged the view that embeddedness did not preclude self-discovery, but rather prompted it – common experience may feed the sense of one’s own distinctive history – and that women and young men, grounding themselves in experience, sometimes turned cultural categories and images to their own independent uses.« A.a.O., 63. 102 | Antony Black, 1988, The Individual and Society, in: J. H. Burns, ed.,
The Cambridge History of Medieval Political Thought c. 350 – c. 1450, Cambridge, England, 589. Auf diesen Punkt hat besonders Caroline Walker Bynum in ihrer Kritik an Morris’ Individualisierungsthese in Bezug auf das zwölfte Jahrhundert hingewiesen: »Just as the ›discovery of self‹ is not a twentieth-century awareness of personality or stress on uniqueness, so the emphasis on models, types and ways of affiliating with groups cannot be the modern sense of ›life-style‹ as expression of unique personality nor the modern assumption of a great gulf between model or role and the inner core of the individual. Thus not only is it possible to specify something of the particular nature of twelfth-century culture by the phrase ›discovery of self‹, it is possible to delineate the period even more precisely when ›discovery of self‹ is coupled with and understood in the context of ›discovery of model for behaviour‹ and ›discovery of consciously chosen community‹.« Bynum (1980), 17. 103 | Black (1988), 591.
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90 | »New World Horizon« Die menschliche Gemeinschaft findet dabei ihren letzten Grund und ihr Fundament nach wie vor in der Beziehung zu Gott und richtet sich nach der Ordnung des göttlichen Kosmos aus. Individuen sind nur denkbar als Teil eines gemeinschaftlichen Körpers, von dem her sie ihre Funktionen und Rollen beziehen: »as St. Paul said, some are called to teach, others to heal and so on«104. Zusammengehalten wird dieses Gesellschaftskonzept durch die Vorstellung eines organischen Ganzen beziehungsweise durch eine organische Analogie zum göttlichen Kosmos, die vieles umgreifen und integrieren kann, einem jedoch radikal die Toleranz verweigert: der häretischen Infragestellung des Modells an sich.105 Jan A. Aertsen hat darauf hingewiesen, dass sich die historisch rückwärtsgewandte Suche nach dem modernen Individuum und seinen Ursprüngen in Probleme verstrickt, welche sich aus dem Zurückprojizieren moderner Sichtweisen ergeben. So erachtet er es als methodisch bedenklich, dass Morris die Modernität als Ausgangspunkt dient und er aus dieser Perspektive nach dem Zeitpunkt der sich erstmals abzeichnenden Umrisse des heutigen Menschen fragt. Dieselbe Kritik richtet sich gegen Gurjewitsch: auch bei ihm wird die Suche nach der Individualität mit der Suche nach der Persönlichkeit gleichgestellt, womit die Frage aus dem Blick gerät, was das Mittelalter selbst unter einem individuum verstanden hat.106 Individualität und Personalität sind im Mittelalter jedoch nicht deckungsgleiche Konzepte. Das Unteilbare (in-dividuum) bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern auf jedes Ding.107 Die Individualität des Menschen zeichnet sich darüber hinaus jedoch auch durch Personalität aus, wozu man den antiken Personbegriff in den christologischen Debatten und in der Trinitätslehre aufgegriffen und entsprechend umgeformt hat. Ein Schlüsselautor für das mittelalterliche und von da in die Moderne ausstrahlende Personverständnis ist Boethius, der von der »Einzelsubstanz der vernunftbegabten Natur« spricht. Damit rückt die Vernünftigkeit ins Zentrum des Personbegriffs und mit ihr die Konzepte von Würde, Freiheit und Moral.108 104 | Black (1988), 592. 105 | Zum Modell der ›organischen Analogie‹ siehe Black (1988), 592. 106 | Jan A. Aertsen, 1996, Einleitung: Die Entdeckung des Individuums,
in: Jan A. Aertsen, Andreas Speer, Hg., Individuum und Individualität im Mittelalter, Berlin, New York, Xf. 107 | Siehe Sève (1990). 108 | Siehe Aertsen (1996), XVf. Zum ›Personbegriff‹ des Mittelalter sie-
he auch Theo Kobusch, 1993, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der
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Wenn man über das Mittelalter hinausblickt, richtet sich der Fokus für die weiteren einschneidenden Veränderungen des Individualitätsverständnisses auf die Jahrhunderte nach der Reformation. Das 18. Jahrhundert zeigt einen deutlichen Umbruch in der Semantik des Individuums, welcher den seit langem vor sich gehenden sozialstrukturellen Wandel zum Ausdruck bringt. Im Anschluss an den Datierungsvorschlag von Luhmann, der den Terminus ›Individuum‹ in seiner modernen, geläufigen Bedeutung mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ansetzt109, identifiziert Marianne Willems vor allem die Phase des Sturm und Drang in Deutschland als Schwelle des modernen Individualitätsverständnisses. Das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts markiert – wie andernorts auch für den Bereich der Begriffsgeschichte festgestellt wurde110 – einen Epochenwechsel.111 Die literarische Strömung des Sturm und Drang bringt zwei wesentliche Veränderungen gegenüber den ihr vorausliegenden Epochen der Empfindsamkeit und des Rationalismus. Erst zu jener Zeit wird durch die Ausbildung einer Genieästhetik die Kunst sowohl von religiösen wie auch von politischen Repräsentationsaufgaben abgetrennt. Die Kunst erlangt eine Freiheit von der Gesellschaft, die es zuvor für sie nicht gab, und in ihr wird nun auf der Grundlage des Geniebegriffs – dies die zweite Neuerung – ein Individualitätsbegriff möglich, der auf die Probleme, die sich aus der sozialstrukturellen Lage des gesellschaftFreiheit und modernes Menschenbild, Freiburg im Breisgau, 23-54. Vgl. auch die entsprechenden Artikel zu ›Individuum, Individualität‹ und ›Person‹, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Hg., Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, und Bd. 7, Basel 1989. Zur Begriffsgeschichte, vor allem auch zum römischen Begriff ›persona‹ (ursprünglich ›Maske‹, ›Rolle‹ des Schauspielers), siehe auch Manfred Fuhrmann, 1996, Persona, ein römischer Rollenbegriff, in: Odo Marquard, Karlheinz Stierle, Hg., Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München, sowie Marcel Mauss, 1985, A category of the human mind: the notion of person; the notion of self, in: Michael Carrithers, Steven Collins, Steven Lukes, eds., The Category of the Person. Anthropology, Philosophy, History, Cambridge, England. 109 | Luhmann (1993), 173. 110 | Siehe Reinhart Koselleck, 1972, Einleitung, in: Otto Brunner, Wer-
ner Conze, Reinhart Koselleck, Hg., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart. 111 | Marianne Willems, 1999, Vom ›blossen Menschen‹ zum ›einzigar-
tigen Menschen‹. Zur Entwicklung der Individualitätssemantik in Rationalismus, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, in: Herbert Willems, Alois Hahn, Hg., Identität und Moderne, Frankfurt am Main, 105.
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92 | »New World Horizon« lich zunehmend exkludierten Individuums ergeben, reagiert. Damit treffen semantische Lösung und sozialstrukturelle Problemlage in dieser Phase der historischen Entwicklung in einer Weise zusammen und machen die Probleme moderner Identitätsbildung sichtbar und fassbar, die – so Willems – wohl einmalig ist. Der genuine Beitrag des Sturm und Drang zur modernen Individualitätssemantik besteht in der Formulierung des Konzepts der »weltkonstituierenden Individualität«.112 Er legt die Grundlagen für den Autonomieanspruch des Subjekts, der heute als selbstverständlich angenommen wird und in dem sich ein unüberbrückbarer Gegensatz von Individuum und Gesellschaft manifestiert. Das durch sich selbst Welt schaffende Genie und später, gleichsam demokratisch verallgemeinert, jeder Einzelne finden keinen Rückhalt mehr in der Gesellschaft, von der man sich zunehmend entfremdet. Soziale Existenz und Selbstverwirklichung werden im Sturm und Drang zu zwei unvereinbaren Gegensätzen, und ihre Unvereinbarkeit weist voraus auf das, was dann bei Luhmann die Steigerbarkeit des Individuums genannt wird mit den entsprechenden modalisierenden und temporalisierenden Folgen für die persönliche Identität.113 Das Individuum, das sich die »Welt« selbst schafft, erschafft sich dadurch selbst als Individuum. Welt und Individuum beginnen in eins zu fallen, das Individuum zum Absolutum, zu seiner eigenen Welt zu werden. Als Kriterium für das Gelingen des Unternehmens gilt dabei dann der Stand der Perfektion des geschaffenen Kunstobjekts – des Individuums –, gemessen über die Zeit. Damit wird eine Dynamik freigesetzt, die bislang in der Statik klarer Rollen- und Identitätszuschreibungen aufgehoben war. Dieses auf sich selbst hin fokussierte Individuum sucht und findet neue Formen des Ausdrucks. Es lernt sich selbst zu analysieren und benützt dazu die entsprechenden Mittel: nun nicht mehr in erster Linie die Beichte, sondern zunehmend das Tagebuch und später die Psychoanalyse. Volker Kapp zeigt auf, wie eine besondere Art von Selbstbeobachtung eine neue Art von Literatur hervorbringt, wobei er nachzeichnet, wie aus den autobiographischen Bekenntnissen Rousseaus schliesslich die Entdeckung des Tagebuchs als literarischer Form hervorgeht, indem das Bekenntnis eine literarische Stilisierung erfährt.114 Immer mehr geht es im 19. Jahrhundert darum, sich selbst mit wissenschaftlichem Anspruch zu erforschen und zu einem ehrlichen, offenen Selbstbildnis zu gelangen – die Analyse um der Analy112 | Willems (1999), 107. 113 | Luhmann (1993), 191f. 114 | Kapp (1987).
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se willen und in Distanz zu moralischen Wertkriterien. Der pure Wunsch, sich selbst und damit die Welt zu verstehen, werden zum obersten Gebot.115 Noch im 17. Jahrhundert war die Motivation autobiographischer Selbstthematisierung eine andere: gegen die Offenlegung des inneren Selbst gab es moralische, ästhetische und gesellschaftliche Bedenken.116 Erst durch den im persönlichen Tagebuch als literarischer Form möglichen Ausschluss der Öffentlichkeit – solange man es nicht auf die Veröffentlichung des Niedergeschriebenen abgesehen hat – kann man mit sich selbst wirklich ehrlich sein und schonungslos alles offenlegen. Das Tagebuch hat darin – so Kapp – seine Funktion: bei der systematischen Erschliessung der Innensicht des Bewusstseins.117 Der Problemhintergrund, der sich den Tagebuchautoren seit Rousseau erschliesst, bringt dabei ein Thema an die Oberfläche und ins Bewusstsein, das die Moderne nachhaltig beschäftigt: das Problem des Beobachters. Der Einzelne tritt sich selbst beobachtend gleichsam aus sich heraus und sieht sich mit den Augen des anderen. Was er so gerade nie wirklich sehen kann, ist das, wonach er eigentlich sucht – das eigene, das innerste Selbst: »Die dadurch entstehende Divergenz zwischen Innen- und Aussenansicht hindert den Verfasser einer Autobiographie daran, zu sich selbst zu kommen und sein wahres Ich mitzuteilen.«118 Für die Individualisierungsdiskussion bemerkenswert ist hier, dass sich bereits im 19. Jahrhundert eine Situation abzuzeichnen beginnt, die dann für das späte zwanzigste Jahrhundert zum Signum der Zeit werden wird – zumindest nach Ansicht vieler professioneller Beobachter der gegenwärtigen Gesellschaft. So dient das autobiographische Tagebuch im 19. Jahrhundert dem Versuch, ein bestehendes ›Sinndefizit‹ wettzumachen. Wo die »grossen Perspektiven« (Kapp) fehlen, die früher eine Autobiographie retro- und prospektiv zusammenzuhalten vermochten, wird der Einzelne zu seinem eigenen Sinnstifter, dies nun allerdings auf der Grundlage vieler Einzelbeobachtungen, die sich nicht mehr ohne weiteres zu einem umfassenderen, grösseren Bild zusammenfügen lassen. Das Niederschreiben der einzelnen Beobachtungen hat dann die Funktion, den von aussen her 115 | Kapp (1987), 303. 116 | Die Entwicklung hin zur wissenschaftlichen Selbstbeobachtung
und Selbstanalyse lässt sich bereits seit dem 18. Jahrhundert deutlich erkennen, siehe Nikolaus Wegmann, 1988, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart, 37. 117 | Kapp (1987), 306. 118 | Kapp (1987), 305.
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94 | »New World Horizon« nicht mehr gegebenen Sinn von innen her aus vielen heterogenen Stücken zu einem Ganzen zu formen: Sinnstiftung und Identitätskonstitution durch Schreiben mit Blick nach innen und nicht – wie früher – Darstellung des Selbst als Nachweis der Erfüllung der von aussen durch die Gesellschaft auferlegten Erwartungen. Diese Beschreibungen einer individuellen Befindlichkeit beziehungsweise einer im Individuum aufbrechenden Empfindlichkeit werfen die Frage auf, wie es historisch überhaupt so weit hat kommen können. Wie konnte Individualität zum Problem werden: zuerst für die schreibenden Eliten und danach immer mehr – so macht es den Anschein – für jedermann. Denn nicht Individualität per se und das Bewusstsein seiner selbst entstehen mit der Moderne, sondern das Erleben der Problemhaftigkeit von Individualität.119 Erst in der Moderne – so Soeffner – entsteht das Problem, dass »die historische Ausformung eines bestimmten signifikanten Individualitätstypus in der Sozialisation nicht mehr selbstverständlich verläuft«120. Erst die sozialstrukturelle Ausdifferenzierung führt dazu, dass der soziale Ort und damit auch die Bestimmtheit der eigenen Identität zum Problem werden. Die europäische Entwicklung hat dabei zu einer Problemlösung geführt, bei welcher das Subjekt zu einer autonomen, selbstreferentiellen Grösse stilisiert wird. Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung steht ein Individuum, das sich selbst »vergöttlicht« und zu seinem eigenen religiösen Gegenstand geworden ist.121 Im sozialen Darstellungstypus »akzentuierter Subjektivität« lässt sich dieser Individualitätstypus zusammenfassen.122 Ausgehend von Luther entwickelt Soeffner diesen Typus und zeichnet sodann den Wandel in Glauben und Lebensführung nach, der an die Stelle kollektiver Verankerung zunehmend die Vereinzelung des Subjekts und die Steigerung desselben hin zu einem letzten, unhintergehbaren Referenzpunkt setzt. Während Luther trotz – oder besser: wegen – der neuartigen Betonung der Rolle des Subjekts in Glaubensfragen noch fest in einem 119 | Soeffner (1983), 37. 120 | Soeffner (1983), 37. 121 | Hans-Georg Soeffner, 1994, Das »Ebenbild« in der Bilderwelt – Re-
ligiosität und die Religionen, in: Walter M. Sprondel, Hg., Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann, Frankfurt am Main, 292ff. 122 | Hans-Georg Soeffner, 1992, Luther – Der Weg von der Kollektivität
des Glaubens zu einem lutherisch-protestantischen Individualitätstypus, in: ders., Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2, Frankfurt am Main, 20.
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religiösen Weltbild wurzelt und auf die Gnade einer ihm übergeordneten, absoluten Macht, auf seinen Gott, angewiesen bleibt, schwindet diese Macht mit der schwächer werdenden Überzeugungskraft des Christentums. Statt auf einen Gott im Aussen bezieht sich der moderne Mensch auf einen Gott im Innen, der mit dem einzigartigen Subjekt verschmilzt. Der Schritt in die existentielle Einsamkeit des modernen Subjekts vollzieht sich über den Zwischenschritt einer innigen Zweisamkeit zwischen dem Christenmenschen und seinem Gott, der zu einem intimen, jedoch deswegen nicht weniger verborgenen und unergründlichen Gegenüber in einer ungleichen Partnerschaft wird. Die Asymmetrie dieser Beziehung fordert dem Gläubigen eine neuartige Form der Selbstdisziplinierung ab. Das ganze Leben wird zur Bewährungsprobe und – vor dem Hintergrund einer lebenslangen Unsicherheit über das erfolgreiche Bestehen dieser Prüfung – zur Arbeit an einer gottgefälligen Perfektion des Selbst und einer dazu notwendigen andauernden Erforschung des Gewissens. Später dann, mit der Schwächung traditioneller religiöser Transzendenzmodelle, tritt »die Gesellschaft« an die Stelle Gottes und setzt dem Individuum die Massstäbe seiner Selbstsicht.123 Während jedoch der lutherisch-protestantische Mensch in Gott eine feste Achse seines Weltbildes gefunden hat und dessen Autorität durch keinen Zweifel am Glauben grundsätzlich gebrochen wurde, wird »die Gesellschaft« nun zunehmend zum feindlichen Gegenüber des Individuums.124 Die Wahrheit liegt nicht mehr in der Transzendenz Gottes oder in der sozialen Aussenwelt, sondern im Ich, das allein Anspruch auf ›Authentizität‹ erheben kann. Während der Lutheraner noch vor der Totalität Gottes vereinzelt, haben wir es später schliesslich mit der »Vereinzelung als Totalität« (Soeffner) zu tun. Luther steht dabei am Anfang einer strukturellen und semantischen Entwicklung, die in den Typus eines innerweltlichen Individuums mündet, wobei der religiöse Ausgangspunkt erkennbar bleibt: »In dem Masse, in dem Luthers Lehre gelebt wird und seine Anleitungen zu einem christlichen Leben im Alltag wahrgenommen und umgesetzt werden, entsteht ein neuer Typus der Lebensführung (vgl. Weber) und ein neuer Typus
123 | Klassisch z.B. Emile Durkheim, 1992 (1893), Über soziale Arbeits-
teilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main. 124 | Dies gilt aufgrund der unterschiedlichen theologischen Grundaus-
richtung nicht für die calvinistische, weltzugewandtere Variante des Protestantismus, vgl. Soeffner (1992), 67ff.
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96 | »New World Horizon« der Sozialität: die Vereinzelung in der Gemeinschaft.«125 Erst der ›Gottesverlust‹ führt schliesslich dazu, dass sich das ursprünglich auf Transzendenz gerichtete Sehnen nach Erlösung ins Individuum verlagert. Das Individuum wird zum unhintergehbaren Referenzpunkt, indem es sich selbst im Zentrum des Sinngefüges platziert. Während die Vereinzelung an sich eine historisch weiter zurückreichende, im Christentum im Allgemeinen126 und in der Reformation im Speziellen angelegte Erscheinung ist, wird sie erst jetzt in der Verabsolutierung des Subjekts zur Bedrohung.127 Im sich selbst Gott werdenden Individuum zieht sich nun der Gegensatz von Gott und Mensch zusammen und produziert eine der Tendenz nach als unerträglich empfundene Spannung: der Mensch ist gleichsam Gott und Gläubiger in einem, allwissend und unwissend, allmächtig und ohnmächtig, zeitlich und zeitlos zugleich. Dem Anspruch nach ist dieses Subjekt autonom und selbstversorgt, eben emanzipiert. Aber es ist auch selbstreflexiv und kann deshalb die brüchigen Grundlagen seiner Identitätskonstruktion wenn nicht klar erkennen, so doch erahnen. Von nun an geht es darum, diese Paradoxien und Widersprüche in konsistenten »Erzählungen« des Ich zum Verschwinden zu bringen, das heisst vor allem auch, die »geschlossene«, einheitliche Identität der Person für die Aussenwelt und für sich selbst plausibel zu machen.128 Das kann dadurch erreicht werden, dass man – zum Beispiel als moderner Autor oder Künstler – das Paradox selbst zum Thema macht. Der Bogen jetzt möglicher Ich-Erzählungen reicht jedoch weit. Er erstreckt sich bis hin zu den zahlreichen therapeutischen Angeboten der Psychologie und der Selbsterfahrungsbewegung. 125 | Soeffner (1992), 47. Soeffner bezieht sich hier auf Max Webers Ge-
sammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. 126 | Die christliche Offenbarung hat – so Aertsen im Anschluss an Eti-
enne Gilson – der philosophischen Tradition des Mittelalters unter anderem auch das Thema der Individualität gegeben: »Der Mensch ist, von Gott als gesonderte Individualität erschaffen und erhalten, nunmehr der Hauptdarsteller in einem Drama, in dem es um sein eigenes Geschick geht. […] Das Heil hat einen individuellen Charakter; es ist der Einzelmensch, der in Beziehung zu Gott steht. Der Gott der Christen ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.« Aertsen (1996), XIV. 127 | Soeffner (1992), 64. 128 | Ob solche modernen narrativen Konstruktionen des Ich überhaupt
noch möglich sind und ob sich daran biographische Zukunftsperspektiven gewinnen lassen, wird heute bezweifelt, vgl. Richard Sennett, 1998, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin.
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Damit scheint der historische Befund deutlich zu sein. Moderne und Religion markieren den Weg für ein Individuum, das einerseits über immer ausgeprägtere und ausgefeiltere Mechanismen internalisierter Selbstkontrolle verfügt und andererseits lernt, einen Anspruch auf Autonomie, Authentizität und »Selbstverwirklichung« zu formulieren und gegen ›dekonstruktivistische‹ Herausforderungen zu behaupten. Die moderne Gesellschaft verlangt von den einzelnen Individuen mehr Eigenständigkeit und überfordert sie dabei gelegentlich oder wahrscheinlich eher: systematisch. So lebt der Einzelne entsprechend dem ›Individualisierungstheorem‹, wie es durch die Lebensstildiskussion im Anschluss an Ulrich Beck gefasst wird, »heute grundsätzlich, und das heisst: auch dann, wenn unsere je aktuelle Lebenslage nach aussen hin stabil wirkt, existentiell verunsichert«129. Permanente Wahl- und Entscheidungssituationen gehören zum Lebensalltag. Man kann jedoch bezweifeln, ob der hohe Grad der Individualisierung im Sinne einer strukturellen Vereinzelung, wie ihn die Lebensstiltheorie postuliert, in der spätmodernen Gesellschaft umfassend gegeben ist.130 Eine stärker historisch ausgerichtete Perspektive und entsprechende Vergleiche von zeitlich verschiedenen Lagen, die man bei der Lebensstildiskussion über weite Strecken vermisst, würden hier möglicherweise zu anderen Schlussfolgerungen führen. Zumindest legt dies bereits der kursorische Blick zurück in die Geschichte, wie er oben unternommen wurde, nahe. Nicht so sehr die aus der sozialstrukturellen Lage hervorgehende Steigerung der Anforderungen an die Entscheidungsfähigkeit der Individuen in den je verschiedenen Lebensbereichen, sondern die Frage, wie – das heisst: 129 | Hitzler (1994), 77. 130 | Zur Lebensstildiskussion siehe insbesondere Peter A. Berger, Ste-
fan Hradil, 1990, Die Modernisierung sozialer Ungleichheit – und die neuen Konturen ihrer Erforschung, in: dies., Hg., Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Soziale Welt, Sonderband 7, Göttingen; Gerhard Fröhlich, Ingo Mörth, 1994, Lebensstile als symbolisches Kapital? Zum aktuellen Stellenwert kultureller Distinktionen, in: Ingo Mörth, Gerhard Fröhlich, Hg., Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt, New York; Stefan Hradil, 1990, Individualisierung, Pluralisierung, Polarisierung: Was ist von den Schichten und Klassen geblieben?, in: Robert Hettlage, Hg., Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz, München. Zur Relativierung von Klassengrenzen und den damit verbundenen Rückwirkungen auf individuelle Identität vgl. bereits Thomas Luckmann, Peter L. Berger, 1964, Social Mobility and Personal Identity, in: Archives européennes de sociologie, V, 331-344.
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98 | »New World Horizon« mithilfe welcher verfügbaren Deutungsmuster und aufgrund welcher symbolischer Ressourcen – mit dieser Situation umgegangen wird, scheint im Zeit- und Kulturvergleich zu interessanten Einsichten zu führen. Die semantischen und symbolischen Möglichkeiten der Individuen, sich selbst als autonom und als »aussergesellschaftlich« oder »gegengesellschaftlich« zu definieren, sind durch die spezifische strukturelle und kulturelle Entwicklung der je in Augenschein genommenen Gesellschaft bedingt. Die in Umlauf gesetzten Etiketten zur Bezeichnung der modernen Gesellschaft wie »Arbeitsmarkt«-, »Risiko«-, »Erlebnis«- oder »Spassgesellschaft« verdecken dabei die kulturellen Grundlagen der Entwicklung im Allgemeinen und die religiösen im Besonderen. Sie werfen zumindest kein Licht auf die kulturell-historischen Ursprünge der uns heute geläufigen Semantik des Individuums, bei der der Religion eine wesentliche Rolle zukommt, wie Soeffner an der historischen Herleitung des sozialen Darstellungstypus »akzentuierter Subjektivität« und seiner lutherisch-reformatorischen Grundlagen aufgezeigt hat. Während die menschliche Fähigkeit zum Transzendieren in der anthropologischen Möglichkeit des Erfahrens immer schon gegeben ist, entwickelt sich die besondere, für die Moderne typische, aufs Innere abzielende Individualitätssemantik nicht ausschliesslich, aber auch vor dem Hintergrund des Problems der ›grossen‹ Transzendenz aus der Entwicklung des Christentums beziehungsweise der Reformation heraus. Die amerikanische Gesellschaft teilt zwar mit den europäischen Gesellschaften die gleiche religionsgeschichtliche Ausgangslage, sie hat jedoch – wie im letzten Kapitel (Kap. 5) gezeigt werden soll – im Verlauf ihrer Geschichte Spezifika ausgebildet, die schliesslich in eine andersartige Individualitätstypik münden. Nach einer nun folgenden, die empirische Arbeit leitenden methodisch-theoretischen Standortbestimmung im nächsten Kapitel lässt sich der Versuch starten, diese aktuell wie auch historisch unterschiedliche Situation des amerikanischen Falles zu rekonstruieren.
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3. Methode
Was im Folgenden versucht wird – die Rekonstruktion amerikanischer Individualitätssemantiken – hat keinen »repräsentativen« Anspruch. Das Vorgehen eröffnet jedoch einen Blick auf Bestände an Sinnstrukturen, die im Zusammenspiel von empirischem Material und dessen kontextueller Einbettung entstehen und einige etwas anders gewichtete Akzentsetzungen des amerikanischen kulturellen Selbstverständnisses aus soziologischer Perspektive zu bedenken geben. Im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramms, das die Erfahrungswissenschaft Soziologie als Wissenschaft von der sozialen Konstitution, Speicherung und Weitergabe von Erfahrung und damit auch der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit versteht1, versucht die vorliegende Studie, den Erfahrungen und den Konstitutionsbedingungen von Individualität anhand konkreter Einzelfälle auf den Grund zu gehen. Der Fall als Handlungseinheit, der hier zur Untersuchung gelangt, wird vom thematisch orientierten, ›freien‹ Interview2 gebildet, das heisst, von einem jeweils rund 1 | Vgl. Soeffner (1991a), 266. 2 | Zum ›freien‹ Interview vgl. auch Soeffner (1989), 185ff. Interviews
als methodisches Mittel eignen sich insbesondere für thematisch zu erschliessende Wissensbestände, im vorliegenden Fall also zur Rekonstruktion des entlang der eigenen Biographie entwickelbaren Individualitätsverständnisses. Für andere Erkenntnisinteressen eignen sich Interviews nicht, da sie – worauf Hitzler und Honer hinweisen – zum Beispiel bei habitualisierten Fertigkeiten, bei Vollzugsroutinen und bei quasi-automatischen Verhaltensweisen defizitäre und irreführende Resultate zeitigen, siehe Ronald Hitzler, Anne Honer, 1997a, Einleitung: Hermeneutik in der deutschsprachigen Soziologie
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100 | »New World Horizon« einstündigen, auf Tonband aufgezeichneten und transkribierten Gespräch. Gesprächspartner und -partnerinnen waren 39 Mitglieder aus drei verschiedenen religiös-weltanschaulichen Gruppierungen. Das so entstandene Datenmaterial wird ergänzt durch aus teilnehmender Beobachtung hervorgegangene Beobachtungsprotokolle, das heisst, die Gruppen wurden je während mehrerer Monate regelmässig in unterschiedlichen Zusammenhängen und zu verschiedenen Anlässen besucht: zu Gottesdiensten ebenso wie zu Meditationszusammenkünften, zu Bibelgruppen, zu Vorträgen und Diskussionsgruppen, zu geselligen Anlässen und zu Festen wie auch zu Besprechungen und Sitzungen verschiedenster organisatorischer Gremien. Während teilnehmende Beobachtung im Forschungsfeld der Erschliessung von Kontextwissen dient, entsteht die eigentliche Interpretationsarbeit zur Hauptsache am Text selbst, also an den Transkripten der Interviews. Die Altersskala der Interviewten, bei denen es sich mit zwei Ausnahmen, einer Schwarzen und einem Amerikaner asiatischer Herkunft, um weisse Amerikanerinnen und Amerikaner handelt, reicht von Anfang zwanzig bis Anfang siebzig. 18 Frauen und 21 Männer wurden interviewt. Die Gruppen wurden so ausgewählt, dass ihre Mitglieder mehrheitlich der Mittelschicht angehören, wobei neben der Berufszugehörigkeit beziehungsweise der Einkommensklasse vor allem das Kriterium der Bildung zur Anwendung kommt: alle Interviewten verfügen zum Mindesten über einen College-Abschluss (Bachelor), sind also mindestens ungefähr bis zu ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr zur Schule gegangen. Die interviewten Personen verteilen sich wie folgt auf die verschiedenen beruflichen Tätigkeiten: drei sind in der Finanzwirtschaft tätig (zwei Frauen, ein Mann), drei als Universitätsprofessoren (eine Frau, zwei Männer), zwei als Lehrer (eine Frau, ein Mann), vier in nicht-öffentlichen Verwaltungen (drei Frauen, ein Mann), einer im Verkauf, vier sind als Hausfrauen tätig, eine als Schriftstellerin, zwei als Künstler (beides Männer), drei in der Computerbranche (drei Männer), einer als Anwalt, einer als Journalist, drei in naturwissenschaftlichen Laboratorien (alles Männer), einer im Non-profit-Bereich, eine in der Alternativmedizin. Zwei Frauen und ein Mann waren zur Zeit des Interviews ohne Arbeit. Schliesslich befanden sich drei Studentinnen und drei Studenten unter den Befragten.
heute, in: dies., Hg., Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen, 14, Anm. 7.
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Der Rahmen, innerhalb dessen die vorliegende Untersuchung sowohl methodisch wie auch theoretisch ihren Platz findet, wird von jenem Forschungsfeld gebildet, das unter dem Namen der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik unterschiedliche, jedoch miteinander zum Teil eng verwandte Ansätze zusammenfasst.3 An der für die Entstehungsgeschichte der Geisteswissenschaften wesentlichen Unterscheidung von ›Verstehen‹ und ›Erklären‹ anschliessend, wird in der hermeneutischen Tradition von einer bereits vorinterpretierten Welt der Handelnden ausgegangen, die allem wissenschaftlichen Tun und Beobachten vorausliegt.4 Menschen bewegen sich in einer immer schon sinnhaft vorstrukturierten Welt, an welcher sie ihr Handeln orientieren. Über die Notwendigkeit, sich diesen Sinn deutend zu erschliessen, nehmen Handelnde ihrerseits an der Sinnkonstitution teil. Auslegungsbedarf beziehungsweise Deutungszwang lassen sich dabei im Anschluss an Helmuth Plessner im Wesentlichen der anthropologischen Grundverfasstheit des Menschen zuschreiben.5 Anders als die Lebewesen der Tierwelt zeichnet sich der Mensch durch eine mangelhafte Instinkthaftigkeit aus, die ihn zur Deutung nicht nur von Umwelt und Mitmenschen, sondern auch vom eigenen Verhalten und Tun anhält. Aus diesen Deutungen geht ein in Erfahrungen gründendes und sich ständig veränderndes und sich weiterentwickelndes Wissen hervor, das sich in komplexen Sozialverbänden immer seltener auf selbstgemachte Erfahrungen beziehen kann, sondern den Einzelnen dazu zwingt, auf gesellschaftliche Wissensbestände als soziohistorisches Apriori zurückzugreifen.6 Die Hermeneutik als Lehre vom interpretativen Vorgehen geht davon aus, dass sich die Welt der Kultur auf der Grundlage des Verstehens erschliesst, also gleichsam ›von innen‹ und nicht wie eine Erscheinung der physikalischen Welt durch Betrachtung und durch 3 | Vgl. den von Ronald Hitzler und Anne Honer herausgegebenen, eine
Übersicht über die unterschiedlichen Forschungszweige bietenden Sammelband: Ronald Hitzler, Anne Honer, Hg., 1997, Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen. 4 | Zur Bedeutung von Interpretation und Verstehen auch für die Na-
turwissenschaften siehe Karin Knorr-Cetina, 1991, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main, bes. Kap. 7. 5 | Helmuth Plessner, 1981 (1928), Die Stufen des Organischen und
der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt am Main. 6 | Vgl. Soeffner (1989), 99.
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102 | »New World Horizon« Erklärung ›von aussen‹.7 Während die Hermeneutik in ihren Anfängen in ihrer Funktion als Hilfswissenschaft zur Textauslegung in Theologie und Jurisprudenz nach dem ›Wahren‹ im Text – etwa nach dem einen Subjekt in der Heiligen Schrift und dessen Willen8 – suchte, hat sich daraus im Laufe der Zeit immer stärker gleichsam als unintendierte Nebenfolge dieses Unterfangens ein Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit der Welt entwickelt, das dem einen Wahren das daneben immer auch mögliche Andere, auch und vielleicht ebenso Wahrscheinliche gegenüberstellt. Skepsis und Zweifel am Gedeuteten und die Suche nach Deutungsalternativen, über welche sich hermeneutisches Arbeiten heute im Kern definiert, standen jedoch – so Soeffner und Hitzler – nicht am Anfang der hermeneutischen Wissenschaftstradition: »Sie entwickelten sich historisch ›hinter dem Rücken‹ der Interpreten, bis sie schliesslich deren Bewusstsein einholten.«9 Dieses Bewusstsein hat sich im Anschluss an die geisteswissenschaftliche Hermeneutik und an Max Webers verstehende Soziologie in Form einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, die ihren Blick sowohl an theoretischen wie an empirischen Problemen und Fragestellungen schulte und schult, weiter geschärft. Neben der deutschen Entwicklungslinie nehmen dabei auch der amerikanische Pragmatismus und hier vor allem das grundlagentheoretische Werk von George H. Mead, das auch einen wichtigen Einfluss auf Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns ›gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‹10 hatte, eine zentrale Stellung innerhalb der interpretativen Soziologie der Gegenwart ein. Grundlegend für die Annahme der Deutungsgebundenheit allen Handelns und Auslegens – ob alltäglich oder wissenschaftlich – ist dabei der sprachliche wie auch der nichtsprachliche Zeichen- und Symbolcharakter menschlichen Wahrnehmens und Kommunizierens, worauf Mead, aufbauend auf seiner Theorie der Gestenkommunikation und der gegenseitigen Perspektivenübernahme der Handelnden von der face-to-face-Interaktion bis
7 | Hans-Georg Soeffner, Ronald Hitzler, 1994, Hermeneutik als Hal-
tung und Handlung. Über methodisch kontrolliertes Verstehen, in: Norbert Schröer, Hg., Interpretative Sozialforschung. Auf dem Wege zu einer hermeneutischen Wissenssoziologie, Opladen, 31. 8 | Soeffner/Hitzler (1994), 30. 9 | Soeffner/Hitzler (1994), 30. 10 | Berger/Luckmann (1990).
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»hinauf« auf die Ebene kollektiver Identität in Form des ›generalized other‹, verweist.11 Entsprechend lassen sich mit Alfred Schütz zwei Grundformen des Wissens unterscheiden: jenes Wissen, das die Individuen ihrem Handeln im Alltag zugrunde legen und woher sie ihre Entscheidungsgrundlagen und ihre Orientierung beziehen, sei es intentional-bewusst oder aber schweigend und unreflektiert (›tacit knowledge‹), einerseits, sowie das Wissen der Wissenschaft andererseits. In beiden Fällen haben wir es mit Prozessen des Verstehens und des Auslegens einer Welt zu tun, die sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnet. Bei der Wissenschaft handelt es sich jedoch im Vergleich mit dem Alltagsverstehen um ein tendenziell formalisierteres und institutionalisierteres Verstehen, das sich zum Ziel setzt, die latent wirksamen Strukturen des Alltagswissens aufzudecken. Verstehen ist dabei zuallererst einmal eine Alltags-Routine, welche die Grundlage auch des wissenschaftlichen Verstehens bildet, woraus sich das besondere Problem des unter dem Paradigma der verstehenden Soziologie arbeitenden Wissenschafters ergibt: das Problem, zu erklären und zu verdeutlichen, worin denn nun eigentlich das Wissenschaftliche des wissenschaftlichen Verstehens besteht.12 Das Alltagswissen, das seinem Charakter nach inexplizit ist, bildet einen besonderen Typ der Erfahrung und des Wissens, von dem sich das wissenschaftliche Wissen in seinem Versuch des distanzierten, skeptischen und immer auch an den Objektivierungen wissenschaftlicher Erkenntnis zweifelnden Rekonstruierens alltäglicher Wirklichkeiten unterscheidet. Schütz verwendet zur theoretischen Beschreibung dieses Sachverhalts die Unterscheidung von Konstruktionen erster und zweiter Ordnung.13 Die Wissenschaft beschäftigt sich, indem sie selbst Konstruktionen – jene zweiter Ordnung – hervorbringt, mit den Konstruktionen der Alltagswelt. Sie tut dies kategorisierend, typenbildend und modellierend und produziert so »kontrollierte, methodisch überprüfte und überprüfbare, verstehende Rekonstruktionen der Konstruktionen 1. Ordnung«14. Eine so begründete Sozialwissen11 | Mead (1967); siehe auch oben, Kap. 1. 12 | Soeffner/Hitzler (1994), 29, und Hitzler/Honer (1997), 7. 13 | Alfred Schütz, 1973, On the Methodology of the Social Sciences, in:
Alfred Schütz, Collected Papers I. The Problem of Social Reality, The Hague. 14 | Hans-Georg Soeffner, 1991a, Verstehende Soziologie und sozial-
wissenschaftliche Hermeneutik – Die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2, 264.
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104 | »New World Horizon« schaft geht zwar von einer klaren Differenz zwischen Alltagswissen und Wissenschaft aus, sie vergisst jedoch nicht, dass auch die Wissenschaft letztlich im Handlungs- und Sinnbereich des Alltags verankert ist und ihre eigene ›Mythenbildung‹ auf jene des Alltags abstützt15 und sich im hermeneutischen Zirkel bewegt. Auch die Wissenschaft sitzt ihren eigenen Routinen auf, die sie, bemüht sie sich nicht explizit darum, nicht in den Blick bekommt. Sie operiert entlang ihres eigenen common sense. Was im Alltag das ›Weiter-wie-immer‹ des Handelns ist, ist in der auslegenden Wissenschaft das ›Deuten-wie-immer‹ auf der Grundlage von nicht weiter hinterfragten Kollektivsemantiken.16 Daraus folgt dann im Idealfall eine Ausweitung des Erkenntnisinteresses auch auf den Forschenden selbst, und die Frage nach dem ›Was‹ wird zunehmend durch jene nach dem ›Wie‹ des Verstehens ergänzt: nach den Konstruktionsregeln und -prozessen selbst, die das sozialwissenschaftliche Unternehmen anleiten und orientieren.17 Wenn davon auszugehen ist, dass es keine »objektiv« vermittelbare und in ihrem Sinn letztgültig erschliessbare Sozialwelt gibt, sondern dass diese gleichsam auf zwei Ebenen, nämlich auf jener des alltäglichen wie auch des ausseralltäglichen Handelns der Menschen und auf jener der dieses Handeln zum Gegenstand der Untersuchung machenden Wissenschaft, konstruiert und rekonstruiert wird, stellt sich die Frage, woran sich das Konstruieren halten und von welchen Minimalgegebenheiten es ausgehen soll, damit es sich nicht in endlosen Regressen und unaufhaltbaren Relativierungen verliert. Ausgangspunkt des Auslegens, so wie es im Rahmen dieser Untersuchung erfolgt, ist die Transformation der den Lebenswelten abgewonnen Daten in einen Text. Der Text ist die verschriftete Form einer abgeschlossenen und damit unwiederbringlich vergangenen Handlung beziehungsweise Interaktion. Er lässt sich auch als »Handlungsprotokoll« (Oevermann) bezeichnen, das die Grundlage der wissenschaftlichen Auslegung bildet. Die ursprüngliche Handlung ist zwar verloren, durch ihre »Fixierung« als Text erschliesst sich je15 | Soeffner (1989), 12, und Soeffner (1991a), 265. 16 | Vgl. Soeffner (1991a), 265. 17 | Soeffner/Hitzler (1994), 32. Vgl. auch Anthony Giddens, 1984, In-
terpretative Soziologie. Eine kritische Einführung, Frankfurt am Main, New York. Zur methodologischen und theoretischen Relevanz von ›wie‹-Fragen, vgl. auch Knorr-Cetina (1991), 48ff., und Niklas Luhmann, 1993, Identität – was oder wie?, in: ders., Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen.
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doch eine zweite, offene Sinnschicht: »Diese erhält ihre Struktur, ihre jeweiligen Zwecke und die Reichweite der Geltung der auf ihr basierenden Deutungen aus den sich auf sie beziehenden Interpretationstypen und Zielen. An derartigen Deutungs- und Anpassungsprozessen können der Handelnde selbst, Beobachter der Handlung und prinzipiell jedermann, der von ihr gehört hat, teilnehmen. Im Rahmen solch alltäglicher Deutungen ist es gleichgültig, ob die Erinnerung an die Handlung auf ›ursprünglichen‹ Eindrücken, mündlichen Berichten oder schriftlichen Aufzeichnungen beruht. Zudem sind hierbei die Eindrücke oder mündlichen Berichte ihrerseits selbst ständigen Veränderungen und Anpassungsprozessen unterworfen.«18 Kein Text lässt sich unabhängig vom historisch-kulturellen Standpunkt seines Interpreten ein für alle Mal auslegen. Daher ist ein Text – solange er für weitere Auslegungen materiell-physisch verfügbar bleibt – auch nie letztgültig gedeutet und der darin repräsentierte Fall nie »objektiv« erfasst. Entscheidend ist jedoch, dass sich damit der ursprüngliche Fall, ist er auch vergangen, nicht auflöst, sondern in seinem gegenüber dem Text eigenen Recht weiter besteht – die Auslegung soll versuchen, ohne dass man den Fall dabei »erreichen« könnte, diesem möglichst nahe zu kommen. Die Annäherung geschieht dabei durch den von Max Weber in die Methodendiskussion eingebrachten Idealtypus.19 Am exemplarischen Einzelfall lässt sich das Typische, also das Verallgemeinerungsfähige, herausarbeiten, was immer schon eine vom einzelnen Fall abstrahierende Leistung darstellt. Ziel ist es, sich über historische Einzelfälle und deren Vergleich zu einer allgemeineren Struktur durchzuarbeiten und in der logischen Unvereinbarkeit von Typus und Wirklichkeit Deutungsmöglichkeiten, das heisst alternative Modelle einer möglichen Sinnstruktur des Falles, herauszuarbeiten und sich den Einzelfall so verstehend zu erschliessen: »Die Rekonstruktion eines objektivierten Typus gesellschaftlichen Handelns baut sich dementsprechend auf von – jeweils extensiven – Einzelfallanalysen über Fallvergleich, Deskription und Rekonstruktion fallübergreifender Muster bis hin zur Deskription und Rekonstruktion fallübergreifender und zugleich fallgenerierender Strukturen. Der so rekonstruierte Typus enthält und veranschaulicht die strukturelle Differenz von evolutionär und historisch 18 | Soeffner (1989), 67f. 19 | Max Weber, 1988b (1922), Die »Objektivität« sozialwissenschaftli-
cher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen.
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106 | »New World Horizon« sich verändernden Strukturinformationen einerseits und ihren konkret historisch-kulturspezifischen Ausdifferenzierungen andererseits.«20 Damit baut der Sozialwissenschafter immer Modelle einer verschwundenen Wirklichkeit, wobei er über den Fall und den daran gewonnenen Text hinaus eine Vorstellung des Kontextes entwickeln muss, welche die Sinnrekonstruktion der Daten entscheidend beeinflusst. Soll eine ausschliessliche und verengende Konzentration auf den sprachlichen Text vermieden werden – immer unter der Annahme, dass die soziale Wirklichkeit mit dem Text nicht identisch ist –, so müssen, da die im sprachlichen Dokument repräsentierte ›Urszene‹ der Interaktion (Soeffner) verloren ist, hypothetische Kontexte gebildet werden, in welchen sich unter Rückgriff auf gesicherte zusätzliche Informationen der Text sinnvoll lokalisieren lässt.21 Am je spezifischen Umgang mit dem Problem des Kontexts lassen sich nicht nur die verschiedenen theoretischen und empirischen Programme und Ansätze identifizieren, die im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik arbeiten – also, in einer Grobeinteilung, entweder die fast ausschliesslich mit Texten im engeren Sinne beschäftigten Untersuchungen oder aber die eher milieuanalytisch orientierten Feld- und Einzelfallstudien. Das Problem des Kontexts verweist darüber hinaus auch auf die Gegenwartsgebundenheit allen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Deutens, welches sich vergangene Wirklichkeiten über gegenwärtig mögliche, das heisst kultur- und zeitspezifisch verfügbare Plausibilitäten erschliesst und damit per se immer revisionsfähig und revisionsbedürftig bleibt. Damit werden der Forschende selbst genauso wie der untersuchte Interaktionszusammenhang Gegenstand des Verstehens, das heisst, die historische Standortgebundenheit des Interpreten ist wissenssoziologisch zu rekonstruieren.22 Einmal abgesehen von diesen gleichsam »strukturellen« Grenzen jeden Interpretierens ist – worauf Norbert Schröer im Anschluss an Jo Reichertz hinweist – der Bewusstseinsvorgang des Auslegens weder dem Auslegenden selbst noch irgendjemandem sonst zugänglich. Wie sich eine bestimmte Lesart entwickelt und dann »auf einmal« durchsetzt, ist nicht rekonstruierbar. Schröer zitiert hier tref20 | Soeffner/Hitzler (1994), 39. 21 | Soeffner (1989), 120. 22 | Norbert Schröer, 1994, Einleitung: Umriss einer hermeneutischen
Wissenssoziologie, in: ders., Hg., Interpretative Sozialforschung. Auf dem Wege zu einer hermeneutischen Wissenssoziologie, Opladen, 20.
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fend Robert Musil: »So kommt das Durchrutschen doch auch für ihn überraschend, es ist mit einemmal da, und man kann ganz deutlich ein leicht verdutztes Gefühl darüber in sich wahrnehmen, dass sich die Gedanken selbst gemacht haben, statt auf ihre Urheber zu warten.«23 Der Moment der Lesartenbildung ist nicht bewusst erlebbar, folglich auch nicht darstellbar. Darüber hinaus existieren rein technisch-praktische Hindernisse: »Die nachzeichen-, aufzeichen- und erinnerbaren Forschungsanstrengungen sind einfach zu verschlungen und zu komplex, als dass sie auch nur annähernd in Gänze dokumentierbar wären.«24 Die Überprüfbarkeit der Ergebnisgewinnung ist entsprechend nur sehr begrenzt möglich: »Und deshalb muss auch im Vordergrund der Betrachtung die Überprüfung der dargestellten Begründung und eben nicht die der (nicht darstellbaren) Entdeckung stehen.«25 Auf zwei Ebenen, einerseits mit dem Verfahren der Sequenzanalyse, andererseits durch das vor allem mit den Namen von Anselm L. Strauss und Barney Glaser verbundene theoretisch-methodische Auslegungsverfahren der ›grounded theory‹, soll im Folgenden anhand der Interviewtranskripte versucht werden, Deutungsmustern von Individualität auf die Spur zu kommen. Die Sequenzanalyse versucht, der Interaktion in ihrer zeitlichen Entfaltungsstruktur gerecht zu werden. Interpretieren, sollen nicht einzelne Äusserungen aus dem Kontext gerissen werden, ist immer Sequenzanalyse, weil der untersuchte Diskurs beziehungsweise die Handlung selbst durch eine sequentielle Struktur gekennzeichnet ist.26 Das Protokoll der Handlung – der Text – wird in der Reihenfolge des Geschehens interpretiert, indem die Sequenzen in der Folge des Ablaufs ausgelegt werden. Dabei geht es nicht im Sinne der Empathie um ein Sich-Hineinversetzen in den ursprünglichen Interaktionszusammenhang, sondern um den Versuch, »perspektivenneutral« die »Kriterien für die Wahl eines sprachlichen Ausdrucks und die Anschlusskriterien gegenüber anderen sprachlichen Möglichkeiten«27 zu erklären. Ziel des schrittweisen, die im und als Text festgehaltene Abfolge des Interaktionsgeschehens aufnehmenden interpretierenden Vorgehens 23 | Robert Musil, 1978, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek, zitiert
nach Schröer (1994), 21. 24 | Schröer (1994), 21. 25 | Schröer (1994), 21 (Hervorhebung C.M.). 26 | Vgl. dazu Soeffner (1989), 69ff. 27 | Soeffner (1989), 70.
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108 | »New World Horizon« ist es, ein möglichst breites Bedeutungspotential und mögliche sinnvolle Kontexte des Textes zu erschliessen, die dann mit dem ›faktischen‹ Kontext – sofern darüber Wissen besteht – verglichen werden können: »Ist der faktische Kontext in der Menge der interpretatorisch konstruierten enthalten, so sind fallspezifische Ausschlusskriterien für die restlichen zu analysieren. Ist der faktische Kontext nicht in dieser Menge enthalten, so kann bereits beim ersten Interakt auf eine fallspezifische Abweichung von common-sense-Normen handlungsund sprachkompetenter Gesellschafter der everyday- und der scientific community geschlossen werden. Die Aufsuche der Gründe für diese Abweichung werden zur Interpretationsaufgabe.«28 Ein unbekannter ›faktischer‹ Kontext zwingt den Interpreten dazu, mögliche Kontexte zu konstruieren, die im Verlaufe der fortschreitenden Interpretationsarbeit entweder präzisiert oder aber ausgeschlossen werden. Das Mittel dazu ist die Suche nach textlichen Widersprüchen zu den vorläufigen Interpretationserträgen. Dabei konkretisiert sich nach und nach der Fall: »Die Textabfolge repräsentiert die fallspezifische Bedeutungs- und Handlungsselektion.«29 Am Ende öffnet sich der Blick auf die objektive Struktur und Bedeutung des Falles, indem die Ebenen gleichsam gegeneinander gehalten werden: »In der hypothetischen Rekonstruktion einer Handlungs- und Problemsituation und in der Konfrontation der in dieser Situation objektiv möglichen Handlungs- und Bedeutungsalternativen mit den fallspezifisch gewählten und konkretisierten Bedeutungen zeigt sich die objektive Struktur und Bedeutung des Falles. Die Spezifik des Falles, seine ›Subjektivität‹, besteht in der selektiven Konkretisierung einer der objektiv gegebenen Welten aus dem gesellschaftlichen Kosmos der objektiv möglichen. Die Interpretation rekonstruiert diese Welt, ihre Aufbauprinzipien und die interaktionsstrukturellen und historischen Gründe ihrer Wahl.«30 Auch in dem von Anselm Strauss und Barney Glaser in der philosophischen Denktradition des amerikanischen Pragmatismus – vor allem von John Dewey, aber auch von George H. Mead und Charles S. Peirce – und der Soziologie der Chicago School entwickelten theoretisch-methodischen Verfahren, das unter dem Namen ›grounded theory‹ bekannt wurde, wird am Einzelfall als eigenständiger Untersuchungseinheit angesetzt, wobei es hier vor allem darum geht, die
28 | Soeffner (1989), 71. 29 | Soeffner (1989), 73. 30 | Soeffner (1989), 73.
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Eigenlogik des Falles zu rekonstruieren.31 Der Fall wird durch eine autonome Handlungseinheit gebildet, die eine Geschichte hat. Der Forschungsprozess baut sich über die zu unterscheidenden Ebenen des Datenerhebens, des Kodierens (Identifizieren und Benennen von Kategorien) und des Protokollierens auf, wobei im Verlaufe der Arbeit immer wieder auf alle diese verschiedenen Ebenen zurückzukommen ist. Der Ansatz der ›grounded theory‹, bei dem es um eine in den Daten fundierte und aus den Daten hervorgehende sozialwissenschaftliche Theoriebildung geht, zielt auf die Identifikation von immer wieder auftauchenden so genannten ›Schlüsselkategorien‹ (›core categories‹), die auf ein bestimmtes, immer wiederkehrendes Muster verweisen.32 Um Schlüsselkategorien herum, sobald sie »gesättigt« sind, das heisst durch keine neuen Aspekte mehr grundlegend verändert werden, verdichtet sich die entstehende Theorie. Schlüsselkategorien verknüpfen andere Kategorien und halten sie so zusammen. Für die Interpretation wird auch hier Kontextwissen als wesentlich erachtet. Es stellt einen wichtigen Datenfundus dar, »weil es nicht nur die Sensitivität bei der Theoriebildung erhöht, sondern eine Fülle von Möglichkeiten liefert, um Vergleiche anzustellen, Variationen zu entdecken und das Verfahren des Theoretical Sampling anzuwenden. Insgesamt trägt dies dazu bei, dass der Forscher schliesslich eine konzeptuell dichte und sorgfältig aufgebaute Theorie formulieren kann.«33 Während beim sequenzanalytischen Verfahren in kleineren Schritten und damit detaillierter vorgegangen wird, jedoch aus eben diesem Grund dieses Verfahren für grosse Datenmengen nicht ausschliesslich zur Anwendung kommen kann, erlaubt das gröbere Verfahren der ›grounded theory‹ die Bewältigung von umfangreicherem Material und ergänzt so die Sequenzanalyse. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung hat das Verfahren der ›grounded theory‹ vor allem dazu geführt, das Deutungsmuster (die ›Schlüsselkategorie‹) der ›journey‹ zu identifizieren. Was darunter zu verstehen ist, wird unten (4.2) am empirischen Material genauer erläutert werden. Weitere wichtige Schlüsselkategorien betreffen das Verhältnis von religiöser Erfahrung und Alltag (4.1) und von Biographie und Zeit (4.3). Im ersten Fall geht es dabei um die innerweltliche Vergegenwärti31 | Vgl. Anselm L. Strauss, 1991, Grundlagen qualitativer Sozialfor-
schung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung, München, 12. 32 | Vgl. Strauss (1991), 65ff. 33 | Strauss (1991), 36f.
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110 | »New World Horizon« gung des ›Heiligen‹ und um die Personalisierung der Beziehung des Individuums zu diesem. Im zweiten Fall lässt sich vor allem die Schlüsselkategorie eines – wenn man das so nennen will – »zeitlosen Wandels« am Material eruieren, also eine Form der Steigerung von Zeit, bei der ein an der Zukunft ausgerichteter Prozess sich auf der Grundlage eines zeitlosen Mythos entfaltet. Dieser Zusammenhang soll dann vor allem im letzten Kapitel (Kap. 5.) wieder aufgenommen und auf den umfassenderen kulturellen Kontext, in dem er erscheint, bezogen und näher erläutert werden. Die Interviews sind mit Mitgliedern von drei unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen Gruppierungen durchgeführt worden. Bei den Gruppen handelt es sich um eine unitarisch-universalistische Kirche in Boston, um eine katholische Kirche in Cambridge, Massachusetts, und um eine Gruppe amerikanischer Buddhisten, ebenfalls in Cambridge. Die unitarisch-universalistische Kirche, die First and Second Church, setzt sich aus ungefähr dreihundert Mitgliedern zusammen. Regelmässige Gottesdienstbesucher sind jedoch bedeutend weniger. An einem gut besuchten Sonntagvormittag begeben sich etwa siebzig Männer, Frauen und Kinder in die Kirche. Der Begriff »Gottesdienst« trifft freilich den Sachverhalt kaum, denn von einem »Gott« sprechen die wenigsten Unitarier. Sie ziehen Bezeichnungen wie »spirit« oder »something higher« beziehungsweise »higher power« vor und bringen damit zum Ausdruck, dass die jüdisch-christliche Gottesvorstellung für sie nur eine besondere, historisch-kulturell gewachsene Variante des möglichen Transzendenzbezugs darstellt. Obwohl der Unitarismus ebenso wie der Universalismus – in ihren amerikanischen Varianten – als theologische Abspaltungsbewegungen aus der protestantisch-calvinistischen Tradition Neuenglands hervorgegangen sind und bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein dem christlichen Glauben verpflichtet waren, vereinigen unitarischuniversalistische Kirchen, die sich 1961 in den USA zu einer einheitlichen Organisation, der Unitarian Universalist Association, zusammengeschlossen haben34, heute unter ihrem Dach Bekennende der 34 | Zur Geschichte der amerikanischen unitarisch-universalistischen
Bewegung vgl. George N. Marshall, 1987, Challenge of a Liberal Faith, Boston; David Robinson, 1985, The Unitarians and the Universalists, Westport, Connecticut, London, England; Conrad Wright, ed., 1975, A Stream of Light. A Sesquicentennial History of American Unitarianism, Boston; Paul K. Conkin, 1997, Humanistic Christianity. Unitarians and Universalists, in: Paul K.
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unterschiedlichsten religiösen Traditionen sowie auch erklärte Agnostiker und Atheisten. Statt über ein bestimmtes Glaubensbekenntnis definieren sich Unitarier (der Einfachheit halber und dem amerikanischen Sprachgebrauch entsprechend im Folgenden so und nicht jedesmal mit dem Doppelnamen bezeichnet) über den Prozess der spirituellen Suche, wobei jeweils vom einzelnen Individuum ausgegangen wird, das sich an keinen Dogmen und Vorschriften ausrichtet, sondern in eigener Verantwortung seiner inneren Stimme folgen soll und will. Bereits für das neunzehnte Jahrhundert hat Daniel Walker Howe eine für die in der Oberschicht Neuenglands stark vertretenen Unitarier typische ›Kultur des Selbst‹ identifiziert und deren nahe Verwandtschaft zur Idee evangelikaler Selbstdisziplin herausgestrichen.35 Die Unitarier verstehen sich als ausgesprochene Individualisten – eine Selbstcharakterisierung, mit der sie sich vor allem von konservativen protestantischen Kirchen, jedoch auch von den Katholiken abgrenzen. Viele Mitglieder der First and Second Church im Besonderen und der unitarisch-universalistischen Kirche im Allgemeinen sind Konvertiten. Es handelt sich dabei meistens um vormalige Katholiken oder Protestanten. Da sich Mitgliedschaft nicht über ein Glaubensbekenntnis und über eine bestimmte Religionszugehörigkeit definiert, praktizieren manche Unitarier auch weiterhin ihre Herkunftsreligion und leben ihrer bisherigen Orientierung nach
Conkin, American Originals. Homemade Varieties of Christianity, Chapel Hill, London; sowie, die europäische Traditionslinie mitberücksichtigend: Earl Morse Wilbur, 1952, A History of Unitarianism. In Transylvania, England, and America, Cambridge, Massachusetts. Unitarier (Unitarians) und Universalisten (Universalists) gehen bis 1961 organisatorisch-institutionell getrennte Wege. Auch inhaltlich handelt es sich um zwei sich verschieden entwickelnde Traditionen. Die Gemeinsamkeiten werden jedoch im Verlaufe der Zeit bei allen Unterschieden – vor allem solchen der sozialen Herkunft der Trägerschichten – wichtiger. Universalisten gehörten bis ins 20. Jahrhundert stärker der ländlichen Schicht an, Unitarier den städtischen Eliten. Wie die Namen der beiden Bewegungen suggerieren, hat sich der Streit mit den Calvinisten im ausgehenden 18. Jahrhundert an zwei theologischen Fragen entzündet: für die Unitarier war es die Ablehnung der Trinitätslehre, für die Universalisten die Zurückweisung der Idee nur weniger von Gott auserwählter Menschen. 35 | Daniel Walker Howe, 1997, Making the American Self: Jonathan
Edwards to Abraham Lincoln, Cambridge, Massachusetts, London, England, 132.
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112 | »New World Horizon« – handle es sich hierbei um Buddhismus, Judentum oder auch Agnostizismus. Auch in der katholischen Kirche, bei der es sich um die in Cambridge lokalisierte St. Paul Church handelt, finden sich zahlreiche, oft jüngere Konvertiten und Konvertitinnen. In dieser im Vergleich zur unitarischen um einiges grösseren Kirche wurden die Interviewten entlang derselben Kriterien ausgewählt. Die interviewten Katholiken und Katholikinnen lassen sich dabei weltanschaulich-theologisch eher dem traditionellen Flügel zurechnen, woraus sich ein methodisch willkommener Kontrast zu den im Allgemeinen progressiv-liberal eingestellten Unitariern ergibt.36 Bei der dritten Gruppierung handelt es sich um das Cambridge Zen Center, eine in der koreanischen Tradition stehende Zen-buddhistische Bewegung. Sie wurde vom koreanischen Zen Master Seung Sahn Anfang der siebziger Jahre als Kwan Um School of Zen gegründet. Vor allem in den Vereinigten Staaten aktiv, breitet sie sich jedoch zunehmend auch in Europa aus.37 Bei den Interviewten – alles Amerikaner – handelt es sich fast ausschliesslich um Konvertiten – in den meisten Fällen (ehemalige) Angehörige protestantischer Denominationen oder aber Katholiken. Das Spektrum reicht von Personen, die sich neben den meditativen Praktiken auch auf religiöse Glaubensinhalte beziehen und beispielsweise ihrem jüdischen, aber auch ihrem katholischen oder protestantischen Glauben weiterhin treu bleiben, bis hin zu solchen, die sich von jeder Form von Religion im traditionelleren Sinne distanzieren und sich ganz auf die Meditation als Praxis zur Bewältigung alltäglicher Probleme und Herausforderungen konzentrieren. In allen drei Gruppen lässt sich eine ausgeprägte religiöse und spirituelle Mobilität feststellen, und Berührungsängste mit anderen Religionen und religiösen Gruppen gibt es wenig. Religiöse Neugier 36 | Zum amerikanischen Katholizismus siehe Peter W. Williams, 1988,
Catholicism Since World War I, in: Charles H. Lippy, Peter W. Williams, eds., Encyclopedia of the American Religious Experience, Vol. I, New York; Andrew Greeley, 1977, The American Catholic. A Social Portrait, New York; Jay P. Dolan, 1998, Catholicism and American Culture: Strategies for Survival, in: Jonathan D. Sarna, ed., Minority Faiths and the American Protestant Mainstream, Urbana, Chicago. 37 | Vgl. Mu Soeng, 1991, Thousand Peaks. Korean Zen – Tradition and
Teachers, Cumberland, Rhode Island, und Mu Soeng, 1998, Korean Buddhism in America: A New Style of Zen, in: Charles S. Prebish, Kenneth K. Tanaka, eds., The Faces of Buddhism in America, Berkeley, California.
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und eine grosse Bereitschaft, Neues auszuprobieren oder es sich zumindest etwas aus der Nähe anzusehen, sind fast allgegenwärtig. Die Katholiken weisen jedoch, nicht zuletzt auch aufgrund der besonderen Situation des institutionell über Amerika hinausgreifenden, entsprechende Loyalitäten einfordernden kirchlichen Bekenntniszusammenhanges, eine tendenziell stabilere, etwas weniger von Fluktuationen geprägte Gruppenstruktur auf als die beiden anderen Gruppierungen. In der folgenden empirischen Untersuchung stehen in erster Linie die einzelnen Individuen im Zentrum und nicht die religiösen Gruppen, denen sie zugehören. Über die Gruppenzugehörigkeit fliesst jedoch wichtiges biographisches Kontextwissen von Anfang an in die Interpretationsarbeit mit ein, welches es – ganz im Sinne der ›grounded theory‹ – zu reflektieren gilt.
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) vakat 114.p 133476303906
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4. Das transzendente Fundament amerikanischer Individualität
4.1 Alltägliche Transzendenz Der Bereich der ausseralltäglichen Wirklichkeit, so wurde im ersten Kapitel festgehalten, ist der Bereich der Religion. Darüber hinaus wurde der Religion ein quasiontologischer Anspruch (Knoblauch) zugeschrieben. Die Religion zielt auf den Bereich der ›grossen‹ Transzendenz und macht diesen mithilfe besonderer, historisch variabler Symboliken thematisierbar. Damit stellt sich dieser Religionsbegriff in die westliche, jüdisch-christliche Tradition, indem er die Trennung von Immanenz und Transzendenz nachvollzieht. Die Diskussion des empirischen Materials, die im Folgenden in Angriff genommen werden soll, verweist dabei immer wieder auf die Schwierigkeiten, auf die die zweipolige, auf Gegensätzlichkeit angelegte Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz stösst. Die amerikanische Situation, so wie sie sich in den Interviews und aufgrund der Beobachtungen des untersuchten empirischen Feldes eruieren lässt, macht deutlich, dass eine klare Trennung zwischen den Sphären des Immanenten und des Transzendenten oft nicht möglich ist.1 Die Trennung hebt sich je-
1 | Vgl. Pollack (1995), 169. Zur religionssoziologisch problematischen
Unterscheidung von ›heilig‹/›profan‹ beziehungsweise von ›sacred‹/›secular‹ insbesondere im amerikanischen Fall vgl. auch R. Stephen Warner, 1993, Work in Progress toward a New Paradigm for the Sociological Study of Religion in the United States, in: AJS, Volume 98, Number 5, 1069f. Vgl. auch Phillip E. Hammond, 1985, Introduction, in: Phillip E. Hammond, ed., The
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116 | »New World Horizon« doch nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre und wie es der europäischen Situation eher entsprechen würde, zugunsten des Immanenten auf. Wir haben es im amerikanischen Fall weniger mit der Auflösung des Transzendenten oder dessen »Einschrumpfen«2 auf Innerweltlichkeit zu tun, als mit einem »Hereinziehen« des Transzendenten in die Welt hinein. Deutlich tritt dies am Alltagsverständnis der Amerikaner sowie an der besonderen Erwartungshaltung, die sie gegenüber dem Alltag und dessen religiösen sowie spirituellen Möglichkeiten formulieren, zutage. Die Fusion von alltäglichem Leben und religiöser Sinnstiftung hat freilich eine lange Geschichte vor allem in der volksreligiösen Tradition. Erst im Zusammenhang mit einer besonderen temporalen Dynamik kann sie als typisch amerikanisch gelten. In drei Schritten soll im Folgenden versucht werden, am empirischen Material diesen Zusammenhang zu rekonstruieren. Im ersten Abschnitt geht es dabei direkt um die Frage nach dem Bezug von Alltagswelt und Transzendenz (4.1). Der zweite Abschnitt befasst sich sodann mit einem besonderen, immer wieder auftauchenden biographischen Topos, mit der ›journey‹ (4.2). Im dritten Abschnitt schliesslich steht das Verhältnis der zeitlichen Dimensionen von Gegenwart und Zukunft im Rahmen des individuellen Selbstverständnisses und der individuellen Biographie im Zentrum (4.3). Ein Teil der 39 interviewten Amerikaner und Amerikanerinnen in den drei betrachteten religiösen Gruppen – Unitarier, Katholiken und Buddhisten – mag zum Zeitpunkt, da die Ergebnisse der Untersuchung niedergeschrieben werden, bereits wieder unterwegs sein zu neuen Ufern der Religiosität und sich anderen Gruppen zuwenden oder aber die Suche für sich allein ohne einen institutionalisierten Gruppenzusammenhang vorantreiben.3 Dreissig Prozent aller Sacred in a Secular Age. Toward Revision in the Scientific Study of Religion, Berkeley, California. 2 | Vgl. Thomas Luckmann, 1990, Shrinking Transcendence, Expan-
ding Religion?, in: Sociological Analysis 50:2, 127-138. 3 | Zur hohen Fluktuation der Gruppenzugehörigkeiten siehe auch
Charles H. Lippy, 1994, Being Religious, American Style. A History of Popular Religiosity in the United States, Westport, Connecticut, London, 231f. Vgl. auch Robert Wuthnow, 1998a, Loose Connections. Joining Together in America’s Fragmented Communities, Cambridge, Massachusetts, London, England, und Robert Wuthnow, 1996, Sharing the Journey. Support Groups and America’s New Quest for Community, New York. Die historische Kontinuität des Phänomens betont Warner (1993), 1079.
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Amerikaner – so die Schätzung einer jüngeren Studie auf der Grundlage einer Befragung von 113.000 Personen4 – wechseln ihre denominationelle Zugehörigkeit im Verlaufe ihres Lebens. In der Mehrzahl der Fälle ist der Wechsel weltanschaulich nicht spektakulär, da er zwischen protestantischen Denominationen erfolgt. Und doch ist gemäss manchen Autoren heute innerhalb der amerikanischen Gesellschaft ein aussergewöhnlicher und in seinen Ausmassen neuartiger spiritueller Suchprozess im Gange, wie es ihn zuvor in der Geschichte des Landes nicht gegeben hat.5 Diese Suche äussert sich nicht nur im Wechsel religiöser Gruppenzugehörigkeit, sondern auch in Form eines Wiederentdeckens und Wiederbelebens der eigenen, familiär gegebenen, jedoch unhinterfragt hingenommenen und oft nur noch aus der Distanz wahrgenommenen religiösen Wurzeln. So erfahren viele Amerikaner im Erlebnis einer religiösen Wiedergeburt6 Bestätigung und Vertiefung der spirituellen Dimensionen ihrer Existenz. Aber nicht nur die relativ spektakulären und zuweilen erschütternden Erfahrungen, die von so genannten »born 4 | Barry A. Kosmin, Seymour P. Lachman, 1993, One Nation Under
God. Religion in Contemporary American Society, New York. Siehe auch NYT Magazine, March 31, 1996. Der Vergleich auf der Grundlage von zwei Gallup-Umfragen zeigt, dass Mitte der fünfziger Jahre eine von 25 Personen oder vier Prozent der Erwachsenenbevölkerung der USA am Glauben ihrer Kindheit nicht mehr festhielten, während sich dieses Verhältnis Mitte der achtziger Jahre auf eins zu drei verändert hat, wobei ein höherer Ausbildungsgrad die Bereitschaft zum Denominations- bzw. zum Religionswechsel erhöht, siehe Robert Wuthnow, 1988, The Restructuring of American Religion. Society and Faith Since World War II, Princeton, New Jersey, 88f. 5 | Kosmin/Lachman (1993), 283, prognostizierten im Hinblick auf
den bevorstehenden Jahrtausendwechsel einen religiösen Aufschwung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Dieser hat jedoch, wie wir heute wissen, nicht stattgefunden, weder in den USA noch in Europa. Für die deutsche Situation siehe Bernd Schnettler, 1999, Millenniumswechsel und populare Apokalyptik. Prophetische Visionen an der Schwelle zum Jahr 2000, in: Anne Honer, Ronald Kurt, Jo Reichertz, Hg., Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz. Vgl. auch Robert Wuthnow, 1998, After Heaven. Spirituality in America since the 1950s, Berkeley, Los Angeles, London, v.a. 52ff. 6 | Zum Phänomen des ›Born-Againism‹ vgl. auch Annamaria Geiger,
1987, Born-Againism: Popular Religion in Contemporary America, in: Peter Freese, ed., Religion and Philosophy in the United States of America, Vol. 1, Essen.
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118 | »New World Horizon« agains« zu Protokoll gegeben werden, sondern auch die weniger enthusiastisch und aufsehenerregend verlaufenden Versuche, sich durch die Auseinandersetzung mit Tradition und Geschichte einer bestimmten Religion gleichsam auf intellektuell kontrollierterem Wege Zugang zu spiritueller Erfahrung zu verschaffen, zeugen von der beeindruckend hohen religiösen Aktivität innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Spirituelle Suche wird dabei zu einem grossen Teil ausserhalb der klassischen religiösen Institutionen wie Kirchen, Tempel und Moscheen fassbar. Wie Robert Wuthnow an reichhaltigem empirischem Material nachweist, hat sich die Religiosität institutionell befreit und in ihrem Ausdruck auch unabhängig von den traditionelleren Institutionen vervielfältigt. Sie findet sich – ohne deswegen aus den Kirchen zu verschwinden – in ihrer Form als spirituelle Suche in den verschiedensten sozialen Kontexten wie etwa Kleingruppen und Selbsthilfegruppen aller erdenklichen Art.7 7 | Robert Wuthnow weist auf der Grundlage einer breit angelegten
Studie zur Frage nach Bedeutung und Rolle von Kleingruppen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft auf den Zusammenhang von Spiritualität und Mitgliedschaft in diesen Gruppen hin. Auch Gruppen, die nicht direkt in einem kirchlichen Zusammenhang angesiedelt sind, zeigen bei ihren Mitgliedern eine starke Komponente an spiritueller Suche. Viele der Selbsthilfegruppen funktionieren nach dem ›twelve steps‹-Verfahren, wie es von den Alcoholics Anonymous entwickelt wurde. Hilfe gibt es mittlerweile für die verschiedensten Anliegen, Abhängigkeiten und Dysfunktionalitäten, und die Gruppen sind hochspezialisiert. Da gibt es zum Beispiel Al-Anon (für die Familienmitglieder von Alkoholikern), Adult Children of Alcoholics, Narcotics Anonymous, Overeaters Anonymous, Co-Dependents Anonymous (für Menschen mit einem zwanghaften Verantwortungsgefühl gegenüber anderen: »for people who compulsively take responsibility for others«) sowie alle möglichen Spezialgruppen, die sich an Spielsüchtige, Raucher, Drogenkonsumenten, Diebe, Sexualtäter wenden oder Unterstützung anbieten für Eltern, Grosseltern, Homosexuelle, Witwen, Geschiedene, chronische Workaholics, ehemalige Fundamentalisten oder solche, die an Emphysemen leiden. Einige andere sind – obwohl dies die Liste bei weitem noch nicht komplett macht: Anorexic Bulimics Anonymous, Families of Sex Offenders Anonymous, Victims Anonymous, Alateen und Gamateen (für Teenager), Dual Disorders Anonymous. Darüber hinaus wären eine ganze Reihe spezieller Interessengruppen anzuführen sowie nach wie vor die diversen Gruppen innerhalb des traditionelleren religiösen Kontexts wie Bibelgruppen, Sonntagsschulen, prayer fellowships usw. Diese Gruppen bilden gemäss Wuthnow einen Grundpfeiler amerikanischer Religiosität: »The groups we are interested in
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Das religiöse Angebot auf dem Internet ist in jüngerer Zeit dazugekommen.
Gott am Werk – »all over the place« Die folgenden Ausschnitte aus dem empirischen Material versuchen, einige Facetten dieser Spiritualität zu entfalten mit dem Ziel, dabei den besonderen Formen von Individualität, die darin zum Ausdruck gebracht werden, auf die Spur zu kommen. Nicht besonders überraschend zieht sich wie ein roter Faden vor allem ein Aspekt durch die Interviews hindurch und taucht in allen drei Gruppen auf, nämlich die scheinbar einfache Frage nach der eigenen Identität: Who am I? Spirituelle Erfahrung soll darauf eine Antwort geben – oder vielleicht besser: spirituelle Erfahrung ist, wenn sie gemacht wird, für die Interviewten die Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität sowie nach dem Ort, den das Ich im grösseren Ganzen der Welt findet. Es ist dieses »In-der-Welt-Sein«, »In-der-Welt-Suchen« und »In-derWelt-Finden«, das sich wie selbstverständlich durch die meisten Interviews zieht. Das Ich setzt sich nicht einfach auseinander mit der Welt – eine Vorstellung, die das Anderssein der Welt und damit Distanz, Fremdheit oder gar Entfremdung impliziert –, sondern es ist Teil der Welt in einer Weise, die die Differenz von Welt und Individuum tendenziell zum Verschwinden bringt. Dabei wird das religiöse Bezugssystem in erster Linie durch den Alltag gegeben. Spiritualität muss sich im Alltag bewähren. Sie ist etwas Alltägliches und erst in ihrer Veralltäglichung wird spirituelle Erfahrung als glaubhaft und authentisch erlebt. Der Bogen zur ›gros-
here are not ends in themselves. They are the setting in which millions of Americans are currently trying to find themselves and to discover what it means to be more fully human and more fully in tune with their own spirituality and with God.« Und: »I would go so far as to say that the small-group movement cannot be understood except in relation to the deep yearning for the sacred that characterizes much of the American public.« Robert Wuthnow (1996), 71ff., 56, 16. Siehe auch Lippy (1994), 232f., der darauf hinweist, dass im 20. Jahrhundert achthundert neue Religionen in den Vereinigten Staaten entstanden sind. Der neue Pluralismus zeichnet sich besonders durch einen unbewussten Synkretismus (»unconscious syncretism«) aus: »The new pluralism increases the range of sources on which individual women and men may draw in constructing a private constellation of beliefs and values through which they will give meaning to their lives.«
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120 | »New World Horizon« sen‹ Transzendenz hin bleibt jedoch offen. D., ein Unitarier, drückt diesen Zusammenhang folgendermassen aus: »… I’m just looking to have fun, I guess, it’s now it’s just more kind of taking it relaxing, I guess, they they come anyway, I mean, signs are there signs are there’s someone in heaven, or somehow there is a God somewhere out there. They’re all around, just look for them. Yeah, you know, that’s part that’s part of Unitarian Universalism anyway that that religious meaning can be found in the everyday things, you know, that’s a big that’s a big part of it too. That, you know, you don’t have to go, it’s not – miracles are not just the parting of the Red Sea. Miracles are also like, you know, a leaf on a tree a like a – a sun shining through a cloud or whatever. Just everyday little things that happen, you know, that those are kind of like miracles, those are kind of signs of God and his work, you know. So he’s just he’s there. He’s around. He’s all over the place, you know.«8
Ein Gott als ausseralltäglicher Referenzpunkt bleibt in dieser Aussage bestehen, wenn er selbst auch – was nicht weiter ungewöhnlich ist für einen Gott – keine klaren Konturen in Bezug auf seine besonderen Charakteristika hat. Zeichen verweisen auf seine Existenz – irgendjemand ist im »Himmel« oder irgendwo sonst »da draussen«. Es gibt Zeichen (»signs«) in Hülle und Fülle, die als Chiffren auf den abwesenden Gott hindeuten. Die Zeichen büssen am Schluss der zitierten Passage jedoch etwas von ihrem Verweisungscharakter ein und gewinnen selbst Realität in Form des in der Welt anwesenden Gottes, welcher – wenn auch nicht in seinen Eigenschaften konkret fassbar – nicht geheimnisvoll entrückt wirkt, denn er lässt sich in Zeichenform überall antreffen: »He’s all over the place.« Die Distanz zwischen Gott und dem Gläubigen schrumpft zusammen, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Tägliches Leben und Transzendenz gehen eine unbeschwerte Verbindung ein. Die Dinge gehen D. »locker« von der Hand, und wie ungerufen und zwanglos eröffnen sich die Räume des Transzendenten, bis sie schliesslich alles umfassen und ausfüllen und Gott in allem zugegen sein lassen. Man muss nur offen sein und nach den Zeichen Ausschau halten – nach den kleinen Wundern des täglichen Lebens, die dessen inhärenten Sinn erschliessen. Erst indem man die 8 | Transkriptionshinweise: Gedankenstriche bedeuten Pausen: – kür-
zere Pause (– entspricht ungefähr 1 Sek.), – – mittellange Pause, – – – lange Pause; eckige Klammern enthalten undeutlich Gesprochenes [abc], wenn sie leer sind Unverständliches […]; Betontes wird kursiv gesetzt.
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Zeichen erkennt, erkennt man Gott selbst. Die Chiffren, die ihrem Charakter nach nur andeuten, was jenseits der erfahrbaren Welt liegt und damit letztlich unzugänglich bleibt, verlieren ihren Zeichencharakter zwar nicht, er löst sich jedoch tendenziell auf, indem die Trennung von Repräsentierendem und Repräsentiertem durch die lückenlose Allgegenwärtigkeit des Verweisungszusammenhangs in der Welt entschärft wird. Das ›nicht wirklich Präsente‹ und als solches nur Repräsentier-, aber nicht direkt Erfahrbare wird der Tendenz nach zum ›wirklich Präsenten‹, das in der Welt erscheint.9 Die Differenz von Jenseits und Diesseits, von Transzendenz und Immanenz relativiert sich. Sie lässt sich zumindest nicht als radikale Trennung der Sphären lesen. Dies zeigt sich beispielsweise auch am besonderen Charakter der Wunder. Die Wunder beziehen sich hier nicht – wie man eigentlich erwarten würde – auf das Ausseralltägliche, sondern fügen sich nicht nur vollständig ein in die Welt, sondern sie sind Teil der Alltagswelt: Wer sieht nicht jeden Tag, während er routinemässig seinen Beschäftigungen nachgeht, Blätter an den Bäumen und die Sonne durch die Wolken scheinen oder andere »kleine Wunder«, wohin man sich auch immer wendet? Diese Wunder sind gemessen an dem, was üblicherweise für ein Wunder gehalten wird – etwa in der Bibel –, keine »Wunder« mehr. Sie sind Teil der diesseitigen Wirklichkeit, nicht weil sie diese in ihrer Normalität und Alltäglichkeit durch wundersame »Anormalität« kontrastieren und so über das Diesseits hinausverweisen, sondern indem sie sich selbst als alltägliche in den Alltag einordnen. Die Wunder hören auf, Wunder zu sein, insofern sie alltäglich werden. Das führt dann schliesslich dazu, dass der Alltag selbst zum Wunder wird, denn hier findet sich Gott am Werk, überall – »all over the place«. Der Alltag ist zum Ort des Erscheinens ›grosser‹ Transzendenz geworden. Was immer D. sucht, er sucht und findet im Alltag und nicht als Folge von dessen Überhöhung im Ausseralltäglichen.10 Robert Wuthnow hat in seiner Untersuchung zur Spiritualität in der amerikanischen Gesellschaft seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen ähnlichen Zusammenhang aufgedeckt.11 Spiri9 | Vgl. Soeffner (1991), 71. 10 | Zum weitverbreiteten Wunderglauben in der amerikanischen Ge-
sellschaft siehe George Gallup Jr., Jim Castelli, 1989, The People’s Religion. American Faith in the 90’s, New York, London, 58. 11 | Wuthnow (1998). Für die Untersuchung wurden 200 Personen oft
bis zu fünf bis sieben Stunden lang zu Fragen ihrer Spiritualität interviewt. Bei den Interviewten handelt es sich um Männer und Frauen jeden Alters mit
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122 | »New World Horizon« tualität ist in erster Linie eine Erfahrung des alltäglichen Lebens. Entsprechend der Vielzahl möglicher individueller Wahrnehmungen und Erfahrungen der Welt ist auch die Bandbreite spiritueller Erfahrung gross. Grundsätzlich kann alles als ein Ausdruck spiritueller Kräfte gelesen werden. Spiritualität löst sich damit von den ausgezeichneten Orten des Heiligen. Ihre Erfahrung lässt sich überall machen, weil Gott oder eine wie auch immer zu bezeichnende höhere Macht in jedem Detail der Welt steckt. R. Laurence Moore hat festgestellt, dass beispielsweise Dingen wie Autos und Bäumen oft eine Seele zugeschrieben wird.12 Auf den oben zitierten Unitarier trifft auch zu, was ein in Wuthnows Untersuchung Interviewter meint: »There is no one God. But there is a spirit that moves through all things. There’s an energy and there’s spiritual laws that determine how that energy moves.«13 Immer wieder ist anstelle eines Gottes von einer »Energie« die Rede. Gemäss Wuthnow legt der historisch gewachsene Glaube der meisten Amerikaner zwar einen monotheistischen Gott nahe, die religiöse Praxis weist jedoch oft polytheistische Elemente auf.14 So sind ganze Brigaden von Schutzengeln unterwegs, und Formen der Ehrerbietung finden sich für Pflanzen ebenso wie für Maskottchen von Sportteams. Wuthnow bezeichnet dieses Phänomen – Thomas Moore folgend – als ›psychologischen Polytheismus‹: »to capture the kind of self that has many different claims
unterschiedlichem Ausbildungsgrad, in verschiedensten Beschäftigungen und von unterschiedlichstem religiösem und ethnischem Hintergrund. Darüber hinaus wurde auf bestehende Forschungen, auf einflussreiche Interpretationen der amerikanischen religiösen und kulturellen Situation der letzten Jahrzehnte sowie auf populäre Bücher und Artikel zu verschiedensten Aspekten von Spiritualität zurückgegriffen. Schliesslich stützen sich die Ergebnisse der Untersuchung auf einige Dutzend breit angelegter Meinungsumfragen. Siehe a.a.O., viii. 12 | R. Laurence Moore, 1986, Religious Outsiders and the Making of
Americans, New York. Siehe auch Wuthnow (1998), 162, der in diesem Zusammenhang von einem ›dispersed self‹ spricht, das seine Identität an den unterschiedlichsten Erfahrungen und Begegnungen gewinnt: »Broadly speaking, it is a dispersion of experiences, themselves widely separated in space and time, with different people, and of varying significance. Although the self is always more than these experiences, it must be understood to reside in them as well and thus to be scattered as they are.« 13 | Zit. nach Wuthnow (1998), 161. 14 | Wuthnow (1998), 161.
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made on it and that is able to find small truths in many places, rather than deriving answers from a single source«15. Die ganze Umwelt ist jeden Tag von neuem und in allen ihren Einzelheiten und Details voller Einfallstore ins Heilige – wie eine potente Wundermedizin, die ohne Rezept an jeder Ecke zu haben ist: »Like, I’ll see a tree, and I try to give it respect. Giving it respect often helps me break into a more spiritual mood.«16
Mit den anderen, für die anderen Der Alltag ist jedoch nicht nur der Erscheinungsraum göttlichen Wunderwirkens. Für J., ebenfalls Unitarier, ist er nichts weniger als das. Er ist ihm vielmehr die Sphäre der Interaktion mit anderen. Der Alltag stellt jeden Tag von neuem eine Herausforderung dar, indem er den Einzelnen mit den Imperativen des ethisch korrekten Handelns konfrontiert. Um diese alltäglichen Anforderungen ihrer Herkunft nach besser zu verstehen, studiert J. in seiner Freizeit die verschiedenen Weltreligionen. Auf die Frage, was er meine, wenn er von »wahr« oder »Wahrheit« spricht, definiert er diese Begriffe auf der Grundlage einer ethisch reflektierten Haltung gegenüber der Mitwelt: I: »When you say ›true‹, what do you mean? What is ›true‹ to you?« J: »Well, something, for example, how we should treat another person. And that we shouldn’t care so much about material wealth ähm – that we should respect other people. Things that that I can grasp in my everyday life.«
Die Antwort richtet sich nicht an konkreten Inhalten des moralisch Guten aus, sondern setzt am Verhalten, an der Praxis des zwischenmenschlichen Umgangs an. Auf die Frage nach dem ›Was‹ wird mit einem ›Wie‹ geantwortet. Wahrheit hat keine esoterischen oder mystischen Bezüge, sondern muss sich im täglichen Leben greifen lassen. Allem, was darüber hinausgeht und auf ›grosse‹ Transzendenz hinauswill, begegnet J. mit einer beträchtlichen Portion Skepsis. Besonders gegenüber einem Bereich des Übernatürlichen, welcher jenseits des nach den Massstäben wissenschaftlicher Erkenntnis Beweisbaren angesiedelt ist, gibt sich J. zurückhaltend. Zur Erläuterung
15 | Wuthnow (1998), 160, und Thomas Moore, 1992, Care of the Soul.
A Guide for Cultivating Depth and Sacredness in Everyday Life, New York. 16 | Interviewter, zit. nach Wuthnow (1998), 161.
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124 | »New World Horizon« seiner eigenen Haltung gegenüber dem Übernatürlichen führt er die spirituellen Erfahrungen eines Bekannten an: »I think there the there is a lot of religions are based on spirituality, but for me it isn’t. Ähm there’s a story. I know a guy. He’s he’s probably in his sixties, but he was studying to be a priest and he he told me that ähm when he was a kid – well he this was before he was studying to be to be a priest, but at one point he was in a seminary. Ähm but when he was a kid he was in his house and he looked out the window and he saw the moon, and the moon was shining, but it was like through a window like this [weist auf das Fenster]. So the moon was shining and the way he was looking at it through the cross pieces it looked as if there was a cross on the moon and he thought: oh, I’m having a sign from God. God is telling me that I should be a priest. For me, that’s spirituality. But then, of course, he found that oh no, I’m just seeing a cross piece in the window, so I’m not having a sign from God. So I think that there is, you know, a lot of spirituality things can be explained like this. I – I think maybe there is some kind of supernatural power ähm – but I think that some of it is – is people putting an assumption on on all these things that aren’t aren’t real. Ähm but is I think that there’s a power for me it’s more like just nature, I think that maybe I I don’t think man has more abilities than other animals, but I don’t I don’t I think that was more due to evolution. I don’t think that there was some God that created man and and nature. I think I think that man – couldn’t understand God. Man can understand man and that’s why man created God to resemble man because we can’t we can’t – create an image of God that we don’t understand, you know.«
»Übernatürliche« Erscheinungen sind hier Täuschungen, die sich mithilfe der Naturgesetze als solche erkennen lassen. Nur allzu leicht glauben Menschen gemäss J., dass sich ihnen in solchen Erscheinungen eine höhere Macht enthülle – ein Glaube, der dann oft korrigiert werden muss, wie das Beispiel zeigt. Doch J. will die Möglichkeit der Existenz einer übernatürlichen Macht nicht ganz ausschliessen. Nicht die Existenz dieser Macht an sich stellt ein Problem dar, sondern die konkrete Form, die ihr von den Menschen gegeben wird. In der Idee, dass diese Macht Gott sei, werden die kreativen Grenzen menschlicher Vorstellungskraft offenbar. Letztere vermag sich nicht über ihre anthropomorphen Wahrnehmungsbegrenzungen hinauszubewegen. Der Mensch schafft sich einen ihm selbst ähnlichen Gott, weil seine Erkenntnisfähigkeit zirkulär organisiert ist: man erkennt nur, was man schon kennt und versteht. Es scheint, dass für J. damit die Möglichkeit des Transzendenten ganz wegfällt. Ihm bleibt »nur« die Welt und in ihr der Alltag, in welchem er sich be-
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wegen kann und wo er seine Identität im Handeln mit anderen findet: »But I think if there is a, you know, basic one ähm – you know, we should we should not be selfish. We should treat other people with compassion and respect. I think that’s pretty much basic truth.« … »With the same philosophy of these basic principles of how to live. That’s that’s what I’m looking for, more than äh – more than a belief in a supreme being.«
Diese Ethik des richtigen Handelns gegenüber den Mitmenschen – J. verwendet häufig Formulierungen mit »should« – sowie das Zurückweisen des Übernatürlichen sind die immer wiederkehrenden Grundthemen. J. scheint mit beiden Füssen auf dem Boden der diesseitigen Realität zu stehen. Ein Raum des Transzendenten als ›grosse‹, ausseralltägliche Transzendenz existiert offenbar kaum. Aber auch die oben bei D. festgestellte, im Alltäglichen verankerte Transzendenz findet sich in J.s Äusserungen nicht. Allem Glauben, der sich nicht auf Wissen und Rationalität gründen lässt, steht J. skeptisch gegenüber. Vor diesem Hintergrund ist sein Interesse an Religion und seine Mitgliedschaft in einer religiösen Gruppe zumindest bemerkenswert. Als konsequenter Skeptiker wendet J. nun aber diese Skepsis gleichsam reflexiv gegen sich selbst und gegen seine eigenen Überzeugungen. Es fehlt ihm zwar letztlich ein inneres religiöses Erleben, doch schliesst er die Möglichkeit eines solchen nicht a priori aus. Nicht nur wissenschaftliche Evidenz, sondern auch religiöse Erfahrung könnten im Grunde eine Wahrnehmung als »wirklich« ausweisen: »I don’t really know äh if I can say how important it [spirituality, C.M.] is because I don’t really it it it’s something that I can’t really understand or I don’t have experience with. Ähm – some things like Marlin was saying in one of these sermons about praying and about praying can help heal other people, and I think that’s äh that’s a kind of spirituality. If I if I – just – saying it without any kind of evidence ähm I can’t really say I believe in something otherworldly unless I’ve experienced it. Ähm some th there is some things that make make me think that this kind of spiritual power exists.«
Falls es überhaupt einen glaubwürdigen Hinweis auf die Existenz höherer Kräfte gibt, zeigt sich diese Evidenz wiederum auf der Ebene zwischenmenschlicher Interaktion: in der Hilfe etwa, die man anderen gibt. Das durch Spiritualität bewirkte Gute weist im Effekt, den es
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126 | »New World Horizon« in der Welt hinterlässt, über die Welt hinaus. Hier scheint schliesslich doch so etwas wie die Möglichkeit ›grosser‹ Transzendenz durch, und dieses »unless I’ve experienced it« gegen Ende der zitierten Passage weist stärker auf religiöse Erfahrung als auf naturwissenschaftliches Erfahrungswissen hin. Letzteres wird in Richtung religiöser Transzendenzerfahrung durchbrochen. Der anschliessende, letzte Satz scheint dies denn auch zu bestätigen. Schliesslich wird es jedoch wieder ganz pragmatisch: Verantwortungsbewusstes Handeln gegenüber anderen setzt ein andauerndes »Arbeiten an sich selbst« voraus und damit den nie zum Abschluss kommenden Versuch, sich selbst zu »verbessern« – ein »besseres Individuum« zu werden. Dabei hilft die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Religion: »… if I’m studying about religion and philosophy in some way it’s to improve myself, to learn to – to learn a better way to live, I mean, that that’s for me as an individual but ähm the way that that it’s shown is by how I act in the community. If I’m just learning something and then and living alone in isolation that that doesn’t really make me a use to the world in general, so – to improve myself and then use that in how I relate to the community.«
Die Theorie wird in den Dienst der Praxis gestellt, und wieder ist es das Wie des Handelns, auf das es ankommt und woran sich Erfolg und Misserfolg der Bemühungen, ein besserer Mensch zu werden, erweisen müssen. Deutlich wird auch, dass Individuum und Gemeinschaft letztlich in eins fallen. Was gut ist für das Individuum, ist gut für die Gemeinschaft. Am Ende geht es darum, der Welt nützlich zu sein und seinen Beitrag ans Ganze zu leisten. Ein »Nutzendenken« kommt hier zum Ausdruck, aber eines, das keinen Unterschied zwischen Eigen- und Fremdnutzen kennt. Die Gefahren von Eigennutzen und Egoismus werden dabei jedoch immer als Hintergrundfolie des sich selbst von der Gemeinschaft isolierenden Individuums mitthematisiert. Für J. bildet die Verbesserung des Selbst eine im Diesseits gezogene Horizontlinie, auf die er sich als Suchender zubewegt. Gleichsam ein skeptischer ›seeker‹, geht er von der gegebenen Welt aus, jedoch immer mit der Hoffnung, dass sich »dahinter« eventuell doch mehr finden und dass sich seine Erfahrungswelt auf dieses Mehr hin öffnen lässt.
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Der Moment Hier bietet sich ein Blick auf die Buddhisten an. Es lässt sich kaum eine radikalere und konsequentere Hochschätzung des Alltags finden, als jene, die sich bei den interviewten Amerikanern und Amerikanerinnen in dieser Gruppe zeigt. Für die Buddhisten ist der Alltag gleichbedeutend mit der Idee, voll und ganz den jeweils gegebenen Moment zu durchleben. Der Alltag reduziert sich auf den Punkt unmittelbarer Gegenwart, ohne die Zeithorizonte von Zukunft und Vergangenheit in den Blick zu bekommen, welche – im angestrebten Idealzustand – in der Gegenwart aufgelöst werden. Ausser der Gegenwart existiert nichts. Alles, was ist, ist Gegenwart. In ihr ist das Ganze des Daseins enthalten. Die Unterscheidung von Ausseralltäglichkeit und Alltag macht keinen rechten Sinn mehr. Wenn jeder durchlebte Moment per se gleich jedem anderen ist und ihm in der theoretisch aufgrund des infinitesimalen Abstandes unendlichen Anzahl von aufeinander folgenden Augenblicken eines Lebens gleiches Gewicht zukommt, lässt sich auch kein qualitativ andersartiger, ausseralltäglicher Moment von einem alltäglichen sinnvollerweise unterscheiden. Jeder Augenblick ist für sich genommen absolut. Er bedarf keines anderen Augenblicks oder Ereignisses, um ihm seine volle Bestimmtheit zu geben. Während das Ausseralltägliche nur als solches identifiziert werden kann, wenn man es dem Alltäglichen gegenüberstellt, macht die absolute Selbstgenügsamkeit des Moments jeden Vergleich mit allem, was nicht diesem Moment zugehört, und damit auch die Differenz von Alltag und Nicht-Alltag überflüssig und sinnlos. Wir haben es hier mit einem angestrebten Idealzustand zu tun, wie er nicht zuletzt durch die Lehre des Zen-Buddhismus selbst vorgegeben wird. Viele der interviewten Buddhisten beziehen sich auf diese Lehre und versuchen entsprechend, sich am Ideal eines Lebens im Augenblick auszurichten. Die Selbstgenügsamkeit und Wahrheit des Moments wird dabei auch rituell ausgedrückt durch das Schlagen der Hand oder – im Falle des Zen-Lehrers – eines Stocks auf den Boden oder auf den Tisch oder gegen einen anderen Gegenstand oder manchmal auch gegen eine Person. In diesem Schlag ist wie in jedem anderen einzelnen Augenblick das ganze Universum enthalten. Jeder Versuch, diesem »Sachverhalt« verbal Ausdruck zu verschaffen, ist zum Scheitern verurteilt, denn dieser läuft allein schon durch den mit Sprache immer verbundenen Zeitverbrauch der Momenthaftigkeit zuwider. Erst wer im Moment zu leben versteht, kann sein wahres Ich
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128 | »New World Horizon« (›true self‹) sein, das sich vom im Alltag gefangenen Ich ablöst, indem es nicht mehr wie letzteres in ständiger Sorge um die kleinen Dinge des täglichen Daseins lebt. Auch hier zeigt sich, wie die Differenz zwischen Alltag und Nicht-Alltag aufgehoben wird. S., ein Buddhist, erklärt den Zusammenhang zwischen Selbst und Welt wie folgt: S: »Because – – the yeah, I don’t know, what is true self?« I: »I mean, does true self also mean that ähm all is one, so you kind of lose the distinction between« S: »Right.« I: »I and you so« S: »Right. Right. That’s why it’s the big ›I‹ versus the small ›I‹. So true self is everything.«
Im ›wahren Selbst‹ ist die ganze Welt enthalten. Der Einzelne begegnet der Welt, indem er nichts ausschliesst, sondern an allem teilhat und von allem Teil ist und so selbst zu einem Ganzen wird. Das grosse Selbst (»big I«) verschluckt das kleine Selbst (»small I«), nimmt es in sich auf. Aus dem Gegensatz zwischen grossem und kleinem Selbst wird eine Einheit, die das kleine Selbst mitenthalten muss, denn das wahre Selbst umfasst alles. In diesem Ganzen löst sich jeder Gegensatz auf – eine unterscheidungslose und ununterscheidbare Welt ist das Ergebnis. Vor diesem Hintergrund erschliesst sich die Bedeutung des einzelnen Augenblicks. Da wir die meiste Zeit unseres Lebens mit alltäglichen Verrichtungen verbringen und im Alltag leben mit seinen täglichen An- und Herausforderungen, sind auch die meisten durchlebten Momente solche des Alltags: einer Berufsroutine nachgehen, auf den Bus warten, essen, einkaufen, Geld abheben und vieles andere mehr. Durch die Gleichsetzung von Momenthaftigkeit und Universalität verliert der Alltagsmoment das oft mit ihm in Verbindung gebrachte »typisch Alltägliche«: die »ausgehöhlte« Routine und die »öde Leere«. Der Alltag wird transzendiert, indem er ins Absolute gesteigert wird. Er wird damit in seinem Gegensatz zum Ausseralltäglichen aufgehoben und in dieser Ausserkraftsetzung der Spannung als Grundlage eines zufriedeneren Lebens erschlossen. Entfliehen kann man dem Alltag zwar nicht, solange man dem Druck der Routinen jeden Tag von neuem ausgeliefert ist. Aber man kann ihn so lange mit dem Universum »aufladen«, bis er selbst zum Universum wird.
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Die meisten der interviewten Buddhisten betonen die Wichtigkeit eines Lebens im jeweils gegebenen Moment. Jeder Augenblick, so T., ein ungefähr sechzigjähriger Rechtsanwalt und ehemaliger Polizist, enthält das ganze Universum in sich. Jeder Moment umfasst auch alle Menschen, denn zwischen dem Universum und seinen menschlichen Bewohnern besteht kein Unterschied. Es handelt sich dabei nicht um zwei verschiedene Dinge. Sie sind ein und dasselbe, worin für T. die »Wahrheit« menschlicher Existenz besteht. Im einzelnen Augenblick fallen Innen und Aussen in eins. T. ist skeptisch gegenüber jeder Form von Spiritualität, die versucht, Dinge ausserhalb der eigenen Person zu kreieren: »My spirit and I are not two.« Während T. die Unterscheidung zwischen Selbst und Welt negiert, lässt sich die Buddhistin J. eher als seltener Gegenfall einer relativ scharfen Trennung zwischen Subjekt und Umwelt verstehen. Bei J. handelt es sich um eine ältere Amerikanerin, die während eines längeren Aufenthalts als Englischlehrerin in Südkorea in direkten Kontakt mit dem Buddhismus kam. Als sie dort zur Teilnahme an einer einwöchigen Meditation eingeladen wird, reagiert sie skeptisch: »I am such an individual and my my freedom is so important to me that you don’t want me in the temple [lacht] because I will not I’ve never been able to behave by anyone’s rules and regulations.«
Sie entschliesst sich dann doch zur Teilnahme und ist von der Erfahrung überwältigt: J: »You only have one job to do. And you have ample time to do that job and then there is the next job [lacht] and äh I wanted to meditate [lacht] and äh that was my job. Aand I found that – I had more freedom than I ever had before.« I: »Mhm.« J: »– – aand ähm – that gave me a lot of food for thought [leichtes Lachen].« I: »Why was that freedom? What kind of freedom?« J: »– Well – if you are there – and you have put everything from the outside world down« I: »Mhm.« J: »and you have no contact from the outside world – you’re just there, the outside can’t touch you and you’re not touching the outside, you just have one job to do. You have plenty of time to do it until you have the next job to do. You have time to get up. You have time to bow. You have time to chant. You have time to sit. You have time to eat. You have free time [beide
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130 | »New World Horizon« lachen]. Then you can either sleep or you know practice in any way you want to or whatever ähm – that’s it.« I: »Mhm.« J: »Aand ähm – – it was total freedom – as far as I can […]. Aand ähm – – that – – surprised me and äh I liked it.«
Auch bei J. zieht sich alles auf den Augenblick zusammen. Die Meditation besteht aus mehreren Momenten, die je für sich das Gesetz des Handelns bestimmen. Jeder Moment steht für sich allein. Der Moment wird so absolut gesetzt, dass die Zeit als Ganzes in ihn aufgenommen wird: jeder Augenblick bildet – so könnte man fast sagen – seine eigene Unendlichkeit. Im Moment dehnt sich die Zeit. J. hat viel Zeit (»plenty of time«), um die ihr im jeweiligen Moment auferlegten Aufgaben zu erledigen. Und all diese Zeit ist abgetrennt von der Zeit der Aussenwelt. Die Freiheit, die von J. während des Meditationsexperiments erfahren wird, wird gerade dadurch ermöglicht, dass die Aussenwelt »draussen« bleibt. Alle Kontakte werden durchtrennt. Die Aufgaben, die zu erledigen sind, haben mit der Aussenwelt nichts zu tun. Man fragt sich unweigerlich, woher sie kommen – wer gibt sie auf? –, wenn es ausserhalb von J. und jenseits des Moments nichts gibt. Ganz ohne Transzendenzbezug geht es allerdings auch hier nicht. Im Vergleich mit den meisten anderen Interviewten und im Kontrast zu den oben angeführten Beispielen kommt es bei J. jedoch nicht zu der typischen Verschmelzung von Welt und Subjekt, die sich vor allem im Alltagsleben ausdrückt. Bei J. findet sich gerade das Gegenteil einer alltäglichen Situation: sie erlebt zum erstenmal eine Meditation und macht dabei völlig neuartige und ungewohnte Erfahrungen. Inhaltlich wird die Meditationserfahrung dann jedoch auf den Alltag rückbezogen. Aufstehen, Essen und Schlafen zumindest sind Kernbestandteile eines jeden Alltags. Verbeugen, Sitzen und Singen sind mittlerweile zu festen Bestandteilen von J.s Alltag als Buddhistin geworden. Wir haben es gewissermassen mit einer Wiedererschaffung des Alltags innerhalb einer ausseralltäglichen Erfahrung zu tun. Erst durch die Einführung des Alltags in das religiöse Erlebnis – und damit durch die ›Veralltäglichung‹ des Letzteren – kommt es schliesslich zur Erfahrung der Freiheit. Die Freiheit ihrerseits transzendiert die ausgesperrte (Aussen-)Welt. Die religiöse Erfahrung, die sich hier erschliesst, ist eine Erfahrung ›grosser‹, über die Welt hinausweisender Transzendenz, die sich an der veralltäglichten Struktur eines ausseralltäglichen religiösen Erlebnisses entfaltet. Man könnte in diesem Zusammenhang von der »Veralltäglichung« ›grosser‹
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Transzendenz sprechen. An J. lässt sich demnach auch nicht eigentlich ein Gegentypus zu den anderen angeführten Beispielen beschreiben, denn auch in ihrem Fall kommt es zu einem Zusammentreffen von Alltagsstruktur und ›grosser‹ Transzendenz und damit zu einer Relativierung der Differenz von Heiligem und Profanem beziehungsweise zu einer Verwischung der Grenzen zwischen den Bereichen. Der Alltag als Ort des Transzendenten klingt auch an in einer Äusserung des Buddhisten S., eines dreissigjährigen Chemikers: S: »I felt like this fog lifted and everything was – somehow more clear.« I: »Mhm.« S: »– – and – this was ecstasy, and it was very – easy to be honest, and I thought like that – all my life I’ve been hiding, and that that was habit, and somehow habit keeps us this habit of fear and hiding keeps us from our being our true selfs which is just spontaneous and open and real and not and that – that all these mechanisms that we have like feeling guilty or feeling – closed, inhibited, defense mechanisms« I: »Mhm.« S: »ähm – only creates suffering«
S. erzählt während des Interviews, wie er im Verlaufe seiner Highschool-Jahre begonnen hat, vieles zu hinterfragen. Während seiner College-Zeit hat er sich schliesslich von der Religion seiner Familie distanziert – er ist als Presbyterianer aufgewachsen – und sich auf die Suche nach einer »eigenen Philosophie« gemacht. Im Rahmen dieser Sinnsuche ist er mit der Droge Ecstasy sowie mit anderen Rauschmitteln in Kontakt gekommen, was schliesslich zu einer mystischen Erfahrung führte. Diese Erfahrung lässt sich als Konversionserlebnis deuten, da sie seinem Leben seiner Erzählung gemäss nachhaltig eine andere, neue Wendung gegeben hat, die ihn schliesslich zum praktizierenden Buddhisten machte. Die mystische, durch Ecstasy hervorgerufene, jedoch auf eine tiefere, grundlegendere »Wahrheit« über die durch die Droge ausgelösten neurochemischen Prozesse hinaus verweisende Erfahrung bringt ihm eine neue, bislang nicht gekannte Klarheit der Wahrnehmung, die es ihm von nun an ermöglicht, ein offeneres, spontanes und erst jetzt »wirkliches« Leben als ›wahres Selbst‹ zu führen. Spontaneität wird zum Kennzeichen eines Lebens »im Moment«, das auch für S. im Zentrum seiner spirituellen Suche steht. Jeder Moment, der im Alltag durchlebt wird, ist Ausdruck des ›wahren Selbst‹. Bei diesem Moment handelt es
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132 | »New World Horizon« sich um die eigentliche »Wirklichkeit«: spontan, offen und real. Mystische Erfahrung wird zur Alltagserfahrung des jeweiligen Moments. Ausseralltäglichkeit wird vom Alltag gleichsam absorbiert und die Unterscheidung von Alltag und Nicht-Alltag verblasst.
Richtig leben Das Interviewmaterial bietet eine Fülle von Äusserungen, die den Alltag zum Thema religiöser Erfahrung machen und damit auf eine ausgeprägte Orientierung an der diesseitigen Welt verweisen. Die Interviewten finden sich voll und ganz als Teil der gegebenen Welt. Selbst da, wo, wie im Fall von J., eine religiöse Erfahrung in einem »klassisch« religiösen Kontext – in der Abgeschiedenheit eines buddhistischen Klosters – gemacht wird, wird die Erfahrung inhaltlich mit der Erfahrung von Alltäglichkeit »kurzgeschlossen«. Statt dass sich eine Bewegung aus der Welt hinaus – in ihrem Extrem als Weltflucht – ausmachen liesse, findet in der religiösen Erfahrung eine Rückwendung zur Welt hin statt. Die Welt konstituiert sich in der religiösen Erfahrung. Sie ist nicht per se gegeben. Sie erscheint auch nicht als »selbständiger« diesseitiger Kosmos im Gegensatz zu einer davon zu unterscheidenden Sphäre des Jenseits. Vielmehr fallen Diesseits und Jenseits im Diesseits zusammen. Das Heilige ist nicht nur präsent in der Welt oder wird in ihr repräsentiert, sondern die Welt selbst ist ›heilig‹. Das ›Weltbild‹, das so entsteht, zeigt nicht das für moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften als typisch identifizierte Merkmal einer Zuweisung der Religion mit ihren Letztbegründungsansprüchen an ein hochspezialisiertes gesellschaftliches Subsystem. Statt an den Dualismus von heilig und profan mit seinen zwei aufeinander verweisenden, jedoch getrennten Sphären fühlt man sich eher, wenn auch nur von fern, an ein pantheistisches Weltverständnis erinnert mit einem göttlichen Prinzip, das, wie auch immer es im Einzelnen vorgestellt wird, ob als Person oder als Energie oder sonst irgendwie überirdische Kraft, in der Welt »haust« beziehungsweise mit dieser identisch ist. Für die Interviewten ist der Alltag der Ort, an dem nicht nur die Zeichen des Ausseralltäglichen gefunden werden können, sondern das Heilige selbst. Für E., eine Buddhistin, ist etwa die Arbeit in der Küche spirituelle Praxis. Für P., einen Unitarier, sind es die »Zufälle« des alltäglichen Lebens, die ihn auf die Existenz einer höheren Kraft verweisen, so beispielsweise wenn er auf einmal entdeckt, dass er an einer Strasse lebt, an der früher einmal ein mittlerweile längst verstorbener Vorfahre von ihm gewohnt hat und dies in ihm den Glau-
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ben bestärkt, dass es keine wirklichen »Zufälle« gibt. Dieser Glaube führt dazu, dass er sich – wie er erklärt – weniger einsam fühlt in der Welt. Die Welt erhält ihre Ordnung von einem höheren Prinzip her – sie ist kein Chaos, sondern ein geordneter Kosmos, in dem man heimisch sein kann. Als weiteres Beispiel für den Bezug von Alltagswelt und Transzendenz werden Ausschnitte aus dem Interview mit D. angeführt. Es handelt sich dabei um einen im Vergleich mit den übrigen Befragten etwas untypischen Fall eines Unitariers. D. ist Mitte fünfzig und als Verkäufer im Autoreifengeschäft tätig. In seinem privaten Leben befindet er sich in einer Krise, da er nach fünfundzwanzigjähriger Ehe nun vor der Scheidung steht. Er hat zwei Töchter. Im Gegensatz zu den meisten anderen Unitariern erachtet er sowohl Religionen wie auch alle anderen grossangelegten Versuche der Welterklärung als sinnlos. Was wirklich zählt, ist die Bewährung des Einzelnen im täglichen Leben, in den immer wiederkehrenden Situationen des Alltags: »That’s basically what I think. I mean what did René Descartes really accomplish? – I […]. What I wanna know is how people, how do you deal, how do you help people deal with the world out there. … The point is that to me is a much more valid philosophy than anything Thoreau and Descartes and the rest of them have to say because people, real people, really go to shops, and real people work there, real people shop there, and real people interact with each other, and real people drive on the expressway, and how do you deal with each other in a concrete, pleasant manner and still maintain a sense of self without being hostile and egotistical about it. And that to me has got nothing to do with a belief in God. It’s got nothing to do with great moral philosophies. It has to do with just ordinary living, and that’s all most of us are. You wanna be a professor of philosophy at college or university where you get paid a salary, and that from that salary you buy a car, and you buy a home, and you buy clothes and you buy sustenance and and for your spouse and children whatever. Fine. But what are you really doing? Are you producing anything? If all you can talk about is – great, you know, esoteric thoughts, I don’t see the point of it. I don’t see the point of coming to the church and and discussing the trilogy.«
D. macht seinem Ärger Luft. In einer Klarheit, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, identifiziert er den Alltag »gewöhnlicher« Menschen als den Ort der eigentlichen Wirklichkeit. Die Anforderungen des Alltags sind vollständig atheoretischer Natur. Es
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134 | »New World Horizon« handelt sich um den Bereich reiner Praxis. Jede Spekulation, die darüber hinausweist und sich damit von den Problemen des Alltagslebens entfernt, erscheint geradezu als Anmassung gegenüber allen Versuchen, ein unspektakulär alltägliches Leben zu führen. Man könnte es dabei bewenden lassen und in D. einen »religiös unmusikalischen« Menschen erkennen – wobei sich dann natürlich die Frage aufdrängt, warum er sich ausgerechnet eine Kirche (wenn auch eine unitarische) aussucht, um dort Sonntag für Sonntag und manchmal auch während der Woche einen Teil seiner freien Zeit zu verbringen. Er scheint ein höchst prinzipienorientierter Mensch zu sein, der sich, auch wenn er philosophische Moraltheorien ablehnt, in seinem Alltagsleben von starken moralischen Überzeugungen leiten lässt. So beruft er sich immer wieder auf Ehrlichkeit als Basis des zwischenmenschlichen Handelns. Ehrliches individuelles Bemühen, das tägliche Leben zu bewältigen einerseits, und – damit verbunden – Ehrlichkeit als grundlegendes Prinzip im Umgang mit anderen andererseits, sind wesentlich für D.: »… and ähm I think it’s very, very important to be honest with people and yourself, and and that that’s for me a much bigger moral question, a much more important question than where the earth comes from and where we go, you know, what about our soul. … I have to live by my moral code, and I know what’s right. And right and wrong are fairly fairly obvious äh it doesn’t take a brain surgeon to figure out that äh throwing out the gum wrapper on the ground is […].«
Solch klar verbalisierte Überzeugungen rufen nach einer Antwort auf die Frage, woher er diese bezieht. Sie lassen sich bei D. nicht von einem übergeordneten Prinzip, etwa einem Gott oder einer der Welt zugrunde liegenden höheren Kraft, ableiten. Gefragt nach dem Ursprung seiner moralischen Prinzipien, antwortet er: »Yeah, I’m I’m very principled. I I consider my ähm moral basis to be ähm almost organic in that äh – it doesn’t take any any higher power. I don’t need the Bible to tell me not to throw the gum around. I don’t need the Bible, and by that I mean any any book whether it is the Koran, the Talmud or whatever to ähm tell me not to steal. I mean if you look around through every culture in some fashion adopts most of what we in the Christian world refer to as the Ten Commandments. You don’t steal.«
Die moralische Grundlage von D.s Prinzipentreue ist so sehr von
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dieser Welt, dass er sie als »organisch« bezeichnet. Es gibt gleichsam nur einen »Organismus«, der zählt, und das ist die gegebene Welt des täglichen Lebens. Diese Welt ist selbstgenügsam. Sie erschafft sich in der Praxis des Handelns immer wieder neu und bedarf keines externen Schöpfers und keiner in Texten festgehaltenen und durch Experten vermittelten Lehre. Ausserdem sind die wesentlichen moralischen Grundsätze allen Kulturen bekannt und gelten überall. So areligiös D. dem konventionellen Wortsinne nach auch ist, seine Wahrnehmung der Welt gründet nicht weniger als jene religiös empfänglicherer Menschen in der Erfahrung einer besonderen Autorität, die hier jedoch die Form eines moralischen Imperativs annimmt. Auch bei D. findet sich die Trennung in eine übergeordnete und eine davon abhängige untergeordnete Sphäre, nur dass Erstere nicht von einem Gott beherrscht, sondern durch die Moral gebildet wird und die Hierarchie ganz innerweltlich gedacht ist. Platz für Zweifel ist in D.s Fall – so zumindest macht es den Anschein – keiner. Viel zu offensichtlich und unmittelbar zugänglich ist die Wahrheit, als dass man sie mit gesundem Menschenverstand nicht erfassen könnte.
Das Heilige im Hier und Jetzt In seiner Bestimmtheit und Überzeugtheit ist D. eher eine Ausnahme. Für fast alle anderen Interviewten gibt es demgegenüber einen weiter geöffneten Raum des Zweifelns. Viele der übrigen Interviewten beschreiben sich selbst als spirituell Suchende (»spiritual seekers«) – ein Aspekt, der in D.s Selbstbeschreibung nicht vorkommt. Die spirituelle Suche definiert sich gerade dadurch, dass man (noch) nicht gefunden hat und dass es Bereiche gibt, die (noch) unerschlossen und »geheim«, unbekannt sind. Alle in diesem Kapitel diskutierten Beispiele machen jedoch eines deutlich: kaum je wird über das Diesseits ins Jenseits oder ins Ausserweltliche hinausgegriffen, sondern die Präsenz des Heiligen in der Welt erwartet und in ihr gesucht. Für den Katholiken S. ist Gott zugegen in der Welt: S: »But äh – no I would see God as permeating the world. But ähm yeah that’s […]« I: »Mhm.« S: »But I haven’t« I: »Permeating like?« S: »Yeah – as being part of the world, not just some other place.« I: »Mhm.«
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136 | »New World Horizon« S: »I mean if God were just some other place, it wouldn’t be so much of a point.«
Dieser Gott durchdringt die Welt. Er breitet sich aus in ihr, wie es das Wort »permeate« anzeigt. Er diffundiert gleichsam in die Welt hinein und verbindet sich mit ihr. Nach wie vor ist dies ein Gott, der sich auch wieder in sein eigenes, von der Welt der Menschen unterschiedenes Reich entziehen kann. Der Gott von S. ist nicht andauernd präsent und permanent erfahrbar. Seine Gegenwart lässt sich bevorzugt in ruhigem Umfeld und entsprechend friedvoller Atmosphäre sowie natürlich in der Kirche erfahren oder vielleicht besser erahnen. Noch deutlicher wird die alltägliche Erfahrung göttlicher Existenz beim Katholiken T., der sich erinnert, wie er als Kind nur zu Gott, jedoch zu keinem Menschen eine starke persönliche Beziehung unterhalten habe. Gott war sein ständiger Begleiter, was immer er auch tat oder wo immer er auch war, während etwa sein Vater kaum anwesend war und auch die Aufmerksamkeit der Mutter, die für sieben weitere Kinder zu sorgen hatte, spärlich ausfiel. Aus seiner engen Beziehung zu Gott hat T. sich später selbst zurückgezogen und versucht nun, Anfang vierzig und – nachdem er einige Jahre als Anwalt gearbeitet hat – zur Zeit freiwilligerweise arbeitslos, die Entfremdung von Gott zu überwinden und die Beziehung zu vertiefen. Dazu bedarf es zwar nicht-alltäglicher Erfahrungskontexte wie etwa einer Pilgerreise oder sogar einer protestantisch-evangelikalen Kirche, der er eine Weile lang angehörte, bevor er schliesslich zu den charismatischen Katholiken gestossen ist – die dabei erlebte Gegenwart Gottes oder Jesus’ ist jedoch von einer überwältigenden, zuweilen sogar physischen Wirklichkeit im Hier und Jetzt. Er schildert die Erfahrung Gottes als ein Schockerlebnis, das ihm mehrmals widerfuhr, besonders eindrücklich jedoch das eine Mal, als ein Priester über seinem Kopf die Hände zum Gebet erhob: T: »… and so I went recently and and this priest from Montreal who was praying over me. And I had my eyes closed and I felt this force pushing me over« I: »Mhm.« T: »and – I was I was I was shocked. I was like what’s going on and I opened my eyes and he just had his hand like five inches from my face« I: »Mhm.« T: »you know« I: »Mhm.« T: »you know as if he were doing something. And with my eyes closed I felt
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4. Das transzendente Fundament amerikanischer Individualität | 137 the force of that and it wasn’t I mean I’ve done a lot of athletics and everything. I know what my body is and what I can do and everything like that and – there was some outside – force that was like pushing me back and I couldn’t I can’t explain it.« I: »Mhm.« T: »And so I feel like – I feel like I was impressed upon the fact that you know if you sit before Jesus it isn’t just – like there can there can be something that happens outside of you that’s that’s much more than your saying well I believe he’s there so therefore he’s there and therefore it makes a difference.«
Die Präsenz dieses Gottes weist über das Innere der Erfahrung hinaus. Gott ist jedoch nicht fern und unnahbar, sondern ganz gegenwärtig. Er kommt aus der Ferne und ist dann nah. Für die Katholikin E. ist Gott so umfassend präsent, dass sie sich dabei ertappt, wie sie seine Gegenwart zu verdrängen und sich aus seiner »Umklammerung« zu lösen versucht: »And the only way that I can get bitter and everything is if I stuff God away somewhere and I don’t acknowledge his presence. Because I have to acknowledge he created everything.« … »That that’s a kind of prayer is is being aware of God’s presence. And that comes and goes throughout the day.«
Wenn Gott in der Welt so sehr gegenwärtig ist, wie es in diesen Beispielen auf unterschiedliche Art zum Ausdruck gebracht wird, dann muss sich das auch im Umgang der Menschen miteinander zeigen. Wenn spirituelle und religiöse Suche in der Welt selbst lokalisiert sind und auf die gegebene Welt selbst zielen, dann wird die Welt selbst zum Prüfstein und die Menschen müssen sich daran in ihrem Handeln gleichsam als einer Form des Ausdrucks des Heiligen bewähren. Die Praxis des täglichen Handelns wird dann wichtiger als die Glaubenslehre. Die Ergebnisse einer von Nancy Ammerman durchgeführten Untersuchung zeigen, wie für den amerikanisch-christlichen Mainstream ein moralisch »richtiges« und »gutes« Leben den Kern der Religiosität ausmacht, hinter dem die Bedeutung der Institution Kirche zurücktritt. »Doing good« und »making the world a better place« werden am häufigsten als wesentliche Kriterien eines christlichen Lebens genannt, das sich über alle Bereiche des Lebens, insbesondere über die ganze Breite des Alltags, erstreckt.17 Selbst17 | Nancy T. Ammerman, 1998, Golden Rule Christianity: Lived Reli-
gion in the American Mainstream, in: David D. Hall, ed., Lived Religion in
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138 | »New World Horizon« perfektion und Perfektionierung der Welt gehen dabei Hand in Hand als die zwei Seiten der gleichen Medaille. So meint ein Interviewter: »I think all He [God] stands for makes you hope that you could be a better person.« Und ein anderer definiert Gott so: »[It’s] the way you live your life. By that I mean, what good is it to know God if – you can study, you can be an excellent Bible student, but if you don’t practice what you have learned, then you aren’t making a better world for yourself or for anyone.«18 Ammerman meint hierin die heute wahrscheinlich dominante Form amerikanischer Mittelklasse-Religiosität erkennen zu können. Dass es sich dabei nicht um einen Rückgang von Transzendenzerfahrung handelt und damit auch nicht um irgendeine Form von Säkularisierung, machen diese Äusserungen klar. Die Menschen haben – so Ammerman – ihren Bezug zur Transzendenz nicht verloren: »They were sometimes rather fuzzy on just what it is they experience, and they sometimes had to stop and think when we asked, but they almost always came up with answers to questions about their experience of God.«19 Im »guten Bürger«20 nimmt – so stellt auch Wuthnow in eigenen Untersuchungen fest – das Heilige Gestalt an in der Welt. Der gute Bürger ist vor allem dann gut, wenn er jeden Tag von neuem in den kleinen Dingen des Alltags sein Gutsein demonstriert und beweist. In diesem Gutsein drückt sich nicht so sehr die innere Wesenheit eines einzigartigen Individuums aus, sondern ein höheres Allgemeines: Es spiegelt sich darin etwas, das grösser ist als der Einzelne, aber umgekehrt ohne diesen nicht denkbar wäre und nicht zum Ausdruck gebracht werden könnte.
4.2 ›Journey‹ Mit der Vorstellung des Alltags eng verbunden ist das Konzept der ›journey‹. Es steht im Rahmen der durchgeführten Interviews für eiAmerica. Toward a History of Practice, Princeton, New Jersey, 197. Die Studie beinhaltet eine Umfrage unter 1’995 Individuen in 23 Kongregationen sowie 300 Interviews mit Laien aus siebzehn Kirchen, wobei 103 davon detailliert ausgewertet wurden (14 Prozent Katholiken, 54 Prozent liberale und 32 Prozent evangelikale Protestanten). Alle Kongregationen gehören der christlichen Tradition an. A.a.O., 196f. 18 | Zit. nach Ammerman (1998), 202f. 19 | Ammerman (1998), 207. 20 | Vgl. Wuthnow (1998a), 157ff.
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nen biographischen Suchprozess, hinter dem sich nicht die Idee einer zu erforschenden inneren, »rein subjektiven« Wesenheit des Individuums, zu welcher man vordringen könnte, verbirgt, sondern ein Ordnungszusammenhang, bei dem Welt und Individuum eng aufeinander bezogen sind. Die Welt, in welcher sich der Einzelne zu positionieren versucht und worauf sich seine Suche richtet, wird dabei als übergreifender sinnhafter, ›heiliger‹ Kosmos erfahren. So kann man denn auch in jedem Moment und an jedem Ort erwarten, dass sich das Heilige in mehr oder weniger konkreter Form zu erkennen gibt – nicht so sehr nur durch ein auf ein anderes Reich verweisendes Zeichen oder Symbol, sondern im Symbol immer auch auf sich selbst als ein in dieser Welt Gegenwärtiges. Von diesem »Numinosen«, das nicht von ungeheurer und unheimlicher Qualität wie bei Rudolf Otto ist21, kann das Individuum auch nicht »erschlagen« oder wie aus dem Nichts »getroffen« werden. Vielmehr sucht man es gezielt auf – und gerade darin scheint sich eine Besonderheit des amerikanischen Umgangs mit Transzendenz abzuzeichnen: »In many cultures it would be unthinkable to engage in activities with the explicit purpose of discovering the sacred. Divine providence, grace, and the inscrutability of God would be emphasized instead. God would seek out the individual, like Yaweh capturing Moses’s attention through the burning bush. But it would be less likely for the individual to set out to find God – and certainly unthinkable that deep spirituality could be found by following a set of prespecified guidelines or steps.«22 Es ist nicht klar, wohin diese Suche im Einzelfall genau führt. Wo lässt sich das Heilige finden? Ist es in der Natur, in der Weite und Schönheit der amerikanischen Landschaft anzutreffen? Oder ist es eher in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Familie und im alltäglichen Umgang der Menschen miteinander zu entdecken? Oder aber im Selbst, im Individuum, im Inneren der Person? Alle diese Möglichkeiten sind denkbar und oft werden diese Fährten des Heiligen gleichzeitig verfolgt. Was dieses Heilige eigentlich ist, bleibt unfassbar. Möglicherweise lässt es sich nicht unterscheiden von der Natur, vom Mitmenschen und vom eigenen Ich, sondern drückt sich in allem gleichermassen und zugleich aus. Wie immer es sich damit auch verhält – die interviewten Amerikaner und Amerikanerinnen bringen häufig den Begriff der ›journey‹ ins Spiel, wenn sie über sich selbst und über den Sinn ihres Daseins reden. Die Feststellung, dass 21 | Otto (1991), 53ff. 22 | Wuthnow (1996), 17.
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140 | »New World Horizon« man sich auf einer ›journey‹ befindet (»to be on a journey«) und dass das eigene Leben eine ›journey‹ darstellt, scheint in so grundlegender Weise Bestandteil der Wahrnehmung zu sein, dass sich an diesem lebensweltlichen Konzept einigen wichtigen Aspekten amerikanischer individueller Identität nachgehen lässt. Der ›journey‹ liegt dabei – wie die folgenden Ausschnitte aus dem empirischen Material deutlich machen – ein Identitätsverständnis zugrunde, das nicht essentiell, sondern prozessual angelegt ist. In der Frage: Wer bin ich? klingt weniger die Vorstellung einer inneren Wesenheit an, an die man sich mehr oder weniger gut herantasten könnte und die sich in irgendeiner Art dingfest machen liesse. Ein wandlungsresistenter, stabiler Kern des eigenen Ich wird in den Interviews kaum je thematisiert. Dennoch halten auch diese Individuen ihren Einzigartigkeitsanspruch aufrecht. Er wird jedoch nicht »gegen« die Welt formuliert. Das würde bedeuten, dass Ich und Welt auseinandertreten, indem das Ich gerade das wäre, was die Welt nicht ist. Oder aber das Ich wäre ein wenn auch kleiner, so doch in seiner Einzigartigkeit kaum überbietbarer Teil einer grossen, schier unendlich weitläufigen Welt, die etwas radikal anderes darstellte und vom Ich nicht »abgedeckt« würde. Diese Varianten des Verhältnisses von Ich und Welt scheinen jedoch auf den amerikanischen Fall, so wie er sich auf der Grundlage des Interviewmaterials rekonstruieren lässt, nicht recht zuzutreffen. Auch für den übrigen westlichen Kulturraum – also für die europäischen Gesellschaften – wird seit einiger Zeit verstärkt für ein anderes, flexibleres Identitätskonzept optiert, bei dem nicht mehr die »In-dividualität«, also die Unteilbarkeit des gesellschaftlichen Elementarteilchens, im Zentrum steht, sondern die Vielzahl der Identitäten einer Person.23 Nicht die Unteilbarkeit des Subjekts steht heute zur Diskussion, sondern dessen fragmentarische Struktur. Man stützt sich dabei auf das Vokabular der Chemie und spricht von »Verflüssigung« und von »Verflüchtigung« des Ich in »Teil-Iche«. Zu welchen Schlüssen auch immer die akademischen Diskurse diesbezüglich gelangen werden, für die Handelnden bleibt die substantielle Frage: Wer bin ich? oder Was bin ich? unhintergehbarer Bestandteil der Frage nach Identität, und die alltägliche Lebenspraxis wird nur selten durch einen das Selbstver-
23 | Vgl. zur Auseinandersetzung mit diesem Identitätsverständnis auch
den von Scott Lash und Jonathan Friedman herausgegebenen Sammelband: Scott Lash, Jonathan Friedman, eds., 1992, Modernity and Identity, Oxford UK, Cambridge USA.
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ständnis verunsichernden Reflexionsprozess unterbrochen. Auch die Identitätsbilder, die im Folgenden rekonstruiert werden, lassen sich mit den Kategorien von Wandel und Prozess besser charakterisieren als mit Substanzkonzepten. Dennoch beugen sie sich den in Europa sozialwissenschaftlich breit diskutierten Vorstellungen eines fragmentierten Ich nicht. Ein Blick auf das lebensweltliche Deutungsmuster der ›journey‹ kann die Konturen amerikanischer Selbstbilder schärfen, was nun versucht werden soll.
Seeking T., ein Katholik, erklärt, dass er sich das Leben als Reise vorstellt, deren Ziel die Realisierung von Glück (»happiness«) ist. Den Antrieb oder Beweggrund findet diese Reise in der Hoffnung. Hoffnung, so erklärt er, sei nicht nur wichtig in Bezug auf das tägliche, aktuell gegebene Leben, sondern sie richte sich auch auf den Horizont der Zukunft: »Who am I becoming?« Als überzeugtem, gläubigem Katholiken ist ihm die Antwort dabei ein Stück weit durch die Glaubenslehre vorgegeben. Für die meisten Interviewten ist der Griff ins Jenseits jedoch zu weit. Obwohl sieben von zehn Amerikanern an ein Leben nach dem Tod glauben24, richten sich die im Konzept der ›journey‹ formulierten Lebensentwürfe selbst bei Katholiken in der Regel ganz aufs Diesseits und auf an diese Welt gebundene Erwartungen. Die Reise als ›journey‹, die in der Identitätsfrage: »Who am I becoming?« Ausdruck findet, ist der am häufigsten wiederkehrende semantische Topos im dieser Untersuchung zugrunde liegenden Interviewmaterial. Dabei lässt sich das englische ›journey‹ nur bedingt ins Deutsche übertragen. Am zutreffendsten wäre wohl, wenn man das deutsche Wort ›Reise‹ mit dem Begriff ›Leben‹ zur ›Lebensreise‹ ergänzen würde. Auch der Begriff der ›Passage‹ kommt jenem der ›journey‹ nahe. Im Lexikon wird der Begriff ›journey‹ durch die folgende Umschreibung wiedergegeben: »travel or passage from one place to another«; »something suggesting travel or passage from one place to another (the journey from youth to maturity, a journey through time)«25. Über das touristische Reisen hinaus – das im Eng-
24 | Diese Zahl ist für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stabil, s.
George Gallup, Jr., Jim Castelli, 1989, The People’s Religion. American Faith in the 90s, New York, London, 58. 25 | Merriam Webster’s Collegiate Dictionary, 1996, Tenth Edition,
Springfield, Massachusetts.
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142 | »New World Horizon« lischen meist mit dem Wort »trip« wiedergegeben wird – enthält der Begriff der ›journey‹ oft eine biographische Dimension, in welcher das Leben in Form eines Entwurfs anklingt. Die ›journey‹ meint sowohl den Lebensentwurf wie auch dessen Vollzug. Sie konstitutiert sich einerseits durch Projektion in die Zukunft und andererseits durch die Erfahrungen der Vergangenheit, die in diese Projektion eingehen. Fast alle interviewten Unitarier und Buddhisten sowie viele Katholiken können sich mit der Vorstellung, dass sie sich auf einer ›journey‹ befinden, identifizieren. Konvertiten ebenso wie jene, die ihrer ursprünglichen religiösen Bindung treu geblieben sind, verwenden die Semantik der ›journey‹ als Kern ihrer Selbstbeschreibung. Sie legen dabei die Gewichte unterschiedlich. Entweder richtet sich die Suche des Ich auf ein Bemühen um Selbst-Perfektionierung. Oder aber die ›journey‹ erscheint im Kontext einer allgemeineren, abstrakteren Suche nach letztgültiger Wahrheit und nach dem »Sinn des Lebens«. Beide Formen konvergieren dabei oft in eigentümlicher Weise und fördern so Aspekte einer Typik amerikanischer individueller Identitätsdefinition zutage. So meint etwa der Unitarier R.: »I’m trying to search out. I’m trying to find. – UU [Unitarian Universalists, C.M.] talk a lot about trying to find truth. I don’t think truth exists. You have your truth, and I have my truth, and and and your perception of what you see is gonna always be different from what I see. As we get to know each other, we may be able to see more of the same, but it’s always different. And the truth to me is not something to seek – but for me now the harmony and the love and the community seek to seek as a seeker to find a better understanding of this thing I would like to call God, ähm yeah absolutely absolutely. I’m always watching out.«
Zunächst fällt auf, dass sich R. in einem Suchprozess begriffen findet, ohne dass er sagen würde, was er eigentlich sucht: »I’m trying to search out. I’m trying to find.« Ein Objekt der Suche wird nicht erwähnt. Die Verben »search«, »find«, »watch out« und »seek« beziehungsweise die Formulierung »to seek as a seeker« zielen auf den Prozess und die Tätigkeit des Suchens per se. Zusammengehalten und gleichzeitig verstärkt wird die so sprachlich freigesetzte Dynamik dadurch, dass es sich um einen Versuch und damit um etwas handelt, das sich nicht von heute auf morgen erfüllen kann, sondern in der Regel Zeit braucht: R. versucht herauszufinden. Damit ist eine Haltung gegenüber dem Leben ganz allgemein angesprochen – gleichsam eine »Lebensphilosophie« oder ein »Lebensmotto«. Im Gegensatz zu einem »gewöhnlichen« Unitarier, der nach Ansicht von
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R. vor allem viel davon redet, »Wahrheit zu finden«, glaubt R. nicht, dass Wahrheit überhaupt existiert. Er grenzt sich so gleich ab von denjenigen unter seinen unitarischen »Glaubensbrüdern und -schwestern«, die der irrigen Vorstellung einer letztgültigen Wahrheit aufsitzen. Die zitierte Passage strukturiert sich entlang einiger Widersprüche, wobei sich der erste in konträren Aussagen zur Frage der Wahrheit findet. Obwohl Wahrheit nicht existiert, hat doch jeder seine Wahrheit. Wofür kein Platz zu sein scheint, ist eine übergeordnete Wahrheit, die die Wahrheiten der Einzelnen integrieren würde. Wie an anderer Stelle des Interviews deutlich wird, beschäftigt sich R., der in den sechziger Jahren politisch aktiv war und Beziehungen zur aufkeimenden ›Gegenkultur‹ des New Age unterhalten hatte, mit psychologischer Fachliteratur, wozu er unter anderem durch seinen Beruf – er bietet psychologische Karriereberatung für Manager an – angehalten ist. Seine Formulierung: »you have your truth, and I have my truth, and and and your perception of what you see is gonna always be different from what I see« hört sich denn auch ein bisschen wie aus dem Lehrbuch an. Trotzdem scheint sich nicht alles in Relativismus aufzulösen. R. geht davon aus, dass es trotz der Nicht-Existenz einer umfassenden, für jeden in gleicher Weise gültigen Wahrheit möglich ist, sich gegenseitig soweit kennenzulernen, dass sich ein Bereich des »Gemeinsamen« erschliesst. Er macht allerdings gleich wieder einen Rückzieher, denn: »it’s always different«. Die Suche, auf der sich R. und mit ihm – wie durch das »we« impliziert wird – alle anderen befinden, scheint nicht auf das Erkennen einer Wahrheit ausgerichtet zu sein. In der Suche R.s ist vielmehr immer auch der Misserfolg mitangelegt. Der Ausgang eines Versuchs (»I’m trying to«) ist immer ungewiss. Das macht den Versuch gerade zum Versuch. Trotz dieses Zurückweisens einer allumfassenden Wahrheit ist sich R. seiner Sache sicher. Existentieller Zweifel findet sich kaum ausgedrückt. Die beiden letzten Sätze des oben angeführten Zitats legen die Achse der Suche denn auch anders. Vom Text her nicht ganz eindeutig, wird doch auf ein Ziel der Suche verwiesen. Die Suche richtet sich nicht auf eine irgendwie letztgültige und substantielle, transzendente Wahrheit, sondern auf die innerweltlichen »Güter« Harmonie, Liebe und Gemeinschaft, die alle die Interaktion mit anderen zum Thema haben. Sie erfahren schliesslich eine Steigerung zur ›grossen‹ Transzendenz, indem sie mit Gott kurzgeschlossen werden. ›Gott‹ wird zu einem Sammelbegriff für die Ideale des zwischenmenschlichen Zusammenlebens. Diese Ideale gilt es besser zu verstehen. Auf sie und damit auf die Praxis, nicht auf Theorie und Wissen, kommt
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144 | »New World Horizon« es an. Die Suche entfaltet sich als Prozess ohne Ende: »I’m always watching out.« Zu einem früheren Zeitpunkt im selben Interview macht R. die von ihm angestrebte Redefinition des Symbols ›Gott‹ deutlich: »… for me reclaiming God is something we talk about. God has been a term, that has been taken over and used by people to mean to mean a supernatural being. God has created and man was created in God’s image which I think is ludicrous. It’s an exercise in egotism. It’s just – a for me the the spirit – spirit for me is probably a better term but it it it’s present it it is part of the force when we talk about the probabilities of life with people in some universe it’s not a probability. It’s a drive, life is an energy. It’s present. It is a living force – and as I live my life in alignment with it things go better and without alignment with it ähm things go worse.«
Gott erscheint wie ein Besitz, und R.s Forderung besteht darin, diesen Besitz wieder in Anspruch zu nehmen. Er soll von jenen zurückgefordert werden, die Gott zu einem Synonym des Übernatürlichen gemacht haben. Der Begriff ›Gott‹, so macht R. deutlich, ist durch die Tradition zu schwer belastet, als dass man ihn ohne weiteres verwenden könnte, wenn man sich dieser Tradition nicht zugehörig fühlt. R. möchte lieber anstelle des überbelasteten und missbrauchten Begriffs ›God‹ denjenigen des ›spirit‹ verwenden. Doch was meint dieser Begriff? Die Interpunktion (gemäss Intonation Tonband) und damit die Aussage sind hier nicht eindeutig. Der Satz kann jedoch so gelesen werden, dass der ›spirit‹ sich als etwas verstehen lässt, das grundsätzlich gegenwärtig ist. Ein Synonym scheint »Kraft« (»force«) zu sein – zumindest jedoch ist der ›spirit‹ Teil der Kraft. R. kommt dann jedoch zum eigentlich Wesentlichen: »life with people«. Das Zusammenleben der Menschen stellt keine »Wahrscheinlichkeit« oder eine blosse Möglichkeit dar, sondern es ist die eigentliche Energie. Das Leben ist eine Energie, die immer präsent ist: »It’s a drive, life is an energy. It’s present. It’s a living force«. Wie einem höheren Gesetz kann man dieser Kraft nicht entgehen. Entweder man richtet sich nach ihr aus, und dann gehen alle Dinge besser von der Hand. Oder aber man legt sich quer zu ihr und bezahlt dafür einen Preis: die Dinge nehmen einen schlechteren Lauf. Wie R. im Folgenden erklärt, hat diese Kraft die Eigenschaft, dass sie alles mit allem verbindet. Zur Erläuterung dieser Vorstellung einer umfassenden, im Universum und in der Welt wirkenden Bindungskraft beruft er sich auf einen Zusammenhang aus der Molekularbiologie:
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4. Das transzendente Fundament amerikanischer Individualität | 145 »You know, they’ve done – studies with molecules that are spinning clockwise and they can be – a million miles apart and when one of them changes its spin so does the other because there is like this connection. There is a connection between you and I, there is a connection between […] and spirit.«
Die Kraft findet sich sowohl in der Natur wie in der zwischenmenschlichen Interaktion. Sie findet sich im Grossen wie im Kleinen, im Universum wie in den Routinen des Alltags. Durch ihre umfassende Präsenz bringt sie die Differenz zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Jetztzeit und Unendlichkeit zum Verschwinden. Alles wird Gegenwart. Die Kraft hat überdies weder ein eigentliches Zentrum noch einen Ursprung. Sie drückt sich in den Menschen und in deren Handeln aus. Es wird jedoch kein Bezug zu ›grosser‹ Transzendenz im Sinne eines überweltlich existierenden Jenseits hergestellt. Die Rede von Inner- und Ausserweltlichkeit macht hier keinen Sinn. Vielmehr schliessen sich die Gegensätze in einem Ganzen zusammen mit der Konsequenz, dass sie sich auflösen. Um dafür den Begriff Gottes zu beanspruchen, muss man ihn von seinem im Monotheismus traditionellerweise gegebenen transzendenten Hintergrund ablösen: »… I would like to reclaim God as something – that is indeed God and not supernatural, not superhuman, it’s not, but is is something different and and understand that’s a powerful force.«
Die Kraft hat zwar nichts Übermenschliches an sich und doch transzendiert sie das einzelne Individuum: I: »Does then the distinction between this world and another in the sense of an otherworldliness not make sense to you? Is the energy or the force of connectedness you are talking about from this world? Would you say there is no power beyond […]« R: »Well, there is a power beyond. There is a power of something more powerful than I am – but but it’s not a conscious power that’s trying to figure out and pay attention to me, that it is connected to me. […] People I think we tend to involve in our ego, in our egos, I think it’s one of the things that separate us. And what we do is we create an ego. That ego – what what is there after this world? Well the ego, the identity goes – I mean there is none. Is there a consciousness? Is that what you ask me? Is there an afterlife? I don’t know if that’s what you ask me.« I: »Many people believe that there is a power beyond« R: »I think that there is a power of which you and I are part – we can’t own
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146 | »New World Horizon« that power. And it’s not me and it’s not you. It’s something that’s, you know, that that I don’t know we can find it.« I: »But it hasn’t anything to do with the idea that God determines the way things are here on earth?« R: »No. But there is there I mean we talk about the force being with you, and a force that happens you can it determines when you live contrary to to whatever this force is.« I: »Can you influence the force?« R: »Yeah. Because you’re a part of it. – You’re a part of it. – And I I I have a sense that – that in some ways I make my own decisions – and I have another sense that in some ways I can’t help to decide what will happen to me but – I can. A as I’ve said this is no theology. To me there is I would like to use the word ›God‹ – I would like to be able to experience the word. I have a lot of troubles with words. It almost upsets me as I use them. I want to reclaim it. And I also – this is not fair that other people took it. This is not fair. We’ve got to get it back.«
Zuerst einmal wird hier festgehalten, dass die über den Einzelnen hinausgehende Kraft nicht – wie eine Person – mit Bewusstsein vorzustellen ist. Genauso wenig wie der Gott R.s ein schöpferischer »Designer« der Welt ist, genauso wenig ist er jemand, der wie ein Mitmensch dem Einzelnen seine Aufmerksamkeit zuwendet. Die Unterscheidungen verlaufen anders. Es wird eine Macht identifiziert, von der jeder Teil ist. Sie »gehört« niemandem und niemand ist identisch mit dieser Macht. Wenn man diese Macht mit jenem vergleicht, was von anderen Interviewten als ›Heiliges‹ bezeichnet wird, dann ist das Heilige bei R. ganz in der Welt. Qualitäten des Heiligen hat diese Macht auch, weil sie letzten Endes unzugänglich und undurchschaubar und damit mysteriös ist: »It’s something that’s, you know, that that I don’t know we can find it.« Wenn man allerdings davon ausgeht, dass jeder Mensch teil hat an dieser Macht – oder Kraft, wie es oben hiess –, dann ist das Heilige in jedem Individuum enthalten. Zumindest liesse sich irgendeine Äusserungsform des Heiligen in diesem finden. Doch R. geht noch einen Schritt weiter. Die Kraft manifestiert sich nicht nur im Einzelnen, sondern der Einzelne kann umgekehrt auch seinerseits auf die Kraft einwirken und sie beeinflussen. Weil jeder Teil dieser Kraft ist, ist auch jeder Teil dieser übergeordneten Macht. Wie immer man dies letztlich nennen will – ob God, spirit, force, power –, das einzelne Individuum wird hier selbst zum Heiligen. Der Einzelne wird selbst göttlich, ohne dass er deswegen zum Gott schlechthin würde. Nicht durch Befreiung von der Welt und durch Selbststilisierung und Selbstüberhöhung be-
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stimmt sich dieses Individuum, sondern gerade im Gegenteil durch die Verbindung mit dem in der Welt wirkenden höheren Prinzip. In R.s Aussage klingt an, was Harold Bloom als den im Kern gnostischen Charakter der ›amerikanischen Religion‹ identifiziert hat.26 Das amerikanische Religionsverständnis unterscheidet sich – so Bloom – grundlegend von der christlich-jüdischen Tradition Europas und des Nahen Ostens, indem Gott im Individuum gedacht wird. Er wird nicht als in letzter Konsequenz immer ausserhalb des Menschen, als das absolut Andere, vorgestellt. Ralph Waldo Emerson, der amerikanische Philosoph des 19. Jahrhunderts und Kronzeuge in Fragen der Transzendenz, beruft sich seinerseits auf Jesus und entwickelt an ihm eine – so Bloom – aussergewöhnliche Vision des »amerikanischen Christus«: »He saw that God incarnates himself in man, and evermore goes forth anew to take possession of his World. He said, in this jubilee of sublime emotion, »I am divine. Through me, God acts; through me, speaks. Would you see God, see me; or see thee, when thou also thinkest as I now think.«27 Die Individuen sind für R. keine selbstgenügsamen Einheiten, die nur sich selbst in ihrer Einzigartigkeit zum letzten, unhintergehbaren Bezugspunkt haben. Gerade deshalb können sie für die Gemeinschaft auch zum Problem werden, nämlich dann, wenn sie ihre Verbundenheit mit dem ›spirit‹, der immer auch der Geist des Zusammenlebens ist (»life with people«), nicht erkennen und sie zu egoistischem Verhalten verleitet sind. Das Interview mit R. durchzieht eine Kritik am Zustand des Sozialen und an der Qualität der Gemeinschaft, welche er vor allem am Beispiel seiner unitarischen Kirche exemplifiziert. Es ist der Egoismus der Menschen, der sie voneinander fern halte. Die Gemeinschaft ist bedroht durch einen »Atomismus« auf sich selbst bezogener Egos. Obwohl R. die Existenz einer alles in sich zusammenschliessenden und alles vereinenden Kraft voraussetzt, scheint diese nicht voll zur Entfaltung zu kommen. Eine zentrifugale Gegenkraft, die ihren Ursprung im Einzelnen hat, treibt die Individuen auseinander und voneinander weg. Dabei scheint der weit verbreitete Egoismus nur ein Aspekt der zwischenmenschlichen Entfremdung zu sein: »I think it’s one of the things that separate us«, wobei R. nicht weiter ausführt, woran er dabei sonst noch denkt. 26 | Harold Bloom, 1992, The American Religion. The Emergence of
the Post-Christian Nation, New York, sowie Harold Bloom, 1996, Omens of Millennium. The Gnosis of Angels, Dreams, and Resurrection, New York. 27 | Ralph Waldo Emerson, Divinity School Address, zit. nach Bloom
(1992), 23f.
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148 | »New World Horizon« Ein Bereich der ›grossen‹ Transzendenz im Sinne einer anderen Welt scheint für R. nicht zu existieren. Nach dem Tod bleibt vom Ich und von der Identität nichts übrig: »the identity goes – I mean there is none«. Die »Identität« verschwindet, womit impliziert ist, dass es sie gibt – denn wie könnte sie sonst verschwinden? Gleichzeitig wird jedoch das Gegebensein von Identität grundsätzlich in Frage gestellt: es gibt keine. Man kann den zweiten Teilsatz auch als Korrektur des ersten lesen; das »I mean« legt dies nahe. In solchen Formulierungen drückt sich eine gewisse Schwierigkeit für R. aus, die Konturen eines »Weltbildes« deutlich zu machen. Diese Schwierigkeit ergibt sich nicht so sehr aus einem besonders hohen Grad an »Unausgegorenheit« der Konzepte, sondern eher daraus, dass hier Elemente unterschiedlicher Weltbilder, die in kulturell und historisch verschiedenen Traditionen wurzeln, ineinander fliessen. So prallen Konzepte aufeinander, die sich oft nur schwer vermitteln lassen. Es ist nicht unwichtig, dass es sich bei R. um einen ehemaligen Achtundsechziger handelt, der von alternativen Lebensentwürfen und von mit westlichen philosophischen Denktraditionen in Widerspruch stehenden Lebensanschauungen beeinflusst wurde. Als ein im westlichen Kulturkreis sozialisierter Mensch kann er die Vorstellung eines der Welt gegenüberstehenden Ich zum Thema machen. Diese Vorstellung lässt sich jedoch nicht ohne weiteres mit dem Konzept eines ›spirit‹ oder einer Kraft vereinbaren, die tendenziell alle Unterscheidungen auflöst. Auf ähnliche Schwierigkeiten und Widersprüche stossen auch die interviewten Buddhisten, wie die Beispiele weiter unten deutlich machen werden. Die Frage stellt sich, wie R. diese Widersprüche in seinem Weltbild zum Verschwinden bringt. Wie integriert er die verschiedenen Elemente seiner »Philosophie«? Wie setzt er sich selbst als Individuum in Bezug zu dem von ihm kreierten Kosmos? Auffallend ist, wie bei R. Innen- und Aussenwelt in eins verschmelzen. Die Kraft, von der er so oft spricht und durch die sich ihm die Sinnhaftigkeit der Welt erschliesst, ist im Individuum verkörpert, gleichzeitig jedoch auch mehr als dieses. Man ist Teil der Kraft, kann sie aber nicht besitzen. R. ist überzeugt, dass sich nichts trennen lässt und dass letztlich alles in einem Ganzen aufgeht. So meint er an einer anderen Stelle des Interviews: »I don’t separate anything. I mean, I my my work and my life are totally integrated.« Und doch kann man nie sicher sein, ob sich der ›spirit‹ wirklich einmal finden lässt, obwohl er überall und immer präsent ist. Das nächste Dilemma eröffnet sich – wie erwähnt – bei der Frage, ob sich die Macht vom Einzelnen beeinflussen lässt. Dies muss be-
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jaht werden, insofern jeder Einzelne Teil der Kraft ist. Es würde jedoch die Kraft als solche – wie dies bei jedem rechten Gott der Fall ist – in Zweifel gezogen, wenn sie sich nicht auch der Beeinflussung durch die Individuen entziehen würde. Und falls man sich gegen die Kraft stellt, hat man dafür seinen Preis zu bezahlen. R. erklärt nicht, worin dieser Preis besteht. Er charakterisiert auch die Kraft nicht näher: »whatever this force is«. Es findet sich kein konkreter Inhalt oder eine dieser Kraft zugrunde liegende »Substanz«. Vielmehr distanziert er sich an anderer Stelle von jedem Substanzdenken, wenn er sagt, dass es beim ›seeking‹ um den Prozess selbst geht und nicht um ein wie auch immer definiertes und anvisiertes letztes Ziel. Der Eindruck entsteht, dass R.s spirituelles Bemühen einer Verwirklichung auf der Grundlage von Erfahrung noch harrt. Er macht dies mehrmals während des Interviews deutlich, so auch in der zitierten Passage, wenn er sagt: »I would like to use the word ›God‹. – I would like to be able to experience the word.« Relativismus deutet sich an, wenn R. gesteht, dass er allgemein Schwierigkeiten hat, Worten Sinn zuzuschreiben. Und er endet mit einem Gefühl des Betrogenseins und mit der Forderung, das Wort ›Gott‹ gemäss seinem Verständnis zu beanspruchen. Hier tut sich der Graben wieder auf zwischen ihm und seinesgleichen sowie den »nichtwissenden« – fast ist man versucht zu sagen, vom wahren Gott abgefallenen und ihm »lästernden« – anderen. Dieses heterogen wirkende Bild erhält eine klarere Struktur vor dem Hintergrund der ›journey‹. Sie erscheint hier in ihrer typischen Form als Suche – als ›seeking‹. In dieser Suche drückt sich aus, worum es im Kern letzten Endes immer geht: um einen vom Individuum getragenen schöpferischen Prozess, um Kreation: I: »It seems that you are seeking without having the idea of getting there, without expecting to reach a certain goal. Is this not somewhat contradictory, to be seeking without the idea of a goal? Isn’t it difficult?« R: »No, no, no, because it seems it it it there are things which are a part of – this thing we call God. One thing is creativity, to create. When a child is born, that’s one of the holiest acts I think which is the whole aspect of creation and, you know, in the beginning, you know, God created. The word ›creation‹ is right in the beginning. It’s very – I mean it’s a concept I don’t think we really get what creation is, but as you as you and I talk, we’re seeking, we’re creating and so to – I seek that which can be created, even if it’s äh a little audiotape, I mean, it’s a creation, that there is an idea, there is a growth, and there’s something I will in talking to you today I will – have learned a little bit more of something.«
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150 | »New World Horizon« I: »Seeking in the sense of ›seeking for‹ doesn’t stop?« R: »It’s always getting, being close. Maybe being close to God. Being close to creation.«
Gott hat in der Stunde Null die Welt erschaffen. Aber dies ist nicht sein Privileg. Die Individuen sind nicht weniger schöpferisch, sowohl alleine wie auch in Gemeinschaft. Die ›journey‹ als seeking ist nicht ein Vorgang, der historisch relativ wäre in dem Sinne, dass sich die einzelnen Menschen in eine Welt geworfen finden, die über sie zeitlich sowohl in die Vergangenheit wie auch in die Zukunft hinausreicht. Jeder Mensch ist hier vielmehr selbst die Welt – die ganze Welt, da er ein Schöpfer ist wie Gott, dessen Schöpfung ganz am Anfang, bevor die Welt besteht, einsetzt. Das Individuum ist hier ein Gott, wie Gott selbst. Der letzte Satz des Interviewausschnitts lässt sich entsprechend auch als Nähe zum eigenen schöpferischen Ich lesen: »Maybe being close to God. Being close to creation.« Der einzige Nachteil, den dieses Ich gegenüber dem »eigentlichen« Gott hat, ist eine relative Ahnungslosigkeit und Unwissenheit: »I don’t think we really get what creation is.« Das Individuum muss lernen, Schritt für Schritt. Dadurch ist es Gott und Nicht-Gott zugleich. R. bleibt unterwegs auf seiner Suche nach dem ›spirit‹, die manchmal fast verzweifelt anmutet. Bis jetzt hat er nicht wirklich gefunden, was er sucht. Seine ›journey‹ wirkt gleichförmig, fast eintönig. Ihr fehlen die »peaks«, die Schlüsselerlebnisse, die sich bei anderen Interviewten oft finden lassen. Er vergleicht sich einmal unter Bezug auf Hermann Hesse mit einem »Steppenwolf«, der unabhängig und in dauernder Isolation von seinen Mitmenschen lebt. Und obwohl R. diese Unabhängigkeit als entscheidend für Individualität ansieht, ist seine Suche nach dem ›spirit‹ gleichbedeutend mit der Suche nach dem Überwinden der Isolation und mit der Hoffnung auf funktionierende soziale Bindungen. Äusserliche Veränderungen sollen dabei behilflich sein wie beispielsweise jüngst seine Entscheidung, aufs Land zu ziehen beziehungsweise in der Natur zu leben (»living in the woods«), um sich dort intensiver mit dem ›spirit‹ auseinander setzen zu können: »The intention is to spend more time to spend more time – coming to grips with spirit and looking what will happen.«
Er hofft jedoch auch, dass sich die verschiedenen ›journeys‹ der Menschen kreuzen und stellt seine bislang erfolglose Suche in den Kontext einer missglückten Interaktion zwischen den Menschen, die
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ihm fremd bleiben, auch in der unitarischen Kirche. Aber zu guter Letzt bleibt er optimistisch: »I go – almost as an incurable optimist. Almost with a with a sense that that tomorrow the spirit will be there.«
Das Leben ist für R. ein fortdauernder, nie zu Ende kommender Prozess des Erschaffens. Dieser Prozess wird von den Individuen getragen. Sie sind, obwohl jeder ein Schöpfer, in ihrem Schaffen aufeinander angewiesen. Aus diesem Schaffensprozess der Individuen geht die Gemeinschaft hervor. Viele Begriffe umschreiben diesen Zusammenhang, wobei R. dafür besonders auch den seiner Meinung nach viel missbrauchten Begriff Gottes in Anspruch nehmen will. Entscheidend ist, dass inhaltliche Ziele des Schaffensprozesses keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle spielen. Man kann mit einem Interview ein Tonband bespielen, eine Aufnahme kreieren. Das eigentliche Erschaffen besteht jedoch nicht in der resultierenden Aufnahme, sondern im Prozess des Aufnehmens selbst: »it’s a creation, that there is an idea, there is a growth«. Damit wird die Bewegung selbst zum Ziel: »It’s always getting, being close.« Auch im Nahesein kommt die Bewegung nicht zum Stillstand. Denn nahe zu sein heisst noch nicht, dort zu sein. Es gibt keinen Ort des Ankommens.
›Over-Soul‹ Während sich bei R. aus biographischen Gründen Einflüsse des New Age bemerkbar machen28, zeigt das Beispiel der Unitarierin N., einer verheirateten Frau Mitte fünfzig, einen ausgesprochen »klassischen« Bezug zur amerikanischen Kultur und zum amerikanischen Selbstverständnis, indem sie sich auf den Transzendentalisten und Romantiker Ralph Waldo Emerson als Kronzeugen ihrer religiös-spirituellen Erfahrungen beruft. N. wurde während ihrer Collegezeit mit Emerson konfrontiert und von der Lektüre seines Werks nachhaltig 28 | Robert Orsi weist darauf hin, dass das New Age nicht als ein Rand-
phänomen amerikanischer Religion zu verstehen ist, sondern vielmehr deren wesentlichen Charakterzug ausmacht: »[…] the New Age is not a discrete, definable – and thus containable – movement but an expression of the fundamental improvisatory impulse of religion in the social conditions of this society. American religions have always been new age.« Robert A. Orsi, 1993, Forum: The Decade Ahead in Scholarship, in: Religion and American Culture, 3.
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152 | »New World Horizon« beeinflusst. Ihre ganze spätere Weltanschauung gründet sich auf ein Konzept Emersons: auf das Konzept der ›over-soul‹. Dabei handelt es sich um die Idee, dass das ganze Universum in einer »ewigen Seele« aufgeht und von dieser zusammengehalten wird.29 Das Konzept selbst, so wie es von Emerson entworfen wurde, interessiert hier weniger als die Art und Weise, wie N. diese Idee als Strukturelement ihrer eigenen Biographie einerseits sowie ihres Individualitätsverständnisses andererseits fruchtbar macht. Die Konfrontation mit den Werken der amerikanischen Literatur im Alter von etwa zwanzig Jahren wird von N. als »tiefgehende Erfahrung« erlebt: »Ähm the the experience of taking American literature in college was a profound experience for me.«
Es handelt sich dabei jedoch nicht um »irgendeine« Erfahrung. Sie wird von N. als religiöse Erfahrung verstanden. Gefragt nach ihr möglicherweise widerfahrenen religiösen Erlebnissen, ist N. sofort – noch bevor die Frage zu Ende formuliert ist – mit einer Antwort zur Hand. Es scheint kein Zweifel für sie zu bestehen, dass die Emerson-Lektüre und die Begegnung mit dem Konzept der ›over-soul‹ als einschneidende, religiöse Erfahrung zu qualifizieren sind: I: »But you had a religious I mean« N: »I had I had an experience in college.« I: »Mhm.« N: »Ähm – before I was married that ähm was the beginning of my becoming ultimately many many years later a Unitarian. And that had to do with ähm reading Emerson – and reading it for the first time very not for the first time but reading it at this point very differently meaning to me in terms of understanding the over-soul and understanding äh it it really resonated to me. For the first time I had a sense of yes, this is what I really believe.«
Obwohl diese religiöse Erfahrung einen Wendepunkt in N.s Leben darstellt, lässt sich nicht von einer eigentlichen Konversionserfahrung sprechen.30 Gemäss ihren eigenen Äusserungen wird sie nicht 29 | Ralph Waldo Emerson, 1993 (1841/1844), The Over-Soul, in: Ralph
Waldo Emerson, Essays. First and Second Series, New York, Avenel. 30 | Inwiefern sich an diesem Beispiel nicht doch Ansätze einer Konver-
sionserfahrung im Sinne der von Bernd Ulmer herausgearbeiteten Gattungsmerkmale identifizieren lassen, muss hier offen bleiben. Auf den ersten
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auf eine neue Glaubenswahrheit gestossen, sondern es wird gleichsam von aussen her Licht geworfen auf das, was sie wirklich glaubt – und damit implizit: immer schon geglaubt hat. Die Wahrheit war immer schon in ihr, aber sie hat dort bislang geschlummert, bis sie schliesslich in der Idee der ›over-soul‹ kommunikablen Ausdruck findet und in der Folge als Kernelement individueller Identitätskonstruktion freigesetzt wird. Die Lektüre funktioniert hier – in der Terminologie von Alois Hahn – als Biographiegenerator.31 Dieses Collegeerlebnis bildete den Anfangspunkt einer ›journey‹, die N. schliesslich – wie sie feststellt – zu den Unitariern gebracht hat. Bevor es soweit ist, und sie im Alter von etwa fünfundvierzig Jahren als Mitglied der unitarischen Kirche beitritt, haben sich eine Reihe von Ereignissen in ihrem Leben zugetragen, die sie rückblickend als Teil ihrer persönlichen ›journey‹ versteht. Eine Scheidung, dann eine neue Ehe, ein unabgeschlossenes MBA-Studium und die Übernahme eines Bürgermeisteramtes in einer Kleinstadt in Massachusetts gehören ebenso dazu wie eine Pilotenlizenz für Kleinflugzeuge. Dabei hat sie viele alte, auf die Zeit vor ihrem Emerson-Erlebnis zurückgehende Orientierungen, zu denen auch eine streng katholische Erziehung gehört – »a life of giving up and sacrifice« –, hinter sich gelassen: »And ähm I got rid of that all. I started to get rid of a lot of baggage.«
Gleichzeitig bleibt jedoch noch viel zu tun übrig: »I have a lot of personal work to do.«
Solche Formulierungen kontrastieren mit der Bemerkung N.s, dass die ›journey‹ für sie nun, da sie ihr Zuhause innerhalb der unitarischen Kirche gefunden hat, vorbei ist. Damit wäre gleichsam der Blick fehlen jedoch vor allem die Indikatoren der biographischen Krise als Auslöser der Konversionserfahrung und der Gegensatz von Ausseralltäglichkeit einerseits sowie Innerlichkeit des Erlebnisses andererseits. Das für religiöse Konversionserfahrungen typische Problem der kommunikativen Vermittelbarkeit des im Inneren Erfahrenen und damit Unzugänglichen und Nichtdarstellbaren scheint im Fall dieser Unitarierin ebenfalls nicht zu bestehen. Vgl. Bernd Ulmer, 1988, Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, Heft 1, 19-33. 31 | Hahn (1987), 12.
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154 | »New World Horizon« Endpunkt des Prozesses, der mit dem Emerson-Erlebnis drei Jahrzehnte früher begonnen hat, erreicht: »I’m in – the right place – with the right people. The right message. That is making me feel very good.«
Jede Bewegung scheint zum Stillstand zu kommen. Mit der Ankunft am richtigen Ort besteht kein Bedarf mehr für Veränderung. Das Erreichen dieses Punktes ist jedoch nicht gleichbedeutend mit biographischem Stillstand. N. hat sich nicht in einer Sackgasse festgefahren, sondern ist Teil der »ewigen Bewegung« des Universums geworden: »That life does not end. It continues.«
Unterscheidungen wie jene von Himmel und Hölle oder vom Diesseits, das durch die Zäsur des körperlichen Todes vom Jenseits abgetrennt ist, machen in N.s Fall keinen Sinn. In der ›over-soul‹, die in eins fällt mit dem Begriff des Universums, verbindet sich das physische Dasein mit dem Leben der Seele, die – gleichsam als stärkeres Prinzip – jenem übergeordnet ist. Der Körper stirbt, aber die Seele wird wiedergeboren. Einheit und Identität des Individuums spielen keine Rolle. Die Seele kann sich in verschiedenen Formen verkörpern. Letztlich ist alles Teil einer »grösseren« Seele, der ›over-soul‹, aus der alles kommt und in die alles zurückkehrt: N: »But who we are in our soul and in the matter that we become after is – reborn« I: »Mhm.« N: »in another time and place.« I: »Here, I mean in another kind of« N: »But not in the sense of like a rein reincarnation of me as me« I: »Mhm. Someone« N: »but – yeah, someone else.« I: »So you do not ähm connect that to any religious like traditional religious thought?« N: »No I don’t I don’t ähm connect it to any traditional religious thought. It’s it’s part of being part of returning your soul to a much greater soul« I: »Mhm. Mhm.« N: »an over – äh and and that being part of an an eternal soul.«
N. fühlt, dass sie im Universum eine besondere Rolle spielt. Sie
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scheint ein besonderes, »auserwähltes« Individuum zu sein. Hier kommt im Gegensatz zum allgemeinen Konzept einer alle Unterscheidungen absorbierenden ›over-soul‹ ein scheinbar starker Individualitätsbegriff ins Spiel. Ihre Auserwähltheit wird ihr klar, als sie sich die Tarot-Karten legen lässt. Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits Unitarierin. Die Karten zeigen, dass N. über hellseherische und telepathische Fähigkeiten verfügt. Dinge, die sie träumt, werden manchmal wahr. Sie rechnet dies dem Bereich religiöser Erfahrung zu: »So that’s another part of my my religious experience.«
Doch damit nicht genug. Zur eigentlichen »Erleuchtung« und damit zur Berührung mit dem Numinosen kommt es, als die Karten das Aussergewöhnliche enthüllen: »and ähm she ähm shuffled the cards and she had me select äh six cards. – – And she said – oh my what what what what [lacht] she said – you are absolutely surrounded by love. Every card you’ve chosen has you surrounded by love. – [This] she said – you are ähm – let me do this again. So she – she shuffled and she did them again. And again they came out – just absolutely surrounded by love and she said to me you are a very old soul. – You’ve been here many times and you have a level of wisdom that brings you a lot of love.«
N. hat gemäss den Tarot-Karten einen Zustand absoluter Identität mit sich selbst erreicht. Die Kartenleserin erklärt ihr: »you are who you are«. Dem kann N. nur zustimmen: »And I thought wow, you know, ähm – I am surrounded by love. I am surrounded. I have a very good life. I am very fulfilled in many ways.«
Durch dieses Erfülltsein und Insichruhen ist N. für eine besondere Prophetenrolle ausgezeichnet. Sie verfügt über die Fähigkeit, über die gegebene Wirklichkeit hinauszusehen. Mit ihren telepathischen und hellseherischen Fähigkeiten kann sie die anderen, die nicht über diese Gabe verfügen, führen. In dieser Prophetenrolle verbindet sich ihr Leben mit demjenigen der anderen, die noch nicht ans »Ende« ihrer ›journey‹ gelangt sind und die deswegen noch nicht diesen Grad an Erleuchtung erreicht haben. Die Kurve von N.s Biographie zeigt eine besondere Struktur. Sie hat zwei Einschnitte. Die erste Zäsur ist die Erfahrung der Emerson-Lektüre im College. Sie bedeutet das Ende eines Irrweges, indem
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156 | »New World Horizon« sie einen Schlussstrich unter ihre katholische Erziehung zieht. Der Beginn einer neuen Phase – der eigentliche Beginn ihrer ›journey‹ – setzt dadurch ein. Die nächsten mehr als zwei Jahrzehnte sind eine Zeit der Bewegung hin zu einem Zustand der »Erlösung«, der schliesslich bei den Unitariern erreicht wird: nun empfindet sie »wirklichen Frieden« (»being at real peace«). Die ›journey‹ kommt hiermit zu ihrem Ende: »I’m not on a journey now.« Das »now« deutet an, dass ein neuerlicher Aufbruch nicht ausgeschlossen werden kann. Ein Neuanfang ist immer möglich. Frances FitzGerald sieht gerade darin – im immer möglichen »to start over again« – ein typisch amerikanisches Deutungsmuster.32 Während der Unitarier R. bei aller Überzeugtheit von der Existenz einer höheren, in der Welt und in den zwischenmenschlichen Beziehungen sich wirksam entfaltenden Kraft diese noch nicht wirklich gefunden hat und um deutlichere Anzeichen des ›spirit‹ ringt, ist N. mit der ›over-soul‹ so eng verbunden, dass der aussergewöhnlich direkte Zugang zur Wahrheit, der ihr durch ihre besonderen telepathischen Fähigkeiten gegeben ist, sie dazu verpflichtet, andere auf deren eigener ›journey‹ zu unterstützen. Insofern ist ihre eigene ›journey‹ auch noch keineswegs zu Ende. Das Ende ist selbst im Zentrum der Wahrheit der ›over-soul‹ – und vielleicht gerade in diesem Zentrum – zugleich ein Neuanfang. Sowohl für R. wie auch für N. ist jedoch klar, dass jede »Selbstverwirklichung« am Ende nur im Rahmen der Gemeinschaft möglich ist. Bei aller Besonderheit und bei allem Ausgezeichnetsein braucht N. die anderen genauso wie die anderen sie brauchen. Dies wird besonders deutlich in Krisensituationen. Als ihr Ehemann lebensgefährlich erkrankt, sind es vor allem die Gedanken und Gebete der anderen Kirchenmitglieder und nicht nur die eigenen, die sie vor Verzweiflung schützen: »Ähm when Jack was very ill – ähm eight years ago, he almost died. So a three week period of just living on tenderhooks to name it and that’s extraordinarily stressful, thinking about losing him, what could I do? And what I got and again that was another profound experience, was to draw upon – thoughts, the good thoughts people call them prayer or whatever, from other people as well as now – to send those to him. So I get this sense that I am sent energy, sent strength as well as […] and that’s what I mean by part of something, part of this over-soul.«
32 | Frances FitzGerald, 1986, Cities on a Hill. A Journey through Con-
temporary American Cultures, New York, 387.
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In der Vorstellung der ›journey‹ als Lebensreise drückt sich ein Ideal biographischen Fortschreitens in der Zeit aus. Der Einzelne bewegt sich auf einen Horizont zu, der mit ihm wandert und so immer in Sichtweite bleibt. Im Gegensatz zur europäischen Entwicklung bleibt die Zukunft im amerikanischen Konzept der ›journey‹ die leitende Zeitdimension, die die Gegenwart in einer ungebrochenen Bewegung mit sich fortzieht.33 Es wird in den Interviews immer wieder klar, dass eine solche ›journey‹ einen ausgeprägt individuellen Charakter hat und etwas sehr Persönliches ist. Schon allein die konkrete Abfolge der Ereignisse eines Lebenslaufs ist einzigartig und kommt gerade so nur einmal vor. Mit der Biographie beziehungsweise mit den kommunikativen Möglichkeiten, einen Lebenslauf überhaupt zum Thema und damit zur Biographie zu machen, verhält es sich anders. Hier kommen kulturelle Deutungsmuster zum Tragen, deren Herkunft in der Regel schwieriger zu eruieren als deren Erscheinungsform zu beschreiben ist. Trotzdem also ein je individuelles Leben in seiner fast schon grenzenlosen Komplexität Gegenstand der ›journey‹ ist und die Interviewten sich ihrer selbst und ihrer individuellen Besonderheit bewusst sind, zeigt die Erscheinungsform von Individualität kaum je die Züge eines »selbstgenügsamen«, autonomen Subjekts. Wie sehr auch immer das eigene Ich zum Thema gemacht wird, immer erscheint es in Verbindung mit einem »höheren Prinzip«, das nicht nur für den Einzelnen, sondern für die Gemeinschaft als Ganzes grundlegend ist. Was so nicht entsteht, ist ein Gegensatz zwischen Subjekt und Welt oder Gesellschaft, der gemeinhin für den modernen ›europäischen‹ Individualismus als typisch angesehen wird. Die Frage bleibt, in welchem Verhältnis das Individuum zum »höheren Prinzip« oder zum »spirit« oder zu »Gott« steht. Die Vorstellung, dass die Individuen selbst letztlich die Antriebskraft der Geschichte sind, scheint ebensowenig zuzutreffen wie die gegenteilige Idee, dass ein wie auch immer beschaffener, unabhängiger »Weltgeist« eigenständig und gewissermassen »von aussen« Geschichte macht und sich der Individuen für seine Zwecke nur bedient. Die Einzelnen sind weder blosse Instrumente einer in der Geschichte wirkenden Kraft, noch ist die Geschichte ohne jede Verbindung zu einem übergeordneten Prinzip allein »Sache der Individuen«. Während die europäische Diskussion zum modernen Individualismus davon ausgeht, dass der Einzelne sich zunehmend als in Gegensatz zur Gesellschaft stehend wahrnimmt – er fällt gleichsam aus der Gesellschaft heraus – und entsprechend eine Identität »ausser33 | Siehe unten, Kap. 4.3.
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158 | »New World Horizon« halb« des Sozialen zu finden sucht, erscheint das Individuum im amerikanischen Fall als konstituierender Bestandteil von Gesellschaft und Geschichte und damit auch von dem in Geschichte und Gesellschaft sich ausdrückenden Transzendenten. An der Stelle des für die europäische Moderne typischen Dualismus von Individuum und Gesellschaft findet sich im amerikanischen Fall ein gegenseitiges Verweisungsverhältnis der beiden Pole, welches der Polarität selbst die Schärfe nimmt. In einem solchen Verständnis ist das Individuum nicht sein eigener Ordnungszusammenhang. Vielmehr findet es zu einem Selbstbild nur vor dem Hintergrund einer über es hinausgehenden Ordnung, die es mit umgreift. Die Reflexion des Subjekts über sich ist damit immer auch eine Reflexion der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, an der sich der Einzelne in seinen an sich selbst und an die anderen gerichteten Ansprüchen und Erwartungen orientiert. Es besteht immer die Gefahr, dass dieser Ordnungszusammenhang durch die Handlungen des Einzelnen verletzt wird. In der amerikanischen Kultur finden sich entsprechend bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreichende symbolische Konzepte, die dem Individuum wie auch der sozialen Gruppe erlauben, die Verletzung der gesellschaftlichen Ordnung kommunikativ zu thematisieren. Berühmtestes Beispiel sind die so genannten Jeremiaden der Geistlichen an der Wende zum 18. Jahrhundert.34 In einer jüngeren Variante findet dieses die Jahrhunderte überdauernde Genre etwa in der Gesellschaftskritik von Robert Bellah und anderen seinen Ausdruck, welche ihrerseits eine Rückbesinnung auf die in der Religion wurzelnden moralischen Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft fordern.35
Entfremdung Auch im Interviewmaterial, das dieser Untersuchung zugrunde liegt, ist immer wieder von Verfehlung und Entfremdung die Rede. Damit ist immer auch impliziert, dass es ein »Richtiges« gibt, von dem abgewichen werden kann, und die ›journey‹ der Einzelnen wird immer auch unter diesem Aspekt reflektiert. Dies ist insofern von Interesse, weil sich hier möglicherweise eine religiöse Ressource – die Frage nach der Schuld des Gläubigen oder allgemeiner des Individuums – 34 | Siehe Sacvan Bercovitch, 1978, The American Jeremiad, Madison,
Wisconsin. 35 | Robert N. Bellah, 1975, The Broken Covenant. American Civil Reli-
gion in Time of Trial, New York.
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bis in die Gegenwart hinein vermittelt, und sie tut dies, wie das bis heute wirksame Genre der Jeremiaden zeigt, historisch kontinuierlich. Am Beispiel des Unitariers und Professors für amerikanische Literatur J.B., der im Interview seine persönliche spirituelle Suche im breiteren, von der persönlichen Erfahrung abstrahierenden Kontext theologisch-philosophischer Fragen erörtert, lässt sich dieser für das Individualitäts- ebenso wie für das Transzendenzverständnis wichtige Aspekt näher erläutern. Dazu zuerst ein längerer Ausschnitt aus dem Interview: I:
»So the divinity of Jesus was never an issue for you?«
JB: »That wa no that’s not an issue for me äh äh but I think I understand the point of the divinity of Jesus to be something like this.« I:
»Mhm.«
JB: »Ähm – the key Christian idea for me is the idea of the atonement.« I:
»Mhm.«
JB: »Äh which is the idea that somehow for reasons we don’t fully understand – we are naturally often rather alienated from God, and in a state of – a state of bad faith with regard to God that is somehow tied to our having an identity.« I:
»Mhm.«
JB: [lacht] »Ähm that’s what the old concept of original sin means to me. It’s that somehow when you have come to consciousness you’ve al you’ve already come to a consciousness that is somehow fallen – äh somehow alienated from the meaning of things.« I:
»Ya.«
JB: »Äh äh somehow lost in a world in which you were sor sort of thrown out.« [lacht] I:
»So original sin does make sense to you?«
JB: »In that way it does. Äh äh I don’t believe in the Calvinist concept of the innate depravity.« I:
»Ya.«
JB: »But I do believe that somehow or other one of the prices of identity is – – a not necessarily permanent äh alienation from the meaning of things. Ähm, I also think, and this is also strikes me as a as a sum of Christian content, that alone by ourselves by will power we’re not really capable of mending that breach.« I:
»Mhm.«
JB: »– Because so many features, so many parts of our personalities get into the way. – Like pride. – Like shame. – Like self-deceit. – Äähm äh äh like – – äh an inability to face our own weaknesses, that kind of thing.« I:
»Mhm.«
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160 | »New World Horizon« JB: »So – äh so I would say that this means that I believe in the the other the other ce central or one central Christian content is fallenness I I’d say I believe in that.« I:
»Mhm.«
JB: »Äh I also believe in atonement which is to say or grace I guess would be the word, which is to say that whatever it is that puts us back in touch with – – the source of meaning and being – puts us back in touch with God I’d say – äh has to be something that is not entirely up to us but doesn’t happen without us either. And that’s got to be the experience of grace.« I:
»Ya.«
JB: »Äh it’s just something beyond your will although it requires your will.«
J.B. befindet sich als Unitarier in einem Dilemma. Er übernimmt wesentliche Konzepte des Christentums, aber er muss dem unitarischen Religionsverständnis entsprechend die Gottnatur Christi zurückweisen. Obwohl er nicht an die Göttlichkeit Jesu glaubt, identifiziert er sich mit der christlichen Kernidee des Sühneopfers. J.B. versteht sich ausdrücklich – wie er an anderer Stelle im Interview deutlich macht – als christlicher Unitarier. Da die Divinität Christi entscheidend ist für einen Christen, wenn es um die Idee des Sühneopfers geht, tut sich hier ein theologischer Widerspruch auf, denn wie sollte die Vorstellung des von Jesus vollbrachten Sühneopfers überhaupt als möglich gedacht werden, wenn dieser nicht gerade durch seinen Doppelcharakter als Mensch und Gott zu dieser die Kluft zwischen Gott und Mensch überwindenden und den Menschen erlösenden Rolle in der Lage wäre? Doch J.B. präzisiert und kommt zu folgendem Schluss: Die Vermittlung Jesu ist nicht nötig. Es kommt vielmehr auf die Idee an. Sie steht für die Entfremdung der Menschen von Gott, die entsprechend der Vorstellung der Ursünde für das Menschsein und damit auch für die Identität des Menschen konstitutiv ist. Identität ist damit im Kern etwas Negatives. Sie ist Ausdruck des menschlichen Falles und der Entfremdung von Gott. J.B. bewegt sich auf der Linie der christlichen Lehre, nur dass er als Unitarier eben nicht an die Trinität glaubt. Da nun aber Jesus der Charakter der Divinität abgeht und er damit in seiner Rolle als Mittler zum Reich des Transzendenten ausfällt, stellt sich sofort die Frage, wie das Sühneopfer hier eigentlich funktioniert und wie auf den Bruch zwischen göttlicher Transzendenz einerseits sowie menschlicher Identität andererseits reagiert wird. In Anlehnung an die traditionelle protestantische Position glaubt J.B. an die Wirkung göttlicher Gnade. Die Gnade ist wirksam in der
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Welt, indem sie den Bruch zwischen Mensch und Gott beziehungsweise zwischen den Menschen und der – wie J.B. formuliert – »Quelle von Sinn und Sein« überwindet. J.B. stellt die Existenz eines Bereichs des Transzendenten – im Sinne der ›grossen‹ Transzendenz – nicht in Frage. Die Welt erschöpft sich nicht in ihrer blossen Gegebenheit: »… inescapably we’re bound to this thing that is bigger than we are, that we won’t get to the bottom of, that we never fully understand.«
Doch wie lässt sich die Verbindung zwischen Transzendenz und Immanenz denken? J.B. distanziert sich von der calvinistischen Vorstellung der Gefallenheit des Menschen und damit auch von der Idee von nur wenigen Auserwählten. Für ihn ist die Entfremdung des Menschen vom Sinn der Dinge – der Preis der Identität – nicht notwendigerweise von Dauer. Da menschliche Identität jedoch an Entfremdung gebunden zu sein scheint, müsste sie sich zugleich mit der Überwindung der Entfremdung auflösen. Hier klingen wiederum Elemente eines gnostischen Transzendenzverständnisses an. Menschliche Identität löst sich auf, wenn der Einzelne zu Gott zurückkehrt: »whatever it is that puts us back in touch with – – the source of meaning and being – puts us back in touch with God I’d say«. Darüber hinaus spricht J.B. – auch darin eine gnostische Vorstellung evozierend – vom Geworfensein des Menschen in die Welt: »somehow lost in a world in which you were sort of thrown out«36. Zum eigentlichen Bruch und zur ersten und entscheidenden Entfremdung zwischen Mensch und Gott kommt es im gnostischen Verständnis bereits mit der Erschaffung der Welt und dem Geworfensein des Menschen in diese Welt.37 Der Überwindung der daher 36 | Auffallend ist die Formulierung »thrown out«, nicht etwa »thrown
into«. Die Welt, in die man »hinausgeworfen« wird, erscheint in einer solchen Formulierung als das Fremde. Insofern handelt es sich hier – so kann man argumentieren – tatsächlich um eine gnostische Formulierung. Allerdings findet bei J.B. die Versöhnung von Mensch und Gott in ebendieser Welt statt. Die Orientierung ist also weltzugewandt, nicht weltverneinend. 37 | Vgl. Harold Bloom: »›Thrown‹ is the most important verb in the
Gnostic vocabulary, for it describes, now as well as two thousand years ago, our condition: we have been thrown into this world, this emptiness. Cast out, at once from God and from our true selves, or sparks, we live and die our sense of having been thrown, daily. Let us grant that there is an exhilarating dynamism in our condition, but this does not prevail, and it is not the norm
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162 | »New World Horizon« rührenden Entfremdung zwischen Mensch und Gott gilt seither das Streben des Gnostikers. Für J.B. ist hierzu ein Zutun des Individuums unerlässlich – entgegen des calvinistischen Verständnisses von Gnade, welches den Einfluss des Menschen zur Errettung seiner Seele ausschliesst. Der Mensch J.B.s – voller Schwächen wie er ist: stolz, schändlich, sich selbst täuschend – kann sein Seelenheil nicht aus eigener Kraft erringen. Aber er ist auch nicht einfach von Gott abhängig und dessen unerfindlichen Ratschlüssen machtlos ausgeliefert. Es scheint fast, dass Gott hier etwas von seiner Allmacht einbüsst, indem er seinerseits sein Heilswerk ohne den Menschen nicht zu vollbringen im Stande ist: »but [it] doesn’t happen without us either«. Der Mensch findet zu sich durch Entfremdung – er »gewinnt« Identität als Mensch – und wird dann wiederum durch die Gnade Gottes erlöst. Gott selbst ist dabei jedoch auffallend inaktiv. Er tritt kaum als eigenständig Handelnder auf den Plan. Ähnlich dem deistisch-aufklärerischen Gottesverständnis ist Gott zwar derjenige, der die Ordnung hervorgebracht hat, sich danach aber jeder weiteren Beeinflussung enthält: »… I don’t imagine God as a puller of strings, as an arranger of causes and effects – äh äh who äh äh occasionally you know does a favor for his friends, who does a bad thing to his enemies.«
Die Aufrechterhaltung der göttlich gegebenen Ordnung ist vielmehr in die Hände der Menschen selbst gelegt. Deutlich wird dies, wenn man sich vergegenwärtigt, wie J.B. die Beziehung des Menschen zum Göttlichen und damit die Möglichkeit der Überwindung der Entfremdung des Menschen von Gott in den Begriffen der Moral reformuliert: JB: »Ähm but we’re standing in some kind of relationship to, some kind of personal relationship. One of the reasons that we imagine God as a person, is that our relationship to this ground being is not a relationship to an abstraction or to an idea. It’s it’s a relationship that requires personal virtues like love, loyalty, that kind of thing.« I:
»Mhm.«
JB: »Ähm äh that’s why I still imagine God in personal language although I know that that language is sort of inappropriate.« of our existence. Trauma is far closer to our days and nights: fears of lovelessness, deprivation, madness, and the anticipation of our deaths.« Bloom (1996), 242.
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4. Das transzendente Fundament amerikanischer Individualität | 163 I:
»Mhm. This is maybe all we we have. Especially since we’re coming out of a Judeo-Christian culture.«
JB: »Well also it means that our relationship with God is a relationship that has – a moral tinge. Äh our relations with ideas don’t have the same don’t don’t involve us morally in a way that our relationships with people do.« I:
»Mhm.«
JB: »Äh we don’t have loyalty to ideas. We have we believe or don’t believe ideas.« I:
»Ya.«
JB: »We have loyalty to persons.« I:
»Mhm.«
JB: »We have love of persons.« I:
»Mhm.«
JB: »Äh äh äh ääh we have a desire of an intimacy with persons. Non of those things quite apply to abstractions.« I:
»Ya.«
JB: »And whatever our relationship with God is, it requires those kinds of things.« I:
»Mhm.«
JB: »Ähm äh even though I know as I said God’s not this elderly bearded guy with a hot temper.« [lacht]
Die Beziehung zu Gott ist hier analog der Beziehung von Mensch zu Mensch gedacht. Das Mysterium des Göttlichen ist verschwunden – obwohl J.B. an anderer Stelle davon ausgeht, dass Gott ein »höheres Ding« ist, das sich menschlichem Verständnis nie ganz erschliesst. Die Eigenschaften der Mensch-Gott-Beziehung sind ganz dem zwischenmenschlichen Bereich entnommen. Es sind persönliche Tugenden wie Liebe und Loyalität, die in der Beziehung der Menschen zu Gott gefordert sind. Dabei scheint doch im Hintergrund ein leichtes Unbehagen über den Konstruktcharakter Gottes mitzuschwingen, welcher sich den Regeln und Inhalten einer am Persönlichen orientierten, menschlichen und damit diesseitigen Sprache beugen muss und so Gefahr läuft, seinen Transzendenzbezug zu verlieren: »I still imagine God in personal language although I know that that language is sort of inappropriate.« Doch viel wesentlicher und unbeeinträchtigt von der durch die Grenzen der Sprache bedingten Limitiertheit der menschlichen Wahrnehmung Gottes ist für J.B. die moralische Seite der Mensch-Gott-Beziehung. Die Beziehung ist mehr als ein sprachliches Konstrukt, auch wenn sie sich gezwungenermassen den Restriktionen menschlichen Ausdrucks unterwerfen muss.
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164 | »New World Horizon« Die Sprache vermag nicht hindurchzureichen zur tiefer liegenden Ebene der Wirklichkeit dieser Beziehung. Gott ist nicht bloss eine »Idee«, sondern ein Interaktionspartner des Menschen. Entsprechend gelten die gleichen moralischen Verhaltensregeln: »Äh our relations with ideas don’t have the same don’t don’t involve us morally in a way that our relationships with people do.« Während man lieben kann, ohne wiedergeliebt zu werden, und entsprechend eine auf einseitigem Engagement ruhende Beziehung im Fall der Liebe denkbar ist, impliziert die Idee der Loyalität gegenseitige Abhängigkeit. Eine loyale Haltung meint immer auch, dass der Adressat der Loyalität auf Loyalität angewiesen ist: nicht umsonst wird Loyalität »gefordert« und »gezeigt« und nicht einfach nur »genommen« und »gegeben«. Eine auf Loyalität beruhende Beziehung ist immer mehr oder weniger latent oder offen von Verrat bedroht, und der Entzug der Loyalität bringt dem Loyalitätfordernden Schaden. Warum sollte er sie sonst fordern? Einem ins Transzendente entrückten Gott erweist man demgegenüber eher Ehrerbietung. Auch die im Interview angesprochene Intimität ist nur als Gegenseitigkeit möglich, da sie gegenseitiges Vertrauen und Vertrautsein voraussetzt. Bei einer derart auf Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung wie sie von J.B. dargestellt wird, kann es auch nicht mehr um eine fundamentale Schuld des Menschen gehen, von welcher dieser durch die Gnade Gottes erlöst werden müsste. Die Verbindung zwischen Immanenz und Transzendenz ist vielmehr nur vorübergehend unterbrochen, und die Ursache dafür ist am Ende modern: Wenn der Mensch zu Bewusstsein kommt, wenn er »wissend« wird, tritt er in Distanz zur Welt und verliert den unmittelbaren letzten überweltlichen Sinnbezug seines Daseins. Hier klingt die moderne Reflexionskrise von Wissen und Bewusstsein an. Bewusstwerdung und Erkenntnis seiner selbst führen den Menschen zu einer eigenen Identität und damit weg von Gott und weg vom Sinn der Dinge und des Daseins. Der Mensch wird gerade dadurch zum Menschen, dass er nicht Gott ist, während er in der mystischen und in der gnostischen und kabbalistischen Tradition gerade umgekehrt in der ersehnten Vereinigung mit Gott zu sich selbst kommt. Damit stellt sich für J.B. das Problem der Entfremdung als ein modernes Problem, was auch seinem unitarischen Selbstverständnis entspricht, welches Wissen und Bildung und damit einhergehend Intellektualität einen hohen Stellenwert zumisst. Seine »Lösung« erfährt dieses Problem jedoch religiös. Die semantische Verwurzelung im Christentum und damit die religiöse Ressource lassen sich nach wie vor deutlich erkennen. Das Ziel der spirituellen Suche und damit der ›journey‹ rich-
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tet sich auf das Bemühen, den Zustand der Entfremdung zum ›Heiligen‹ zu überwinden. Die Suche gilt der Perfektion der Beziehung zum ›Heiligen‹, wobei die Leitlinien dazu durch eine innerweltliche moralische Ordnung, der letztlich die Schuldigkeit des Einzelnen gilt, gegeben sind. Auch in diesem Interview zeigt sich das enge Aufeinander-Verweisen der Sphären des Transzendenten und des Immanenten. Das Problem des Fremdseins des Menschen in der Welt und vor Gott, das hier im Rahmen der individuellen ›journey‹ angesprochen wird, ist alt und übergreift verschiedenste Glaubenstraditionen. Die Ursünde in Christentum und Judentum besteht bekanntlich für den Menschen im Elend, als Folge des biblischen Sündenfalls durch Schuld verworfen und aus der Gemeinschaft mit Gott ausgestossen zu sein – ein Zustand, der sich erst im Jenseits beziehungsweise im Opfertod und Wiedererscheinen von Christus und im erwarteten Auftreten des Messias überwinden lässt. Während sich für das Christentum historisch schliesslich mit der Reformation die religiöse Aufmerksamkeit zuungunsten der Kirche in ihrer Rolle als Mittlerinstitution zwischen Mensch und Gott stärker aufs Individuum richtet, bleibt die Erlösung des Individuums durch Gott nach wie vor das Ziel. Die Ordnungshierarchie von Transzendenz und Immanenz bleibt vorerst unangetastet. Eine für den europäischen Kulturraum jedoch wesentliche Verschiebung im Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in Richtung Letzterer und damit die Herausbildung eines am Diesseits orientierten, modernen Individualismus, der sich unter Ablösung des transzendenten Hintergrundes entwickelt, lässt sich – wie oben bereits ausgeführt38 – auf das achtzehnte Jahrhundert datieren – für Deutschland genauer auf die Phase des Sturm und Drang.39 Es kommt in dieser Zeit zu einer Umdeutung der religiösen Schemata hin zum modernen Individualitätskonzept, wie Marianne und Herbert Willems am Beispiel von Goethes Brief des Pastors demonstrieren.40 Obwohl es nach wie vor in dieser Schrift Goethes um die Erlösung des Menschen aus dem Elend seines Daseins geht, werden 38 | Siehe oben, Kap. 2. 39 | Vgl. Willems (1999). 40 | Marianne Willems, Herbert Willems, 1999, Religion und Identität.
Zum Wandel semantischer Strukturen der Selbstthematisierung im Modernisierungsprozess, in: Anne Honer, Ronald Kurt, Jo Reichertz, Hg., Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz, 327ff.
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166 | »New World Horizon« Schuld und Sünde nicht mehr thematisiert. Anstelle des Kreuzestodes und der Divinität von Jesus tritt der Opfertod, in dem sich die göttliche Liebe offenbart, und die Menschwerdung Gottes in Christus. Christus ist dabei jedoch nur eine individuelle Erscheinungsweise des Göttlichen – weitere sind denkbar. Der Gottessohn verfügt nicht über ein Mittlermonopol zwischen Mensch und Gott. Die Vereinigung zielt nicht mehr auf Christus, sondern auf die göttliche Liebe und auf den ›Geist des Ganzen‹.41 Neu ist vor allem, dass nun die Göttlichkeit in jedem Einzelnen angelegt ist: Jeder Einzelne kann durch sich selbst mit dem Göttlichen in Übereinstimmung kommen. Das Individuum wird demzufolge wesentlich für die Erlösung, und die Idee der Selbstaufgabe, wie sie etwa Bestandteil der christlichen Mystik ist, verliert an Überzeugungskraft. Dies findet wiederum Ausdruck in einer neuartigen Betonung der individuellen Natur des Menschen sowie von dessen Sinnlichkeit und Körperlichkeit. Die Heilsfähigkeit jedes einzelnen Individuums begründet seinen Einzigartigkeitsanspruch und legt das Fundament für die für die europäische Variante der Moderne charakteristische Autonomisierung und ›Vergöttlichung‹ des Subjekts.42 Die Definition individueller Identität findet dabei zunehmend vor dem Hintergrund einer Polarität statt, bei welcher der dem Individuum entgegengesetzte Pol von der Gesellschaft beziehungsweise vom Sozialen gebildet wird: »Ist das Individuum als einzigartige Repräsentation des allgemeinen Göttlichen bestimmt, dann setzt die Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr ein Überschreiten der Individualität voraus. Im Gegenteil! Alles ›Überindividuelle‹ und ›Transsubjektive‹ gilt dann per se als kontingent und wahrheitsfern. Das individuelle Gefühl wird zum einzigen Wahrheitsgaranten.«43 Unter diesen Vorzeichen wird die Gesellschaft zur »Hauptschuldigen« individueller Selbstentfremdung und damit zu einer Gefahrenquelle für die Integrität individueller Identität. Innerhalb der Gesellschaft kann sich das Individuum schlechterdings nicht mehr angemessen ausdrücken. Kein Weg führt vom Reich des Innern in die Aussenwelt oder in die Gesellschaft zurück. Damit stellt sich ein der Mystik vergleichbarer Effekt der Weltablehnung ein, der allerdings in völlig unterschiedlichen weltanschaulichen Grundlagen wurzelt. Die Folgen einer zur Göttlichkeit gesteigerten Individualität, wie sie sich in den modernen europäischen Gesellschaften herausbildet, 41 | Willems/Willems (1999), 332. 42 | Vgl. Soeffner (1992). 43 | Willems/Willems (1999), 339.
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hat einschneidende Konsequenzen für das Moralverständnis. Fragen der Moral und des moralischen Verhaltens sind ihrem Wesen nach an einen sozialen Kontext gebunden. Sie konstituieren sich vor dem Hintergrund einer Spannung zwischen Gemeinschaft und Einzelsubjekt. Die Entwicklung des philosophischen Denkens im Europa der Frühmoderne zeigt eindrücklich, wie im Zuge der Auflösung des religiösen Weltbildes und eines sich um den Menschen als neues Zentrum der Welt drehenden Diskurses das Problem der Moral und ihrer Begründung grosse Bedeutung erhält. Während anfangs diese Frage ihre Antwort vor dem Hintergrund eines für das Individuum gegebenen Bezugs zum Sozialen findet, brechen im weiteren historischen Verlauf die beiden Sphären des Gesellschaftlichen und des Privaten auseinander. Die zunehmende Betonung der Emotionalität des einzelnen Menschen und die Herausbildung der Privatsphäre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lenken den Blick immer mehr nach innen.44 Für Deutschland lässt sich während der Epoche der Empfindsamkeit ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft erkennen, indem der Einzelne nun seinen Platz konsequent ausserhalb der Gesellschaft in der Privatsphäre findet.45 Die Differenz von privater und gesellschaftlicher Sphäre wird selbstverständlich, wenn auch der Gegensatz zwischen Einzelnem und Gesellschaft vor der Zeit des Sturm und Drang nicht für unüberbrückbar gehalten wird. Der Massstab einer angestrebten Verbesserung der Gesellschaft rückt immer mehr ins Individuum ein. Die Interaktion der Individuen gründet in der Gleichheit der Beteiligten, die nun nicht mehr ihren sozialen Stand und ihre durch die Gesellschaft zugeschriebenen Eigenschaften, sondern ihre ›blosse Menschlichkeit‹, die im Gefühl verankert ist, einbringen. Wir haben es mit einer neuartigen Moral, einer emotionalisierten Moral, zu tun, die auf wechselseitige Glücksbeförderung zielt und im Beziehungsmodell der Freundschaft ihren Ausdruck findet.46 Immer mehr rückt die Perfektion des Selbst in den Mittelpunkt subjektiven Bemühens, die Gesellschaft als Ganzes bleibt jedoch in der privaten Interaktion präsent: »Die Verknüpfung von Identitäts- und Gemeinschaftskonstitution, von Selbstvervollkommnung und sozialem Nutzen, die für die private Interaktion konstitutiv sein soll, wird einfach auf die ›grosse Gesell44 | Vgl. auch Jürgen Habermas, 1990, Strukturwandel der Öffentlich-
keit. Untersuchungen zur einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main, 86ff. 45 | Willems (1999), 115. 46 | Willems (1999), 113ff.
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168 | »New World Horizon« schaft‹ übertragen, indem die Orientierung an dem Glück der unmittelbaren Interaktionspartner ersetzt beziehungsweise ergänzt wird durch die Orientierung an der ›allgemeinen Wohlfahrt‹.«47 Dies ändert sich im Sturm und Drang. Nun stellt sich das Individuum zunehmend gegen die Gesellschaft. An neuen Identitätskonzepten, vor allem am Geniebegriff, der das Subjekt als weltkonstituierend, das heisst wie den die Welt hervorbringenden Gott fasst, wird dies deutlich. Im Sturm und Drang beginnt sich die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Subjekts zu entwickeln. Nicht mehr die allen Menschen gemeinsame durch Gefühl und Natur konstituierte Menschlichkeit, sondern das unverwechselbare und selbstbestimmte Individuum nimmt immer mehr Form an. Die Gesellschaft bietet ihm aufgrund der strukturell-funktionalen Ausdifferenzierung keinen festen Ort mehr und gerät mit dem Anspruch des Einzelnen, seine eigene Identität zu konstituieren, in Konflikt. Auch in den sozialen Interaktionskontext der Privatsphäre der Empfindsamkeit findet er sich nicht mehr integriert. Mit dem Rückgang des Sozialbezugs im Selbstverständnis der Individuen verändert sich auch das Verhältnis zur Moral, die nur als soziale überhaupt gedacht werden kann. Die moralischen Bande werden schwächer. Damit wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in bis anhin unbekannter Weise zum Problem. Dazu nochmals Marianne Willems: »Jetzt wird die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft weit radikaler formuliert. Das Subjekt, das frei und selbstbestimmt ein individuelles Ganzes hervorbringen soll, kann nicht zugleich Teil eines Ganzen, Teil der Gesellschaft sein. […] Das Individuum wird grundsätzlich extrasozietal gedacht, die Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft gilt jetzt als unaufhebbar.«48
Partner Dies sind Perspektiven, die sich an der literarischen Entwicklung in Deutschland im 18. Jahrhundert ablesen lassen und die somit das Er-
47 | Willems (1999), 118. 48 | Willems (1999), 124. Zu den Folgen dieser Differenz für das natio-
nale Selbstverständnis siehe auch Bernhard Giesen, Kay Junge, 1991, Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der »Deutschen Kulturnation«, in: Bernhard Giesen, Hg., Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt am Main, v.a. 286ff.
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gebnis eines literarischen Diskurses darstellen.49 Für die Herausbildung des entsprechenden Individualitätstypus des autonomen, selbstgenügsamen Subjekts sind diese historischen Zusammenhänge – insbesondere die Relativierung des Moralbezugs – wesentlich. Wenn wir uns nun demgegenüber nochmals J.B. zuwenden, so lassen sich in seinen Äusserungen kaum Elemente einer Individualitätskonzeption erkennen, die Ähnlichkeiten zu der sich im deutschen Sturm und Drang abzeichnenden Typik aufweisen würden. Besonders die Bedeutung einer im Sozialen begründeten und transzendent legitimierten Moral macht die Unterschiede klar. Die erste Passage des zitierten Interviewausschnittes thematisiert das Problem der Entfremdung und des Sühneopfers sowie der Gnade als Mittel zu deren Überwindung. Das Moment der Entfremdung ist – wie bereits herausgearbeitet wurde – wesentlich für ein Verständnis der Form von Transzendenz, mit der wir es hier zu tun haben. Es verweist auf die Existenz von ›grosser‹ Transzendenz im Sinne eines Bereichs, der sich über die Welt des Einzelmenschen hinausdehnt. Das Konzept der Entfremdung setzt einen Referenzpunkt voraus, der ausserhalb des Individuums liegt und von welchem man sich entfremdend wegbewegen kann. Wenn dieser Referenzpunkt wegfällt, etwa in der Vorstellung eines sich selbst Gott seienden Subjekts, wird die Vorstellung der Entfremdung unplausibel oder doch zumindest schwierig. Gott kann sich kaum von sich selbst entfremden, denn damit würde er selbst zu einem teilbaren, nicht mehr das Ganze verkörpernden Prinzip. Wenn es nun aber Entfremdung und damit Sünde gibt für den Menschen, wird darin auch die mögliche Erlösung aus diesem Zustand mitgedacht, welche für J.B. in der auf der Grundlage menschlicher Tugenden vorgestellten Beziehung des Menschen zu Gott besteht. In dieser der menschlichen Interaktion nachempfundenen Beziehung schliessen sich Gott und Mensch zusammen. Während J.B. einen ausgeprägten Sinn für ›grosse‹ Transzendenz zu haben 49 | Rationalistische Frühaufklärung und Empfindsamkeit unterschei-
den sich diesbezüglich vom Sturm und Drang. Die ersteren formulieren ihre Begriffe vom Individuum als Moralphilosophie und verbreiten sie als literarischen Text. Der Sturm und Drang konzipiert seine Vorstellungen vom Individuum demgegenüber in der Literatur selbst und in der sich reflexionstheoretisch etablierenden Ästhetik und erreicht damit aufgrund des im Vergleich zur Philosophie höheren Reflexionspotentials der Literatur breitere Thematisierungsspielräume, besonders in Bezug auf Toleranz gegenüber Widersprüchen und Paradoxien, siehe Willems (1999), 119f.
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170 | »New World Horizon« scheint, was sich neben dem Konzept der Entfremdung auch in der Vorstellung ausdrückt, dass zwischen Gott und der Welt der Menschen ein eindeutiger, wenn auch nicht dauerhafter Bruch besteht, der die beiden »Reiche« trennt und der sich auch darin äussert, dass Gott sich distanziert hält und den Lauf der irdischen Dinge nicht beeinflusst und für die Kausalitäten des Lebens nicht verantwortlich zeichnet und auch nicht Partei ergreift – während also ein Bereich des Transzendenten gegeben ist, der letztlich dem menschlichen Verstehen unzugänglich bleibt, findet sich ›grosse‹ Transzendenz gleichzeitig in die Welt als Beziehungsform des Du-zu-Du hineinverlegt. Damit werden die Individuen in J.B.s Vorstellung an den Aufgaben Gottes fast schon partnerschaftlich beteiligt. Die Beteiligung besteht im Willen, der von den Individuen einzubringen ist: »Äh it’s just something beyond your will although it requires your will.«
Der Wille übersetzt sich in Handeln. Im Handeln scheint Sinn – als Ausdruck des Transzendenten – auf: »And äh and äh things I do have meaning, and things other people do have meaning.«
Wie sich die ›grosse‹ Transzendenz in die gegebene Welt hineinverschiebt und damit die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz gleichsam zum Kollabieren bringt, lässt sich auch an J.B.s Verständnis von Spiritualität aufweisen. Gefragt, was er darunter versteht, definiert er den Begriff sowohl ausser- als auch innerweltlich: JB: »I think I would define it as – – an openness – to the idea that we still are living in the world, that it’s charged with valuable history.« I:
»Mhm.«
JB: »That it still has grandeur that is more merely than our feelings of pleasure in it [lacht], and more merely than our feelings of awe in its power.« [lacht] I:
»Ya.«
JB: [lacht] »Ähm äh that ähm that inescapably we’re bound to this thing that is bigger than we are, that we won’t get to the bottom of, that we never fully understand.«
Obwohl Spiritualität sich auf »dieses Ding« bezieht, das grösser als die Menschen ist und über diese hinausreicht, ist sie doch letztlich an die Welt gebunden: Sie öffnet sich auf die Welt hin als jenem Ort, an
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dem sich eine wertvolle Geschichte vollzieht, die sich am einzelnen Individuum festmachen lässt: JB: »But I do pull in the idea of God – as the thing that underlies my sense that the experiences we have in this world« I:
»Mhm.«
JB: »ähm that – that whatever we are we are not merely – ähm the sum total of a set of chemical reactions.« I:
»Mhm.«
JB: »Ähm or the sum total of a set of physical processes – even though nothing I can point to is not such a thing. [lacht] Ähm äh whatever the transcendent means to me, it means the fact that – despite all appearances, my story is still not over. [lacht] And äh and äh things I do have meaning, and things other people do have meaning.« I:
»Mhm.«
JB: »Things I go through have meaning, and things other people go through have meaning.«
In diesem »I go through« und »other people go through« zeigt sich das Ineinanderübergehen von Transzendenz und Immanenz. Obwohl die Initiative auf der Seite der Individuen liegt, klingt in den Worten »durch etwas hindurchgehen« doch auch eine gewisse Schicksalhaftigkeit an, etwas, das der Beeinflussung durch die Einzelnen entzogen ist und dem sie deswegen unterworfen und ausgeliefert sind. Der Bruch zwischen dem Bereich des Transzendenten und demjenigen des Immanenten verschwindet schliesslich fast vollständig in der Partnerschaft von Mensch und Gott. Diese geht geradezu im Sozialen auf. Die Beziehung ist nach dem Muster der zwischenmenschlichen Beziehung modelliert, und obwohl die Vorstellung von Gott als Person nur ein Behelfsbild ist – im Extremfall der alte Mann mit dem weissen Bart –, handelt es sich dabei – so J.B. – doch nicht bloss um eine Idee. Die Grundlage wird durch Verhaltensweisen und Haltungen gebildet: Liebe, Loyalität und Intimität sind die Grundeigenschaften der Mensch-Gott-Beziehung ebenso wie diese im Zentrum der Beziehungen der Menschen zueinander stehen. J.B.s Religiosität gründet nicht auf Glauben, – »we believe or don’t believe ideas« –, der die Beziehung asymmetrisch machen würde, wie es im protestantischen Konzept der ›sola fide‹ zum Ausdruck kommt, sondern auf der Gleichwertigkeit der beteiligten Parteien. Man kann erwarten, dass der Gott, dem man in Liebe, Loyalität und Intimität zugetan ist, dieses Gefühls- und Moralengagement in derselben Weise erwidern
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172 | »New World Horizon« wird, genauso wie man das von seinen Mitmenschen erwartet oder zumindest erhofft.
Ways of seeking order Auch in der ›journey‹ der Unitarierin L. kommen eine Ordnungsvorstellung und darin eine besondere Beziehung zum ›Heiligen‹ zum Ausdruck, die sich vor allem im Bereich des Sozialen und der zwischenmenschlichen Beziehungen äussern. Dabei ist insbesondere die unitarische Kirche für L. zu einer sozialen Schnittstelle in ihrem Leben geworden, vor allem deshalb, weil – wie sie erklärt – diese Kirche von einer Suche nach etwas Höherem getragen wird: L: »You see if I were moving across the country I’m not exactly sure I would go to another Unitarian church« I: »Mhm.« L: »because it might not have that combination of of support of supporting a quest –« I: »The quest?« L: »Of äh of äh of äh that whatever this quest is that that, you know, humanity is supposed to be pursuing – for äh achie achieving either – an an understanding of of äh of äh of äh of äh internality – I do the only thing that I really do believe that there is a there is a goodness – a universal goodness that ähm – has to be somehow nurtured and encouraged in order to – to to – actually shine beyond evil or error.«
In dieser Sequenz wird zum Ausdruck gebracht, dass der Welt ein grundlegendes Prinzip inhärent ist, das von L. als universelles Gutes (»universal goodness«) umschrieben wird. An dem kurzen Abschnitt lässt sich jedoch bereits erkennen, dass es sich dabei nicht um ein statisches Ordnungsprinzip handelt. Dies allein schon deshalb nicht, weil L. gar nicht soweit geht, dieses universelle Gute irgendwie inhaltlich näher zu bestimmen und ihm Konturen zu geben, sondern diese Frage bewusst offen lässt: »whatever this quest is«. Vom statischen gleitet man unmittelbar in ein prozessuales Denken, denn trotz inhaltlicher Unschärfe besteht kein Zweifel, dass die Menschheit ein »Projekt« verfolgt beziehungsweise auf der Suche ist. Mehr noch: die Menschheit ist geradezu in die Pflicht genommen – die Frage bleibt offen, von wem oder von was –, zu suchen. Es wird kurz zum sogleich wieder abgebrochenen Versuch angesetzt, den Zweck des Unternehmens zu bestimmen: Es geht um ein Verstehen von
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»Internalität« (»internality«), ohne dass dies näher erläutert würde. Das Wort »internality« scheint eine Eigenkreation von L. zu sein. Worauf es vor allem ankommt, ist, dass es sich bei diesem universalen Guten, dessen Existenz Dreh- und Angelpunkt von L.s Weltbild darstellt, nicht um eine selbstgenügsame Grösse handelt, die unabhängig von den Menschen ist. Vielmehr erhält das Gute seine Potenz erst durch eine Einwirkung »von aussen« – von den Menschen, kann man vermuten, obwohl L. nicht näher spezifiziert, wer das Gute befördert (»nurtured« und »encouraged«). In dieser Konstruktion erhält das Transzendente gleichsam nochmals eine Aussenseite durch den Menschen selbst, der diesem sowohl über- wie auch untergeordnet wird – eine Sichtweise, die sich kaum mit der Vorstellung eines allmächtigen Gottes jedweder Provenienz vereinbaren liesse. Mensch und ›Gott‹ beziehungsweise »goodness« funktionieren in der von L. dargelegten Vorstellung als »Gleichberechtigte« in dem Sinne, dass beide unumgänglich sind bei der Überwindung des Bösen und des Falschen: »in order to actually shine beyond evil or error«. Auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen geht es darum, Ordnung zu suchen, wobei die Grundlagen dieses Suchprozesses Erfahrungen verschiedener Art sind. Dazu ein längerer Ausschnitt aus dem Interview: L: »[…] So, I guess there is a tie there with a certain amount of spirituality which – is also peace.« I: »Mhm.« L: »It’s a seeking for peace I think as much as anything.« I: »Ya. – – And is this like comparable to what you experience when you listen to music in the service: is that is that all like the same?« L: »Yes, or looking at a fine piece of of art. Mhm. Ähm – and in a way they’re all what they have in common is that they’re all ways of seeking order, either visually or aud in auditory experience, or through others ähm through others of the senses – äh – and perhaps ähm – all of those ways also help to put a space between yourself and the rest of humanity – because when you’re you’re younger it seems to me very much fixed on on ähm – on people. Your peers, ähm – people with whom you work, you invest you invest a lot of emotion in other people, at least this was my experience – when you’re younger – and people all people are so individualistic that there’re aspects about every single person that are less attractive than ähm their assets – and so in some ways, close proximity with other people is almost doomed to disappointment – in one way or another. –
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174 | »New World Horizon« Key to all relationships is to be able to strike a balance between the disappointments and and the positive experiences that you have with the other person, but somehow when you can – drop this film of ähm of of seeking for order and peace in – nature and in arts, in between there it’s a buffer« I: »Mhm.« L: »so that you view people and but you even those around you, never mind the people you don’t know personally, but you throw out more gauzy film and therefore it’s more it’s easier to accept people’s fallibility – I think.« I: »Mhm.« L: »It’s been all this shift of your focus to something that is depersonalized. So it’s a balance between – something that’s […] oriented mystically and something that is completely non non-human. – That’s completely did that make any sense at all.«
L. geht es darum, Ordnung zu suchen, was heisst, sie zu schaffen. Ähnlich hiess es bereits in der zuerst zitierten Passage, man müsse dem universalen Guten durch mitmenschliche Aktivität und durch Engagement gleichsam »auf die Sprünge helfen«. Die Ordnung hat für L. keine repräsentativen Funktionen. Sie repräsentiert nichts. Sie bildet kein zeitloses, gegebenes und unveränderliches höheres Prinzip ab, das menschlichem Einfluss entzogen, dafür jedoch umso absoluter und unantastbarer wäre, sondern sie ist ein Produkt menschlichen Erfahrens. Die Sinneserfahrung, die im Interview mit L. in ihren verschiedenen möglichen Varianten als akustische oder als visuelle oder auch als jede andere denkbare thematisiert wird, erschliesst den Raum des Transzendenten beziehungsweise jenen des Spirituellen, wobei die vollzogene Denkbewegung von besonderem Interesse ist. Die Frage nach der spirituellen Erfahrung, um die es hier geht, wird auf einem Umweg erschlossen, nämlich über das Problem zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Beziehungen der Menschen zueinander erscheinen als störungsanfällig und diffizil. Sie bergen ein beträchtliches emotionales Verletzungs- und Enttäuschungspotential in sich, so dass es notwendig ist, einen Raum der Distanz zwischen den Menschen zu schaffen – konkret: einen Raum zwischen dem Einzelnen und dem Rest der Menschheit: »to put a space between yourself and the rest of humanity«. Der Begriff ›humanity‹, sofern er mit einer aufklärerisch-humanistischen Konnotation gelesen wird, überrascht hier freilich ein wenig. Man würde eher erwarten, dass einfach von »den anderen« im Unterschied zum eigenen Ich gesprochen würde, weil es offensichtlich um konkrete Erfahrungen geht, die L. mit anderen Menschen gemacht hat.
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Der Raum nun, der hergestellt werden soll zwischen den Menschen und auf den sich die Formulierung »ways of seeking order« bezieht, entsteht durch einen Ausgriff auf Transzendenz, welcher es erlaubt, die Probleme, die in der Interaktion der Menschen entstehen, zu depersonalisieren. Interessanterweise öffnet sich der Bereich des Transzendenten geradezu räumlich zwischen L. und den anderen Menschen, also buchstäblich im zwischenmenschlichen Bereich der Interaktion. Ein sinnvoller menschlicher Umgang ist nur via transzendente beziehungsweise spirituelle Erfahrung möglich. Deutlicher lässt sich das Transzendente wohl kaum in die Welt hereinholen. Es wird damit unumgänglicher Bestandteil jeder – alltäglichen und ausseralltäglichen – Begegnung von Menschen, also gleichsam konstitutiv für soziales Handeln. Diese Funktion kommt der Transzendenz jedoch nur zu, weil sie (immer noch oder nach wie vor) als ›grosse‹ Transzendenz zu fungieren vermag und die Interaktion gleichzeitig ermöglicht und überschreitet – oder, vielleicht treffender: sie ermöglicht Interaktion, indem sie sie überschreitet. Es liesse sich einwenden, dass wir es bei L. eher mit einer Form von »Weltflucht« zu tun haben, insofern die Erfahrung von Spiritualität, sei sie akustisch als Musik oder visuell als bildende Kunst, dazu dienen könnte, den Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Aktion durch Rückzug in eine Sphäre des Erhabenen zu entkommen. Gegen diese Lesart spricht jedoch, dass sich die Beziehungen zu den Mitmenschen gerade durch diese Erfahrungen so verändern, dass sie nicht mehr zwingend in die Sackgasse führen müssen: »so that you view people and but you even those around you, never mind the people you don’t know personally, but you throw out more gauzy film and therefore it’s more it’s easier to accept people’s fallibility – I think.« Keine Flucht also, sondern in der spirituellen Erfahrung die Chance, die Menschen, so wie sie wirklich sind, nämlich fehlerhaft, zu erkennen und zu akzeptieren. Die religiöse Erfahrung führt bei L. letztlich nicht nach innen, sondern nach aussen – in die (Sozial-)Welt. Gespiesen und getragen wird sie vom Glauben an die Existenz eines Guten (»universal goodness«), welches, damit es sich ausdrücken kann, Arbeit und Einsatz auf Seite der Individuen erfordert – als Bereitschaft zur sinnlich-spirituellen Erfahrung, auf der die Sozialbeziehungen aufruhen.
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176 | »New World Horizon«
4.3 »Always getting, being close« – Zeit und Biographie Die Thematik der ›journey‹ lässt sich weiter vertiefen, indem ihre zeitstrukturellen Grundlagen näher ausgeleuchtet werden. Das Problem der Zeit hat mittlerweile eine in ihrem Ausmass beträchtliche soziologische, anthropologische, philosophische und historische Fachliteratur hervorgebracht, welche versucht, das Zeitverständnis und die Zeitwahrnehmung der Moderne zu entschlüsseln.50 Dabei scheinen sich die Autoren vor dem Hintergrund eines schnellen sozialstrukturellen wie auch kulturellen Wandels weitgehend einig zu sein in ihrer Diagnose einer für moderne Gesellschaften feststellbaren »Beschleunigung« der wahrgenommenen Zeit. Ein Hauptmerkmal der spätmodernen »Zeit-Situation« scheint dabei das »Wegbrechen« der Zukunft in ihrer Funktion als temporaler Leitdimension zu sein. Sieht man sich die vergangenen zweihundert Jahre vor dem Hintergrund der europäischen Entwicklung an, so lässt sich – wie Albrecht Koschorke in einer detaillierten literaturwissenschaftlichen Studie herausgearbeitet hat – von einer Schliessung des Horizonts und von einer damit einhergehenden Annullierung von zeitlicher Ferne als einem Projektionsraum von Erwartungen sprechen.51 Die Auflösung des ›Erwartungshorizontes‹ (Koselleck) der Zukunft, der sich nicht mehr so ohne weiteres fixieren und inhaltlich füllen lässt, weil der rasante Wandel und die Vielfalt möglicher Lebensentwürfe ein über einen längeren Zeitraum hinweg durchgehaltenes Fokussieren auf die »eine« Zukunft kaum mehr erlauben, lässt die Zeitdimension auf »reine« Gegenwart einschrumpfen – dies zumal auch die Vergangenheit aufgrund der Erfahrungsvielfalt einem verwirrenden Streit um Deutungsmacht preisgegeben scheint. Der Horizontschrumpfung lässt sich auf unterschiedliche Weise begegnen, so beispielsweise durch nostalgisierende Wiederbelebungsversuche des Vergangenen, um sich so jenseits der verlorenen Zukunft ein bisschen lebensweltliche Orientierungssicherheit zurück zu erkämpfen. 50 | Bereits 1983 ist ein entsprechender Literaturüberblick von Werner
Bergmann erschienen, vgl. Werner Bergmann, 1983, Das Problem der Zeit in der Soziologie. Ein Literaturüberblick zum Stand der »zeitsoziologischen« Theorie und Forschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 35, 462-504. Vgl. jüngst auch Hartmut Rosa, 2005, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main. 51 | Koschorke (1990).
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Bereits ein kurzer Blick auf das Interviewmaterial macht deutlich, dass von der Zeitdimension der Zukunft nach wie vor ein starker lebensweltlicher Orientierungsimpuls ausgeht. Dies mag umso mehr erstaunen, als gerade am Paradebeispiel der amerikanischen Modernisierung des späten neunzehnten und frühen 20. Jahrhunderts die Beschleunigung der Zeit und deren Folgen für Kultur und Gesellschaft immer wieder betont und gleichsam paradigmatisch herausgearbeitet wurden.52 Auch auf der Ebene des intellektuellen und des akademischen Diskurses finden sich – dies ein weiteres Indiz für eine kulturell unterschiedliche Ausgangslage –, abgesehen von einigen theoretischen Einsprengseln in der Postmodernediskussion, kaum Hinweise auf ein der europäischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen moderner Zeiterfahrung vergleichbares Interesse. Amerikanische Diskurse entfalten sich vielmehr vor dem Hintergrund eines historisch gewachsenen ›Mythos‹, der in seiner dauernden Wirkmächtigkeit – so zumindest mag es dem externen Beobachter erscheinen – kaum eine Aussenperspektive auf das eigene System freigibt, insofern eine solche Perspektive die symbolischen Grundanlagen desselben infrage zu stellen vermöchte. Das in der amerikanischen Gesellschaft vorherrschende Zeitverständnis, das den Horizont der Zukunft nicht preiszugeben scheint, gehört zu diesen Grundanlagen. Es bildet – so zumindest die hier vertretene These – einen wesentlichen Bestandteil dieses ›Mythos‹ – vielleicht seinen zentralen Dreh- und Angelpunkt. An einigen Beispielen aus dem empirischen Material soll im Folgenden versucht werden, diese Zeitstruktur zu rekonstruieren.
»Where you have truth, you have truth« Die Buddhistin J. erzählt im Interview die Geschichte ihres Lebens ohne Unterbruch in einem Stück, als ob ihr inneres Auge aus einem Buch vorlesen würde. Die Ereignisse ihres Lebens reihen sich aneinander und beziehen sich aufeinander in einer Weise, dass man den Eindruck erhält, das eine gäbe dem anderen die Hand und ihre ganze Biographie gehe in einem organischen Zusammenhang auf, bei dem spätere Gegebenheiten mit einer gewissen natürlichen Zwangsläufigkeit aus vorausgegangenen folgen. Dabei läuft der Bericht zweimal auf einen Höhepunkt zu, wobei der zweite eine biographische Wende herbeiführt beziehungsweise einen bereits eingeschlagenen Pfad – 52 | Z.B. Stephen Kern, 1983, The Culture of Time and Space 1880-
1918, Cambridge, Massachusetts.
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178 | »New World Horizon« jenen hin zum Buddhismus – in seiner Richtung und Richtigkeit »endgültig« bestätigt. Ein Blick auf die einzelnen Phasen soll dies erhellen. Im ersten Teil ihrer Erzählung schildert J., wie sie auf einer Farm im Bundesstaat Illinois in einem ausschliesslich weissen, protestantischen Umfeld, hervorgegangen aus einer deutschen Einwanderergemeinschaft des 19. Jahrhunderts, aufgewachsen ist. Die Familie gehörte einer presbyterianischen Kirche an. Im Alter von dreizehn Jahren bekam J. gemäss ihrer Darstellung zum ersten Mal Schwierigkeiten mit der Kirche, weil sie – unter anderem – die Frage nach der Möglichkeit des freien Willens und das Problem der Prädestination nicht beantwortet fand. Trotzdem blieb sie der Kirche weitere drei Jahre treu. Immer habe sie Fragen gestellt und sah sich gegen den Strom anschwimmen. Entsprechend begann sie sich irgendwann nach anderen religiösen Gruppen umzusehen, fand jedoch, dass keine christliche Kirche brauchbare Antworten auf ihre Fragen anzubieten hatte. In religiöser Hinsicht und im altersgesättigten Rückblick stellen sich ihr ihre jüngeren Jahre – auch die Zeit im College in Nevada – als unbefriedigend und unerfüllt dar. J. passte nicht in das beengende Umfeld, in das sie hineingeboren wurde. Ihr Leben war, was ihr spirituelles Wohlbefinden anbelangt, bereits in die Sackgasse geraten, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Doch dann entscheidet sie sich, zu neuen Ufern aufzubrechen. Sie zieht nach Kalifornien, heiratet, lässt sich scheiden, heiratet erneut und lässt sich ein zweites Mal scheiden. Immer noch habe sie in dieser Zeit keine religiöse Heimat gefunden. Mit dem Buddhismus hatte sie zu jener Zeit noch keine Bekanntschaft gemacht. Jedoch habe sie sich mittlerweile zu einem »sehr starken Individuum« entwickelt, das seine Entscheidungen selbst trifft – wann immer und wie immer dies in der jeweiligen Situation gefordert ist. J. bringt damit bereits zu Beginn des Interviews eine Unabhängigkeit gegenüber anderen Menschen zum Ausdruck, die sie auch später während des Gesprächs immer wieder für sich reklamiert. Nachdem sie einige Zeit in Kalifornien gelebt und gearbeitet hat und dort von einem japanischen Vorgesetzten erstmals theoretisch in den Buddhismus eingeführt wurde, ist sie schliesslich reif für eine Ferienreise und landet – mehr zufällig – auf den Cook Inseln. Auf diesen Inseln fühlt sie sich sofort völlig aufgehoben: »I felt like I was home.« Nach zwei Jahren kehrt sie dorthin zurück, womit sich eine Prophezeiung ihres ersten Aufenthalts erfüllt: Ein besonderer Fels am Strand verspricht jedem, der auf ihm gestanden hat, das spätere
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Wiederkommen. Der erneute Aufenthalt wird zu einem prägenden spirituellen Erlebnis, das in einem einzigen Augenblick kulminiert: »And äh – so early one morning only about nine thirty – – I went out on the beach and I was alone I was gonna walk to the end of the island – and I just came to [the stop] – – – because my father was there in the spirit – at the same time. – – And – I started to cry […] – – aand – and then it’s as if he was gone. – And I knew he was dead and my and my first – my first thought was: I have to get home. And I thought: are you crazy? You you must be crazy [lacht laut heraus]! This is [always] getting to you, you know, there was nobody here! You didn’t hear anything! You didn’t see anything! No no this happened. – And for the first time in my life – – I said: science we’re done. Where you have truth, you have truth. You know it. – – – And I I’ve got to get off the island. And I knew it was impossible. First of all, there there isn’t gonna be a flight out of here until Saturday. And on Monday. And they only come in on two days a week and they only go out two days a week [lacht] and the planes are full. The international planes are full. They are not gonna get […]. – So then I said o.k. you’ve gotta get to a telephone. You’ve gotta call your mom. She must be aware, you know. – Well this is impossible. You can’t even get a decent radio phone connection to the main island. Much less anything more like a satellite, you know. – – So there is nothing I can do but wait it out. – When I got back to the main island – – but nothing nothing I didn’t tell anybody. I thought they all think that I was crazy. – I didn’t tell anybody. – And when I got – back to the main island – – I took a bicycle and I went for a ride around the island. It was a twenty-six miles bicycle ride. […] And äh I came to this village church and ähm I I can’t explain why I was particularly drawn to that little church but […] and I decided coming back here Sunday for New Years service.«
J. erzählt in dieser Sequenz, wie sie »erfahren« hat, dass ihr Vater zu Hause in Amerika gestorben ist. Es trifft sie wie aus heiterem Himmel. Nicht so sehr das Ereignis selbst, der Tod des Vaters, steht im Vordergrund – der Vater oder die Beziehung zu ihm war nie zuvor im Interview ein Thema und ist auch im weiteren Verlauf desselben keines –, sondern die Art und Weise, wie Wahrheit sich in einem einzigen Moment zusammenziehend wie ein Blitz offenbart, so dass jeder Zweifel ausgeschlossen werden kann: »Where you have truth, you have truth. You know it.« Dabei handelt es sich nicht um eine wissenschaftlich beweisbare Wahrheit, sondern um ein »Offenbarungswissen«: Der Tod des Vaters wird zum Vehikel einer übergeordneten, höheren Wahrheit. Er verweist, vor allem in der übernatür-
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180 | »New World Horizon« lichen und unwahrscheinlichen Kommunikationsform, in der er vermittelt wird, auf die »Doppelbödigkeit« (Berger) der Wirklichkeit. In der plötzlichen Erscheinung des Geistes des Vaters ebenso wie im Felsen, durch welchen J. die Rückkehr auf die Insel prophezeit wird, wie auch in der Insel selbst, die ihr ein endlich gefundenes Zuhause ist, findet sich eine Wahrheit symbolisch zum Ausdruck gebracht, die sich zu gegebener Zeit auch in Form eines schneidenden Wissensblitzes zu erkennen gibt. Sie lässt sich auf einen Augenblick reduzieren, in welchem sie sich aufgrund ihres überzeitlichen Wesens konzentrieren kann. Sie bedarf der Zeit nicht, um sich selbst zu kommunizieren. Sie operiert nicht innerhalb der Zeit, sondern fällt aus dieser heraus, weil sie ihren Ursprung im Transzendenten jenseits der Zeit hat. Wie weiter unten an einem anderen Interviewausschnitt deutlich wird, widerfährt J. dieses Zusammenziehen von Wahrheit in einem einzigen Augenblick – im Aggregatzustand höchster »Festigkeit« und Konzentration – noch einmal während eines späteren, längeren Aufenthalts in Korea. Im oben zitierten Ausschnitt ist J. erst einmal zur Untätigkeit verurteilt. Obwohl nun eigentlich Handeln gefordert wäre, ist jeder Versuch dazu logistisch verbaut. Keine Flüge, keine Telephonverbindung. J. kann nur warten, die Situation aussitzen – so wie sie früher ihre Jugend »aussitzen« musste, weil sich damals kein spiritueller Ausweg eröffnete. Die Situation hat sich allerdings grundlegend verändert, denn nun wäre eigentlich klar, was zu tun wäre. Die Wahrheit offenbart sich in einem Handlungsimperativ. Schliesslich kehrt J. nach Kalifornien zurück und entschliesst sich aufgrund der besonderen Umstände – sie verliert ihren Job als Sekretärin, da ihr japanischer Chef in den Ruhestand tritt –, eine Stelle als Englischlehrerin in Korea anzunehmen. Noch hat sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht weiter mit dem Buddhismus befasst. Während ihres ersten Jahres in Korea liest sie mit Ausnahme einer Kurzgeschichte über die Figur des Buddha auch nichts über diese Religion. Sie kommt jedoch erstmals mit Buddhisten direkt in Kontakt und wird zur Meditation in ein internationales Zen-Center eingeladen. In diesem Center kommt es während einer Einführung in die Meditationstechnik zu einem weiteren biographisch einschneidenden Erlebnis: J: »So – the next Sunday I went to […] (Name) and I met the Zen master who – gave the meditation directions. – And I listened and I said – God I have never in my life – not even by my Japanese boss [lacht] have I’ve been given a direction – so clear – so precise – and so succinct – that was laconic
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4. Das transzendente Fundament amerikanischer Individualität | 181 [lacht]. It was the very essence of laconic. And I said what an incredible man. What an incredible mind to be able to do this.« I: »An introduction like this.« J: »Ähm I don’t think he wasted one word. – [verwirrtes Lachen] It was an incredible introduction and then he was gone.« I: »What was clear about it?« J: »Hm?« I: »In what sense was it clear?« J: »He didn’t – he said it so well he didn’t need to repeat anything of what he was saying« I: »Mhm.« J: »and it was so – precise. It was so […] it was [verwirrtes Lachen] it was – laconic.« I: »Ya.« J: »The very essence of laconic. Most human beings talk around it and around it and they finally get to it and then they kill it [lacht]. And they overkill [with all that] words words words and then they they think you didn’t understand and you didn’t hear [lacht] so [lacht] you […] and again and again and again [lacht] and and it wasn’t necessary. […] It was the most amazing explanation I’ve ever been given in my life and I [klatscht in die Hände] I knew exactly what I was supposed to do and [klatscht dreimal in die Hände] the [claqueur] – hit I turned around [lacht] on my […] and sat down and began meditating.«
Auffallend ist, wie sich in dieser Passage das gleiche Muster wie oben beim Beispiel der Erscheinung des Geistes des toten Vaters wiederholt. Auch hier kulminiert Wahrheit in einem einzigen Augenblick und wird plötzlich in der Erfahrung zugänglich. Dabei übernimmt der Zenmaster die Funktion einer »Verbindung« im Sinne des Verweisens auf die transzendente Wahrheit. Er symbolisiert und markiert den Übergang zu einem »Anderen« und damit eine Grenze zwischen verschiedenen Welten. Auch hier wird Wahrheit jenseits von Zeit kommuniziert, was sich in den von J. gewählten Worten – »clear«, »precise«, »succinct« und »laconic« – ausdrückt. Die Wahrheit braucht keine Zeit, sich zu erklären. Sie kommt als reine Gegenwart des Moments, ohne sich durch Zeitverbrauch und damit durch die Ambivalenzen gemachter Erfahrungen und auf die Zukunft projizierter Erwartungen abzunützen und mit Paradoxien aufzuladen. Der Zenmaster als »Sprachrohr« der Wahrheit braucht sich entsprechend auch nicht zu wiederholen. Während die meisten Menschen durch zuviel redundante Rede die Essenz dessen, was zu sagen
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182 | »New World Horizon« ist, zerstören, hebt sich der Zenmaster durch seine »auf den Punkt« gebrachten Aussagen von den Normalsterblichen ab. Und schliesslich hebt sich J. selbst ab, indem sie klar macht, dass sie sofort verstanden hat, worum es geht und ohne Verzug auf die Ebene des Handelns überwechselt. Wie oben so ist auch hier mit der Einsicht in Wahrheit ein Handlungsimperativ verbunden. Anders als im vorhergehenden Fall ist das Handeln hier allerdings nicht blockiert, sondern findet als Meditation sofort Ausdruck: »I knew exactly what I was supposed to do […] and sat down and began meditating.« Einsicht und Tat sind ein und dasselbe: »This clear, this simple, this is what you have to do.«
Und mehr noch: im Ineinsfallen von Wahrheit und Handeln drückt sich die Wahrheit als Wahrheit des Handelns aus. Es ist gerade nicht eine zeitlose inhaltliche Essenz oder eine gegebene statische Ordnung, mit der wir es hier zu tun hätten und die sich irgendwie abbilden beziehungsweise in ihren Grundbestandteilen repräsentieren liesse, sondern das Handeln selbst in seiner unhintergehbaren Prozesshaftigkeit ist das Wahre – im vorliegenden Beispiel in seiner Form als Zen-Meditation. Dabei ist die Form selbst nicht so sehr entscheidend. Hinter der Form beziehungsweise in ihr kommt ein kulturelles Motiv zum Ausdruck, das sich in den unterschiedlichsten Kontexten immer wieder finden lässt, wie auch die folgenden Beispiele zeigen werden, und das sich in der typisch amerikanischen Betonung des »do it yourself« und des »do it now« zusammenfassen lässt, die – so Sacvan Bercovitch – einen zentralen Bestandteil des ›amerikanischen Mythos‹ bilden und die sich bis auf die biblischen Ursprünge des nationalen Selbstverständnisses zurückverfolgen lassen. In diesen auf das Individuum zielenden Handlungskonzepten spiegelt sich die Rolle wider, die dem Einzelnen bei der Verwirklichung einer durch die Gemeinschaft der Individuen herbeizuführenden besseren Zukunft – ursprünglich als Plan Gottes – zugedacht ist, wobei jedes Individuum zum Repräsentanten dieser Zukunft wird.53 Die Zeit wird – paradoxerweise – dadurch ausgeschaltet, dass sie in der Meditation im Überfluss vorhanden ist. Zeit wird damit nicht primär in ihrer verknappten Form, als Zeitknappheit, erfahren. J. hat 53 | Vgl. Sacvan Bercovitch, 1983, The Biblical Basis of the American
Myth, in: Giles Gunn, ed., The Bible and American Arts and Letters, Philadelphia, Pennsylvania, Chico, California, 226.
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in der Meditation für alles Zeit, und gerade deswegen spielt Zeit keine Rolle mehr: »[…] you just have one job to do. You have plenty of time to do it until you have the next job to do. You have time to get up. You have time to bow. You have time to chant. You have time to sit. You have time to eat. You have free time.« Sobald die Zeit verschwindet, verschwinden mit ihr auch die sie konstituierenden Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft. Für J. bedeutet dies, wie sie sagt, völlige Freiheit. Jeder Selektionsdruck, der sonst das Handeln bedrängt, fehlt. In der Aufzählung all der Dinge, die im meditativen Rückzug auf einmal möglich werden, scheint jedoch zugleich die als überwunden geglaubte Gebundenheit an zeitliche Existenz wieder auf. Denn auch wenn es sich um alltäglichste Aktivitäten handelt, die – um mit der Unterscheidung von Hans Blumenberg zu reden54 – gemessen am Ganzen der ›Lebenszeit‹ oder gar der ›Weltzeit‹ kaum Zeit verbrauchen – wie Aufstehen, Essen, Singen, Schlafen, meditatives Sitzen –, so haben wir es doch mit Tätigkeiten zu tun, die sich in der Zeit entfalten, die entsprechend Zeit verbrauchen und die dadurch, dass sie einen Anfang und ein Ende haben, auch Vergangenheit und Zukunft mit sich führen. Diese Zeitgebundenheit der Erfahrung – allen Erfahrens – wird jedoch in der Meditationserfahrung durch die Selbstgenügsamkeit des jeweiligen Augenblicks und der jeweils gerade gegebenen Handlung aufgelöst. Im Interview wird dann jedoch ein Narrativ entfaltet, das die Biographie gerade nicht in für sich selbst stehende, unverbundene Einzelteile zerlegt, sondern diese in einem in sich stimmigen, schlüssigen Ganzen aufgehen lässt. Ausdruck davon ist, dass sich das narrative Zeugnis des Lebenslaufs als Biographie im Sinne der ›journey‹ strukturiert, welche sich durch temporale Linearität auszeichnet. Im Rückblick erscheinen alle Ereignisse einen klar definierten Platz im zeitlichen und räumlichen Ganzen von J.s Leben einzunehmen. Für Offenheit, Zweifel und Unsicherheit in Bezug auf die »Geordnetheit« des Lebensweges ist entsprechend wenig Platz. Schliesslich wird das Ganze dadurch abgerundet, dass J. mit ihrem Einzug ins Cambridge Zen-Center am Ende ihrer ›journey‹ anlangt. Alles in ihrem Leben sei nun »an Ort und Stelle« (»everything is in place«). Die Zeit steht deswegen freilich nicht still, sondern entfaltet sich gleichsam »an Ort« als Prozess per se, der sowohl Zukunft als auch Vergangenheit absorbiert. Die diese ›journey‹ strukturierenden herausragenden biographi54 | Hans Blumenberg, 1986, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am
Main.
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184 | »New World Horizon« schen Ereignisse – die Erscheinung des Geistes des toten Vaters auf den Cook Inseln, die Meditationsanweisungen des Zen-Lehrers in Korea – lassen sich nicht als »Wendepunkte« fassen, sondern eher als Wegbiegungen, die den Lebenspfad als Ganzes in seiner Ausrichtung konfirmieren. Sie enthalten in beiden Fällen einen Aufruf zum Handeln, in der Meditation prononciert als Handeln um des Handelns willen. Als permanenter »Zustand« lässt sich dieses Handeln dann am Ende des zurückgelegten Weges mit der Ankunft im Cambridge Zen-Center, das zum neuen Zuhause wird, verwirklichen. Damit kommt die Lebensreise nicht im Erreichen einer statischen Ordnung zum Abschluss, sondern gleichsam als bislang perfekteste Annäherung an die Prozesshaftigkeit des Handelns in Form des täglichen Meditierens und damit in der Form einer sich vorzu in die Zukunft hinein überbietenden, niemals Vergangenheit werdenden Gegenwart. Dies ist nicht die »breite« Gegenwart, von der Hans Ulrich Gumbrecht spricht und die dadurch entsteht, dass sich eine Vielzahl von Vergangenheiten in einer Gegenwart zusammendrängen, die so zu einem Raum äusserster zeitlicher Enge geworden ist, da ihr ein offener Zukunftshorizont, auf den hin das individuelle wie auch das gesellschaftliche Leben hin entworfen werden könnten, nicht mehr zur Verfügung steht. Die Zukunft steht in dieser Sicht für die Dimension der bevorstehenden Katastrophe eines möglichen Endes, die sich auch durch den Versuch, die Gefahr möglichst weit in die zeitliche Ferne zu schieben, nicht entschärfen lässt. Dadurch löst sich schliesslich der Zusammenhang der Zeitsphären auf: »Beide Bewegungen, die Verschiebung der drohenden Zukunft in eine fernere Zukunft und die Auffüllung der Gegenwart mit vielfältigen Vergangenheiten, konvergieren in dem Eindruck, dass in der nach-modernen sozialen Zeit die Gegenwart breiter wird (so breit, dass sie von keiner sich in Gegenwart transponierenden Zukunft mehr zur Vergangenheit gemacht wird). Eben deshalb hat man Anlass zu der Vermutung, dass die nach-moderne Zeit nicht eine weitere Epoche in einer (zum Beispiel: teleologisch geordneten) Epochen-Sequenz sei, sondern die geschichtsphilosophische Konstruktion der sich ablösenden Epochen tatsächlich beendet habe.«55 Die Vorstellung einer zeitlichen Linearität und die Idee einer linear gerichtet verlaufenden Geschichte, die den Kern des modernen Denkens bis in die jüngste Zeit ausmachten, lösen sich in dieser Sichtweise zugunsten einer »er55 | Hans Ulrich Gumbrecht, 1991, nachMODERNE ZEITENräume, in:
Robert Weimann, Hans Ulrich Gumbrecht, Hg., Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt am Main, 64.
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streckten« Gegenwart – wie dieser Zusammenhang andernorts genannt wird56 – auf. Der amerikanische Fall scheint jedoch dieser Zeitperzeption nicht zu folgen. Auch im Beispiel der Unitarierin N., der wir oben schon im Zusammenhang mit dem Konzept der ›journey‹ begegnet sind, liegt das Schwergewicht auf dem Handeln als Prozess und nicht auf Ordnungsvorstellungen mit klar gegebenen Inhalten, die die Welt definieren und in ihren Bestandteilen fixieren würden. Ähnlich wie J. wirft auch N. einen Blick zurück und führt die herausragenden Ereignisse ihres Lebens wie das Erlebnis der Emerson-Lektüre im College oder die Begebenheit mit dem Legen der Tarot-Karten an. Wie bei J. handelt es sich nicht im eigentlichen Sinne um Konversionsoder biographische Wendepunkterfahrungen, sondern um Bestätigungen einer gegebenen Entwicklung und damit um die Betonung von Kontinuität. Für beide, für N. wie für J., offenbaren sich in den entsprechenden Momenten »Wahrheiten«, die immer schon gewusst oder geahnt wurden, wenn sie auch bislang unausgedrückt blieben. Für beide verbinden sich mit diesen Erfahrungen ausserdem ein Imperativ des Handelns und – insofern Handeln immer eine weltzugewandte Haltung bedeutet – ein Sich-Identifizieren mit einer besonderen, auf das eigene Ich zugeschnittenen sozialen Rolle. Diese Rollen unterscheiden sich nun allerdings in den beiden Fällen beträchtlich. Während die Buddhistin J. einen eher »isolationistischen« Weg einschlägt und sich dies unter anderem darin äussert, dass sie sich kaum je während des Interviews auf andere Menschen in ihrem Umfeld bezieht – die herausragenden, etwas übermenschlich wirkenden Figuren des Vaters und des Zen-Lehrers ausgenommen –, sieht sich N. in einer sozialen Führungsrolle. Trotz dieses Unterschiedes ist jedoch vor allem eine weitere Gemeinsamkeit bemerkenswert: Sowohl J. als auch N. betrachten ihre ›journey‹ in ihrer jeweiligen Lebenssituation als beendet. Die Bewegung der Lebensreise kommt zum Stillstand, jedoch nur, um sogleich in eine neue, gegenüber der Zukunft völlig offene, »endlose« Bewegung einzumünden. In Anlehnung an Blumenberg – jedoch entgegen seiner eigenen Diagnose einer sich in der Moderne öffnenden Zeitschere von Lebenszeit und Weltzeit – kann man hier auch von einem Aufgehen von Lebenszeit in Weltzeit sprechen.57 56 | Helga Nowotny, 1995, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung
eines Zeitgefühls, Frankfurt am Main, 9. 57 | Vgl. Blumenberg (1986).
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Perfektionieren Am Beispiel des Katholiken C. lässt sich der zeitstrukturelle Aspekt individueller Identitätskonstruktion weiter verdeutlichen. C. ist Künstler. Er malt, und der Hauptteil des Interviews dreht sich um ein Erlebnis, das mit seiner künstlerischen Tätigkeit in Verbindung steht. Bereits fünf oder sechs Jahre zurückliegend, hat sich C. zusammen mit einem Teil seiner Familie sowie mit einigen Freunden nach Fatima in Portugal begeben, um dort den zu Ehren der 1917 drei Kindern erschienenen Jungfrau Maria errichteten Schrein zu besuchen. C. hat den Auftrag übernommen, im Rahmen dieses Aufenthaltes an einem Wandbild in der Nähe des Schreins zu arbeiten, auf dem eine Sonne sowie das von dieser ausgesandte, in einer Zickzackbewegung vom Himmel herniedergehende Sonnenlicht dargestellt werden sollen. Dieses Projekt bereitet C., da es – was C.s Fähigkeiten anbelangt – mit grossen Selbstzweifeln befrachtet ist, ausserordentliche Schwierigkeiten. Er begreift diese Aufgabe als eine ihm von Gott gestellte, glaubt jedoch nicht daran, dass er sie adäquat auszuführen im Stande ist. Er fühlt sich als Individuum herausgefordert und zugleich überfordert – jedenfalls aber auf die Probe gestellt: C: »Ähm well it never distinctly happened in church when I was praying – about this project I went to and I was trying to dedicate myself – ähm to äh doing this correctly and doing it with my heart and not just not just doing technical things but really painting with soul […].« I: »Mhm.« C: »And äh – you know I left the church, it was a very emotional moment for me – ähm and maybe five hours later – [or] three hours later, so I beca I became very ähm – I don’t know estranged from my environment« I: »Mhm.« C: »[I sat at the] dinner table with my with my family. My parents were there, and I had a cousin there from Austria« I: »Mhm.« C: »and there’s a couple of other people. A friend of mine was sitting there. I just I just couldn’t I couldn’t sit there anymore. I couldn’t com communicate with people [lacht]. So I I felt like I was I don’t know if I was sick or what, so I went upstairs lying down in bed and that’s when all this started happening.« I: »Mhm.« C: »Ääh my eyes are closed and I was very much – you know, in my own I I mean this is not probably not a typical – Catholic experience maybe it is I mean I don’t know. I guess there were there’ve been mystics who maybe
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4. Das transzendente Fundament amerikanischer Individualität | 187 could relate to this but ähm I don’t really I don’t speak about this often because I – I can’t really validate it. But I feel that had to do with this project that I was trying to do. And äh I [have felt] that I I had to ähm – inside of myself – dedicate myself with more strength, and I – I had to live my my faith more deeply« I: »Mhm.« C: »than I have been – or at least that I have been at the time. Ähm – and so I felt pu pulled away from it I didn’t wan maybe I didn’t want to do this project, didn’t feel strong enough to do it or whatever. And I felt sort of an an evil – temptation to turn into myself and not to […] anything. And not to not to try to make something of value, of spiritual value.«
C. versucht von innen heraus, mit Herz und Seele, und nicht nur unter Anwendung technischer Fertigkeiten, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Es scheint, wie wenn er eine Schwelle überwinden müsste, um dies zu leisten. Bei dieser Schwelle handelt es sich genauso um eine äussere wie um eine innere: Indem er zu seiner eigenen Seele vorzustossen und aus seinem inneren Wesen heraus zu arbeiten versucht, soll es ihm zugleich möglich werden, in eine nähere Verbindung zu Gott zu treten und damit am Transzendenten teilzuhaben. C. evoziert eine für den modernen Künstler seit der Romantik geläufige »existentielle« Dimension, diese bleibt jedoch einer dem Subjekt übergeordneten ›grossen‹ Transzendenz verpflichtet. Wie nahe diese ›grosse‹ Transzendenz am Subjekt »dran« ist, dennoch aber von ihm geschieden bleibt, zeigt sich an der grossen Anstrengung von C., dem ausserhalb von ihm liegenden Massstab zu genügen: Er versucht, die Dinge korrekt zu machen, sich voll der Arbeit zu widmen und sich ganz darauf einzulassen, um seinen Glauben im Prozess dieses Tuns zu bewähren und zu vertiefen. Hier kann man Anklänge an kulturell tradierte calvinistische Konzepte erkennen, vor allem die Angst, nicht zu den Auserwählten zu gehören. Vor dem Hintergrund einer »amerikanisierten« Variante des Katholizismus sind sie wohl auch erklärbar. Worauf hier jedoch der Blick gerichtet werden soll, ist der Akzent, der von C. auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten gelegt wird sowie auf die entsprechenden Implikationen, die dies für seine Perzeption von Zeit hat. Zuerst scheint C. nach einem emotionsgeladenen Aufenthalt in der Kirche gleichsam aus der Zeit herauszutreten. Plötzlich fühlt er sich seinen unmittelbaren Mitmenschen entfremdet und wie abgetrennt von allem Sozialen. C.s Kommunikationsfähigkeit bricht zusammen, und auch physisch muss er sich der Präsenz der anderen entziehen. Eine andere Wirklichkeit bricht über ihn herein, der er nicht auswei-
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188 | »New World Horizon« chen kann – sie ist stärker als er. Er zieht kurz in Betracht, dass er vielleicht krank sein könnte und sein merkwürdiges Verhalten vielleicht dadurch erklärbar wäre. Doch – wie er heute weiss – war dies keine Krankheit, sondern der Beginn einer besonderen Bewährungsprobe. Die ganze Erfahrung erscheint ihm nicht als typisch katholisch, schon eher als mystisch. Im Kern – und im Gegensatz zu den religiösen Erfahrungen der meisten anderen Interviewten – ist die Erfahrung nicht kommunizierbar, weswegen er darüber normalerweise auch nicht spricht. Dem Beobachter erscheinen diese religiöse Erfahrung und die Art und Weise ihrer Kommunikation tatsächlich nicht unbedingt als typisch katholisch. Viel Gewicht wird auf die persönliche Beziehung zu Gott gelegt. C.s Sorge kreist um die Frage, wie er den Anforderungen dieser Beziehung besser gerecht werden kann. Während diese Beziehungsfrage im Katholizismus durch die Taufe »gelöst« wird oder doch zumindest an Schärfe verliert, wächst sie sich im Protestantismus zur Bewährungsprobe des Einzelnen aus und impliziert entsprechend auch ein unterschiedliches Zeitverständnis – vor allem was die Dimension der Zukunft betrifft. Mit dem unter anderem von der Reformation auf den Weg gebrachten modernen Individualismus wird die Rolle des Einzelnen, insbesondere als sich der religiöse Hintergrund zu »verweltlichen« beginnt, im ›Heilsprozess‹ Thema. Prozesshaftigkeit tritt damit tendenziell an die Stelle einer heilsgeschichtlichen Statik, bei welcher die einzelnen zeitlichen Schritte in ihrer Abfolge klar gegeben sind, wenn sie sich auch einer eindeutigen Datierung entziehen und das Ende der Welt immer wieder verschoben werden muss. Erst durch die Auflösung des religiösen Weltbildes in der europäischen Neuzeit wird – wie Koselleck gezeigt hat58 – die offene Zukunft zu einem Thema werden und – mit der fortschreitenden Modernisierung – zum Problem. In der von C. gewählten Formulierung »to dedicate myself« wird deutlich, worum es geht: Er möchte sich nicht irgendetwas, sondern sich selbst in seiner Aufgabe Gott hingeben. Dabei ist das Ganze als Versuch angelegt: »I was trying to dedicate myself«. Grundlage dieses Versuchs ist das Streben nach Perfektion. Im Streben ist, solange es Streben bleibt, auch immer mitgemeint, dass es kein wirkliches Erreichen gibt, denn Perfektion ist Gott allein vorbehalten. Damit
58 | Reinhart Koselleck, 1987, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn
der Neuzeit, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck, Hg., Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, Poetik und Hermeneutik XII, München.
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bleibt jedoch auch jedes gegenwärtige Handeln mit einem Zukunftshorizont versehen, auf den es sich permanent richtet und von dem es seine Dynamik bezieht. Die Katholikin E., die streng katholisch ist und die sich nicht nur in der Kirche engagiert, sondern auch politisch im ›Pro Life Movement‹ gegen das Recht auf Abtreibung aktiv ist, geht einen Schritt weiter, bringt jedoch grundsätzlich den gleichen »Sachverhalt« zum Ausdruck: Auch für sie besteht der Sinn ihres Daseins in einer konstanten Anstrengung und in einem nie erlahmenden Bemühen, sich selbst als Mensch, der in der Gnade Gottes steht, zu perfektionieren. Dazu braucht es vor allem Disziplin und Widerstand gegen irdische Versuchungen aller Art. Im Gegensatz zu C., der tendenziell im Bemühen und im Versuchen stecken bleibt, glaubt E. sich im Bild Gottes tatsächlich perfektionieren zu können: »But if you keep seeking, if you keep asking, you know, the [knock] I will give to you does not mean I want a million dollars and I keep asking for it. It means – I – try to become the best human being, most in the image of God as I can. I ask God help me be your image. Help me become more more like you [in] goodness. That’s exactly the kind of thing that he will help us with. So ähm – I think that prayer: let me have the will to do this, it was answered in a in a major way where not only was I convinced for the moment but I believe I was very transformed.«
Trotz aller Disziplin und trotz aller Eigenverantwortung ist E. auf die Intervention Gottes beziehungsweise auf seine Gnade angewiesen. Die temporale Grundstruktur bleibt in beiden Fällen, bei E. und bei C., die gleiche. Für beide wird das Handeln in letzter Instanz von aussen motiviert. Damit findet auch die Verantwortlichkeit des Individuums seinen Halt nicht in sich, sondern nach wie vor transzendent verankert in einer über es hinausgreifenden Kraft – im vorliegenden Fall im christlichen Gott. Angesichts von dessen als übermächtig empfundener Präsenz kann man auch scheitern und lebt in entsprechender Angst, wie das Beispiel von C., weniger jenes von E., zeigt. Von Bedeutung ist jedoch in erster Linie, dass man es mit einem klar gerichteten Prozess und nicht mit einer Auflösung der Zeitstrukturen und einem damit einhergehenden Tendieren hin auf die Zeitdimension der Gegenwart als »Nur-Gegenwart« zu tun hat. Man riskiert einzig Verzögerung und Verlangsamung des Prozesses hin zur Perfektion. Bei C. wird dies besonders offensichtlich in seinem in Selbstzweifeln gründenden Zaudern. Aber auch E. hofft, mit
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190 | »New World Horizon« Disziplin und Gebet schneller voran zu kommen und keine Zeit zu verlieren. In beiden Fällen fehlt jedoch die inhaltsleere Ungeduld, die sich – folgt man der Fachliteratur zur Frage (post-)moderner Zeitstrukturen – einstellt, wenn der Erfahrungsraum, der sich durch die Vergangenheit konstituiert, und der Erwartungshorizont der Zukunft in die Gegenwart hineingezogen und dort »aufgelöst« werden. Bei C. und bei E. haben wir es demgegenüber eher mit dem Umstand zu tun, dass die Zeit des eigenen Lebens – die biographische Zeit – der Weltzeit als der übergeordneten Zeit eingeschrieben ist. ›Journey‹ genauso wie die Abweichung davon als Entfremdung und Versündigung sind Ausdruck »intakter« Zeitstrukturen. Die Imperative der Gegenwart werden dieser durch die Zukunft als projiziertem Zustand der Perfektion zugeschrieben. Die Sicherheit des Zukunftsempfindens ruht auf dem Glauben an einen Gott, der über alles und damit auch über die Ordnung der Zeit herrscht. Nun wird das nicht weiter erstaunen, da wir es in diesem Fall mit zwei gläubigen Katholiken zu tun haben. Bermerkenswert ist jedoch, dass sich die vorgefundene temporale Grundstruktur auch in den Äusserungen von Unitariern und Buddhisten findet.
Zukunftshorizont Wo immer wir es mit einem biographischen Suchprozess im Sinne einer ›journey‹ zu tun haben – und in dem dieser Untersuchung zugrunde liegenden empirischen Material ist dies fast überall der Fall –, nährt sich dessen Dynamik am Erwartungshorizont der Zukunft. Deutlich wird dies etwa beim Unitarier D., der sein Leben als Lernprozess versteht und der geradezu von einem Lerndrang getrieben wird: »… the whole idea is the idea of searching out for stuff, learning about other things, you know.«
Der Horizont dieses Auskundschaftens – das Verb »to explore« taucht in diesem Zusammenhang immer wieder auf – wird nicht durch konkrete inhaltliche Vorstellungen eines (End-)Zustandes gebildet, sondern auch bei D. durch einen Punkt in der Zukunft, an dem Handeln in seiner »reinsten« Form möglich wird: »[…] what I’m going to do with my life and how just getting there, getting to a point where I don’t need to worry about. I can do everything I want to do and like, you know, still […].«
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»I love learning as we go along«, meint D. und setzt das in einen transzendenten Zusammenhang, der dem Lernen erst seinen Sinn gibt: »Ähm – and spirituality’s your views on that, I think, your views on what is basically what is the overall, you know, what’s out there. [lacht] Anyways, and I don’t mean, and I mean, what’s what’s out there in the sense of like, you know, who’s kind of looking over your life, who’s kind of like, you know, what’s gonna be here when you’re gone, what’s gonna happen to you – you know, when you die, I guess, and right before you’re born whatever, you know, and the whole life cycle, and who’s who’s who’s really controlling it, who’s kind of looking at it? You know, who’s there beyond that, you know.«
Das einzelne Individuum, das der Zeit des Lebenszyklus unterworfen ist, weiss sich dennoch aufgehoben in einer übergeordneten Struktur. Die letzte Kontrolle von allem, was geschieht, also auch die Regie des individuellen Lebenszyklus, wird in die ›grosse‹ Transzendenz verwiesen. Die Zeit erhält ihre Richtung von einer über den Menschen hinausgehenden Dimension, die als »Spiritualität« bezeichnet wird. Einen ähnlichen Zusammenhang bringt R., ebenfalls Unitarier, zum Ausdruck, wenn er erklärt (siehe bereits oben), was ›seeking‹ für ihn bedeutet: »It’s always getting, being close. Maybe being close to God, being close to creation, being close to –«
Inhalte spielen auch hier zugunsten der Bewegung und des Prozesses selbst keine Rolle. Ob dasjenige, dem man näher kommen will, Gott genannt werden soll oder ob man ihm eine andere Bezeichnung geben will, ist zweitrangig für R. Es geht vielmehr darum, am Kreieren, am Schaffen nahe dran zu sein – also am Prozess, am Tun selbst, an dem jeder, wie R. an anderer Stelle sagt, Anteil hat. Ähnlich wie für den Katholiken C. handelt es sich auch für R. um einen Prozess der Annäherung ans Transzendente, nicht um das Erreichen eines Ziels. Er setzt dabei auf die Kirche als dem zumindest vorläufig besten Mittel, ihn den spirituellen Kräften näher zu bringen: R: »So the UU church is as close as I can get to it.« I: »Ya.« R: »But haven’t been able to find so far.«
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192 | »New World Horizon« Auch für A., eine Frau Mitte fünfzig, besteht das Wesentliche ihres Unitarierseins im Fortkommen auf einem eigenen Weg und in der nie endenden individuellen Suche nach Wahrheit auf diesem Weg. Und K., eine junge Unitarierin, spricht vor allem über den Prozess des lebenslangen Auskundschaftens. In diesem Prozess verändert sie sich nicht nur selbst, sie sieht sich darüber hinaus als eine Agentin des Wandels – »agent of change« – mit der Möglichkeit, die Dinge zu verändern. Wahrheit ist für sie nichts Statisches, sondern etwas, das vorzu aufgedeckt werden muss. So erhält man eine detailliertere Landkarte (»map«) und gelangt auf eine höhere Ebene der Erleuchtung. Die Landkarten-Metapher verweist wieder auf die Reise, die die Form der Lebensreise auf einen Zukunftshorizont hin annimmt und den Einzelnen immer wieder als im Prozess des Werdens begriffen versteht. Alle diese Beispiele richten sich auf einen im Transzendenten verankerten Zeithorizont der Zukunft, der dem gegenwärtigen Handeln Sinn verleiht, indem er ihm eine Richtung gibt. Der Horizont bleibt uneinholbar insofern er inhaltlich kaum bestimmt ist. Unter dem Gesichtspunkt des Prozesses bringt er jedoch das Handeln aus sich hervor und ist so ganz Gegenwart – gleichsam in die Gegenwart des Handelns hineingenommen. Am klarsten bringt dies der Unitarier J. zum Ausdruck, für den Transzendenz bestimmt wird durch die Tatsache, dass seine Lebensgeschichte noch nicht vorüber ist: »my story is still not over«. Und dies trifft nicht nur auf seine Geschichte, sondern auf die Geschichte als Ganzes zu, in der sich das Spirituelle nicht nur ausdrückt und die damit nicht nur Symbol des Transzendenten ist, sondern dieses selbst. Damit fallen Lebenszeit und Weltzeit in eins. Es verschwinden jedoch auch die gegeneinander abgrenzbaren Bereiche des Immanenten einerseits sowie des Transzendenten andererseits. Diese Individuen sind nicht von der Zeit Getriebene. Sie werden nicht von einem geschichtlichen Strom, der sich in der Zeit und als Zeit entfaltet, mitgerissen. Sie liegen jedoch auch nicht »quer« und unvermittelt zur Zeit. Die Zeit, sofern sie sich als ein Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstehen lässt, der durch den Spannungsbogen von Erfahrung und Erwartung gebildet wird, zerfällt hier nicht in die einzelnen zeitlichen Sphären beziehungsweise zieht sich nicht in die Zeitdimension der Gegenwart zurück, um als solche zum Absolutum zu werden. Vielmehr entfaltet sich die Zeit immer wieder von neuem aus der Gegenwart in die Zukunft hinein und mit ihr das Handeln der Individuen, das seinerseits
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die Zeit so erst hervorbringt. Deutlich wird dies an sich wiederholenden Formulierungen wie: »life changes as we go with the flow« und »being part of the flow of life« – Formulierungen, die Katholiken ebenso verwenden wie Buddhisten und Unitarier. Während die zweite Formulierung Passivität suggeriert, verweist die erste auf das aktive Individuum in einem übergeordneten Ganzen: der Wandel des Lebens ergibt sich durch das Schwimmen der Einzelnen – nicht durch das Sichtreibenlassen – im Strom. Wandel wird direkt mit den aktiven Individuen in Zusammenhang gebracht und erscheint als von ihnen hervorgebracht: »as we go«. Die Richtung wird durch den Strom (»flow«) gegeben. Sie ist für alle die gleiche. In dieser permanenten, gerichteten Bewegung drückt sich einerseits ein nie endender Wandel aus, sowohl, was die individuelle Biographie, als auch, was die Entwicklung der Gemeinschaft der Individuen (»we«) betrifft. Dieser Wandel verbindet sich andererseits mit einem Wahrheitsverständnis, das davon ausgeht, dass sich das Wahre entdecken beziehungsweise »aufdecken« lässt. Der etwa dreissigjährige Buddhist J. meint dazu: I: »Mhm. – You would say spirituality is about something beyond, something bigger or beyond or« J: »No no no I think that’s with – I’m sorry I didn’t I didn’t let you finish. That’s beyond what?« I: »Like that there is something beyond, would you say, something« J: »Yeah. Some like we have our way of seeing the world and the sense of spirituality is that – there’s something much bigger than my perception of the world and that the feeling of spirituality is that – I’m – close to [zögert] understanding it or I feel a certain closeness to it but I don’t see it. I don’t understand it. So it’s this lack of understanding. People don’t think of it in that way but if you analyze it you would say the lack of understanding in the sense of closeness generates this feeling of spirituality.« I: »– – So that lack of understanding is then what people call the power of religious experience […] and this is something powerful?« J: »Yeah. I mean I think that’s the essence of the religious experience – that that spirituality in the sense of – something big, something bigger than what I understand and I’m close to understanding. I just look a little bit harder. It’s like just around the corner. That’s a very strong – religious experience and what I think the essence of spirituality is.« I: »But then actually when you think about it like this it dissolves or when you try I mean – do you think it’s there is really such a thing as a power which is stronger?«
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194 | »New World Horizon« J: »Well I think it’s fun to think that way and I certainly participate in it quite a bit because of you know it makes me very excited to think ah I’m almost – just for the same reason I enjoy physics« I: »Mhm.« J: »where I’m about to understand something very profound about the world« I: »Mhm.« J: »aand äh – yeah it’s fun and it give it fuels some need in us but if you look at it this way you say yeah there is no end to it.« I: »Mhm.« J: »That’s I I always understand [it a bit].« I: »Mhm.« J: »And when I understand it then – then I’ll be going to the next thing.«
Für J. handelt es sich bei Spiritualität um etwas, das über die gegebene Welt hinausweist. Sie definiert sich damit als ›grosse‹ Transzendenz – »something much bigger than my perception of the world«. Trotz dieses deutlichen Ausgreifens in eine die Sphäre des Menschen überschreitende Dimension ist diese doch auch sehr nah. Man kann sich zwar kein klares Bild machen, aber man fühlt das Transzendente fast hautnah. Kennen kann man es nicht – Spiritualität und damit religiöse Erfahrung haben für J. mit der Erfahrung eines unüberwindbaren Wissens- und Wahrnehmungsdefizits (»this lack of understanding«) zu tun. In der Nähe zum Transzendenten einerseits sowie in seiner Unerreichbarkeit andererseits baut sich eine Spannung auf, die die Zeit vorantreibt oder – vielleicht besser – überhaupt erst hervorbringt, da in dieser »Konstellation« ein Ende der Bewegung beziehungsweise ein Ziel, welches wirklich erreicht würde, nicht mitgedacht wird. Der Prozess bleibt offen. Wir haben es gleichsam mit einem Prozess »um seiner selbst willen« zu tun. Von einer existenziellen Verunsicherung, die durch eine solche Offenheit hervorgerufen werden könnte, fehlt allerdings jede Spur. Im Gegenteil: die Tiefe des Weltempfindens – »I’m about to understand something very profound about the world« – bereitet Vergnügen (»fun«). Wann immer J. eine »Teilwahrheit« entdeckt und versteht, bricht er auf zum Nächsten: »And when I understand it then – then I’ll be going to the next thing.« Als Buddhist setzt er an anderer Stelle des Interviews zwar einige Fragezeichen hinter dieses andauernde Fortschreiten und Suchen beziehungsweise Entdecken eines über diese Welt hinausgehenden Höheren und kontrastiert dieses Streben mit der Forderung der buddhistischen Lehre, nicht in die Zukunft ausgreifen zu wollen und nur im Moment zu leben. Die Mächtigkeit die-
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ser Bewegung und ihrer besonderen Dynamik ist jedoch zu stark, als dass man sich ihr entziehen könnte. Das Wahre, das so zugänglich wird, ist immer nur ein Teil oder besser vielleicht: ein Schritt, auf welchen immer wieder ohne Ende weitere Schritte folgen. J.s Bestreben gilt nicht einem Statisch-Immergleichen, mit dessen Auffinden sich Erfüllung einstellen würde. Das »Mysterium« besteht gleichsam räumlich in der unauslotbaren Tiefe ebenso wie zeitlich in der Unendlichkeit der suchenden Bewegung. Die Bewegung ist selbst Ausdruck des Wahren. Sie ist nicht Mittel zum Zweck, sondern, wie die notorische Formel besagt: der Weg ist das Ziel. Er führt nicht zum Ziel, sondern immer wieder auf sich selbst, auf die Bewegung als dauernde Transformation hin zum Besseren, zurück. Worauf es hier ankommt, ist die Offenheit dieses Prozesses einerseits, sowie das Engagement der Individuen als dessen konstitutive Träger andererseits. Daraus ergeben sich auf der theoretischen Ebene Schwierigkeiten mit den Kategorien der Transzendenz und der Immanenz. Denn obwohl klar auf ein Transzendentes Bezug genommen wird, findet dieses seinen Ausdruck in einem immanenten, von den Individuen getragenen und vorangetriebenen Prozess. Im Falle jener Handelnden, deren Religionsverständnis eine vergleichsweise traditionelle Gottesvorstellung zugrunde liegt, berührt sich die Sphäre des Transzendenten mit der Wirklichkeit der Welt und den Erfordernissen des innerweltlichen Lebens, indem die Begegnung mit Gott in Form einer engen, »freundschaftlichen« genauso wie »arbeitsteiligen« Beziehung Ausdruck findet. So ist für den Katholiken C. entscheidend, dass er mit der Gnade Gottes »zusammenarbeitet«: »I’m not simply a recipient. I I I’m called to – to do something. To achieve something, and only with that activity – ähm working together with with his grace, I guess«
Dieser aktive, nicht-kontemplative Weltbezug drückt sich auch in den Formulierungen der Katholikin L. aus, deren Beziehung zu Gott sich jedoch vergleichsweise stärker hierarchisch strukturiert und die Assoziationen zwischenmenschlicher Kollegialität vermissen lässt: »I’m having guidance in my life – and ähm – remembering God every day – as as part of my life. So ähm – – I I don’t see it as self-knowledge – but as making my life the way that God would want it to be.«
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196 | »New World Horizon« Letztlich ist jedoch auch dies eine Aufgabe, deren Lösung innerweltlich gefunden werden muss und die auf eine Bewährung im Leben zielt. Grundlage ist auch bei L. ein offener, relativ unbestimmter Prozess des Entdeckens: »As I go through life, it becomes clearer what I’m supposed to do – on this particular day or month, or for the next five years – because – all I have about my future is the very general idea«
Es ist diese allgemeine Idee, die den Prozess auslöst – angetrieben wird er jedoch durch die Handelnden beziehungsweise durch das Handeln selbst: »But as I – go through it, I learn more and more – about it – and I just have this inner sense when I’m doing the right thing, and when I’m not doing the right thing. I know when I’ve made a mistake, and when I’m right on track. I don’t know it’s a something – intellectual and emotional and spiritual all all together ähm«
Alles zielt auf der Grundlage eines Handlungsimperativs in Richtung Zukunft, und die einzige Gefahr besteht darin, dass man vom Weg abkommt. Die Dimension der Vergangenheit bleibt weitgehend ausgeblendet. Auch wenn von »Lernen« (»learning«) die Rede ist – was recht häufig der Fall ist –, ist damit kaum je ein Lernen aus vergangenen Erfahrungen gemeint, sondern ein Lernen im Sinne eines Aufdeckens von Wahrem, wozu Zeit notwendig ist: Zeitverbrauch als vorwärtsgerichtete, am Horizont der Zukunft ausgerichtete Bewegung, die immer Sinn macht. Zeitverschwendung, aber auch Leere der Zeit oder Langeweile – also ein Zeitüberschuss – oder aber Zeitknappheit finden sich kaum je thematisiert im verarbeiteten Interviewmaterial.
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5. Die Symbolisierung immanenter Transzendenz: das ›amerikanische‹ Individuum
Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung führen zur Frage, wie diese sich in den umfassenderen Kontext der amerikanischen Kultur und Geschichte einordnen lassen. Dieser Frage gilt in Bezug auf die leitende Fragestellung nach den Konzeptionen von Individualität dieses letzte Kapitel. Dazu soll zuerst nochmals der Faden der Individualisierungsdiskussion aufgenommen werden. Im zweiten Kapitel wurde ein Individualitätsverständnis erläutert, welches die Sozialwissenschaften mittlerweile zu ihrem fachtheoretischen Traditionsbestand zählen. Sie schliessen damit an eine doppelte Erbschaft der modernen europäischen Geschichte an, die in ihrem Verlauf zuerst das souverän-selbstbestimmte, weltschöpfende Subjekt und dann das an den Folgen dieses Anspruchs leidende und aufgrund der veränderten Gesellschaftsstruktur dem »System« unterlegene, mit der Fragmentierung seiner Identität kämpfende Individuum hervorgebracht hat. Zwei Varianten der Reaktion auf diese historische Entwicklung lassen sich heute finden, von denen die eine den beschwerlichen Gegenstand ›Subjekt‹ durch Toterklärung beseitigt oder ihn zumindest aus der Gesellschaftstheorie ausquartiert, während die andere sich nun erst recht und mit neuem Nachdruck dem einzelnen Menschen als Handelndem zuwendet, um herauszufinden, wie gerade unter den für das Individuum ungünstigen Umständen der »späten« Moderne persönliche Identität entstehen
2006-12-07 12-51-31 --- Projekt: T625.sozialtheorie.matter.amerikanische / Dokument: FAX ID 0154133476302994|(S. 197-237) T01_05 kap.5.p 133476303962
198 | »New World Horizon« kann.1 Beiden Zugangsweisen ist gemeinsam, dass sie die Moderne und das Individuum in einem Verhältnis problematischer Vermitteltheit – eigentlich: gegenseitiger Unvermittelbarkeit – denken, insofern als die moderne Gesellschaft aufgrund ihrer komplexen, ausdifferenzierten Struktur dem Menschen den Boden der »natürlich« gewachsenen und geordneten einen identitätssichernden Gemeinschaft entzogen hat. Dabei sind Moderne und Individuum ihrer historischen Genese nach alles andere als voneinander unabhängige Grössen, sondern je dem anderen das Konstituens: die Würde des selbstbestimmten Subjekts als Inhaber von ihm allein aufgrund seiner Qualität als Individuum zukommenden Menschenrechten und die Epoche der Moderne bilden die zwei Seiten derselben Medaille einer besonderen historischen Entwicklung im Europa der letzten dreihundert Jahre. Nach dem optimistischen Aufbruch der Aufklärung ins »individuelle Zeitalter« hat sich der Horizont für das Individuum heute allem Anschein nach jedoch merklich verdüstert. Aus dem weltschöpferischen und sich schliesslich selbst zum Gott stilisierenden Einzelnen, der sich noch im 19. Jahrhundert nicht ohne den moralischnormativen Spiegel der Gesellschaft verstehen und definieren konnte und sich gerade (auch) deswegen in der Privatsphäre der bürgerlichen Familie ein vor den gesellschaftlichen Zwängen Schutz bietendes Refugium einzurichten suchte2, wurde, über die Zwischenstufe des heroischen Ich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das »defensive Selbst«3, welches, nachdem es mittlerweile auch aus den herkömmlichen Klassenlagen entlassen worden ist4, scheinbar nur noch ad hoc und aus der jeweils gegebenen Lebenssituation heraus auf die vielfältigsten Lebensstilvorgaben und auf die zahlreichen Imperative der Selbstgestaltung reagiert, ohne dass dabei ein »gesellschaftliches Ganzes« überhaupt noch überschaubar in den Blick geriete. Wie ernst auch immer man die Lage dieses »spätmodernen« Individuums einschätzen mag – historisch neu ist diese Diagnose 1 | Vgl. Anthony Giddens, 1991, Modernity and Self-Identity. Self and
Society in the Late Modern Age, Cambridge, England. 2 | Vgl. Philippe Ariès, Georges Duby et al., 1985-1987, Histoire de la
vie privée, tome 4, Paris. 3 | Michael Sonntag, 1999, »Das Verborgene des Herzens«. Zur Ge-
schichte der Individualität, Reinbek bei Hamburg, 232. 4 | Siehe Ulrich Beck, 1987, Beyond Status and Class: Will there be an
Individualized Class Society?, in: Volker Meja, Dieter Misgeld, Nico Stehr, eds., Modern German Sociology, New York.
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nicht und in Literatur und Kunst seit mehr als hundert Jahren diskursiv verfügbar.5 Auch die Soziologie kennt den Problemzusammenhang von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Individualisierung, der in Georg Simmels ›Kreuzung der sozialen Kreise‹ theoretisch subtil zum Ausdruck gebracht wurde, seit ihren Anfängen.6 Dabei haben sich die Lösungsstrategien, die in Bezug auf die Problemlage des modernen Individuums entwickelt wurden, in unterschiedlichen Ausprägungen einer modernen Individualitätssemantik und in neuen Deutungsmustern individueller Selbstbeschreibung niedergeschlagen, bei denen, wie säkularisiert sie auch immer erscheinen mögen, der religiöse Ursprung der Semantik erkennbar bleibt. ›Säkularisierung‹ kann demnach – in Revidierung einer lange Zeit gültigen sozialwissenschaftlichen Grundüberzeugung – hier auch nicht in erster Linie Auflösung, sondern Umformung des in langer kultureller Tradition gewachsenen Religiösen meinen. Die Religion hinterlässt ihre Spuren deutlich im autonomen Subjekt der Moderne, welches, zumindest unter funktionalem Gesichtspunkt, sich selbst in seinem Absolutheitsanspruch Gott und Religion zugleich ist. Das Absolutum ›innerer Erfahrung‹ und eines kommunikativ unzugänglichen Inneren der Seele und des Ich, auf dessen Suche sich die Individuen im 20. Jahrhundert in der westlichen Hemisphäre in grossen Scharen und unter Anleitung ihrer Experten gemacht haben, trägt die »klassischen« Züge der Religion, insofern ihm die Unterscheidung der beiden Bereiche des Transzendenten und des Immanenten beziehungsweise die Differenz von ›heilig‹ und ›profan‹ nach wie vor zugrunde gelegt wird. Das Reich der ›grossen‹ Transzendenz ist dabei ins ›heilige‹ Ich eingerückt. Die religiöse Grundfigur bleibt jedoch die gleiche. Damit sind zwar die religiös-kulturellen Wurzeln des modernen Individuums identifiziert, von besonderem Interesse sind jedoch vielmehr die Konsequenzen, die sich daraus für den Einzelnen heute ergeben. Das Individuum ist in dem Masse ›modern‹ geworden, wie sich der Gegensatz von immanenter Diesseitigkeit und ›grosser‹ Transzendenz ins Subjekt verlagert hat. Aus einem ›Weltbild‹, das noch weit über die Reformation hinaus um die Achse von Diesseitigkeit 5 | Vgl. in diesem Zusammenhang immer wieder den Bezug auf den
»Prototypen« des modernen Individuums bei Robert Musil, so z.B. Peter L. Berger, 1988, Robert Musil und die Errettung des Ich, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, Heft 2, 132-142. 6 | Georg Simmel, 1992 (1908), Soziologie. Untersuchungen über die
Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main.
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200 | »New World Horizon« und Jenseits angeordnet war, wird ein ›Subjektbild‹, bei dem die durch diese Achse gegebene Differenz von Immanenz und Transzendenz verinnerlicht wird. Damit wird in letzter Konsequenz die Differenz zur Welt aufgehoben, obwohl gerade durch diese Differenz – vor allem in ihrer Form als Differenz zur Gesellschaft – die Identität des Subjekts befestigt werden sollte. Schliesslich ganz bei sich selbst angelangt, wird ein weiteres Transzendieren unmöglich. Sobald dieses Ich in den Zustand der absoluten Unhintergehbarkeit gehoben ist – über das ›wahre Ich‹ kann nicht hinausgegangen werden –, erschöpft sich auch der Raum der Transzendenz. Das Individuum, das so ganz in den Besitz seiner selbst zu gelangen hoffte, ist nun vom »Selbstverlust« bedroht: Der Bruch von Immanenz und Transzendenz geht durch das Subjekt selbst hindurch und produziert die paradoxe Situation, dass das Individuum immer zugleich sich selbst und mehr als sich selbst sein soll. Es ist Gott und Gläubiger in einem. Ein solcherart gesteigertes Subjekt verliert seine Transzendenzspielräume und damit auch die Möglichkeit, die eigene Identität durch Absetzung von der Aussenwelt als des anderen, des Nicht-Ich, zu formieren. Es verliert mögliche Räume ›grosser‹ Transzendenz, die über es hinausreichen und ihm einen Ort im Ganzen der Welt zuordnen könnten. Dieser existentiellen Extremlage versuchen die Individuen zu entkommen, indem sie das Ich ganz im Sinne eines »richtigen« Gottes als letztlich unergründliches Geheimnis begreifen. Ein unabschliessbares Bemühen um »Selbstfindung« wird dann Programm. Als andere Strategie kann die Suche nach neuen und alten Räumen der ›grossen‹ Transzendenz innerhalb der modernen Gesellschaft gewählt werden, als deren Folge sich – Ironie der Entwicklung? – am Ende die Varianzbreite dessen, was sich unter modernen Bedingungen als ›Religion‹ bezeichnen lässt, erheblich erweitert. So wird das Thema ›Religion‹ schliesslich auch für die Soziologie wieder interessant. Man kommt auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs auf dem Umweg über die ›Säkularisierung‹ wieder auf die Religion zurück und stellt sich heute einerseits die Frage, ob und wie Religion in der modernen Gesellschaft überhaupt noch möglich ist7, während man andererseits gleichzeitig in ebendieser Gesellschaft 7 | Vgl. Niklas Luhmann, 1987a, Brauchen wir einen neuen Mythos?,
in: ders., Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen. Vgl. auch Robert Wuthnow, 1992a, Rediscovering the Sacred. Perspectives on Religion in Contemporary Society, Grand Rapids, Michigan.
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überall Menschen auf der Suche nach dem Religiösen sichtet.8 Ausgehend vom Problem moderner Reflexivität eröffnet sich die Frage, ob dem Wunsch nach einer umfassenden Synthese des Weltbilds auf dem Boden eines rein innerweltlichen Weltverständnisses entsprochen und damit gleichsam »hinter« das Wegbrechen der ›grossen‹ Transzendenz der traditionellen Religion zurückgegangen werden kann. Entsprechend ergibt sich das Reflexivitätsproblem der Moderne in dieser Sichtweise aus dem Gegensatz von Moderne und Religion, an dessen Radikalität die Moderne ihr Selbstverständnis gewinnt. An einem Religionsbegriff, der sich an einem solchen Gegensatz orientiert, werden heute immer mehr Zweifel laut.9 In den Unterscheidungen von ›modern‹ und ›vormodern‹ beziehungsweise von ›modern‹ und ›traditional‹ drücken sich immer auch die Prämissen eines sozialwissenschaftlichen Denkens aus, das sich heute mehr oder weniger stark über die Lebendigkeit von Religion und Religiosität wundert. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs der ›Moderne‹ wird als Folge davon neu zur Diskussion gestellt, da das lange gültige Kriterium des Religionsverlusts beziehungsweise der Minderung der Bedeutung der Religion in modernen Gesellschaften immer weniger einleuchtet. Das gilt selbst für das am ausgeprägtesten »säkularisierte« Westeuropa, das, wenn auch eher hinter vorgehaltener Hand und immer ein bisschen skeptisch, mit religiöser Erfahrung und mit religiösem Ausdruck recht »innovativ« – das heisst auch: transkulturell – 8 | Einen Überblick über die Situation der Religion in Deutschland seit
dem zweiten Weltkrieg gibt Karl Gabriel, 1990, Von der »vordergründigen« zur »hintergründigen« Religiosität: Zur Entwicklung von Religion und Kirche in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Robert Hettlage, Hg., Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz, München; siehe auch Karl Gabriel, 1992, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg im Breisgau, sowie Karl Gabriel, 1996, Gesellschaft im Umbruch – Wandel des Religiösen, in: Hans-Joachim Höhn, Hg., Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt am Main; zu den Glaubensformen in der deutschen Gesellschaft der Gegenwart vgl. auch Klaus-Peter Jörns, 1997, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München. 9 | Siehe Joachim Matthes, 1992, Auf der Suche nach dem »Religiö-
sen«. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologica Internationalis 2, 129-142. Vgl. auch Robert W. Scribner, 1997, Hidden Transcripts in Discourses about Religion, Science, and Skepticism, in: Hartmut Lehmann, Hg., Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen.
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202 | »New World Horizon« experimentiert.10 Die jüngere Diskussion zur ›Säkularisierung‹ beziehungsweise zu deren Ausbleiben oder doch Relativierung zeigt, dass man heute eher geneigt ist, die Differenz von ›modern‹ und ›nichtmodern‹ oder ›vormodern‹ zu entschärfen und neu zu überdenken.11 Hermann Wellenreuther bringt das Problem auf den Punkt, wenn er die kognitiven Funktionslogiken moderner und christlicher Sinnsysteme einander gegenüberstellt und einen Kernidentifikationsgehalt des modernen Selbstverständnisses, das Streben nach »Rationalität« und »sicherem« Wissen und nach mehr Kontrolle über das eigene Schicksal, als Grundlage von beiden sieht und damit die Frage aufwirft, ob diese oft als Triebkräfte von Säkularisierung und Modernisierung identifizierten Faktoren wirklich zur analytischen Auseinanderhaltung der Sinnsysteme taugen: »Such a line of reasoning raises fundamental questions on the validity of the dichotomy ›Christianity – secularization‹, because according to this logic both are driven by the same causes; humanity’s urge for more security, control, and certainty regarding present and future life. Retreating to a monastery and dedicating one’s life to Christianity may not be all that different from retreating to a secluded valley in order to live a life in harmony with nature. Appeals to ›mother nature‹ and ›god the father‹ may answer the same quest for security, as the amassing of relics in the fifteenth or material possessions in the twentieth century does in a different way. The one provides security in the afterlife, the other security in this world.«12 Wenn auch die Grundfunktion von Religion als Quelle letzter Sinnsicherheit in der Moderne nicht verschwindet, damit der aus der Religion abgeleitete Sinnanspruch und dessen Befriedigung so aktuell bleiben wie eh und je, bleibt doch die Frage, wie es zur Verschiebung der Befriedigung dieses Anspruchs in die Welt hinein – als innerweltliche Aufgabe – kommen konnte. Hier gehen die historischen Entwicklungen der verschiedenen westlichen Länder und Kulturen je verschiedene Wege mit entsprechend unterschiedlichen Folgen für 10 | Vgl. in diesem Zusammenhang auch Fritz Stolz, 1991, »Alterna-
tive« Religiosität: Alternative wozu?, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 17, Sonderheft, 659-666. 11 | Vgl. dazu Paul Heelas, 1998, Introduction: on differentiation and
dedifferentiation, in: Paul Heelas, ed., Religion, Modernity and Postmodernity, Oxford. Zur Säkularisierungsdebatte vgl. Lehmann (1997). 12 | Hermann Wellenreuther, 1997, On the Public and Private Spheres,
Feelings, Passions, Beliefs in Christian, Secular, and Dechristianized Worlds, in: Lehmann (1997), 112.
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die dabei entwickelten Formen der Innerweltlichkeit. Moderne europäische Semantiken koppeln sich stärker ab von ihren religiösen Ursprungssemantiken als dies etwa – wie in dieser Untersuchung gezeigt wurde – nordamerikanische tun. Damit ist jedoch mehr impliziert als eine bloss unterschiedlich stark ausgeprägte Tendenz der Entwicklung innerhalb einer grundsätzlich gleich verlaufenden Moderne. Denn obwohl sich in beiden Fällen die gleichen Parameter moderner Entwicklung finden – technologischer und wissenschaftlicher Fortschritt mit den entsprechenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft, die Herausbildung moderner politischer und rechtlicher Institutionen –, lässt sich auf der Ebene der symbolischen Ausdeutung der Welt eine »qualitative« Differenz erkennen, die am Verhältnis zur Transzendenz greifbar wird: die besondere Art und Weise, wie ›grosse‹ Transzendenz im amerikanischen Fall innerweltlich in Erscheinung tritt und das Individuum mit der Gesellschaft zusammenschliesst, weist im Vergleich mit der absoluteren Trennung der Sphären des Immanenten und des Transzendenten beziehungsweise mit dem Verlegen der Differenz ins Individuum im »europäischen Fall« auf eine anders beschaffene Moderne hin. Dies macht es in jedem Fall problematisch, den Begriff der Moderne allgemein umgekehrt proportional an jenen der Religion zu koppeln. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde eine Annäherung an das amerikanische Moderneverständnis versucht, indem nach Vorstellungen von Individualität gefragt und gesucht wurde. Aus den mit den Amerikanerinnen und Amerikanern geführten Interviews liessen sich verschiedene Codes rekonstruieren, die die einzelnen einbezogenen Gruppen übergreifen. Sie verweisen auf einen Individualitätstypus, welcher mit seinem sozialwissenschaftlich rekonstruierten ›europäischen‹ Gegenpart deutlich kontrastiert. Grundlage dieses ›amerikanischen‹ Typus ist, was man als »Prinzip der ungebrochenen Transformation« bezeichnen könnte. Dieses findet besonders klar im lebensweltlichen Deutungsmuster der ›journey‹ seinen Ausdruck, bei welcher es sich um eine nach vorne offene Bewegung handelt, in die das Individuum als Handelndes »hineingestellt« ist. In dieser Bewegung drückt sich ein Ordnungsprinzip aus, das für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft gleichermassen gilt. Die beiden Grössen bleiben aufeinander bezogen, weil und insofern sie Teil des gleichen, in der Geschichte wirkenden transformativen Prozesses sind, der sich nicht inhaltlich, sondern als Bewegung per se definiert. Daraus resultiert eine zeitliche Unabgeschlossenheit und Unabschliessbarkeit, die für den amerikanischen ›Mythos‹ des Individuums genauso wie für jenen der Nation konstitutiv ist. Die indivi-
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204 | »New World Horizon« duellen biographischen Transformationsprozesse finden – wie ebenfalls gezeigt wurde – vor dem Hintergrund eines besonderen Verständnisses des Alltags statt, der das in verschiedenen Formen vorgestellte ›Heilige‹ in sich aufnimmt. In der Fusion der Sphären zeichnet sich eine Tendenz zur Dedifferenzierung ab, die jedoch – so die These – nicht in einer postmodernen Kondition ihre Ursache hat, sondern Ausdruck eines sich historisch kontinuierlich anders entwickelnden Modernitätsverständnisses ist, das vom europäischen Modell von Aufklärung und Moderne nicht oder nur zum Teil abgedeckt wird. Die Gründe dafür sind vielfältig, und es kann hier nicht darum gehen, die historischen Zusammenhänge und Entwicklungslinien im Einzelnen zu rekonstruieren. Dennoch: bei einer so umfassenden These, wie sie hier entwickelt wird, ist es nötig, den weit geöffneten Bogen der Argumentation durch Hinweise auf mögliche historische Plausibilitäten zu schliessen. Das soll im Folgenden versucht werden. Dabei geht es eher darum, Stücke eines roten Fadens der geschichtlichen Entwicklung aufzunehmen, als eine geschlossene Argumentation zu bieten. Der Anspruch ist pointillistischer, nicht systematischer Art. Wenn heute viel von einer »Wiederentdeckung des Heiligen«13 und von einer Wiederbelebung der Religion gesprochen und damit auf Diskontinuitäten der Entwicklung verwiesen wird, so lässt sich zumindest für den amerikanischen Fall einschränkend feststellen, dass diesbezüglich kaum etwas »wiederzuentdecken« war, ist doch das Heilige hier nie vom Horizont verschwunden. Mögliche Hinweise auf die Gründe für die kontinuierliche und mächtige Präsenz der Religion in der amerikanischen Geschichte lassen sich bis in die Anfänge der Besiedlung Neuenglands und bis zur Aufrichtung des calvinistisch-protestantischen Kosmos im 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Bereits hier finden sich die auch für die spätere amerikanische Entwicklung charakteristischen Verwischungen der für die Moderne gemeinhin als typisch erachteten Differenzen und Dualismen. Dies wird gleich zu Beginn der amerikanischen Geschichte – sofern man diese Geschichte mit der europäischen Auswanderung nach Neuengland beginnen lassen will – in einer aussergewöhnlichen temporalen Konstellation deutlich. Das Ziel dieser europäischen Religionsflüchtlinge bestand bekanntlich darin, an den Stränden der Neuen Welt das Königreich Gottes innerweltlich und damit als Erfüllung der Prophe13 | So Wuthnow (1992a).
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zeiung vom Neuen Jerusalem zu errichten. Damit wurde ein Neuanfang in der Welt gemacht, der seine Legitimation vom Ausserweltlichen her bezog. Der Bund der auserwählten »Heiligen« Neuenglands mit ihrem Gott war von Anfang an doppelter Natur: es war ein Bund vor der Zeit und in der Zeit zugleich.14 In seiner Absolutheit geht dieser Bund der Zeit und der Schöpfung voraus und transzendiert damit alle menschlich-weltlichen Dinge. Unterstrichen wird dies dadurch, dass die Grundlagen des ›covenant‹ der Puritaner mit Gott noch an Bord des Auswandererschiffs festgehalten wurden und damit der Bund auch in der Chronologie der historischen Ereignisse der Landnahme in Neuengland und der Schaffung einer neuen Welt vorausgeht.15 Er bietet sich damit nicht nur als ein Symbol für die ›grosse‹ Transzendenz jenseits der Welt an, sondern er ist selbst Teil dieser Transzendenz. Der Bund der Puritaner Neuenglands mit Gott ist gleichsam älter und etwas fundamental anderes als die Welt, worin die uneinholbare Einzigartigkeit dieses den Rest der Welt – vor allem die Nachwelt – manchmal etwas merkwürdig anmutenden Experiments besteht. Mit der Landnahme wird der Bund jedoch der innerweltlichen Bewährungsprobe ausgesetzt. Das hat man damals selbst gesehen: »What others saw as contradiction they described as complementary aspects, absolute and conditional, of the New England Way. Their covenant had a twofold nature, they observed. In one sense, it was predetermined, a decree ›established before the foundation of the world […] in the mind and will of God‹. In another sense, it was a contract in time, expressing a fallible human enterprise.«16 Die Bewährungsprobe richtete sich dabei an den einzelnen Auser14 | Für Harold Bloom besteht das Typische der amerikanischen Reli-
giosität in der ›Zeitlosigkeit‹ der Beziehung von Gläubigem und Gott. Das amerikanische Selbst ist nicht von dieser Welt, sondern selbst von Gott: »What makes it possible for the self and God to commune so freely is that the self already is of God; unlike body and even soul, the American self is no part of the Creation, or of evolution through the ages. The American self is not the Adam of Genesis but is a more primordial Adam, a Man before there were men or women. Higher and earlier than the angels, this true Adam is as old as God, older than the Bible, and is free of time, unstained by mortality.« Harold Bloom (1992), 15. 15 | Siehe Sydney E. Ahlstrom, 1972, A Religious History of the Ameri-
can People, New Haven, London, 146f. 16 | Bercovitch (1978), 48. Vgl. auch William A. Clebsch, 1968, From
Sacred to Profane America. The Role of Religion in American History, New York, 39ff.
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206 | »New World Horizon« wählten: »For Scripture and experience alike taught that personal salvation, like the worldwide work of redemption, was a matter of growth by degree.«17 Diesem Bemühen um Selbstperfektionierung konnte man sich nicht entziehen. Motiviert wird es nicht einfach aus der Differenz von Transzendenz und Immanenz, sondern von dem besonderen Charakter des innerweltlichen Experiments, das die Zusammenführung des Differenten in der Welt als dem einzigen dem lebenden Menschen zugänglichen Bereich versucht. Damit prallen jedoch göttliches Ideal und menschliche Wirklichkeit aufeinander. Auf diese Zerreissprobe reagieren die puritanischen ›Jeremiaden‹ des ausgehenden siebzehnten und des beginnenden 18. Jahrhunderts, die von den geistlichen Führern vorgetragenen ermahnenden Predigten, welche später in ihren säkularisierteren Varianten in der amerikanischen Gesellschaft immer wieder auftauchen und die den Zweck haben, die Realität am Ideal zu messen und die Defizite zu identifizieren, um so den nie endenden Prozess der Perfektion weiter voranzutreiben: »How far have we come?« und »Where are we headed?« lauten die Fragen, mit denen sich nicht nur das Individuum, sondern auch die gesellschaftliche Ordnung immer wieder einer Zwischenbilanz unterzieht.18 Es ist denn auch diese Spannung und das darin 17 | Bercovitch (1978), 48 (Hervorhebung C.M.). 18 | Siehe Sacvan Bercovitch, 1993, The Rites of Assent. Transforma-
tions in the Symbolic Construction of America, New York, London, 34. Zur Stellung der ›Jeremiaden‹ im historischen Zusammenhang und zu deren Rolle bei der Herausbildung des ›Mythos Amerika‹ siehe vor allem auch Bercovitch (1978). Zur historischen Kontinuität dieses Genre insbesondere auch noch nach 1945 siehe Paul Boyer, 1992, When Time Shall Be No More. Prophecy Belief in Modern American Culture, Cambridge, Massachusetts, London, England, 225ff. Siehe auch Daniel J. Boorstin, 1962, The Image or What Happened to the American Dream, New York, 261, der hier als Beispiel einer Äusserung in der Tradition des Genres der Jeremiaden – hier im Kontext des Kalten Krieges – angeführt werden kann: »We must first awake before we can walk in the right direction. We must discover our illusions before we can even realize that we have been sleepwalking. The least and the most we can hope for is that each of us may penetrate the unknown jungle of images in which we live our daily lives. That we may discover anew where dreams end and where illusions begin. This is enough. Then we may know where we are, and each of us may decide for himself where he wants to go.« Vgl. auch William Faulkner, 1955, On Privacy. The American Dream: what happened to it, in: Harper’s Magazine, July 1955, 33f., der sowohl die Zeitlosigkeit des ›American Dream‹ wie auch dessen Gefährdung thematisiert: »The dream, the hope, the
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immer als Möglichkeit mitaufscheinende Scheitern, die dem innerweltlichen Prozess seine Dynamik verleihen, sowohl für den Einzelnen in Form des Gewissenskonflikts als auch für das Kollektiv der »Heiligen«, die als Gemeinschaft dem göttlichen Plan eine innerweltlich-soziale Form zu geben versuchen, um damit dem göttlichen Ordnungszusammenhang in der Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Die herausragende Bedeutung der Individuen für dieses gleichzeitig (welt-)geschichtliche wie zeitlose Unterfangen ist bis heute trotz innerweltlicher Reformulierungen der Symbolik kaum verblasst und nach wie vor deutlich sichtbar. Ein erster Säkularisierungsschub und damit eine Anpassung an die Gegebenheiten der innerweltlichen Realität setzten früh ein. Wie Adam Seligman in seiner Untersuchung zur Herausbildung eines »innerweltlichen Individualismus« zeigt, sah sich die Gemeinde der Puritaner schon nach wenigen Jahrzehnten mit einer Profanisierung ihres religiösen Kosmos konfrontiert, die ihrerseits institutionelle Restrukturierungsprozesse zur Folge hatte. Angetreten mit dem hohen Anspruch, eine perfekte göttliche Ordnung weltimmanent – jecondition which our forefathers did not bequeath to us, their heirs and assigns, but rather bequeathed us, their successors, to the dream and the hope. We were not even given the chance then to accept or decline the dream, for the reason that the dream already owned and possessed us at birth. It was not our heritage because we were its, we ourselves heired in our successive generations to the dream by the idea of the dream. And not only we, their sons born and bred in America, but men born and bred in the old alien repudiated lands, also felt that breath, that air, heard that promise, that proffer that there was such a thing as hope for individual man.« Jedoch: »Then we lost it. It abandoned us. […] It is gone now. We dozed, slept, and it abandoned us. And in that vacuum now there sound no longer the strong loud voices not merely unafraid but not even aware that fear existed, speaking in mutual unification of one mutual hope and will. Because now what we hear is a cacophony of terror and conciliation and compromise babbling only the mouthsounds, the loud and empty words which we have emasculated of all meaning whatever – freedom, democracy, patriotism – with which, awakened at last, we try in desperation to hide from ourselves that loss.« Grundlage von Faulkners Klage ist der Verlust der Respektierung der Privatsphäre des Einzelnen insbesondere durch die Übergriffe des Journalismus. Wissenschaftlich variiert taucht das Thema eines die soziale Gemeinschaft und die Öffentlichkeit untergrabenden »Terrors der Intimität« beim u.a. in Amerika lehrenden Europäer Richard Sennett auf, vgl. Richard Sennett, 1992 (1974), The Fall of Public Man, New York, London.
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208 | »New World Horizon« doch immer mit dem Endziel der Errettung der Seele und der Erlösung aus der Welt – zu etablieren, war das puritanische Experiment – so Seligman – von Anfang an zum Scheitern verurteilt.19 Eine erste grosse Herausforderung noch im 17. Jahrhundert bildete die fehlende persönliche religiöse Regenerations- beziehungsweise Konversionserfahrung der Nachfahren der Einwanderer. Ohne das biographisch prägende Erlebnis der Flucht aus der Alten Welt und die damit verbundene unmittelbare Erfahrung der Auserwähltheit stellte sich für die zweite Nachfahrengeneration – die erste wurde aufgrund der direkten Abstammung von einem regenerierten ›Heiligen‹ automatisch in den Bund aufgenommen – die Frage, ob sie überhaupt zur Gemeinschaft der Heiligen gehören kann. Mit dieser Frage nach der Mitgliedschaft im Bund war jene nach den Grenzen der Gemeinschaft gestellt, und schliesslich wurde im ›Half Way Covenant‹20 ein Kompromiss gefunden, der eine Erweiterung der Gemeinschaft zur Folge hatte, die sich nun auch gegenüber den Kindern von so genannten unregenerierten, jedoch getauften Kirchenmitgliedern öffnete. Die relativ verworrenen und komplizierten Details dieser Kompromissformel interessieren hier nicht.21 Es kommt beim ›Half Way Covenant‹ jedoch ebenso wie bei weiteren Strategien der Anpassung an die nicht-idealen Gegebenheiten einer profanen Wirklichkeit – zu diesen Anpassungsleistungen gehören die Jeremiaden ebenso wie als 19 | Adam B. Seligman, 1994, Innerworldly Individualism. Charismatic
Community and its Institutionalization, New Brunswick, London, 200. 20 | ›Half Way‹ bezieht sich darauf, dass ein Mittelweg der Kirchenmit-
gliedschaft zwischen völligem Ausschluss einerseits und voller Mitgliedschaft andererseits für die Kinder von Eltern ohne direkte religiöse Regenerationserfahrung gefunden wurde. Die Eltern dieser Kinder mussten sich nun nicht mehr auf eine religiöse Erfahrung beziehen können, die sie – und ihre Kinder zumindest bis zum Zeitpunkt der Taufe – nicht gemacht haben, sondern sich lediglich intellektuell zu den Prinzipien des Kongregationalismus bekennen. Der Kernpunkt war in folgendem Punkt des Kompromisses enthalten: »Church Members who were admitted in minority, understanding the Doctrine of Faith, and publickly professing their assent thereto; not scandalous in life, and solemnly owning the Covenant before the Church, wherein they give up themselves and their Children to the Lord, and subject themselves to the Government of Christ in Church, their children are to be Baptised.« Williston Walker, ed., 1960, The Creeds and Platforms of Congregationalism. Boston, 328, zit. nach Seligman (1994), 130f. 21 | Für eine detailliertere Darstellung siehe Seligman (1994), 128ff.,
sowie Ahlstrom (1972), 158ff.
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Folge des ›Half Way Covenant‹ die Internalisierung der Gnadenidee ins individuelle Gewissen und die damit verbundene Verpflichtung zur Gewissens- und Selbsterforschung – darauf an, dass der von den Zeitgenossen als Bedrohung wahrgenommenen Verwässerung des Bundes mit Gott mit dem Versuch einer Institutionalisierung der Gnadenidee begegnet wurde, die sich schliesslich bis in die Phase der »Nationalisierung« im 18. Jahrhundert fortsetzt. Als sich der Bund nicht mehr über die innere individuelle, über jeden Zweifel erhabene religiöse Erfahrung absichern liess, weil sich die entsprechenden Erlebnisse aufgrund der veränderten biographischen und gesellschaftlichen Situation nicht mehr glaubhaft einstellen wollten, musste die Gnade im Kollektiv in Form religiös-moralischer Normen institutionalisiert und über die Internalisierung dieser Normen in die Gewissensstruktur des Einzelnen garantiert werden. Damit verschiebt sich die Grenze von ›heilig‹ und ›profan‹ ins Individuum, welches so durch die Teilnahme am Kollektiv Teil des göttlichen Heilsplans bleibt. Wir haben es entsprechend nicht mit einer Freisetzung des Individuums, sondern mit einer Form seiner Einbindung zu tun. Hier lassen sich schliesslich »säkularisiertere« Varianten eines innerweltlich formulierten Anspruchs auf ›grosse‹ Transzendenz anschliessen. Die Entwicklung im kolonialen Neuengland bildet, so Seligman, den Ausgangspunkt der späteren, typisch amerikanischen Säkularisierung der Gnadenidee. Sie weist voraus auf die fundamentale Rolle, die Moral und Gewissen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft nicht zuletzt in den Vorstellungen von »nationaler Tugend« und im Konzept der »civil religion« bis heute spielen: »For in the case of seventeenthcentury New England, we do not find the secularization of out-worldly grace, but rather its interiorization into the individual. It was only through this process that its emergence as a form of conscience could eventually emerge.«22 Rolle und Anteil des asketischen Protestantismus calvinistischpuritanischer Prägung bei der Herausbildung der Moderne sind heute, hundert Jahre nach Max Webers berühmter These, umstritten.23 Dass die von Seligman beschriebenen Mechanismen der Herausbildung eines innerweltlichen, ethisch autonomen, das heisst am sozia22 | Adam B. Seligman, 1990, Inner-worldly individualism and the in-
stitutionalization of Puritanism in late seventeenth-century New England, in: The British Journal of Sociology, Volume no. 41, Issue no. 4, December, 552. 23 | Vgl. David D. Hall, 1987, On Common Ground: The Coherence of
American Puritan Studies, in: William and Mary Quarterly, Vol. XLIV, No. 2, 226f.
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210 | »New World Horizon« len Kollektiv normativ ausgerichteten Individualismus zumindest für den amerikanischen Fall – den er im Übrigen selbst eher als »Sonderfall« moderner Entwicklung versteht und damit auf die historisch unterschiedlichen Verlaufsgeschichten der Herausbildung moderner individueller und kollektiver Identitäten verweist – von Bedeutung sind, lässt sich jedoch mit Bezug auf die weitere geschichtliche Entwicklung, insbesondere, wenn man die besondere Form der amerikanischen Aufklärung und der Nationsgründung berücksichtigt, vermuten. Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zur Zeit der religiösen Wiedererweckungsbewegung des Great Awakening, bricht die Spannung zwischen religiöser Erfahrung und institutioneller Ordnung erneut mit voller Wucht auf. Im Great Awakening stehen sich die religiösen Enthusiasten um George Whitefield und, insbesondere in Neuengland, Jonathan Edwards, die erneut die Konversions- und Regenerationserfahrung in den Mittelpunkt stellen und auch die millennialistische Tradition wiederbeleben, einerseits, sowie die Verteidiger jener aus den puritanischen Reformprozessen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hervorgegangenen Ordnung andererseits, gegenüber. Diese Bewegung kann – hier scheinen sich die Beobachter und Interpreten der Geschichte einig zu sein – in ihrer Bedeutung für die Herausbildung einer nationalen Identität und einer entsprechenden Symbolik kaum überschätzt werden.24 Während 24 | Insbesondere Bercovitch betont die Kontinuität von kolonialen und
nationalen Symbolstrukturen und damit von Jonathan Edwards bis Ralph Waldo Emerson als den beiden ihrerseits herausragenden Symbolfiguren des amerikanischen Selbstverständnisses: »We have been taught to contrast Edward’s Calvinist sense of depravity with Emerson’s cosmic optimism. Yet this image of sacred treasures in the bosom of a beneficent nature suggests something distinctly Emersonian: a new man in a paradisaical New World. He is a fallen creature, to be sure, but comparable nonetheless, as a latter-day American saint, to (say) Emerson’s Young American, aspiring in troublous times towards a lost organic wholeness which he only darkly understands and of which he remains still largely undeserving. The connection I speak of is not simply that between the Reformed and the Romantic concept of the self in process. Colonial hermeneutics bridges the considerable gap between christic auto-machia and Promethean self-creation in several important ways. It secularizes the scope and direction of the auto-machia; it recasts self-creation in terms of exegesis; and it obviates the traditional dialectic between secular and sacred selfhood by fusing both in the framework of auto-American-biography. For both Edwards and Emerson, the image of the New World invests the regenerate perceiver with an aura of ascendant millennial splendor; and for
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des Great Awakening, insbesondere in der Theologie von Edwards, verlagert sich der Erlösungsgedanke, der bis anhin auf die Gemeinschaft der Puritaner beschränkt war, auf die übrigen Kolonien und nimmt immer mehr die Form einer innerweltlichen Fortschrittsutopie an. ›America‹ wird zum Symbol für dieses innerweltliche, sich auf die Gesellschaft richtende Erlösungswerk.25 Auf die Aufklärung vorausweisend rücken nun das Individuum und die individuelle Initiative auf Kosten der geistlichen Autoritäten ins Zentrum.26 Die Differenz von »guter« Kirche und »schlechter«, erlösungsbedürftiger Welt wird eingeebnet mit dem Resultat einer zunehmend im Zeichen der Mission gelesenen »heiligen Geschichte« Amerikas. Indem die Erweckungsbewegung auch die südlicher gelegenen Kolonien erfasst, nehmen sich nun – was folgenreich vor allem für die nationale Demokratisierungsbewegung des 19. Jahrhunderts ist – die evangelikalen Protestanten aus den verschiedenen Regionen erstmals gegenseitig zur Kenntnis.27 Der auf die Welt und die sozialen Prozesse gerichtete religiöse Enthusiasmus, der sich die Perfektionierung der Welt im Namen des göttlichen Auftrags zur Aufgabe machte, äusserte sich unter anderem in einer ausgeprägteren Verschiebung endzeitlicher Erwartungen in die Welt und in den geschichtlichen Prozess hinein, damit also in einem Übergang zu stärker am Postmillennialismus orientierten Vorstellungen. Ernest Tuvesons Darstellung zufolge lässt sich die Herausbildung einer nationalen amerikanischen Missionsidee auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datieren, also in die Zeit nach dem Great Awakening.28 Die christliche Erlösungsidee wird nun zunehmend historisiert und säkularisiert und auf die Gesellschaft und die Geschichte übertragen. Bereits in der Offenbarung both of them, the perceiver must prove his regeneration by transforming himself in the image of the New World.« Sacvan Bercovitch, 1975, The Puritan Origins of the American Self, New Haven, London, 157. 25 | Ernest Lee Tuveson, 1968, Redeemer Nation. The Idea of America’s
Millennial Role, Chicago, London, 56f. 26 | Siehe John Corrigan, 1988, The Enlightenment, in: Charles H. Lip-
py, Peter W. Williams, eds., Encyclopedia of the American Religious Experience. Studies of Traditions and Movements, Vol. II, New York, 1101. 27 | Ahlstrom (1972), 293f. 28 | Tuveson (1968) führt Jonathan Edwards und seinen Schüler Joseph
Bellamy unter anderen als Kronzeugen der frühen Entwicklung eines am Diesseits orientierten Millennialismus an, a.a.O., 53ff. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts findet sich die Idee vermehrt ausgedrückt, dass Amerika den letzten Schritt innerhalb der ›translatio imperii‹ darstellt, a.a.O., 95.
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212 | »New World Horizon« des Johannes, auf die sich alles christliche Endzeitdenken bezieht, vollzog sich – so Tuveson – ein Wandel vom Epos zum Drama, welches der Prophezeiung eine neue Form verlieh. Auch wurde die Apokalypse in der Offenbarung erstmals in die Zeit hinein verlegt. Dies führt Tuveson zur Vermutung, dass sich in der Johannes-Offenbarung erstmals die Idee einer Geschichte als Fortschritt ausdrückte, die schliesslich – in der Folge der Reformation und der protestantischen Eschatologie des späten 17. Jahrhunderts – im innerweltlichen Heilsplan der Neuzeit und hier insbesondere in seiner amerikanischen Variante eine Zuspitzung erfährt.29 Die Vorstellung eines Heils in der Geschichte in Form der Herbeiführung eines ›Goldenen Zeitalters‹ – und damit die Gegenthese zu Augustinus Gottesstaat – eröffnet zudem eine neue Sicht auf die Quellen des Bösen. Nicht mehr in erster Linie die Ursünde, sondern Unwissen und Ignoranz der Menschen stehen nun im Zentrum. Auch zeichnet sich seit dem Great Awakening ein neues Verständnis der Kooperation zwischen Gott und Mensch ab, bei welchem die Individuen wesentliche Aufgaben im Rahmen des Heilsplans übernehmen. »Mitarbeiter Gottes« sollen die Menschen laut Joseph Bellamy, dem Schüler von Jonathan Edwards, sein, und er erwartet von ihnen vollen Einsatz: »to exert themselves to the utmost, in the use of all proper means, to suppress error and vice of every kind, and promote the cause of truth and righteousness in the world, and so be workers together with God«30. In die Tradition dieses Aufrufs stellt sich dann in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch die religiös verankerte Reformbewegung des ›Social Gospel‹.31 Auch die späteren Phasen der amerikanischen Entwicklung machen immer wieder deutlich, dass es zu einer Trennung von Religion und Moderne nicht gekommen ist.32 Besonders klar wird dies im 19. 29 | Siehe Tuveson (1968), 5ff. 30 | Joseph Bellamy, 1758, The Millennium, reprinted in: The Millenni-
um, a collection edited by David Austin, Elizabethstown 1794, 12, zit. nach Tuveson (1968), 59. 31 | Die Bedeutung der Religion, insbesondere der Erweckungsbewe-
gung, für die Reformbewegung des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland betont Thomas Nipperdey, der auf die sich rege entfaltende bürgerliche Vereinstätigkeit in diesem Zusammenhang hinweist, siehe Thomas Nipperdey, 1983, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München, 426f. 32 | Die religiöse Verankerung des geschichtlichen Prozesses zeigt sich
eindrücklich etwa an folgender Äusserung von John Quincy Adams, ameri-
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Jahrhundert, als die amerikanische Gesellschaft einen in seinem Ausmass beträchtlichen Schub der Demokratisierung erfährt. Während sich in Europa die Kräfte der Moderne über weite Strecken entweder gegen die Religion oder aber vor dem Hintergrund einer »aufgeklärten« Religion durchsetzen, ist es in Amerika das evangelikale, stark erfahrungsbetonte Christentum, das zu Beginn des Jahrhunderts in einer neuerlichen, breit ausgreifenden und die Menschen emotional aufwühlenden Erweckungsbewegung zur sozialen Trägerbewegung von Demokratie und Liberalismus wird.33 Nachdem im 18. Jahrhundert die das Land und die Nation definierenden symbolischen Grundlagen entwickelt worden sind, können in der Frühphase der amerikanischen Republik eine ganze Reihe neu entstandener religiöser Gruppierungen – Mormonen und Methodisten etwa – an diese Symbolik anknüpfen und sich selbst als Teil eines göttlichen Heilsplans begreifen, der sich letztlich im Werdegang der Nation als Ganzes offenbart.34 Das Zusammengehen von Religion und Moderne zeigt sich jedoch auch deutlich im anderen Weg, den bereits zuvor die amerikanischen Aufklärer im Vergleich mit ihren europäischen Gesinnungsgenossen eingeschlagen haben.35 Während sich in Europa die neue
kanischer Präsident von 1825-29, zur Amerikanischen Revolution und deren weltgeschichtlicher Bedeutung: »Is it not that, in the chain of human events, the birth-day of the nation is indissolubly linked with the birth-day of the Savior? […] Is it not that the Declaration of Independence first organized the social compact on the foundation of the Redeemer’s mission upon earth? That it laid the corner stone of human government upon the first irrevocable pledge of the fulfillment of the prophecies, announced directly from Heaven at the birth of the Savior and predicted by the greatest of the Hebrew prophets six hundred years before?« John Quincy Adams, 1837, An Oration Delivered on July 4, Newburyport, Massachusetts, 5-6, zit. nach Bercovitch (1993), 176. 33 | Siehe Nathan O. Hatch, 1990, The Democratization of Christianity
and the Character of American Politics, in: Mark A. Noll, ed., Religion and American Politics. From the Colonial Period to the 1980s, New York, Oxford; vgl. auch Nathan O. Hatch, 1989, The Democratization of American Christianity, New Haven, London, sowie Jon Butler, 1990, Awash in a Sea of Faith. Christianizing the American People, Cambridge, Massachusetts, London, England. 34 | Hatch (1990), 102f. 35 | William R. Hutchison spricht in diesem Zusammenhang von ei-
nem einsetzenden kulturellen Immanentismus (»cultural immanentism«),
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214 | »New World Horizon« Ordnung gegen die Kirche durchsetzt und weltanschaulich auf die Vernunft des innerweltlichen Subjekts gesetzt wird, zeichnet sich die amerikanische Variante der Aufklärung durch ein ausgeprägt moderates sowie auch didaktisches Element aus, das jedem radikalen Umsturz oder Bruch nicht zuletzt mit den religiösen Grundlagen der Gesellschaft skeptisch gegenübersteht.36 Überzeugt, dass sich wissenschaftlicher, technischer und gesellschaftlicher Fortschritt nur auf den Grundlagen einer in ihrem Kern unveränderlichen, stabilen Moral verwirklichen lassen, greifen die amerikanischen Aufklärer – sofern sie sich an Europa orientieren – mit Vorliebe auf die schottischen Moralphilosophen zurück und nicht auf die französischen Denker mit ihrem Hang zu radikaler Skepsis und zu Zynismus: »It is not hard to understand the conquest of academic America in the early nineteenth century by the philosophy of Common Sense. It was enlightened, moderate, practical, and easy to teach. It could be used to sustain or validate any set of ideas, but was in fact associated with the Moderate Enlightenment and moderate Calvinism. It was never antiscientific nor obscurantist, never cynical, and it opened no doors to intellectual or moral chaos.«37 Auf der Grundlage dieser »moderaten« Aufklärung und eines moderaten, innerweltlich umformulierten Calvinismus lässt sich dann auch die Revolution als Synthese von Religion und politischem Freiheitsideal sowie als Höhepunkt einer Entwicklung fassen, die mit der Reformation ihren Anfang nahm. Die Amerikanische Revolution hebt das Thema der Reformation, die in der Seele des einzelnen Gläubigen wirkende Gnade, auf die kollektive Ebene und »löst« so das alte, den Puritanern bekannte innerweltliche Ordnungsproblem: »When a whole community is impregnated with this redeeming grace, a new state of affairs arises, one in which justice, charity, and truth are the common motives of conduct.«38 In der Folge wird es dann darum gehen, die in Revolution und Unabhängigkeit dem Kollektiv der Nation geoffenbarten transzendenten siehe William R. Hutchison, 1976, The Modernist Impulse in American Protestantism, Cambridge, Massachusetts, London, England, 16. 36 | Zur Periodisierung und philosophisch-intellektuellen Ortsbestim-
mung der amerikanischen Aufklärung vgl. Henry F. May, 1978, The Enlightenment in America, Oxford. Seit einigen Jahren werden auch die deistisch orientierten amerikanischen Gründerväter einer neuen Interpretation unterzogen und auf die religiösen Grundlagen ihrer Weltanschauung hin untersucht. 37 | May (1978), 346. 38 | Tuveson (1968), 23.
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Imperative in die innerweltliche, gesellschaftliche Realisierung überzuführen: Der Kampf gegen die Sklaverei genauso wie etwa der demokratische Missionsgedanke (»make the world save for democracy«) stehen im Zeichen einer religiösen Semantik und Symbolik.39 Dieser – gewiss – selektive historische Abriss macht deutlich, dass sich die amerikanische Geschichte nicht anders als die Geschichte aller modernen Gesellschaften durch einen ausgeprägten Wandel auszeichnet. Dieser prägt sich vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker im Bewusstsein der Menschen ein.40 Legt man sozialen Wandel, vor allem dessen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmende Beschleunigung, der Definition von Modernität zugrunde41, und leitet man dann darüber hinaus das Besondere der Moderne von der Bedrohlichkeit dieses Wandels und von den daraus folgenden Restabilisierungsbemühungen ab, so fokussiert der Blick oft auf die »Tragik« einer sich selbst entlaufenden, identitätsgefährdenden und identitätszerstörenden Kulturepoche, 39 | Tuveson macht auf die religionsfundierte Semantik der amerikani-
schen Aufklärer und Unabhängigkeitskämpfer aufmerksam, so etwa wenn mit Wendungen wie »it was foretold« (John Adams) innerweltliche Erscheinungen auf ihren transzendenten Ordnungshintergrund rückbezogen werden – eine Redeweise, die sich bei den Schülern von Rousseau und Voltaire so wohl kaum finden lassen, siehe Tuveson (1968), 22. 40 | Allerdings wird er in den USA im Vergleich zu Europa positiv be-
wertet, vgl. Wolfgang Schivelbusch, 1977, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München, Wien, bes. 84ff. 41 | So z.B. Fanz-Xaver Kaufmann, der Modernität als Kategorie der
Bewegung versteht und damit durch Wandelbarkeit definiert. Modernität ist dann kein Epochenbegriff, der sich über feste Merkmale bestimmen lässt, und er verschliesst sich entsprechenden Versuchen – z.B. durch Religion –, die Krise der Moderne durch die Vorstellung einer wiederzugewinnenden totalisierenden Ganzheit zu überwinden: »Demgegenüber wird hier Modernität als Kategorie zur Bezeichnung bestimmter Merkmale der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung verwendet, insbesondere also des Merkmals der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Legitimation dieses Wandels als Bestands- oder Entwicklungsnotwendigkeit. ›Moderne Sozialverhältnisse‹ entstehen in dem Masse, als die Veränderung des Gegebenen zur akzeptierten Norm der faktischen Entwicklung wird.« Franz-Xaver Kaufmann, 1986, Religion und Modernität, in: Johannes Berger, Hg., Die Moderne – Kontinuitäten und Zäsuren, Soziale Welt, Sonderband 4, Göttingen, 288.
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216 | »New World Horizon« welche schliesslich auch die Kulturkritik in ihren mannigfaltigen Ausprägungen hervorbringt. Auf diese als defizitär empfundene Lage lässt sich durch ein Überschreiten nach vorne (zuerst utopischer Gesellschaftsentwurf, dann »Postmoderne«) oder aber nach hinten (»Tradition«, »Geschichte«) reagieren. Wo auch immer der Ausweg gesucht wird – die Moderne wird in einer solchen Sichtweise als mehr oder weniger gescheitertes oder überholtes Epochen-Projekt veranschlagt. Nicht jeder Begriff der Moderne baut sich jedoch als so zu lesende »Defizitgeschichte« auf. Und nicht jedem Begriff der Moderne liegen, wie der amerikanische Fall vermuten lässt, die gleichen Differenzfiguren zugrunde. Die amerikanische Geschichte, die sich aufgrund der besonderen (auch kurzen) historischen Entwicklung überhaupt nur als Moderne entfaltet hat und wo es allein aus diesem Grunde keinen rechten Sinn macht, Modernität als Epochenbegriff zu verwenden, weil man die Epoche als solche nicht gegen andere Epochen abgrenzen kann, folgt einem anderen Muster. Nicht zuletzt an der Frage nach der Zeit, genauer nach den in einer Kultur vorherrschenden Vorstellungen und gesellschaftsrelevanten Konzepten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, erschliessen sich wesentliche Aspekte kultureller Differenzen, die den Blick für den Variantenreichtum von Kultur schärfen. Während Untersuchungen der strukturellen und institutionellen Zusammenhänge immer wieder zum Ergebnis führen, dass sich alle westlichen Gesellschaften und damit auch die Vereinigten Staaten in ihrer Grundarchitektur gleichen, so weist gerade ein Kulturvergleich, der ›weltanschaulich‹ grundlegende Parameter, wie die Zeit einer ist, behandelt, auf die Unterschiede zwischen den aus der jüdisch-christlichen Traditionslinie herausgewachsenen Gesellschaften – vor allem der europäischen Gesellschaften einerseits sowie der amerikanischen Gesellschaft andererseits – hin. Untersuchungen, die sich mit der Zeit und deren Wahrnehmung beschäftigen, sind sich zwar in der Regel der Differenz zwischen eher linearen, gemeinhin dem westlichen Kulturraum zugeschriebenen Vorstellungen und eher zyklischen, in nicht-westlichen beziehungsweise vormodernen Kulturen vorfindlichen Wahrnehmungsweisen bewusst. Innerwestlich, insbesondere zwischen Europa und Amerika, wird jedoch kaum deutlich unterschieden, sieht man einmal davon ab, dass der amerikanischen Kultur – fast schon rituell – eine grössere »Dynamik« und ein rasanterer Wandel zugeschrieben werden.42 42 | So auch Rudolf Wendorff, 1985, Zeit und Kultur. Geschichte des
Zeitbewusstseins in Europa, Opladen, 498ff.
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Reinhart Koselleck geht von der europäischen Situation aus und hat vor allem an deutschen und an französischen Beispielen herausgearbeitet, wie sich seit dem 17. Jahrhundert neue, nicht mehr an der christlichen Weissagung ausgerichtete Zukunftsentwürfe durchzusetzen beginnen.43 Mit dem 17. Jahrhundert lösen sich Letztere von ihrer religiösen Symbolik und ihren eindeutigen Bezügen auf die Heilige Schrift. Damit richtet sich die Beschäftigung mit der Zukunft von christlichen Endzeitvorstellungen ab und neuen zeitlichen – ›neuzeitlichen‹ – Konzepten zu. Die Herausbildung neuer Zeitstrukturen zieht sich dabei über einen viel längeren Zeitraum. Nach Koselleck erstreckt sie sich über rund dreihundert Jahre, von etwa 1500 bis 1800, also bis in die so genannte »Sattelzeit«44 des späten 18. Jahrhunderts. In diesen Jahrhunderten erfährt die europäische Geschichte eine Verzeitlichung, die in einer für die Moderne typischen Beschleunigungserfahrung kulminiert.45 Anfang und Ende dieses Zeitfadens bilden die Reformation einerseits sowie die Französische Revolution andererseits. Bereits für die Zeit der Reformation lässt sich eine Verkürzung der Zeit feststellen, noch ist diese aber an der christlichen Endzeiterwartung ausgerichtet. Luther erwartete, dass das Weltende mit grosser Geschwindigkeit herannaht und unmittelbar bevorsteht.46 Alles richtet sich noch am göttlichen Kosmos aus. Die Französische Revolution bringt demgegenüber eine Verschiebung von der Transzendenz in die Immanenz, indem die Zukunft nun in den Aufgabenbereich des im Diesseits handelnden Menschen fällt. Auf diese längere Übergangszeit von etwa dreihundert Jahren, in der sich ein neuartiges Zukunftskonzept herauskristallisierte, kommt es 43 | Reinhart Koselleck, 1992a, Vergangene Zukunft der frühen Neu-
zeit, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, 26f. 44 | Unter der »Sattelzeit« versteht Koselleck für die europäische Ge-
schichte den Zeitraum seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mit welchem ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer Topoi und Begriffe einsetzt und »sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt«, mit der Folge, dass entsprechende Begriffe ein Janusgesicht erhalten: »rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können, die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen. Begrifflichkeit und Begreifbarkeit fallen seitdem für uns zusammen«. Koselleck (1972), XV. 45 | Koselleck (1992a), 19. 46 | Koselleck (1992a), 21.
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218 | »New World Horizon« hier weniger an, als auf das Ergebnis dieses Prozesses, das in der »Sattelzeit« sichtbar wurde und sich in den darauf folgenden zweihundert Jahren bis in die Gegenwart hinein weiterentwickelte. Entscheidend für die »Verweltlichung« der Zukunftsvorstellungen war eine seit der Reformation und als Folge der Religionskriege einsetzende Trennung von Politik und Religion, die die Zukunftsgestaltung zunehmend in den Kompetenzbereich der Politik verlagerte. Die Religion, durch die Religionskriege diskreditiert, konnte die Rolle einer glaubwürdigen Einheits- und Friedensstifterin nicht mehr übernehmen. Friede – worauf Koselleck hinweist47 – war von nun an nicht mehr mit der Einheit der Religion identisch, sondern wurde gleichbedeutend mit der Einfrierung des unlösbaren religiösen Konflikts. Politik statt Religion lautete nun die Formel.48 Aus der religiös aufgeladenen Zukunft wurde damit ein in der politischen Auseinandersetzung zu definierender, die destruktiven religiösen Energien neutralisierender zeitlicher Leithorizont. Das Ergebnis ist eine »neuartige Zukunft« (Koselleck), für die religiös-endzeitliche Erwartungen keine entscheidende Rolle mehr spielen: »Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Erwartungen gläubiger Christen oder Weissagungen jedweder Art in politische Handlungen umsetzen, war seit 1650 dahin. Politische Berechnung und humanistischer Vorbehalt steckten einen neuen Horizont der Zukunft ab. Weder das grosse Weltende noch die vielen kleinen konnten anscheinend dem Lauf menschlicher Dinge etwas anhaben. Statt der erwarteten Endzeit hatte sich tatsächlich eine andere, eine neue Zeit eröffnet.«49 Mit dieser Erfahrung geht ein zunehmendes Auseinanderklaffen von Vergangenheit – als ›Erfahrungsraum‹ – und Zukunft – als ›Erwartungshorizont‹ – einher. Der Anteil an Erfahrung, die, definiert als gegenwärtige Vergangenheit, welche erinnert werden kann und sowohl rationale Verarbeitung wie auch unbewusste Verhaltensweisen enthält50, orientierungsstiftend in die Gegenwart hineinwirkt, geht 47 | Koselleck (1992a), 23. 48 | Vgl. jedoch Nipperdey (1983), 404ff., der auf die nach 1815 in
Deutschland stattfindende neuerliche »Wendung zur Religion« verweist, welche nicht nur die Konservativen, sondern auch die Liberalen mitmachen und die schliesslich im zweiten Jahrhundertdrittel in eine offene Konfessionspolemik mündet. Insbesondere auch die preussischen Reformer in ihrer Ablehnung der Französischen Revolution suchen die Gesellschaft und den Staat auf Religion zu gründen. 49 | Koselleck (1992a), 27. 50 | Siehe Koselleck (1992), 354.
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mit dem beschriebenen Umbruch der Zeitwahrnehmung zurück. Die Zukunft, die im christlichen Weltbild an die Vergangenheit rückgebunden blieb, löst sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend von dieser und der aus ihr gewonnen Erfahrung ab, und an die Stelle der christlichen, durch die Institution der Kirche kontrollierten und domestizierten Endzeitlehre tritt ein inhaltlich offener, das heisst von nun an durch die Menschen selbst zu bestimmender und zu gestaltender Zukunftshorizont – das »Wagnis einer offenen Zukunft« (Koselleck). Neue Erfahrungen, die sich aus den Entdeckungsreisen nach Übersee und aus neuen Erkenntnissen in Wissenschaft und Technik ergeben, machen ältere Erfahrungen obsolet: »Der Erfahrungsraum wurde seitdem nicht mehr durch den Erwartungshorizont umschlossen, die Grenzen des Erfahrungsraumes und der Horizont der Erwartung traten auseinander.«51 Dies ist die Geburtsstunde der neuzeitlichen Geschichte und der im 19. Jahrhundert prosperierenden Geschichtsphilosophien, die sich um die Zukunft streiten. Die Dynamisierung und Vervielfältigung der Erfahrung zersetzt die absolute Wahrheit des christlichen Geschichtsentwurfes und schärft das Bewusstsein für die Standortgebundenheit des Historikers. Mit der beschleunigten Erfahrungsveränderung erschliesst sich ein jeweils neuer Interpretationsbedarf für Geschichte. Die Zeit wird jetzt selbst zu einer Kraft der Geschichte52, und das Neue, das das Alte in immer schnellerem Rhythmus ablöst, steht im Konkurrenzkampf der geschichtsphilosophischen Entwürfe unter ständigem Bewährungsdruck. Statt der religiösen Prophetie, deren Inhalte auch durch das zeitliche Nichteintreten des Vorausgesagten nicht in Zweifel geraten und von einer – so macht es zumindest den Anschein – relativ hohen Toleranz gegenüber Verschiebedaten für die Realisierung des Prophezeiten begleitet werden53, gewinnt nun die Zukunftsprognose Raum und mit ihr die Notwendigkeit, zu planen und zu gestalten. Die Zukunft, jetzt innerweltlich gefasst, soll besser werden als die Gegenwart und die Optimierung der Letzteren im Hinblick auf die Erstere ist der Zweck allen geschichtsphilosophischen Strebens. Die Perfektion der Welt und des Menschen wird nun auf die Fahnen der Philosophen und der Politiker geschrieben, und die Verantwortung für die Erreichung des Ziels lässt sich nicht mehr an die Wirkmacht ›grosser‹ Transzendenz delegieren. Damit ist aber auch klar, dass der Beweis für die Richtigkeit des von den Ge51 | Koselleck (1992), 364. 52 | Vgl. Koselleck (1987), 278. 53 | Koselleck (1992a), 30.
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220 | »New World Horizon« schichtsphilosophen kreierten Weltentwurfs zuerst erbracht werden muss, was nur durch Bewährung in der Zeit gelingen kann. Daher auch die Vorstellung, dass sich Zeit dynamisiert, denn auf Zeit, auf Zeitgewinn, kommt es jetzt an – ein Problem, vor das sich die christliche Erlösungsreligion nicht gestellt sieht, denn alle ihre Wege führen früher oder später – einerlei, welche Umwege aufgrund der unerfindlichen Ratschlüsse Gottes zuerst noch unter die Füsse genommen werden müssen – zum ewigen Leben: »Die rationale Prognostik bescheidet sich in innerweltliche Möglichkeiten, produziert aber eben dadurch einen Überschuss stilisierter Weltbeherrschung. Immer spiegelt sich in der Prognose die Zeit auf überraschende Weise; das immer Gleiche der eschatologischen Erwartung wird abgelöst durch das immer Neue einer sich entlaufenden Zeit, die prognostisch eingefangen wird.«54 Das hat Folgen für die Gegenwart. Während die Zukunft in einem solchen Zeitverständnis immer unbekannt und damit offen bleibt, zieht sich doch alle Aufmerksamkeit wie in einem Sog in ihr zusammen. Zwischen einer solchen Zukunft und den sich in der beschleunigten Zeit immer schneller und immer häufiger entwertenden Erfahrungen wird die Gegenwart zerrieben oder – wie Koselleck treffend formuliert: das Gegenwärtige entzieht sich angesichts der Komplexität ständig neu auftauchender Unbekannter in die Unerfahrbarkeit.55 Dass dieser Beschleunigungsprozess, je weiter die Moderne voranjagt, irgendwann einmal in sich kollabiert und der Raum der noch erfahrbaren Gegenwart so weit zusammenschrumpft, dass keine Zukunftsentwürfe, die immer das Produkt einer Gegenwart sind, mehr entstehen können, lässt sich aus dem modernen Zeitkonzept schliessen, und es war vor allem französischen Autoren vorbehalten, dafür dann auch eingängige Metaphern zu finden.56 Nicht nur philoso-
54 | Koselleck (1992a), 30. 55 | Koselleck (1992a), 34. Zur besonderen, konstitutiven Bedeutung der
Gegenwart für Vergangenheit und Zukunft siehe auch George H. Mead, 1929, The Nature of the Past, in: John Coss, ed., Essays in Honor of John Dewey, New York, sowie, u.a. im Anschluss an Mead, Niklas Luhmann, 1976, The Future Cannot Begin: Temporal Structures in Modern Society, in: Social Research 43, 130-152. 56 | Z.B. Jean Baudrillard, 1992, L’illusion de la fin ou La grève des
événements, Paris; Paul Virilio, 1996, Fluchtgeschwindigkeit. Aus dem Französischen von Bernd Wilcek, München.
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phisch inspirierte Geister, sondern auch Sozialwissenschafter57 des ausgehenden 20. Jahrhunderts stellen eine neuerliche Veränderung der Zeitwahrnehmung fest, die sich nun vor allem auf die Gegenwart zu fixieren scheint. Das Zeitempfinden der »Post-« oder »Hochmoderne« kennt nur noch die Gegenwart und geht – folgt man den einschlägigen Autoren – der Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft verlustig. Die vorwärtsgewandten Utopien haben ihren Projektionsraum verloren und damit auch, so scheint es, den Motivationsanreiz gegenwärtigen, auf eine Zukunft hin sich orientierenden Handelns. Statt von linearem, dynamischem Zeitdenken lässt sich heute entsprechend von der »breiten« und von der »erstreckten«58 Gegenwart sprechen. Gumbrecht diagnostiziert ein gegenwärtig feststellbares erneutes Verlangsamen der Zeit, indem neue Möglichkeiten der Reproduktionstechnik Vergangenheit in vielfältiger Weise wieder präsent machen, ohne dass sich deswegen jedoch die Gegenwart auf Zukunft hin zu orientieren vermöchte, denn Letztere droht in immer weitere Ferne zu entschwinden – in Bezug auf die Zukunft bringt die in Angst und Desillusionierung gefangene Gegenwart nur noch Untergangsszenarien – selbstgemachte – hervor. Man kann die Gegenwart nicht mehr mutig auf eine Zukunft hin hinter sich lassen, sondern man schiebt sie gleichsam immer weiter in diese hinein: »Die Zeit scheint sich langsamer zu bewegen, aber dieser Eindruck bringt paradoxerweise keinesfalls das Gefühl mit sich, dass wir über mehr Zeit verfügen.«59 So entsteht der Eindruck einer »breiter« werdenden Gegenwart: »so breit, dass sie von keiner sich in Gegenwart transponierenden Zukunft mehr zur Vergangenheit gemacht wird.«60 Damit ist – so vermutet Gumbrecht – die Tradition teleologischer, geschichtsphilosophisch abgesicherter Zeitentwürfe an ihrem Ende angelangt, und wir stehen heute vor einer grundlegend neuartigen »Zeit-Situation«. Weder linear, noch zirkulär oder statisch organisiert sich die Zeitwahrnehmung, sondern es kommt vor dem Hintergrund einer sich vielfältigste Erfahrungen der Vergangenheit präsent haltenden und dadurch, da die Erfahrungen nicht mehr auf einen Zukunftshorizont hin abgeleitet werden können, amorph in die Breite gehenden Gegenwart zu einem Stillstand der Zeit und da57 | Für einen ausführlichen Überblick über die Behandlung des Pro-
blems der Zeit in der Soziologie siehe Bergmann (1983). 58 | So Helga Nowotny, die auch von einem »unaufhaltsamen Ver-
schwinden der Kategorie Zukunft« spricht, siehe Nowotny (1995), 9. 59 | Gumbrecht (1991), 63. 60 | Gumbrecht (1991), 64.
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222 | »New World Horizon« mit der Geschichte – womit man schliesslich auch auf diesem Weg am vieldiagnostizierten ›Ende der Geschichte‹ anlangt.61 Die Gegenwart ist hier nicht mehr Durchgangsstadium auf dem Weg in eine bessere Zukunft, sondern sie dreht sich nur noch um die eigene Achse. Als Folge so verstandener und wahrgenommener Veränderung bilden sich Strategien aus, um aus dieser destabilisierenden Zeitspirale auszubrechen. Bereits das achtzehnte Jahrhundert verfügt über einen verschärften Sinn für die Historizität der Zeit und damit für die Schwierigkeit, an Vergangenheit anschliessen zu können. Der Traditionsfaden scheint gerissen – zumindest wird er hauchdünn. Während der Traditionsbegriff als Selbstverständlichkeit vom Horizont verschwindet, muss Ersatz gefunden werden. Die ›Natur‹ wird – wie Aleida Assmann am Beispiel von Alexander Pope und anderen aufweist – zu einem solchen Ersatzbegriff.62 ›Natur‹ soll dabei, das Problem der Traditionen mitreflektierend, zugleich mehr leisten als ›Tradition‹. Sie wird zu einem die Epochen und Kulturen transzendierenden Universalbegriff gesteigert und so auf die ganze ›Menschheit‹ bezogen: »Diese Natur steht fortan für eine Form von Normativität, der sich niemand mehr entziehen kann; als das Stabile und Zuverlässige schlechthin wird sie zur neuen Legitimationsgrundlage auch für den Bestand von Klassikern.«63 Zur Füllung des Naturbegriffs wird sodann bei Pope auf die griechischen und lateinischen Klassiker zurückgegriffen, die der Zeit enthoben, »enthistorisiert« werden.64 Anders als in den Zurück-zur-Natur-Imperativen des 20. Jahrhunderts verkörpert der Begriff der Natur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Bewegungsresistenz und Statik und damit das Regelgebende, Allgemeine, das sich dem Wandel der Zeit entzieht: Zuverlässigkeit, Beständigkeit, Wahrheit. Daran kann schliesslich auch die Genieästhetik anschliessen, die das Genie in die stabile, unantastbare Sphäre des Erhabenen entrückt. Wenn man den Blick nun wieder nach Amerika richtet, lassen sich
61 | Vgl. Gumbrecht (1991), 64. 62 | Aleida Assmann, 1999, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien
der Dauer, Köln, 137ff. 63 | Assmann (1999), 138. 64 | In der natürlichen Landschaft umgesetzt wird die »Allianz von
Klassik und Natur« in den die antiken literarischen Vorbilder imitierenden Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts, siehe Assmann (1999), 139.
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hier im neunzehnten Jahrhundert ganz anders klingende Stimmen vernehmen: »The eye is the first circle; the horizon which it forms is the second; and throughout nature this primary figure is repeated without end. It is the highest emblem in the cipher of the world. St. Augustine described the nature of God as a circle whose center was everywhere and its circumference nowhere. We are all our lifetime reading the copious sense of this first of forms. One moral we have already deduced in considering the circular or compensatory character of every human action. Another analogy we shall now trace, that every action admits of being outdone. Our life is an apprenticeship to the truth that around every circle another can be drawn; that there is no end in nature, but every end is a beginning; that there is always another dawn risen on midnoon, and under every deep a lower deep opens.«65
Die beschriebene Bewegung geht in alle Richtungen und ist endlos. Sie ist nicht linear angelegt, sondern entspringt einem Zentrum. Im Zentrum der Bewegung transzendiert diese sich selbst. Damit wird aber auch die Unterscheidung eines transzendenten Ursprungs der Bewegung und deren immanente Entfaltung als Natur unscharf und durchlässig. Beides verweist so aufeinander, dass sich in ihm schliesslich dasselbe ausdrückt: je das Auge der vielen Betrachter und der sich dadurch konstituierende Horizont – der Kosmos – lassen die vielen Kreise, die die Natur und ihre ewige Bewegung ausmachen, entstehen. Was bei Augustinus noch Gott allein vorbehalten war, wird nun Sache aller Individuen. Aber nicht einfach nur durch die Individuen baut sich diese Welt auf, sondern insbesondere durch deren Handlungen, auf die immer wieder neue Handlungen folgen, in endlos sich fortsetzender Bewegung. Diese Handlungen sind nicht unabhängig voneinander: »every end is a beginning«. Anfang und Ende und damit Handlung und Handlung fallen zusammen und bilden so das Ganze, die Natur. Ralph Waldo Emerson, von dem diese Worte stammen, verfügt über ein fast unerschöpfliches Reservoir an Worten und Metaphern, um diesen »Sachverhalt« auszudrücken: »There are no fixtures in nature. The universe is fluid and volatile. Permanence is but a word of degrees. Our globe seen by God is a transparent law, not a mass of facts. The law dissolves the fact and holds it
65 | Ralph Waldo Emerson, 1993, Circles, in: Ralph Waldo Emerson,
Essays. First and Second Series, New York, Avenel, 158. Die Erstauflage der beiden Serien der Essays datiert auf 1841 bzw. 1844.
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224 | »New World Horizon« fluid.«66 In dieses allumfassende Fliessen ist das Individuum bis zur Ununterscheidbarkeit eingebunden: »[…] there is no bar or wall in the soul, where man, the effect, ceases, and God, the cause, begins. The walls are taken away. We lie open on one side to the deeps of spiritual nature, to all the attributes of God.«67 Schliesslich fallen Mensch und Gott ganz in eins: »Ineffable is the union of man and God in every act of the soul. The simplest person who in his integrity worships God, becomes God; yet forever and ever the influx of this better and universal self is new and unsearchable. It inspires awe and astonishment.«68 Individuum est ineffabile – so zumindest hat man gedacht, dass das Mittelalter den Problemzusammenhang gesehen hat69 – dies scheint auch bei Emerson noch zuzutreffen. Während im Mittelalter jedoch der Einzelne im Schatten des allmächtigen Gottes stand und deswegen unfassbar, aber gleichzeitig auch aufgehoben war, wird das Individuum hier in der Beziehung zu Gott unfassbar wie Gott selbst, da es mit diesem deckungsgleich wird, ohne sich jedoch einfach an dessen Platz zu setzen. Der göttliche Kosmos bleibt erhalten. Der Mensch wird zur Gleichberechtigung mit Gott gesteigert, und wie dieser ist die Seele geheimnisvoll, immer neu und letztlich unerschliessbar und ruft nach entsprechender religiöser Behandlung und Einstellung: »It inspires awe and astonishment.« In einer solchen Konstellation ist das einzelne Subjekt nicht einfach der Betrachter der Natur und ein dieser damit Äusserliches. Die Natur erschliesst sich nicht durch den konstruktiven Blick des Individuums.70 Sie baut sich nicht erst über das Erlebnis der inneren Erfahrung auf, und sie »braucht« das Subjekt nicht, um selbst zu sein. Der Bruch zwischen Mensch und Welt, der – in der ›europäischen‹ Lesart – nach der durch die Vergesellschaftung bedingten Ausstossung des Einzelnen aus der Natur schliesslich in der Unvereinbarkeit von In66 | Emerson (1993), 158. 67 | Ralph Waldo Emerson, 1971, The Over-Soul, in: Joseph Slater and
others, eds., Collected Works of Ralph Waldo Emerson, vol. 2, 161, Cambridge Massachusetts, zit. nach David L. Smith, 1992, Representative Emersons: Versions of American Identity, in: Religion and American Culture, Vol. 2, Number 2, 163. 68 | Ralph Waldo Emerson, 1993, The Over-Soul, in: Emerson (1993),
154. 69 | Die der Scholastik zugeschriebene Sentenz konnte bis heute histo-
risch nicht nachgewiesen werden, siehe Individuum, Individualität (1976), 309. 70 | Vgl. Bercovitch (1975), 151f.
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dividuum und Gesellschaft, welche das Einzelsubjekt auf sich selbst und auf sein Inneres zurückwirft, kulminiert, wird gleichsam zu einem Bruch zwischen erlöster und nicht-erlöster Welt. Dieser Bruch wird ins Symbol ›America‹ aufgenommen, das im späten 19. Jahrhundert in der Natur seinen reinsten Ausdruck findet. Der Bruch verläuft als Grenze zwischen erlöster und nicht-erlöster Welt, zwischen Amerika und Nicht-Amerika. Das Symbol übernimmt die Funktion, auch auf das Defizit zu verweisen: auf die erlösungsbedürftige, »amerikabedürftige« Welt. Auf diese richtet sich die ›nationale Mission‹, und sie findet ihre Ansatzpunkte sowohl innerhalb wie ausserhalb der eigenen Gesellschaft und Kultur. Die Paradoxie, die das Symbol zu bewältigen hat, findet jedoch nur als intrakulturelles, als inneramerikanisches Problem eine Lösung. Bislang gilt nur für Amerika – für die auserwählte Nation –, dass Geschichte und Überwindung der Geschichte, offener Prozess und Erfüllung im Symbol in eins fallen: »Emerson interpreted the self through the medium of American nature; his model of spiritual growth reflected a teleology that eliminated the tension between process and fulfillment. It gathered meaning by its proleptic identification with the destiny of the New World, of which American nature was the symbol.«71 Dies kann nur funktionieren, wenn Natur und Selbst nicht als verschieden gedacht werden: »In short, he [the perceiver, C.M.] responds to nature insofar as he embodies its spirit in himself, and he symbolizes well insofar as he conforms to nature. Language, Emerson insists, is an exercise not in the powers of the individual imagination but in the philology of nature. To speak truly is to use nature’s language in its pristine form.«72 Während sich im europäischen Bürgertum ungefähr zur gleichen Zeit – wie Albrecht Koschorke an der Analyse literarischer Land71 | Bercovitch (1975), 161. 72 | Bercovitch (1975), 159. Zur Synthese von Natur, Religion und Indi-
viduum vgl. auch Catherine L. Albanese, 1990, Nature Religion in America. From the Algonkian Indians to the New Age, Chicago, London. Auch Albanese kommt zum Schluss, dass die Natur in ihrer religiösen Aufladung im amerikanischen Fall das Individuum nicht von der Gesellschaft abspaltet, sondern, umgekehrt, dass Natur als Ordnungsprinzip des Gesellschaftlichen in Erscheinung tritt: »Nature, in American nature religion, is a reference point with which to think history. Its sacrality masks – and often quite explicitly reveals – a passionate concern for place and mastery in society.« A.a.O., 8. Zur historischen Rekonstruktion des amerikanischen Naturverständnisses siehe auch Perry Miller, 1967, Nature’s Nation, Cambridge, Massachusetts.
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226 | »New World Horizon« schaftsbilder aufzeigt – ein Stagnationsbewusstsein breit macht und sich ästhetisch eine »Einbusse an kollektivem Wunschvermögen« artikuliert, welche auf den Verlust eines Zukunftssinnes verweist und sich entsprechend die Perzeption des Laufs der Geschichte von der Gestaltungskraft der Individuen weg auf einen katastrophischen Abgrund hin verschiebt73, bleibt der amerikanische Horizont in endloser Bewegung in die Zukunft hinein offen. Statt des Versuchs, wissenschaftlichen und technischen Fortschritt sowie den durch die Industrialisierung ausgelösten sozialen Wandel durch Konzepte der Statik und des Stillstandes aufzufangen und zu bewältigen – die nachromantische Literatur in Europa rettet sich in die Zeit verräumlichende ästhetische Konzepte des Stillstands und der Erstarrung ohne Anspruch auf Grenzverschiebung74 –, findet sich bei Emerson die Vorstellung der transition, des permanenten ›Übergangs‹.75 Nichts wird der Zeit entzogen, sondern alles in sie »hineingestellt«, alles nicht nur als Teil der Zeit, sondern als Zeit selbst und damit als Bewegung verstanden und mit ihr gleichgesetzt. Dieser unendliche Wandel begründet sich letztlich durch das ihn überbietende, ihm zugrunde liegende Absolutum der Zeitlosigkeit. Dieses Absolutum der Zeitlosigkeit hat seinen Grund im Ursprung der amerikanischen Geschichte, in ihrem ›Gründungsmythos‹, also in der Erfahrung göttlicher Auserwähltheit, in der besonderen, perfekten Verbindung von Mensch und Gott. Perfektion (anders als Perfektionierung) lässt sich nicht steigern – sie ist oder ist nicht, jedenfalls ist sie keine Zeitkategorie. Sie ist immer ausserhalb, jenseits der Zeit. In der Idee des Alltags, so wie sie oben am empirischen Material herausgearbeitet wurde, also in der Vorstellung, dass sich das Transzendente, das ›Heilige‹, in den alltäglichsten Momenten vergegenwärtigt und ganz in die Welt eingelassen ist, drückt sich diese zeitlose Perfektion aus. Im Code der Alltäglichkeit symbolisiert sich Transzendenz. Aber wenn – wie oben im Anschluss an Soeffner definiert wurde76 – ein Symbol vom Immanenten aufs Transzendente verweist und damit etwas in der Welt repräsentiert, was dieser Welt nicht zugänglich ist, sondern »mehr« ist als diese Welt, dann haben wir es hier mit dem Spezialfall zu tun, dass das Symbol das Transzendente in der Welt »präsentiert«. Das Symbol verweist auf die Welt, weil alles, worauf es überhaupt verweisen könnte, immer schon in der Welt ist. Man könnte 73 | Koschorke (1990), 223ff. 74 | Koschorke (1990), 227f. 75 | Assmann (1999), 70. 76 | Soeffner (1991).
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dann sagen, dass das Symbol sich hier selbst überflüssig macht, weil nicht mehr von der Trennung der Sphären des Immanenten und des Transzendenten ausgegangen werden kann. Das »wirklich Präsente« und das »nicht wirklich Präsente«77 sind beide einfach nur: das Präsente.78 Das käme dann einem magischen Weltbild sehr nahe, wäre da nicht noch der Code der ›journey‹, bei dem es sich nicht, wie beim ›Alltag‹, um einen statischen Code, sondern um einen Temporalcode handelt. Die ›journey‹ verleiht der Gegenwart des Alltags einen Zukunftshorizont. Sie tut das für das Individuum – als individuelle ›journey‹ im Kontext der Biographie – und für die Gemeinschaft – als nationale ›journey‹ in Form der Geschichte. Daraus ergibt sich jedoch eine besondere paradoxe Lage, denn wozu braucht man die Zukunft, wenn die Gegenwart schon perfekt ist? Wozu braucht man eine ›journey‹, wenn die Gegenwart schon alles in sich birgt? Wohin soll die Reise dann noch gehen? Hier liegt eine Widersprüchlichkeit, die im Symbol harmonisiert wird. An dieser Stelle schliesslich kommt der besondere amerikanische Individualitätstypus ins Spiel. Das ›amerikanische‹ Individuum, so wie es sich entlang der empirisch rekonstruierten Deutungsmuster fassen lässt, übernimmt die wichtige Funktion, das historisch-kulturell gewachsene Paradox von immer schon erfüllter Geschichte einerseits sowie von zeitlicher Bedingtheit und damit Unabgeschlossenheit allen menschlichen wie auch gesellschaftlich-kulturellen Daseins andererseits zu harmonisieren. Im Typus des ›seekers‹, der sich auf einer nie zum Abschluss kommenden ›journey‹ befindet, verabsolutiert sich die Bewegung als Bewegung. Sie reagiert auf die besondere amerikanische Ausgangslage, dass inhaltlich – seit der Amerikanischen Revolution79 – keine
77 | Vgl. Soeffner (1991), 71. 78 | Zur Zusammenführung von Symbol und Erfahrung und zur so
versuchten innerweltlichen »Aktivierung« des Paradieses siehe Eric Voegelin, 1994, Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne, München, 63ff. 79 | Für die amerikanischen Revolutionäre war die Revolution Kulmina-
tionspunkt der Weltgeschichte: »The flight of Abraham, the desert wanderings of Israel, the revival of the church, its war of independence against Catholic Rome, and the march of civilization from Greece and Rome through Renaissance, Reformation, and Enlightenment: to all these the Revolution stood as fulfillment to promise. And as fulfillment, it obviated the need for any further American uprisings.« Bercovitch (1993), 39. Das Ende der Ge-
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228 | »New World Horizon« Steigerung mehr möglich ist; von daher bezieht das »amerikanische Experiment« seine transzendent verankerte Begründung. Im Angesicht einer real jedoch alles andere als »perfekten« Gesellschaft wird das inhaltliche Ideal abgelöst durch das Ideal der Bewegung und des Prozesses hin zur Perfektion und damit zur Einlösung des aus dem besonderen Bund mit dem Transzendenten hervorgehenden Versprechens: im handelnden, immer aktiven, immer suchenden und immer wieder neu anfangenden Individuum, das – darauf hat Harold Bloom hingewiesen80 – eine intensiv-innige Beziehung zum Transzendenten unterhält und selbst an diesem Anteil hat, findet dieses Ideal seinen Ausdruck und sein Symbol. Damit verbinden sich das übergeordnete Prinzip, die Triebkraft, einerseits und die durch sie »Angetriebenen« andererseits und werden in eins eingeschmolzen. Dieses Eine ist die Bewegung des Immer-wieder-neu-Anfangens, die sich nicht nur im Individuum, sondern auch im Symbol ›America‹ zusammenzieht und so Neue von Alter Welt scheidet. Die Bewegung, die unvollendbare Suche, die nie endenden Übergänge kommen – so Assmann81 – auch dadurch zustande, dass es aufgrund fehlender Vergangenheitsräume keine amerikanische Tradition gibt, an die man anschliessen könnte. Die Tradition ist vielmehr das Fremde Europas, und die eigene Identität entsteht durch die Ablehnung des Fremden. Inwiefern der fehlende Erfahrungsraum das entscheidende Erklärungsmoment bildet oder ob nicht eher gleichsam »systemimmanent« die Logik der eigenen, als innerweltlicher Heilsplan formulierten Geschichte seit ihren Anfängen in Neuengland die besondere Dynamik plausibel macht, die sich aufgrund ihrer Zukunftsgerichtetheit um Traditionen gar nicht wirklich bekümmert, sei dahingestellt – die beiden Aspekte hängen insofern zusammen, als die amerikanische Geschichte mit der Abwendung von Europa ihren Anfang findet. Wesentlich ist, dass ein »Ethos der unvollendbaren Suche und Offenheit« (Assmann) Vorstellungen der Bestandeswahrung ersetzt. Offenheit ist hier Programm und nicht Bedrohung. Die Geschichte der amerikanischen Nation genauso wie die Biographien der amerikanischen Individuen verlaufen damit weder einfach linear noch lassen sie sich mit einem anderen gängigen Zeitmodell – etwa einem zyklischen oder organischen – fassen. Während schichte ist dabei zugleich deren Anfang: die innerweltliche Erfüllung des göttlichen Plans. 80 | Bloom (1992). 81 | Assmann (1999), 71.
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im linearen, in der jüdisch-christlichen Tradition verankerten Zeitverständnis die Bewegung der Zeit und die in ihr sich manifestierende Vergänglichkeit allen menschlichen Daseins durch das Eschaton aufgefangen und stabilisiert werden, dieselbe Funktion in Kulturen mit zyklischem Zeitverständnis von der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« erfüllt wird, entfaltet im amerikanischen Fall die zugleich nach vorne und nach hinten gerichtete Bewegung – als utopische Wiedererrichtung des Paradieses82 – selbst ein stabilisierendes Moment der sich beschleunigenden Moderne. Wie am empirischen Material gezeigt wurde, scheint weder die Kategorie des Inhalts noch jene des Endes wirklich zu existieren. Selbst dann, wenn – wie in einigen Fällen – der persönliche Lebensweg an ein Ende im Sinne einer bis zu einem gewissen Grade erreichten biographischen Stabilität gelangt ist, wird dies kaum als Ende perzipiert, sondern immer wieder als Übergang zu einem Neuanfang verstanden. Das geschichtliche Symbol, welches dieses Zeitverständnis am klarsten zum Ausdruck bringt, ist – worauf Tuveson hinweist – die ›Frontier‹.83 Dabei geht es nicht um die Aufrichtung eines »Empires«, sondern um Vitalität an sich: »The real significance of the emergence of the new people is that they represent a new and vital spirit; it is not the empire they are to create, the final achievement of their work, but the very fact of their strenuous lives that is important.«84
82 | Vgl. Mircea Eliade, 1964, Paradis et utopie: géographie mythique et
eschatologie, in: Eranos Jahrbuch 1963. Bd. XXXII: Vom Sinn der Utopie, hg. von Adolf Portmann, Zürich. Zur Zeitstruktur der Utopie vgl. auch Alfred Doren, 1986, Wunschräume und Wunschzeiten, in: Arnhelm Neusüss, Hg., Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Frankfurt am Main, New York. 83 | Im Rahmen eines nationalen Identitätsdiskurses »verewigt« von
Frederick Jackson Turner, 1894, The Significance of the Frontier in American History, in: Annual Report of the American Historical Association for the Year 1893, Washington, D.C. Zur ›Frontier‹ siehe auch Michael Kammen, 1972, People of Paradox. An Inquiry Concerning the Origins of American Civilization, New York, Kap. 8. 84 | Tuveson (1968), 129. Dies wird auch im bekannten Gedicht von
Walt Whitman, Pioneers! O Pioneers! zum Ausdruck gebracht: Nirgends wird hier die neu zu bildende Welt inhaltlich näher spezifiziert, sondern einfach zum Handeln beziehungsweise zum »Fortschritt« aufgerufen: »to the supreme joy of the hard and absorbing, unending march, ever westward«, a.a.O., 130. Dies muss, so Tuveson, im Kontext des für das ausgehende neunzehn-
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230 | »New World Horizon« Dass sich die so in der Geschichte bewegenden Individuen kaum auf die »klassischen« (europäischen) Pfade der Selbsterforschung begeben, erstaunt nicht. Das Ich erscheint im amerikanischen Verständnis nicht als etwas, das man kennen könnte oder auch nur kennen wollte im Sinne einer Identität mit festem Kern. Das Selbst ist nicht »Ding«, sondern Prozess, Schaffen, Kreation – und dies immer in Relation zur gegebenen Aussen-Welt und zur zuhandenen (sozialen) Situation.85 Das Individuum steht damit in einem unabschliessbaren Prozess des Werdens und der ständigen Veränderung und gewinnt daraus seine Identität. Das treibende Prinzip ist die Perfektionierung, die jedoch über allgemeinste Ziele hinaus – »besseres Leben«, »bessere Gesellschaft«, »bessere Welt« – keine inhaltliche Bestimmung erfährt. Dabei ist es für Utopien nicht ungewöhnlich, dass sie das Ende abgesehen von den erforderlichen minimalen Glücksformeln offen lassen müssen. Im Fall der USA wird die Bewegung jedoch selbst zur Utopie. Die Amerikanische Revolution lässt sich entsprechend als ein Übergangsritual hin zur vollendeten Nation fassen, welches ins Unendliche prolongiert wird: »The expanding consensus it [the ritual, C.M.] represents is revolutionary because it is progressive, and the condition of progress is conformity through generational rededication to an America in transition.«86 Durch dieses Stillstellen der Bewegung durch die Bewegung selbst entsteht die typisch amerikanische Form moderner Zeitwahrnehmung. Transzendenter Ursprung – ausserhalb und vor der Zeit – und immanente Wirkung – in der Zeit, als Geschichte – sind nicht unterscheidbar. Damit »entfallen« auch die zwei Welten des Transzendenten und des Immanenten, aber nicht so, dass sich die eine, die immanente, auf Kosten der anderen, der transzendenten, durchsetzen würde. Möglich wird vielmehr eine immanente ›grosse‹ Transzendenz durch radikale Historisierung der jüdisch-christlichen Heilsidee. Die »Vergeschichtlichung« und »Vergesellschaftlichung« Gottes führen nicht in die klassischen europäischen Konzepte der Geschichtsphilosophie. Der Monotheismus bewirkt jedoch auch keine – wie Arnold Gehlen meinte87 – Entsakralisierung der Welt. Der Monotheismus gehört im Fall der amerikanischen Kultur – so könnte man in Abwandlung und kultureller Engführung einer Einschätzung von Gehlen sagen – te Jahrhundert typischen »cult of élan as a mystique, and end in itself« im Rahmen der gängigen Frontier-Romantik gesehen werden. 85 | Vgl. Smith (1992). 86 | Bercovitch (1993), 186. 87 | Arnold Gehlen, 1956, Urmensch und Spätkultur, Bonn, 110f.
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gerade deshalb zu den »intimen Voraussetzungen der Naturwissenschaften«88, weil Welt und Alltag gleichermassen sakralisiert und von Gott durchdrungen sind. Es lässt sich entsprechend kaum irgendwo die Nähe zu Gott so gut erschliessen, wie in der wissenschaftlichen Erforschung der Natur und der gegebenen Welt. Aber auch Webers Rationalisierungsthese, die insbesondere im Hinblick auf den amerikanischen Fall entwickelt wurde, hat sich gerade in den Vereinigten Staaten offensichtlich am wenigsten erfüllt, wo das Gehäuse – wie es scheint – alles andere als »stahlhart«, sondern dynamisch, offen und geschichtsaffirmativ ist. Die Frage bleibt, mit welcher Form von Religion beziehungsweise von Religiosität wir es im Fall der amerikanischen Gesellschaft überhaupt zu tun haben. Lässt sie sich – insofern es sich um Religion in der monotheistischen Tradition handelt – überhaupt allein mit der Kategorie des Monotheismus sinnvoll fassen? Oder anders gefragt: Hat das, was als Experiment auf den Grundlagen des Monotheismus in Neuengland begann und in der Folge vor allem als Kirchenreligiosität untersucht wurde, im Fortgang der Geschichte, die vor allem eine Einwanderungsgeschichte der verschiedenen Kulturen war und ist, nicht eine religiöse Reformulierung erfahren und Konsequenzen gezeitigt, die nicht zuletzt auch der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung (und Prognose) in die Quere gelaufen sind? Wie die in jüngerer Zeit in Gang gekommene Erforschung der Laienreligiosität zeigt89, begann sich die religiöse Praxis in Amerika schon in ihren frühesten Anfängen von den kirchlichen Autoritäten zu lösen und hat sich oft auch den theologisch-dogmatischen Glaubensauflagen der geistlichen Eliten versagt. Verbindungen zum Transzendenten wurden dabei in vielfältigster Weise auch an den Grenzen zur Magie aufgenommen. Der hohe Grad der Individualisierung der amerikani88 | Gehlen (1956), 110. 89 | Vgl. David D. Hall, 1989, Worlds of Wonder, Days of Judgement.
Popular Religious Belief in Early New England, New York; Albanese (1990); zur Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Robert Wuthnow, 1978, Experimentation in American Religion. The New Mysticisms and their Implications for the Churches, Berkeley, California, sowie Wuthnow (1998). Wuthnow betont dabei die Intensivierung innerweltlicher Transzendenzerfahrung und die verstärkt zu beobachtende »Wiederverzauberung« individueller und sozialer Welten seit den sechziger Jahren, ist sich jedoch auch der historischen Kontinuitäten dieser amerikanischen religiösen Erfahrungslagen bewusst, siehe Wuthnow (1978), 198.
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232 | »New World Horizon« schen Kultur und der ›amerikanischen Religion‹ (Bloom) erklärt sich denn auch vor dem Hintergrund einer ›grossen‹ Transzendenz, auf die in synkretistischer Weise und unter den vielfältigsten kulturellen und historischen Anleihen zugegriffen wird, und nicht aus der religiösen Verabsolutierung des Subjekts. Die Suche des Göttlichen in der Welt, die Erwartung der immer möglichen face-to-face-Begegnung mit dem Transzendenten in den unterschiedlichsten lebensweltlichen Zusammenhängen, lösen die monotheistische Gottesidee tendenziell auf und konfrontieren das Transzendente mit den vielfältigen Erscheinungsweisen der diesseitigen Welt. Sie öffnen das Transzendente damit auch gegenüber den Möglichkeiten einer Spiritualität, die überall ansetzen und überall Ausdrucksformen finden kann – am Gott der monotheistischen Religionen, aber auch an innerweltlichen Dingen sowie an Menschen, an Tieren, an Ideen, an der Natur. Kosmos und Kosmion, die transzendente Ordnung und ihre innerweltliche Repräsentation, schieben sich ineinander. Das Reich des Transzendenten ist gegenwärtig in der Welt, aber auch die Umkehrung gilt: die Erscheinungen der Welt bevölkern die Vorstellungen des Transzendenten. An dieser Schnittstelle von Kosmion und Kosmos steht das ›amerikanische Subjekt‹. Es übernimmt die Funktion eines religiösen Symbols, das als »Kennzeichen der Grenzüberschreitung« (Soeffner) hinüberweist in ein fremdes Territorium. Dieses fremde Territorium ist jedoch als Folge der besonderen historischen Ausgangskonstellation der amerikanischen Nationsgründung in ihrem Versuch einer innerweltlichen Institutionalisierung der christlichen Gnadenidee zum eigenen Territorium geworden. Der mit Gott geschlossene Bund der Auserwählten, der auf der Grundlage einer historisch besonderen religiösen Erfahrungssituation eingegangen wurde – mit dem Ziel der Errettung der einzelnen Seelen –, macht das Individuum durch die reale innerweltliche Implantierung des Bundes zu einem Teil des Transzendenten selbst, zu etwas im wahrsten Sinne ›Heiligen‹.90 Während sich demgegenüber das sich selbst verabsolutierende Subjekt der europäischen Geschichte und Gegenwart im schwierigen Paradox verfängt, dass es etwas Religiöses sein will, aber nur den Raum der Innerweltlichkeit zur Verfügung hat, in dem es sich des Konstruktcharakters seiner ›Diesseitsreligion‹ (Soeffner) bewusst wird, findet sich das ›amerikanische‹ Individuum in eine geschichtliche und gesellschaftliche Dynamik hineingezogen, die von der Spannung von Ideal und Wirklichkeit lebt, vom Versprechen und seiner in die Zukunft aufgeschobenen Realisie90 | Vgl. auch Voegelin (1994).
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rung – vom ›American Dream‹ und der in ihm symbolisierten Vorstellung, dass das fehlerhafte und unvollständige Kosmion der Gegenwart den perfekten Kosmos bereits in sich enthält – ein Zusammenhang, der von jeder Gegenwart neu »aufzudecken« ist. Es ist die Unerreichbarkeit einer uneinholbaren, aber schon am Beginn der Geschichte »abgesicherten« Zukunft, die die Dynamik aufrechterhält. Dieses spezifische, paradoxe Zeitverhältnis findet Ausdruck im Symbol des weltzugewandten, handelnden Individuums, das Ordnung schafft und darin selbst Kernstück der Ordnung ist. Im Symbol harmonisiert sich damit der Widerspruch der Zeit, der ein Widerspruch der Erscheinungsform des Transzendenten ist: das Transzendente einerseits in Form des gegenwärtigen Immanenten und andererseits – als gleichsam »eigentlich« Transzendentes – in Form der erst noch herbeizubringenden Zukunft. Auf der Grundlage eines solchen an der Perfektionierung seiner selbst und damit an der göttlichen Schöpfung arbeitenden Individuums kann sich die für die amerikanische Kultur typische radikale Semantik der Gleichheit und der Demokratie entwickeln, die niemanden vom Heilswerk ausschliesst und die entsprechend auch wenig Sinn hat für das Problem eines Mangels an Einzigartigkeit und Authentizität des Subjekts. Von der Vorstellung einer gesellschaftlichen »Elite« beziehungsweise von herausragenden, sich von der Gemeinschaft lossagenden Einzelnen lässt man sich nur in der Form einer fremdkulturellen Exotik faszinieren. Wo jedes Individuum in der einen oder anderen kommunizierbaren Form in potentieller direkter Verbindung zum Transzendenten steht, ist für den sich selbst heraushebenden Einzelnen, wenn er seine Besonderheit nicht als dem kollektiven Zweck förderlich einsichtig zu machen vermag, kein Platz. Die Möglichkeit der Kommunikation erstreckt sich dabei einerseits sowohl auf das Göttliche – was auch immer dieses im Einzelfall sei – sowie andererseits auch auf die Mitmenschen. Religiöse Erfahrung wird – von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie das empirische Material zeigt – als der Mitteilung und dem mitteilenden Verständnis zugänglich begriffen.91 Die Aufforderung, religiöse Erfahrung mit 91 | Dies steht im Kontrast zu einem in der Tradition von Schleierma-
cher begründeten Religionsbegriff, der an der Differenz von religiöser Erfahrung und kommunikativem Ausdruck dieser Erfahrung, welcher Letzterer die Erfahrung selbst nicht einzuholen vermag, ansetzt. Vgl. Firsching/Schlegel (1998). Vgl. auch Max Webers diesbezügliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des religiösen Erlebnisses bei William James, Max Weber, 1988a (1920), Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders.,
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234 | »New World Horizon« anderen zu teilen (»to share your experience«) geht – wie die englische Ausdrucksweise verdeutlicht – von deren Mitteilbarkeit aus und somit davon, dass alle am gleichen Ganzen teilhaben und – die Form kann variieren – vom Gleichen sprechen. Dem steht jenes europäische Individuum gegenüber, das seine Identität in einem einzigartigen, nicht kommunizierbaren Inneren findet, welches es in die Vereinzelung treibt und das sich in dieser Lage mit dem Mittel des ›Unsagbarkeitstopos‹ zu behelfen versucht.92 Die Besonderheit des ›amerikanischen Falles‹ besteht – so lässt sich abschliessend zusammenfassen – in der Art und Weise, wie mit Konzepten der individuellen und damit immer auch der kollektiven Identität auf die strukturellen Herausforderungen der modernen Gesellschaft reagiert wird. Sie besteht damit in besonderen, kulturspezifischen ›Biographiegeneratoren‹ (Hahn), die den Möglichkeiten der eigenen »Identitätsgestaltung« Leitplanken setzen. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass dabei zeitliche Konzepte eine wesentliche Rolle spielen. So verbinden sich in der Vorstellung der ›journey‹ individuelle mit »partizipativen« Identitätskonstruktionen93, indem die gleiche Zeitfigur sowohl der individuellen Biographie wie auch der gemeinsamen, nationalen Geschichte zugrunde gelegt wird und die beiden Zeiten in dieser einen Zeit – gleichsam in einer ›amerikanischen Zeit‹ – aufgehen. Oben sind einige historische Hinweise, wie es zu dieser gemessen an der europäischen Situation ungewöhnlichen Entwicklung kommen konnte, gegeben worden. Sie haben gezeigt, dass sich die amerikanische Moderne auf der Grundlage einer Symbolik entfaltete, die sich im Verlaufe der Geschichte inhaltlich zwar ›säkularisierte‹, die jedoch ihren Bezug zur ›grossen‹ Transzendenz nicht verloren hat, sondern sich über einen religiösen ›Gründungsmythos‹ definiert, von dem sie bis heute zehrt. Ausdruck findet dies – das haben die Interviews gezeigt – im Individualitätstypus eines transzendent rückversicherten innerweltlichen Subjekts, welches nicht nur die Welt, sondern sich selbst als Teil einer umfassenden ›heiligen‹, sich als Prozess entfaltenden Ordnung versteht. Buddhisten, Unitarier und Katholiken, die überwiegende Mehrheit von ihnen religiöse »Wechselwähler«, teilen dieses ›Weltbild‹, das in ihGesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 111f., Anm. 4. Vgl. William James, 1982 (1902), The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature, New York. 92 | Siehe Soeffner (1994), 312. 93 | Siehe Willems/Hahn (1999), 16.
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ren Biographien, so, wie sie auf diese in den Interviews Bezug nehmen, zum Ausdruck kommt. Nicht allein in der Art und Weise, wie die Interviewten über ihre Lebenszusammenhänge berichten, sondern auch in ihren Aktivitäten zeigt sich, dass die so genannte »Bastelexistenz« (Hitzler/Honer) hier keine Äusserungsform einer sich in der »Spätmoderne« in der Krise befindenden Identität, sondern auch in historischer Perspektive der Normalfall ist. Das Existenzbasteln, das Immer-wieder-neu-Anfangen und Sich-neu-Definieren gehören zum selbstverständlichen und historisch längst eingeübten Erfahrungsschatz des ›amerikanischen‹ Individuums94, das an sich selbst genauso wie an der Aussenwelt des Sozialen und der Natur seine Identität gewinnt. Die Grundlagen für diesen amerikanischen Individualitätstypus scheinen zu einem wesentlichen Teil im 18. Jahrhundert gelegt worden zu sein und in engem Zusammenhang mit den religiösen Erweckungsbewegungen – insbesondere mit dem Great Awakening – zu stehen. Während sich damit in chronologischer Hinsicht eine Übereinstimmung mit der Entwicklung in Europa und hier besonders in Deutschland ergibt, wo man das moderne Individuum zur Zeit des Sturm und Drang »entdeckte« beziehungsweise strukturell darauf gestossen wurde, haben sich die Weichen für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in Neuer und Alter Welt je anders gestellt. Der Auflösung der ›grossen‹ Transzendenz und ihrer Verflüchtigung ins Innerweltliche in der europäischen ›Sattelzeit‹ steht die innerweltliche Etablierung des ›Heiligen‹ in Amerika gegenüber, und beide Entwicklungen haben je unterschiedliche historische Deutungsmuster individueller Identität begründet, die bis heute als langfristige kulturelle Ressource Wirkung zeigen. Der Problemzusammenhang, um den es in dieser Untersuchung ging und der im ersten Kapitel im Rahmen der Diskussion um die Rolle der Religion innerhalb der modernen Gesellschaft und um die Funktion, die sie bei der Bewältigung lebensweltlicher Kontingenz leistet, erörtert wurde, wird im amerikanischen Fall freilich nicht nur im Symbol des ›Individuums‹ »aufgelöst«, sondern auch in anderen Symboliken, so beispielsweise in der auf die ethnische Vielfalt der Einwanderungsgesellschaft des ausgehenden neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts reagierenden Integrationsideologie des melting pots, die an die Stelle der Herkunft das Werden 94 | Dies insbesondere im Bezug auf die soziale Gruppe, siehe Arthur
M. Schlesinger, 1944, Biography of a Nation of Joiners, in: The American Historical Review, Vol. L, No. 1, 1-25.
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236 | »New World Horizon« des neuen, ›amerikanischen Menschen‹ setzt.95 Inwiefern sich Existenz und Funktionsweise des hier rekonstruierten Individualitätstypus auch im Hinblick auf andere als die hier betrachteten Gruppen – besonders im Hinblick auf Gruppen aus anderen sozialen und ethnischen Kontexten – aufweisen lassen, wäre weiter zu prüfen, bevor dessen Reichweite und Bedeutung für die amerikanische Kultur gerade auch im Vergleich mit anderen modernen Gesellschaften genauer eruiert werden kann. Hier haben einige Verweise auf die amerikanische Geschichte sowie auf den breiteren historischen Kontext der westlichen Entwicklung – wie er oben im zweiten Kapitel dargelegt wurde – genügen müssen, um die historische Relativität und die Varianzbreite von Individualitätskonzeptionen zu verdeutlichen. Von besonderem Interesse wäre in diesem Zusammenhang auch eine Rekonstruktion der spezifisch amerikanischen Individualismuskritik, die eine lange Tradition hat, die jedoch kaum je die grundlegende positive Bedeutung des Individuums für die gesellschaftliche Ordnung in Frage stellt, weil sie die europäische Denkfigur eines Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft nicht zugrunde legt.96 Die Thesen dieser Arbeit, insbesondere diejenige, dass sich der amerikanische Individualitätstypus vor dem Hintergrund eines besonderen Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz konstitutiert, bei welchem die beiden Sphären soweit ineinander übergehen, dass die Konnotationen der Magie wachgerufen werden – diese Thesen haben sich nur entwickeln lassen, indem der »klassische«, heute viel diskutierte und kritisierte Religionsbegriff, der sich über die Differenz von ›heilig‹ und ›profan‹ und von ›transzendent‹ und ›immanent‹ definiert, zugrunde gelegt wurde. Es ist überhaupt schwierig, 95 | Wobei sich auch hier Identität über Differenz konstituiert: Schwar-
ze und Indianer bleiben zumindest vorerst ausgeschlossen, vgl. Volker Bischoff, Marino Mania, 1991, Melting Pot-Mythen als Szenarien amerikanischer Identität zur Zeit der New Immigration, in: Bernhard Giesen, Hg., Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt am Main. 96 | Vgl. John Dewey, 1999 (1929), Individualism Old and New, Am-
herst, New York; David Riesman, 1961 (1950), The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Haven, London; Robert N. Bellah, et al., 1996 (1985), Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life, Berkeley, California; vgl. auch insbesondere unter Berücksichtigung der Unterschiede zum europäischen Individualitätsverständnis Yehoshua Arieli, 1964, Individualism and Nationalism in American Ideology, Cambridge, Massachusetts.
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sich den kulturell gewachsenen Religionsbegriff konzeptuell anders, das heisst jenseits dieser Unterscheidungen, zu denken. Dennoch macht gerade der amerikanische Fall deutlich, dass es sich hierbei nicht um scharfe Grenzen der Sphären handeln muss. In der amerikanischen Gesellschaft und Kultur halten sich die transzendenten Bestände innerweltlich – so die These – nicht lediglich als »Kontrastprinzipien« und »Schatten der Modernität« (Kaufmann), welche so die Dynamik ihres Wandels zu stabilisieren hofft. Religion und Religiosität lassen sich hier nicht recht fassen als gleichsam nur punktuelle Kompensate moderner Lebensformen97, die eine umfassende Kosmisierung nicht mehr erlauben und auch nicht nur – obwohl sie das immer auch sind – als Äusserungen einer sich ins Private zurückziehenden Lebenswelt. Sie stellen in diesem besonderen Fall in ihrer historisch transformierten symbolischen ›Sichtbarkeit‹ ein nach wie vor verbindliches, allgemeines Modell der Erfahrung ›grosser‹ Transzendenz innerhalb der modernen Gesellschaft dar.98
97 | Vgl. Kaufmann (1986), 307. 98 | Vgl. Luckmann (1991), 182.
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