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German Pages 350 Year 2016
Judith Könemann, Saskia Wendel (Hg.) Religion, Öffentlichkeit, Moderne
Religionswissenschaft | Band 1
Judith Könemann, Saskia Wendel (Hg.)
Religion, Öffentlichkeit, Moderne Transdisziplinäre Perspektiven (unter Mitarbeit von Martin Breul)
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Inhalt
Einleitung | 7
Judith Könemann / Saskia Wendel
I. RELIGION IN SPÄTMODERNER GESELLSCHAFT The Dialectical Pattern of Secularization. A Comparative-Historical Approach
Warren S. Goldstein | 19 Das Säkularisierungsparadigma im Lichte einer Mehrebenenanalyse. Plädoyer für eine integrierte Perspektive auf das christliche Feld in den USA und Deutschland
Anna-Maria Meuth | 43 Religion in Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit und Politik in demokratischen politischen Systemen. Sechs Fallbeispiele und ein heuristisches Modell der empirischen politischen Theorie
Antonius Liedhegener | 93 Theologie, Kirche und Öffentlichkeit. Zum Öffentlichkeitscharakter von Religionspädagogik und religiöser Bildung
Judith Könemann | 129
II. RELIGIÖSE GRÜNDE IN ÖFFENTLICHEN DISKURSEN Religiöser Glaube und öffentliche Vernunft. Reflexive Säkularisierung und Differenzbewusstsein
Thomas M. Schmidt | 155
Religiöse Epistemologie und öffentliche Religion. Zum erkenntnistheoretischen Status religiöser Überzeugungen
Martin Breul | 173 Mitbegründer des öffentlichen Raums? Religion und öffentliche Vernunft in den Sozialphilosophien von John Rawls, Jürgen Habermas und Paul Ricoeur
Maureen Junker-Kenny | 189 Die Legitimität des Exzessiven. Überlegungen zur Inklusion partikularer Traditionen in den öffentlichen Diskurs
Ana Honnacker | 209
III. RELIGION UND DIE POLITISCHE ÖFFENTLICHKEIT Öffentlichkeit und Liberalismus. Eine pragmatistische Neubestimmung anhand des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Religion
Michael Reder | 227 Religion im postsäkularen Diskurs. Bemerkungen aus interreligiöser Perspektive
Anne Weber | 257 Religiös motiviert – autonom legitimiert – politisch engagiert. Zur Zukunftsfähigkeit Politischer Theologie angesichts der Debatte um den öffentlichen Status religiöser Überzeugungen
Saskia Wendel | 289 Die Öffentlichkeit Gottes
Volker Gerhardt | 307 Volker Gerhardts öffentliche Theologie. Kritische Anmerkungen aus theistischer Perspektive
Patrick Zoll | 325 Autorinnen und Autoren | 347
Einleitung J UDITH K ÖNEMANN / S ASKIA W ENDEL
Zunehmende (religiöse) Pluralisierung und die so genannte Rückkehr der Religion auf die Bühne gesellschaftlicher Öffentlichkeit stellen liberale säkulare Gesellschaften vor die Frage, wie sie auch auf Zukunft hin ihr Verhältnis zu Religion und konkreten Religionsgemeinschaften gestalten wollen. Auf den öffentlichen Charakter von Religion und die daraus zu ziehendende Konsequenz des Nachdenkens über die Rolle von Religion als „public religion“ hat José Casanova bereits vor über zwanzig Jahren in seinem viel beachteten Buch mit gleichnamigen Titel „Public Religion in the Modern World“1 hingewiesen. Führte Casanova damals als Beleg seiner These die Umbruchsprozesse im Iran 1979 und die Installierung eines religiösen Führungssystem an, so verweisen uns nicht zuletzt die aktuellen Flüchtlingsströme auf die wachsende kulturelle und religiöse Vielfalt in Deutschland und auf die damit verknüpfte Dringlichkeit, den Ort und die Rolle von Religion und religiösen Traditionen in Deutschland näherhin zu bestimmen. Denn ungeachtet aller auch stattfindenden Säkularisierungsprozesse bleibt Religion offensichtlich ein Faktor, mit dem öffentlich zu rechnen und umzugehen ist. Diese grundsätzliche Frage schließt die Frage nach der (religions-) rechtlichen Stellung und nach dem Status, die Religionsgemeinschaften im
1
CASANOVA, JOSÉ: Public Religions in the Modern World, Chicago/ London 1994; vgl. auch DERS., Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009; DERS., Die Erschließung des Postsäkularen. Drei Bedeutungen von ‚säkular‘ und ihre mögliche Transzendenz, in: Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.), Postsäkularismus. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt 2015, 9-40.
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Gemeinwesen zuerkannt werden, z.B. nach ihrer Bedeutung im Bildungssystem, genauso ein wie die Frage danach, wie sich Religionsgemeinschaften und ihre religiösen Akteure in die Öffentlichkeit und die im öffentlichen Raum auszuhandelnden, alle angehenden gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Themen einbringen.2 Damit ist nicht zuletzt und insbesondere auch die Frage gestellt, wie in der Öffentlichkeit mit den religiösen Überzeugungen im Raum dieser Öffentlichkeit umgegangen wird oder werden soll.3 Das vorliegende Buch widmet sich diesen Debatten unter folgender Leitfrage: Wie lassen sich das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit und die Rolle von Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit unter den Bedingungen moderner, d.h. säkularer, liberaler und immer pluraler werdenden Gesellschaften bestimmen und gestalten? Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Bestimmung des Verhältnisses von Religion(en), Öffentlichkeit und Moderne: Weder ist damit schon geklärt, inwiefern und wie das Spannungsverhältnis zwischen der existenziellen Relevanz weltanschaulicher Gewissheiten religiöser Bürgerinnen
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Vgl. WALTER, CHRISTIAN, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, Tübingen 2006; WALDHOFF, CHRISTIAN, Die Zukunft des Staatskirchenrechts, in: Marré, Heinz/ Stüting, Johannes/ Krautscheidt, Josef (Hg.): Essener Gespräche. Staat und Kirche, Münster 2008, 55-106; WITTRECK, FABIAN, Religionsverfassungsrecht als Kompass einer modernen Religionspolitik?, in: Bogner, Daniel/ Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Freiheit – Gleichheit – Religion: Orientierungen moderner Religionspolitik. Würzburg 2012, 53-76; OEBBECKE, JANBERND, Der Islam und die Reform des Religionsverfassungsrechts, in: Zeitschrift für Politik 55/ 1 (2008), 49-63; KÖNEMANN, JUDITH/ MEUTH, ANNA-MARIA/ FRANTZ, CHRISTIANE/ SCHULTE, MAX, Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik, Paderborn 2015. ARENS, EDMUND/ HOPING, HELMUT (Hg.), Wieviel Theologie verträgt die Öffentlichkeit? Freiburg 2000; AUDI, ROBERT, Religious commitment and secular reason. Cambridge 2000; AUDI, ROBERT/ WOLTERSTORFF, NICHOLAS, Religion in the public square: The place of religious convictions in political debate, Lanham 1997; BÄCHTIGER, ANDRÉ/ KÖNEMANN, JUDITH/ JÖDICKE, ANSGAR/ HANGARTNER, DOMINIK, Religious reasons in the public sphere: an empirical study of religious actors’ argumentative patterns in Swiss direct democratic campaigns, in: European Political Science Review 5 (2013), 105-131; BREUL, MARTIN, Religion in der politischen Öffentlichkeit, Paderborn 2015; WENDEL, SASKIA, Religionsphilosophie, Stuttgart 2010, 64 -101.
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und Bürger und den „nüchternen“ Toleranzforderungen eines liberalen Staates gelöst werden kann, noch herrscht Einigkeit über die Angewiesenheit eines weltanschaulich neutralen Staates auf religiöse oder umfassende Lehren seiner Bürgerinnen und Bürger. Sind Religion und religiöse Überlieferungen Hindernisse auf dem Weg zu Objektivität und Neutralität und bedürfen daher einer Privatisierung, oder sind öffentlich präsente und meinungsstarke religiöse Gemeinschaften vielmehr ein zu schützendes Element einer vielfältigen Zivilgesellschaft? Lassen sich genuin religiöse Überzeugungen trennscharf von sogenannten säkularen Überzeugungen abgrenzen? Argumentieren religiöse Bürger und Bürgerinnen oder Religionsgemeinschaften überhaupt unter Rekurs auf ihre partikularen religiösen Überzeugungen, oder sind ihre Äußerungen meist schon von allgemeinen Überlegungen getragen? Umgekehrt lässt sich fragen, inwiefern die Politische Theorie überhaupt ein konsensfähiges Modell politischer Legitimität oder ein empirisch wie normativ adäquates Verständnis des komplexen Phänomens „Öffentlichkeit“ entwickelt hat. All diese Fragen insinuieren, dass die Begriffe bzw. Konzepte von Religion, Öffentlichkeit und Moderne häufig missverständlich gebraucht werden und ihr Verhältnis untereinander höchst umstritten ist. Ziel des Bandes ist, auf der Basis dieser Voraussetzungen und den damit einhergehenden Fragestellungen die eingangs genannte Leitfrage nach der Verhältnisbestimmung von Religion und Öffentlichkeit unter den Bedingungen moderner Gesellschaften in einer interdisziplinären Perspektive von Religionssoziologie, (Religions-) Philosophie, Theologie und politischer Philosophie sowohl deskriptiv als auch normativ zu reflektieren. Dabei rücken neben Studien zur faktischen Rolle religiöser Gemeinschaften in kontemporären westlichen Gesellschaften die philosophisch-theologische Kritik der jeweiligen Hintergrundannahmen dieser Gemeinschaften ebenso in den Fokus wie eine begriffliche Analyse verschiedener Konzepte von Öffentlichkeit und verschiedener Formen der Rechtfertigung religiöser Überzeugungen in Kontexten des Politischen. Aufbau und Konzept des Buches Der Band gliedert sich in drei Teile, in denen das Thema unter drei zentralen Perspektiven beleuchtet wird. Der erste Teil widmet sich dem Thema „Religion in spätmoderner Gesellschaft“ und blickt aus religionssoziologi-
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scher wie theologischer Perspektive auf das Thema. WARREN S. GOLDSTEIN unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, eine dialektische Theorie der Säkularisierung vorzulegen, welche berechtigte Grundeinsichten der klassischen Säkularisierungsthese aufnimmt und zugleich die zeitgenössische Kritik dieser soziologischen Verfallsthese einbezieht. Ein kritischdialektisches Verständnis von Säkularisierung ist Goldstein zufolge in der Lage, lineare, zyklische und spiralförmige Konzepte von Säkularisierung gleichermaßen zu berücksichtigen. Goldstein belegt diese These mit vier historisch-komparativen Fallstudien (Preußen im 19. Jahrhundert, die USA, Iran und China). Diese Fallstudien zeigen auf, dass der Prozess der Säkularisierung zu komplex und dynamisch ist, als dass man ihn ausschließlich linear oder nicht-linear verstehen könnte. ANNA-MARIA MEUTH argumentiert in ihrem Beitrag, anhand der Beispiele Bundesrepublik Deutschland und USA, für eine integrierte Perspektive auf die Gleichzeitigkeiten und Unterschiede religiöser Wandlungsprozesse. Theoretische Erklärungsansätze, die eine lineare Verfallsgeschichte der Religion (meist anhand von West-Europa) oder eine gegenläufige Entwicklung (meist anhand der USA) beschreiben, können durch eine Mehrebenenanalyse des Säkularisierungsparadigmas miteinander vermittelt werden. Meuth betont dabei insbesondere die Wichtigkeit der Mesoebene, die religionssoziologisch häufig vernachlässigt wird, aber eine wichtige Instanz der Vermittlung zwischen individueller Religiosität und öffentlich präsenter Religion beschreibt – so seien z.B. die christlichen Kirchen klassische mesosoziologische Akteure. Meuth legt darum abschließend einen Vorschlag zur Integration dieser vernachlässigten Perspektive mit etablierten säkularisierungstheoretischen Ansätzen vor. Der Beitrag von ANTONIUS LIEDHEGENER geht aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive der Frage nach, welches Modell des komplexen Verhältnisses von Religion, Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Politik einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Ort und Religion angemessen ist. Empirische Untersuchungen zum Verhältnis von Religion und Politik werden so durch einen Modellvorschlag ergänzt und begrifflich untermauert. Liedhegener unternimmt dabei sowohl eine konzeptionelle Bestimmung der Schlüsselbegriffe Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit und Politik als auch eine Diskussion von sechs Fallbeispielen, die auf je unterschiedliche Art und Weise die Rolle von Religion in der Politik illustrieren. Auf Basis dieser konzeptionellen und empirischen Erwägungen
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entwickelt Liedhegener sein integratives Modell der Verhältnisbestimmung von Religion in Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit und Politik. JUDITH KÖNEMANN beschließt mit ihrem Beitrag den ersten Teil des Buches. Dabei geht sie der Frage nach, inwiefern religiöse Bildung und die wissenschaftliche Reflexion religiöser Bildung, d.h. Religionspädagogik, einen inhaltlichen Beitrag zur Zivilgesellschaft leisten bzw. leisten können. Die Verknüpfung des Nachdenkens über Religion in der Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Moderne mit spezifischen Fragen religiöser Bildung führt zu einer Diskussion um eine ‚öffentliche Religionspädagogik‘, die an die Debatten um eine ‚Öffentliche Theologie‘ anschließt. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf einer Differenzierung verschiedener Konzepte von Öffentlichkeit und der damit verbundenen Differenzierungen hinsichtlich einer öffentlichen Religionspädagogik, die zunächst auf die akademische Theologie und nur indirekt auf die kirchliche Öffentlichkeit bezogen ist. Der zweite Teil des vorliegenden Buches, „Religiöse Gründe in öffentlichen Diskursen“, nimmt eine religionsphilosophische Perspektive ein. THOMAS M. SCHMIDT erläutert in seinem Beitrag verschiedene Verhältnisbestimmungen von religiösem Glauben und öffentlicher Vernunft unter den Vorzeichen einer ‚reflexiven Säkularisierung‘. Er argumentiert gegen die klassische liberale These der Trennung von Religion und Politik (Rawls) und auch gegen die Forderung einer kooperativen Übersetzung (Habermas). Vielmehr entwickelt er eine ‚dritte Stufe‘ der Reflexivität von Säkularisierung, die Religionen als Bewusstsein der Differenz versteht, welche das moderne Vernunftrecht nicht umfassend integrieren oder ethisch unterfüttern, sondern ein Bewusstsein für Unanschaulichkeit und Alterität wachhalten sollen. Sein systemtheoretischer Entwurf eines differenztheoretischen Modells von Religion ist damit eine Absage gegen jegliche Instrumentalisierung der Religion als vorrechtliche Basis des Rechts und zugleich eine innovative Art und Weise, ‚öffentliche Vernunft‘ und ihr Verhältnis zu religiösen Überzeugungen zeitgemäß verstehen zu können. In seiner Replik auf Thomas M. Schmidt hinterfragt MARTIN BREUL zunächst einige der begrifflichen Voraussetzungen Schmidts und zeigt auf, dass der schillernde Begriff der Differenz durchaus missverständlich sein kann, wenn er die gesellschaftliche Rolle der Religion markieren soll. Im Anschluss an diese kritischen Anfragen geht er dann auf epistemologische
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Vorannahmen ein, welche in der Debatte um öffentliche Vernunft und religiöse Überzeugungen selten explizit gemacht werden. Breul skizziert die grundlegenden Annahmen einer religiösen Epistemologie, die unausweichlich sind, wenn Religionen nicht bloß negativ als Marker von Differenz, sondern als öffentlich relevante und inhaltlich gefüllte Diskursbeiträge gelten sollen; und er verteidigt die Notwendigkeit kontextübergreifender Kriterien zur Beurteilung von (religiösen) Überzeugungen. MAUREEN JUNKER-KENNY fragt analog zu den ersten beiden Beiträgen der zweiten Sektion des Buches nach einer konsistenten und tragfähigen Auffassung von ‚Öffentlicher Vernunft‘. Dazu kontrastiert sie drei Modelle öffentlicher Vernunft, die von John Rawls, Jürgen Habermas und Paul Ricoeur entwickelt wurden und vergleicht diese im Hinblick auf ihren Vernunftbegriff, ihre Auffassung zur Grenze zwischen Glauben und Wissen und ihre Verhältnisbestimmung von öffentlicher Vernunft und Religion. Eine besondere Aufmerksamkeit erhält dabei Ricoeurs hermeneutischer Ansatz, der Religionen als ‚Mitbegründer des öffentlichen Raumes‘ versteht und von Junker-Kenny als nicht-reduktiv im Blick auf die Religionen und als interkulturell aussichtsreich ausgezeichnet wird. ANA HONNACKER nimmt in ihrer Replik auf Junker-Kenny zunächst Stellung zur Rekonstruktion der Ansätze von Rawls und Habermas und identifiziert Junker-Kennys basalen Kritikpunkt an beiden in ihrer fragwürdigen Verhältnisbestimmung von Religion und Vernunft. Honnacker nimmt Junker-Kennys Anliegen, mit Ricoeurs hermeneutischem Ansatz über Rawls und Habermas hinauszugehen, produktiv auf und vertieft diese Option insbesondere im Blick auf die ‚Legitimität des Exzessiven‘, d.h. die Legitimität von Äußerungen, die nicht dem common sense entsprechen bzw. aus partikularen Traditionen stammen. Sie plädiert für eine Einbettung von Junker-Kennys Ansatz in einer liberalen, deliberativen Theorie der Demokratie, da diese auch das Exzessive einfangen könne, ohne einer Dominanz des Exzessiven zu erliegen. Ein kommunikatives Grundgerüst sichert dabei maximale Inklusion, ohne einem unqualifiziertem Inklusivismus Vorschub zu leisten. Der dritte Teil des vorliegenden Buches behandelt das Themenfeld „Religion und die politische Öffentlichkeit“, indem er Ansätze der Politischen Philosophie mit theologischen Perspektiven verknüpft. Den Auftakt bildet der Beitrag von MICHAEL REDER, der sich für eine pragmatistische Neube-
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stimmung von Öffentlichkeit und Liberalismus ausspricht. Reder rekonstruiert und kritisiert die liberal geprägten Zugänge zum Konzept ‚Öffentlichkeit‘ bei Richard Rorty und Jürgen Habermas, da beide sowohl einem moralisch-funktionalen Reduktionismus der Religion erliegen als auch die Unterscheidung von öffentlich und privat nicht trennscharf ziehen können (und auch gar nicht ziehen sollten). Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Religion bedarf, so Reders These, einer Zurücknahme der strikten Trennung von Glauben und Wissen und damit einhergehend einer Zurücknahme der strikten Unterscheidung von öffentlich und privat. Religionen, pragmatistisch verstanden als soziale Praxis, können so als legitimer und auch notwendiger Bestandteil öffentlicher Diskurse aufgefasst werden. In ihrer Replik auf Reders Beitrag unternimmt ANNE WEBER den Versuch einer religionsphilosophisch-theologischen Innensicht auf die Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen. Weber verknüpft dabei die Strukturanalyse religiöser Überzeugungen, die von Klaus von Stosch vorgelegt wurde, mit Überlegungen Hans-Joachim Höhns zur Religion als dem ‚vernunftgemäßen Anderen der Vernunft‘. Im Anschluss an diesen Vermittlungsversuch diskutiert sie die Frage nach einer Kriteriologie religiöser Urteilsbildung in postsäkularen oder auch interreligiösen Diskursen und wägt ab, inwiefern eine kommunikative Vernunft mit der Bewahrung der Partikularität und des Eigenrechts verschiedener Traditionen in Einklang gebracht werden kann. Insbesondere eine kommunikative Vernunft, die offen für ‚anders-vernünftige Suchbewegungen‘ sei, sei für interreligiöse wie für postsäkulare Kontexte sinnvoll. Im nächsten Beitrag untersucht SASKIA WENDEL, welche Auswirkungen die Debatte um den öffentlichen Status religiöser Überzeugungen für eine zukünftige Politische Theologie hat. Zwar lässt sich mit dem Plädoyer der Politischen Theologie gegen eine Privatisierung von Religion ein zu strikter liberaler Exklusivismus kritisieren, zugleich aber steckt die Politische Theologie selbst in der Falle, einem radikalen und unqualifizierten Inklusivismus das Wort zu reden, welcher sowohl geltungstheoretische als auch interpretatorische Probleme mit sich bringt. Um dieses Dilemma zu lösen, differenziert Wendel zwischen der Legitimation politischer Normen und der Motivation zu politischem Engagement – auch wenn Begründungsfragen stets autonom, ohne Rückgriff auf religiöse Überzeugungen verhandelt werden sollten, können religiöse Überzeugungen motivationale und motivationsanzeigende Funktionen haben. Derart modifiziert können die berech-
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tigten Grundanliegen einer Politischen Theologie auch in Zukunft Relevanz beanspruchen. VOLKER GERHARDT untersucht in seinem Beitrag das Verhältnis von Öffentlichkeit und Gottesfrage, die er als untrennbar miteinander verbunden versteht. Zunächst unternimmt er einige Vorüberlegungen zur Verbindung jeglichen ‚Wissens‘ mit einem ‚Glauben‘ und zu dem beiden zugrundeliegenden Sinns, der stets zwischen Wissen und Glauben oszilliere. Im Sinne dieser Vorüberlegungen entwirft Gerhardt sodann eine aufgeklärte, ‚rationale Theologie‘, die Gott nicht als externe Obrigkeit denken möchte, sondern als das ‚Ganze, das uns die Welt bedeutet‘ zu verstehen sucht. Dieses Verständnis Gottes als ‚Sinn des Sinns‘ hat wiederum Konsequenzen für den Begriff der Öffentlichkeit, da eine auf Verständigung beruhende, göttlich bewirkte Einheit der Welt wichtige Beiträge zur Lösung religionspolitischer Konflikte leisten kann. Die Öffentlichkeit Gottes symbolisiert dabei Gerhardt zufolge die prinzipiell öffentliche Zugänglichkeit der Welt. Volker Gerhardts öffentliche Theologie wird im letzten Beitrag des Buches von PATRICK ZOLL einer ausführlichen Kritik aus theistischer Perspektive unterzogen. Zunächst rekonstruiert Zoll drei zentrale Thesen Gerhardts sowie die Argumente, die er für diese Thesen anführt. Er würdigt dabei Gerhardts Versuch, einen aufgeklärten Glauben in der Moderne zu verteidigen und die existenzielle Relevanz eines glaubenden Daseinsvollzuges herauszustellen. Im Anschluss äußert Zoll drei kritische Einwände gegen Gerhardts Konzept einer öffentlichen Theologie, die hauptsächlich seine Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen betreffen. Zoll kritisiert einen reduktionistischen Begriff des ‚Glaubens‘ in Gerhardts Ansatz, der für Theisten viel zu formal und damit inakzeptabel sei – Gerhardts öffentliche Theologie sei darum noch nicht offen genug. Zugleich teilt Zoll aber Gerhardts Anliegen, kritisch zu prüfen, inwiefern Religion nicht konstitutiv für eine Vernunft sein kann, die nicht zu einer Ideologie verkommen möchte. An dieser Stelle möchten wir allen danken, die durch ihre Mitarbeit und ihr Engagement zum Entstehen dieses Band beigetragen haben. An erster Stelle möchten wir allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Beiträge danken. Ein ganz besonderer Dank geht an Dr. Martin Breul, der maßgeblich an der Idee und Konzeption mitgewirkt sowie die Hauptlast der Redaktionsarbeit des Buches übernommen hat. Danken möchten wir auch Amelie Liebst und Ruth Glaubitz für die sorgfältige Erstellung der Druckformat-
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vorlage und für alle Korrekturarbeiten. Und nicht zuletzt sei dem transcriptVerlag für die Publikation des Buches und Carolin Bierschenk für das Lektorat des Bandes und die gute Zusammenarbeit herzlich gedankt.
Religion in spätmoderner Gesellschaft
The Dialectical Pattern of Secularization. A Comparative‐Historical Approach W ARREN S. G OLDSTEIN
One of the core assumptions of the sociological theory of religion was that with the evolution of society, religion would no longer be functionally necessary – that it would decline if it doesn’t disappear altogether. God, if not dead, would become increasingly more distant and that if he continued to rule it would be “from on high and afar off”1. There would be a “disenchantment of the world” to use an expression by Weber. 2 The assumption that the process of secularization accompanied societal modernization was one of the core narratives, which began with the Enlightenment and continued through the Industrial Revolution. It culminated in the perception of the “old paradigm” in the sociology of religion.3 While the seeds of reversal can be found in the more spiritually oriented counterculture of the 1960s, beginning in the late 1970s, a series of events unfolded that shook the very foundations of the faith in this more crude and deterministic interpretation of the theory of secularization. The turn took place with the simultaneous rise of the Christian right in the United States and the Iranian Revolution led by Imam Khomeini in 1979. Over the next few decades, the return to religion continued on across the globe with the
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DURKHEIM, ÉMILE, The Division of Labour in Society, New York 1984, 119. WEBER, MAX/ GERTH, HANS HEINRICH/ WRIGHT MILLS, Charles, From Max Weber. Essays in Sociology, New York 1946, 155. WARNER, STEPHEN R., Work in Progress toward a new Paradigm for the Sociological Study of Religion in the United States, in: American Journal of Sociology 98 (1993), 1044-1093.
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rise of Islamism in the Muslim world, Evangelicalism in the United States, Ultra Orthodoxy in Israel and the United States, Pentecostalism in Latin America and Africa, Hindu Nationalism in India, and the House Church Movement in China to name the most visible. Correspondingly, sociologists of religion divided into two camps: the new paradigm, which sought to refute the theory of secularization and the neo-secularization paradigm, which attempted to rescue it. How does one make sense of these events? After a long period in which religion was seemingly in decline, how does one explain its resurgence? Does this mean that secularization theory needs to be rejected or is it merely in need of modification? What is needed, I shall argue is a more synthetic approach, which is able to incorporate valid elements of both the old and new paradigms in the sociology of religion. It is a dialectical theory of secularization which is up to this task.
1. P ATTERNS
OF
S ECULARIZATION
One of the core assumptions about secularization is that it would take place in a linear manner. However, a close reading of both the classics in sociology of religion (Max Weber and Emile Durkheim) and the old paradigm reveals that there are several different patterns of secularization that can be discerned. Besides a linear pattern, these include a cyclical pattern, a spiral pattern, a dialectical pattern and a paradoxical one.45 In a linear pattern (Figure 1), secularization occurs along a straight line – in a gradual evolutionary manner from the religious to the secular, from an emphasis on the other world to life in this world, from a strong belief in the sacred to its profanation. Rejections of the theory of secularization are based on a linear conception of it. A linear conception is positivist; it is implicit in quantitative data analysis – in particular in “linear regressions” which look for the straight line between a set of points. Refutations of the
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Cf. GOLDSTEIN, WARREN, Patterns of Secularization and Religious Rationalization in Emile Durkheim and Max Weber, in: Implicit Religion 12, 2 (2009), 135-163. Cf. GOLDSTEIN, WARREN, Secularization Patterns in The Old Paradigm, in: Sociology of Religion 70, 2 (2009), 157-178.
T HE D IALECTICAL P ATTERN OF S ECULARIZATION | 21
theory of secularization are claimed when it does not conform to this pattern.6 Figure 1: The Linear Pattern of Secularization
In a cyclical pattern of secularization (Figure 2), there is a return to from where we have started. Secularization is followed by a religious revival. There is no advancement or development. Steve Bruce has described secularization as cyclical but he has done so only briefly. 7 One variation of this is Stark and Bainbridge’s pendulum theory of secularization in which they argue that secularization is a self-limiting process.8 There is a tendency of the unchurched to become churched. Secularization leads to sect (revival) and cult (innovation) formation.
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Cf. WARNER, STEPHEN R., Work in Progress toward a new Paradigm for the Sociological Study of Religion in the United States 1993; STARK, RODNEY, Secularization R.I.P., in: Sociology of Religion 60,3 (1999) 249-273. Cf. BRUCE, STEVE, God is Dead: Secularization in the West, Oxford 2002, 176. Cf. STARK, RODNEY/ BRAINDBRIDGE, WILLIAMS SIMS, The Future of Religion. Secularization, Revival and Cult Formation, Berkeley 1985, 2-3, 399, 404, 430, 435, 448.
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Figure 2: The Cyclical Pattern of Secularization
The spiral pattern of secularization (Figure 3) can be mistaken for the cyclical pattern. However, it is not a “return to the beginning” but in each cycle, there begins a new phase of religious development. It is characterized by loops forward in the direction of secularization and those backwards toward revival. The spiral pattern “closely resembles […] the Hegelian-Marxian dialectic”.9
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PARSONS, TALCOTT, Belief, Unbelief and Disbelief, in: Caporale, Rocco/ Grumelli, Antonio, The Culture of Unbelief: Studies and Proceeding from the First International Symposium on Belief, Berkeley 1971, 225, 244.
T HE D IALECTICAL P ATTERN OF S ECULARIZATION | 23
Figure 3: The Spiral Pattern of Secularization
Several prominent theorists of secularization have described the process as dialectical.10 However, their characterizations of this pattern have again been brief and they have not developed it into a systematic and detailed theory. In the dialectical pattern of secularization (Figure 4), movements in the direction of secularization are accompanied by religious countermovements.11 In this critical conception, movements and countermovements are in conflict with each other and the dynamic between them pushes the curve down toward secularization or up to revival. In this scenario, both can be taking place at the same time among different parts of the population. Within religious groups, secularization entails a process of religious rationaliza-
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Cf. FENN, RICHARD, Toward a Theory of Secularization, Storrs 1978 (Society for the Scientific Study of Religion, 1); Vgl. DOBBELAERE, KAREL, Towards an Integrated Perspective of the Processes Related to the Descriptive Concept of Secularization, in: Sociology of Religion 60 (1999) 229-247; Vgl. GORSKI, PHILIP STEPHEN, Historicizing the Secularization Debate: Church, State, and Society in Late Medieval and Early Modem Europe, ca. 1300 to 1700, American Sociological Review 65 (2000) 138167; Vgl. DEMERATH, NICHOLAS J., Secularization Extended: From Religious 'Myth' to Cultural Commonplace, in: FENN, RICHARD K., The Blackwell Companion to Sociology of Religion, Oxford 2001, 210-228; Vgl. MARTIN, DAVID, On Secularization. Towards a Revised General Theory, Aldershot 2005. Cf. GOLDSTEIN, WARREN, The Dialectics of Religious Conflict: Church, Sect, Denomination, and the Culture Wars, in: Culture and Religion 12,1 (2011), 77-99.
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tion. Due to advancements in science and the development of morality, religions over time undergo a process of rationalization; even if at first resistant, they eventually accommodate to the changes in this world. Figure 4: The Dialectical Pattern of Secularization
The final pattern of secularization is the paradoxical (Figure 5). “The paradoxical is the signature of the postmodern.”12 Postmodern science – by concerning itself with such things as undecidables, the limits of precise control, conflicts characterized by incomplete information, “fracta”, catastrophes, and pragmatic paradoxes – is theorizing its own evolution as discontinuous, catastrophic, nonrectifiable, and paradoxical.13
Rejecting metanarratives, in this conception, the return to religion cannot be explained by a coherent explanation of the development of society. While secularization goes hand in hand with modernity, the rise of religious fun-
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W. GOLDSTEIN, Patterns of Secularization and Religious Rationalization in Emile Durkheim and Max Weber, 136. LYOTARD, JEAN-FRANҪOIS, The Postmodern Condition. A Report On Knowledge, Minneapolis 1984, 60.
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damentalism is a characteristic of postmodernity.14 Religious revival does not always make sense and one cannot rationally explain it except with a return to the irrational. Theorists such as Richard Fenn, Niklas Luhmann and David Martin have described secularization as paradoxical.15 Figure 5: The Paradoxical Pattern of Secularization
Of all these patterns of secularization, I find the dialectical the most persuasive. I am not claiming the dialectical pattern as a universal theory but rather one that describes the pattern by which secularization occurs during certain periods. At times, secularization can also be linear. I am convinced that the spiral pattern is mistaken as being cyclical and that the spiral itself is really the result of a dialectic. Unlike the postmodernists, I think that the development of society is more coherent – that one can make sense of it and that it is not just an attempt to impose a narrative structure over history. The solution to the paradox of secularization and religious revival is a dialectical theory of collective social interaction.
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BEST, STEPHEN/ KELLNER, DOUGLAS, The Postmodern Turn, New York/ London 1997, 30. R. K. FENN, Toward a Theory of Secularization; LUHMANN, NIKLAS, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000; D. MARTIN, On Secularization: Towards a Revised General Theory.
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2. T HEORETICAL F RAMEWORK While one can discern other patterns of secularization (like the linear or paradoxical) in the writings of Max Weber, his sociology of religion (Religionssoziologie), sociology of domination (Herrschaftssoziologie), interpretive sociology (Verstehende Soziologie), and theory of rationalization provide the basis for a more systematic dialectical theory of secularization. The unifying theme of Weber’s corpus is the theory of rationalization. The very foundations of societal rationalization or the lack thereof is due to the role played by religion. Whereas in the Orient, religion hindered the development of society, in the Occident, it played a key role. Religion, like society itself, undergoes a process of rationalization. Jürgen Habermas has argued that Weber has a “dialectic of rationalization”16. As I have demonstrated, Weber has a dialectic of religious rationalization.17 Contained throughout Weber’s writings are three sets of opposing types of rationality: value and purposive, theoretical and practical, and formal and substantive.18 Value and purposive rational action are two of the four ideal types of social action; the other two non-rational types of social action are traditional and affective.19 When social actions are guided by values, whether they are “ethical, ascetic, religious or any other” then they can be said to be value rational.20 Purposive rationality, on the other, hand, is more instrumental; it is a mean-ends type of rationality. It is when the agent focuses on the “‘means’ to achieve […] his own rationally pursued and calculated purposes”21. There is a tension between these two types of rationality; each can be irrational from the standpoint of the other. For example, when an actor acts
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HABERMAS, JÜRGEN, Theorie des kommunikativen Handelns. Band I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 1981, 234, 331. W. GOLDSTEIN, Patterns of Secularization and Religious Rationalization in Emile Durkheim and Max Weber. Cf. KALBERG, STEPHEN, Max Weber’s Types of Rationality. Cornerstones of the Analysis of Rationalization Processes of History, in: American Journal of Sociology 85 (1980), 1145-1179. Cf. WEBER, MAX/ ROTH, GUENTHER/ WITTICH, CLAUS, Economy and Society, 2 vols., Berkeley 1978, 24-26. WEBER, MAX/ RUNCIMANN W. G., Selections in Translation, Cambridge 1978, 28. M. WEBER/ W. G. RUNCIMANN, Weber: Selections in Translation, 25.
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based on a particular value, from a purposive standpoint, it may be irrational. Likewise, purposive rationality can conflict with certain sets of values and the rationality of one type of value (for example freedom) can conflict with that of another (like equality). Weber used theoretical and practically rationality to juxtapose the different types of rationality guiding the various world religions. Theoretical rationality entails the elaboration of abstract conceptual apparatuses that form the basis of religious belief systems while in contrast, similar to purposive rationality, practical rationality is far more pragmatic and is more concerned with life conduct in this world.22 Weber employed theoretical rationality to describe the complex conceptual systems of Hinduism and Buddhism while he used practical rationality to describe both Protestantism and Confucianism. Weber used substantive and formal rationality to describe decision making in both economics and law. Analogous to value rationality, substantive rationality is when legal or economic decisions are based on values. In economics, formal rationality is when economic decisions are not based on values but purely on quantitative calculation (e.g. profit, minimized cost, or efficiency) and in law it is when the rules of law are applied to concrete case.23 These opposing types of rationality underlie Weber’s sociology of domination, which provides a theory of the development of society or its rationalization. There are three major types of domination: traditional, charismatic, and bureaucratic. Traditional and bureaucratic are everyday (alltäglich) types of domination and are economically rational. Charismatic domination, in contrast, is not everyday (außeralltäglich) and is wirtschaftsfremd (strange to economics). Decisive in this is that charismatic domination is revolutionary; it is pivotal. The charismatic leader challenges the existing order. If they are successful, they establish a new order. Ultimately, this new order will need to become institutionalized; it will become routinized and there will be a return to the everyday (Veralltäglichung).24 In Weber’s sociology of religion, the distinction between the prophet and the priest follows this theoretical framework. “Prophets and priests are
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M. WEBER, From Max Weber, Essays in Sociology, 293. Id., Economy and Society, 86, 656-657. Id., Economy and Society, 212-271, 941-1157.
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the twin bearers of the systematization and rationalization of religious ethics.”25 The prophet is charismatic and driven by value rationality. The priest, on the other hand, is casuistic; they formally interpret the word of the prophet. Prophets and priests can also stand in conflict with each other. The prophet challenges the priestly order. The prophet establishes a new religion while the priest institutionalizes it. In establishing a new order, the prophet engages in value rationalization by establishing a new order based on a higher set of values. Weber also categorizes world religions according to different ideal types. Some religions are more otherworldly while other religions are more this worldly. In addition, some religions are mystical while others are more ascetic. Weber considers Calvinism, which is this-worldly asceticism to be the most rationalized form of religion. As a more recent historical development, it is the latest incarnation of a process of religious rationalization. Therefore, at least in the Occident, there is some type of trajectory towards the rationalization of religion. This process is not linear but is the result of tensions between opposing types of rationality, domination, and ultimately actors who are the driving force behind these processes. Also following this theoretical framework is church-sect theory. While Weber first articulated this dichotomy, Ernst Troeltsch further developed it along the lines laid out by Weber. Churches are everyday institutions of the upper classes run by priests while sectarian movements are charismatic movements, which come from below.26 While sectarian movements are breakoffs from churches and move in the direction of higher tension with this world, over time they becomes routinized into churches and move back in the direction of lower tension due to the economic success of their members.27
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Id., The Sociology of Religion, Boston 1963, 45. TROELTSCH, ERNST, The Social Teaching of the Christian Churches, Louisville 1992, 331. Cf. NIEBUHR, RICHARD, H., The social sources of denominationalism, Gloucester 1987: 54; Vgl. R. STARK/ W. S. BAINBRIDGE, The Future of Religion. Secularization, Revival and Cult Formation, 149-167; Vgl. FINKE, ROGER/ STARK, RODNEY, The Churchin of America 1776-1990. Winners and Losers in Our Religious Economy, New Brunswick 1992, 40-46.
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3. A C OMPARATIVE -H ISTORICAL APPROACH As I have stated earlier, the dialectical pattern of secularization is not a universal theory. Rather, it is one among several patterns. Nevertheless, it is a long-term pattern discernable in numerous historical instances. In the remainder of this essay, I shall highlight this pattern in four different cases: the Left Hegelians in Germany, the Culture Wars in the United States, the events leading up to and the aftermath of the Iranian Revolution of 1979, and China since the emergence of the Communist Party. I shall then compare and contrast these cases and discuss what can be learned from these comparisons. What I wish to show is that in each of these cases a dialectical pattern of secularization is discernable. 3.1 The Left Hegelians The theoretical framework guiding this analysis while relying heavily on the work of Max Weber, is a dialectical interpretation of it – one which he most likely would have rejected – but nevertheless was performed by the critical theory of the Frankfurt School. Nevertheless many of the conceptual and methodological components are a synthesis of a rich theoretical tradition of German social thought whose origins are Immanuel Kant but extend through Hegel, his interlocutors and disciples. The application of dialectics to history was first performed by Hegel but materialized in the writings of Marx and Engels. Equally as interesting as the philosophical systems themselves was the historical context in which they were developed; there is a direct correlation between the two. The flourishing of German philosophy comes in the aftermath of the French Revolution. The Enlightenment did not come to Germany solely through the spread of ideas but also as a consequence of its occupation by Napoleonic troops. The French brought their republican ideas and laws with them and toppled many of the German monarchies. However, this did not last; the progress was not linear and by 1815 with the Congress of Vienna, the German monarchies were restored. Along with the restoration of an absolute monarchy, there was also the reassertion of Prussia as a Christian (Lutheran) state. One can see this movement and countermovement particularly in the case of German Jews – who before the occupation were not citizens with equal rights, but were granted many rights under the occupation only to have them rescinded un-
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der the Restoration. Emblematic of this is the father of Karl Marx who had to convert to Christianity after the Restoration to be able to practice law. This was the historical context in which the Hegelian movement split into different wings: right, left, and center. The Left Hegelians took their initial aim not against the state but against the church – in particularly against its Pietistic domination, which existed under Kaiser Friedrich Wilhelm III but intensified under his son who came to the throne in 1840. David Friedrich Strauss’ landmark The Life of Jesus, Critically Examined, originally published in 1835, was a watershed not only in this movement but it lays the foundation for biblical criticism itself. While Strauss’ attempt to separate history from myth in the Gospels may not seem very radical today, he was subsequently dismissed from his academic position. Nevertheless, he became a cause célèbre and the Left Hegelians, far from retracting, continued in full frontal assault. Bruno Bauer went a step further than Strauss and argued that it was impossible to rescue the historical Jesus and that one could not treat the Gospels as anything other than a literary work – that is a work of fiction. Consequently, Bauer’s academic career went the way of Strauss’ (and Ludwig Feuerbach’s too).28 Bruno’s brother Edgar was imprisoned for four years for writing a book defending his brother. Edgar like his brother Bruno passionately called for a separation of church and state.29 Marx, who had hoped to gain a university career by working with Bruno, abandoned this hope when Bauer was dismissed. As a result, Marx took to journalism editing Die Rheinische Zeitung. The writings of the Left Hegelians were subject to continual censorship culminating in the closure of Die Rheinische Zeitung and Arnold Ruge’s Das Deutsche Jahrbücher in the spring of 1843.30 On the eve of the German Revolution of 1848, the Left Hegelians had been suppressed with some of their members going into isolation (Strauss, Bauer, Feuerbach) while others went into exile (Marx and Engels). While the Prussian monarchy was not overthrown in 1848,
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TOEWS, JOHN EDWARD, Hegelianism. The path toward dialectical humanism 18051841, Cambridge 1980, 216, 252-253, 340-341. BAUER, EDGAR, Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat, Bern 1844. BRECKMANN, WARREN, Marx. The Young Hegelians and the Origins of Radical Social Theory, Cambridge 1999, 246-247.
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Kaiser Friedrich Wilhelm did make some concessions allowing Prussia to become a constitutional monarchy.31 The point to be gleaned from this is that the Left Hegelians were themselves a secularizing intellectual movement. As such, they met fierce resistance from the Pietist state. The pattern here is a dialectical one of secular movement with the state and organized religion acting as countermovement. 3.2 The United States Roger Finke and Rodney Stark in The Churching of America 1776-1990 offer an inversion to the theory of secularization – that is during the time frame they cover, the United States has become increasingly churched. Whereas the new paradigm criticizes the old for having a baseline in medieval Christianity, the baseline of Stark and Finke’s study is the height of the American Enlightenment (1776) where they estimate that 17 percent of the population belonged to a church.32 Although they acknowledged dramatic rises and serious declines during the 19th century, they point out that since the 1920s the church adherence rate “has been rather stable although inching upwards” to 62 percent in 1980.33 Furthermore, Finke and Stark argue against William G. McLoughlin’s “cyclical theory of American religious expression”34. The first and second Great Awakenings, according to them, were not spontaneous but planned. Christian Smith in The Secular Revolution reminds us that secularization is “much more like a contested revolutionary struggle than a natural
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BARCLAY, DAVID E., Frederick William IV and the Prussian Monarchy, 1840-1861, New York 1995, 180, 182-183. This follows Christian Smith’s suggestion that when it comes to secularization, we need to pay attention to the baseline from where it starts, cf. SMITH, CHRISTIAN, Introduction. Rethinking the Secularization of American Public Life, in: Id., The Secular Revolution. Power, Interests and Conflict in Secularization of American Public Life, Berkeley 2003. R. FINKE/ R. STARK, The Churching of America 1776-1990, 15. R. FINKE/ R. STARK, The Churching of America 1776-1990, 87. Cf. also MCLOUGHLIN, WILLIAM G., Revivals Awakenings and Reform, Chicago 1978.
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evolutionary progression.”35 Furthermore, much secularization theory lacks human agency. A revised theory of secularization needs to pay attention to the baseline as well as agency. The chapters in the Smith book look at secularization in the United States as a contested process paying close attention to American higher education and the fundamentalist movement in the 1920s, which culminated in the Scopes Monkey Trial. As José Casanovareminds us, while William Jennings Bryan won the trial, the fundamentalists lost the battle in American public opinion (due to the coverage by H.L. Mencken), and went into retreat.36 While church-sect theory is useful in describing religious divisions in the Europe or the United States in the 19th century and earlier, what developed in the United States in the 20th century was denominationalism. According to H. Richard Niebuhr, denominations in the United States are dividing along the lines of class, race, ethnicity and region. 37 Whereas the mainline denominations like the Congregationalists, Episcopalians, and Presbyterians concentrated their activities in the Northeast, the frontier churches like the Baptists and Methodists spread to the South and the Midwest. The mainline denominations were more affluent and educated whereas the frontier churches relied on lay preachers and appealed to the lower classes. Whereas the mainline churches were more religiously rationalized, the frontier churches existed in a higher state of tension with this world.38 Wade Clark Roof and William McKinney in American Mainline Religion engaged in a survey of denominations in the United States. 39 They classified them along a political spectrum from those that are most conservative to those that are the most liberal. Members of conservative denominations tend to be less educated and affluent while those who are the
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C. SMITH, Introduction: Rethinking the Secularization of American Public Life, in: ID. (Ed.), The Secular Revolution: Power, Interests and Conflict in the Secularization of American Public Life, Berkeley 2003, 1. CASANOVA, JOSÉ, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, 143; KEMNEY, P. C., Power, Ridicule and the Destruction of Religious, Moral, Reform, Politics in the 1920s, in: Smith, Christian, The Secular Revolution. Power, Interests and Conflict in Secularization of American Public Life, Berkeley 2003, 231. NIEBUHR, RICHARD H., The Social Sources of Denominationalism, Gloucester 1978. R. FINKE/ R. STARK, The Churching of America 1776-1990. ROOF, CLARK/ MCKINNEY, WILLIAM, American mainline religion. Its changing shape and future, New Brunswick 1987.
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most liberal on average are the most educated and affluent. There is a pattern of denominational switching from more conservative to more liberal and ultimately out – to having no religious affiliation. One of the underlying causes is the secularizing influence of wealth. Roof and McKinney describe this pattern as cyclical.40 Beginning in the 1980s, a group of sociologists of religion observed that conflict no longer necessarily takes places between denominations but can also take place within denominations. The fault lines had once again shifted. The current lines of religious conflict in the United States are between the religious and the secular, religious conservatives and religious liberals, the orthodox and progressives. 41 James Davidson Hunter, borrowing from the 19th century Kulturkampf in Germany between Protestants and Catholics, described the current conflict in the United States as “the Culture Wars”. While the current conflict has is roots in that of the 1920s between fundamentalists and modernists, it is an outgrowth of the cultural changes that the United States experienced during the 1960s. While the counterculture pushed America in a left-wing direction toward greater toleration of “sex, drugs, and rock and roll,” at the same time there was a right-wing reaction against it culminating in the emergence of the Christian coalition, the Moral Majority and the election of Ronald Reagan in 1980. Neither side has backed down. Conflict has continued over the next few decades on issues like abortion, school prayer, creationism, pornography and now gay marriage. Since the state is able to determine the policies on each of these issues, the conflict is mediated by the political system.42 The dividing lines between the religious right and the not so religious left correlates with redstate blue-state divisions. At this time, it seems like the right is losing many of these battles but they are far from having given up. One of the factors driving this dynamic is increasing levels of wealth and education in the United States. Its latest manifestation is the growth of the “nones”. Particu-
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ID., 108-109. C. ROOF/ W. MCKINNEY, American mainline religion. Its changing shape and future; WUTHNOW, ROBERT, The restructuring of American religion. Society and faith since World War II, Princeton 1988; HUNTER, JAMES DAVIDSON, The culture wars. The struggle to define America, New York 1991. COSER, LOUIS, The Functions of Social Conflict, New York 1956, 134; R. WUTHNOW, The restructuring of American religion. Society and faith since World War II, 315, 319, 322.
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larly over the issue of abortion, each side keeps on repositioning itself in relationship to each other. Borrowing and modifying Robert Wuthnow43, I have described the dynamic as one of “secular and religious movement and counter movement”44. A secular movement, as I understand it, also can be one of religious rationalization. Contrary to the pattern observed by Finke and Stark – that of linear sacralisation – following Smith and his colleagues, I see secularization as a contested process. There are shifting lines of conflict but largely it resembles more of a spiral – a dialectic of secular and religious movement and countermovement. 3.3 Iran45 If there is a single event, which fundamentally challenges the theory of secularization, it is the Iranian Revolution of 1979, which was a watershed dividing a secularizing trend from the return to religion. The Islamic Republic, with its establishment of a theocracy, is an instance of dedifferentiation in which separation of mosque and state was reversed. If secularization has occurred in Iran, the process has only been partial and temporary. An examination of it reveals that it is not linear but rather a contested process driven by secular and religious rationalizing movements and religious countermovements. In order to get a read on how the process of secularization has unfolded in Iran, one needs to establish a baseline. At the heart of traditional Islamic society are Sharia laws – in particular those that govern sexual and gender relations. The most symbolic of these is the wearing of the veil but others include polygamy (having up to four wives) and temporary marriage (Keddie 2006: 31-33; Afary 2009: 33, 44, 60).46 The old middle classes in Irani-
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Ibid., 321. W. GOLDSTEIN, The Dialectics of Religious Conflict: Church, Sect, Denomination, and the Culture Wars. This section is a summary of a full-length journal article published in Islamic Perspective, GOLDSTEIN, WARREN, Secularization and the Iranian Revolution, in: Islamic Perspective 3 (2010), 50-67. KEDDIE, NIKKI P., Modern Iran. Roots and Results of Revolution, New Haven/ London 2006, 31-33; AFARY, JANET, Sexual Politics in Modern Iran, Cambridge 2009, 33, 44, 60.
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an society, the Ulama (clerics) and Bazaaris (merchants) have practiced and defended a traditional religious lifestyle. 47 Efforts by reformers in Iran began in the late 19th century and culminated during the Constitutional Revolution of 1905-1911. Many of the reforms implemented were opposed by conservatives. 48 The first Shah of Iran (Reza Shah) came to power in 1925. He embarked upon a program of forced secularization. This included secularization of the educational and judicial systems. Most controversial was forced unveiling and requiring men to wear western clothing. These changes led to the growth of the new middle classes. While the Shah attempted to modernize Iran culturally and economically, he resisted political democratization.49 Mossadeq, who was elected as Prime Minister under the rule of Reza Shah’s son Mohammed Reza Pahlavi, continued to modernize and secularize Iran. He nationalized the oil industry, expropriating property from the Anglo-Iranian Oil Company. This resulted in a coup d’etat organized by the CIA and MI6 after which there was a brutal suppression of Mossadeq’s nationalist party and the Tudeh Communist Party. Opposition to the regime took place through the Mosque network, which was autonomous from the state.50
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PARSA, MISAGH, Social Origins of the Iranian Revolution, New Brunswick 1989, 9193; MOADDEL, MANSOOR, Class, Politics and Ideology in the Iranian Revolution, New York 1993, 105-106; KIAN THIÉBAUT, AZADEH, Secularization of Iran Doomed Failure? The New Middle Class the Making of Modern Iran, Paris 1998, 111; N. P. KEDDIE, Modern Iran. Roots and Results of Revolution, 16. KIAN THIÉBAUT, AZADEH, Secularization of Iran Doomed Failure? The New Middle Class the Making of Modern Iran, 27-30; ARJOMAND, SAID AMIR, The Turban for the Crown. The Islamic Revolution in Iran, New York 1988, 48. S. ARJOMAND, The Turban for the Crown, 82; A. KIAN-THIÉBAUT, Secularization of Iran Doomed Failure? The New Middle Class the Making of Modern Iran 1998: 47, 68-69, 72-73, 75-76; WRIGHT, ROBIN, The Last Great Revolution. Turmoil and Transformation in Iran, New York 2001, 45; N. P. KEDDIE, Modern Iran. Roots and Results of Revolution, 102; ID., Modern Iran. Roots and Results of Revolution, 100; J. AFARY, Sexual Politics in Modern Iran, 13, 142-143, 156-157. S. ARJOMAND, The Turban for the Crown,72; A. KIAN-THIÉBAUT, Secularization of Iran Doomed Failure? The New Middle Class the Making of Modern Iran, 98-99, 101-105, 122, 124, 131, 212; KURZMAN, CHARLES, The Unthinkable Revolution in Iran, Cambridge 2004, 38; N. P. KEDDIE, Modern Iran. Roots and Results of Revolution, 128, 130,132-133, 135; J. AFARY, Sexual Politics in Modern Iran, 202.
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The reforms implemented by the Shah in 1963 known as the White Revolution, adversely affected the Ulama and Bazaari, and triggered a conservative traditionalist reaction against them. Ayotollah Khomeini emerged as the leader of this opposition movement and was forced into exile. 51 While in exile, Khomeini was able to organize opposition to the regime through the Mosque network, by among other things recording speeches and issuing Fatwas.52 Nevertheless, the regime continued on its program of Western modernization, which included gender relations. Opposition to the regime continued to build up among broad parts of the population and included both the old and new middle classes. The old middle classes were particular concerned about the moral deterioration of traditional society due to the influence of Western culture. The Iranian Revolution of 1979 was supported by a broad coalition of social classes but spearheaded by the Shia Islamism of Imam Khomeini. After the revolution, there was a brutal suppression of the left-wing and secular parts of the movement by the Islamic Republican Party during the Black Terror. In the early 1980s, leaders of the newly established Islamic Republic of Iran implemented a Cultural Revolution imposing Sharia law over the society.53 The Islamic Republic, by its very name, fused both traditionalist and modern elements.54 Beginning in the mid 1980’s and with the death of Khomeini in 1989, charisma has become routinized and the political direction of the regime has shifted back and forth between traditionalists and reformers. Conservatives, supported by the old middle classes, are opposed to the process of secularization and attempt to assert tradition through the enforcement of Sharia laws. Reformers, supported by the new middle classes, are not secularists but rather rationalizers of religion thus
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S. A. ARJOMAND, The Turban for the Crown. The Islamic Revolution in Iran, 72-73, 86; M. PARSA, Social Origins of the Iranian Revolution, 50, 99-100, 194; A. KIANTHIÉBAUT, Secularization of Iran Doomed Failure? The New Middle Class the Making of Modern Iran, 127-128; N. P. KEDDIE, Modern Iran. Roots and Results of Revolution, 147-148; J. AFARY, Sexual Politics in Modern Iran, 203-204. DABASHI, HAMID, By What Authority? The Formation of Khomeini’s Revolutionary Discourse, 1964-1977, in: Social Compass 36,4 (1989), 512-513; CHEHABI, HOUCHANG E., Religion and Politics in Iran. How Theocratic is the Islamic Republic?, in: Daedalus 120,3 (1991), 74. M. MOADDEL, Class, Politics and Ideology in the Iranian Revolution, 212. R. WRIGHT, The Last Great Revolution. Turmoil and Transformation in Iran, 8.
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moving Iranian society in the direction of accommodation to this world. Because of this contest for power, secularization is not linear but resembles a spiral resulting from a secularizing and religious rationalizing movement and a traditional conservative countermovement against it. 3.4 China 55 Secular movements in China first emerged around the Chinese Revolution of 1911-1912. Before that, some of the major conflicts took place along religious lines (e.g. the Taiping and Boxer Rebellions). The earliest of these secular movements was the May Fourth Movement. Beginning in the 1920s, the Chinese Communist Party under the leadership of Mao Tse Tung, was the primary carrier of the process of secularization. 56 During its early years, immediately after the Long March, the Chinese Communist Party was tolerant toward religious minorities because it needed their support.57 During the Civil War, due to the Communist Party’s ideological stance of scientific atheism, the Kuomintang (Chinese Nationalist Party) under the leadership of Chiang Kai-shek received the support of the Vatican and Protestant churches, which had missionaries in China. The Chinese Communists, on the other hand, associated Christianity with Western imperialism. With the establishment of the People’s Republic of China in 1949, the official state policy was to cut off religious institutions from their foreign ties and bring them under their control thorough the establishment of religious patriotic associations.58 During the 1950s and coming to a head
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This section is a summary of GOLDSTEIN, WARREN S., The Mandate of Heaven on Earth. Religious and Secular Conflict in China, in: Boer, Roland/ Durbin, Sean, Religion and Radicalism, Volume 2: After the Revolution. Religious Radicalism in PostRevolutionary States, London, forthcoming. GOOSEART, VINCENT/ PALMER, DAVID A., The Religion Question in Modern China, Chicago 2011, 51, 396-397; BAYS, DANIEL H., A New History of Christianity in China, West-Sussex 2012, 108. E. SNOW, Red Star over China. The Classic Account of the Birth of Chinese Communism, 345; GLADNEY, DRU C., Islam in China. State Policing and Identity Politics, in: Ashiwa, Yoshiko/ Wank, David L., Making Religion, Making the State, Stanford 2009, 156; V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 143-144, 147. D. C. GLADNEY, Islam in China. State Policing and Identity Politics, 15; WANK, DAVID L., Institutionalizing Modern “Religion”, in China’s Buddhism. Political
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during the anti-Rightist campaign and Great Leap Forward, religion was increasingly repressed with the closure of many churches, temples, and mosques, the confiscation of their property, and the arrest and “reeducation” of clergy members. During this time, the House Church Movement first emerged.59 The complete suppression of religion culminated under the Cultural Revolution during which there was an attack on “the four olds” by the Red Guard. In this period 1) all churches, temples, mosques, and monasteries were closed 2) there was a destruction of religious property and 3) clergy members were publicly humiliated, arrested, imprisoned, sent to the countryside to do labor, tortured, and killed. This repression drove religion underground and led to the further growth of the House Church Movement.60 During the Cultural Revolution, the CCP attempted to replace traditional forms of religion with the secular religion of the Cult of Mao. Constructed by Mao’s ideological propagandist, Chen Boda, in the early 1940s, there was a deification of Mao who was portrayed as the new savior. While still in the countryside after the Long March, the Red Army was puritanical and the Communist sought to establish an earthly paradise. 61 Mao’s Little Red
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Phrases of a Local Revival, in: Ashiwa, Yoshiko/ Wank, David L., Making Religion, Making the State, Stanford 2009, 130; V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 140, 147, 153-154, 158. V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 140, 162163; Marsh, Christopher, Religion and the State in Russia and China. Suppression, Survival and Revival, New York 2011, 172; D. H. BAYS, A New History of Christianity in China, 174-177; Yang, Fenggang, Religion in China. Survival and Revival Under Communist Rule, Oxford/ New York 2012, 101; Spence, Jonathan Dermot, The Search for Modern China, New York ³2013, 512. XI, LIAN, Redeemed by Fire. The Rise of Popular Christianity in Modern China, New Haven 2010, 205, 207; V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 165; C. MARSH, Religion and the State in Russia and China. Suppression, Survival and Revival, 177, 183; F.YANG Religion in China. Survival and Revival Under Communist Rule, 73. SNOW, EDGAR, Red Star over China. The Classic Account of the Birth of Chinese Communism, New York 1968, 235, 259; SPENCE, JONATHAN DERMOT, Mao Zedong. A Life, London 1999, 93, 95; V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 187-189.
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Book was treated as a “sacred scripture”. His portrait was ubiquitous and rituals were performed in front of it.62 The forced secularization, which culminated in the Cultural Revolution, dialectically gave rise to the Cult of Mao and the House Church Movement. With the end of the Cultural Revolution in 1979 and the ascendency to power of the revisionism of Deng Xiaoping, there was greater tolerance toward religion. However, like in the 1950’s, it was only official state religion that was permitted.63 Nevertheless, the real growth occurred among unofficial religion as a form of protest against the state. The House Church Movement continued to grow – particularly its Pentecostal variety.64 Along with this, there was the re-emergence of the Qigong movement as a religious movement. It had previously been secularized by the state. One offshoot of this was the Falun Gong, which staged a public protest in front of the CCP headquarters in 1999, was declared an “evil cult”, and then suppressed.65 The growth of religion was further fueled by the increasing alienation and anomie cause by industrialization, urbanization, and moderni-
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URBAN, GEORGE (Ed.), The “Miracles” of Chairman Mao. A compendium of devotional literature 1966-1970, Los Angeles 1971, 39, 176; V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 188. DEAN, KENNETH, Further Partings of the Way. The Chinese State and Daoist Ritual Traditions in Contemporary China, in: Ashiwa, Yoshiko/ Wank, David L., Marking Religion, Making the State, Stanford 2009, 192; D. L. WANK, Institutionalizing Modern “Religion”, 131; V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 328; C. MARSH, Religion and the State in Russia and China. Suppression, Survival and Revival, 211; F.YANG Religion in China. Survival and Revival Under Communist Rule, 50, 75, 79-81. SZONYI, MICHAEL, “Secularization theories and the study of Chinese religions”, in: Social Compass 56,3 (2009), 315. OTEHODE, UTIRARUTO, The Creation in re-emergence of Qigong in China, in: Ashiwa, Yoshiko/ Wank, David L., Marking Religion, Making the State, Stanford 2009, 257; L. XI, Redeemed by Fire. The Rise of Popular Christianity in Modern China, 230-231; V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 338-339; F.YANG Religion in China. Survival and Revival Under Communist Rule, 26, 117.
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zation.66 However, despite this uptick in religious activity, China remains one of the least religious countries.67
4. H ISTORICAL C OMPARISONS While all of these cases share in common at certain junctures a dialectical pattern of secularization, there are differences between them. We can tease out these similarities and differences using the historical-comparative methodology utilized by the sociologist Max Weber. In a Weberian comparative-historical analysis, each case is unique. One can only get at the causes after the similarities and differences are considered. Weber rejected monocausal explanations for multicausal ones, although some causes may be given greater weight than others. Multicausality is tied to its social carriers. Since there are multiple causes, we need to consider not only the individual actions but also more importantly the interactions; they can be synchronic (occurring at the same time) or diachronic (between the past and the present). A dialectical pattern of secularization is just one model among several other patterns (linear, cyclical, spiral, and paradoxical) of action orientations; it is ideal typical – a hypothesis which is to be tested. We need to consider action orientations in context. They can display affinity with each other or be antagonistic. A comparative-historical approach rejects universal evolutionary theories and rather understands them as being developmental on a case-by-case basis. Patterns are shaped by conjunctions. This development is the result of a dynamic of social interaction.68
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L. XI, Redeemed by Fire. The Rise of Popular Christianity in Modern China, 214, 230-232, 240. YOSHIKO, ASHIWA/ WANK, DAVID L., Making Religion, Making the State in a Modern China. An Introductory Essay, in: Ashiwa, Yoshiko/ Wank, David L., Marking Religion, Making the State, Stanford 2009, 1; V. GOOSEART/ D.A. PALMER, The Religion Question in Modern China, 242-243; C. MARSH, Religion and the State in Russia and China. Suppression, Survival and Revival, 224-226; F.YANG Religion in China. Survival and Revival Under Communist Rule, 129. KAHLBERG, STEPHEN, Max Weber’s Comparative-Historical Sociology, Chicago 1994, 10-11, 54, 57, 77, 102, 141, 158, 176, 200-201.
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In both the Iranian and Chinese cases, there was forced secularization. In Iran, it was carried out by the Shah and the new middle classes and resisted by Khomeini, the Mosque network and the old middle classes. In China, it was carried by the Chinese Communist Party and resisted by the House Church Movement. While in three of the four cases (the United States, Germany, and China), a process of differentiation (separation of church and state) ultimately occurred, Iran is unique in that it went through a process of dedifferentiation – the establishment of a theocracy. In both the United States and China, there was the establishment of secular religions (American civil religion) and the Cult of Mao (China).69 The United States had sectarian movements, which became institutionalized into denominations. In both Iran and China, there were revolutionary situations in which charisma was routinized. More recently, in Iran, the Reformers having been pushing religious rationalization. Their name is borrowed from the German Reformation, which was also a rationalizing movement within religion. In all these cases, there were secular or religious rationalizing movements, on the one hand, and religious countermovements on the other. In the United States the conflict has been between progressives and the orthodox or religious liberals and conservatives. In Germany, it was between the Left Hegelians and the Pietists. In Iran, it was between the modernizing policies of the Shah and the fundamentalism of Khomeini or later between traditionalists and reformers. In China, it is between the Chinese Communist Party and the new religious movements including the House Church Movement and the Qigong groups. Yet, we must also keep in mind that these cases are also very different from each other. The dialectic of secularization occurred in very different contexts and during different periods. In each case, there were different carriers and in each, there was a constellation of different forces opposing it.
5. C ONCLUSION The misnomer of the secularization debate is that secularization only occurs in a linear manner. When secularization does not occur in a linear pattern,
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BELLAH, ROBERT N., Beyond Belief. Essays on Religion in a Post-Traditionalist World, Berkeley 1970, 168-192.
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then evidence of the countermovement is used as a refutation. A dialectical theory of secularization can help make sense of the dynamic interaction between religious rationalizing and secularizing movements and religious countermovements. A dialectical pattern of secularization is only one pattern in which secularization can occur, that is when it does occur. In this article, I have chosen four cases where this pattern is discernable. There are others out there which call for investigation. I have focused on cases by country but one could also look for this pattern between churches, sects, and denominations. Two interesting examples might be: 1) the somersaults of what is today the United Church of Christ – from Independents/ Puritans in England to Congregationalists in the United States and 2) the development of the branches of modern Judaism since the Reform movement in Germany in the early 1800s. Other instances of the dialectical patterns need to be described and each instance juxtaposed with others. Rather than offering a definitive conclusion, one should see the dialectical pattern of secularization as described in this article as the starting point for empirical investigations. It is a hypothesis to be tested. It should be contrasted with the other possible patterns of secularization. Similarities and differences need to be discerned and causes established.
Das Säkularisierungsparadigma im Lichte einer Mehrebenenanalyse Plädoyer für eine integrierte Perspektive auf das christliche Feld in den USA und Deutschland A NNA -M ARIA M EUTH
1. E INLEITUNG Seit in den 1960er Jahren in vielen christlich-westlich geprägten Gesellschaften massive Entkirchlichungsprozesse einsetzten, wurde die Annahme entwickelt, dass das Christentum einen erheblichen Relevanzverlust in diesen erfahren habe. Die empirische Sozialforschung konnte diesen Bedeutungsrückgang von Religion in der modernen Gesellschaft im Anschluss an Klassiker der Religionssoziologie in den Zusammenhang von Modernisierungsprozessen stellen. Im Kontrast zur westeuropäischen Entwicklung hat sich in den USA, einem ebenfalls hochmodernen Land, ein hohes gesellschaftliches Religionsniveau relativ stabil gehalten. Anhand der unterschiedlichen Entwicklungen in den USA und Europa wurde daher bereits umfangreich die Frage diskutiert, welche der Beobachtungen nun Normalwelche Sonderfall sein könnten und ob es sich gar beim west-europäischen Verlauf um eine „weltgeschichtliche Episode“ handele1. Während viele
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MÖRSCHEL, TOBIAS, Macht Glaube Politik? Eine Einführung, in: Ders. (Hg.), Macht Glaube Politik? Religion und Politik in Europa und Amerika, Göttingen, 2006, 7-16, 13.
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somit den westeuropäischen Ländern diesen Sonderstatus zuschrieben2 und so die universelle Säkularisierungsthese zu widerlegen suchten, arbeiteten andere die unterschiedlichen politischen, kulturellen und institutionellen Rahmenbedingungen für den Sonderfall USA heraus3. An dieser umfangreich debattierten empirischen Kontrastperspektive entspinnt sich die sozialwissenschaftliche Diskussion aber auch darüber, welche theoretischen Konzepte und methodischen Ansätze des klassischen Säkularisierungsparadigmas tragfähig bleiben können und ob und inwiefern alternative Ansätze angesichts der offenbar gegenläufigen Entwicklungen gar besser oder ergänzend greifen4. Dieser Beitrag möchte anhand der konkreten Fallbeispiele der Bundesrepublik Deutschland5 und den USA diese Alternativen mit der klassischen Säkularisierungsthese diskutieren, indem mögliche Auswege aus Pattsituationen, die durch empirische Gegenüberstellungen und theoretische Gegenreden entstanden sind, aufgezeigt werden sollen. Ziel ist es, sich Perspektiven anzunähern, die verschiedene Ansätze zur Beschreibung religiöser Wandlungsprozesse zu integrieren vermögen und die ihrerseits
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CASANOVA, JOSÉ, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994; LEHMANN, HARTMUT, Säkularisierung: der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004; DAVIE, GRACE, Europe: The Exception That Proves the Rule?, in: BERGER, PETER L., The Desecularization of the World: Resurgent Religion and World Politics, Washington 1999, 65-83. POLLACK, DETLEF/ ROSTA, GERGELY, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt am Main 2015. BERGER, PETER L./ DAVIE, GRACE/ FOKAS, EFFIE, Religious America, Secular Europe? A Theme and Variations, Aldershot; Burlington 2008; MARTIN, DAVID, Europa und Amerika. Säkularisierung oder Vervielfältigung der Christenheit – zwei Ausnahmen und keine Regel, in: KALLSCHEUER, OTTO (Hg.), Das Europa der Religionen: Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1996, 161-180; LEHMANN, HARTMUT, Secular Europe versus Christian America? Re-Examination of the Secularization Thesis, in: LEHMANN, HARTMUT (Hg.), Transatlantische Religionsgeschichte: 18. bis 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, 146158. Selbst wenn zwischen europäischen Gesellschaften Unterschiede im Religionsniveau bestehen, kann die Bundesrepublik Deutschland exemplarisch für den westeuropäischen Säkularisierungs-Verlauf herangezogen werden. Daher wird im Folgenden oft auf Europa als regional-historischer Referenzrahmen im Ganzen Bezug genommen. Das Land eignet sich zudem als Fallbeispiel, weil es sich durch Regimewechsel in seiner neueren Geschichte auszeichnet und deshalb Hinweise für das Verhältnis von Regime und Religion bereitstellen kann.
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spezifische Probleme und Fragen über Gleichzeitigkeiten und Unterschiede in Deutschland respektive West-Europa und den Vereinigten Staaten unter einem Dach bearbeiten können. Vermittlungsversuche in der soweit formulierten Absicht wollen sich somit verstärkt auf die Suche nach Kompatibilität zwischen theoretischen Erklärungsansätzen begeben. Als Grundlage für die Entwicklung einer solchen integrierenden Perspektive werden in einem ersten Schritt knapp der Debattenstand um die vielfältigen Beziehungsvarianten von Religion und Moderne abgebildet und vier Modi dieser Beziehung herausgearbeitet. Im Anschluss daran werden die Kernprobleme des Disputs um den Religionsbegriff – als zentrale Voraussetzung für die Diskussion um den Status von Religion in der Moderne – dargestellt. Daraufhin werden zunächst empirisch-analytische Positionen präsentiert, die eine Säkularisierungsperspektive sowohl für Deutschland als auch für die USA stützen. Anhand der hier sichtbar werdenden empirischen Problemstellungen zum Wandel des religiösen Feldes6 in der Bundesrepublik Deutschland und den USA seit den 1960er Jahren diskutiert der Artikel ferner die Leistung der klassischen Säkularisierungsthese in der Gegenüberstellung mit drei Ansätzen, die ihr eine empirisch-analytische Gegenrede und Kritik entgegenbringen und lotet sodann die Tragfähigkeit eines möglichen theoretischen Integrationsansatzes aus. Denn auffällig ist zunächst, dass verschiedene Kritikperspektiven oftmals auf verschiedenen sozialen Konstitutionsebenen der Gesellschaft angesiedelt sind und dabei gleichzeitig gegeneinander in Stellung gebracht werden. Individuellen Veränderungen im Glauben und in der Religionspraxis werden ein Wiedererstarken von Religion in der Öffentlichkeit entgegengehalten und umgekehrt. Mittels einer Mehrebenanalyse wird in diesem Beitrag vorgeschlagen, verstärkt die organisationale Mesoebene als Vermittlungsraum zwischen individueller und öffentlicher Religion sowie zwischen individueller Interaktion und gesellschaftlichen Großstrukturen in den Blick zu nehmen, denn die zentrale Rolle religiöser Organisationen für
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Dieser Begriff führt Vorteile für die Beschreibung des religiösen Wandels mit sich, da er sich nicht entweder auf die persönliche Religiosität und Praxis von Individuen oder Entkirchlichungsprozesse allein bezieht, sondern z.B. kollektive Akteurskonstellationen, Konfliktachsen zwischen Akteuren sowie die öffentlich- politischen Anteile von Religion und auch strukturierende Regeln für religiöse Rollen voraussetzt und miteinbezieht. Vgl. BOURDIEU, PIERRE, Das religiöse Feld: Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000.
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den religiösen Wandel, so Petzke/Tyrell, wird in der Religionssoziologie bislang zu wenig berücksichtigt7. Da Religionen in ihrer handlungsweisenden Wertebindung und Wirklichkeitsdeutung auf die Mitgestaltung der Gesellschaften abzielen, rückt die Vermittlung zwischen individueller Frömmigkeit, Organisationenlandschaft und öffentlicher religiöser Kommunikation in den Fokus. Die christlichen Kirchen zählen zu den größten intermediären Organisationen der Gesellschaft. Sie vermitteln zwischen der Privatsphäre der einzelnen Individuen und den Makro-Institutionen der modernen Gesellschaft. Sie sind als Organisationen „mesosoziologische Akteure“, deren Spezifikum es ist, ihre „inneren Strukturbildungen und Prozesse sowie äußeres Handeln zumindest teilweise durch kollektiv verbindliche Entscheidungen“8 steuern zu können. Deshalb können religiöse Organisationen und ihr öffentliches Handeln in Form von intern ausgehandelten kollektiven und eben nicht individuellen Entscheidungen als spezifische Orte religiöser Vitalität oder religiösen Lebens untersucht werden9. Ziel des Beitrags ist es, diese mesosoziale Organisationsebene in Form eines integrativen Ansatzes mit bestehenden säkularisierungstheoretischen Ansätzen wie Ansätzen, die sich kritisch mit diesen auseinandersetzen, zu diskutieren und im Anschluss daran die entwickelten Problemstellungen mit den vorliegenden empirischen Länderbeispielen auszuleuchten. 1.1 Vielfältige Beziehungen von Religion und Moderne Den einen Säkularisierungsbegriff hat es nie gegeben. Vielmehr wurde ein Forschungsparadigma ausgezeichnet, welches als eine Art Fluchtpunkt der letzten Dekaden religionssoziologischer Debatten fungiert. Im Wesentlichen ziehen sich vielfältige modernisierungstheoretische Erklärungsparameter für einen gesellschaftlichen Relevanzverlust von Religion durch dieses Feld. Diese umspannen Modernisierungsprozesse wie die funktionale
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PETZKE, MARTIN/ TYRELL, HARTMANN, Religiöse Organisationen, in: APELT, MAJA/ TACKE, VERONIKA (Hg.), Handbuch Organisationstypen, 2012, 275-306. GESER, HANS, Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und politischer Agitation. Zur aktuellen (und zukünftigen) Bedeutung religiöser Organisationen, in: GABRIEL, KARL/ GEBHARDT, WINFRIED/ KRÜGGELER, MICHAEL (Hg.), Institution, Organisation, Bewegung: Sozialformen der Religion im Wandel, Opladen 1999, 39-70, 40. M. PETZKE/ H. TYRELL, Religiöse Organisationen, 283.
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Differenzierung, Pluralisierung, Autonomisierung, Privatisierung und Rationalisierung10. Seit seiner Entstehung wurde das Säkularisierungstheorem bereits umfangreich für seine theorieimmanente verengende Sichtweise kritisiert11. Zu diesen Kritikpunkten gehören sein modernisierungstheoretischer Anspruch auf Universalität und Linearität, den somit transportierten normativen geschichtlichen Telos und seine eurozentristische Ausgangsperspektive12. Innerhalb der Debatten um Zurückweisung, Weiterentwicklung und Reformulierung der Säkularisierungsthese erweist sich jedoch nicht nur der empirische Hinweis auf unterschiedliche und regionale Entwicklungen von Religionsniveaus – insbesondere in der globalen Gesamtschau13 – als ein Einfallstor für Kritik. Zunehmend geht es auch um eine neue substanzielle Verhältnisbestimmung von Moderne und Religion14. Tatsächlich steht z.B. hinsichtlich aktueller ökonomischer Entwicklungen die Anfrage an die modernisierungstheoretisch transportierte Wohlstands- und Fortschrittsmetaphorik weiterhin im Raum. So hatte die weltweite Finanzkrise 2008 in den USA erstmalig zu einem Wachstumsstopp des GDP (Gross domestic product) geführt (http://www. bea.gov/newsreleases/national/gdp/2009/ gdp408p.htm) und in Deutschland wurde jüngst darauf hingewiesen, dass sich zunehmend eine prekäre
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Schicht in der Bevölkerungsstruktur herausbilde15. Unlängst haben die Vertreter der These reagiert. So werden verstärkt ihre prognostische Reichweite eingeschränkt, der Fortschrittslogik Umwege und Rückläufigkeiten zugestanden sowie zunehmend das (re-)aktive Handeln christlicher Akteursgruppen und Organisationen mit berücksichtigt16. Neuere Modernediagnosen, die als wesentliche Kerncharakteristika moderner Gesellschaften Konzepte der „multiplen Moderne“17oder der Kontingenz18 vorschlagen, werden allerdings nach wie vor als zu stark in beliebige Narration mündend, zurückgewiesen19. Neben den verschiedenen Moderneverläufen lassen sich fortwährend religiöse Phänomene beobachten, die ihrerseits nicht auf ein Verschwinden und einen Bedeutungsrückgang von Religion hinweisen. Im Gegenteil, teilweise scheinen gesellschaftliche Verständigungsprozesse nach wie vor unmittelbar mit religiös-kultureller Symbolik aufgeladen, teilweise politische Herrschaft fortwährend mit religiösen Legitimationen verbunden. Religiöse Belange tauchen ferner in den öffentlichen und politischen Arenen auf und scheinen aufs Engste mit verschiedenen religiösen Identitätsbildungen verwoben zu sein. Entsprechend dieser Beobachtungen sehen aktuelle religiöse Gegenwartsdiagnosen von der Verdrängungslogik, die Moderne über Religion ausübe, ab. Charakterisierungen für die religiöse Gegenwartssituation finden sich in dem Konzept „vielfältiger Säkularitäten“20, der
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Betonung von Gleichzeitigkeit von Religion und Moderne21, der Dialektik von Säkularisierung22 oder von Religion und Demokratie23. Die Ansätze um das secular age24 und die postsäkulare Gesellschaft25 beliefern die Debatte ferner nicht mehr primär mit Folgerungen über das Verschwinden oder die Rückkehr von Religion, sondern räsonieren – auf verschiedene Art und Weise – über die substantielle Rolle von Religion im demokratischen politischen Gemeinwesen moderner Gesellschaften. Neuere Beiträge um die Gesellschaftstheorie der Beziehung von Religion und Moderne schreiben bisweilen der Religion einen selbstsäkularisierenden, der Moderne eher einen religionsproduktiven Charakter zu und heben auf die Substanz und Kontinuität sinnstiftender religiöser Angebote in modernen Gesellschaften ab. In der Zusammenschau entsteht je nach Modernenarrativ eine erhebliche Varianz in der Beurteilung der Stellung von Religion in modernen Gesellschaften, wobei die einstige Verdrängungslogik aufgehoben wurde. Mit der Anerkennung und Betonung der Gleichzeitigkeit von Religion und Moderne drückt sich erstens der neue Beziehungscharakter durch Kompatibilität (Modus I) aus. Der Gedanke der Dialektik oder konfliktsoziologische Perspektiven betonen zweitens ein lebendiges Spannungsverhältnis (Modus II). Habermas und Taylor weisen schließlich in die Diskussion um die formale und inhaltliche Gleichberechtigung (Modus III) von Vernunft- und Glaubensdispositiven in der Gestaltung des politischen Gemeinwohls moderner Gesellschaften ein. Im Ergebnis wurde die klassische Säkularisierungsthese mit diesem postsäkularen/postmodernen shift von verschiedenen Seiten ihrer ideenpolitischen Stachel entledigt: kein Telos, keine Linearität, kein Universalismus, kein Verschwinden. Religion hat ihren substanziellen Platz in den Konzep-
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GABRIEL, KARL, Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter, in: Politik und Zeitgeschichte, Band 52, 2008, 9-15. HABERMAS, JÜRGEN/ RATZINGER, JOSEPH, Dialektik der Säkularisierung, Bonn, 2005. HIDALGO, OLIVER, Die „säkulare“ Demokratie. Theoretische Überlegungen mit einer speziellen Perspektive auf das Beispiel Deutschland, in: PICKEL, GERT/ HIDALGO, OLIVER (Hg.), Religion und Politik im vereinigten Deutschland: Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen?, Wiesbaden 2013, 165-191. TAYLOR, CHARLES, A Secular Age, Cambridge 2007. HABERMAS, JÜRGEN, Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001.
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ten über Gesellschaft bekommen und sie ist selbst nicht komplett von Modernisierungsprozessen abhängig. Diese stark integrativen Beziehungsmodelle für Moderne, Gesellschaft und Religion müssen sich nun aber ausdrücklich vor einem hüten: dem Abschied von dem Erklärungsversuch der „Auflösung“ des klassischen religiösen Feldes 26 in den meisten westlichen christlich geprägten modernisierten Gesellschaften. Denn selbst wenn der Religion soziologisch konzeptionell ein prominenterer und konsistenterer Platz als ehedem eingeräumt wird, so impliziert die gebotene Gleichzeitigkeit und Offenheit eben anstelle seiner Überwindung auch die Integration der Verdrängung (Modus IV) von (klassischer) Religion durch Modernisierungsprozesse. Für den vorliegenden empirischen Länderkontrast Deutschland - USA müssten sich demnach sowohl eine mögliche Verdrängung und Abschwächung von Religion als auch zeitgleich die – wie in den USA und auch in Europa bisweilen aufflackernde religiöse Vitalität – unter Bedingungen der Moderne auffassen, problematisieren und erklären lassen. Gemäß der neuen Moderneverständnisse sind die Unterschiede zwischen den USA und Europa dabei nicht als lineare Abfolge auf einer „Fortschrittskala“ zu bewerten. Das hohe Religionsniveau in den USA ist z.B. nicht als zeitliche, geschweige denn normative Rückständigkeit gegenüber der Situation in westlich-europäischen Ländern zu beurteilen. Demgemäß wird die Aufteilung der Gültigkeit eines Erklärungsmodus für das eine Land und eines anderen für das andere Land gemäß des Ziels einer integrierenden Perspektivierung zurückgewiesen. Allzu vorschnell entwickelt sich nämlich, so die hier vertretene Einschätzung, entweder die Sichtweise, dass die neuen Ansätze die alten ablösen können oder aber es aufgrund empirischer Evidenzen keinen Bedarf an diesen neuen Perspektiven gebe. Für die Analyse steht uns vielmehr in einem paradigmatisch pluralisierten Forschungsfeld eine Vielzahl an Beziehungsmustern zur Verfügung. Festgehalten werden kann somit vorerst, dass sich seit der Entstehung der These das Forschungsfeld hinsichtlich seiner Gegenstände, seiner theoretischen und methodischen Ansätze zu einer pluralisierten netzwerkförmigen Forschung ausgebildet hat, in welcher das klassische Säkularisierungstheorem, nach dem Modernisierung zu einem Bedeutungsrückgang von Religion führt, einen Erklärungs-
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BOURDIEU, PIERRE, Die Auflösung des Religiösen, in: Ders. (Hg.), Rede und Antwort, Frankfurt am Main 1992, 231-237.
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ansatz unter anderen bietet. Doch selbstverständlich stehen innerhalb des pluralisierten Wissensfeldes auch fortwährend die Qualität, Ergiebigkeit und Reifungsprozesse einzelner Ansätze „an sich“ zur Disposition. 1.2 Der Religionsbegriff: ein Kohärenzproblem? Darüber zu entscheiden, ob sich religiöser Einfluss in der modernen Gesellschaft verflüchtigt, setzt voraus, sich darüber zu verständigen, was mit Religion gemeint ist. Für die empirischen Befunde über den religiösen Status und auch die Formen von Glaubensüberzeugungen in der Gegenwartsgesellschaft ist diese Frage zentral. Viele der Befunde über den Status von Religion in der modernen Gegenwartsgesellschaft laufen auf das Ringen um den exakten Religionsbegriff zusammen. Eng verbunden mit der Auseinandersetzung über den treffenden Begriff ist der empirisch-analytische Zugang zu der Thematik. Die Angebote erstrecken sich im Wesentlichen auf ein funktionales Verständnis, demnach Religion auf individueller oder gesamtgesellschaftlicher Ebene z.B. die Funktion von Kontingenzbewältigung für eine gesamtgesellschaftliche Reproduktion bereitstellt 27 oder ein substantiales Verständnis, demnach inhaltliche Marker wie „Gottesbezug“ oder „Transzendenzerfahrung“ als tragend identifiziert werden. Aus diesen beiden finden sich zudem Kombinate28. Vom funktional/substanziellen Verständnis grenzt sich noch einmal das diskursive Verständnis von Religion ab29. Praxissoziologische Ansätze diskutieren darüber hinaus handlungstheoretische Ansätze mit dem Verweis auf das subjektive Selbstverständnis und die Selbstdefinition religiöser Akteure 30. Gemeinsames definitorisches Problem dieser Ansätze ist eine entweder zu enge oder zu weite Passung für die Erfassung religiöser Phänomene. Je enger der Religionsbe-
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Gesamtgesellschaftlich: LUHMANN, NIKLAS, Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1982; individuell: KAUFMANN, FRANZ-XAVER, Religion und Modernität: Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989; LUCKMANN, THOMAS, The Invisible Religion: The Problem of Religion in Modern Society, New York, 1967. D. POLLACK/ G. ROSTA, Religion in der Moderne, 63. MATTHES, JOACHIM, Auf der Suche nach dem „Religiösen“: Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologia Internationalis, Band 30, 1992, 129-142. DANIEL, ANNA/ SCHÄFER, FRANKA/ HILLEBRANDT, FRANK/ WIENOLD, HANNS, Doing Modernity – Doing Religion, Wiesbaden 2012.
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griff auf die institutionelle Bindung gerichtet ist, desto deutlicher weisen die Entkirchlichungsprozesse der letzten Jahre in Deutschland auf Säkularisierungsentwicklungen hin. Ein weiter Religionsbegriff ermöglicht jedoch auch fluide, neue/gewandelte Sozialformen des Religiösen in den Blick zu nehmen und wer ihn verwendet, kommt in der Säkularisierungsfrage zu einem anderen Schluss. Im Kern läuft der Disput in zwei Komplexen zusammen: (a) ob sich Religion und Religiosität vornehmlich mit der institutionellen Bindung bzw. Entkirchlichung abbilden lässt31 und wie auch soziale Formen jenseits einer institutionellen Mitgliedschaft berücksichtigt werden können und (b) in welchem Maße und wie sich diese beiden Optionen sozial vergemeinschaften, artikulieren, modifizieren und reproduzieren. Diese Probleme bei der empirischen Beforschung des religiösen Wandels zeigen, wie hilfreich deduktiv-induktive methodische Herangehensweisen sind, um in der empirischen Forschung auf den allgemeinen gesellschaftlichen Wandel und den Wandel religiöser Praxen und Organisierung zu reagieren, ohne eine genuin religiöse Substanz aus den Augen zu verlieren. Sinnvoll erscheint für die hier beabsichtigte Perspektivierung auf die mesosoziale Vermittlungsinstanz der Organisation, in einem Mindestmaß eine Anlehnung an leicht und informell organisierte Sozialformen des Religiösen aufrechtzuerhalten.
2. S ÄKULARISIERUNG IN UND D EUTSCHLAND
DEN
USA
Die Befürworter der These weisen auf einen langfristigen Verlust der sozialen Bedeutung von Religion in der modernen Gesellschaft hin. Ihren Ausgang nehmen die Beobachtungen einer Veränderung des religiösen Feldes
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Wenn sich religiöse Praxen durch Modernisierung, wie etwa Technisierung oder eine höhere Flexibilisierung der Lebensweisen im Privaten wie Beruflichen weg von einer institutionengebundenen Religiosität wandeln, kann ein reduktionistisches Variablenset diesen Wandel nicht begleiten. So beschrieb uns in einem Interview in einer Studie zu kommunal mehrfach Engagierten ein sehr religiöser Politiker, dass durch die hohe Einbindung in seinem Engagement, seinem Beruf und als Familiengroßvater regelmäßige Gottesdienste für ihn nicht in Frage kämen. Gemäß seiner zeitlichen Verfügbarkeit wählt er die Form einer jährlichen Pilgerreise für Einkehr, Spiritualität und synergetisch zur Auszeit vom Stress der alltäglichen Aufgaben.
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in den massiven Erosionen individueller Kirchenbindungen in modernen europäischen Gesellschaften seit den 1960er Jahren32. Für Deutschland zeigt sich dabei ein versetzter Rückgang der Kirchenbindung zwischen Katholiken und Protestanten. Während die Einbrüche in der Kirchenbindung im Protestantismus seit den 1960er Jahren verzeichnet werden, hat eine solch starke Abnahme im Katholizismus erst in den späten 1980er Jahren eingesetzt33. Deutschland ist historisch protestantisch geprägt, gegenwärtig sind religionslose, katholische und protestantische Gruppen mit rund 30 Prozent paritätisch vertreten34. Diese Pluralität hat sich historisch auch aus der spezifischen historischen doppelten Pfadabhängigkeit seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1989/90 entwickelt. Einsetzend mit der Einwanderung muslimischer GastarbeiterInnen seit den 1950er Jahren hat sich die religiöse Landschaft inter- und intrareligiös pluralisiert, so leben gegenwärtig ca. 4 Prozent Muslime in Deutschland. Insbesondere die quantitative Forschung weist vor dem theoretischen Hintergrund der funktionalen Differenzierung Dechristianisierungspozesse in Deutschland und anderen westeuropäischen Gesellschaften nach und begründet diese mit einem Verdrängungsverhältnis zwischen Moderne und Religion35. Während eine funktionale Differenzierung als Kerncharakteristikum der modernen Gesellschaft die institutionelle Trennung von Religion und Politik, Wissenschaft, Kultur, Ökonomie und Bildung voraussetzt, fungieren empirische Modernisierungsprozesse wie Urbanisierung, Industrialisierung, der Anstieg des Wohlstandniveaus, gewandelte Familien- und Geschlechterbeziehungen als Explanandum für die Veränderungsprozesse in der religiösen Gegenwartslandschaft. Gemessen werden diese Prozesse an drei Dimensionen individueller Religiosität: 1. Religiöse Zugehörigkeit (z.B. Konfession), 2. Religiöse Praxis (z.B. Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs), 3. Reli-
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MCLEOD, HUGH, The Religious Crisis of the 1960s, Oxford 2010; GROßBÖLTING, THOMAS, Der verlorene Himmel: Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen, 2013. PICKEL, GERT, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden 2011, 344. EBD., 341. POLLACK, DETLEF, Religion und Moderne: Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen, in: WILLEMS/ POLLACK/ BASU/ SPOHN/ GUTMANN (Hg.), 2013, 293-330, 324f.
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giöse Überzeugung (z.B. Glaube an einen Gott)36. Funktionale Differenzierung auf der Makroebene der Gesellschaft führe zudem dazu, dass religiöse Aktivität sich auf isolierte gesellschaftliche Bereiche beschränke. Gleichzeitig sind offenbar in anderen Bereichen, wie etwa im bürgerlichen Recht des liberalen Verfassungsstaates, religiös konnotierte Begründungen im Zuge der Trennung von Staat und Kirche besonders stark zurückgedrängt worden37. Mit der Differenzierung von Religion und Politik ergeben sich normative Veränderungen, die in einem Verlust gesellschaftlicher Solidarität als „Handlungskoordinierung über Werte, Normen und verständigungsorientierten Sprachgebrauch“38 zum Ausdruck kommen. Neuere Analysen bestätigen die Annahme, dass in wirkmächtigen Phasen der funktionalen Differenzierung diese tendenziell zu einem Bedeutungsverlust von Religion in der Moderne führe. In Momenten der Entdifferenzierung sei ein Bedeutungszuwachs von Religion nicht auszuschließen 39. Darüber hinaus betonen weitere Untersuchungen die Individualisierung und Privatisierung des Religiösen als Grund des Bedeutungsverlustes, demnach verliere der Glaube seine sinnstiftende und legitimierende Funktion für die Gesellschaft. Für die einzelnen Individuen in der säkularisierten Gesellschaft stelle sich der persönliche christliche Glaube faktisch weder fraglos noch verbindlich dar40. Dabei habe ein umfassender normativer Wandel im Zuge der 1960er Jahre durch starke Liberalisierungsschübe die freiere Auswahlmöglichkeit für Individuen zwischen säkularen und sakralen Angeboten zur Lebensgestaltung herbeigeführt41. Für den US amerikanischen Raum führt McLeod aus, dass ebenfalls in den 1960er Jahren die Entstehung atheistisch gesinnter Bevölkerungsgrup-
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POLLACK, DETLEF, Säkularisierung – ein moderner Mythos?: Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2012. SIEP, LUDWIG/ GUTMANN, THOMAS/ JAKL, BERNHARD/ STÄDTLER, MICHAEL (Hg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen: zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und in rechtssystematischen Fragen der Gegenwart, Tübingen 2012. J. HABERMAS/ J. RATZINGER, Dialektik der Säkularisierung, 32. D. POLLACK/ G. ROSTA, Religion in der Moderne, 463. GABRIEL, KARL, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg i.Br. 1992, 142 ff. STOLZ, JÖRG/ KÖNEMANN, JUDITH/ SCHNEUWLY PURDIE, MALLORY/ ENGLBERGER, THOMAS/ KRÜGGELER, MICHAEL: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens, Zürich 2014.
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pen und ein Rückgang der Kirchgangshäufigkeit eingesetzt habe. Erst in den 1970er Jahren habe sich in den USA das hohe Niveau individueller Religiosität eingependelt und halten können42. Norris/Inglehart halten prinzipiell daran fest, dass ein steigendes Wohlstandniveau auch in den USA Entkirchlichungsprozesse mit sich führe. Davon ausgehend werden Faktoren identifiziert, die scheinbar anders als im europäischen Modernisierungsprozess für ein konstantes hohes religiöses Niveau in der Gesellschaft verantwortlich sind. Dabei führten Bedingungen sozial-ökonomischer Ungleichheit und schwache sozialpolitische Konstellationen zur sozialen Absicherung für US-BürgerInnen zu diesem auffällig hohen Religionsniveau43. Für die Wertebene wird darüber hinaus im Kontrast zu Europa ein starkes Spezifikum amerikanischer Gesellschaft beschrieben: „American cultural values are more individualistic, more patriotic, more moralistic, and more culturally conservative than those in Europe.“44 Somit werden besondere Pfadabhängigkeiten als Erklärung für die relativ hohe religiöse Vitalität in den USA hervorgehoben. Die quantitative Forschung versucht dementsprechend, Modernisierungsprozesse länderspezifisch in kulturelle Kontexte einzubetten45. Kulturell und postmateriell angelegte Analysen evozieren dabei ihrerseits Kritik in der Vernachlässigung materieller Faktoren46. Säkularisierungstheoretiker, wie Bruce, halten ebenfalls die Säkularisierungsprognose für die amerikanische Bevölkerung aufrecht. Religiöse Milieus hielten sich nur deshalb stabil, weil sie für die zahlreichen EinwanderInnen Zuflucht und Halt böten und daher relativ vitale Ausstrahlungskraft entwickelten. Über kurz oder lang führten Relativierung, Individualisierung und Privatisierung zur Zerstreuung der religiösen Vergemeinschaftung auch dieser Milieus47. Zentral sei, dass auch in den USA ein Verlust
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CHAVES, MARK, American Religion: Contemporary Trends, Princeton 2011. NORRIS, PIPPA/ INGLEHART, Ronald, Sacred and Secular, Cambridge/ New York 2004, 106. EBD., 94. EICHHORN, JAN, Context Matters-The Effect of National-Level Factors on the Relationship between Socio-Demographic Characteristics of Individuals on Their LifeSatisfaction, in: World Values Research, Band 5, 2012, 27-48. BROOKS, CLEM/ MANZA, JEFF, Do Changing Values Explain the New Politics? A Critical Assessment of the Postmaterialist Thesis, in: The Sociological Quarterly, Band 35, 1994, 541-570. Vgl. S.BRUCE, God is Dead.
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von Macht und Prestige des Christentums und ein „zunehmender Bedeutungsverlust für das Funktionieren des sozialen Systems“48 absehbar seien. Dies begründet er zudem mit einem religionsimmanenten Wandel hin zu einer Selbst-Säkularisierung des Christentums in Form einer inneren Individualisierung. Im Glauben ginge es seit den 1930er Jahren nicht mehr um die Verherrlichung Gottes, sondern um das persönliche Wachstum49. Zudem wird mit dem Befund argumentiert, dass die hohen Ziffern für Gottesdienstbesuche sehr stark durch die wahrgenommene soziale Erwartung von Befragten geprägt seien und sich empirisch nicht halten ließen, somit ihrerseits rückläufig seien50. Eine Gesamtdiagnose, die von Chaves geteilt wird, welcher religion in america zum einen als stabil und zum anderen als rückläufig beschreibt. Eine Rückläufigkeit sei z.B. für das Milieu des liberalen Protestantismus erkennbar51. Demgegenüber wuchs die Anzahl evangelikaler Gemeinden rapide an. Historisch sind die USA protestantisch geprägt. 92 Prozent der AmerikanerInnen geben an, an Gott zu glauben und zwischen 20 und 30 Prozent besuchen den Gottesdienst einmal die Woche 52. Das soziale religiöse Arrangement setzt sich (2004) aus 20 Prozent Evangelical Protestants, 19 Prozent Mainline Protestants, 11 Prozent Black Protestants und 15 Prozent ohne Religion oder andere Religion zusammen 53. Darüber hinaus ist die religiöse Landschaft, neben den klassischen Großkirchen, durch Freikirchen, religiöse Zweckgemeinschaften und durch die besondere Organisationsform der Denominationen (Untergruppen, die sich als Glaubensgemeinschaft über Tradition und Identität voneinander abgrenzen) gekennzeichnet. Zur Deutung der religiösen Präsenz und der Rolle von Religion in der US-amerikanischen Gesellschaft wird darüber hinaus oftmals das Konzept der Zivilreligion verwendet, welches die spezifische normativkulturelle Nähe zwischen Politik und civil society, somit der normativen Aufladung und Durchdringung von Zivilgesellschaft und Politik hervor-
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BRUCE, STEVE, Amerika ist keine Ausnahme, in: WILLEMS, ULRICH et al. (Hg.), Moderne und Religion, Bielefeld 2013, 331-354, 331. EBD., 332f. P. NORRIS/ R. INGLEHART, Sacred and Secular, 91. M. CHAVES, American Religion. D. POLLACK/ G. ROSTA, Religion in der Moderne, 346 und 361. WALD, KENNETH D./ CALHOUN-BROWN, ALLISON, Religion and Politics in the United States, Lanham, 2007, 29.
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hebt54. Dies zeigt sich in der Omnipräsenz von Religion in öffentlichpolitischen Angelegenheiten, sei es bei der Legitimation von militärischen Interventionen oder bei der religiösen Aufladung von politischen Ansprachen. Kulturell und auf normativer Ebene scheint das Verhältnis von Religion und Politik stärker gegenseitig durchdrungen und miteinander verflochten. Insgesamt konnten Gemeinsamkeiten in den Säkularisieurungsverläufen herausgearbeitet sowie insbesondere für die USA prägende Sonderfaktoren zur Erklärung des relativ kontinuierlichen Religionsniveaus herangezogen werden. Dennoch fordert die Kontrastperspektive zwischen den hochmodernisierten Gesellschaften Deutschlands und den Vereinigten Staaten mit Gegenläufigkeiten im Religionsniveau und Gleichzeitigkeiten im Grad der Modernisierung die Säkularisierungstheorie weiter dazu auf, Ansätze zur Strukturierung und Anordnung dieser Besonderheiten in der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion zu suchen. Denn die Säkularisierungsthese wird nicht nur von den unterschiedlichen Entwicklungen zwischen Ländern herausgefordert, sondern ebenfalls durch verschiedene religiöse Entwicklungen in unterschiedlichen Regionen ein und desselben Landes. Norris/Inglehart heben für die USA z.B. hervor, inwiefern hier neben den starken religiösen Milieus trotzdem innerhalb des Landes eine zweite Kultur der Säkularität anzutreffen sei: Despite the overall popularity of religion in the United States, it would also be a gross exaggeration to claim that all Americans feel the same way, as important social and regional disparities exist. Secularists, are far more likely to live in urban cities on the pacific coast or in the north east, as well as to have college degree, and to be single and male.55
Umgekehrt findet sich im konservativ orientierten bible belt, zugleich eine der produktivsten Regionen des Landes, ein hohes Religionsniveau. Dieser regionale Sachverhalt steht z.B. im Widerspruch zur Wohlstandsthese, stützt aber die Annahme, konservative Wertorientierungen würden ein ho-
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BELLAH, ROBBERT N., Zivilreligion in Amerika, in: KLEGER, HEINZ/ MÜLLER, ALOIS (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, Münster, 2004, 19-41.
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P. NORRIS/ R. INGLEHART, Sacred and Secular, 94.
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hes individuelles Religionsniveau begünstigen. In Deutschland fallen sowohl die verschiedenen jeweils katholisch, protestantisch und religiös pluralisierte Regionen als auch besonders entkirchlichte Regionen in den Gebieten der ehemaligen DDR auf. Am Beispiel Deutschland wird gleichzeitig deutlich, wie ebenfalls durch Veränderungen von großen Strukturbedingungen, bedingt durch Regimewechsel Auswirkungen auf das religiöse Feld eines Landes erkennbar werden, andererseits sich Veränderungen durch die demografische und strukturelle Prägung von Mikrophänomenen bisweilen verbunden mit anderen sozialen Differenzlinien (Intersektionalität) wie Geschlecht, Alter oder Schicht unterschiedlich ausgestalten und Eigendynamiken entfaltet werden, die durchaus gegenläufig zu einer Großaufnahme sein können. Für die pauschale Hyperthese der Säkularisierung bietet sich vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen eine differenzierende vertiefende Vorgehensweise für regionale und sozialstratifikatorische Untereinheiten zur Erfassung der vielgestaltigen Ausprägungsformen von Religion somit nicht nur für den Vergleich zwischen Ländern, sondern auch für die Dynamiken religiösen Wandels innerhalb von Gesellschaften, schon fast notwendig an (splitting56). Offenbar muss ein theoretischer Entwurf auf gemeinsame struktive Momente wie auf Differenzen gleichzeitig Rücksicht nehmen können.
3. D REI G EGENREDEN Seit ihrer Entwicklung wurde die Säkularisierungsthese in der empirischen Sozialforschung von drei wesentlichen Gegenentwürfen kritisch hinterfragt: 1. Individualisierung statt Verschwinden, 2. Pluralisierung als vitalisierender Prozess, 3. Deprivatisierung statt Niedergang. Diese Ansätze argumentieren für einen zeitlichen Fortbestand von Religion in modernen Gesell-
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Hutchison zit. n. LEHMANN, HARTMUT, Secular Europe versus Christian America? Re-Examination of the Secularization Thesis, in: Ders., Transatlantische Religionsgeschichte, Göttingen 2006, 146-161, 160. So Hutchison: “Lower church attendance, changes in university or school curricula, ordinary people using or tolerating religious language or supernatural explanations. Then perhaps splitting further: is this religious genuine, unthinking, perhaps gossly selective.”
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schaften, zumeist in gewandelter Gestalt, oder für ein Wiedererstarken beziehungsweise eine Rückkehr von Religion. Mit der Privatisierungsthese um die invisible religion57 und die mit ihr gewendete Individualisierungsthese wird erstens eher ein Wandel von religiöser Vergemeinschaftung, spiritueller Praxis, Erfahrung und Lebensweise und schlicht das Verschwinden klassischer kirchlich gebundener Religiosität hervorgehoben58. Im Zuge der Entwicklung dieses säkularisierungskritischen Strangs wurde das believing without belonging59, bei dem die individuelle Sinnsuche in religiösen Substituten aufgehen kann, in den Fokus gestellt60. Für die Vertreterinnen der religiösen Individualisierungsthese verflüchtigt sich Religion somit genauso wie bei der klassischen Säkularisierungsthese ins Private, löst sich dort jedoch nicht auf, sondern findet zu neuen religiösen Formen und Praxen. Luckmann selbst bringt für die unterschiedlichen Entwicklungen in den USA und Europa an, dass „traditional church religion was pushed to the periphery of ‚modern‘ life in Europe while it became more ‚modern‘ in America by undergoing a process of ‚internal‘ secularization“61. Sowohl für die USA als auch für Europa wurde zudem seit den 1960er Jahren die Entstehung alternativer spiritueller Milieus beobachtet. Diese können aber als marginale Gruppen ohne besonders hohen gesellschaftlichen Einfluss betrachtet werden62. Selbst wenn die Verän-
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T. LUCKMANN, The Invisible Religion. KNOBLAUCH, HUBERT, Populäre Religion: auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt am Main 2009; WOHLRAB-SAHR, MONIKA/ KRÜGGELER, MICHAEL, Strukturelle Individualisierung vs. autonome Menschen oder: Wie individualisiert ist Religion? Replik zu Pollack/Pickel: Individualisierung und religiöser Wandel in der BRD, in: Zeitschrift für Soziologie, Band 29, 2000, 240-243; BECK, ULRICH, Der eigene Gott: von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt am Main 2008; HERVIEU-LÉ GER, DANIÈ LE, Religion as a Chain of Memory, New Brunswick 2000. DAVIE, GRACE, Religion in Britain since 1945: Believing without belonging, Oxford 2003. Der Befund, dass Individualisierungsprozesse auch in anderen Großorganisationen wie Gewerkschaften und Parteien zu Mitgliederschwund führen, weist darauf hin, dass Individualisierung scheinbar als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen zu verstehen ist, welches sich ebenfalls im religiösen Feld vermittelt. Vgl. G. PICKEL, Religionssoziologie, 178f. T. LUCKMANN, The Invisible Religion, 36f. K. WALD/ A. CALHOUN-BROWN, Religion and Politics, 30.
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derungen individueller Religiosität scheinbar nur marginal zu neuen Formen des Religiösen führen, scheint für die USA insbesondere die Frage nach der inneren Individualisierung im Raum zu stehen. In der Tat konnten für die persönliche Religiosität der AmerikanerInnen eine weit verbreitete Glaubensform identifiziert werden, die durch das evangelikale Erbe des Landes geprägt ist. Demnach wird der amerikanische Glaube genuin als sehr individualisiert und anti-autoritär beschrieben. Er sei bereits bei frühen Evangelikalen z.B. gekennzeichnet durch die Vorstellung einer persönlichen, lebendigen Beziehung zu Jesus, einer wortwörtlichen Auslegung der Bibel, anstelle interpretativer Traditionen sowie das anti-hierarchische Verständnis durch ein personal covenant with God: „each person was His priest, and hierarchies were unneeded“63. Zweitens wurde im regionalen Kontext der USA seit den 1990er Jahren mit der „Marktthese“64 gegen die klassische Säkularisierungsthese argumentiert, eine hohe Pluralität religiöser Organisationen bringe, durch den Wettbewerbsgedanken zwischen den religiösen Anbietern getrieben, eine religiöse Vitalität hervor. Zugrunde liegt die Annahme, dass eine strikte Trennung von Kirche und Staat eine hohe Autonomie und Pluralisierung der religiösen Anbieter ermöglichen würde. Diesem Ansatz zufolge ist die Beziehung zwischen Religion und Pluralisierung keine negative, da das religiöse Feld mit einem Markt der Möglichkeiten vergleichbar sei, in dem Angebot und Nachfrage ein dynamisches Geschäft hervorbringen. Eine (Binnen-)Pluralisierung des religiösen Feldes wird hier zu einem eigenständigen erklärenden Faktor ausgerufen. Die Marktthese wird seither jedoch aufgrund ihrer empirischen Widerlegbarkeit kritisch verhandelt. Dass die religiöse Pluralität in den USA religiöse Vitalität erzeuge, ist demnach
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PALLY, MARCIA, Religion Expressed, Religion Submerged. Evangelicalism`s Historical Influence on the Deep Structure of US Foreign Policy, in: PRUIN, DAGMAR/ SCHIEDER, ROLF/ ZACHHUBER, JOHANNES (Hg.), Religion and Politics in the United States and Germany/ Religion und Politik in Deutschland und den USA, Berlin u.a. 2007, 49-76, 51. IANNAOCONE, LAURENCE/ FINKE, ROGER/ STARK, RODNEY, Deregulating Religion: The Economics of Church and State, in: HRADIL, STEFAN/ REHBERG, KARLSIEGBERT/ PISCHEL, ANDREAS/ PLATZ, THOMAS (Hg.), Differenz und Integration: die Zukunft moderner Gesellschaften, Wiesbaden 1997, 462-466; STARK, RODNEY/ IANNAOCONE, LAURENCE, A Supply-Side Reinterpretation of the Secularization of Europe, in: Journal for Scientific Study of Religion, Band 33, 1994, 230-252.
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nicht haltbar65. Eher erzeuge die religiöse Homogenität in den USA, die insbesondere für die regionale County-Ebene stark charakteristisch sei, in der Kommunikation in geschlossenen Netzwerken und nicht in religionspluralen Kontakten eine starke Reproduktion des hohen religiösen Niveaus. Die pluralisierte Situation im Umfeld würde sogar die Bindung zur eigenen religiösen Organisation stärken66. Für stark säkularisierte Länder Europas konnten bisher ebenfalls kaum positive Zusammenhänge zwischen der Steigerung religiöser Vitalität und Pluralisierungsprozessen ausgemacht werden67. Eine eigenmächtige Wirkung könnten Pluralisierungsprozesse nur dann entfalten, wenn sie von gesellschaftlichen Akteuren selbst wahrgenommen und in ihre religiöse Praxis und Kommunikation miteinbezogen werden. Selbst wenn jedoch die Pluralisierung nicht zu einer Vitalisierung des religiösen Niveaus einer Bevölkerung führt, sollte der Gedanke einer spezifischen Trennung von Kirche und Staat und somit einer spezifischen Ausbildung der religiösen Organisationslandschaft nicht ebenfalls als Einflussfaktor zurückgewiesen werden. Darüber hinaus wird drittens für Europa ein „Erstarken der Religionen“68, die „Wiederkehr der Götter“69 sowie eine Deprivatisierung der Religion70 seit den 1980er Jahren diagnostiziert. Indem Casanova die (wieder) starke Rolle von Religion in der Öffentlichkeit betont, entfaltet er seine Argumentation gegen die Privatisierungsthesen Luckmanns und Luhmanns. Casanova zufolge wird der Charakter von Religion in modernen demokratischen Verfassungsstaaten genuin mit einer stets privaten und stets öffentli-
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CHAVES, MARK/ GORSKI, PHILPP S., Religious Pluralism and Religious Participation, in: Annual Review of Sociology, Band 27, 2001, 261-281. D. POLLACK/ G. ROSTA, Religion in der Moderne, 372. HERO, MARKUS/ KRECH, VOLKHARD, Die Pluralisierung des religiösen Feldes in Deutschland: Empirische Befunde und systematische Überlegungen, in: PICKEL, GERT/ SAMMET, KORNELIA (Hg.), Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland: Zwanzig Jahre nach dem Umbruch, Wiesbaden 2011, 135-156, 135. RIESEBRODT, MARTIN, Die Rückkehr der Religionen: Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2001. GRAF, FRIEDRICH WILHELM, Die Wiederkehr der Götter: Religion in der modernen Kultur, München 2004. CASANOVA, Public Religions in the Modern World; CASANOVA, JOSÉ, Public religions revisited, in: GROßE KRACHT, HERMANN-JOSEF/ SPIESS, CHRISTIAN (Hg.), Christentum und Solidarität: Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie, Paderborn 2008, 313-338.
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chen Seite beschreibbar71. Die Deprivatisierung der Religion wird auf der Grundlage diagnostiziert, dass die funktionale Sphärentrennung von Kirche, Staat und Öffentlichkeit wohl eine Privatisierung des Religiösen bedingt, dabei ein öffentlicher Anteil von Religion jedoch stets mitzudenken sei (diesen Aspekt weitet Casanova zu einer normativen Kritik an liberalen und republikanischen Konzepten von Öffentlichkeit aus, diese soll hier aber nicht Gegenstand der Auseinandersetzung sein): „despite all the structural forces, the legitimate pressures, and the many valid reasons pushing religion in the modern secular world in the private sphere, religion continues to have and will likely continue to have a public dimension“72. Diese Differenzlinie zwischen Öffentlichem und Privatem gilt nun nach Casanova – und dies ist ein Umstand, der in den umfangreichen Debatten um die Rückkehr von Religion in die Öffentlichkeit selten berücksichtigt wird – sowohl für die individuelle Ebene (individual and group religiosity), als auch für die mesosoziale Organisationsebene (community cults und religious communities) sowie für das makrogesellschaftliche Niveau in modernen Gesellschaften (religion vs world)73. Die öffentliche Seite der Religion, so Riesebrodt, liege am Wesen der Religion selbst, demnach Religionen nie private Gesellschaften seien, weshalb Privatisierung selbst nur eine historische Option darstelle, die demnach offenbar für Europa eingetroffen sei74. Insgesamt lenkt Casanovas Ansatz das Augenmerk auf diesen öffentlichen Teil von Religion. Dabei kann der öffentliche Raum als intermediäre Arena selbst als Vermittlungsraum zwischen Politik und Zivilgesellschaft aufgefasst werden (vgl. Liedhegener in diesem Band)75.
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J. CASANOVA Public Religions in the Modern World, 40ff. EBD., 66. EBD., 41f. M. RIESEBRODT, Die Rückkehr der Religionen, 9. Öffentlichkeit kommt in demokratisch verfassten Gesellschaften eine eigenständige Funktion zu. Diese besteht in der Herstellung von Responsivität der Regierten mit ihren politischen Repräsentanten. Je nach politisch theoretischer Tradition changieren die normativen Implikationen bei der Definition beachtlich. Für liberale, republikanische, deliberative Modelle gilt gleichsam, dass sie in Abgrenzung zur privaten Sphäre der Gesellschaft (Familie, Wohnung, persönliche Haltung) konstituiert sind. Ebenso tangiert die jeweilige Konzeption auch die Bestimmung des Verhältnisses zu Politik, (Zivil-) Gesellschaft und Marktsphäre. Neben normativen demokratischen Öffentlichkeitskonzeptionen sind empirisch-analytische Modelle wie das breit rezipierte funktional ausdifferenzierte Arenenmodell (Encounter, Versammlung, Massenmedi-
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4. E NTWICKLUNG
EINER INTEGRATIVEN
P ERSPEKTIVE
Auffällig ist die geringe konstruktive Bezugnahme der drei Kritikperspektiven aufeinander. Viel häufiger werden die einzelnen Phänomene zu Großerzählungen einer umfassenden (De-)Säkulariserung der Gesellschaft aufgebaut und, pars pro toto, gegeneinander in Stellung gebracht. Mit den beiden großen Narrativen vom Bedeutungsverlust von Religionen in modernen Gesellschaften und dem Wiedererstarken von Religion stellt sich aber die Frage nach dem Verhältnis dieser oftmals als „Gegennarrative“ aufgebauten Großerzählungen zueinander. Werden die jeweiligen Befunde über die sinkende oder sich wandelnde individuelle Frömmigkeit und des einhergehenden Verlusts von Kirchenbindungen und die Erzählung wachsender/beständiger Bedeutung von Religion in der Öffentlichkeit ausschließlich jede für sich geschrieben, oder lassen sie sich schließlich miteinander in Beziehung bringen? Und zentral für diesen Beitrag zu diskutieren: was hat die Beschaffenheit der religiösen Organisationslandschaft auf intermediärer Ebene mit diesen beiden Großerzählungen zu tun? In den gewählten Fallbeispielen liegen nun offenbar verschiedene Religionsniveaus in verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und Sphären vor. In Deutschland wird auf der individuellen Ebene ein religiöser Bedeutungsverlust zunehmend evident, in der öffentlichen Sphäre machen hingegen Religionen als Thema und Kirchen als Akteur von Gewicht (wieder) von sich reden. Dabei ist an ganz verschiedene Phänomene zu denken: Religion ist Gegenstand politischer und juristischer Verhandlungen über eine religiöse Pluralisierung, ebenso erfreuen sich beispielsweise Kirchentage oder Papstbesuche einer hohen Medienpräsenz und auch Beliebtheit bei Kirchenmitgliedern. In den USA bleibt unterdessen ein individuelles religiöses Niveau weiter relativ stabil (auch wenn hier wie gesehen ebenfalls Abnahmetendenzen markiert werden), in der mehrheitlich christlich geprägten Gesellschaft fühlt sich Religion zudem im öffentlichen Raum selbstverständlich beheimatet. In bester Tradition der civil religion ist sie aus öffentlichen Staatsakten (Inaugurationen, Beerdigungen) und für die
en) von GERHARDS, JÜRGEN/ NEIDHARDT, FRIEDHELM, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, in: Müller-Doohm, Stefan/ Neumann-Braun, Klaus (Hg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, 31-90 entwickelt worden.
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Legitimation politischen Handelns (z.B. militärische Interventionen) nicht wegzudenken und private religiös orientierte Medienimperien vermitteln christliche Botschaften in die Öffentlichkeit. Offenbar artikuliert sich Religion in den vorliegenden Fallbeispielen in unterschiedlichen Formen und religiöser Wandel findet auf unterschiedliche Weise in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären statt. Die Dekonstruktion der Säkularisierungsthese von Casanova, als einem der prominentesten Kritiker des Säkularisierungstheorems, fußt genau auf dieser Beobachtung. Es handele sich hierbei um voneinander abzugrenzender Prozesse gesellschaftlichen Wandels auf verschiedenen gesellschaftlichen Konstitutionsebenen. Dabei seien Prozesse des Bedeutungsverlustes in Europa zufällig in allen Ebenen gleichzeitig abgelaufen. Die Trennung von Kirche und Staat wird dabei zwar fortwährend als Kerncharakteristikum des Säkularisierungsprozesses ausgezeichnet, während weder der Rückgang individuellen religiösen Glaubens und religiöser Praxis, noch die Privatisierung von Religion jedoch automatisch mit dieser Sphärentrennung einhergehen müssten76. Kurzum, der Verweis auf unterschiedliche gesellschaftliche Analyseebenen zeigt auf, dass funktionale Differenzierung zwischen Kirche und Staat nicht automatisch zum Bedeutungsverlust von Religion in modernen Gesellschaften führen muss und weder das Verhältnis zwischen Religion und Politik noch die individuelle Religiosität der BürgerInnen durchdeterminiert. Spezifische Differenzierungsprozesse auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen führen scheinbar zu spezifischen Positionsbestimmungen der Religion in der Gesellschaft. Bei Casanova wird somit nun eine stark ausdifferenzierte Trennung und Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Ebenen nahegelegt. Diese Unabhängigkeit wird bei der folgenden Entwicklung eines integrativen Ebenenansatzes zumindest in ihrer Absolutheit zurückgewiesen, indem die Bedeutung der intermediären Organisationsebene als vermittelnde Instanz zwischen gesellschaftlichen Großstrukturen, gesellschaftlicher Öffentlichkeit und individuellen Interaktionsbeziehungen besonders betont wird. Gewiss mögen sich in der modernen Gesellschaft die verschiedenen gesellschaftlichen Konstitutionsebenen des Sozialen stark voneinander abgekoppelt haben. So ist gerade die gesellschaftliche Individualisierung ein Merkmal moderner Gesellschaften. Individuen wird es dabei in zunehmend komple-
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J. CASANOVA, Public Religions in the Modern World, 19ff. und 200ff.
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xen gesellschaftlichen Zusammenhängen erschwert, sich selbstwirksam in diese zu integrieren. Dennoch verdienen es die Schnittstellen zwischen den Ebenen und ihre Vermittlungskanäle näher in den Blick genommen zu werden, da Individuum und Gesellschaft stets aufeinander verwiesene Größen bleiben. Weder handeln Individuen unabhängig von gesellschaftlichen Strukturen, noch sind diese ohne die Perpetuierung durch die individuellen Interaktionen selbst denkbar77. Auch die Annahme einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und somit der Verdrängung von Religion aus zentralen Schlüsselbereichen wie Politik, Öffentlichkeit oder Wissenschaft wurde in der Religionssoziologie in diesem Sinne umfangreich diskutiert und weiterentwickelt. In Analogie hierzu spricht in analytischer Absicht nichts gegen eine Diskussion über die verschiedenen Muster gesellschaftlicher Integration von Individuen über religiöse Organisationen. Wie bei den vielfältigen Trennungsmustern zwischen Kirche und Staat könnte die Hinwendung der Analyseperspektive auf verschiedenen Mechanismen der Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Sphären auf verschiedenen interdependenten Konstitutionsebenen der Gesellschaft einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis des religiösen Wandels moderner Gesellschaften leisten. Welche Schlüsse konnten nun bereits für die funktionale Differenzierung von Kirche und Staat für das Religionsniveau eines Landes gezogen werden? Für die Theorie der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Sphären wurden bereits analytische und empirische Argumentationen vorgelegt, die zeigen „that the modern walls of seperation between church and state keep developing all kinds of cracks through which both are able to penetrate each other“78. Historisch-empirische Analysen plädieren sehr stark für die Berücksichtigung der historischen Pfadabhängigkeit zur Erklärung des Trennungsniveaus von Kirche und Staat und insbesondere für die Herausbildung besonderer historisch geprägter und tradierter Beziehungen zwischen Religion und Politik in verschiedenen Ländern, denn „secularisation is filtered by history“79. Die historische Lesart führt weg von einer
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SCHWINN, THOMAS (Hg.), Soziale Differenzierung: handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion, Wiesbaden 2011. J. CASANOVA, Public Religions in the Modern World, 41. MARTIN, DAVID, What I Really Said about Secularisation, in: Dialog: A Journal of Theology, Band 46, 2007, 139-152, 139.
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„general theory of secularisation“ zu einer „empirical general theory“, welche die Aufgabe habe, den besonderen Wandel zwischen Religion und Politik in den Mustern einer „modest and delimited theory of secularisation“ abzubilden. Martin leitet aus der historischen Sichtweise eine Betrachtung der Säkularisierung als „partial transition“ anstelle einer „once-for-all transition“ ab und kommt zu dem Schluss: „Differentiation is not Displacement.“80 So wird in einer historisch-empirischen Lesart des Säkularisierungsverlaufs auf die Verflochtenheit und die verschiedenen Formen der spezifischen Kooperationen und Vermischungen zwischen Religion, Politik und Öffentlichkeit gerade eben in modernen Gesellschaften hingewiesen81. Zudem wurde durch die Hinzunahme struktur- und handlungsvermittelnder Ansätze ermöglicht, die Bedeutung von religiösen Akteursgruppen, die sich entlang der Grenzen des religiösen Feldes in Kämpfen um diese auseinandersetzen, zu berücksichtigen82. Diese Hinweise auf die lebendigen Verflechtungen zwischen gesellschaftlichen Sphären ermöglichen nun zum einen das Herausarbeiten von historisch-empirischen Besonderheiten und erlauben es zum anderen Religion nicht allein unter dem Aspekt ihres Bedeutungsverlustes in der Gesellschaft zu untersuchen. Ein abstraktes Differenzierungsparadigma kann sich mittels einer historisch-empirischen Lesart immer wieder sozialer Realitäten versichern und vermag somit regionalspezifische Kontextfaktoren wie Abweichungen, Neuerungen und Wendungen abzubilden und einzubeziehen.
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EBD., 139f. Hier können empirische Untersuchungen historischer Trennungsphasen von Kirche und Staat einen großen Beitrag zur aktuellen Diskussion um gegenwärtige Säkularisierungsprozesse leisten. Sie fördern zu Tage, dass historische „Zyklen der Desakralisierung und Resakralisierung bestimmter Lebensbereiche“ beobachtet werden können. Vgl. STECKEL, SITA, Säkularisierung, Desakralisierung und Resakralisierung. Transformationen hoch- und spätmittelalterlichen gelehrten Wissens als Ausdifferenzierung von Religion und Politik, in: GABRIEL, KARL/ GÄRTNER, CHRISTEL/ POLLACK, DETLEF (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012, 134-175. REUTER, ASTRID, Grenzarbeiten im religiösen Feld-Religionsrechtskonflikte und kontroversen im Verfassungsstaat, in: MALIK, JAMAL/ MANEMANN, JÜRGEN (Hg.), Religionsproduktivität in Europa: Markierungen im religiösen Feld, Münster 2009, 101-116.
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Mittels einer solchen empirisch-historischen Lesart können nun gleichsam die Schnittstellen zwischen verschiedenen sozialen Konstitutionsebenen der Gesellschaft ausgeleuchtet werden. Zwar hat sich in der modernen Gesellschaft eine hohe Autonomie des Individuums gegenüber klassischen Integrationsweisen der Gesellschaft entwickelt. Aber gerade deshalb ist es doch interessant, die scheinbar nun sehr spezifischen Möglichkeiten und Bedingungen der Vermittlung zwischen Individuen und Gesellschaft, respektive die Integration über Organisationsformen, in der Moderne weiter in den Blick zu nehmen. Ebenso wenig wie die autonomen Teilsysteme der Gesellschaft durch ihre Funktionalität allein aufeinander verwiesen bleiben, kann das moderne Individuum nicht komplett ohne den Verweis auf die Einbindung in Gesellschaft verhandelt werden. 4.1 Mehrebenenanalyse Eine Möglichkeit zur Herstellung von Kompatibilität der drei oftmals gegeneinander in Stellung gebrachten Gegenreden zur Säkularisierungsthese, die sich auf unterschiedliche gesellschaftliche Konstitutionsebenen des Sozialen und auf verschiedene gesellschaftliche Sphären beziehen, bietet die Mehrebenenanalyse von Karel Dobbelaere83. Mit der Unterscheidung des Einflusses von Säkularisierungseffekten auf der individuellen, organisationalen und makro-gesellschaftlichen Ebene und mit dem Verständnis einer Interdependenz dieser Ebenen untereinander wird ein integrativer Mehrebenen-Ansatz verfolgt. Zwar wird insgesamt an einem Bedeutungsrückgang von Religion in moderner Gesellschaft festgehalten. Vorteil ist aber, dass sich nun zusätzlich auf interdependente Veränderungsprozesse und Kanäle der Vermittlung zwischen den gesellschaftlichen Konstitutionsebenen konzentriert werden kann. Laut Dobbelaere führt auf der gesellschaftlichen Makroebene klassischerweise die funktionale Differenzierung zum Bedeutungsverlust des Religiösen. Ehedem wichtige Funktionen von Religionsgemeinschaften, wie die Integration von Individuen in die Gesellschaft oder die Rolle als Wertelieferantin, werden nicht mehr (ausschließlich) von den Kirchen übernommen84. Die Mesoebene der organisierten Religiosität verändert sich durch den Verlust von Kirchenmitgliedern, die Plu-
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DOBBELAERE, KAREL, Secularization, Brüssel 2002. EBD., 52.
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ralisierung von religiösen Anbietern und die Binnenpluralisierung der Kirche. Als Reaktion erfolgen Anpassungsversuche an diesen gesellschaftlichen Wandel, die für Kirchen in einem Identitätsdilemma münden, da die Bewahrung des religiösen Kerns der Organisation mit der Anpassung an die weltliche Sphäre konkurriert. Rationalisierungs- und Bürokratisierungsprozesse, die Kirchen und ihre mannigfaltigen Unterorganisationen durchlaufen, führen zu einer säkularen Funktionslogik der Organisationssysteme, die ihrerseits den Säkularisierungsprozess reproduzieren85. Auf der individuellen Ebene werden religiöse Wertbindungen für das Alltagsleben und die Interpretation der Welt unverbindlicher und unbedeutender. Darüber hinaus haben Säkularisierungsprozesse auf gesellschaftlicher Ebene einen Einfluss auf die Einstellung von Individuen zum Verhältnis von Religion und anderen gesellschaftlichen Subsystemen, die Dobbelaere als secularization-in-mind bezeichnet: Do people think in terms of the separation of religion and the juridical, the educational, the economic, the family, the scientific, the medical, and the political systems? In other words, do they think that religion should not inform the other subsystems, that the sub-systems are autonomous and that any interference of religion and these sub-systems should be eradicated and disallowed?86
So kritikwürdig der Ansatz in seiner Einseitigkeit für den Wandel des religiösen Feldes auf den einzelnen Ebenen sein mag, so groß bleibt der Gewinn für die Charakterisierung der religiösen Gegenwartssituationen, weil in ihm die Vermittlung zwischen individuellem Handeln und Interaktionen mit den gesellschaftlichen Strukturbedingungen wie Differenzierung und in Erweiterung auch ökonomischer Strukturen, Pluralisierungsentwicklungen etc. denkbar sind. Diese Sichtweise ermöglicht den Standpunkt, dass die genannten Modelle zur Gegenrede für die Gesamtschau auf die religiöse Dynamik in modernisierten Gesellschaften oftmals untereinander aufeinander verwiesen bleiben. Die integrale Mehrebenenanalyse erlaubt zudem die Entwicklungen des religiösen Feldes auf verschiedenen Ebenen der Gesell-
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EBD., 124. EBD., 168f. Für die empirische Modellbildung schlägt Dobbelaere einen Index vor, demnach der subjektive Umgang mit dem persönlichen Säkularisierungsempfinden geprüft werden kann.
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schaft erst gleichzeitig beschreibbar zu machen. Diese Modellierung ermöglicht somit diese Entwicklungen nicht als reziproke Gegenreden zu lesen, sondern ihren Zusammenhang zu betonen. Mit der Mehrebenenanalyse muss dabei keine Ebene übervorteilt werden. Die Stärke des Ansatzes liegt darüber hinaus in der Hinzunahme der mesogesellschaftlichen Ebene, in der religiöse Organisationen als intermediäre Vermittler zwischen individuellem Handeln, subjektiven Wahrnehmungsweisen und Rahmenbedingungen in der Gesellschaft, fungieren. Sowohl Säkularisierungstheorie als auch ihre Kritik vernachlässigen nach wie vor häufig die Ebene der Organisation als Vermittlungsebene zwischen individueller religiöser Praxis, somit auch subjektiven Erfahrungswelten und gesamtgesellschaftlichen Metastrukturen. Es wird ferner eine Beschreibung von komplexen Veränderungsprozessen ermöglicht, die in Teilen selbst das Problem des inkohärenten Religionsbegriffs aufheben kann, weil sich seine verschiedenen Definitionsvarianten u.U. jeweils für bestimmte religiöse Formen auf bestimmten gesellschaftlichen Ebenen in ihrer jeweiligen öffentlichen oder privaten Gestalt besser eignen und anbieten. Zudem ermöglicht eine interdependente Mehrebenenanalyse, die individuelle und kollektive Handlungsebene von Akteuren mit makrostrukturellen Prozessen analytisch in Verbindung zu setzen. Die theoretische Hinwendung zur Interdependenz der Ebenen erlaubt insgesamt, Gedanken um religiös-gesellschaftliche Figurationen und Prozessualitäten und über die gesamtgesellschaftliche Reproduktion des religiösen Feldes zu entwickeln. In einer Weiterentwicklung des Modells muss sich jedoch von einem einseitigen Blickwinkel eines Bedeutungsverlustes von Religion in modernen Gesellschaften getrennt werden und die Möglichkeit verschiedener Modi im Spannungsfeld von Moderne und Religion ins Auge gefasst werden. 4.2 Zwischenüberlegung Zum Abschluss dieser theoretischen Entwicklung eines integrativen Ansatzes sollen die drei kritischen Gegenreden zur Säkularisierungsthese – Individualisierung, Marktthese und öffentliche Religion – im Lichte der Mehrebenenanalyse ausgedeutet und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Ziel ist es somit, auf bestimmte Fragen und Probleme fokussieren zu können, die in einer reinen Gegenredenstellung zumeist nicht zur Kenntnis genommen werden. So rücken besonders die Schnittstellen zwi-
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schen den gesellschaftlichen Ebenen des Sozialen sowie die spezifische Sphärentrennung von Religion, Politik und Öffentlichkeit auf diesen unterschiedlichen Konstitutionsebenen des Sozialen in den Blick. 1. Individualisierung: Für die deutsche Gesellschaft mögen Individualisierungsprozesse zur Loslösung von Individuen von der Kirchenbindung verantwortlich gemacht werden. Dabei wird noch abzusehen sein, inwiefern sich neue christlich organisierte Sozialformen auch jenseits der klassischen Kirchenbindungen entwickeln und etablieren werden. Neue funktionale Formen der individuellen Religiosität wurden nur in schwachen Gruppengrößen vermerkt. Im US-amerikanischen Fall ist hingegen aufgefallen, dass eine besonders individualisierte Form von persönlicher Religiosität weit verbreitet ist. Die Fragen, die sich aus einer Mehrebenperspektive anschließen, lauten: Wie könnte erklärt werden, dass Menschen in den USA einerseits eine hoch individualisierte Religion leben und andererseits trotzdem offenbar nur leicht geringer organisationsfreudig sind als früher? Weshalb vermittelt sich individualisierte Religion in Deutschland nicht mit der klassischen Organisationsbindung an die beiden Großkirchen? 2. Die Marktthese konnte widerlegt werden. Eine religiöse Pluralisierung führt in der Lebens- und Erfahrungswelt von religiösen Personen nicht zu religiöser Vitalität. Damit ist jedoch nicht gleichzeitig die Einschätzung widerlegt, dass eine spezifische Organisationslandschaft und Funktionsweise in eine Wechselwirkung mit individuellen religiösen Einstellungen treten könnten. Wenn nun nicht der Prozess der (Binnen-)Pluralisierung verantwortlich ist, lohnt es sich dennoch die Aufmerksamkeit für weitere Charakteristika der Organisationslandschaft wie Präsenz der Organisationen (Angebote), Organisationsformen (Attraktivität und Effizienz) und Funktionsweise (funktionale Aufgabenteilung, Anspruch menschlicher Bedürfnisse an religiöse Vergemeinschaftung) in aller Offenheit aufrecht zu erhalten. Zu diesem Zweck könnten weiterhin organisationssoziologische Ansätze zu Rate gezogen werden. Für christliche Organisationen zeigt sich, dass sie es in ihrer Organisationslogik mit zwei Aufgabenfeldern gleichzeitig zu tun haben. In diese fällt zum einen der große Aufgabenbereich, Mitglieder dauerhaft zu integrieren und „geistlich zu versorgen“– z.B. durch Gottesdienste/spirituelle Gemeinschaftserfahrung, Begleitung von biografischen Lebensphasen –
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zum anderen muss „Kredit und Einfluss im öffentlichen Raum“87 geltend gemacht werden. Eine Organisationslogik funktioniert dabei nach dem Prinzip der Selbsterhaltung und der Selbstreproduktion und weniger um die Konkurrenz zu anderen Anbietern. So hat Hirschman bereits in den 1970er Jahren eine klassische Marktthese für die Beziehung zwischen Organisationen und ihren Mitgliedern abgelehnt. Die alternative Auswahl für die „Befriedigung“ der Nachfrage als freies Marktprinzip sei realistisch aufgrund der Monopolstellung vieler Organisationen gar nicht vorausgesetzt. Dennoch besteht in der demokratischen Gesellschaft, die Möglichkeit Organisationen wegen Unzufriedenheit zu verlassen. Die andere Möglichkeit ist es – besonders naheliegend, wenn sich keine so große Auswahl an deutlich besseren Alternativen bietet – sich mit innerer Kritik an der Organisation über bestehende Umstände auseinanderzusetzen. Zwischen exit und voice können sich zahlreiche Aktionsräume für Mitglieder einstellen, zumal wenn sie durch die ggfls. hohe loyality der Mitglieder, zusätzlich vermengt werden88. Hier sind ganz unterschiedliche Handlungsformen auf individueller Ebene, wie die Unterstützung und Wahl bestimmter Repräsentanten in der Organisation, die finanzielle (Nicht-)Unterstützung zweckgebundener Projekte oder Kampagnen, die Organisation von kritischen Mehrheiten in der nächsten Mitgliederversammlung etc., denkbar. Der Blick auf die kollektive Handlungsebene der Organisation kann zudem Hinweise auf die prozessuale Ausgestaltung der Beziehung zu Mitgliedern liefern. Wenn Organisationen z.B. offen sind für Kritik und Gestaltungsspielräume für Verhandlung und Partizipation für ihre Mitglieder bereitstellen, können sie u.U. einem Austritt ihrer Mitglieder entgegensteuern. Welche Räume für innere Kritik und Gestaltung bieten die christlichen Kirchen und US-amerikanischen denominationen an? Und umgekehrt, entsteht ein westeuropäisches exit Szenario, weil die organisatorischen Beteiligungsräume der Kirchen geschlossen sind? Gehen religiöse Organisationen strategisch mit den Optionsräumen, die sie ihren Mitgliedern jeweils für exit oder voice geben, z.B. wenn sie sich den Bedürfnissen ihrer Mitglieder anpassen?
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M. PETZKE/ H. TYRELL, Religiöse Organisationen, 285. HIRSCHMAN, ALBERT O., Exit, Voice and Loyality. Responses to Decline in Firms, Organizations and States, Cambridge, 1970.
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Im Ergebnis weist die Berücksichtigung organisationssoziologischer Fragestellung darauf hin, weiter über die Rolle der spezifischen Beschaffenheit der religiösen Akteurslandschaft wie Formen einzelner Unterorganisationen für das religiöse Niveau in einem Land (und in seinen verschiedenen Regionen) zu diskutieren. 3. Öffentliche Religion: Während ein spezifisches Staat-Kirche-Verhältnis nach Casanova keinen determinierenden Einfluss auf die individuelle Ebene hat, sich die Prozesse von einer strikten Trennung von Staat und Kirche somit nicht auf die religiöse Praxis und Überzeugung von Einzelnen auswirken, kann jedoch stark davon ausgegangen werden, dass die spezifische institutionelle Trennung für die alltägliche Praxisbeziehung zwischen religiösen Akteursgruppen und der Politik einen Gestaltungsrahmen setzt. Auch in diesem Zusammenhang nehmen Organisationsformen und Handlungsweisen von Organisationen, die oftmals öffentliche Religion herstellen und Themen von der individuellen Ebene in einen gesamtgesellschaftlichen Raum aggregieren und transportieren, eine zentrale Bedeutung ein. Auf die Gestalt und Präsenz öffentlicher Religion weisen die institutionelle KircheStaat-Beziehung und, über die institutionellen Rahmenbedingungen hinaus, die alltägliche prozessuale Ausgestaltung der Beziehung von Religion und Politik sicherlich hin. Inwiefern die spezifischen Modi der Interaktion zwischen Staat und Kirchen zu einer starken oder schwachen Repräsentanz in der Gesellschaft führen, kann hier somit nicht für die individuelle Ebene beantwortet werden, vielmehr geht es um die spezifischen Mechanismen und Prozesse, die eine (starke) Präsenz im öffentlichen Raum bedingen und beeinflussen können. Diese wiederum vermitteln sich vermutlich in besonderer Weise mit der Ebene der privaten Religiosität, zumindest derjenigen, die an diesen Prozessen und Vermittlungsarrangements beteiligt und interessiert sind. So kann der Blick auf die Partizipationsräume und Beteiligungsmöglichkeiten von religiösen Akteursgruppen am öffentlichen demokratischen Gemeinwohl gelenkt werden. Auf individueller Ebene können sich religiöse Personen beispielsweise als Politi-kerInnen in der Parteipolitik engagieren, sie können sich darüber hinaus aber auch sowohl in religiösen als auch weltlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen engagieren. Auf Organisationsebene übernehmen Kirchen und religiöse Organisationen klassische Funktionen von Interessenvertretung und wirken in religiösen Interessenvermittlungsprozessen, z.B. massenmedial vermittelt, in der Öffentlichkeit.
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5. D AS
CHRISTLICHE F ELD IN D EUTSCHLAND UND DEN USA IM L ICHT EINER M EHREBENENANALYSE
Diese drei Problemstellungen und ihre Anschlussfragen werden im Folgenden mit einigen empirischen Fallbeispielen aus den hier besprochenen Ländern ausgeleuchtet. Als Grundlage wird zunächst das Verhältnis einer spezifischen Staat-Kirche Beziehung für die Ausprägung der religiösen organisierten Akteurslandschaft eines Landes diskutiert. Danach wird anhand der Besonderheiten der jeweiligen Organisationslandschaft zu überlegen sein, wie sie sich erstens mit hoch individualisierter Religion vermittelt und zweitens welche Bedeutung die Funktion und Präsenz christlicher Organisationen bei der Vermittlung mit ihrer Umwelt sowohl auf Ebene ihrer Mitglieder als auch auf Ebene der gesellschaftlichen Umwelt hat. Schließlich wird drittens das Licht auf die Formen und Mechanismen von öffentlicher Religion gerichtet sowie die Frage diskutiert, wie öffentliche Religion auf die Religionsgemeinschaften und das individuelle religiöse Selbstverständnis zurückwirken könnte. Dabei kann es sich im Format des vorliegenden Aufsatzes nur um eine Skizze handeln, die einen empirischen Ausblick ermöglichen soll, dabei aufgestellte Annahmen über Zusammenhänge und Prozessverläufe einer empirischen Testung selbstverständlich noch zu unterziehen wären. 5.1 Trennung von Kirche und Staat und die Landschaft religiöser Organisationen Die institutionelle Trennung zwischen Kirche und Staat in den USA gilt als eine der striktesten weltweit. Während ihr unmittelbarer Einfluss für die individuelle Ebene als marginal eingeschätzt wird, wird hier argumentiert, dass die historisch-spezifische institutionelle Trennung zur Ausprägung einer bestimmten Form der Akteurslandschaft geführt hat, die ihrerseits die Vermittlungsformen und -praxen von organisierter und individueller Religiosität in einem Land prägen kann. Zudem wirkt sich die spezifische Beziehung zwischen Kirche und Staat darauf aus, in welcher Sphäre der Gesellschaft organisierte christliche Akteursgruppen ihre Aktivitäten besonders entfalten. Während in der republikanischen Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 die establishment clause im first amendment die Gründung einer
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Staatskirche verbietet, sichert die free excercise clause die freie Ausübung des persönlichen Glaubens für alle Bürgerinnen zu. Im fourteenth amendment werden die civil rights der Bürger festgelegt, demnach keine Person vor dem Gesetz diskriminiert werden darf89. Diese frühe und strikte institutionelle Trennung von Kirche und Staat in den USA kann nun auf Ebene der Organisationen vermittelte Mechanismen für die Reproduktion vitaler Religiosität freisetzen. Durch die Abwesenheit staatsnaher, konfessionell organisierter Kirchen konnte sich in den USA ein sehr autonomes und binnenpluralisiertes Spektrum denominationaler Organisationen herausbilden. Bereits Parsons hat für die religiöse Organisationslandschaft in den USA den Begriff des „denominational pluralism“ geprägt, welcher die besonderen „patterns of religious organization“90 charakterisiere. Max Weber hat bei seiner Amerikareise 1904 daran die Unterscheidung von Kirche und Sekte schärfen können, weil er eine wenig institutionalisierte und diverse Organisationsprosperität neben den, im engen Sinne institutionell verfassten Amtskirchen, bemerkte91. Der Charakter der religiösen Organisationslandschaft in den USA kann insgesamt als sehr binnenplural, dezentral einerseits und dadurch andererseits als flexibel, wandelbar und adaptionsfähig92 beschrieben werden. Zu den zahlreichen christlichen Organisationsformen in den USA zählen neben den Amtskirchen z.B. unzählige Freikirchen, Zusammenschlüsse von Denominationen in Megachurches, teleevangelikale Unternehmen der evangelikalen Erneuerungsbewegung, Pfingstler, privatwirtschaftlich organisierte Hilfsorganisationen, zudem zahlreiche Basisinitiativen sowie spezifische religious interest groups. Auch wenn die Umstrukturierungen dieser Organisationslandschaft seit 1945 stark als Ergebnis gesamtgesellschaftlicher 89
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GUMBRECHT, HANS ULRICH, Religion und Politik in den Vereinigten Staaten. Über die Geschichtlichkeit einer kulturellen Invariante, in: GRAF, FRIEDRICH WILHELM/ MEIER, HEINRICH/ AGAMBEN, GIORGIO (Hg.), Politik und Religion: Zur Diagnose der Gegenwart, München 2013, 47-78, 58ff. PARSONS, TALCOTT, Some Comments on the Pattern of Religious Organization in the United States, in: Ders., Structure and Process in Modern Society. New York 1960, 295-321. LOADER, COLIN/ ALEXANDER, JEFFRY C., Max Weber on Churches and Sects in North America: An Alternative Path toward Rationalization, in: Sociological Theory, Vol. 3, No. 1, 1985, 1-6. WUTHNOW, ROBERT, Der Wandel der religiösen Landschaft in den USA seit dem zweiten Weltkrieg, Würzburg 1996, 14.
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Veränderung gedeutet werden dürfe, so sei diese nicht durch Säkularisierungstendenzen „ausgehöhlt“ worden, sondern immer auch ein starker Akteur in der Reaktion auf diese Wandlungsprozesse selbst93. Zudem begünstigt die historische Entwicklung wohl die politische Kultur der normativen und alltagspolitischen Durchdringung und Nähe von Religion und Politik. Diese alltagspolitischen Bezüge geraten aufgrund der institutionellen Trennung wenig in Legitimationskonflikte. Es kann in einem dialektischen Prozess gleichzeitig eine institutionelle Trennung von Staat und Kirche und eine Entdifferenzierung auf der Ebene der Normen und Alltagspraxen stattfinden. In dieser alltagspolitischen Selbstverständlichkeit liegt jede politische Kritik, begründet durch eine zu große Nähe der Kirche zur politisch-administrativen Macht, wie sie zum Beispiel in den 1970er Jahren in Deutschland von liberalen Gruppen proklamiert wurde94, fern. Entdifferenzierungsprozesse auf normativer, kultureller und identitätspolitischer Ebene wirken dann freilich religionsproduktiv. Der gesellschaftspolitische Ort christlichen Engagements ist durch die frühe und strikte Trennung historisch gewachsen der Raum der Zivilgesellschaft 95. Auch in Europa sichern moderne Verfassungen eine positive wie negative Religionsfreiheit ab. In Deutschland gewährleistet das Grundgesetz die positive Freiheit des Glaubens und des Gewissens sowie die ungestörte Religionsausübung (GG Art. 4). Die negative Religionsfreiheit garantiert, dass der Staat seinen Bürgern keine weltanschauliche Grundhaltung vorschreiben darf. Diese Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Deutschland wurden in den Weimarer Konkordaten grundgelegt. Demnach darf es in Deutschland keine Staatskirche geben und alle Religionsgemeinschaften müssen vor dem Staat gleich behandelt werden, sofern sie als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt wurden. Mit diesem Körperschaftsstatus ausgestattete Religionsgemeinschaften genießen dann aber gewisse Privilegien, wie das Recht zum Einzug von Kirchensteuern, Mitspracherechte in Ethik- und Rundfunkräten oder die Möglichkeit, Seelsorge in bestimmten öffentlichen Einrichtungen (Krankenhaus, Gefängnis, Militär) anzubieten.
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EBD. HANNIG, NICOLAI, Die Religion der Öffentlichkeit: Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945-1980, Göttingen 2010. CRAWFORD, SUE, Religious Organizations, in: ANHEIER, HELMUT K./ TOEPPLER, STEFAN (Hg.), International Encyclopedia of Civil Society, Vol 3, New York 2010, 1307-1312, 1307.
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Faktisch haben die christlichen Kirchen in Deutschland diese relativ enge Beziehung zum Staat auch historisch ausgestaltet, wobei sie zum Beispiel durch die Übernahme caritativer Tätigkeiten ihrerseits einen Beitrag zu dieser engen Beziehung leisten. Es liegt somit konstitutionell und historisch gewachsen eine enge Beziehung zwischen christlichen Großkirchen und Staat vor. Wie in anderen europäischen Gesellschaften musste die Macht der religiösen Institutionen mit der modernen Staatsgründung historisch zunächst aber zurückgedrängt werden. Auch hier kann wieder argumentiert werden, dass dieses Verhältnis nicht das private religiöse Leben im Land durchdeterminiert, es jedoch für die Gestalt und Ausformung christlicher Großkirchen und ihrer zahlreichen Unterorganisationen in der modernen Gesellschaft bedeutsam ist. Selbstredend sind für Europa zudem andere historische Aspekte für die Organisationsgestalt ebenso prägend, ist die europäische Kirche doch weit älter als der moderne Staat. Das Verständnis könnte dahingehend formuliert werden, dass das moderne Staat-KircheVerhältnis eine besondere Verfasstheit der Organisation Kirche historisch angetroffen hat. Hier gingen bereits der modernen Staatsgründung starke binnenreligiöse Konflikte voraus, wobei hier die religiöse Vorteilsstellung stets auch mit der weltlichen Macht verwachsen war (z.B. Verbindung des Protestantismus mit preußischen Eliten). Durch die stärkere Nähe zwischen Religion und Staat kann davon ausgegangen werden, dass Regimewechsel, von denen es in der neuen und neueren deutschen Geschichte einige gegeben hat, stärkeren Einfluss auf das religiöse Feld nehmen und sich die (Neu-)positionierungen stets auch in Konkurrenz oder schlicht in Unterschieden zwischen Konfessionen abspielen konnten. Im Ergebnis weist die historische Ausformung europäischer Großkirchen in ihrem modernen konstitutionell geregelten Platz in der Gesellschaft auf einen stark verwobenen wall of seperation in Deutschland. So stellt sich die religiöse Situation auf Ebene der Organisation in Deutschland zentralisierter und insbesondere institutionalisierter in den beiden großen Konfessionen dar. Seit den 1960er Jahren entwickelte sich zunehmend eine Ausdifferenzierung christlicher Organisationen. Die religiöse Landschaft kann heute als ein diverses Feld organisierter religiöser
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Akteure beschrieben werden96. Zu diesen gehören u.a. Wohlfahrtsverbände und christliche Hilfswerke, die beide eng in das wohlfahrtstaatliche System eingebunden sind, zudem finden sich Orden, unterschiedliche soziale Einrichtungen in christlicher Trägerschaft, wie z.B. Schulen oder Krankenhäuser, Basisinitiativen der Mitglieder und zahlreiche Gemeinden. Initiativen, Verbände und Vereine agieren dabei zumeist vereint unter dem Dach der Großkirchen. Seit den 1950er Jahren erfährt die religiöse Landschaft zudem durch die Zuwanderung islamisch geprägter Gastarbeiter auch wieder eine inter-religiöse Pluralisierung. Allmählich wandelt sich das Selbstverständnis der Kirchen, nunmehr ein religiöser Anbieter unter anderen religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungsanbietern zu sein. Zunehmend positionieren sich die Kirchen im Zuge dessen in Deutschland als intermediärer zivilgesellschaftlicher Akteur, in dem sie sich stärker aus einer engen Verbindung zum Staat herauslösen. Durch die größere Distanz zum Staat durchlaufen sie Rollenfindungsprozesse, sie verstehen sich teilweise als zivilgesellschaftlicher Akteur und entwickeln neue Formen des Engagements in diesem Raum97. Im Vergleich zu den USA ist trotz dieser neuen Rolle und der vorangegangenen und begleitenden Aushandlungsprozesse dennoch eine stärkere Einbindung mit Privilegien kirchlicher Strukturen in die alltagspolitischen Beziehungen grundgelegt. 5.2 Hoch individualisierte Religion bei gleichzeitiger Einbindung in religiöse Organisation Die USA sind bis heute ein Land, in dem religiöse Individualisierung und Vergemeinschaftung gleichzeitig stattfinden98. Um dieses Verhältnis zu erklären, bietet sich der Blick in die historisch kulturelle Entwicklung der Vereinigten Staaten an. Dieser enthüllt spezifische historische Pfadabhängigkeiten, die die Beschaffenheit der religiösen Akteurslandschaft histo-
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LIEDHEGENER, ANTONIUS, Macht, Moral und Mehrheiten: der politische Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA seit 1960, Baden-Baden 2006, 137ff. STRACHWITZ, RUPERT GRAF, Kirchen auf dem Weg in die Zivilgesellschaft, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Analysen zu Demokratie und Zivilgesellschaft. Kirchen in Bewegung. 28/ 1 (2015), 28-37. BRETTHAUER, BERIT, Televangelismus in den USA: Religion zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung, Frankfurt; New York 1999, 13.
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risch prägen. Zu diesen gehören z.B. die Entwicklung der religiösen und sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung oder die territoriale Aufteilung dieser Bevölkerungsgruppen99. Die Unterschiede zur historisch gewachsenen religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland und den USA liegen deutlich auf der Hand. In der Einwanderungsgesellschaft der USA haben sich, nach der Christianisierung des Landes, traditionell die christlich-religiösen Mehrheitsverhältnisse in verschiedenen Epochen durch fortwährende Einwanderungsprozesse verschoben. Diese Komponenten spielten auch zur Gründungsphase der USA eine Rolle. In die USA wanderten im 18. Jh. vor Verfolgung und Diskriminierung aus Großbritannien geflüchtete religiös fundamentalistische Gruppierungen ein. Die verschiedenen religiösen Prägungen der Einwanderer und ihre Aushandlungsprozesse untereinander wirkten sich auf die nationalen Gründungsmomente auf der Ebene der verschiedenen Föderalstaaten aus100. Die historische Ausgangslage war dahingehend grundverschieden zu europäischen Entwicklungen, weil die klerikale Macht im politischen Raum nicht sukzessive von weltlichen Mächten verdrängt wurde. Somit liegt die Vermutung nahe, dass in den Vereinigten Staaten mit einer frühen und strikten Trennung von Kirche und Staat durch hohe Autonomie des religiösen Sektors die Voraussetzungen für eine Gleichberechtigung von autonomen Religionsgemeinschaften selbst geschaffen worden sind. Dementsprechend konnte sich bereits während der nationalen Gründungsphase ein enges Verhältnis zwischen religiösem und nationalem Bewusstsein herausbilden. Man sah sich selbst als religiös-pluralisierte Gesellschaft an, in welcher die eigenen Rechte nur mit der Sicherung von Gleichberechtigungen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften hergestellt werden konnten. In diesem Zusammenhang galt es, die religiösen und nicht religiösen Belange der eigenen (Einwanderungs-)gruppe in diesem Entstehungsprozess zu vertreten, weshalb die Beteiligung christlicher Akteure über Kandidaturen in der Politik während der Gründungsphase sehr hoch war. Historisch fällt die Entstehung der Verfassung somit unmittelbar mit der Pluralität und hohem religi-
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HÖLSCHER, LUCIAN, Der Raum des Religiösen. Semantische Strukturen des religiösen Lebens im 19. Jahrhundert – Eine problemgeschichtliche Skizze, in: LEHMANN, HARTMUT (Hg.), Transatlantische Religionsgeschichte, Göttingen 2006, 109-123, 113ff. GUMBRECHT, Religion und Politik, 58.
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ösen Mitgestaltungsanspruch der Gründungs-Bevölkerung zusammen. Insgesamt konnten sich unterschiedlich religiös geprägte Regionen herausbilden101. Der engen Beziehung zwischen nationalem Geschick und Religion heute liegt somit ein historisch-tradiertes Erbe zugrunde. Dieses kennzeichnet sich sowohl durch ein sehr individualisiertes religiöses Selbstverständnis als auch durch den Mythos der Auserwählung der amerikanischen Gemeinschaft als eines „Volkes unter Gott“102. Ein Spezifikum sei, so hebt Gumbrecht im Anschluss an Max Weber hervor, dass AmerikanerInnen mit der Zugehörigkeit zu einer „unvergleichbar engeren Sozialform einer jeweiligen Gemeinde“, die sich als Zentrum „persönlicher Identität“ herausstelle, eine besonders intensive Beziehung zur religiösen Organisation aufwiesen103. Toqueville schließlich wusste auf Grundlage seiner Amerikareise, den Unterschied zu Europa wie folgt zu fassen: „I do not know whether all Americans have faith in their religion [...], but I am sure that they believe it necessary to the maintainance of republican institutions. This opinion does not only belong to one class of citizens or to one party, but to the entire nation; one finds it in all ranks.“104 Es findet sich hier eine tief verwurzelte normative Ordnung, angeleitet durch die politische Denkweise republikanischer Bewegungen in der politischen Kultur der USA, in der selbst bei hohem Individualismus die Zugehörigkeit zu Organisationen als ein Beitrag zur Gesellschaft selbstverständlich war. Historische Faktoren können nun keineswegs hinreichende Erklärungen für aktuelle soziale Beziehungen sein, sie haben jedoch die Geschicke des Landes in eine spezielle Laufbahn verwiesen, in welcher sich scheinbar die Beziehung zwischen religiöser Organisiertheit und hoher persönlicher individueller Religiosität besonders gut hat halten können. Für Deutschland müsste im Anschluss daran ex negativo eine Abwesenheit dieser Bindungsmechanismen zwischen (religiöser) Individualisierung und institutionalisierten religiösen Formen konstatiert werden.
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EBD., 62. WUTHNOW, Der Wandel der religiösen Landschaft, 281. GUMBRECHT, HANS ULRICH, Religion und Politik, 63. TOCQUEVILLE, ALEXIS DE, Democracy in America: translated, edited, and with an introduction by Harvey C. Mansfield and Delba Winthrop, in: MANSFIELD, HARVEY CLAFLIN/ WINTHROP, DELBA, Democracy in America, Chicago 2000, 280.
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5.3 Wie sich Struktur der Organisationslandschaft und individueller Glauben ineinander fügen Kirche und Staat können selbst als Mehrebenensysteme beschrieben werden. Das politische System in Deutschland gibt eine föderale Struktur in einem relativ interdependenten Mehrebenensystem mit einer starken föderalen Länderebene vor. Diese Struktur spiegelt sich in den Organisationsebenen der Kirchen (Gemeinde, Diözese/Landessynode, nationale Leitung (EKD, DBK)). Damberg und Hellemanns haben herausgestellt, dass der Transformation der Großkirchen in Westeuropa besondere Bedeutung der Veränderung auf der intermediären Ebene zukommt. Sie beobachten, wie die lokalen Gemeinden und Pfarreien zunehmend unter Druck geraten, während die Bedeutung der überlokalen kirchlichen Instanzen wie Kirchenkreise und Diözesen wächst, da sie mehr und mehr administratives Gewicht gewinnen und somit eigenständige religiöse Aktivität entwickeln105. Auf der überregionalen Ebene bleiben Kirchen trotz großer struktureller Veränderungsprozesse durch Mitgliedsaustritte nach wie vor ein zentraler Akteur von Gewicht, sowohl im religiösen Feld selbst, in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit sowie mit ihren „Sozialholdings“ 106 Caritas und Diakonie im Bereich der staatlichen Wohlfahrt. Organisatorische Rückbildungsprozesse treffen demnach besonders den kommunalen Raum in Form verminderter Organisations-Präsenz und Stärke, oftmals verursacht durch finanzielle und personelle Engpässe. Zeitgleich wird in diesem Raum die individuelle Erfahrung von Individuen mit „ihrer“ Organisation und deren Aktivitäten lebensweltlich hergestellt und scheint deshalb für die Beziehung zwischen Individuum und Organisation besonders wichtig. Ein Abbau regionaler Gemeindearbeit scheint für Kirchen mit Hinsicht auf die Beziehungspflege zu ihren Mitgliedern daher höchst dysfunktional. Der kommunale Interaktionsraum ist darüber hinaus nun (jeweils in verschiedenen Regionen) von verschiedenen strukturellen Angeboten
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DAMBERG, WILHELM und HELLEMANNS, STAF, Die Neugestaltung der europäischen Großkirchen und der Aufstieg der intermediären Instanzen seit 1945/ 1960, in Dies. (Hg.), Die neue Mitte der Kirche: der Aufstieg der intermediären Instanzen in den europäischen Großkirchen seit 1945, Stuttgart 2010, 215-248. ZIEMANN, BENJAMIN, Kirchen als Organisationsform der Religion. Zeithistorische Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 7 (2010), URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Ziemann-3-2010, Abs. 8.
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christlicher Organisationen geprägt. Neben der Schwächung kommunaler Gemeinden bleiben Caritas und Diakonie Akteure mit lebensweltlichen sozialen Projekten. Auch für sich gesellschaftspolitisch engagierende Bevölkerungsgruppen bieten Gemeinden und Basisinitiativen nach wie vor in hohem Maße Strukturen für solch ein Engagement an. Für Westdeutschland konnte ermittelt werden, dass 36 Prozent der Kirchenmitglieder den Wunsch gegenüber den Kirchen vertreten, Einfluss in Öffentlichkeit und Gesellschaft zu nehmen. Die Mehrheit wünscht sich zuvorderst die kultische Begleitung in biografischen Phasen und Ereignissen (Taufe, Kommunion, Hochzeit, Beerdigung)107. Faktisch werden die spirituellen Angebote jedoch zunehmend weniger wahrgenommen, mitgestaltet und besucht. Für Kirchenaustritte in Deutschland sei dabei nicht einmal zuvorderst eine große Unzufriedenheit mit der Kirche verantwortlich. Die Distraktionsthese legt eher ein allmähliches Entfernungsszenario von der Großorganisation nahe108, demnach die Kündigung der Mitgliedschaft ein Ergebnis dieses Prozesses sei. Auf der strukturellen Ebene fällt nun auf, dass die beiden Anteile von Religion, einem sozialcaritativen Bereich und dem Teil der gemeinsamen rituellen Erfahrungen auseinanderfallen. Neben einer starken Ausdifferenzierung scheint ersterer auch im kommunalen Raum weiter Bestand zu haben, letzterer besonders hier wegzubrechen. Interessant wäre es in diesem Zusammenhang stärker die Verbindung zwischen organisatorischem Angebot und seiner Ausformung sowie der persönlichen Glaubensüberzeugung von Individuen zu untersuchen. Wirkt das spirituell liturgische Angebot in regionalen Kirchengemeinden weniger attraktiv, gerade weil die Strukturen und Angebote durch die Schwächung der Kirchen auf kommunaler Ebene besonders einschlagen? Oder wirkt Individualisierung und Distraktion dahingehend, dass Kirchen – intentional oder nicht – ihre Aktivität im Wohlfahrtsbereich und im caritativen Bereich ausbauen und aufrechterhalten können? In den USA fallen andere Besonderheiten bei der Mehrebenenvermittlung im religiösen Feld auf. Die Politikverflechtung zwischen den Ebenen ist vergleichsweise schwach. Die kommunalen Counties agieren in sehr großer Unabhängigkeit zur Zentralregierung und zur Regierungsebene der
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POLLACK, DETLEF/ ROSTA, GERGELY, Religion in der Moderne, 109. EBD., 466.
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Bundesstaaten. Analog dazu verhält es sich mit den kirchlichen Strukturen. Die Organisationen im kommunalen Raum erfahren daher eine doppelte Autonomie. Neben der bereits beschriebenen Distanz zu staatlichen Institutionen erfahren sie ebenfalls eine große Unabhängigkeit gegenüber den überregionalen Organisationsstrukturen in der eigenen Kirchenhierarchie. Fällt in den USA eine hohe individuelle religiöse Vitalität für die Ebene des Individuums ins Auge, findet gleichsam eine schwache überregionale zentralistische Organisation der Kirchen statt. Religiöse Organisationen können in den USA sehr flexibel, unabhängig von der eigenen Kirchenhierarchie oder Organisationskultur in der Dachorganisation, auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse reagieren. In Studien zu Teleevangelikalen und Megachurches konnte z.B. die strategische Ausrichtung dieser Organisationen auf ihre Mitglieder gezeigt werden. Demnach werden Umfragen nach den Bedürfnissen der Zielgruppen durchgeführt. In Interviews geben sie selbst an, den wichtigen Kontakt im kommunalen Raum intentional und strategisch aufrechtzuerhalten. Zudem findet eine Ausrichtung auf einen unterhaltsamen Gottesdienst statt. Gleichzeitig fällt ein vielfältigeres und modernisiertes Angebot religiöser Vergemeinschaftung auf, bei dem großer Wert auf die Lebens- und Erfahrungswelt von Individuen und auf moderne Kommunikation gesetzt wird. Neue Organisationen graben dabei übrigens den denominationen nicht übermäßig das Wasser ab. Eine gleichzeitige Beteiligung in verschiedenen religiösen Organisationszusammenhängen ist in den USA durchaus üblich.109 Ein zweites Wandlungsphänomen des religiösen Feldes in den USA hängt ebenfalls stark mit der Rückbindung von Organisationen zum kommunalen Raum zusammen. Mit der vermehrten Herausbildung von Interessengruppen analog zu anderen Lobbygruppen im politischen System der USA entwickelten sich zahlreiche christlich geprägte Interessenorganisationen, wie dem Baptist Joint Committee for Religious Liberty oder den Catholics Against Capital Punishment110. Diese interest groups bilden zwar auch überregionale Strukturen aus, bleiben dabei eng an die Interessen und Ziele ihrer Mitglieder im kommunalen Raum rückgebunden, wenn sie ihr
109 110
BRETTHAUER, BERIT, Televangelismus, 15ff. ROBINSON, ZOE, Lobbying in the Shadows: Religious Interest Groups in the Legislative Process, Emory Law Journal, Vol. 64, 2015, 1041-1102.
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Programm in den öffentlichen Diskurs, einbringen. Durch die Abwesenheit zentralistischer überregionaler kirchlicher Strukturen konnte sich besonders im kommunalen Raum eine ganz neue Vertretungsstruktur mit neuen Akteuren herausbilden. Für die USA kann abschließend eine höhere Funktionalität in der Passung zwischen Organisationen und Mitgliedern beobachtet werden. Auch hier sticht die Frage (für weitere Untersuchungen) nach der Interaktionsbeziehung zwischen persönlicher Glaubenseinstellung und Struktur des religiösen Organisationsangebotes und der jeweiligen Einzel-Organisationen hervor. Weniger autoritäre Auffassungen im Glauben spiegeln weniger Hierarchie im organisatorischen Aufbau der Kirche. Eine Vielseitigkeit der Organisationsformen trifft auf einen eigentlich indifferenten, sehr personalisierten, internalisierten Glauben. Gesellschaftspolitische Vertretung und auch die spirituell liturgischen Gemeinschaftserlebnisse sind stark an den kommunalen Raum rückgebunden und Mitglieder scheinen sich in beiden Formen gleichzeitig repräsentiert zu sehen. Auch hier könnte eine Interaktionsbeziehung mit der persönlichen Einstellung der AmerikanerInnen mitschwingen. Denn neben einer nach wie vor hohen religiösen Affinität interessieren sie sich, wie fast keine andere Bevölkerung, für die politischen Geschicke im Land; 50,7 Prozent geben an, Politik wichtig oder sehr wichtig zu finden111. Religiöse Organisationsformen in den Vereinigten Staaten sind in ihren Eigenschaften und in ihrer Beziehung zu ihren Mitgliedern wandelbarer, flexibler, vielgestaltiger – kurzum moderner – als in Deutschland und können gerade dadurch die Reproduktion eines hohen religiösen Niveaus in der amerikanischen Gesellschaft befördern. 5.4 Beteiligung von religiösen Akteuren in Öffentlichkeit und Politik Wie gesehen, besteht die Herausforderung für christliche Organisationen diesseits und jenseits des Atlantiks darin, als intermediäre Organisationen der Gesellschaft zwischen den eigenen Mitgliedern, der Öffentlichkeit und den säkularen Institutionen und Sphären der modernen Gesellschaft zu vermitteln. Dabei treten diese in Aushandlungsprozesse zwischen Mitglie-
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World Values Survey Wave 5: 2005-2009, in: http://www.worldvaluessurvey.org/ WVSOnline.jsp, zuletzt eingesehen 15.03.2015
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derlogik und Tradierungslogik. Die Beteiligung und Partizipation von christlichen Organisationen in Öffentlichkeit und Politik wirkt somit ggfls. auf eine Mobilisierung der eigenen Mitglieder und zielt darauf aggregierte Interessen und wertnormative Positionen zu transportieren, das eigene Handeln und die Ausrichtung zu legitimieren oder Ansprüche für gesellschaftliche Teilhabe zu artikulieren. Rückwirkungsprozesse auf das religiöse Feld und auf die Selbstverständnisse religiöser Individuen, zumindest jenen, die sich für die politisch-öffentliche Seite ihrer Organisation interessieren, sind dabei nicht auszuschließen112. Generell setzt die Beteiligung in öffentlichen und politischen Engagementräumen eine hohe Anpassungsleistung von christlichen Akteuren an die jeweiligen Systeme voraus und fordert stets Reaktionen auf die Veränderungen des gesellschaftlichen Umfeldes, in denen sie sich bewegen. Die politische Kommunikation in der Demokratie via Massenmedien erfordert zum Beispiel eine hohe Anpassungsleistung an ein hochgradig strategisches Feld 113. Auch das politische System steckt die Spielräume für Beteiligungsmöglichkeiten religiöser Akteure ab, so dass sich die Formen und Ausprägungen öffentlicher Religion in der Interaktion mit diesen Rahmenbedingungen ausgestalten. Die für die politische Beteiligung der religiösen Akteure prägenden Faktoren des politischen Systems der USA gegenüber denen Deutschlands bestehen zunächst in der historisch gewachsenen stärkeren gesellschaftlichen Segmentierung und durch diese bedingten politischen Fragmentierung, gekennzeichnet durch eine relative Schwäche des Zentralstaats sowie der politischen Parteien. Politische Akteure sind in stärkerem Maße auf politische und materielle Unterstützung auf lokaler Ebene und durch Interessengruppen angewiesen und weniger einer Parteidisziplin verpflichtet. Daher bilden sich politische Koalitionen in der Regel ad hoc um singuläre Themen und Gesetzesvorhaben, erstrecken sich weit häufiger über Parteigrenzen hinweg und sind insgesamt kurzlebiger. Darüber hinaus sorgt ein System der checks and balances mit einer sehr viel strikteren Gewaltenteilung und institutionellen Gegengewichten für eine Aufteilung politischer
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KÖNEMANN, JUDITH/ MEUTH, ANNA-MARIA/ FRANTZ, CHRISTIANE/ SCHULTE, MAX, Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik, Paderborn 2015, 124. EBD., 57f.
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Macht114. Interessengruppen finden innerhalb dieses Systems relativ offene Strukturen zur Partizipation vor, indem sie sich in einer der beiden großen Parteien engagieren. Für die religiösen Interessengruppen ergibt sich je nach Konfession ein zunehmend recht ausgeprägtes Cleavage der Parteipräferenz115. Insbesondere die christliche Rechte konnte ihren Einfluss innerhalb der Republikanischen Partei seit den 1990er Jahren ausbauen. Dabei unterliegen ihre Positionen durch permanente Aushandlungsprozesse im Ringen um Mehrheiten jedoch einem moderierenden und assimilierenden Einfluss116. Trotzdem haben nicht zuletzt sie zu einer ausgeprägten Profilierung und Polarisierung der Parteien in sozioökonomischen und sozialmoralischen Themenfeldern beigetragen. Das christliche Feld sortiert sich bei politischen Entscheidungen und Unterstützung von Kandidaten in Wahlkämpfen, als ein besonders großes Mobilisierungsfeld der Basis, dabei nicht nach religiös-konfessioneller, sondern nach konservativer oder liberaler Ausrichtung. Politische Konfliktlinien verlaufen in einem mehrheitlich religiös geprägten Umfeld weniger zwischen religiösen und säkularen Akteuren. Besonders hervorzuheben ist auch die Rolle des Supreme Court bei verfassungsrechtlichen Religionskonflikten. In der Tradition und Wertschätzung der Religionsfreiheit, wird religiösen Gruppierungen oftmals in Fragen von Regulierungen seitens des Staates Recht gegeben. Wie z.B. im Sommer 2014 als im sogenannten hobby lobby case einem evangelikal geführten Bastelunternehmen zugestanden wurde, nicht für die Finanzierung von contraception von Mitarbeiterinnen auf Basis des neuen health care law aufkommen zu müssen. Der öffentliche Raum in den USA wird neben den Stellungnahmen der klassischen Bischofskonferenzen (NCCB/USCC)117 von den zahlreichen religious interest groups gestaltet. Im Gegensatz zum deutschen Mediensystem unterstützt das System amerikanischer Medien viel stärker die Sichtbarkeit von Basisinitiativen und lokalen wie überregionalen Interessen-
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LÖSCHE, PETER, Die USA sind anders, in: Informationen zur politischen Bildung 283 (2008), 4-6, 4ff. BROOKS, CLEM/ MANZA, JEFF, A Great Divide? Religion and Political Change in U.S. National Elections, 1972-2000, in: The Sociological Quarterly 45 (2004), 421500. BROCKER, MANFRED, Protest, Anpassung, Etablierung: die Christliche Rechte im politischen System der USA, Frankfurt am Main u.a. 2004, 324. A. LIEDHEGENER, Macht, Moral und Mehrheiten, 227.
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gruppen118. Eine hohe Voice-Wirkung für kleinere Akteure im religiösen Feld wird somit von externen Bedingungen unterstützt. Auch die öffentliche Kommunikation folgt dem spezifischen religiösen Selbstverständnis der AmerikanerInnen. Noch in den 1950er Jahren war die öffentliche Rolle der christlichen Konfessionen, ganz im Sinne einer civil religion auf die Einflussnahme zur Bildung kultureller Werte ausgerichtet 119. Auch die Stellungnahmen größerer Verbände bezogen sich vornehmlich auf die Wertevermittlung an das religiöse Individuum. Als Hauptaufgabe wurde die Verkündung moralischer und geistiger Grundsätze zur Belehrung einzelner Christen angesehen. Dieses Prinzip beruhte auf der Annahme, die an Gott geschulten Individuen würden Einfluss auf Gesellschaft nehmen und konnte am besten durch Predigten in der Ortskirche realisiert werden. Durch diese inhaltliche Ausrichtung auf die persönliche Wertebildung der Einzelnen legt die öffentliche Aktivität amerikanischer christlicher Organisationen eine starke Bezugnahme auf den Kontaktraum der kommunalen Ebene nahe. Dies wird begünstigt durch das dezentrale politische System und damit verbunden mit einem dezentralen Mediensystem: [...] the U.S.A. did not acquire a radical intelligentsia on anything like the European scale, and the intelligentsia it did have could not gain full control of centralised institutions, like the B.B.C. in Britain, to promote its own agenda. The U.S.A. has enough geographical and social space for hostile groups to bypass each other, and only a modest analogue of the European situation has emerged since the sixties with an aggressively secularist interpretation of the constitution. This gave rise to ‘culture wars’, and to the mobilisation of conservative Christians to counter liberal power in key outposts in the media and the law.120
Im Ergebnis ist die Partizipation von religiösen Gruppen sowohl für das politische Parteiensystem als auch die mediale Öffentlichkeit bisweilen als stark polarisierend und auch einflussreich zu beschreiben121. Während die Beteiligung über Kandidaturen und innerhalb von Parteien noch eher assi-
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FERREE, MYRA MARX (Hg.), Shaping Abortion Discourse: Democracy and the Public Sphere in Germany and the United States, Cambridge; New York 2002, 5. J. CASANOVA, Public Religions in the Modern World, 137 ff.; R. WUTHNOW, Der Wandel der religiösen Landschaft, 71ff. D. MARTIN, What I really Said about Secularisation, 145f. R. WUTHNOW, Der Wandel der religiösen Landschaft, 146.
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milierend ist, kann die öffentliche Artikulation durch die große Unabhängigkeit in alle Richtungen und durch die günstigen Gelegenheiten, die das Mediensystem bietet, von einzelnen religiösen (wie dann auch nichtreligiösen) Akteuren durch starke radikale Positionierungen in Streitfragen auffallen. Hier kann es dann zu verschiedenen Ausprägungen und strategischen Entscheidungen für die Selbstpositionierung im öffentlichen Raum kommen. Die ausgeprägten Formen individueller Frömmigkeit haben bei amerikanischen Evangelikalen historisch z.B. bisweilen zu einer Zurückhaltung in der politischen Öffentlichkeit geführt. So bemerken wir spezifisch situierte Beziehungen zwischen den öffentlichen Engagements und der individuellen Frömmigkeit in den USA. In Deutschland sind die Parteien traditionell weitaus zentralisierter, organisatorisch geschlossener und in ihren Mandaten verbindlicher. Traditionelle advocacy coalitions zwischen Parteien, Kirchen wie zivilgesellschaftlichen Organisationen beginnen sich erst in den letzten Jahren weg von Blockbildungen zu flexibleren netzwerkartigen Akteurskoalitionen zu entwickeln122. Hinzu kommt eine stärkere Ausdifferenzierung des Parteienspektrums als in den USA. Religiöse Akteure müssen bei ihrer Positionierung stärker als in den USA die engen Beziehungen zum Staat sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht berücksichtigen. Die öffentliche und politische Vermittlung ihrer Ethiken und Interessen ist somit immer ein Ausbalancieren zwischen den eigenen Organisationszielen und den Erwartungen externer Akteure aus dem gesellschaftspolitischen Umfeld. Durch die konstitutionellen und historisch gewachsenen Bedingungen sind die beiden christlichen Großkirchen stabil in ein korporatistisches System für politische und öffentliche Aushandlungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland eingebunden. Diese Einbindung ist im Bereich von Wohlfahrt, Bildung und Sozialem besonders ausgeprägt. Zudem werden Kirchen, oftmals institutionell abgesichert, über Beteiligungsverfahren in den politischen Prozess direkt einbezogen. Darüber hinaus findet eine Beteiligung von christlichen Kirchen im öffentlichen Raum in medialen Debatten als einem sehr kontinuierlichen Instrument christlicher Mitsprache in der Ge-
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WILLEMS, ULRICH/ WINTER, THOMAS VON, Interessenverbände als intermediäre Organisationen: Zum Wandel ihrer Strukturen, Funktionen, Strategien und Effekte in einer veränderten Umwelt, in: Dies. (Hg.), Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden 2007, 13-50.
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sellschaft statt. Wenn es dabei zu größeren wertnormativen Kontroversen um ethische Konfliktthemen (Bioethik, Sterbehilfe, Abtreibung) kommt, rücken christliche Akteure mit einer spezifischen christlichen Positionierung ins Rampenlicht und dann womöglich in die Kritik liberaler/säkularer Akteursgruppen und umgekehrt. Je nach thematischer Ausrichtung der Debatte können mit der zunehmenden Flexibilisierung neue Akteurskonstellationen entstehen (z.B. mit der Partei Bündnis90/Die Grünen in der Verbindung von Umwelt- und Schöpfungsfragen oder mit spezifischen anwaltschaftlichen Organisationen im Bereich der Flüchtlings- und Asylthematik oder bei der Entwicklungspolitik). Dies impliziert ein zunehmendes strategisches Moment bei der Entscheidung, sich in einem öffentlichen Konflikt zu beteiligen. Das Mediensystem in Deutschland ist zentralistischer als das in den USA. Ein hohes Interesse an der kirchlichen Leitungsebene begünstigt etwa die starke Präsenz der überregionalen Kirchenvertreter der beiden Großkirchen in der öffentlichen Diskursarena rund um gesetzgebende Verfahren. Demgegenüber gelingt es, abgesehen von großen, ressourcenstarken und professionalisierten Verbänden und Hilfswerken, den zahlreichen Ausgründungen, thematisch spezialisierten Vereinen und assoziativen Basisinitiativen, die im lokalen Raum entstehen, selten in die weltliche Nachrichtenpresse und noch viel weniger in die Bistumszeitungen, die die religiöse Klientel mit religiösen Nachrichten versorgen, vorzudringen 123. Aufgrund der breiten Kooperationsfelder zwischen Kirche und Politik verlaufen Konfliktfragen im öffentlichen Raum zumeist kompromissorientiert. Mit einer stark gesellschaftspolitisch ausgerichteten ethischen Argumentation passen sie ihre Stellungnahmen an die in einem säkularen Umfeld geführten Debatten und die Anforderungen einer liberalen und moderaten Öffentlichkeitskultur an.124 Mediensystem und Beziehungen zwischen Religion und Politik prägen somit wie in den USA den Charakter der öffentlichen Religion in Deutschland. Die Beteiligung in Öffentlichkeit und Politik basiert in beiden Ländern einerseits auf dem religiösen Selbstverständnis sowie auf der eigenen Positionierung im Gefüge zwischen Staat und Gesellschaft. Die Beteiligung religiöser Trägergruppen findet in Abhängigkeit der bedingenden Faktoren des politischen Systems und durch
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KÖNEMANN/ MEUTH/ FRANTZ/ SCHULTE, Religiöse Interessenvertretung, 77f.
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EBD.
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seinen Wandel, z.B. in der politischen Kommunikation oder in Beteiligungsarrangements statt. Insgesamt passen sich christlich organisierte Handlungsträger in beiden Ländern in hohem Maße sehr funktional sowohl an das politische System als auch an die Funktionsweise medialer Öffentlichkeit sowie in permanenter Reaktion auf gesellschaftliche Transformationsprozesse, an. Im Anschluss an Hölscher und Bösch könnte die Überlegung fortgesetzt werden, dass Medien nicht nur zu Deutungen über Religion beitragen, sondern eine entsprechende Berichterstattung und eigene Kommunikation religiöser Akteure auch politische „soziale Handlungen und religiöse Gemeinschaftsbildungen“125 beeinflussen und somit auf die Ebene des individuellen religiösen Selbstverständnisses rückwirken können. Für die USA ist die Vermittlung zwischen Individuum und öffentlicher Religion durch die personenorientierte Kommunikation sowie das durchlässigere Mediensystem und die regionale Präsenz vielzähliger Interessengruppen viel stärker als dies in Deutschland der Fall ist, so dass aus diesem Bedingungsgefüge eine vitalisierende Wirkung hervorgehen kann.
6. R ÜCKSCHLÜSSE In diesem Beitrag wurde auf Grundlage einer Mehrebenenanalyse die Ebene der Organisation in ihren Schnittstellen zu ihren Mitgliedern aber auch zu Institutionen und Strukturen auf makrogesellschaftlicher Ebene anhand der Fallbeispiele Deutschland und USA, in denen Säkularisierungsprozesse unterschiedlich verlaufen, untersucht. Durch die Betrachtung dieser Vermittlungsräume konnte ein Beitrag zur Debatte um die unterschiedlichen Säkularisierungsverläufe in Deutschland und den USA geleistet werden. Unter Hinzunahme der Organisationsperspektive konnte ein Bindeglied zwischen verschiedenen, gegeneinander in Stellung gebrachten säkularisierungstheoretischen Ansätzen und ihren Kritiken, identifiziert werden. Eine Mehrebenenanalyse bietet als ein integrativer Ansatz (Struktur, Handeln, individuelle, öffentliche und organisierte Religion) ein gemeinsames struk-
125
BÖSCH, FRANK/ HÖLSCHER, LUCIAN, Die Kirchen im öffentlichen Diskurs, in: Dies. (Hg.), Kirchen – Medien – Öffentlichkeit: Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009, 7-32, 10.
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tives Modell für verschiedene Wandlungsprozesse des religiösen Feldes in Deutschland und den USA. Es zeigte sich, dass eine integrierende Modellierung des religiösen Wandels besondere Kanäle zwischen den sozialen Konstitutionsebenen der Gesellschaft freigelegen konnte. Die Dispositionen dieser Kanäle sind in beiden Untersuchungsregionen durch viele verschiedene Einflussfaktoren, wie das politische System, historische Rahmenbedingungen, vor allem wohl aber durch Modernisierungsprozesse und durch das theologisch-politische Selbstverständnis religiöser Akteursgruppen sowie ihre (Selbst-)Positionierungen zu Politik, Gesellschaft und Moderniserungsprozessen, beschreibbar. Selbst wenn sich Säkularisierungsverläufe in den beiden Ländern, rückgebunden an die jeweilige Sozialstruktur, offenbar unterschiedlich ausmäandern, bleiben sie doch von gemeinsamen Strukturmomenten geprägt. Als große Gemeinsamkeit rücken die Anpassungsleistungen christlicher Organisationen an gesellschaftliche Modernisierungsprozesse in beiden Untersuchungsregionen in den Blick. Zentrale Unterschiede konnten aus Sicht der Mehrebenenanalyse in der Ausprägung und Aktivität auf den Ebenen der Gesellschaft erklärt werden. Selbstverständlich hat die integrierende Perspektive ihre Grenzen. Im Falle der Marktthese z.B. sind theorieimmanente Kritiken und Auseinandersetzungen auch vor dem Hintergrund einer integralen Mehrebenenanalyse richtig und wichtig. Und wie steht es nun um den so stark debattierten Ausgangsgedanken der Säkularisierungsthese, dass Modernisierungsprozesse zu Entkirchlichung führen und somit ein Bedeutungsverlust des Religiösen in modernen Gesellschaften einhergehe? Wenn die Entwicklungen auf verschiedenen sozialen Konstitutionsebenen und ihre Interaktionen in den Blick genommen werden, zeichnet sich ein Bild gleichzeitig stattfindender Beziehungsmodi zwischen Religion und Moderne. Insbesondere der Modus der Verdrängung ist in den USA durch die hohe Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Funktionalität der religiösen Organisationslandschaft weniger vorhanden als in Deutschland. In den USA führt die flexible und anpassungsfähige Organisationslandschaft offenbar zu einer fortwährend hohen Mitgliederintegration und religiösen Aktivität der Mitglieder. In den USA bringen so betrachtet hochmoderne Momente ein hohes religiöses Niveau hervor. Verstärkt wird diese Entwicklung mit der Passung zwischen individualisierten Glaubensüberzeugungen bei gleichzeitiger Organisationsfreudigkeit. Ein-
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zelne Organisationsformen zeigen sich zudem kompatibel und konfliktfrei zwischen modernen Entwicklungen und traditionellen Werthaltungen. Die evangelikale Erneuerungsbewegung arbeitet z.B. selbst mit hoch modernen technisierten Vermittlungsmedien und ist, verbunden mit hoher Innovationsfreude, einer solch technischen gesellschaftlichen Modernisierung trotz traditioneller Werteüberzeugung nicht abgeneigt. Parallel führen auch in den USA Modernisierungsprozesse wie wertnormative Liberalisierung und Anstieg des Wohlstands zu Entkirchlichungsprozessen. Die institutionelle Trennung von Kirche und Staat und die Herausbildung einer engen Verbindung von Religion und Politik in der Form der civil religion sind ferner ein Fall für eine dialektische Interpretationsweise. Differenzierung und Entdifferenzierung von Religion und Politik in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären sind hier offenbar aufeinander verwiesen, da eine strikte Trennung auf institutioneller Ebene womöglich eine Nähe in der öffentlichkulturellen Sphäre begünstigt. In Deutschland hingegen findet eine starke Differenzierung zwischen gesellschaftlichen Ebenen statt, gerade die Entkopplung zwischen religiösem Individuum und Großkirchen vermag offenbar die fortschreitende religiöse Individualisierung und weitere Kirchenaustritte voranzutreiben. In Deutschland haben Kirchen im Kampf gegen Entkirchlichungsprozesse bei der Anpassung an finanzielle Verluste im Endeffekt mit modernen Selbstrationalisierungsproblemen und Identitätsfindungsprozessen zu kämpfen, so dass die Verdrängung von Religion durch Modernisierung zutrifft. Auf der Ebene von Diözese /Landessynode zeigen sich christliche Kirchen hingegen nach wie vor als Akteure von Gewicht mit einem festen Stammplatz in politischen und öffentlichen Aushandlungsprozessen des Landes. Den Kirchen gelingt es weitgehend, sich an veränderte Verhandlungspositionen anzupassen. Spannungen und Konflikte finden in beiden Ländern nicht nur an den Grenzen zwischen religiösem Feld und säkularen gesellschaftlichen Bereichen statt, sondern auch zwischen religiösen Akteuren selbst. In beiden Ländern hat sich die religiöse Akteurslandschaft seit den 1960er Jahren immens ausdifferenziert. Dabei können unterschiedliche Konstellationen und Arrangements mit Vereinigungen aus dem säkularen gesellschaftlichen Umfeld entstehen. Religion und Politik können je nach politischen Mehrheitsverhältnissen in Konsensbeziehung, in ein neutrales Nebeneinander oder in spannungsreiche Opposition zueinander treten. Konflikt- und Spannungsfelder zwischen Religion und säkularer Umwelt treten somit in vielfältigen Mustern und vor dem
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Hintergrund einer tiefen Verwobenheit mit der Sozialstruktur eines Landes auf. Diese Beispiele skizzieren eine vielfältige Präsenz der verschiedenen Beziehungsmodi zwischen Religion und Moderne auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft. Sicherlich bleiben über die vielfältigen Beziehungen zwischen Religion und Moderne wissenschaftstheoretische Deutungsfragen offen. Für die funktionale Differenzierung der sozialen Konstitutionsebenen konnten mittels einer Mehrebenenanalyse insgesamt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Veränderungen der religiösen Felder in den USA und Deutschland in einer Gesamtperspektive auf diese herausgearbeitet werden. Dabei sind Anstrengungen der empirischen und analytischen Vermittlung noch wenig vorgenommen worden. So versteht sich dieser Beitrag als Plädoyer, den pfadabhängigen Bedingungen und den Praxen der Ausgestaltung der Beziehungsräume zwischen den verschiedenen sozialen Konstitutionsebenen besondere Beachtung zu schenken.
Religion in Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit und Politik in demokratischen politischen Systemen Sechs Fallbeispiele und ein heuristisches Modell der empirischen politischen Theorie A NTONIUS L IEDHEGENER
1. D ER
GESELLSCHAFTLICHE O RT VON R ELIGION IN DER G EGENWART ALS P ROBLEM SOZIALWISSENSCHAFTLICHER F ORSCHUNG
Öffentlichkeit und verfassungsstaatliche Demokratie sind der Natur der Sache nach zwingend aufeinander verwiesen. Wir haben uns auch in der internationalen Religionsforschung daher zu Recht daran gewöhnt, Tagungen und Bücher mit einem Titel wie religion in the public sphere zu versehen1,
1
Vgl. GABRIEL, KARL/ HÖHN, HANS-JOACHIM (Hg.), Religion heute – öffentlich und politisch. Provokationen, Kontroversen, Perspektiven, Paderborn 2008; DELGADO, MARIANO/ JÖDICKE, ANSGAR/ VERGAUWEN, GUIDO (Hg.), Religion und Öffentlichkeit. Probleme und Perspektiven (Religionsforum), Bd.4, Stuttgart 2009; BAUMANN, MARTIN/ NEUBERT, FRANK (Hg.), Religionspolitik – Öffentlichkeit – Wissenschaft. Studien zur Neuformierung von Religion in der Gegenwart (CULTuREL), Bd.1, Zürich 2011; BUKSINSKI, TADEUSZ (Hg.), Religions in the Public Spheres, Frankfurt a.M. u.a. 2011; HAYNES, JEFFREY/ HENNIG, ANJA (Hg.), Religious Actors in the Public Sphere. Means, Objectives, and Effects (Routledge Studies in Religion and Politics), London/ New York 2011; FERRARI, SILVIO/ PASTORELLI, SABRINA (Hg.), Religion in Public Spaces. A European Perspective (Cultural Diversity and Law in
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und wir diskutieren anhaltend die politiktheoretische Frage, ob und unter welchen Bedingungen religiöse Argumente in der mehr oder weniger aufgeklärten säkularen Öffentlichkeit zur Bestimmung der für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlichen Gesetze und Regelungen vorgebracht werden dürfen. José Casanova hat gegenüber säkularistischen Positionen nachdrücklich und mit großem internationalen Erfolg das Konzept der public religion propagiert. Er hat empirisch und normativ aufgewiesen, dass Religionen bzw. Kirchen sich im Verlauf der Modernisierung keineswegs in die Privatsphäre zurückgezogen haben, sondern sich in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit vielmehr verstärkt und nach seiner Ansicht gemeinwohlförderlich in die politische Debatte einbringen.2 Jürgen Habermas hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ebenfalls dazu durchgerungen, dass religiöse Argumente in Debatten um öffentliche Angelegenheiten gehört werden müssen. Dabei gilt nach ihm freilich der Vorbehalt, dass religiöse Argumente stets in den säkularen Diskurs übersetzt werden müssen, wenn es um die praktische Ausformulierung von Politik in der postsäkularen Gesellschaft geht.3
2
3
Association with RELIGARE), Farnham u. a. 2012; ABMEIER, KARLIES/ BORCHARD, MICHAEL/ RIEMENSCHNEIDER, MATTHIAS (Hg.), Religion im öffentlichen Raum (Religion – Staat – Gesellschaft), Bd.1, Paderborn 2013. Vgl. CASANOVA, JOSÉ, Religion und Öffentlichkeit. Ein Ost-/Westvergleich, in: Transit 8 (1994), 21-41; CASANOVA, JOSÉ, Public Religions in the Modern World, Chicago/ London 1994; CASANOVA, JOSÉ, Chancen und Gefahren öffentlicher Religion. Ost- und Westeuropa im Vergleich, in: Kallscheuer, Otto (Hg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt a.M. 1996, 181-210; CASANOVA, JOSÉ, Civil Society and Religion. Retrospective Reflections on Catholicism and Prospective Reflections on Islam, in: Social Research 68 (2001) 4, 1041-1080; CASANOVA, JOSÉ, What Is a Public Religion?, in: Heclo, Hugh/ McClay, Wilfred M. (Hg.), Religion Returns to the Public Square. Faith and Policy in America, Washington DC 2003, 111-139; CASANOVA, JOSÉ, Public Religions Revisited, in: de Vries, Hent (Hg.), Religion. Beyond a Concept, New York 2008, 101-119 und 55f.; CASANOVA, JOSÉ, Public Religions Revisited, in: Grosse Kracht, Hermann-Josef/ Spiess, Christian (Hg.), Christentum und Solidarität. Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie, FS für Karl Gabriel, Paderborn 2008, 313-338. Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Laudatio: Jan Philipp Reemtsma, Frankfurt a.M. 2001; HABERMAS, JÜRGEN/ RATZINGER, JOSEPH, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, mit einem Vorwort von Florian Schuller, Freiburg/ Basel/ Wien 22005. Über-
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Die Politikwissenschaft interessiert sich im Kern für Prozesse der Politikformulierung, d.h. die Prozesse zur Vorbereitung und Herstellung solcher Entscheidungen über die Verteilung von materiellen und immateriellen Gütern, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich sein sollen – so die klassische Politikdefinition im Anschluss an David Easton.4 Zum Verständnis und zur Erklärung solcher politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse gehört im Sinne der politischen Soziologie und politischen Kulturforschung zwingend auch die Analyse der historischen, institutionellen und kulturellen Voraussetzungen politischen Entscheidens. 5 Aus dieser Perspektive ist die Zivilgesellschaft ein wesentlicher, wenn nicht gar zentraler Ort der Vermittlung von Politik und Gesellschaft. Das Zusammenspiel von Politik, Zivilgesellschaft und gesellschaftlicher Umwelt macht die Aufgabe der empirischen Politikwissenschaft zu einer komplexen. Und diese Aufgabe wird nicht einfacher, wenn die Politikwissenschaft „Religion“ zu berücksichtigen sucht. Im Vergleich zu Religionssoziologie und Religionswissenschaft dominieren in ihr zwar insgesamt substantielle Religionsdefinitionen, was das Untersuchungsfeld dessen, was als Religion zu berücksichtigen ist, ein wenig eingrenzt.6 Die Politikwissenschaft ver-
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blick zu Habermas’ Position in WILLEMS, ULRICH, Religion und Moderne bei Jürgen Habermas, in: Ders. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung (Sozialtheorie), Bielefeld 2013, 489-526. Vgl. EASTON, DAVID, A Systems Analysis of Political Life, Chicago 21979; vgl. auch ALMOND, GABRIEL A./ POWELL, G. BINGHAM (Hg.), Comparative Politics. System, Process, and Policy, Boston/ Toronto 21978. Vgl. ALMOND, GABRIEL A., Politische Kultur – Forschung – Rückblick und Ausblick, in: Berg-Schlosser, Dirk/ Schissler, Dirk (Hg.), Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung (Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft), Bd.18, Opladen 1987, 27-38; ROHE, KARL, Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Niedermayer, Oskar/ von Beyme, Klaus (Hg.), Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland (KSPW Transformationsprozesse), Berlin 1994, 1-21; PICKEL, SUSANNE/ PICKEL, GERT, Politische Kultur- und Demokratieforschung. Grundbegriffe, Theorien, Methoden. Eine Einführung, Wiesbaden 2006. Vgl. GILL, ANTHONY, Religion and Comparative Politics, in: Annual Review of Political Science 4 (2001), 117-138; WALD, KENNETH D./ WILCOX, CLYDE, Getting Religion. Has Political Science Rediscovered the Faith Factor?, in: American Political Science Review 100/ 4 (2006), 523-529; LIEDHEGENER, ANTONIUS, Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft. Begriffe – Konzepte – Forschungsfelder, in: Hildebrandt, Mathias/ Brocker, Manfred (Hg.), Der Begriff der Religion (Politik und Religion), Wiesbaden 2008, 179-196; LIEDHEGENER, ANTONIUS, Politik und Religi-
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steht Religion ganz überwiegend als eine besondere, auf Transzendenz ausgerichtete, durch Glaubensüberzeugungen und eine religiöse Praxis institutionell verfasste und mit der Fähigkeit zur kollektiven Sinnstiftung ausgestattete Vergemeinschaftungsform. Aus dieser Festlegung resultiert die Aufgabe, die Wechselwirkungen von institutionell verfassten Religionen mit dem politischen System unter Berücksichtigung der übrigen Teil- oder Subsysteme und ihren unterschiedlichsten Akteuren moderner Gesellschaften empirisch zu analysieren. Dieses Vorhaben führt aber – wie zu zeigen ist – theoretisch wie empirisch rasch zu „komplexe[n] Gefüge[n] komplexer Größen“7. Hier soll nicht noch einmal die lange Reihe der einschlägigen außenpolitischen Ereignisse von den Anschlägen des 11. September in den USA zum Arabischen Frühling, Syrienkonflikt und der jüngsten Schreckensherrschaft des „Islamischen Staats“ oder die stattliche Zahl der innenpolitischen Konflikte um Kruzifixe, Minarette, Kopftücher und Burkas in den Öffentlichkeiten europäischer Staaten als Beleg für die Bedeutung des Themas Politik und Religion ausgeführt werden. Vielmehr möchte der vorliegende Beitrag bei einer, wenn nicht der für die Gegenwart dringendsten politikwissenschaftlichen Frage einer transdisziplinären Forschung zu Religion und Moderne ansetzen. Der Schweizer Philosoph und Politikwissenschaftler Alois Müller hat diese zunehmend virulente Frage so formuliert: „Der säkulare Staat und die aufgeklärte Bürgergesellschaft als Ganze müssen sich angesichts der vielfältigen Wiederkehr des Religiösen in die Öffentlichkeit der europäischen Gesellschaft erneut mit der Frage beschäftigen, welchen Platz sie den angestammten und neu hinzutretenden Religionen im kommunikativen Handeln einer offenen Gesellschaft zuweisen und wie sie die durch die neue Sichtbarkeit des Religiösen ausgelösten Konflikte lösen
7
on in der Vergleichenden Politikwissenschaft, in: Lauth, Hans-Joachim/ Kneuer, Marianne/ Pickel, Gert (Hg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft, Wiesbaden 2015. SCHNEIDER, HEINRICH, Demokratie und Kirche – ein komplexes Gefüge komplexer Größen, in: Liebmann, Maximilian (Hg.), Kirche in der Demokratie – Demokratie in der Kirche (Theologie im kulturellen Dialog), Bd.1, Graz/ Wien/ Köln 1997, 30-93, hier: 30; vgl. WILLEMS, ULRICH/ MINKENBERG, MICHAEL, Politik und Religion im Übergang – Tendenzen und Forschungsfragen am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Minkenberg, Michael/ Willems, Ulrich (Hg.), Politik und Religion (PVS-Sonderheft), Bd.33, Wiesbaden 2003, 13-41.
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wollen.“8 Diese Formulierung postuliert einen politischen Gestaltungs- und Handlungsauftrag gegenüber dem Phänomen der religiösen Vielfalt, der so oder so ähnlich immer dann formuliert wird, wenn Religionen durch politisches bzw. staatliches Handeln normiert und reguliert werden sollen. In diesem Sinne ist zunehmend von einer „neuen Religionspolitik“ die Rede. Und in der Tat hat der Regulierungsumfang im europäischen wie internationalen Maßstab in den zurückliegenden Jahren deutlich zugenommen. 9 Voraussetzung für eine problemgerechte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der drängenden Frage nach dem gesellschaftlichen Ort von Religion und Religionen ist eine Theorie oder zumindest doch eine Modellvorstellung, die es erlaubt, das ‚komplexe Gefüge komplexer Größen‘ so zu bestimmen, dass die zahlreichen und mittlerweile zunehmend besser erforschten Einzelphänomene im Schnittbereich von Religion und Politik, aber auch von Religion und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, in ihrer systemischen Bedeutung erkennbar werden. In diesem Sinne geht es im Folgenden darum, den gesellschaftlichen Ort von Religion vollständiger und präziser als bisher zu bestimmen. Dazu braucht es aber mehr als ein oder zwei Zentralbegriffe, die zu definieren wären. Gesucht und gefordert ist ein Gefüge von zusammenhängenden Begriffen und Konzepten, das der Komplexität des Untersuchungsfeldes Rechnung trägt. Der Beitrag zielt daher darauf, die empirische politische Theorie zu Politik und Religion durch einen entsprechenden Modellvorschlag zu verbessern. Er beginnt mit der Darlegung des aktuellen Forschungsstandes der Religionsforschung zur konzeptionellen Bestimmung und Verknüpfung der Schlüsselbegriffe Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit und Politik (2.). Es folgen in der gebotenen Kürze sechs sehr unterschiedliche empirische Beispiele zur Rolle von Reli8
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MÜLLER, ALOIS, Ist der freiheitliche Staat auf vorpolitische Ressourcen des Religiösen angewiesen und welcher Platz soll den Religionsgesellschaften im öffentlichen Raum zukommen?, in: Pahud de Mortanges, René/ Tanner, Erwin (Hg.), Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften nach schweizerischem Recht (Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht, Nr.15), Basel/ Genf 2005, 3589. Vgl. TRAUNMÜLLER, RICHARD, Nationale Pfadabhängigkeit oder internationale Konvergenz? Eine quantitativ-vergleichende Analyse religionspolitischer Entwicklungen in 31 europäischen Demokratien 1990-2011, in: Zeitschrift für Politik 61/ 2 (2014), 161-181; PEW, Rising Tide of Restrictions on Religion (The Pew Forum on Religion & Public Life), Washington, DC 2012, http://www.pewforum.org/files/2012/09/ RisingTideofRestrictions-fullreport.pdf, Zugriff am 07.06.2015.
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gion in der Politik (3.). Diese sechs Fallbeispiele werden in generalisierender Absicht angeführt. Ich werde aufzeigen, dass jedes der Fallbeispiele für einen speziellen Fall einer Beziehung von Politik und Religion im Kontext moderner Gesellschaften steht. Am Schluss steht daher ein neues deskriptives Modell zu den Orten von (organisierter) Religion in modernen demokratischen Gesellschaften. Anhand des Modells sollen Muster unterschiedlicher Verbindungen in ihrer Besonderheit erkennbar werden. So wird der Ort von Religion in differenzierten, demokratischen Gesellschaften genauer bestimmbar.
2. Z IVILGESELLSCHAFT , Ö FFENTLICHKEIT , P OLITIK . B EGRIFFLICHKEIT UND Z UORDNUNGEN Nach dem Ende des älteren Ost-West-Konflikts hat die Zivilgesellschaft oder Bürgergesellschaft – beide Begriffe werden im Folgenden synonym gebraucht – in der sozialwissenschaftlichen Forschung eine breite Beachtung gefunden.10 Das Konzept der Zivilgesellschaft macht jenen Raum bzw. jene gesellschaftliche Sphäre sichtbar, in der die Mitglieder einer Gesellschaft jenseits von Markt, Staat und Privatsphäre miteinander in Beziehung und Austausch treten. Die folgende gängige Definition präzisiert dies so: „Unter civil society, also Zivil- oder Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisationsformen. Diese Vereinigungen sind unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig von wirtschaftlichen Profitinteressen, das heißt, idealtypisch bilden sie eine Sphäre aus, die nicht
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Vgl. KLEIN, ANSGAR, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Kontexte und demokratietheoretische Bezüge der neueren Begriffsverwendung (Bürgergesellschaftliches Engagement und Nonprofitsektor), Bd.4, Opladen 2001; CASTIGLIONE, DARIO/ VAN DETH, JAN W./ WOLLEB, GUGLIELMO (Hg.), Handbook of Social Capital, New York 2008; TINGGAARD SVENDSEN, GERT/ LIND HAASE SVENDSEN, GUNNAR (Hg.), Handbook of Social Capital. The Troika of Sociology, Political Science and Economics, Cheltenham 2009; ANHEIER, HELMUT K./ TOEPLER, STEFAN/ LIST, REGINA (Hg.), International Encyclopedia of Civil Society, New York 2010.
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staatlich ist und nicht auf reinen Marktprinzipien beruht.“11 Diese Bereichsdefinition von Zivilgesellschaft wird gerne auch als eine Art Dreieck visualisiert, bei dem die Zivilgesellschaft in der Mitte steht und von den drei Bereichen Markt, Staat und Privatsphäre flankiert wird (Abb. 1). Abb.1: Sozialwissenschaftliches Standardmodell der Zivilgesellschaft als Bereich zwischen Staat, Markt und Nahbeziehungen12
Neben dieser grundlegenden, weil weithin akzeptierten Definition von Zivilgesellschaft finden sich in der Literatur auch handlungslogische Definitionen. In ihnen wird die Art und Weise bzw. Qualität der Interaktion in der Zivilgesellschaft anhand demokratieförderlicher, d.h. normativer Vorstellungen näher bestimmt, um theoretisch nicht in die Verlegenheit geraten zu müssen, jedwede Räuberbande, Terrorgruppe oder extremistische Organisation als freiwilligen, solidarischen Zusammenschluss würdigen zu müssen. Dazu werden bestimmte Eigenschaften oder Tugenden zivilgesellschaftlichen Handelns gefordert bzw. definitorisch gesetzt. Häufig wird zi-
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ADLOFF, FRANK, Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt a.M. 2005, 8. Eigene Darstellung in Anlehnung an ZIMMER, ANNETTE/ PRILLER, ECKHARD, Die zunehmende Bedeutung des Dritten Sektors – Ergebnisse des international vergleichenden Johns Hopkins Projektes, in: Gabriel, Karl (Hg.), Der Dritte Sektor (Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften), Bd.42, Münster 2001, 11-41, hier 13.
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vilgesellschaftliches Handeln dann wie etwa bei Jürgen Kocka als selbstorganisiert und selbständig, als öffentlich, konfliktbereit und pluralistisch, als ‚zivil‘, also nicht-gewaltsam und nicht-militärisch, sowie als solidarisch, also nicht nur eigeninteressiert, sondern auch gemeinwohlorientiert charakterisiert.13 In der Umkehrung dienen diese Qualitäten oder „Tugenden“ zivilgesellschaftlichen Handelns dann auch als Kriterien für die Grenzziehung der Zivilgesellschaft gegenüber solchen Akteuren, deren Handlungsweisen mit den normativen Mindestansprüchen zivilgesellschaftlichen Handelns nicht konform gehen. Normativ noch einmal anspruchsvoller und dementsprechend exklusiver sind Definitionsversuche, die unter Zivilgesellschaft nur jenen Raum verstanden wissen wollen, in dem Menschen sich in ihrer politischen Rolle als Bürger organisieren und sich mit ihrem Tun, sei es solidarisch oder konflikthaft, speziell auf politische Fragen und Entscheidungen beziehen.14 Zusammengefasst: Die Vorstellung von ‚Zivilgesellschaft‘ ist in den Sozialwissenschaften ein auf die empirische Erforschung ausgerichtetes Theoriekonzept zur Verfassung der Struktur und Kultur des Raums zwischen Staat, Markt und Privatheit mit mehr oder weniger starken normativen Implikationen.15
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Vgl. KOCKA, JÜRGEN, Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 16 (2003), 29-37, hier: 32. F. ADLOFF, Zivilgesellschaft, 155; vgl. ALEXANDER, JEFFREY C., The Civil Sphere, Oxford 2006. Vgl. zum Problem der Grenzen der Zivilgesellschaft FRAUNE, CORNELIA/ SCHUBERT, KLAUS, Grenzen der Zivilgesellschaft: Perspektiven politikwissenschaftlicher Ansätze, in: Fraune, Cornelia/ Schubert, Klaus (Hg.), Grenzen der Zivilgesellschaft. Empirische Befunde und analytische Perspektiven (Zivilgesellschaftliche Veränderungsprozesse vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Deutschland und die Niederlande im Vergleich), Bd.9, Münster u.a. 2012, 223-242. Letztere definieren den Begriff der Zivilgesellschaft sehr eng („Zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse sind vor allem auf sich selbst […] gerichtet.“, Ebd., 237) und bringen den zivilgesellschaftlichen Sektor dann theoretisch in eine scharfe Opposition zu den von ihnen ausgemachten drei übrigen Sektoren der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat, d.h. den Sektoren Weltanschauung, Interessenorganisation und politische Organisationen. Ebd., 224. In der mittlerweile sehr breiten Zivilgesellschaftsforschung werden die Resultate und Wirkungen zivilgesellschaftlichen Handelns in aller Regel zusammenfassend als „soziales Kapital“ bezeichnet. Diesem „Sozialkapital“ werden weitreichende, meist positive Wirkungen auf den Einzelnen, auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens sowie für die Etablierung und den Erhalt von Demokratie und Marktwirtschaft zugeschrieben: „[S]ocial capital makes us smarter, healthier, safer, richer, and better able to
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In der amerikanischen Forschung stand und steht außer Frage, dass Religionsgemeinschaften, näherhin die zahllosen kleinen und großen lokalen congregations, Teil der civil society sind. Angesichts der zentralen Bedeutung von Kirchengemeinden in der amerikanischen Gesellschaft überrascht dies nicht. Rund die Hälfte aller freiwillig bzw. ehrenamtlich übernommenen Tätigkeiten ist in den USA, wie Robert Putnam gezeigt hat, religiöses zivilgesellschaftliches Engagement.16 In der deutschsprachigen Literatur hat es ein wenig gedauert, bis die Protagonisten der Zivilgesellschaftsforschung bereit waren, auch religiöse Gruppen und Organisationen als Teil der Zivilgesellschaft zu akzeptieren.17 Mittlerweile ist dies aber grundsätzlich nicht mehr strittig. So unterschiedliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Paul Nolte, Gert Pickel, Sigrid Roßteutscher oder Richard Traunmüller haben die besondere Rolle von Religion für die deutsche Zivilgesellschaft in den Vordergrund gerückt.18 Darüber hinaus haben viele Theologen
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govern a just and stable democracy.“ PUTNAM, ROBERT D., Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York u. a. 2000, 290. Empirisch sind Zusammenhänge dieser Art mehr oder weniger gut abgesichert (kritisch VAN DETH, JAN W., Interesting but Irrelevant: Social Capital and the Saliency of Politics in Western Europe, in: European Journal of Political Research 37 (2000), 115-147; POLLACK, DETLEF, Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie, in: Klein, Ansgar (Hg.), Zivilgesellschaft und Sozialkapital. Herausforderungen politischer und sozialer Integration (Bürgergesellschaft und Demokratie), Bd.14, Wiesbaden 2004, 23-40, besonders: 36; abwägend WESTLE, BETTINA/ GABRIEL, OSCAR W. (Hg.), Sozialkapital. Eine Einführung (Studienkurs Politikwissenschaft), Baden-Baden 2008). Solche Wirkungszusammenhänge sind ausdrücklich nicht Gegenstand der weiteren Überlegungen, in deren Zentrum die bessere konzeptionelle bzw. (politik-)theoretische Bestimmung des gesellschaftlichen Orts von Religion steht. Vgl. PUTNAM, ROBERT, Bowling Alone, 66; PUTNAM, ROBERT D./ CAMPBELL, DAVID E., American Grace. How Religion Divides and Unites US, with the Assistance of Shaylyn Roney Garrett, New York u.a. 2010. Kritisch etwa RÜSEN, JÖRN, Zivilgesellschaft und Religion – Idee eines Verhältnisses, in: Augustin, Christian/ Wienand, Johannes/ Winkler, Christiane (Hg.), Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa, Wiesbaden 2007, 249-259; VORTKAMP, WOLFGANG, Integration – ja, aber wie?, in: Die Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 7/ 8 (2011), 86-91. Vgl. NOLTE, PAUL, Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat? (Berliner Reden zur Religionspolitik), Berlin 2009; PICKEL, GERT/ GLADKIRCH, ANJA, Säkularisierung, religiöses Sozialkapital und Politik – Religiöses Sozialkapital als Faktor der Zivilgesellschaft und als kommunale Basis subjektiver Religiosität?, in: Liedhegener, Antonius/ Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.),
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und Religionssoziologen meist mit Rückgriff auf José Casanova überwiegend normativ dafür argumentiert, dass unter den heutigen Bedingungen von Glauben als einer individuellen Option der gesellschaftliche Ort von Religion und Kirchen nur die Zivilgesellschaft sein könne.19 Und in der Tat scheuen sich die Religionsgemeinschaften, allen voran die beiden großen christlichen Kirchen, mittlerweile selbst nicht mehr, bei Bedarf auf ihre zivilgesellschaftliche Bedeutung etwa im Sozialwesen hinzuweisen. Aber – so muss man im Interesse theoretischer Klarheit fragen – ist jedes religiöse oder politische Handeln von Religionsgemeinschaften notwendig zugleich auch zivilgesellschaftliches Handeln? In der amerikanischen Zivilgesellschaftsdebatte schwingt in der Begrifflichkeit der Bezug der public religion zum Politischen und Öffentlichen immer schon mit. Die Übersetzungen des Schlüsselwortes public ins Deutsche zeigen dies an. So kann das Adjektiv public mit ‚öffentlich‘, mit ‚staatlich‘ aber auch mit ‚allgemein‘ übersetzt werden. Public sphere und civil society erscheinen in der amerikanischen Forschung zudem oftmals
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Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Befunde – Positionen – Perspektiven (Politik und Religion), Wiesbaden 2011, 81-109; ROßTEUTSCHER, SIGRID, Religion, Organisationsstrukturen und Aktivbürger – oder: Ist der Protestantismus demokratischer als der Katholizismus?, in: Liedhegener, Antonius/ Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.), Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Befunde – Positionen – Perspektiven (Politik und Religion), Wiesbaden 2011, 110137; TRAUNMÜLLER, RICHARD, Religion und Sozialintegration. Eine empirische Analyse der religiösen Grundlagen sozialen Kapitals, in: Berliner Journal für Soziologie 19/ 3 (2009), 435-468. Vgl. GROßE KRACHT, HERMANN JOSEF, Kirche in ziviler Gesellschaft. Studien zur Konfliktgeschichte von katholischer Kirche und demokratischer Öffentlichkeit, Paderborn 1997; POLLACK, DETLEF, Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft: Überlegungen zum gesellschaftliche Ort der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Strachwitz, Rupert Graf (Hg.), Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft (Maecenata Institut 9), Berlin 2002, 21-41; KÖNEMANN, JUDITH, Weder „Staat“ noch „Privat“. Zur Rolle der Kirchen in zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit, in: Orientierung 70 (2006), 202-207; K. GABRIEL/ H.-J. HÖHN, Religion heute; GÄRTNER, CHRISTEL, Die Rückkehr der Religion in der politischen und medialen Öffentlichkeit, in: Gabriel, Karl/ Höhn, Hans-Joachim (Hg.), Religion heute – öffentlich und politisch. Provokationen, Kontroversen, Perspektiven, Paderborn 2008, 93-108; KLEEMANN, GEORG M., Die Öffentlichkeitsrelevanz von Kirche und Theologie, in: Gabriel, Karl/ Höhn, Hans-Joachim (Hg.), Religion heute – öffentlich und politisch. Provokationen, Kontroversen, Perspektiven, Paderborn 2008, 175-192.
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austauschbar bzw. als ein deckungsgleicher Bereich. Wenn Casanova in seinen älteren Arbeiten den gesellschaftlichen Ort der Religionen festlegt, so ist dieser bei ihm stets die Zivilgesellschaft. Im Anschluss an die beiden Politikwissenschaftler Juan Linz und Alfred Stepan benennt er neben der Zivilgesellschaft noch die (Partei-)Politik (political society) und den Staat (state) als eigenständige Größen oder Bereiche der Öffentlichkeit. 20 Dieses dreischichtige Konzept von public sphere ist in der angelsächsisch orientierten politikwissenschaftlichen Forschung nicht nur zu Politik und Religion weithin verbreitet.21 Ob Religion auch in den beiden letztgenannten öffentlichen Bereichen, Politik und Staat, einen Ort hat, ist aber strittig. Im ursprünglichen Konzept der public religion wird dies von Casanova strikt abgelehnt. Nur die ausschließlich zivilgesellschaftlich agierende Religion ist für ihn eine öffentlich nützliche und akzeptable Religion.22 Alfred Stepan hingegen denkt pluralismustheoretisch und dehnt den Spielraum von religiösen Organisationen und Akteuren mit großer Selbstverständlichkeit auch auf die politische Gesellschaft und damit den parteipolitischen Wettbewerb aus.23 Voraussetzung für ein politisches Engagement auf Basis von Religionszugehörigkeit bzw. Religionsgemeinschaften ist allein, dass sich auch kollektive religiöse Akteure im institutionellen Rahmen des politischen Systems demokratischer Staaten und innerhalb der rechtlich abgesicherten Spielregeln des Pluralismus in Politik und Gesellschaft bewegen. Im Deutschen liegen die beiden Begriffe Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit nicht so eng beieinander wie in den USA. Im Deutschen ist der Begriff ‚Öffentlichkeit‘ in der politischen Alltagssprache der ältere und nach wie vor besser eingeführte Begriff. Beim Wort Öffentlichkeit klingt im
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Vgl. LINZ, JUAN J./ STEPAN, ALFRED, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore/ London 1996. Vgl. J. HAYNES/ A. HENNIG, Religious Actors in the Public Sphere. Vgl. J. CASANOVA, Public Religions in the Modern World, 63, 219. Vgl. STEPAN, ALFRED, Religion, Democracy, and the Twin Tolerations “, in: Journal ” of Democracy 11 (2000), 37-57. Ähnlich STEPICK, ALEX/ REY, TERRY, Civic Social Capital. A Theory for the Relationships between Religion and Civic Engagement, in: Baumann, Martin/ Neubert, Frank (Hg.), Religionspolitik – Öffentlichkeit – Wissenschaft: Studien zur Neuformierung von Religion in der Gegenwart (CULTuREL), Bd.1, Zürich 2011, 189-215.
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Deutschen bis heute der Bezug zu Staat und Politik wesentlich stärker mit als beim Ausdruck Zivilgesellschaft: Die „öffentliche Verwaltung“ ist die staatliche Verwaltung. Im Unterschied zu den USA wird die Zivilgesellschaft in deutschsprachigen Debatten zudem gerne in einen direkten Gegensatz zu Staat und Parteipolitik gesetzt. Die Zivilgesellschaft gilt dann als mit vielerlei Hoffnungen verbundenes Gegenstück zu einer festgefahrenen und abgehobenen (Partei-)Politik und einem bürgerfernen Staat, wobei der Bezug zur Öffentlichkeit dann schnell unterbestimmt bleibt oder ausschließlich als Gegenöffentlichkeit verstanden wird. Öffentlichkeit wird hier aber im Anschluss an systemtheoretische Überlegungen in der Politik- und Kommunikationswissenschaft als ein Verbindungsglied von Zivilgesellschaft und Politik verstanden. Öffentlichkeit ist ein wesentlicher und für Demokratien unverzichtbarer Teil des intermediären Raums, der das politische System mit den Wünschen und Interessen der übrigen gesellschaftlichen Subsysteme und ihrer Akteure verbindet.24 Davon ausgehend kann der theoretische Status von Öffentlichkeit unterschiedlich bestimmt werden. Im Wesentlichen stehen sich stärker deskriptive, systemtheoretisch fundierte Theorien, die Öffentlichkeit (und Medien) als ein eher neutrales, vermittelndes Subsystem verstehen, und stärker normative Demokratietheorien, die Öffentlichkeit im Anschluss an Jürgen Habermas als kommunikatives Handeln im Blick auf politische Fragen fassen, gegenüber.25 Systemtheoretische Konzepte bestimmen die Öffentlichkeit anhand ihrer Funktionen, nämlich der Meinungsbildung (input), der Vermittlung und Verarbeitung im politischen Entscheidungsprozess (through-put) sowie der Information der Gesellschaft über politische Ziele und Ergebnisse (output).26 Normativ anspruchsvollere Theorien kommunikativen Handelns bestimmen Öffentlichkeit in einem emphatischen Sinne als jene übergreifende Kommunikationsgemeinschaft einer Gesellschaft, in der Freie und Gleiche im Diskurs unter für alle gleichen Bedingungen über alle gesellschaftlich relevanten Themen und Streitpunkte vernünftige politische Verständigungsprozesse herbeiführen, die zur demokratischen Rechts- und Normen-
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Vgl. JARREN, OTFRIED/ DONGES, PATRICK, Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung, Wiesbaden 2011, 101. Vgl. GERHARDS, JÜRGEN, Öffentlichkeit, in: Fuchs, Dieter/ Roller, Edeltraud (Hg.), Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2007, 185-187. Vgl. O. JARREN/ P. DONGES, Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft, 96-100.
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setzung führen.27 Für eine empirische Theorie gestaltet sich die Analyse von Öffentlichkeit schwieriger. Es gibt kleine und große, interpersonale und medial vermittelte, sowie regionale, nationale und transnationale Öffentlichkeiten.28 Vor allem die Vervielfältigung der medialen Öffentlichkeiten, deren Kommerzialisierung, Beschleunigung und Internationalisierung sowie die Ausbreitung diffuser Öffentlichkeiten im Internet stehen dem Ideal einer im Interesse des Gemeinwohls räsonierenden Öffentlichkeit heute zumindest teilweise entgegen. Allerdings schafft das politische System in Demokratien insofern selbst eine Abhilfe, als dass mit der Umsetzung der politischen Grundrechte der Religions-, Meinungs-, Versammlungs- und politischen Wahlfreiheit notwendig die Gewährleistung einer speziellen politischen Öffentlichkeit einhergeht. Modelltheoretisch abstrahierend kann man zwei wesentliche Formen oder Bereiche von Öffentlichkeit unterscheiden: die gesellschaftliche Öffentlichkeit und die politische Öffentlichkeit. Gesellschaftliche Öffentlichkeit entsteht immer dann, wenn eine größere Zahl von Menschen voneinander wissen und sie ein „aktives Interesse an der Bewältigung ihrer Lebensprobleme haben.“29 Das Interesse dieser breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit kann sich auf alle Belange des menschlichen Lebens richten. Im Anschluss an die Kommunikationswissenschaft wird davon ausgegangen, dass Öffentlichkeit zugleich als ein vielfach binnendifferenzierter und gestufter Bereich zu bestimmen ist. An dessen Spitze steht jener Teil der Öffentlichkeit, in dem – meist in den Qualitäts- und Leitmedien sowie politischen Institutionen – die politisch relevanten Debatten und Aushandlungsprozesse einer Gesellschaft geführt und vermittelt werden. 30 Dieser, dezidiert auf den politischen Wettbewerb und die politische Entscheidungsfindung ausgerichtete Bereich ist im Folgenden mit der Bezeichnung ‚politische Öffentlichkeit‘ gemeint.
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Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), Bd.1361, Frankfurt a.M. 1994. Vgl. MCKEE, ALAN, The Public Sphere. An Introduction, Cambridge 2005, 140-171. GERHARDT, VOLKER, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012, 46. Vgl. STROHMEIER, GERD, Politik und Massenmedien. Eine Einführung (Studienkurs Politikwissenschaft), Baden-Baden 2004, 75-85.
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Ob und wie stark die allgemeine, gesellschaftliche Öffentlichkeit und die politische Öffentlichkeit im Besonderen in den Bereich des Privaten hineinreichen, ist strittig. Volker Gerhardt plädiert für die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als Voraussetzung eines jeden subjektiven Bewusstseins der Menschen, so dass auch die Privatsphäre als mit der Öffentlichkeit direkt verwoben gedacht werden muss, ohne dass die Privatheit aber ganz darin aufgeht.31 Empirisch ist die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit durchaus eine kontingente und politisch oft umstrittene Größe. Insbesondere aus der Tradition des politischen Liberalismus heraus wird man an der Notwendigkeit dieser Grenzziehung zwischen Öffentlichem und Privatem für das Funktionieren moderner repräsentativer Demokratien und den Bestand pluralistischer Gesellschaften aber grundsätzlich festhalten müssen.32 Die bisherigen Ausführungen haben verschiedene sozialwissenschaftliche Debattenstränge aufgerufen, die so üblicherweise nicht miteinander in Beziehung gebracht werden. So problematisiert die Zivilgesellschaftsforschung den Öffentlichkeitsbegriff kaum oder gar nicht, und die Politik- und Kommunikationswissenschaften konzeptionalisieren den intermediären Raum bzw. die politische Öffentlichkeit ohne einen systematischen Rückgriff auf die Konzepte der Zivilgesellschaftsforschung.33 Die folgenden Fallbeispiele aus dem Feld von Politik und Religion sollen zeigen, dass es einer Zusammenführung dieser unterschiedlichen Debattenstränge bedarf, wenn man die empirische politische Theorie zur Rolle von Religion bzw. religiösen Akteuren in demokratischen Gesellschaften verbessern möchte. Und schließlich wird sich in ihnen zeigen, dass in einem heuristischen Mo-
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Vgl. V. GERHARDT, Öffentlichkeit, 182. Vgl. RAWLS, JOHN, Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, hg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a.M. 1992, 255-292; V. GERHARDT, Öffentlichkeit, 182. Die Zivilgesellschaftsforschung weist inhaltlich eine hohe Überschneidung mit den Studien zum Dritten Sektor und zum Nonprofit-Bereich auf. In theoriesystematischer Hinsicht scheinen die letzteren beiden Begriffe für eine Gesellschaftstheorie eher Teilaspekte bereitzustellen, die dem höherrangigen Begriff der Zivilgesellschaft zugeordnet werden können, wobei die begrifflichen Beziehungen untereinander im Einzelnen durchaus weiter ausgearbeitet werden könnten und müssten. Überblick zur Forschungsrichtung in ZIMMER, ANNETTE E./ SIMA, RUTH (Hg.), Forschung zu Zivilgesellschaft, NPOs und Engagement. Quo vadis?, unter Mitarbeit von Christina Rentzsch (Bürgergesellschaft und Demokratie), Bd.46, Wiesbaden 2014, 149-162.
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dell noch zwei weitere Theoriebausteine bzw. Zentralbegriffe nötig sind, die in den aktuellen Forschungsdebatten rund um die Zivilgesellschaft fehlen.
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UND R ELIGION . S ECHS IN THEORETISCHER ABSICHT
F ALLBEISPIELE
a. Religion und freiwilliges Engagement in Deutschland Das Verhältnis von Religion und zivilgesellschaftlichem Engagement hat in den zurückliegenden Jahren verstärkte Aufmerksamkeit erlangt. Für das zivilgesellschaftliche Engagement in Deutschland liegt mit dem Freiwilligensurvey ein nach allen methodischen Standards erstklassiger Datensatz vor. 34 Auf der Basis von 15.000 bzw. 20.000 repräsentativ befragten Einwohnern über 14 Jahre lassen sich extrem zuverlässig die unterschiedlichsten Arten von Aktivitäten und organisiertem zivilgesellschaftlichen Engagement bestimmen. Ein überraschender Befund: Im internationalen Vergleich ist Deutschland bekanntlich relativ stark säkularisierten, aber für das zivilgesellschaftliche Engagement sind Religion und Kirchen von ganz erheblicher Bedeutung. Rund 7 Prozent aller Einwohner Deutschlands waren 2009 ehrenamtlich oder freiwillig im Bereich von Religion und Kirchen tätig. Bezogen auf die Engagementquote ist der Bereich ‚Kirche und Religion‘ damit der zweitgrößte Bereich in Deutschland; nur der Bereich ‚Sport/ Bewegung‘ ist mit 10 Prozent noch größer.35 Beachtenswert ist darüber hinaus,
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Mittlerweile liegen nach weitestgehend einheitlichem Erhebungsschema drei Wellen vor: 1999, 2004 und 2009. Vgl. GENSICKE, THOMAS/ GEISS, SABINE, Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009. Engagementpolitik, Zivilgesellschaft, soziales Kapital und freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 – 2004 – 2009. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und Bürgerschaftlichem Engagement, durchgeführt in Auftrag vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, vorgelegt von TNS Infratest Sozialforschung, unterstützt von BertelsmannStiftung und Generali ZukunftsFonds, München 2010. Vgl. GENSICKE, THOMAS/ PICOT, SIBYLLE/ GEISS, SABINE, Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement, in Auftrag gegeben und hg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, vorgelegt von
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dass der Anteil der im Bereich ‚Kirchen/ Religion‘ Engagierten von 1999 bis 2009 entgegen dem ansonsten zu beobachtenden Trend einer langfristigen Entkirchlichung sogar noch leicht zugenommen hat (+1 Prozentpunkt).36 Zusätzlich zu diesen primär auf die Meso-Ebene von Organisationen bezogenen Daten zeigt sich die gesellschaftliche Wichtigkeit von Religion für Deutschland auch auf der Individual- oder Mikroebene: Je religiös aktiver bzw. je stärker kirchlich verbunden eine Person ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ein Ehrenamt oder ein freiwilliges Engagement übernimmt.37 Dies alles bestätigt, dass Religion in der Tat Teil der Zivilgesellschaft ist (bzw. daran Teil haben kann), und deckt sich mit den eingangs angeführten theoretischen Überlegungen der Zivilgesellschaftsforschung zum Ort von Religion in modernen Gesellschaften. Um diese und ähnliche Ergebnisse richtig einordnen zu können, muss man aber noch ein wenig über dieses eigentliche, religiös-zivilgesellschaftliche Engagement hinausschauen. Denn auch die reine Mitgliedschaft und das Mittun in einer Religionsgemeinschaft sind unter den Bedingungen der Religionsfreiheit grundsätzlich zu einem freiwilligen Akt geworden.38 Es dürfte empirisch nicht ganz falsch sein zu unterstellen, dass angesichts der weit fortgeschrittenen Entkirchlichung Deutschlands39 der Besuch eines Sonntagsgottesdienstes mittlerweile im hohen Maße den Charakter einer freiwilligen, individuell getroffenen Entscheidung ange-
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TNS Infratest Sozialforschung, Wiesbaden 2006, 26; T. GENSICKE/ S. GEISS, Hauptbericht des Freiwilligensurveys, 93. Vgl. EBD.; SEIDELMANN, STEPHAN, Evangelische engagiert – Tendenz steigend. Sonderauswertung des dritten Freiwilligensurveys für die evangelische Kirche, Hannover 2012. Vgl. R. TRAUNMÜLLER, Religion und Sozialintegration; LIEDHEGENER, ANTONIUS, „Linkage“ im Wandel. Parteien, Religion und Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Liedhegener, Antonius/ Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.), Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Befunde – Positionen – Perspektiven (Politik und Religion), Wiesbaden 2011, 232-256. Vgl. JOAS, HANS, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2012. Vgl. LIEDHEGENER, ANTONIUS, Säkularisierung als Entkirchlichung. Trends und Konjunkturen in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, in: Gabriel, Karl/ Gärtner, Christel/ Pollack, Detlef (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2014, 481-531.
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nommen hat.40 Religiöse Praxis ist heute ein soziales Bekenntnis, ein Akt des bewussten „opting-in“41. Aber ist der Besuch eines Gottesdienstes eine zivilgesellschaftliche Aktivität? Selbst in den USA wird diese Frage in der Forschung verneint. Obschon der Denominationalismus der USA auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruht, werden gottesdienstliche Handlungen im engeren Sinne auch dort nicht zum zivilgesellschaftlichen Engagement gezählt. Aus dieser Tatsache lässt sich schließen: Es gibt also neben und zusätzlich zu der in der Zivilgesellschaft bestimmenden „Bürgerrolle“ 42 auch eine eigenständige „Gläubigenrolle“. Sie bezieht sich auf die Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit einer Religionsgemeinschaft und ist von der Bürgerrolle zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist in den oben vorgestellten theoretischen Konzepten von Zivilgesellschaft und Religion so nicht präsent. Diese Einsicht sollte sich aber auch auf die Theorie auswirken: Unabhängig von ihrer möglichen Rolle in der Zivilgesellschaft muss Religion in einer noch näher zu bestimmenden Art und Weise als eigenständige sozialtheoretische Größe moderner Gesellschaften konzipiert werden. b. God gap – Religion und Wahlverhalten in den USA Die USA sind dafür bekannt, dass es in der Politik ein god gap, eine „Kluft Gottes“ gibt. Dieses god gap tritt immer dann in Erscheinung, wenn Präsident und Kongress gewählt werden.43 Worin besteht diese Kluft? Wahl für
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An einem gewöhnlichen Sonntag versammeln sich rund 12 Prozent der Katholiken und vier Prozent der Protestanten in den Kirchenbänken. Umgerechnet auf die rund 24,6 bzw. 24,2 Mio. Kirchenmitglieder im Jahr 2010 sind dies zusammen Sonntag für Sonntag immerhin rund 3,9 Mio. Menschen. Selbstverständlich sind dies nicht immer dieselben, da die Häufigkeit des Kirchenbesuchs auf der Individualebene sehr variiert. Eigene Berechnungen nach den Daten in Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch. Deutschland und Internationales, Wiesbaden 2013, 63. BÄCKSTRÖM, ANDERS/ DAVIE, GRACE, Welfare and Religion in Europe. Themes, Theories and Tensions, in: Bäckström, Anders (Hg.), Welfare and Religion in 21st Century Europe, Bd.2 (Gendered, Religious and Social Change), Farnham 2011, 151171, hier: 157. Wobei der Begriff des „Bürgers“ hier nicht im staatsrechtlichen, sondern soziologischen Sinne einer Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft verstanden werden soll. Vgl. SMIDT, CORWIN E. u.a., The Disappearing God Gap? Religion in the 2008 Presidential Election, Oxford 2010.
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Wahl zeigt sich, dass Amerikaner mit bestimmter Glaubensausrichtung und höherer Kirchgangshäufigkeit sehr viel stärker geneigt sind, republikanische Kandidaten zu wählen. Noch genauer gibt es einen Zusammenhang zwischen bestimmten religiösen Großtraditionen, ethnischer Herkunft und persönlicher Religiosität und Wahlverhalten. Im Vergleich mit anderen sozialstrukturellen Merkmalen besitzen Religionszugehörigkeit und Religiosität in einem an sich sehr fluiden und zerklüfteten Elektorat die stärkste Erklärungskraft. Am Beispiel der Daten der Wahl Barack Obamas im Jahr 2012 lässt sich dieses god gap sichtbar machen.44 Die größten Erfolge erzielte Obama unter den Protestanten der afro-amerikanischen Gemeinden (95 Prozent), den Angehörigen nicht-christlicher Bekenntnisse (74), den Wählenden ohne Religionszugehörigkeit (70) und den jüdischen Wählern (69). Amerikas Katholiken entschieden sich mehrheitlich für Obama (50), wobei Obama vor allem von den katholischen Hispanics gewählt wurde (75), weniger von den weißen Katholiken (40). Sein Herausforderer Mitt Romney erzielte die größten Stimmanteile unter den weißen Protestanten (69), darunter vor allem bei den evangelicals dieses Wählersegmentes (79). Da das hier gezeigte Muster seit geraumer Zeit im Grundzug sehr stabil ist, entscheiden bei Präsidentschaftswahlen kleinere Prozentpunktverschiebungen innerhalb der einzelnen Religionsgruppen über Sieg oder Niederlage. Als eine Faustregel der amerikanischen Wahlkampfforschung gilt z.B., dass jeder Präsidentschaftskandidat die Mehrheit der katholischen Wähler hinter sich bringen muss, um zu gewinnen. Die Wirkungsmechanismen, die dieses Muster erzeugen, sind im Einzelnen vielfältig. Eine wesentliche Ursache für diesen Zusammenhang von Religion und Wahlverhalten ist die politische Rolle der zahlreichen und gut besuchten Kirchengemeinden. Sie sind in den USA auch wichtige Orte politischer Sozialisation und Kommunikation etwa durch öffentliche Diskussionen mit den Kandidaten für politische Ämter oder das Verteilen von voter guides.45 Daraus ergibt sich für den gesellschaftlichen Ort von Religion folgendes Muster: Im Falle des god gap rücken offenkundig die religiösen
44
45
Vgl. PEW, How the Faithful Voted: 2012 Preliminary Analysis, Washington DC 2012, http://www.pewforum.org/Politics-and-Elections/How-the-Faithful-Voted2012-Preliminary-Exit-Poll-Analysis.aspx, Zugriff am 11.11.2012. Vgl. WALD, KENNETH D./ OWEN, DENNIS E./ HILL, SAMUEL S. JR., Churches as Political Communities, in: APSR 82 (1988), 531-548; WALD, KENNETH D./ CALHOUNBROWN, ALLISON, Religion and Politics in the United States, Lanham, MD 62010.
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Strukturen der Zivilgesellschaft und die political society sehr eng aneinander, Religion wird im politischen Wettbewerb für die Verteilung von Macht wichtig. c. Religionsgemeinschaften und politische Willensbildung in der halbdirekten Demokratie der Schweiz Ein großes Schweizer Forscherteam um Andre Bächtiger, Judith Könemann und Ansgar Jödicke hat im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 58 die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Abstimmungskämpfen zu Volksentscheiden auf nationaler Ebene untersucht. 46 Ziel war es, empirisch verlässliche Aussagen über die Art und Weise der vorgebrachten religiösen Argumente treffen zu können. Untersucht wurden 15 Volksabstimmungsvorlagen aus den Jahren 1977 bis 2006. Diese betrafen drei relevante Themenkomplexe: humanethische Fragestellungen wie Abtreibung und Stammzellenforschung, sozialethische Fragestellungen wie die Ausländer‐ und Asyldebatten und das Verhältnis von Religion und Staat. Mit den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse wurde ein breiter Korpus an Presseerzeugnissen, Pressemitteilungen und Stellungnahmen ausgewertet. Alle Texte wurden auf die Inhalte und den Stil der Argumentation sowie deren religiöse und nicht‐religiöse Bezüge analysiert. Knapp zusammengefasst ist der Befund ein zweifacher: Erstens sind die beiden großen christlichen Traditionen, die römisch-katholische und die reformierten Landeskirchen in den politischen Debatten anhaltend aktiv, und sie können sich dadurch in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen. „Die Kirchen argumentieren in ihren Äußerungen in hohem Masse mit Rekurs auf nicht‐religiöse Argumente. Dies widerspricht einer Auffassung, dass religiöse Akteure auch in öffentlichen Äußerungen nur einen religiösen Sprachcode verwenden und sich implizit nur an Angehörigen [sic] der eigenen Re-
46
Vgl. KÖNEMANN, JUDITH/ BÄCHTIGER, ANDRÉ/ JÖDICKE, ANSGAR, Religion in der Schweizer Zivilgesellschaft. Die Beteiligung von Religionsgemeinschaften am Prozess politischer Meinungsbildung am Beispiel von Volksabstimmungen. Untersuchung im Rahmen des NFP 58 „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“, Schlussbericht, Münster 2010 (masch.); BÄCHTIGER, ANDRÉ u.a., Religious Reasons in the Public Sphere. An Empirical Study of Religious Actors' Argumentative Patterns in Swiss Direct Democratic Campaigns, in: European Political Science Review 5/ 1 (2013), 105-131.
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ligion wenden.“47 Zweitens zeigt sich, dass die Schweizer Zivilgesellschaft bzw. Öffentlichkeit keineswegs eine Art ‚ebenes Spielfeld‘ ist, das alle Akteure, die dies wollen, zu gleichen Konditionen betreten können. Kleinere Religionsgemeinschaften und insbesondere jüngere religiöse Gruppierungen mit hohen Anteilen zugewanderter Mitglieder haben deutlich geringere Chancen, sich öffentlich zu artikulieren und gehört zu werden.48 Das Phänomen der Macht ist in der Schweiz wie auch in anderen Staaten also keineswegs auf den Bereich von Staat und Parteienwettbewerb beschränkt, sondern ist auch Teil von Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit und beeinfluss so auch die gesellschaftliche Positionierung und Handlungsmöglichkeiten von Religionsgemeinschaften.49 d. Das Minarettverbot der Schweiz. Probleme fragmentierter Öffentlichkeiten Das Minarettverbot sticht unter den jüngeren religionspolitischen Entscheidungen der Schweiz hervor.50 Am 29. November 2009 waren die Schweizer
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J. KÖNEMANN/ A. BÄCHTIGER/ A. JÖDICKE, Religion in der Schweizer Zivilgesellschaft, 7; vgl. auch KÖHRSEN, JENS, How Religious is the Public Sphere? A Critical Stance on the Debate about Public Religion and Post-secularity, in: Acta Sociologica 55/ 3 (2012), 273-288; zu Deutschland jetzt KÖNEMANN, JUDITH u.a., Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik (Gesellschaft – Ethik – Religion), Paderborn u.a. 2015. Vgl. differenziert dazu ZURLINDEN, MELANIE, Religionsgemeinschaften in der direkten Demokratie. Handlungsräume religiöser Minderheiten in der Schweiz (Politik und Religion), Wiesbaden 2015. BAUMANN, MARTIN, Religion und umstrittener öffentlicher Raum. Gesellschaftliche Konflikte um religiöse Symbole und Stätten im gegenwärtigen Europa, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 7 (1999), 187-204; DAVIDSON, JAMES D./ MCCORMICK, MARK, Catholics and Civic Engagement. Empirical Findings at the Individual Level, in: Liedhegener, Antonius/ Kremp, Werner (Hg.), Civil Society, Civic Engagement and Catholicism in the U.S., Trier 2007, 119-134. Vgl. BAUMANN, MARTIN, Der religionsneutrale Staat und religiöse Pluralisierung. Kontroversen am Beispiel der Schweizer Demokratie, in: Kempen, Bernhard/ Naumann, Kolja (Hg.), Demokratie und Religion. Tagungsband zum Kolloquium der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz und der Demokratie Stiftung an der Universität zu Köln am 23.11.2009 in Köln (Köllner Schriften zu Recht und Staat), Bd.47, Köln 2011, 95-
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Stimmbürger aufgerufen, per Volksabstimmung darüber zu entscheiden, ob der Bau von Minaretten in der Schweiz grundsätzlich verboten sei. Damals stimmten 57,5 Prozent der Stimmbürger für den Antrag auf Verfassungsänderung. Das entsprechende Verbot erhielt dadurch als Art. 72 Abs. 3 Einzug in die Schweizer Bundesverfassung (BV). Der erste Vorstoß zum Verbot trägt auf den ersten Blick alle Züge eines bürgerschaftlichen Engagements: Das Egerkinger Komitee, das die hochemotionale Initiative lancierte, bezeichnet sich selbst als einen Zusammenschluss von Bürgern zur Eindämmung der von seinen Mitgliedern wahrgenommenen bzw. befürchteten Islamisierung der Schweizer Gesellschaft. Erst relativ spät im Verlauf der Kampagne wurde dann offiziell erkennbar, dass das Unternehmen von der konservativ-populistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der kleinen evangelikalen Eidgenössischen Union (EDU) getragen wurde. Abgesehen vom Initiantenkreis und diesen beiden Parteien haben sich alle übrigen Parteien und beinahe geschlossen alle Vertreter der gesellschaftlichen Eliten der Schweiz einschließlich des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) und der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) gegen die Initiative ausgesprochen. Die Demoskopen hielten bis kurz vor der Abstimmung die Ablehnung der Vorlage für gesichert. Die Annahme der Verfassungsinitiative kam dementsprechend einer großen Überraschung gleich. Woher kam die große Zustimmung für ein Anliegen, das Bundes-, National- und Ständerat mehrheitlich als einen Verstoß gegen die Religionsfreiheit in Art. 15 BV abgelehnt hatten? Die Daten der Vox-Nachabstimmungsbefragungen geben einigen Aufschluss. Einer der wichtigsten Befunde ist, dass vor allem die Anhänger der Mitteparteien FDP und CVP der Wahlempfehlung ihrer Partei nicht gefolgt sind. Gleiches gilt für die Mehrzahl der Kirchenmitglieder im Blick auf die Abstimmungsempfehlung ihrer Kirchenleitungen.51 Nicht aber erklären können die Umfragedaten, warum dies so gewesen ist. Weiterführend dazu ist die Analyse des Lu-
51
115; VATTER, ADRIAN (Hg.), Vom Schächt- zum Minarettverbot. Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie, Zürich 2011. Vgl. VATTER, ADRIAN/ MILIC, THOMAS/ HIRTER, HANS, Das Stimmverhalten bei der Minarettverbotsinitiative unter der Lupe, in: Vatter, Adrian (Hg.), Vom Schächt- zum Minarettverbot. Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie, Zürich 2011, 144-170, hier: 147 und 159.
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zerner Islamwissenschaftlers Andreas Tunger-Zanetti.52 Seine Erklärung basiert auf der differenzierten Beschreibung segmentierter Öffentlichkeiten in der Schweiz. Im Kern unterscheidet er eine Eliten-Öffentlichkeit, die sich mit der veröffentlichten Meinung der Leitmedien deckt, und eine medial und zivilgesellschaftlich unsichtbare, auf face-to-face-Beziehungen beruhende, eher lokalistische Gegenöffentlichkeit. Diese bis zur Abstimmung unsichtbar gebliebene Segmentierung der Öffentlichkeit hat zusammen mit der Zögerlichkeit der die Minarettverbotsinitiative ablehnenden Parteien und Eliten das überraschende Ergebnis verursacht. Im vorliegenden Zusammenhang ist dieses Ergebnis ein zentrales. Es zeigt eindrücklich: Zivilgesellschaft, gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit sind keineswegs deckungsgleiche Größen. Aus Differenzen zwischen ihnen können vielmehr ganz erhebliche Dynamiken entstehen, die Politik und Religion zu prägen vermögen. 3.1 Die Neuregelung des § 218 StGB im Gefolge der deutschen Einheit. Parlamentarische Öffentlichkeit und politisches Entscheiden Die Frage nach der Macht und dem Einfluss von Religion bei innenpolitischen Entscheidungen in demokratischen politischen Systemen ist ebenso naheliegend wie leicht gestellt. Aber sie ist ungleich schwieriger zu beantworten. Das strukturell-funktionale Politikmodell fokussiert dazu auf den Erfolg oder Misserfolg religiöse Akteure in politischen Entscheidungsprozessen.53 Ginge es nach den Vertretern der eingangs vorgestellten public religion-These, sollte diese Frage eigentlich hinfällig sein oder doch werden. Anhand der ersten großen Kontroverse zur Lebensschutzpolitik in Deutschland nach der deutschen Einheit kann man aber zeigen, dass sich religiöse Vorstellungen und religiöses Lobbying im Gesetzgebungsprozess selbst
52
53
Vgl. TUNGER-ZANETTI, ANDREAS, Religious Illiteracy and Segmented Public Spheres. Why the Swiss Minaret Ban Came as a Surprise, Luzern 2012. Vgl. LIEDHEGENER, ANTONIUS, Macht und Einfluss von Religionen. Theoretische Grundlagen und empirische Befunde der politischen Systemlehre und politischen Kulturforschung, in: Liedhegener, Antonius/ Tunger-Zanetti, Andreas/ Wirz, Stephan (Hg.), Religion – Wirtschaft – Politik. Forschungszugänge zu einem aktuellen transdisziplinären Feld (Religion – Wirtschaft – Politik), Bd.1, Baden-Baden/ Zürich 2011, 241-273.
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durchaus Geltung verschaffen können. Es wird aber auch deutlich, wo hier die Grenzen religiöser Einflussnahme liegen.54 Die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218 StGB war zu Beginn der 1990er Jahre nötig geworden, weil der Vertrag zur deutschen Einheit vorsah, die westdeutsche Indikationslösung nicht sofort auf das Beitrittsgebiet anzuwenden. Damit blieb das Recht der DDR, die 1974 eine Fristenlösung geschaffen hatte, auch nach dem 3. Oktober 1990 in Geltung. Da der § 218 aber den Bereich des Grundrechtschutzes betrifft, war diese Rechtsungleichheit im Bundesgebiet ein ernsthaftes, politisch zu lösendes Problem. Wie schon in den 1970er Jahren in Westdeutschland waren es vor allem die Kirchen und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), die für einen besseren Schutz der ungeborenen Kinder eintraten. Freilich traten die Befürworter einer weitgehenden Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs ebenso entschieden auf, und es brauchte zwei gesetzgeberische Anläufe. Nach langem parlamentarischen Tauziehen und einem Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wurde in namentlicher Abstimmung 1995 das „Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz“ verabschiedet, das ein Kompromisspaket auf der Basis des bestehenden § 218 StGB war. Das erste parlamentarische Verfahren von 1991/92 brachte nicht weniger als sieben Gesetzesvorschläge hervor. Sie reichten von der völligen Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten Monaten bis zu einem beinahe vollständigen Verbot.55 Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags stimmten damals in namentlicher Abstimmung und unter Aufhebung des Fraktionszwangs über alle Gesetzentwürfe nacheinander ab. Das Abstimmungsergebnis zeigt daher die damaligen Kräfteverhältnisse sehr genau. Stark vereinfachend gesagt, hatte eine pure Fristenregelung so gut wie keine Anhänger, aber auch die Position des weitestgehenden Schut-
54
55
Vgl. LIEDHEGENER, ANTONIUS, Macht, Moral und Mehrheiten. Der politische Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA seit 1960 (Jenaer Beiträge zur Politikwissenschaft), Bd.11, Baden-Baden 2006, 335-389. Ein Sonderausschuss tagte 17 Mal, führte fünf öffentliche und zwei nicht öffentliche Anhörungen durch und lud dazu mehr als 60 Sachverständige. Aber die Gegensätze zwischen den Befürwortern von Indikations- bzw. Fristenregelung blieben unüberwindbar: Am Tag der zweiten und dritten Lesung zur Neuregelung des §214 dauerte die erregte Debatte im Deutschen Bundestag 14 Stunden.
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zes der ungeborenen Kinder blieb chancenlos.56 Eine solide Mehrheit fand allein der mühsam ausgehandelte interfraktionelle Kompromissvorschlag, der im Kern eine durch zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen zugunsten von Kindern und Familien flankierte Fristenregelung vorsah. Dieses Gesetz sollte jedoch keinen Bestand haben, weil wie schon in den 1970er Jahren Teile der CDU/CSU und die bayerische Staatsregierung – öffentlichkeitswirksam von den Kirchen unterstützt – mit Erfolg gegen das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht klagten. Erst im nächsten, 1994 gewählten Deutschen Bundestag gelang es, 1995 einen neuen Kompromiss zu finden57, der politisch und gesellschaftlich von Dauer sein sollte – dies nicht zuletzt deshalb, weil sich im Gesetz und speziell im Beratungsmodell auch der Standpunkt der beiden großen Kirchen wiederfand.58 Über Macht und Einfluss in Gesetzgebungsverfahren bestimmen im Rahmen der institutionellen Vorgaben demokratischer Regierungssysteme nicht allein Ideen und Moral, sondern schlussendlich vor allem politische Mehrheiten – und auch Religionsgemeinschaften wirken daran mit, diese politischen Mehrheiten zu beeinflussen und zu organisieren. Der Ort von Religion war in diesem Fall nicht so sehr die Zivilgesellschaft als vielmehr die Nähe zu Parlament und Regierung, d.h. die Einbindung in das zentrale politische Entscheidungszentrum des politischen Systems in Deutschland. 3.2 Religion und Sozialstaatlichkeit in (West-)Europa Der Wohlfahrts- oder Sozialstaat ist eine gesamteuropäische Erscheinung. Bei allen Unterschieden zwischen liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Sozialstaatsmodellen59 ist allgemein anerkannt, dass grundle-
56 57 58
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Vgl. A. LIEDHEGENER, Macht, Moral und Mehrheiten, 374. Vgl. EBD., 379. Dieser von dem damaligen Vorsitzenden und Mainzer Bischof Karl Lehmann mitkonzipierte und von der Deutschen Bischofskonferenz mit großer Mehrheit mitgetragene politische Konsens führte freilich bald darauf in einen der schwersten innerkirchlichen Konflikte der jüngeren Zeit über die Frage des Verbleibs oder des Ausstiegs der katholischen Kirche in Deutschland aus der Schwangerenkonfliktberatung. Vgl. ESPING-ANDERSEN, COSTA, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990; SCHMID, JOSEF, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, Opladen 2002; GABRIEL, KARL, Europäische Wohlfahrtsstaatlichkeit, soziokulturelle Grundlagen und religiöse
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gende Risiken und Standards moderner Gesellschaften weder individuell noch rein marktwirtschaftlich abgesichert werden können. Darüber hinaus gibt es einen Konsens darüber, dass es eine gesamtgesellschaftliche bzw. politische Aufgabe ist, für die Schwächsten der Gesellschaft Sorge zu tragen, einen gewissen Chancen- und Lastenausgleich durch Umverteilungsmaßnahmen herbeizuführen und die Wohlfahrt breiter Bevölkerungskreise zu fördern.60 Unter Leitung von Anders Bäckström und Grace Davie hat sich im Rahmen des WREP-Projekts ein internationales Forschungsteam ausführlich mit der Rolle der Kirchen in den wohlfahrtsstaatlichen Arrangements einer Reihe westeuropäischer Staaten beschäftigt.61 Die Fallstudien und Analysen förderten eine Reihe von Einsichten und wiederkehrenden Problemen zu Tage, die alle untersuchten Länder trotz aller Unterschiede charakterisieren.62 Anzuführen ist zunächst die überraschend zentrale Rolle der Freiwilligen und der Freiwilligenarbeit für die europäischen Wohlfahrtsstaaten allgemein und für die sozialstaatlichen Aktivitäten der Kirchen und ihrer zugehörigen „Trabanten“ wie Caritas oder Diakonie, die gemeinhin zum Dritten Sektor oder Nonprofit-Bereich gezählt werden.63 Sodann gilt allgemein die Tendenz, dass die sozialstaatlichen Leistungen der religiösen Organisationen zunehmend unter Marktdruck geraten. Der Wechsel von festen, subsidiären Strukturen staatlicher Finanzierung und kirchlicher Leistungserbringung hin zu staatlich organisierten Wettbewerbsformen durch Leistungsverträge drängt auch kirchliche Sozialeinrichtungen immer mehr in den Bereich des Marktes. Gleichzeitig wird damit die Frage der religiösen Identität dieser Organisationen nicht nur dringli-
60
61
62 63
Wurzeln (Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften), Bd.46, Münster 2006; GABRIEL, KARL (Hg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa: Konstellationen – Kulturen – Konflikte, Tübingen 2013. Vgl. LAMPERT, HEINZ/ ALTHAMMER, JÖRG, Lehrbuch der Sozialpolitik (Springer Lehrbuch) Berlin u.a. 2001. Berücksichtigt wurden England, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Norwegen und Schweden. Vgl. A. BÄCKSTRÖM/ G. DAVIE, Welfare and Religion in Europe. Vgl. ZIMMER, ANNETTE/ PRILLER, ECKHARD/ ANHEIER, HELMUT K., Der Nonprofit-Sektor in Deutschland, in: Badelt, Christoph/ Meyer, Michael/ Simsa, Ruth (Hg.), Handbuch der Nonprofit Organisation. Strukturen und Management, Stuttgart 5 2013, 15-36; BOEßENECKER, KARL-HEINZ/ VILAIN, MICHAEL, Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Eine Einführung in Organisationsstrukturen und Handlungsfelder sozialwirtschaftlicher Akteure in Deutschland, Weinheim 22013.
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cher, sondern auch immer schwieriger zu beantworten. Die historische Rolle, die aktuelle Breite der zu erbringenden sozialstaatlichen Leistungen und deren organisatorischen und ideellen Grundlagen geraten in ein Spannungsverhältnis. Diese Entwicklungen berühren und betreffen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Religion gleichermaßen. Pointiert: Es geht hier um Kapital, Humankapital, Sozialkapital und Glaubenskapital. Vor allem aber rückt Religion in diesem Beispiel erkennbar in den Bereich der Wirtschaft und ihrer Funktionslogik des Wettbewerbs am Markt.
4. R ELIGION IN Z IVILGESELLSCHAFT , Ö FFENTLICHKEIT UND P OLITIK . M ODELLBILDUNG Die angeführten Beispiele legen aus sozial- bzw. politikwissenschaftlicher Sicht den Schluss nahe, dass sich die theoretische Ein- und Zuordnung von Religion in demokratische Gesellschaften mit den beiden gängigen Konzepten Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit allein nicht hinreichend bewerkstelligen lässt. Die gewählten empirischen Beispiele aus dem Feld von Politik und Religion belegen, dass der Ort von Religion ein ganz unterschiedlicher sein kann und faktisch ist. Und trotz ihrer Bandbreite decken sie längst nicht alle auch theoretisch relevanten Varianten und Muster ab. Andere, ebenfalls einschlägige Relationen wie das rechtliche Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften64, das mögliche zivilreligiöse Potential von Religion (aber auch von Politik selbst) in Demokratien 65 oder die Rolle von Religion für die gesellschaftliche Integration und politische Unterstützung demokratischer Regierungssysteme 66 wurden nicht behandelt. Die Grundeinsicht bliebe aber stets dieselbe: In den Strukturen moderner Gesellschaften ist Religion immer mehrfach zu verorten, denn erstens tritt Religion wie
64
65 66
Vgl. LORETAN, ADRIAN/ WEBER, QUIRIN/ MORAWA, ALEXANDER, Freiheit und Religion. Die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften in der Schweiz (ReligionsRecht im Dialog), Bd.17, Wien/ Zürich 2014. Vgl. BIZEUL, YVES, Glaube und Politik, Wiesbaden 2009. Vgl. ARENS, EDMUND (Hg.), Integration durch Religion? Geschichtliche Befunde, gesellschaftliche Analysen, rechtliche Perspektiven (Religion – Wirtschaft – Politik), Bd.10, Baden-Baden/ Zürich 2014; S. PICKEL/ G. PICKEL, Politische Kultur- und Demokratieforschung.
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gesehen in den unterschiedlichsten zivilgesellschaftlichen, öffentlichen und politischen Bezügen auf. Und zweitens sind Religion und Religionen über weite Strecken eine eigenständige Größe, die sich einer alleinigen Zuschreibung zur Zivilgesellschaft sperrt. Religion fällt also nicht automatisch und keineswegs notwendig mit der Zivilgesellschaft oder der (politischen) Öffentlichkeit zusammen.67 Im Rückgriff auf ältere systemtheoretische Grundlagen, und hier insbesondere auf die gesellschaftstheoretischen Konzepte Talcott Parsons68, schlage ich daher ein etwas komplexeres Modell vor. Dieses Modell greift die bisherigen Konzepte Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit auf, verbindet und integriert sie mit weiterführenden Überlegungen der empirischen politischen Theorie und führt so zu einer deutlich erweiterten Modellvorstellung von Religion in modernen Gesellschaften, die als Heuristik zukünftiger Forschungen hoffentlich von Nutzen ist.69 Das Modell und seine tra-
67
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69
Vgl. D. POLLACK, Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft (wie Anm. 18); STRACHWITZ, RUPERT GRAF, Zivilgesellschaftliche Organisation Kirche?, in: Zimmer, Annette E./ Sima, Ruth (Hg.), Forschung zu Zivilgesellschaft, NPOs und Engagement. Quo vadis?, unter Mitarbeit von Christina Rentzsch (Bürgergesellschaft und Demokratie), Bd.46, Wiesbaden 2014, 149-162. Vgl. PARSONS, TALCOTT, Das System moderner Gesellschaften, Weinheim/ München 52000; PARSONS, TALCOTT, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt a.M. 1975; WASCHKUHN, ARNO, Politische Systemtheorie. Entwicklung, Modelle, Kritik. Eine Einführung, Opladen 1987; MÜNCH, RICHARD, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften. Eine Bestandsaufnahme, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (1995), 5-24; MÜNCH, RICHARD, Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaft (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft), Bd. 978, Frankfurt 21992; WILLKE, HELMUT, Systemtheorie I: Grundlagen. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme, mit 6 Abbildungen und einem Glossar, Stuttgart 72005; FUHSE, JAN, Systemtheorie, in: Schmitz, Sven-Uwe/ Schubert, Klaus (Hg.), Einführung in die Politische Theorie und Methodenlehre, Opladen 2006, 288-304; FUHSE, JAN, Theorien des politischen Systems. David Easton und Niklas Luhmann. Eine Einführung (Studienbücher Politische Theorie und Ideengeschichte), Wiesbaden 2005; PATZELT, WERNER J., Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriß des Faches und studiumbegleitende Orientierung, Passau 62007; CZERWICK, EDWIN, Politik als System. Eine Einführung in die Systemtheorie der Politik (Lehr- und Handbücher der Politik), München 2011. Das nachfolgende Modell ist eine Weiterführung der damals noch knappen Überlegungen in A. LIEDHEGENER, „Linkage“ im Wandel, 237-239.
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genden begrifflichen Konzepte lassen sich wie folgt veranschaulichen und beschreiben (Abb. 2). Abb.2: Modell der wesentlichen Subsysteme und Bereiche moderner demokratischer Gesellschaften70
Das Baumuster der modernen Gesellschaft ist – unbeschadet ihrer vielen empirischen Variationen – vor allem durch die starke, historisch bislang einmalige Leistungssteigerung des Gesamtsystems erst ermöglichende funktionale Differenzierung bei gleichzeitig hoher Interdependenz der Teil-
70
In der Darstellung der wesentlichen Subsysteme von Gesellschaft (Beschriftung mit großer Schrifttype) folgt das Modell der Konzeption von Gesellschaft als eines speziellen Unterfalls von Handlungssystemen bei Talcott Parsons (vgl. den Text des Beitrags). Die „politische Gemeinschaft“ meint hier das Konzept der „societal community“ im Sinne Parsons, welcher für die Integration der Gesellschaft und damit deren Fortbestand und Entwicklungsmöglichkeiten die zentrale Bedeutung beigemessen wird. Die von mir neu hinzugefügten Bestandteile – die Privatsphäre sowie die verschiedenen intermediären Bereiche zwischen den Subsystemen – weisen das Modell als ein spezifisches heuristisches Modell zur Analyse moderner demokratischer Gesellschaften aus, in dem (auch) Religion und religiöse Akteure sowie Varianten ihrer gesellschaftlichen Verortung und Einflussnahme beschreibbar werden. Quelle: Eigene Darstellung.
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systeme bestimmt. Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Erziehung und Bildung, Wissenschaft, Familie und Verwandtschaft, Gesundheitswesen u. ä. werden im systemtheoretischen Denken gemeinhin als die relevanten Teiloder Subsysteme der Gesellschaft angesehen. Sie sind für deren Entwicklung relevant. In der Literatur finden sich im Detail recht unterschiedliche Listen solcher zentraler Teilsysteme und ihrer Funktionen. Folgt man aber Parsons, so lassen sich diese an sich sicherlich nicht falschen Aufzählungen relevanter Teilsysteme gesellschaftstheoretisch nochmals reduzieren bzw. verdichten. Nach Parsons sind die vier grundlegenden Funktionen jedweder systemischen Struktur die Anpassung an die Umweltbedingungen (adaption), die Zielerreichung bzw. Zweckerfüllung des Systems (goal attainment), die Integration der systemeigenen Bestandteile und Strukturen (integration) sowie die Aufrechterhaltung der Systemgrundlagen (latent pattern maintenance). Diese Bestandteile des AGIL-Schemas erklären in ihrem Zusammenspiel den Bestand und die Fortentwicklung systemischer Strukturen – oder auch deren Scheitern. Die ‚Gesellschaft‘ ist für Parsons ein wichtiger, weil für menschliche Gemeinschaften entscheidender Unterfall sozialer Systeme allgemein.71 Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene sind die vier Systemfunktionen primär vier grundlegenden Teilsystemen zuzuordnen: der Wirtschaft (A), dem Regierungssystem bzw. Staat (G), der politischen Gemeinschaft (societal community) (I) und schließlich dem kulturell-religiösen System (L) im Sinne institutionalisierter kultureller Strukturen.72 Das kulturell-religiöse System vereinigt in differenzierten Gesellschaften jene Institutionen, die mit der Formulierung und Weitergabe von Werten und Normen befasst sind, also etwa das Schulwesen, Literatur, Theater, Kunst, Wissenschaft und eben auch Religion im Sinne ihrer eingangs zugrunde gelegten substantiellen Definition. Das kulturell-religiöse System ist also in systematischer Hinsicht auch der primäre Ort von Religion und Religionsausübung. Eine Religion, die diesen grundlegenden Bezug verliert und sich allein in eines der anderen Fundamentalsysteme und ihre Logiken einzuschreiben gedenkt, dürfte mittelfristig ihre innere Plausibilität und in der Folge wohl auch gesellschaftliche Funktionalität verlieren. Die entscheidende Größe für den Zusammenhalt bzw. die Integration einer Gesellschaft ist nach Parsons die politische Gemeinschaft (societal
71 72
Vgl. T. PARSONS, Gesellschaften, 14. Vgl. EBD., 52f; T. PARSONS, Das System moderner Gesellschaften, 20.
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community). „Das Kernstück einer Gesellschaft, als System, ist die geformte normative Ordnung, welche das Leben einer Population kollektiv organisiert. Als Ordnung enthält es Werte sowie differenzierte und partikularisierte Normen und Regeln, die sämtlich, um sinnvoll und legitim zu sein, kultureller Bezüge bedürfen. Als Kollektivität zeigt es eine geformte Konzeption von Mitgliedschaft, die zwischen Individuen, die dazugehörigen [sic], und solchen, die nicht dazu gehören, unterscheiden.“73 Bestandsvoraussetzung der politischen Gemeinschaft ist einerseits die Durchsetzungsfähigkeit der Ordnung, notfalls mit staatlicher Zwangsgewalt, andererseits die Legitimation und Normbefolgung durch die Menschen, die auf dem Territorium der politischen Gemeinschaft leben. Unter demokratischen Bedingungen sind die Mitglieder der politischen Gemeinschaft und die erwachsene Bevölkerung idealerweise identisch, was in der generalisierten Rolle der Staatsbürgerschaft zum Ausdruck kommt. „Just as the market, the state, and the family have become independent of one another, so has the societal community. It is no longer connected to core groups or to any particular[istic] value, but has become an abstract community of equals, ‚a single societal community with full citizenship for all‘“74. Durch den expliziten Bezug der Werte und Normen auf den kulturellen Bereich wird zudem einsichtig, warum der Bezug von Politik und Religion potentiell ein sehr enger sein kann und er es historisch auch oft gewesen ist75, aber auch warum er Ursache von massiven, gesellschaftsgefährdenden Konflikten sein kann, wenn Prozesse der wechselseitigen Delegitimierung einsetzen. 76 Positiv auf den Zusammenhalt demokratischer politischer Gemeinschaften formuliert: Die „Antwort auf die Frage, ob diese Einheit stabil ist oder nicht, hängt we-
73
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76
T. PARSONS, Gesellschaften, 21, und 32; vgl. T. PARSONS, Das System moderner Gesellschaften, 22-25. Das Konzept ist zudem verwandt und daher anschlussfähig zu dem der „politischen Gemeinschaft“ (political community) bei David Easton. Vgl. D. EASTON, A Systems Analysis of Political Life, 171-189. ALEXANDER, JEFFREY C., The Dark Side of Modernity, Cambridge 2013, 71, der hier Talcott Parsons wörtlich zitiert. Vgl. T. PARSONS, Gesellschaften, 23, 31; T. PARSONS, Das System moderner Gesellschaften, 22ff. Vgl. EBD., 27. Parsons sieht einen solchen Bezug in zweifacher Hinsicht, nämlich ersten auf das Kultursystem, so wie es hier eingeführt worden ist, und zweitens auf den übergesellschaftlichen Teil der Kultur, der für die Gesellschaft als System ebenso Umwelt ist wie die Natur (Verhaltensorganismus) oder die Individuen als Personen (Persönlichkeitssystem). Vgl. EBD., 50f.
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sentlich vom Inhalt der religiösen, philosophischen und moralischen Lehren ab, die in einem übergreifenden Konsens enthalten sein können.“77 Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft sind integrale Bestandteile moderner politischer Gemeinschaften. Beide sind zentral für die Vermittlung zwischen Individuum, Gesellschaft und Politik. Sie lassen sich daher gut in das Konzept der politischen Gemeinschaft einfügen. So geht die „Ausdifferenzierung von Ö[ffentlichkeit] […] mit dem Prozess der Ausdifferenzierung eines demokratischen politischen Systems“ 78 einher. „In jedem Fall aber erfolgt die Wechselwirkung zwischen Politik und Gesellschaft in einem öffentlichen Raum.“79 Und in Jeffrey Alexanders jüngster Kritik an Parsons wird ersichtlich, dass die Sphäre der Zivilgesellschaft theoretisch und praktisch nützlich ist, um die Ambivalenz der societal community zu konterkarieren, die in Parsons‘ Theorie immer dann aufscheine, wenn nicht klar zwischen Solidarität und Gerechtigkeitskonzeptionen unterschieden werde. „There is, indeed, a sphere of solidarity that needs to be differentiated from other spheres if justice is to be achieved. In terms of its idealizing aspirations, such a ‚civil‘ sphere envisions a system of culture and institutions that rests upon demanding, universalistic norms of mutual respect, equality, and autonomy. The degree to which such a differentiated community actually exists can be empirically investigated and theoretically conceived“80. Nach Alexander ist dabei vor allem die Frage relevant, ob und in welchem Umfang in dieser Sphäre gleiche Zutrittschancen für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und das heißt auch unterschiedliche Religionen bestehen.81 Um schließlich zwischen den normativen Zuschreibungen, die mit dem Begriff Zivilgesellschaft, wie er hier verwendet worden ist, einhergehen, und der Deskription von Verbindungen und Vermittlungsprozessen in differenzierten Gesellschaften allgemein unterscheiden zu können, muss man die Sphäre von Vermittlungsprozessen in einem nicht-normativen Sinne adressieren können. Dazu dient im vorliegenden Modell das Konzept des intermediären Raumes. Er liegt zwischen dem Wirtschaftssystem, dem Regie-
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81
J. RAWLS, Gerechtigkeit, 290. J. GERHARDS, Öffentlichkeit, 186. EBD., 27. J. C. ALEXANDER, Dark Side, 76. Vgl. ganz ähnlich auch C. FRAUNE/ K. SCHUBERT, Grenzen der Zivilgesellschaft, 237-241. Vgl. EBD.
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rungssystem, dem kulturell-religiösen System und der Privatsphäre. Die Politikwissenschaft nutzt für diesen verbindenden Bereich seit Langem den aus der Perspektive des Regierungssystems formulierten Begriff des „vorpolitischen Raums“. Der neutralere, hier verwendete Begriff des „intermediären Raums“ signalisiert, dass es in diesem Raum stets um die Kopplungen zwischen den vier grundlegenden Systembereichen moderner Gesellschaften geht. Ein, wenn nicht das wesentlichste Instrument solcher Kopplungen zwischen den ausdifferenzierten Teilbereichen sind die Akteure und ihre Austauschbeziehungen, die in modernen Gesellschaften vor allem als Beziehungen zwischen kollektiven Akteuren bzw. Organisationen in Erscheinung treten.82 Diese Kopplung kann in Demokratien selbstverständlich in affirmativer wie konfliktiver Art und Weise geschehen. Beides kann der politischen Gemeinschaft zugutekommen. Im Sinne der eingangs zitierten handlungstheoretischen Definition von Zivilgesellschaft lassen sich in diesem intermediären Raum zivilgesellschaftliche Aktivitäten anhand der Kriterien freiwillig, gleichberechtigt, friedfertig und gemeinwohlbezogen von anderen, nicht zivilgesellschaftlichen intermediären Aktivitäten, wie z.B. der Öffentlichkeitsarbeit von Wirtschaftsunternehmen, abgrenzen. Auch die politische Öffentlichkeit hat im Rahmen des intermediären Bereichs einen klaren Bezug zur Zivilgesellschaft und Politik. Die Schnittbereiche sind groß. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit greift im Vergleich zur politischen weiter aus, denn nicht alle Formen von Öffentlichkeit sind mit Politik und Zivilgesellschaft deckungsgleich. Auch andere gesellschaftliche Teilsysteme sind ihrerseits auf Öffentlichkeit angewiesen. Als Beispiele für das Gemeinte mögen der Wirtschaftsteil einer Zeitung, religiöse Radiosender oder auch der Pfarrbrief einer Kirchengemeinde dienen. Unter den Bedingungen demokratisch verfasster Gesellschaften kommt schließlich der Privatsphäre ein eigener, durch die übrigen Grundsysteme nicht ersetzbarer Bereich zu. Sie leistet Wesentliches für den Erhalt der Strukturen einer Gesellschaft. Zunächst und naheliegend sichert die Privatsphäre aus systemtheoretischer Sicht durch Generationenfolge, Verwandtschaftsbeziehungen und Sozialisation die Reproduktion der größeren Gesellschaft. Das Private hat damit Teil an der latent pattern maintenanceFunktion der Gesellschaft. Die Privatsphäre ist aber auch unmittelbar politisch relevant, denn nur in der Opposition von Öffentlichkeit und Privatheit
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Vgl. R. MÜNCH, Elemente einer Theorie.
R ELIGION IN Z IVILGESELLSCHAFT , Ö FFENTLICHKEIT
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wird der Raum des für alle Relevanten und gemeinsam zu Gestaltenden erkennbar und diskutierbar. Und schließlich wird in dieser Differenz erst die Möglichkeit der subjektiven wie innergesellschaftlich realisierbaren Freiheit begründet.83 „Was wir als privat erfahren und verteidigen, gewinnt seine Substanz und seine Kontur erst im Gegenlicht der anwesenden Anderen“84, d.h. der öffentlichen Begegnung und Auseinandersetzung, auch und gerade um die Abgrenzung von Staatlichem, Öffentlichem und Privatem. Und dies gilt auch für Fragen der Religionsfreiheit und Religionsausübung. Anhand dieses Modells wird erkennbar, dass es sich bei den angeführten sechs Beispielen jeweils um eine ganz spezifische, nicht miteinander zu verwechselnde Konstellation von Religion und zentralen Aspekten moderner Gesellschaft handelt. Das religiöse zivilgesellschaftliche Engagement in Deutschland zeigt den Ort der Religion in der Mitte der Zivilgesellschaft und verweist sekundär auf die Austauschbeziehung zwischen den Formen des religiösen Engagements in der Zivilgesellschaft auf der einen und einer religiöser Praxis wie dem Gottesdienstbesuch, der selbst nicht notwendig zur Zivilgesellschaft zu zählen ist, auf der anderen Seite. Die Daten zum god gap im Wahlverhalten in den USA zeigen einen Zusammenhang, der ziemlich genau auf der Grenze der Zivilgesellschaft bzw. des intermediären Bereichs zum Regierungssystem anzusiedeln ist. Aus den individuellen, in der religiösen Zivilgesellschaft vorstrukturierten Wahlakten resultiert hier durch das Wahlergebnis letztlich eine alle bindende Entscheidung über die Zuweisung und Verteilung der politischen Macht auf Zeit. Die Analyse des Verhaltens bzw. der Positionierung der wichtigsten kollektiven religiösen Akteure der Schweiz bei Volksabstimmungen zeigt Religionsgemeinschaften, die in etwa im Sinne der public religion Casanovas agieren. Sie tragen ihre Argumente in säkularer Form vor und sind damit Teil der öffentlichen Meinungsbildung. Der Fall des Minarettverbots in der Schweiz liegt deutlich anders: Zwar haben sich auch hier die Kirchen und Religionsgemeinschaften öffentlich positioniert. Als entscheidend erwies sich aber, dass die bindende politische Entscheidung des Minarettverbots aus einer zivilgesellschaftlich bis dahin gleichsam unsichtbaren gesellschaftlichen (Gegen-)Öffentlichkeit heraus entstanden ist. Die Religionsgemeinschaften waren als politische Akteure kaum relevant, wohl aber von dieser Form di-
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Vgl. V. GERHARDT, Öffentlichkeit, 158. EBD., 182.
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rektdemokratischer Religionspolitik mehr oder weniger betroffen. Die Neuregelung des § 218 in Deutschland zeigt dagegen einen direkten Einfluss von Religion bzw. Kirchen auf parlamentarische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse, d.h. auf den Kern des Regierungssystems und dessen Policy-Output. Dieser Einfluss kann wie gesehen zu interessanten Kompromiss- und Konsensbildungen selbst in solchen Fällen führen, die auf den ersten Blick aus weltanschaulichen Gründen als nicht verhandelbar erscheinen mögen. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Rolle der Kirchen in den sozialstaatlichen Arrangements Westeuropas zeigen Religionen als kollektive Akteure in bereichsübergreifenden Akteurskonstellationen. Religion muss hier gleichzeitig sowohl dem Teilsystem Wirtschaft wie der Zivilgesellschaft wie auch dem religiös-kulturellen Teilsystem zugerechnet werden. Vor allem aber rückt Religion hier in den Bereich der Wirtschaft und ihrer Funktionslogik. Diese Generalisierungen und Zuordnungen vereinfachen offenkundig komplexe Sachverhalte stark. Aber schon in dieser Vereinfachung tendieren sie zu einer gewissen Komplexität. Denn das zugrunde gelegte Modell kann und muss zahlreiche Relationen, Bezugspunkte und Vergleichsmöglichkeiten bereithalten, um der empirischen Vielfalt gerecht werden zu können. Entscheidend ist aber, dass die angeführten Fälle anhand des Modells grundsätzlich präzise zuordenbar und damit theoretisch beschreibbar sind. In diesem Sinne eignet sich das vorgestellte Modell als ein hermeneutisches Analyseraster der Verortung von Religion und religiösen Akteuren in hochmodernen Gesellschaften. Das Modell sollte daher eine gute Ausgangsbasis sein, um die Ergebnisse vorliegender wie zukünftiger empirischer Forschungen zu strukturieren und damit vergleichbarer zu machen. Es enthält Ideen und Konzepte, die auch für die systemisch erklärende und/oder kausal erklärende Theoriebildung in der empirischen Religionsforschung hilfreich sein sollten. Und nicht zuletzt wird anhand dieses Modells die Bedeutung der zahlreichen theoretischen, normativen und politischen Debatten über Religion in der Moderne erkennbar: Es geht bei den vielen aktuellen Fragen zum Verhältnis von Politik und Religion und speziell zur Religionspolitik im Kern um die Funktionsfähigkeit, die Integrationsleistung und damit den Fortbestand und die Innovationsfähigkeit demokratischer politischer Gemeinschaften. Gerade in Zeiten globaler demographischer Verschiebungen durch Arbeitsmigration, Flucht und Vertreibung und den damit verbundenen Veränderungen in der religiösen Landschaft
R ELIGION IN Z IVILGESELLSCHAFT , Ö FFENTLICHKEIT
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auch europäischer Staaten dürfte diese systemtheoretische Einsicht zentral sein.
Theologie, Kirche und Öffentlichkeit. Zum Öffentlichkeitscharakter von Religionspädagogik und religiöser Bildung J UDITH K ÖNEMANN
1. W ARUM
ÜBER R ELIGION IN DER NACHDENKEN ?
Ö FFENTLICHKEIT
Für die Notwendigkeit eines verstärkten Nachdenkens über die Verhältnisbestimmung von Religion und Öffentlichkeit legen sich drei Begründungsstränge nahe, von denen zwei auf gesellschaftliche Entwicklungen rekurrieren und einer auf den öffentlichen Charakter von Religion, zumindest der monotheistischen, insbesondere des Christentums, zielt. Die Debatte um Religion in der Öffentlichkeit hat in den vergangenen Jahrzehnten aus vielen Gründen zunehmend hohe Aufmerksamkeit erfahren, exemplarisch sei hier auf die Vielzahl der konfliktiven und gewaltsamen Auseinandersetzungen wie den Syrienkonflikt oder die Bedrohung durch den Islamischen Staat vor allem im Nahen Osten verwiesen. Neben diesen gewaltförmigen Auseinandersetzungen macht es aber auch die Tatsache zunehmender Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse, die Religion nicht mehr lokal verortet, sondern im Grunde nur noch transnational denken lassen und deren Folge u.a. die deutlich wahrnehmbaren religiösen Pluralisierungsprozesse sind, notwendig, über den Ort der Religion in der Öffentlichkeit neu nachzudenken. Die vielen religionspolitischen Regelungen in den letzten Jahren, z.B. zu religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit oder der Möglichkeit eines Islamischen Religionsunterrichts als bekenntnisorientiertem Religionsunterricht bringen dies zum Ausdruck. Dass in-
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nenpolitische Auseinandersetzungen um Religion vielfach im bildungspolitischen Feld ausgetragen werden, ist dabei nicht zufällig, da gerade das Feld von Erziehung und Bildung gegenüber über Religion besonders sensibel ist. Neben diesem eher politischen und gesellschaftlichen, inzwischen hinreichend bekannten Bedarf, über Religion in der Öffentlichkeit nachzudenken, haben aber auch die Religionsgemeinschaften selbst ein genuin eigenes Interesse, sich mit ihren inhaltlichen und wertnormativen Positionen und Haltungen in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Für die christliche Religion begründet sich dies schon aus ihrer Entstehung heraus, insofern es genuines Charakteristikum christlicher Religion ist, auf Öffentlichkeit ausgerichtet zu sein und in diesem Sinne öffentliche Religion zu sein. Dieser Anspruch begründet sich in der (biblischen) Tradition bereits in der öffentlichen prophetischen Rede, die immer das Ziel hatte, Gegenöffentlichkeiten, eine Öffentlichkeit für die Schwachen zu schaffen, zeigt sich dann auch im öffentlichen Wirken Jesu Christi und dem öffentlichen Auftreten der Jünger und Jüngerinnen in der Nachfolge Jesu.1 Dieser Anspruch begründet sich jedoch nicht nur historisch, sondern auch inhaltlich durch die spezifische Botschaft der christlichen Religion, die ihre Spitze theologisch in der letztgültigen Zusage von endgültiger Befreiung und umfassenden Heil für alle Menschen findet. Mit dieser Botschaft verbindet sich eine ausgewiesene Ethik menschlichen Zusammenlebens, deren Maximen über Jahrhunderte hinweg in Westeuropa den Richtmaßstab für gesellschaftliches und politisches Gestalten und Zusammenleben bestimmten. Ein wesentliches Movens dieses Engagements der Kirchen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit war und ist die den materialen Gehalten des Christentums inne liegende Solidaritätspraxis, die sich sowohl in einer Solidarität und diakonischen Praxis mit den Nahestehenden, aber auch mit den Fernstehenden zeigt, und in der so genannten Option für die Armen als einer genuin politischen Option ihren klassischen Ausdruck findet. Aus diesem Selbstverständnis heraus erheben die Kirchen, insbesondere die beiden großen Konfessionen, Anspruch, Politik und Gesellschaft mitzugestalten, und begründen dies mit dem Öffentlichkeitscharakter, der zum Wesen der Kirche gehöre und im Verkündigungsauftrag des Evangeliums
1
Vgl. dazu auch SCHLAG, THOMAS, Öffentliche Kirche. Grunddimensionen einer praktisch-theologischen Kirchentheorie, Zürich 2012.
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gründe sowie in der Tatsache, dass das Christentum von jeher eine öffentliche Religion war und ist.2 Dabei kristallisieren sich vor allem drei zentrale Bereiche heraus: die öffentliche Verkündigung des Evangeliums, die Aufgabe, als Kirche Anwalt der Stimmlosen zu sein und diesen Stimme zu geben, und die Partizipation am gesellschaftlichen Diskurs.3 Insofern sich die Kirchen als Teil der Öffentlichkeit betrachten, wird diese Öffentlichkeit zu einem zentralen Begriff vor allem in der evangelischen Kirche und avanciert selbst zum theologischen Leitkonzept und ekklesiologischen Grundbegriff, zumindest der evangelischen Kirche.4 Und nicht zuletzt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten, ursächlich gründend in den religiös basierten Überzeugungen der religiösen Rechten in den USA in den 70er Jahren, in den Politikwissenschaften, der Religionsphilosophie, Theologie und Politischen Philosophie eine inzwischen ausgesprochen elaborierte Debatte um die Frage nach der Legitimität und den Ort religiöser Überzeugungen in säkularen Gesellschaften herausgebildet.5 Mit der Frage, inwieweit es legitim ist, öffentlich geäußerte Positionen durch den ausschließlichen Bezug auf religiöse Gründe zu begründen, geht es letztlich um nicht mehr und nicht weniger als um die Rolle und Bedeutung von Religion im Kontext der Gestaltung des politischen Gemeinwesens innerhalb des demokratischen Rechtsstaats. Wenn zwar auch nicht unmittelbar, denn aufgrund der rechtlichen Stellung der Kirchen in Deutschland ist die religiöse Bildung bis heute grundgesetzlich gesichert, so doch indirekt ist auch religiöse Bildung von dieser grundsätzlichen Frage betroffen und hat sich deshalb ihre eigene Legitimität als Teil des öffentlichen Bildungssystems, sei im formalen Bereich der
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Evangelische Kirche in Deutschland, EKD Publizistischer Gesamtplan, in: EKD Texte 25, Gütersloh 1979. Diese drei Bereiche werden hier von Gettys übernommen, der diese drei zentralen Bereiche in einer aufeinanderfolgenden Chronologie vorstellt. Vgl. die ausführliche Darstellung dort: GETTYS, SVEN-DANIEL, Wie die Kirchen die Öffentlichkeit entdeckten. Publizistische Kursbestimmungen im 20. Jh., in: Damberg, Wilhelm (Hg.), Soziale Strukturen und Semantiken im Wandel. Transformationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, Essen 2011, 137-154. Vgl. S.-D. GETTYS, Kursbestimmungen, 140. Vgl. hierzu die Beiträge von Martin Breul, Thomas Schmidt und Saskia Wendel in diesem Band. Ausführlich dazu den jüngst erschienenen, sehr instruktiven Band von BREUL, MARTIN, Religion in der politischen Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung, Paderborn 2015.
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Schule mit einem bekenntnisorientierten konfessionellen Religionsunterricht an staatlichen Schulen und der Einrichtung eigener schulischer Bildungseinrichtungen, sei es aber auch im non-formalen Feld der Jugend- und Erwachsenenbildung und entsprechender Einrichtungen und Verbände, immer auch inhaltlich und mit Blick auf die Gesellschaft auszuweisen. Ziel dieses Beitrages ist es, ausgehend von diesem grundlegenden Bedarf, über Religion in der Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Moderne nachzudenken, den Blick speziell auf die religiöse Bildung mit ihren unterschiedlichen institutionellen Orten und Verortungen und auf die wissenschaftliche Reflexion derselben, die Religionspädagogik als wissenschaftlicher Teildisziplin der Theologie, zu richten. Dabei soll erstens, Ort und Verortung wissenschaftlicher Religionspädagogik auf der einen und religiöser Bildung in den verschiedenen Institutionen mit sehr unterschiedlichen Graden von Verrechtlichung und Formalisierung in der Öffentlichkeit auf der anderen Seite bestimmt werden6, und zweitens nach dem inhaltlichen Beitrag religiöser Bildung zu dem, was heute vielfach als Zivilgesellschaft oder zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit genannt wird, gefragt werden. Nicht zuletzt soll damit drittens ein differenzierender Beitrag zum gegenwärtigen, vornehmlich in der protestantischen Theologie beginnenden Diskurs um eine öffentliche Religionspädagogik geleistet werden.7 Dazu wird im Folgenden zunächst auf die verschiedenen in der Diskussion befindlichen Begriffe wie Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft und die sie leitenden Konzepte eingegangen, bevor dann auf das Feld der religiösen Bildung und ihrer wissenschaftlichen Reflexion fokussiert, nach ihrem möglichen Beitrag für zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit gefragt und eine Einund Zuordnung der verschiedenen Formen und institutionellen Formate re6
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Welche hohe Bedeutung der Mesoebene in der Bestimmung des Ortes der Religion in der modernen Gesellschaft zukommt, hat Anna-Maria Meuth in ihrem Beitrag in diesem Band eindrücklich herausgearbeitet. SCHWEITZER, FRIEDRICH, Religionspädagogik im öffentlichen Diskurs – oder: Warum Religionspädagogik über sich selbst hinaus denken muss, in: Ders./ Schlag, Thomas (Hg.), Religionspädagogik im 21. Jh., Freiburg 2004, 36-52; DERS., Mehr als eine Privatangelegenheit! Perspektiven für eine Religionspädagogik in der Zivilgesellschaft, in: Bitter, Gottfried/ Blasberg-Kuhnke, Martina (Hg.), Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft, Würzburg 2011, 164-171; SCHRÖDER, BERND, Öffentliche Religionspädagogik. Perspektiven einer theologischen Disziplin, in: ZThK 110 (2013), 109-132; GRÜMME, BERNHARD, Öffentliche Religionspädagogik. Religiöse Bildung in pluralen Lebenswelten, Stuttgart 2015.
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ligiöser Bildung wie auch der Religionspädagogik als quasi übergeordneter Kategorie versucht wird.
UND Ö FFENTLICHKEIT – ZWEI ÄHNLICHE UND DOCH NICHT GLEICHE B EGRIFFE ZUR B ESCHREIBUNG VERÄNDERTER E INFLUSSMÖGLICHKEITEN DER B ÜRGER UND B ÜRGERINNEN
2. Z IVILGESELLSCHAFT
Neben dem in der Politikwissenschaft etablierten Begriff der Öffentlichkeit hat in den vergangenen Jahrzehnten der Begriff der Zivilgesellschaft respektive derjenige des Dritten Sektors hohe Bedeutung zur Beschreibung und Interpretation von Veränderungen, die sich mit Blick auf Mitgestaltung und Partizipation vollzogen haben, erlangt. Im Folgenden werden die Begriffe beleuchtet, soweit dies für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist. Der Begriff der Öffentlichkeit beschreibt in seiner allgemeinsten Form das, was der Allgemeinheit zugänglich sein sollte und zieht damit auch die Grenze zwischen „öffentlich“ und „privat“. In modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften vermittelt die Öffentlichkeit zwischen dem politischen System und den Bürgern und Bürgerinnen, „zwischen verschiedenen politischen Akteuren als auch zwischen dem politischen System und den Interessen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme“8. In diesem Sinne bildet sie ein intermediäres Kommunikationssystem aus, dessen politische Funktion in der Aufnahme (Input) und Verarbeitung (Throughput) bestimmter Themen und Meinungen sowie in der Vermittlung der aus dieser Verarbeitung entstehenden öffentlichen Meinungen (Output) einerseits an die Bürger, andererseits an das politische System besteht.9 Dabei hat Öffentlichkeit drei Ansprüchen zu genügen, sie muss der Transparenzfunktion genügen, d.h. of-
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Vgl. JARREN, OTFRIED/ DONGES, PATRICK, Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung, Wiesbaden 32011, 101. Vgl. GERHARDS, JÜRGEN/ NEIDHARDT, FRIEDHELM, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, in: Müller-Dohm, Stefan/ Neumann-Braun, Klaus (Hg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, 31-90, 34f.
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fen für alle gesellschaftlichen Gruppen sowie Themen und Anliegen von kollektiver Bedeutung sein, sie muss mit den geäußerten Standpunkten und Meinungen diskursiv umgehen, und sie soll orientieren, d.h. sie soll so etwas wie „öffentliche Meinungen“ erzeugen, die vom Publikum wahrgenommen und akzeptiert werden können. Diese drei Funktionen können nun je nach Modell normativ anspruchsloser sein, so z.B. die systemtheoretischen Spiegel-Modelle als eher neutrale Vermittlung zwischen den Systemen, oder normativ anspruchsvoller, wie etwa diskursive Modelle, so z.B. die Demokratietheorie von Jürgen Habermas. 10 Entscheidend ist ferner die Akteursebene, insofern alle Mitglieder der Gesellschaft unabhängig von Stand und Status an dieser Öffentlichkeit teilnehmen können: „(Politische) Öffentlichkeit besteht aus einer Vielzahl von Kommunikationsforen, deren Zugang prinzipiell offen und nicht an Mitgliedschaftsbedingungen gebunden ist und in denen sich individuelle und kollektive Akteure vor einem breiten Publikum zu politischen Themen äußern.“11 Theorien der Öffentlichkeit weisen allerdings darauf hin, dass Öffentlichkeit kein Entscheidungssystem darstellt. Nach Habermas kann die öffentliche Meinung zwar Einfluss erwerben, will sie aber institutionell nicht folgenlos bleiben, muss sie zuerst „die Filter der institutionalisierten Verfahren demokratischer Meinungs- und Willensbildung“12 passieren und in die Rechtssetzung eingehen.13 Mit Volker Gerhardt kann zudem zwischen „gesellschaftlicher“ und „politischer“ Öffentlichkeit unterschieden werden. Dabei unterscheiden sich beide Formen nach dem Grad der Handlungskoordination und Interessegeleitetheit der Individuen, so entsteht der Raum der Öffentlichkeit in beiden Formen und muss nicht eigens geschaffen werden, verdichtet sich aber in der politischen Öffentlichkeit „unter dem Druck gemeinsamer Interessen“ und wächst „mit dem Anspruch einheitlichen Handelns“14. Bewusst
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Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1998; zur Unterscheidung normativ anspruchsvoller vs. anspruchsloser Modelle O. JARREN/ P. DONGES, Politische Kommunikation, 96ff. GERHARDS, JÜRGEN, Öffentlichkeit, in: Jarren, Otfried/ Sarcinelli, Ulrich/ Saxer, Ulrich (Hg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, Opladen 1998, 694-695, 694. J. HABERMAS, Faktizität und Geltung, 449. Vgl. J. GERHARDS/ F. NEIDHARDT, Strukturen und Funktionen, 80. GERHARDT, VOLKER, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012, 46.
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wird diese politische Öffentlichkeit vermutlich erst angesichts einer Führung durch eine zentrale Macht. 15 Dient die gesellschaftliche Öffentlichkeit so der Verhandlung allgemeiner und grundlegender, die Gesellschaft beschäftigende Belange und Themen, so wird hier zu klareren Unterscheidung im Anschluss an Liedhegener politische Öffentlichkeit als zugespitzt auf den Bereich des politischen Wettbewerbs und der politischen Entscheidungsfindung verstanden.16 Dementsprechend lässt sich Öffentlichkeit auch binnendifferenziert auf unterschiedlichen Ebenen von der unteren Ebene der so genannten Encounter- oder auch Spontanöffentlichkeit über die Themenöffentlichkeit mit höherem Organisationsgrad und schließlich der Medienöffentlichkeit mit ihren Leitmedien beschreiben.17 Öffentlichkeit wird als offenes Kommunikationsforum, als „Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“18 verstanden, das nicht spezifisch institutionalisiert, aber dennoch sozial dauerhaft gegeben und als intermediäres System zwischen politischem System und den Bürgern und Bürgerinnen, zwischen verschiedenen politischen Akteuren als auch zwischen dem politischen System und den Interessen anderer Teilsysteme vermittelt.19 Mit Blick auf politische Prozesse haben sich nun in den vergangenen Jahrzehnten bedeutende Transformationsprozesse vollzogen, die in der Politikwissenschaft unter dem Begriff der „Governance Debatte“ gefasst werden und die das Politikverständnis dahingehend weiten, dass dieses sich nicht ausschließlich auf staatlich-institutionelles Handeln erstreckt.20 Damit sind die bedeutsamen Veränderungen von Staatlichkeit in den letzten drei Jahrzehnten angesprochen, und die damit einhergehenden veränderten Politikprozessen, die im Ergebnis eine starke gesellschaftliche Mitwirkung und neue Kooperationsformen mit sich bringen. Das Fortschreiten gesellschaft-
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Vgl. EBD., 46. Vgl. LIEDHEGENER, ANTONIUS in diesem Band, 93-127. Vgl. O. JARREN/ P. DONGES, Politische Kommunikation, 105. J. HABERMAS, Faktizität und Geltung, 694. Vgl. O. JARREN/ P. DONGES, Politische Kommunikation, 105. Einer der großen Transformationsprozesse hinsichtlich der Öffentlichkeit besteht auch darin diese im Wesentlichen als medial vermittelte Öffentlichkeit zu verstehen, auch wenn damit nicht gesagt ist, dass alle Informationen ausschließlich medial vermittelt werden. Vgl. BENZ, ARTHUR/ DOSE, NICOLAI, Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung, Wiesbaden 22010.
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licher Emanzipation und die Ausbildung polyzentrischer Gesellschaften führen innerhalb der Politikwissenschaft zu der weitgehenden Einigkeit, dass klassische Governance Strukturen, die auf staatstheoretische Konzepte, wie der klaren Trennung zwischen Staat und Gesellschaft und einer monopolartigen Verfügung hoheitlicher Machtmittel des Staates gegenüber wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren setzen, inzwischen in demokratischen Systemen wie der Bundesrepublik durch so genannte Governance Arrangements abgelöst worden sind. Solche Governance Arrangements verstehen die Herausbildung von Mitsouveränitäten gesellschaftlicher Akteure im Kontext einer nicht-etastischen Steuerung gesellschaftlicher Problementwicklungen und Problemlösungen als Ausdruck sowohl gesellschaftlicher Modernisierung als auch innergesellschaftlichen Strukturwandels und gesteigerter Selbststeuerungspotentiale gesellschaftlicher Subsysteme in der Zivilgesellschaft. Damit rückt der Dritte Sektor bzw. die Zivilgesellschaft als organisiertem Raum, bestehend aus nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Organisationen und Bewegungen, die zwischen der Privatsphäre des Einzelnen und der Öffentlichkeit des demokratischen politischen Systems vermitteln, in den Vordergrund und wird als Raum der politischen Auseinandersetzung verstanden. Die heutigen Governance Arrangements binden zivilgesellschaftliche Akteure teilweise auch strukturell in die politischen Gestaltungs- und Problemlösungsprozesse mit ein, was einen deutlichen Anstieg an z.B. internationaler Organisationen und so genannter nicht-staatlicher Organisationen wie Nichtregierungsorganisationen mit politischem Einfluss, die dem so genannten Dritten Sektor oder der Zivilgesellschaft zugerechnet werden, mit sich bringt. Damit wird die Zivilgesellschaft bereichslogisch als sozialer Raum verstanden, der in der Regel von den drei Bereichen Markt, Staat und Privatsphäre umgeben wird. 21 Handlungslogisch ist das Konzept der Zivilgesellschaft in der Regel deutlich normativ aufgeladen und wird als der ‚zivile‘ Ort, als der „Raum öffentlicher Diskussion, Konflikte und Verständigung, […] ein Ort der Anstrengung für das Gemeinwohl“ verstanden.22 Gegenwärtig wird der Begriff
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Vgl. den Aufsatz von LIEDHEGENER, ANTONIUS in diesem Band, 93-127. KOCKA, JÜRGEN, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Hildermeier, Manfred/ Ders./ Conrad, Christoph (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt 2000, 13-39, 20f. Seine normative Aufladung ist allerdings nicht unumstritten, so sehr er von Vertretern wie CASANOVA, JOSÉ, Public Religions in the Modern World, Chicago-London 1994;
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synonym gebraucht mit der Bürgergesellschaft und steht in enger Verbindung zu citizenship. Obgleich die Zivilgesellschaft als Konzept mit dem Zusammenbruch der osteuropäischen Staaten wieder in den Fokus des Interesse rückte, und dieses historische Ereignis in besonderer Weise von religiösen Akteuren mitgetragen war, gehörte Religion zunächst nicht zum Konzept der Zivilgesellschaft.23 Mittlerweile werden Religion und religiöse Akteure selbstverständlich auch in der Forschung als zur Zivilgesellschaft zugehörig betrachtet24 und verweisen auch selbst auf ihre Bedeutung für dieselbe, auch wenn der Anspruch, in dieser nicht gänzlich aufzugehen, aufrechterhalten wird. 25
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DERS., Chancen und Gefahren einer öffentlichen Religion, in: Kallscheuer, Otto (Hg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt a.M. 1996, 181-210; DERS., Rethinking Public Religion, in: Shah, Timothy S./ Stepan, Alfred/ Toft, Monica D. (Hg.), Rethinking Religion and World Affairs, Oxford 2012, 25-35; HABERMAS, JÜRGEN, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1998; GABRIEL, KARL, Konzepte von Öffentlichkeit und ihre theologischen Konsequenzen, in: Arens, Edmund/ Hoping, Helmut (Hg.), Wieviel Theologie verträgt die Öffentlichkeit?, Freiburg 1999; postuliert wird, wird er von anderen, z.B. Herbert 2003 in Frage gestellt und eine klare Unterscheidung zwischen der empirischen und der normativen Verwendung des Begriffes eingefordert, vgl. HERBERT, DAVID, Religion and Civil Society. Rethinking Public Religion in the Contemporary World, Aldershot 2003. Zu entwickeln sei – so Herbert – eine kritische Theorie der Zivilgesellschaft, die analysiert, wie und in welchem Ausmass die Zivilgesellschaft effektiv auf die politische Sphäre Einfluss nehmen kann, ein solcher Einfluss werde allzu oft unkritisch vorausgesetzt, vgl. D. HERBERT, Rethinking Public Religion, 61. Dies im Unterschied zum amerikanischen Raum, indem José Casanova bereits 1994 sein deutliches Plädoyer für den Ort der Religion in der Zivilgesellschaft hielt; Vgl. J. CASANOVA, Public Religion. Vgl. NOLTE, PAUL, Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?, Berlin 2009; PICKEL, GERD/ GLADKIRCH, ANJA, Säkularisierung, religiöses Sozialkapital und Politik – Religiöses Sozialkapital als Faktor der Zivilgesellschaft und als kommunale subjektiver Religiosität?, in: Liedhegener, Antonius/ Werkner, Ines-Jaqueline (Hg.), Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Befunde – Positionen – Perspektiven, Wiesbaden 2011, 81-109. KÖNEMANN, JUDITH/ JÖDICKE, ANSGAR, Bedingungen und Möglichkeiten der Partizipation religiöser Akteure an demokratischer Meinungsbildung. Das Beispiel Schweizer Volksabstimmungen, in: Gabriel, Karl/ Spieß, Christian/ Winkler, Katja (Hg.), Modelle des religiösen Pluralismus. Historische, religionssoziologische und religionspolitische Perspektiven, Paderborn 2011, 181-206; auch: BÄCHTIGER, ANDRÉ/
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Als nicht-staatliche und intermediäre, zwischen der Privatsphäre und dem staatlichen Bereich angesiedelte Organisationen werden nun auch die Kirchen als Teil dieser zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit verstanden, die ihre Ideen und normativen Vorstellungen wie z B. Vorstellungen von Gemeinwohl, Gerechtigkeit, Solidarität und gutem Leben in die Sphäre zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit einbringen. Mit der Bedeutung des Dritten Sektors oder der Zivilgesellschaft erlangen Themen des menschlichen Zusammenlebens, die alle angehen, einen Verhandlungsraum und erlangen so politische Bedeutung.26 Mit Blick auf die beiden Begriffe der Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft lässt sich also festhalten: Beide beschreiben einen Raum zwischen dem politischen System und den Bürgern und Bürgerinnen, der als sozialer Raum der Verständigung zwischen den unterschiedlichen Akteuren verstanden werden kann. Auffällig ist, dass – wie Liedhegener feststellt – innerhalb der Forschungen zu beiden Feldern, Zivilgesellschaft auf der einen und Öffentlichkeit auf der anderen, wenig Bezüge aufeinander genommen werden und die Frage aufgeworfen ist, ob der soziale Raum des Öffentlichkeitsverständnis und der Zivilgesellschaft deckungsgleich sind oder sich auf unterschiedliche Bereiche erstrecken. So mahnt auch Liedhegener zu Recht noch mehr Klärung und Zusammenführung über die verschiedenen Debattenstränge an und weist darauf hin, dass der Ort der Religion oft ein unterschiedlicher sein kann und empirisch auch ist.27
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KÖNEMANN, JUDITH/ JÖDICKE, ANSGAR, Religious reasons in the public sphere: an empirical study of religious actors’ argumentative patterns in Swiss direct-democratic campaigns, in: European Political Science Review Volume 5/ Issue 1 (2013), 105131. Vgl. KÖNEMANN, JUDITH (u.a.), Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik, Paderborn 2015, 55ff.; K. GABRIEL, Öffentlichkeit; KÖNEMANN, JUDITH, „Weder ‚Staat‘ noch ‚Privat‘“. Zur Rolle der Kirchen in zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit, in: Orientierung 70 (2006), 202-207. Vgl. LIEDHEGENER, ANTONIUS in diesem Band, 93-127.
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3. Ö FFENTLICHE T HEOLOGIE UND K IRCHE – Ö FFENTLICHE R ELIGIONSPÄDAGOGIK ? 3.1 Öffentliche Theologie Der oben dargelegte, christlicher Religion inhärent eingeschriebene, Öffentlichkeitscharakter wird seitens der Kirchen als organisierte Ausgestaltung christlicher Religion mittels ihres öffentlichen Handelns eingelöst, was nicht nur heißt, mit religiösen Symbolen und Handlungen in der Öffentlichkeit präsent zu sein, sondern sich auch an der Gesellschaft partizipativ zu beteiligen und diese mitzugestalten. Ermöglicht wird dieser Anspruch seitens des Staates durch die den Kirchen zugestandenen rechtlichen Privilegien und Einbindungen in das politische System bzw. die politische Öffentlichkeit. Von Seiten der Kirchen wird ihr selbst formulierter Anspruch durch ihre Beteiligung an öffentlichen Debatten und ihre Interessenvertretung in diesen eingelöst, in dem sie christlich begründete materiale Gehalte und wertnormative Maßstäbe in die öffentlichen zivilgesellschaftlichen Debatten einbringen.28 Auf wissenschaftlicher Ebene hat sich seit Beginn der 1970er Jahre, vor allem im amerikanischen Raum, die so genannte ‚public theology‘ entwickelt29, die seit einigen Jahren auch im deutschen Sprachraum, vor allem im Bereich der evangelischen Theologie aufgegriffen wird.30 Ursprünglich in Abgrenzung zur ‚civil religion‘31 entwickelt, wurde
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Vgl. dazu ausführlich die Studie von Könemann et.al., Religiöse Interessenvertretung 2015. Diese Interessenvertretung wird theologisch auch als der Kirche unabdingbar aufgegebene Verwirklichung ihres Auftrages formuliert, vgl. HUBER, WOLFGANG, Öffentliche Kirche in pluralen Öffentlichkeiten, in: Evangelische Theologie 54 (1994), 157-180, 177. Auch wenn fast zeitgleich zur ersten Veröffentlichung im amerikanischen Kontext in Deutschland die Habilitation von Wolfgang Huber mit dem Titel „Kirche und Öffentlichkeit“ erschien, erfolgte die deutsche Entfaltung dieses Ansatzes unter starker Rezeption der amerikanischen Debatte dieses Ansatzes. Vgl. auch die Zusammenfassung bei BEDFORD-STROHM, HEINRICH, Öffentliche Theologie und Kirche. Abschiedsvorlesung an der Universität Bamberg, 26. Juli 2011,http://www.bayernevangelisch.de/www/landesbischof/downloads/Abschiedsvor lesung_Bedford_Strohm.pdf, Zugriff am 21.06.2015 BELLAH, ROBERT N., American Civil Religion in the 1970s, in: Russell, Richey E./ Jones, D. G. (Hg.), American Civil Religion, New York/ San Francisco 1974, 255-
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der Begriff ‚public theology‘ in die Debatte eingeführt und als partikulare Ausgestaltung der civil religion verstanden.32 Bezog Martin E. Marty den Begriff dann auf die Öffentlichkeit der Kirche und sprach dementsprechend von einer ‚public church‘33, wurde der Begriff public theology 1975 von David Tracy aufgegriffen und drei Öffentlichkeiten unterschieden, die Öffentlichkeit der Kirche, die Öffentlichkeit der akademischen Welt und die Öffentlichkeit der Gesellschaft, deren jeweiligen Quellen, Wahrheitsansprüche und Argumentationswege zu berücksichtigen seien.34 Bereits in den 70er Jahren wurde der Faden einer öffentlichen Theologie und öffentlichen Verortung der Kirche von Wolfgang Huber in seiner Habilitationsschrift „Kirche und Öffentlichkeit“35 aufgegriffen und in enger Verbindung mit der Politischen Theologie eine öffentliche Theologie vertreten, die der Kirche eine aktive Rolle in der Öffentlichkeit zuschreibt. Befördert wurde der Gedanke einer öffentlichen und politischen Verantwortung seitens der Theologie und Kirchen vor allem in den 70er/80er Jahren durch die Befreiungstheologie in Lateinamerika, die der Theologie eine aktive gesellschaftliche Rolle angesichts massiver ökonomischer Ungerechtigkeiten und Machtasymmetrien zuweist und durch die vornehmlich in der katholischen Theologie entstanden Politische Theologie.36 Ziel öffentlicher Theologie ist, „die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in die Öffentlichkeiten der Gesellschaft hinein“, worin die „Kritik und die konstruktive Mitwirkung an allen Bemühungen der Kirchen, Christen und Christinnen, dem eigenen Öffentlichkeitsauftrag gerecht zu werden, als auch die orien-
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272; ferner DERS., Civil Religion in America, in: Russell, Richey E./ Jones, Donald G. (Hg.), American Civil Religion, New York – San Francisco 1974, 21-44. R. N. BELLAH, American Civil Religion. 1974 führt der Chicagoer Kirchengeschichtler den Begriff der „public theology“ in die Debatte um die 'civil religion' von Robert Bellah ein. 1981 übertrug er den Begriff dann auch auf die Kirche und sprach von 'public church'. Vgl. MARTY, MARTIN E., The Public Church. Mainline – Evangelical – Catholic, New York 1981; DERS., Two Kinds if Two Kinds of Civil Religion, in: Russel, Richey E./ Jones, Donald G. (Hg.), American Civil Religion, 139-157. Vgl. TRACY, DAVID, Theology as Public Discourse, in: The Christian Century (1975), 280-284. Vgl. HUBER, WOLFGANG, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973. Vgl. METZ, JOHANN B., Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 41984; DERS., Zum Begriff der neuen Politischen Theologie 1967-1997, Mainz 1997; Vgl. auch den Beitrag von WENDEL, SASKIA, in diesem Band, 289-306.
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tierend-dialogische Partizipation an öffentlichen Debatten, die unter Bürgerinnen und Bürgern über Identitäten, Ziele, Aufgaben und Krisen dieser Gesellschaft geführt werden“37 eingeschlossen sind. Diese Bestimmung allein macht schon deutlich, dass öffentliche Theologie nicht rein deskriptiv bestimmt ist, sich vielmehr in ihrer normativen Aufladung durch Parteilichkeit, Solidarität, die Option für die Armen auszeichnet. In diesem Sinne beschäftigt sie sich materialiter u.a. mit Themen der sozialen Gerechtigkeit, den Bedingungen für gutes und gerechtes Zusammenleben, mit Herausforderungen der Globalisierung und ihrer humanen Gestaltung als auch ethischen Fragestellungen. Entscheidendes Anliegen ist es, die Befragung der eigenen Traditionsquellen mit einer größtmöglichen Kommunikabilität mit dem allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Diskurs zu verbinden.38 Vögele unterscheidet allerdings zwei einander ergänzende Bezugsrichtungen öffentlicher Theologie; zum einen eine eher strukturelle, die die Grundlagen, Vorbedingungen und Voraussetzungen der liberalen, demokratisch verfassten Gesellschaft reflektiert, und zum anderen eine aktuelle öffentliche Theologie, die sich an den konkreten, aktuellen gesellschaftlichen Diskurse beteiligt.39 Dies macht auf Differenzierungen im Kontext der öffentlichen Theologie aufmerksam, die für unseren Zusammenhang wichtig sind. Dazu gehört auch die Frage nach dem Subjekt der öffentlichen Theologie, womit auch sowohl die Subjektperspektive angesprochen ist als auch die Frage, wie sich die Theologie und Kirche zueinander verhalten. So kann für die Ebene der Individuen auf jeden Fall festgehalten werden, dass Christinnen und Christen, die sich aus ihrer christlichen Grundhaltung heraus als Bürgerinnen und Bürger, die sie ja auch immer sind, an öffentlichen, alle angehenden Debatten, beteiligen und in diese ihre aus dem eigenen Glaubens und der eigenen religiösen Rückbindung heraus gespeiste Positionen einbringen, sich an der Verständigung über für die Gesellschaft relevante Themen beteiligen.40 Dies kann aus unterschiedlichen Rollen heraus
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VÖGELE, WOLFGANG, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Leipzig 1994, 421f. Vgl. BEDFORD-STROHM, HEINRICH, Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft, in: Gabriel, Ingeborg (Hg.), Politik und Theologie in Europa: Perspektiven ökumenischer Sozialethik, Ostfildern 2008, 345. Vgl. W. VÖGELE, Zivilreligion, 425. KÖNEMANN, JUDITH, Welche Chancen bietet die kirchliche Erwachsenenbildung? Der Beitrag kirchlicher Erwachsenenbildung zur Verortung von Kirche in gesell-
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geschehen, neben der Bürgerrolle auch in der Expertenrollen, wenn z.B. universitäre Fachtheologen als Fachtheologen und Experten gefragt sind oder sich zu Wort melden. Von der individuellen Ebene ist zudem eine eher institutionelle oder organisatorische Ebene zu unterscheiden, wenn es um die organisierten Akteure einer öffentlichen Theologie geht. Dies wird an der Unterscheidung des Bezugspunktes, auf den sich öffentliche Theologie richtet, deutlich. So wird innerhalb der Debatte der öffentlichen Theologie – und präziser ist dann auch im Plural von öffentlichen Theologien zu sprechen – diese zum einen sehr direkt auf die Kirche bezogen, z.B. bei Wolfgang Huber und Heinrich Bedford-Strohm41, so etwa, wenn Huber schreibt: „Öffentliche Theologie fragt sodann nach dem Ort der Kirche in der Öffentlichkeit, nach ihrer sozialen Gestalt und ihrer gesellschaftlichen Rolle.“42 Öffentliche Theologie findet hier ihren Ausdruck vor allem durch den Akteur Kirche bzw. verschiedene kirchliche Akteure, die sich mit den jeweiligen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, z.B. öffentlichen Stellungnahmen, Mitarbeit in Arbeitskreisen etc. in die Debatten einschalten.43 Demgegenüber steht im Ansatz von David Tracy nicht so sehr die Kirche im Fokus als vielmehr der die akademische Theologie und ihre VertreterInnen, die z.B. durch die Wahrnehmung einer Expertenrolle in Gremien in die Öffentlichkeit oder verschiedenen Öffentlichkeiten hineinwirken. 44 Wurde die Öffentliche Theologie in den USA schon früh mit der so genannten „civil society“ verbunden, geschieht dies im deutschen Kontext seit den 1990er Jahren und wird öffentliche Theologie vor allem im Horizont der
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schaftlicher Öffentlichkeit, in: Freiburger Zeitschrift für Theologie und Philosophie 55 (2008), 205-218; ferner DIES., 'Ich wünschte, ich wäre gläubig, glaub ich. Zugänge zu Religion und Religiosität in der späten Moderne, Opladen 2002, 384-393. W. HUBER, Kirche und Öffentlichkeit; DERS., Vorwort, in: Birch, Bruce C./ Rasmussen, Larry L. (Hg.), Bibel und Ethik im christlichen Leben, Gütersloh 1993, 9-12; DERS., Öffentliche Kirche; H. BEDFORD-STROHM, Öffentliche Theologie, 340-357. W. HUBER, Bibel und Ethik 1993, 9. Ein ähnliches Verständnis liegt auch der Abschiedsvorlesung von Heinrich Bedford-Strohm zugrunde vgl. H. BEDFORD-STROHM, Öffentliche Theologie und Kirche; ferner: VÖGELE, WOLFGANG, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh 2000. Vgl. dazu ausführlicher KÖNEMANN et.al., Religiöse Interessenvertretung 2015. Vgl. TRACY, DAVID, Blessed Rage for Order, New York 1975; ferner DERS., Public Discourse, 280-284; Vgl. dazu auch HÖHNE, FLORIAN, Öffentliche Theologie. Begriffsgeschichte und Grundfragen, Leipzig 2015, 23.
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Zivilgesellschaft und der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit verortet, womit die Öffentlichkeit der Theologie und Kirchen – so scheint es – vielfach mit einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit gleichgesetzt wird.45 3.2 Öffentliche Religionspädagogik In der Religionspädagogik wird nun mit einigen wenigen Stimmen in jüngerer Zeit nun die Frage nach einer öffentlichen Religionspädagogik 46, nach einer Religionspädagogik, die sich stärker als bislang in die Zivilgesellschaft einbringt, diskutiert. So weist Schweitzer47 mit Rekurs auf den Entstehungskontext und auf Friedrich Schleiermacher darauf hin, dass Religionspädagogik schon von ihrem Entstehungskontext im Zuge der Aufklärung und dem deutlichen Auseinandertreten von weltlicher und kirchlicher Sphäre von Anbeginn auf eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft bezogen sei und in diesem Sinne auch weiterhin als ein Projekt der Theologie nach der Aufklärung zu verstehen sei.48 Schweitzer und Schröder betonen beide den anthropologischen Grundzug religiöser Bildung49, wie er unter anderem durch Schleiermacher grundgelegt wurde. 50 Schon allein aufgrund dieses historischen und inhaltlichen Entstehungszusammenhangs sei Religionspädagogik konstitutiv auf Öffentlichkeit bezogen und sähe sich diesem Erbe einer öffentlichen Wirkung verpflichtet. Für Bernd Schröder ist Religionspädagogik in diesem Sinne in einem dreifachen Sinne auf Öffentlichkeit bezogen, sie ist es von ihrem Gegenstand der Bildung und ihrer Lernorte her, in dem sie religiöse Bildung gerade nicht als Privatsache, sondern als öffentliche, Gemeinwesen und Gemeinwohl betreffende Angelegenheit thematisiert. Sie ist es von ihrer Argumentation her, die nicht nur öffentlich ist, sondern Religion als wichtigen Teil von Bildung im öffentli-
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So z.B. wenn Heinrich Bedford-Strohm sagt: „Kirchen, die sich auf diese Perspektive einlassen, müssen 'öffentliche Kirchen' in der Zivilgesellschaft sein“, H. BEDFORDSTROHM, Öffentliche Theologie und Kirche, 6. Vgl. dazu F. SCHWEITZER, Religionspädagogik im öffentlichen Diskurs, 36-52; SCHRÖDER, BERND, Öffentliche Religionspädagogik, in: ZThK 110 (2013), 109-132; B. GRÜMME, Öffentliche Religionspädagogik. Vgl. F. SCHWEITZER, Religionspädagogik im öffentlichen Diskurs, 41. Vgl. EBD. Vgl. B. SCHRÖDER, Öffentliche Religionspädagogik, 110. Vgl. F. SCHWEITZER, Religionspädagogik im öffentlichen Diskurs, 41.
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chen Bildungssystem ausweist. Und schließlich ist sie es von ihrer Zielsetzung her, indem sie sich auf Bildung als regulative Idee bezieht und diese nicht allein theologisch oder kirchlich begründet, sondern über die wechselseitige Verflochtenheit von Religion und Bildung und die gemeinsame Option beider, die eigene Subjektivität zu entfalten.51 Diese Bezüge auf die Öffentlichkeit inklusive der eigenen diesbezüglichen Tradition sei allerdings – so Schweitzer – mit der Ausblendung der religiösen und weltanschaulichen Grundlagen von Erziehung und Bildung innerhalb der Religionspädagogik und einer allzu starken Konzentration auf die Religionsdidaktik stark verloren gegangen. Von daher gelte es, die Frage nach dem Beitrag der Religionspädagogik zu öffentlichen Bildungsdiskurs zu beantworten. In Rekurs auf die öffentliche Theologie und der Bestimmung des konstitutiven Ortes der Kirche als im öffentlichen Raum der Zivilgesellschaft kommt Schweitzer zu dem Schluss: „Religionspädagogik im öffentlichen Diskurs sollte daher in Zukunft noch deutlicher als Religionspädagogik in der Zivilgesellschaft ausgelegt und in einem bildungstheoretischen Horizont interpretiert werden.“52 Dieser so zugrunde gelegte öffentliche Charakter der Religionspädagogik beruht nun aber gleichzeitig auf der Einschreibung einer politischen Dimension in der Religionspädagogik, insofern eine öffentliche Dimension in dem beschriebenen Sinne zugleich immer auch politisch ist, sofern das
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Vgl. B. SCHRÖDER, Öffentliche Religionspädagogik, 109f. Der Lernort Familie hat richtigerweise eine sehr private Seite, ist hier jedoch in ihrem öffentlichen Charakter als Institution für Erziehung und Bildung angesprochen. Schröder spricht hier mit Peter Biehl allerdings nicht von Entfaltung des Subjekts, sondern von der Subjektwerdung als gemeinsamen Zielpunkt von Bildung und Religion. Vgl. Auch KÖNEMANN, JUDITH, Bildung und Pastoral. Die Frage nach einem fast verloren gegangenen Zusammenhang, in: PThI 35,1 (2015), 9-19. F. SCHWEITZER, Religionspädagogik im öffentlichen Diskurs, 51. Auch Schröder betont den grundlegendlegend öffentlichen Charakter der Religionspädagogik, vgl. B. SCHRÖDER, Öffentliche Religionspädagogik, 117-120.
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Politikverständnis nicht auf staatlich-institutionelles Handeln enggeführt wird. Gerade die Einschreibung einer politischen Signatur in das Verständnis der eigenen wissenschaftstheoretischen Grundlegung sowie des eigenen Selbstverständnisses als theologische Disziplin hinaus bietet die Möglichkeit, den binnenorientierten Blick auf die eigene Verortung als wissenschaftliche Disziplin sowie auf konkrete religiöse Bildungsprozesse auf die Einbeziehung der öffentlichen, zivilgesellschaftlichen Rolle und Aufgabe der Religionspädagogik hin zu weiten. Öffentliche Religionspädagogik ist dementsprechend immer politische Religionspädagogik und eine sich politisch verstehende Religionspädagogik umgekehrt immer auf Öffentlichkeit hin angelegt. Es ist nicht von ungefähr, dass die jüngere Rede von einer öffentlichen Religionspädagogik mit der Wiederentdeckung des Politischen der Religionspädagogik einhergeht. Denn über die explizite Einschreibung einer politischen Signatur in das Verständnis der eigenen wissenschaftstheoretischen Grundlegung sowie des eigenen Selbstverständnisses als theologische Disziplin bietet die Rede von einer politischen oder öffentlichen Religionspädagogik hinaus die Möglichkeit, den binnenorientierten Blick auf die eigene Verortung als wissenschaftliche Disziplin sowie auf konkrete religiöse Bildungsprozesse auf die Einbeziehung der öffentlichen, zivilgesellschaftlichen Rolle und Aufgabe der Religionspädagogik hin zu weiten.53 Augenscheinlich ist, dass die Rede von der öffentlichen Religionspädagogik unmittelbar an die Anliegen der öffentlichen Theologie anknüpft. Indem die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in die Öffentlichkeiten der Gesellschaft, die orientierende Funktion, die die öffentliche Theologie für sich in Anspruch nimmt und auch die Partizipation an öffentlichen Debatten, betont werden, geht es immer auch um Bildung und Bildungsprozesse, die zu diesen Kompetenzen befähigen. Schnittmengen bzw. gemeinsame Ziele sind jedoch vor allem auch bei den Inhalten festzustellen, wenn es um Fragen eines gelingenden Zusammenlebens geht, um den Umgang mit religiöser Pluralität und die Entwicklung interreligiöser Gesprächs- und Dialogfähigkeit, um die Entfaltung der Fähigkeit zur grundlegenden Fähigkeit der Anerkennung des Anderen, insgesamt also im
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Vgl. ausführlicher dazu KÖNEMANN, JUDITH, Politische Religionspädagogik, in: WiReLex 2015, https://www.bibelwissenschaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich- reli gionspaedagogische-lexikon.
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Feld der materialen religiösen Bildung auch das ethische Lernen angesprochen ist. Was aber meint die Rede von der öffentlichen Religionspädagogik in der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft genau? Drei Problemkreise, die m.E. noch etwas näherer Differenzierungen bedürfen, gilt es hier anzusprechen. Erstens: Kann allgemein von der Religionspädagogik geredet werden oder aber gilt es, nicht wie Vögele bereits festhielt, zwischen den beiden Bezugsrichtungen einer öffentlichen Theologie respektive Religionspädagogik auf grundlegende und auf aktuelle Fragestellungen zu unterscheiden? Zweitens: Hinsichtlich der Frage nach dem Subjekt der öffentlichen Religionspädagogik ist zu klären, wie sich das Verhältnis von öffentlicher Religionspädagogik (Theologie) und Kirche gestaltet. Das bedeutet auch, die Frage zu beantworten, wann die Religionspädagogik unmittelbar auf die Kirche bezogen ist und wann nicht. Hier gilt es zudem zwischen den verschiedenen organisationalen Akteuren der Religionspädagogik zu differenzieren. Und schließlich ist drittens zu fragen, ob die Religionspädagogik bzw. die unterschiedlichen Akteure wie auch die verschiedenen Lernorte religiöser Bildung alle in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit agieren oder hier nicht auch Differenzierungen zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten vorzunehmen sind? Dabei sind diese drei Problemkreise jeweils interdependent aufeinander zu beziehen. Abschließend soll also der Blick auf ein mögliches, öffentliches zivilgesellschaftliches Agieren der Religionspädagogik gerichtet werden, wobei hier nicht die bereits angesprochene Ebene des individuellen Handelns einzelner in der Zivilgesellschaft im Mittelpunkt steht, wiewohl diese nicht gänzlich auszuschließen ist, im Mittelpunkt stehen jedoch mit Blick auf die formulierten Themenkreise Differenzierungen und Zuordnungen auf Grundlage der verschiedenen organisierten Akteure.
4. R ELIGIONSPÄDAGOGIK UND ( ZIVILGESELLSCHAFTLICHE ) Ö FFENTLICHKEIT Um eine größere Transparenz in die vorzunehmenden Unterscheidungen zu ermöglichen, soll zunächst eine Verhältnisbestimmung zwischen Religionspädagogik als wissenschaftlicher Disziplin und religiöser Bildung an den verschiedenen klassischen Orten wie Religionsunterricht, Jugend- und
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Gemeindearbeit etc. vorgenommen werden. Religionspädagogik selbst ist religiöse Bildung, in dem sie im Kontext staatlicher Hochschulen an einer konfessionell verfassten Fakultät verortet ist, an der aus der Binnenperspektive der christlichen Religion heraus Theologie betrieben wird, dementsprechend werden Studierende nicht nur für ihren späteren Beruf ausgebildet, sondern vor allem grundlegend in Sachen Theologie gebildet werden. Als Wissenschaft und theologische Disziplin ist Religionspädagogik aber vor allem auch als Reflexion auf religiöse Bildung und religiöse Bildungsprozesse zu verstehen. In diesem Sinne ist neben ihrer grundlegenden Aufgabe der Ausbildung die Grundlegung, Entwicklung und Konzeptionierung religiöser Bildung auf Grundlage der Reflexion auf Bildung ihr Grundauftrag. In diesem Sinne trägt sie zu einer verbesserten Praxis und der Professionalisierung religiöser Bildungsprozesse bei. Als wissenschaftliche Disziplin ist Religionspädagogik zunächst in erster Linie im Anschluss an David Tracy einer akademischen Öffentlichkeit im Kontext der (zivil-)gesellschaftlichen Öffentlichkeit zuzuordnen. Als akademische Disziplin obliegt ihr vorrangig, so unter Voraussetzung der Unterscheidung Vögeles, die Reflexion auf die grundlegenden Vorbedingungen und Voraussetzungen religiöser Bildung in einer demokratisch verfassten säkularen Gesellschaft, in dem sie den Zusammenhang von Religion und Bildung bildungstheoretisch ausweist. Eine Beteiligung an (zivil-)gesellschaftlichen Debatten zu aktuellen z.B. bildungspolitischen Diskursen ist damit nicht ausgeschlossen. An solch aktuellen Fragestellungen beteiligt sie sich als wissenschaftliche Disziplin dann allerdings eher in einer Expertenrolle und mittels (offizieller) Vertreter und Vertreterinnen dieser Disziplin, andernfalls handelte es sich nicht mehr um eine Beteiligung der (Vertreter und Vertreterinnen) wissenschaftlicher Religionspädagogik, sondern um das Engagement von organisierten Privatpersonen. Religiöse Bildung stellt nun – die obige Unterscheidung weiterführend – die Gesamtheit aller (religiösen) Bildungsprozesse dar, die organisatorisch in der Regel von den Kirchen verantwortet werden, zu denken ist hier an alle schulischen und außerschulischen Bildungsprozesse an den unterschiedlichen Bildungsorten. Religionspädagogik und christlich-religiöse Bildung können nun aufgrund des rechtlichen Status der beiden großen Konfessionen als Körperschaften öffentlichen Rechts nicht allein auf die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit bezogen werden und agieren auch nicht ausschließlich im Rahmen einer solchen. Einen Teil ihrer Öffentlichkeit verdanken sie gerade
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nicht der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit, sondern ihrer Einbindung in und der Beteiligung am staatlich öffentlichen Bildungsauftrag und seiner grundgesetzlichen Absicherung. Für die Religionspädagogik gilt dies aufgrund der Einbindung der akademischen Theologie in Theologische Fakultäten und Instituten an staatlichen Universitäten, für den konfessionell gebundenen Religionsunterricht über seine rechtliche Verortung im öffentlichen Schulsystem. In diesem Sinne sind Religionspädagogik und religiöse Bildungsprozesse, um die Unterscheidung Volker Gerhardts aufzunehmen, sowohl in die politische Öffentlichkeit als auch in die (zivil-) gesellschaftliche Öffentlichkeit eingebunden. Allerdings sind hier für die verschiedenen Lernorte religiöser Bildung noch weitere Differenzierungen vorzunehmen, und zwar sowohl innerhalb des Lernortes Schule selbst als auch zwischen den verschiedenen Lernorten. Zunächst zum Lernort Schule: Dieser unterliegt einem klaren Rechtsrahmen, der staatlich verantwortet wird und einen verbindlichen und verpflichtenden Rahmen für jede Schule vorgibt. Jegliches unterrichtliches Handeln hat sich innerhalb dieses rechtlichen Rahmens zu bewegen, und in diesem Sinne ist der unterrichtliche Teil von Schule der politischen Öffentlichkeit zuzurechnen. Dies gilt auch für den Religionsunterricht, der zwar aufgrund seiner Bekenntnisorientierung „res mixta“ ist und somit inhaltlich von den Kirchen verantwortet wird, gleichzeitig jedoch als Unterricht den schulischen Rahmenbedingungen untersteht. Anders verhält es sich, wenn man die außerunterrichtlichen Aktivitäten innerhalb des Rahmens „Schule“ in den Blick nimmt. Hier ist die Zuordnung zur politischen Öffentlichkeit nicht mehr eindeutig, und es zeigt sich ein Nebeneinander von politischer und (zivil-)gesellschaftlicher Öffentlichkeit, wenn es beispielsweise um ein Engagement von (kirchlichen) Vereinen und Verbänden in der Schule oder um Schulpastoral geht, das eher der (zivil-)gesellschaftlichen Öffentlichkeit zuzurechnen ist; eine Entwicklung, die durch die Einführung der Ganztagsschule enorm zugenommen hat. Gerade im Ganztagsbereich von Schule treffen politische und (zivil-)gesellschaftliche Öffentlichkeit aufeinander und sind religiöse Bildungsprozesse sowohl der einen wie der anderen Öffentlichkeit zuzuordnen, und dementsprechend agieren auch die InitiatorInnen und BegleiterInnen dieser Bildungsprozesse u.U. einmal in der einen und einmal in der anderen Öffentlichkeit. Hier ist beispielsweise an die Lehrerin zu denken, die neben ihrer Lehrerinnenrolle zugleich auch Schulseelsorgerin ist oder die Theater-AG leitet. Neben dem Religionsunterricht
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an öffentlichen Schulen haben die Kirchen und andere privatrechtlich organisierte Akteure das Recht, eigene Bildungsinstitutionen einzurichten. Diese Privatschulen in kirchlicher Trägerschaft stellen nun vergleichbar den öffentlichen Schulen einen Teil des Bildungssystems der politischen Öffentlichkeit dar und unterliegen den entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen. Die Nähe zum politischen System reicht dabei bis zu beamtenrechtlichen Angleichungen beim Personal. Gleichzeitig jedoch sind freie kirchliche Schulen in hohem Maße auch Ausdruck des (zivil-) gesellschaftlichen Engagements der Kirchen und ihrer Interessenvertretung. Denn durch die Möglichkeit, diesen Schulen ein eigenes Profil im Sinne ihres Trägers, seien es z.B. Diözesen oder Ordensgemeinschaften, zu geben, haben die Kirchen die Gelegenheit, ihre Interessen und Anliegen, kurz gesagt, ihre Botschaft und materialen Gehalte in einem öffentlichen Raum zu platzieren. So sind die jeweiligen Träger auch mit der Gründung von Schulen bereits in der Zivilgesellschaft als öffentlichem Raum verortet. Damit hat die Religionspädagogik auch am politischen Bildungsauftrag der Kirchen teil, indem sie als Reflexion auf religiöse Bildung auch auf das politische Bildungshandeln der Kirchen reflektiert, die wiederum als intermediäre Organisationen ein Interesse daran haben, via ihrer Akteure sich mit ihren religiösen und bildungspolitischen Überzeugungen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.54 Wissenschaftliche Religionspädagogik agiert bzw. wirkt nun in der Regel eher indirekt in die Öffentlichkeit, vor allem die (zivil-) gesellschaftliche, insofern die meisten Bildungsorte, wie z.B. kirchliche Schulen, Einrichtungen der kirchlichen Erwachsenenbildung oder die verbandlich organisierte Kinder- und Jugendarbeit Bildungsorte sind, die seitens der Kirche organisiert und verantwortet werden. Wie oben schon gezeigt wurde, sind sie, auch wenn sie bestimmten staatlich vorgegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen zu folgen haben und z.B. wie viele kirchliche Erwachsenenbildungseinrichtungen mit staatlichen Geldern unterstützt werden, unmittelbar in der (zivil-)gesellschaftlichen Öffentlichkeit verortet. Religionspädagogik ist auf die in diesen Bildungsorten stattfindenden Bildungsprozesse
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J. KÖNEMANN, Beitrag kirchlicher Erwachsenenbildung, 205-218; DIES., Der gesellschaftliche Auftrag katholischer Erwachsenenbildung und ihre politische Bedeutung, in: Bergold, Ralph (Hg.), Neue Vermessungen. Katholische Erwachsenenbildung heute im Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft, Dillingen 2012.
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bezogen, indem sie diese konzeptioniert, initiiert und begleitet und in den universitären Ausbildungsgängen das diese Bildungsprozesse durchführende Personal ausbildet und professionalisiert. Die Religionspädagogik trägt auf diese Weise über die von ihr konzeptionierten und begleiteten Bildungsprozesse nun nicht nur zu individuellen und gemeinschaftlichen Orientierungen in den unterschiedlichen Lebens- und Weltverhältnissen bei, sondern auch dazu, Wirklichkeit erschließende Differenz- und Deutungskompetenz als einem wesentlichem Moment religiöser Bildung zu vermitteln und so die Teilhabe und Gestaltung gegenwärtiger Welt und Gesellschaft zu ermöglichen.55 Dies geschieht dann, wenn sie auf die ihr inhärente politische Dimension rekurriert, die so auch jedweder Gestaltung religiöser Bildungsprozesse zugehörig ist. Öffentlich im Sinne einer (zivil)gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist Religionspädagogik also dann, wenn sie im Modus der Situations- und Traditionserschließung Bildungskompetenzen fördert, die zu Beteiligung am Gemeinwesen, eben an der Zivilgesellschaft, verstanden als den gesellschaftlichen Ort, an dem die alle angehenden Themen und Anliegen verhandelt werden, beiträgt, und darin einen Beitrag zur Demokratiefähigkeit und zur einer Bildung in der Demokratie leistet. Religionspädagogik ist wie gesehen in den beiden Öffentlichkeiten, der politischen wie der (zivil-)gesellschaftlichen, verortet und dabei auch auf beide Öffentlichkeiten ausgerichtet. Innerhalb der (zivil-)gesellschaftlichen Öffentlichkeit lassen sich nun jedoch auch noch einmal verschiedene Öffentlichkeiten unterscheiden, die sich teilweise überschneiden. So ist die Religionspädagogik wie gesehen als wissenschaftliche Disziplin vor allem auf die akademische, hier vor allem die theologische Öffentlichkeit ausgerichtet, sie ist aber zugleich auch auf die kirchliche Öffentlichkeit ausgerichtet56, wenn sie beispielsweise kirchliche Entscheidungsträger berät oder
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Vgl. dazu SCHLAG, THOMAS, Horizonte demokratischer Bildung, evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg i. Br. [u.a.] 2010, 545; ferner KÖNEMANN, JUDITH, Religion als Differenzkompetenz eigenen Lebens. Zur Bedeutung religiöser Bildung in pluraler Gesellschaft, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 133 (2011), 69-82, 77f. Ich beschränke mich hier auf die Nennung der hier für unseren Zusammenhang relevanten Öffentlichkeiten, natürlich wäre hier auch die mediale Öffentlichkeit zu nennen, die hier jedoch nicht näher in den Blick genommen und ausgeführt wird, weil auf den Vermittlungsleistungen hier kein explizites Augenmerk liegt.
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an Veranstaltungen kirchlicher Einrichtungen, seien es der Erwachsenenbildung oder Katholikentage etc. präsent ist und ihre inhaltlichen Positionierungen einbringt. Religionspädagogik ist nun nicht nur in verschiedenen Öffentlichkeiten der Zivilgesellschaft vertreten, sondern sowohl in direkt als auch indirekter Weise des Handelns in der politischen und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit präsent: So wirkt sie über die akademische Öffentlichkeit des theologischen Diskurses und ihre u.U. auch im Auftrag der Kirchen wahrgenommenen wissenschaftlichen Expertenrollen hinaus nun in direkter Weise sowohl auf der Ebene der politischen Öffentlichkeit, z.B. mit Einsitz in Abiturkommissionen oder Lehrplankommissionen eines Bundeslandes, als auch auf der Ebene der (zivil-)gesellschaftlichen Öffentlichkeit, z.B. mittels der Einladung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in Podiumsdiskussionen kirchlicher Akademien. Indirekt wirkt sie in die beiden Öffentlichkeiten über die von ihr konzipierten und dann kirchlich verantworteten Bildungsprozesse, den unterrichtlichen als eher der politischen Öffentlichkeit zuzurechnenden, und den außerunterrichtlichen, vor allem jedoch außerschulischen, als klar auf der zivilgesellschaftlichen Ebene angesiedelten. In beiden Öffentlichkeiten, der (zivil-)gesellschaftlichen wie der politischen, und in der direkten wie indirekten Weise ist sie in der Lage, ihr inhaltliches Profil, ihre Anliegen und Interessen für eine religiöse Bildung und ihre diese bestimmenden normativen Maßstäbe in den öffentlichen Raum einzubringen. Der Öffentlichkeitscharakter der Religionspädagogik lässt sich somit letztlich in diesen Dimensionierungen von politischer und (zivil-)gesellschaftlicher Öffentlichkeit und als direktes und indirektes Handeln näher beschreiben.
5. S CHLUSS Ziel dieses Beitrages war es, ausgehend von der Frage nach der Bedeutung von Religion in der Öffentlichkeit den Blick speziell auf religiöse Bildung, ihre unterschiedlichen institutionellen Verortungen und deren wissenschaftliche Reflexion sowie auf die Religionspädagogik als wissenschaftliche theologische Disziplin und ihren Öffentlichkeitscharakter zu fokussieren. Im Hintergrund stand dabei zum einen der bereits seit mehreren Jahrzehn-
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ten bestehende Diskurs über eine öffentliche Theologie, die heute auch eher als öffentliche Theologien bezeichnet werden, und die jüngere Rede von einer öffentlichen Religionspädagogik. Im Vordergrund der Überlegungen stand dabei nicht primär der Aufweis des grundlegenden Öffentlichkeitscharakters religiöser Bildung und Religionspädagogik, sondern eine Ausdifferenzierung des Öffentlichkeitsbegriffs (politische, zivilgesellschaftliche, und hier wiederum eine Ausdifferenzierung in verschiedene zivilgesellschaftliche Öffentlichkeiten wie etwa akademische oder kirchliche) auf der einen und eines direkten und indirekten Agierens und Wirkens, direkt über die akademische Öffentlichkeit, indirekt über die von den Kirchen verantworteten Bildungsprozesse, auf der anderen Seite. Die Überlegungen haben damit gezeigt, dass in die Rede von einer öffentliche Religionspädagogik Differenzierungen einzuschreiben sind, die sich im Grunde mit der oben skizzierten Vier-Felder Matrix der beiden Öffentlichkeiten und eines direkten und indirekten Agierens beschreiben lassen. Denn mittels dieser Differenzierungen lässt sich präziser beschreiben, über welches Handeln der Religionspädagogik in welchen Öffentlichkeiten reflektiert wird. Ferner wird klarer, ob über Religionspädagogik oder über von ihr konzipierte religiöse Bildungsprozesse und den jeweiligen Öffentlichkeitscharakter derselben gesprochen wird. Und schließlich wird deutlich, wie innerhalb mancher Bildungsorte hinsichtlich der jeweiligen Öffentlichkeit nochmals zu differenzieren ist, und dass und inwiefern beide Öffentlichkeiten auch an einem Bildungsort vertreten sein können. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass die Rede von der öffentlichen Theologie nicht unmittelbar auf kirchliches Handelns bezogen werden kann, und dass die Differenzierung zwischen „public theology“ und „public church“, zumindest mit Blick auf die Theologie als wissenschaftlicher Disziplin und der Religionspädagogik als Teildisziplin derselben, zu unterscheiden ist. Religionspädagogik bezieht sich so im Sinne der public theology David Tracys in erster Linie auf die akademische Theologie und ihre Diskurse in der Öffentlichkeit und erst in einem zweiten und vielfach eher indirekten Sinne auf die Kirchen im Sinne einer „public church“ und die kirchliche Öffentlichkeit.
Religiöse Gründe in öffentlichen Diskursen
Religiöser Glaube und öffentliche Vernunft. Reflexive Säkularisierung und Differenzbewusstsein1 T HOMAS M. S CHMIDT
„Öffentliche Vernunft“ ist ein zentraler Begriff der normativen politischen Philosophie. In den letzten Jahren wurde die philosophische Diskussion über diesen Begriff in erheblichem Maße angeregt, herausgefordert und bestimmt durch die verstärkte Präsenz von Religion im politischen Raum. Dies gilt nicht erst seit den Ereignissen des 11. September 2001 und der ihnen folgenden, unaufhörlich in das öffentliche Bewusstsein drängenden Reihe religiös begründeter Gewalttaten. Bereits 1995, also vor zwanzig Jahren, hat John Rawls in einer berühmten Wendung die Auffassung artikuliert, dass die Grundaufgabe der politischen Philosophie der Gegenwart in der Beantwortung der Frage bestehe, wie „eine gerechte und stabile Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern dauerhaft bestehen [kann], wenn
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Überarbeitete Fassung des Vortrags „Religiöser Glaube und öffentliche Vernunft. Zwischen reflexiver Säkularisierung und Re-Sakralisierung“, gehalten am 9. Mai 2014 auf der Tagung „Religion, Öffentlichkeit, Moderne – Transdisziplinäre Perspektiven“ an der Universität zu Köln. Der vorliegende Beitrag bezieht Überlegungen aus früheren Veröffentlichungen mit ein, vor allem aus „Reflexive Säkularisierung: Religion als Differenzbewusstsein der Moderne“, in: GEORG, PETER/ KRAUSE, REUßMARTIN (Hg.), Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft und die neuen Grenzen des Sozialen, Wiesbaden 2012, 115-126 und „Nachmetaphysische Religionsphilosophie. Religion und Philosophie unter den Bedingungen diskursiver Vernunft“, in: WENZEL, KNUT/ SCHMIDT, THOMAS M. (Hg.), Moderne Religion? Theologische und religionsphilosophische Reaktionen auf Jürgen Habermas, Freiburg 2009, 10-32.
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diese durch ihre vernünftigen religiösen, philosophischen und moralischen Lehren einschneidend voneinander getrennt sind.“2 Schärfer formuliert lautet diese Frage, wie auch „diejenigen, die eine auf einer religiösen Autorität […] beruhenden religiöse Lehre bejahen, eine vernünftige politische Konzeption haben [können], die eine gerechte demokratische Ordnung stützt“3. Die Symptome einer verstärkten Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit haben seither weiter zugenommen und an Prägnanz, ja brutaler Deutlichkeit gewonnen. Es ist dabei gleichgültig, ob diese einschlägigen Vorkommnisse ausschließlich als reale Zunahme und Verstärkung von Religion im politischen Raum interpretiert werden oder auch als Ausdruck einer geschärften Aufmerksamkeit für bislang verdrängte Phänomene.4 Die „postsäkulare Konstellation“5, das Beharrungsvermögen des Religiösen inmitten der politischen und Kultur einer weitgehend säkularisierten Welt, stellt in jedem Fall eine eminente begriffliche Herausforderung für die politische Philosophie dar, welche die Grundlagen und Grenzen der öffentlichen Vernunft in einer heterogenen, pluralistischen Gesellschaft zu bestimmen sucht. Dabei wird die sogenannte „Rückkehr der Religion“ bisweilen als Ausdruck der immanenten Grenzen der normativen Kraft des Konzepts der öffentlichen Vernunft überhaupt gedeutet. Die Verstörung, welche die zum Teil äußerst aggressiv auftretenden religiösen Interventionen in der politischen Öffentlichkeit liberaler Demokratien auslösen, erscheinen in dieser Perspektive als Aufdeckung heimlicher Exklusionsmechanismen, mit denen die liberale Gesellschaft einen fragilen und oberflächlichen sozialen Frieden durch Strategien der Trennung, Privatisierung und Tabuisierung erzwingt. Der neu entflammte Konflikt zwischen Religion und Politik deckt nach dieser Lesart die Mängel des liberalen Kompromisses und seiner Neutralisierungsstrategien auf. Dieser Konflikt enthüllt in den Augen der Kritiker die Ursachen des Scheiterns des Liberalismus, der das Politische
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RAWLS, JOHN, Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main 2003, 35. Das Zitat findet sich im Original in der Einleitung zur amerikanischen Taschenbuchausgabe von Political Liberalism, New York 1995. J. RAWLS, Politischer Liberalismus, 35. Vgl. REDER, MICHAEL, Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie, 2. aktualisierte und neu bearbeitete Auflage, München, Freiburg 2014. LUTZ-BACHMANN, MATTHIAS, Die postsäkulare Konstellation. Ein neues Verhältnis von Religion und Vernunft, in: Stimmen der Zeit 4 (2015), Bd. 233, 265-275.
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allein unter die Herrschaft des Rechts und der Gerechtigkeit, der Legitimität und des Konsenses gestellt hat. Dies zeige sich besonders an der Unfähigkeit, sich in ein rechtes Verhältnis zu den vitalen Energien und nicht zu verstopfenden semantischen Quellen des Religiösen zu setzen, aus denen sich jedes gehaltvolle politische Leben und Denken zu speisen scheint. Auf diese Weise wird das in der politischen Philosophie des Liberalismus lange Zeit einflussreiche Kantische Modell von Politik als ausübender Rechtslehre in Frage gestellt durch ein antagonistisches Verständnis von Politik. Dieses antagonistische Modell beansprucht nicht nur, sich sachgemäßer auf die Realitäten des politischen Geschäfts einzustellen, indem es mit einer grundsätzlich aggressiven und interessegeleiteten Natur des Menschen und dem daraus folgenden gefährlichen Charakter von Politik rechnet. Es behauptet darüber hinaus, auch ein besseres normatives Modell von Demokratie zu artikulieren. Antagonistische Politikmodelle besitzen danach ein besseres theoretisches Gespür für die Heterogenität moderner, pluralistischer Gesellschaften und werden daher den sozialen, kulturellen und ethnischen Differenzen auch in normativer Hinsicht besser gerecht als die politischen Theorien der liberalen Tradition.6 Gemäß der antagonistischen Theorie des Politischen bilden eben Dissense, Dissonanzen, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte das Wesen einer lebendigen Demokratie und nicht Konsens und Homogenität. Vitale Meinungsverschiedenheiten und Konflikte können nach dieser Auffassung nicht gelöst werden durch einen Appell an eine gemeinsame Vernunft oder angeblich geteilte Vorstellungen von Gerechtigkeit.7 Für ein konsensorientiertes Modell bildet öffentliche Vernunft hingegen das Medium, in dem antagonistische, partikulare Überzeugungen im Lichte verallgemeinerbarer Gründe dargelegt, bewertet und gerechtfertigt werden können. Die Akzeptabilität dieser Gründe wird durch die Öffentlichkeit einer Vernunft garantiert, die zugleich die Vernünftigkeit der Öffentlichkeit in Form von Institutionen und Rechten garantiert. Es sind gerade diese vernünftigen gerechtfertigten öffentlichen Institutionen, welche die Differenz der „abweichenden“ Überzeugungen und Lebensstile anerkennen, rechtlich garantieren und schützen.
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7
DEVEAUX, MONIQUE, Agonism and Pluralism, Philosophy & Social Criticism 25 (1999), Bd.4, 1. M. DEVEAUX, Agonism and Pluralism, 4.
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Die zunehmende normative Kritik an diesem konsensorientierten Modell öffentlicher Vernunft speist sich in religionspolitischen Fragen nicht zuletzt aus einer zunehmenden Kritik an der Säkularisierungsthese. Diese Kritik stellt eine grundbegriffliche Voraussetzung der klassischen Säkularisierungstheorie zunehmend in Frage. Es handelt sich dabei um das Theorem der funktionalen Differenzierung, das in der Tat den „paradigmatischen Kern der Säkularisierungstheorie“8 bildet. Diese Theorie bietet eine genetische und kausale Erklärung der Entstehung der charakteristischen Merkmale moderner Gesellschaften. Sie entwirft zugleich einen normativen Rahmen, der die Möglichkeit normativer Integration hochausdifferenzierter Gesellschaften erklären soll. Als Medium, in dem sich die Bewegung einer radikalisierten und dynamisierten Ausdifferenzierung mit der Etablierung eines erweiterten normativen Rahmens verknüpfen soll, wird gerade die politische Öffentlichkeit verstanden. Dieses Medium einer vernünftigen öffentlichen Deliberation gründet sich gerade auf jene Kompetenzen und Verfahren rationaler Entscheidungsfindung, die sich durch den Prozess der Säkularisierung von traditionellen, zumeist religiös geprägten Formen von Autorität in Wissenschaft, Moral, Recht und Kunst emanzipieren und eine eigenständige, stabile institutionelle Gestalt gewinnen. Das Theorem der funktionalen Differenzierung, das der klassischen Säkularisierungsthese zugrunde lag, setzte aber, so scheint es, unter dem Titel der politischen Öffentlichkeit noch einen einheitlichen Rahmen voraus, entweder in der politisch-normativen Gestalt des Nationalstaates oder eines homogenen kulturellen Rahmen im Sinne einer geteilten Tradition. Nur unter dieser stillschweigenden Voraussetzung eines gegeben normativen oder kulturellen Rahmens konnten die Ausdifferenzierungsprozesse von Religion, Recht und Politik als Modernisierungsschübe bewertet und begrüßt werden und nicht als Zerstörung von Integration perhorresziert werden. Die Ausdifferenzierung von Religion, Recht und Politik hat sich aber in den letzten Jahren zunehmend verschärft und gesteigert. Sie hat diesen fraglos unterstellten Rahmen, der die ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereiche wie Religion, Recht, Politik, Wissenschaft in ihrer Differenz noch
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KOENIG, MATTHIAS, ‚Kampf der Götter‘? Religiöse Pluralität und gesellschaftliche Integration, in: Langenfeld, Christine/ Schneider, Irene (Hg.), Recht und Religion in Europa. Zeitgenössische Konflikte und historische Perspektiven, Göttingen 2008, 102-118, hier: 104.
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normativ zu integrieren vermochte, gewissermaßen von innen zersetzt. Damit verschärfen sich die Anforderungen an das Konzept der öffentlichen Vernunft auf radikale Weise. Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Stufen der Reflexivität von Säkularisierung und ihnen korrespondierende Modelle öffentlicher Vernunft unterscheiden. Es handelt sich um drei Stufen funktionaler Ausdifferenzierung der Gesellschaft und ihnen entsprechenden Formen einer normativen Integration durch ein entsprechendes Konzept der öffentlichen Vernunft. Ich unterscheide zwischen Formen reflexiver Säkularisierung im Sinne von Neutralisierung, kooperative Übersetzung und Differenzbewusstsein. Die beiden ersten Stufen der Neutralisierung und der kooperativen Übersetzung bewegen sich noch weitgehend innerhalb der Vorstellung eines einheitlichen Rahmens, der durch nationalstaatliche Begrenzung oder einen homogenen kulturellen Horizont eindeutig bestimmt und begrenzt ist. Angeregt durch die gegenwärtigen Debatten über „multiple modernities“9 möchte ich die soziologische These aufgreifen, dass wir uns schon längst auf einer dritten Stufe der Reflexivität von Säkularisierung bewegen. Globalisierung und multiple Modernisierung verändern nämlich nicht nur die institutionellen Arrangements im Verhältnis von Religion, Recht und Politik sondern auch das Verhältnis von öffentlicher Vernunft und religiösem Glauben. An der normativen Gestaltung der politischen Öffentlichkeit lässt sich also das jeweilige Verhältnis von Moral, Recht und Religion ablesen. Zur Reflexivität der Säkularisierung gehört, dass sie auf die wechselnden Bedingungen, die aus der Differenzierungsdynamik säkularer Gesellschaften entsteht, eine Antwort bereit hält, die weder die Allgemeinheit und Verbindlichkeit des Rechts gefährdet, noch religiöse Bürger systematisch ausgrenzt und entfremdet. Dazu gehören spiegelbildlich die Zumutung und Anforderung an die Religion, sich selbstreflexiv auf normative Standards säkularer Gesellschaften einzulassen.
9
Vgl. WINANDY, JULIEN, Multiple Modernities (Eisenstadt), in: Schmidt, Thomas M./ Pitschmann, Annette (Hg.), Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014, 164-171.
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1. N EUTRALISIERUNG : Ö FFENTLICHE V ERNUNFT DIE T RENNUNG VON R ELIGION UND P OLITIK
UND
Mit dieser ersten Stufe ist das liberale Modell demokratischer Rechtsstaatlichkeit gemeint. Die Genese dieser normativen Idee und ihre erfolgreiche Implementierung werden in der Regel verstanden als Antwort auf die historische Lektion der europäischen Religionskriege. Die Merkmale der Lösung, mit welcher der Liberalismus durch die Etablierung des demokratischen neutralen Rechtsstaats auf diese durch Stabilitäts- und Legitimitätskrise reagiert hat, sind bekannt: Staatliches Handeln wird rechtlich gebunden durch das libertäre Prinzip der religiösen Freiheit aller Individuen, durch das egalitäre Prinzip der Gleichheit der Religionen und Konfessionen und durch das Neutralitätsprinzip der Gleichbehandlung von religiösen und nichtreligiösen Überzeugungen. Während die soziologischen Säkularisierungstheorien im Gefolge von Max Weber die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche als das Signum der Moderne betrachten, legt Rawls den Akzent auf die politische Frage nach dem allgemeinen Rahmen, in dem die auseinanderstrebenden Teilbereiche normativ integriert werden können. Er fasst das soziologische Phänomen der Ausdifferenzierung vorranging unter dem kulturellnormativen Begriff eines vernünftigen Pluralismus. Pluralismus wird von Rawls ausdrücklich als „ein dauerhaftes Merkmal der öffentlichen Kultur einer Demokratie“10 angesehen. Darin sieht Rawls nicht einfach eine neues soziales Faktum, das in die Basisdaten einer liberalen Gesellschaftstheorie aufgenommen werden muss, sondern eine methodologische Herausforderung, die auch eine veränderte Stellung der politischen Theorie innerhalb der Gesellschaft verlangt. Das Faktum des Pluralismus anzuerkennen bedeutet nach dieser Auffassung eben auch anzuerkennen, dass es eine Vielzahl konkurrierender und vernünftiger Theorien der Gerechtigkeit gibt und dass nur die gewaltsame Ausgrenzung von Alternativen oder die Einnahme eines angemaßten ‚Gottesstandpunktes‘ eine bestimmte Theorie der Gerechtigkeit als die einzig wahre auszeichnen könnte. Das Faktum des Pluralismus hat daher nicht nur eine empirisch-historische und eine politischnormative Bedeutung, sondern auch einen epistemologischen Sinn. Die soziale Tatsache des Pluralismus ist Rawls zufolge auch ein Zeichen der im-
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J. RAWLS, Politischer Liberalismus, 106.
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manenten Grenzen vernünftigen Argumentierens, Ausdruck der Endlichkeit menschlicher Vernunft und Erkenntniskraft. Genau aus diesem Grund geht der politische Liberalismus davon aus, dass es keine erkenntnistheoretische Möglichkeit gibt, eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption auszuzeichnen, die mit bestimmten Überzeugungen über das Wesen der Person, den Sinn und das Ziel menschlichen Lebens, kurzum mit einer bestimmten inhaltlichen Vorstellung des Guten, verbunden ist. Die Gerechtigkeitskonzeption des politischen Liberalismus ist eine vernünftige Konstruktion, die auf Wahrheitsansprüche verzichtet, d.h. auf den Anspruch, im Besitz einer bestimmten fundamentalen Wahrheit über den Menschen überhaupt zu sein. Rawls’ politischer Liberalismus verankert die Prinzipien legitimer Rechtsordnung und stabiler sozialer Kooperation in einem allen Bürgern gemeinsamen Vernunftvermögen. So besteht die liberale Position auf dem Prinzip moralischer Rechtfertigung, wonach Normen nur dann legitim erscheinen, wenn sie prinzipiell von allen Betroffenen akzeptiert werden können. Rawls zufolge kann von allen Bürgern, unabhängig von ihrer Religion und Weltanschauung, im Prinzip eingesehen werden, dass Grundgüter der fairen Kooperation wie Freiheit und Gleichheit zentrale und konstitutive Elemente einer gerechten politischen Ordnung darstellen. Diese Elemente sollen aus der Perspektive der Anhänger verschiedener „umfassender Lehren“ interpretiert und als verbindlich akzeptiert werden können. Dabei können die Gründe für die Zustimmung bei den verschiedenen ethischen und religiösen Doktrinen ganz unterschiedlich beschaffen sein. Entscheidend ist, dass sich ihre Perspektiven in dem Fluchtpunkt einer politischen Gerechtigkeitskonzeption treffen. Der übergreifende Konsens markiert den öffentlichen Ort einer Überlappung unterschiedlicher Kontexte der Einbettung und Aneignung der freistehenden Konzeption der Gerechtigkeit. Bürger einer pluralistischen Gesellschaft müssen diese freistehende Gerechtigkeitskonzeption unabhängig von ihren jeweiligen partikularen Überzeugungen akzeptieren können. Religiöse Überzeugungen können daher nur dann öffentlich legitime Argumente darstellen, wenn für sie adäquate säkulare Gründe angegeben werden können. Gegen dieses Modell der liberalen Trennung von religiösen Überzeugungen und politischer Öffentlichkeit wird der Vorwurf erhoben, dass sich hier die weltanschaulich neutrale Gerechtigkeitsvorstellung des Liberalismus bei näherer Betrachtung eine subtile Form der Unfairness darstelle. Entgegen seinem eigenen Wortlaut würde der politische Liberalismus be-
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stimmte Vorstellungen, die eindeutig partikularen Charakter besäßen, bevorzugen und andere, etwa religiöse Überzeugungen, willkürlich aus der politischen Öffentlichkeit ausschließen. So sei nicht einzusehen, warum gerade religiöse Überzeugungen mit der Begründung, sie fänden nicht bei allen Bürgern Zustimmung, aus den elementaren politischen Debatten ausgeklammert werden sollten. Eine Fülle anderer ethischer Überzeugungen und Moralkonzeptionen werde keinesfalls aus solchen Debatten ausgeschlossen, obwohl auch sie nicht von allen geteilt und von vielen Bürgern mit vernünftigen Gründen abgelehnt würden. Ein vorrangiger Ausschluss religiöser Überzeugungen aus dem Raum der Öffentlichkeit erscheint somit ungerechtfertigt und unfair.
2. K OOPERATIVE Ü BERSETZUNG : Ö FFENTLICHE V ERNUNFT ALS M EDIUM DER K OMMUNIKATION ZWISCHEN RELIGIÖSER UND SÄKULARER S EMANTIK Auf die Kritik am Konzept der Neutralisierung der Religion und ihrer Exklusion aus der Sphäre der politischen Öffentlichkeit reagiert das von Jürgen Habermas vertretene Modell einer kooperativen Übersetzung von religiösen und säkularen Überzeugungen. Dieses Modell geht von der Einschätzung aus, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der bei fortlaufender Dynamik der Säkularisierung dennoch mit einem dauerhaften Fortbestehen religiöser Gemeinschaften zu rechnen ist. Wie Rawls so formuliert auch Habermas die Erwartung, dass religiöse Personen zur Einnahme einer selbstkritischen und distanzierenden Einstellung zu ihren grundlegenden Überzeugungen bereit und in der Lage sind. Dies gilt vor allem dann, wenn religiöse Überzeugungen als Begründungen von Gesetzen und Handlungen staatlicher Sanktionsgewalt herangezogen werden sollen. Unter diesen Bedingungen müssen die religiösen Überzeugungen in eine Sprache übersetzt werden, die auch den säkularen Mitbürgen nicht prinzipiell unverständlich bleiben darf. Religiöse Personen müssen Habermas zufolge eine kognitiv verantwortliche Einstellung finden gegenüber fremden Religionen und Weltanschauungen, zum Eigensinn säkularen Wissens und zur Wissenschaft und zum Vorrang säkularer Gründe in der politischen Arena. Daher bestehen die kognitiven Voraussetzungen für eine moderne Religion darin, den Glauben zu konkurrierenden Heilslehren
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selbstreflexiv in ein Verhältnis setzen, das Verhältnis von dogmatischen Glaubensinhalten und säkularem Weltwissen widerspruchsfrei bestimmen und das Vernunftrecht und universalistische Moral in den Kontext religiöser Lehren integrieren. Insofern Religion diese Bedingungen akzeptiert, kann sie für die säkulare Vernunft zum Bündnispartner im Kampf gegen eine einseitig rationalisierte Moderne werden, wie sie etwa in der Dominanz des naturwissenschaftlichen Paradigmas von Rationalität zum Ausdruck kommt. Diese Dominanz zeigt sich praktisch im Fortschritt der Biowissenschaften, theoretisch vor allem in der metaphysischen Überhöhung des naturwissenschaftlichen Weltbildes in Gestalt eines philosophischen Naturalismus. Gerade in der Auseinandersetzung mit den Bio- und Neurowissenschaften zeigt sich laut Habermas, dass bestimmte moralische Empfindungen „bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck“11 gefunden haben. Durch die Übersetzung religiöser Vorstellungen in die philosophischen Begriffe der säkularen Vernunft vollzieht sich nach Habermas eine „Säkularisierung, die nicht vernichtet“12. In den erwähnten Kontexten diskutiert Habermas die Frage nach der Übersetzung religiöser Gehalte mit dem Ziel, die kognitiven Voraussetzungen und verbindlichen Standards des öffentlichen Vernunftgebrauchs für religiöse und säkulare Bürger zu bestimmen. Auf diese Weise soll ein kritischer Filter installiert werden, der geeignet ist, religiöse Fanatismen und obskurantistische Vorstellungen aus der politischen Öffentlichkeit auszuschließen, falls diese mit der Prätention auftreten, zur Grundlage einer allgemein verbindlichen und mit Sanktionsgewalt versehenen Gesetzgebung zu werden. Allerdings soll dieser Filter auch durchlässig genug sein, um jene Begriffe und Gehalte einer religiösen Semantik in den öffentlichen Diskus einfließen zu lassen, die geeignet erscheinen, die normative Selbstverständigung einer nach säkularen Rechtsprinzipien operierenden politischen Ordnung und Öffentlichkeit zu bereichern. Ein fairer öffentlicher Diskurs in einer postsäkularen Gesellschaft muss auch die Bedingung erfüllen, dass säkulare Bürger in einen Prozess der inhaltlichen Auseinandersetzung und übersetzenden Aneignung der religiösen Gehalte einzutreten bereit sind. Solche wechselseitigen, kooperativen Über-
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HABERMAS, JÜRGEN, Glauben und Wissen. Friedenspreisrede des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a.M. 2001, 29. J. HABERMAS, Glauben und Wissen, 29.
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setzungsversuche zwischen religiösen und säkularen Überzeugungen erscheinen notwendig und sinnvoll, da moralische Einstellungen auf motivationale Voraussetzungen angewiesen sind, die sich aus geteilten Werten und Lebensformen und die durch sie ermöglichten Bildungsprozesse speisen. Eine universale Vernunftmoral bleibt lebensweltlich in plurale ethische Kontexte eingebettet, wie sie durch die Religionen verkörpert werden. Als partikulare Kontexte der Einbettung konstituieren sie nicht den Grund der universalen Geltung jener moralischen Rechte, die allen Personen qua Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung zukommen. Sobald es aber um die intuitiven Selbstbeschreibungen geht, unter denen wir uns überhaupt als Menschen – und damit als Träger universaler Rechte – identifizieren können, reden wir von einer ethischen Einbettung ganz anderer Art, nämlich von einer über die Kulturen und Weltanschauungen hinausgreifenden ethischen Selbstdeutung der menschlichen Gattung im Ganzen. Es ist dieser umfassende und radikale Sinn der Situierung der unbedingten diskursiven Vernunft in der Kontingenz der faktischen menschlichen Gattungsgeschichte, der Habermas’ Konzept der ethischen Einbettung von Rawls’ Konzept des overlapping consensus unterscheidet. Das Programm einer kooperativen Übersetzung artikuliert die weiterführende Einsicht, dass es sich bei Religion nicht nur um einen partikularen Kontext einer privaten Aneignung und Einbettung einzelner säkularer Normen und Gerechtigkeitsprinzipien handelt, sondern dass sie allgemeiner, nämlich als gattungsethischer Rahmen der Einbettung der universalen Vernunftmoral im Ganzen zu verstehen ist. Allerdings steht das Modell der kooperativen Übersetzung in zweifacher Hinsicht vor Problemen, die seine Ergänzung und Weiterentwicklung empfehlen. Zum einen stellt die Rede vom bleibend opaken Charakter des religiösen Sinns eine Hürde bei der Aneignung des semantischen Gehaltes religiöser Überzeugungen aus der Perspektive der säkularen Vernunft dar. Zum anderen hat sich die Logik der Moderne als Dynamik der Differenzierung so weit entfaltet, dass einige der strukturellen Voraussetzungen des Modells der kooperativen Übersetzung in Frage gestellt werden. Der von Habermas beschriebene Vorgang einer kooperativen Übersetzung stellt durchaus eine reziproke intersubjektive Beziehung dar, die unter postsäkularen Bedingungen das Prinzip der politischen Fairness für religiöse und säkulare Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen zur Geltung bringt. Unter semantischen Gesichtspunkten erscheint dieses Verhältnis jedoch
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nach wie vor asymmetrisch. Die inhaltliche Übersetzung erfolgt nämlich aus der Perspektive der säkularen Vernunft. Die Religion ist die Quellensprache, die säkulare Vernunft die Zielsprache der Übersetzung. Dies manifestiert sich in der von Habermas formulierten einschränkenden Bedingung, dass die säkulare Vernunft, „das, wovon im religiösen Diskurs die Rede ist“, sich „nicht als religiöse Erfahrungen zu eigen machen“13 kann. An diesem Punkt wird eine begriffliche Spannung erkennbar. Es bleibt fraglich, wie die Aufforderung zu „kooperativer Übersetzung“ bzw. „rettender Aneignung“ in Einklang gebracht werden kann mit der Auffassung, dass der „opake Kern der religiösen Erfahrung“ dem diskursiven Denken „so abgründig fremd“ sei „wie der von der philosophischen Reflexion auch nur eingekreiste, aber undurchdringliche Kern der ästhetischen Anschauung“ 14. Wie kann eine angesichts des prinzipiell verborgenen Kerns religiöser Erfahrung „agnostisch bleibende Philosophie“15 deren semantischen Gehalt im Zuge einer rettenden Übersetzung allgemein zugänglich machen? Die Vorstellung von einem opaken Kern religiöser Erfahrung überbetont die Differenz zwischen religiösem Glauben und vernünftigem Wissen und trennt den Bereich des Religiösen künstlich vom Kontinuum und der Pluralität menschlicher Erfahrungsweisen und ihrer begrifflichen Interpretationen. Das Modell der kooperativen Übersetzung steht aber noch vor einer zweiten, gewissermaßen realgeschichtlichen Herausforderung. Diese Herausforderung resultiert aus der wachsenden Ambiguität der öffentlichen Vernunft, die unter den Bedingungen einer entstehenden Weltgesellschaft und ihrer heterogenen kosmopolitischen Öffentlichkeit unweigerlich zunimmt. Religion besitzt im Modell der kooperativen Übersetzung ja die Funktion, eine soziale Integrationsleistung qua Bereitstellung semantischer Ressourcen zu liefern. Die kognitiven Anforderungen an die Religion und die Reflexionsanforderungen einer säkularen Gesellschaft, die sich in ein aufgeklärtes Verhältnis zu ihrem anderen, der Religion, setzen will, sind
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HABERMAS, JÜRGEN, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ‚öffentlichen Vernunftgebrauch’ religiöser und säkularer Bürger, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, 119-154, hier: 150. EBD. EBD.
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unter Bedingungen einer multiplen Modernität jedoch noch einmal deutlich gestiegen.
3. Ö FFENTLICHE V ERNUNFT UND REFLEXIVE S ÄKULARISIERUNG : R ELIGION ALS B EWUSSTSEIN DER D IFFERENZ Vor dem Hintergrund der europäischen Glaubenskriege des 16. und 17. Jahrhundert erschien es plausibel, Religion dadurch politisch zu entdramatisieren, dass religiöse Geltungsansprüche privatisiert wurden und auf die Selbstlegitimation weltlicher Herrschaft und die Bearbeitung von gesellschaftlichen Konflikten durch säkulares Recht umgestellt wurde. Aber trotz dieser Ausdifferenzierungssemantik spielte Religion für die Konstruktion kollektiver Identität weiterhin eine „entscheidende Rolle“ im „Prozess der Staats- und Nationenbildung“16. Dies lässt sich gerade am Religionsbegriff ablesen, der „seine uns heute geläufige Bedeutung erst im 16. Jahrhundert erhalten hat“17. Der Begriff der Religion markiert im Sinne einer Logik der Konfessionen die weltanschaulichen Differenzen, die sich aber letztlich als unterschiedliche Erscheinungsformen einer gemeinsamen akzeptablen und homogenen Sozialgestalt von Religion erweisen. Diese unterschiedlichen Formen von Religion lassen sich integrieren, indem sie in ihrer Verschiedenheit auf eine einheitliche institutionelle Gestalt bezogen werden, also im Sinne Troeltschs die Kirche von der Sozialform der Sekte unterschieden wird. So ist es also gerade die Thematisierung der Differenz der Religionen voneinander und vom Staat, die ein übergreifendes Narrativ von der Einheit einer konfessionell gespaltenen Nation ermöglicht, die durch ein allgemeines Konzept von Religion als kollektiv geteilte, rituell praktizierte und mitgliedschaftlich organisierte Glaubensüberzeugungen fundiert wird. Angesichts der gestiegenen Heterogenität des religiösen und weltanschaulichen Feldes steht nun aber keine einheitliche, rechtlich zu stützende und schützende Sozialform von Religiosität mehr zur Verfügung, auf die sich eine integrierende Form der öffentlichen Vernunft institutionell stützen könnte. Unter den Vorzeichen multipler Modernität setzt sich die Ausdifferenzie-
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M. KOENIG, ‚Kampf der Götter‘?, 105f. EBD., 106.
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rung von Religion, Recht und Politik weiter fort und nimmt an Dramatik zu. Dieser abermalige Reflexionsschub der Säkularisierung wird sich wiederum zwangsläufig auf die Funktion der Religion und ihrer Selbstreflexion auswirken müssen. Nun wird überdeutlich, dass die Funktion von Religion nicht länger in der Repräsentation von Integration und der Einbettung einer vermeintlich abstrakten Vernunftmoral und eines positiven Rechts zu sehen ist, sondern gerade in der Beförderung des Bewusstseins der autonomen Eigenlogik von Recht und Moral. Die Aufgabe von Religion besteht nicht in der semantischen Unterfütterung prozeduraler Vernunftbegriffe, die ohne eine solche Unterfütterung angeblich haltlos würden. Ihre Funktion besteht vielmehr in der radikalen Entleerung und Entkernung moderner Vernunftbegriffe, die ihre Legitimität und Substanz vollständig aus sich heraus gewinnen. Religiosität ist nicht länger zu verstehen als Bewusstsein der Integration und der partikularen Veranschaulichung des Wesens des Menschen, sondern wird zwangsläufig zum Bewusstsein der Differenz und der Unanschaulichkeit dieser Wesensbestimmung. Die Lücke zwischen Religion einerseits und autonomer Vernunftmoral und positivem Recht anderseits ist nämlich gerade nicht inhaltlich zu schließen. Es ist nicht die Aufgabe religiösen Bewusstseins, diese semantische Leere der prozeduralen Vernunft und die funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft mit ihren autonomen Systemen der Politik, des Rechts, der Wissenschaft und Kunst durch die Bereitstellung eines Integrationsbewusstseins zu kompensieren. Religiöses Bewusstsein ist unter Bedingungen anhaltender Säkularisierung – und das bedeutet anhaltender Differenzierung – gerade Differenzbewusstsein. Diese Bestimmungen schließen erkennbar an die systemtheoretische Beschreibung Luhmanns an, der die Rolle von Religion unter Bedingungen funktionaler Differenzierung in einer spezifischen Reflexion der Einheit des Gesellschaftssystems gesehen hat. Mit der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz leistet das Religionssystem diesen spezifischen Beitrag einer Reflexion der sozialen Einheit. Vor diesem Hintergrund wird reflexive Religiosität zum Bewusstsein der Differenz, das die Autonomie und eigene Sachlogik der differenzierten Bereiche betont. Theologisch gesehen wird die soziologische Funktion einer paradoxen Einheit von Immanenz und Transzendenz durch den Gottesbegriff markiert. Luhmann zufolge drängt es sich auf, „die Funktionsstelle, deren Benennung die Entparado-
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xierung zu leisten hat, mit dem Gottesbegriff zu bezeichnen“18. Auch psychologisch und epistemologisch, in Bezug auf eine Theorie des religiösen Glaubens, bietet eine Differenztheorie religiösen Bewusstseins das angemessene Mittel, um zu verstehen, warum „der Glaube an die Wirklichkeit der Transzendenz unversehens immer wieder in den Glauben an die Wirklichkeit des Glaubens übergeht“19. Diese systemtheoretischen Überlegungen sind dabei durchaus anschlussfähig an die traditionell verstandene kultische Rolle von Religion, die theologische Funktion des Gottesbegriffs und die psychologische Funktion des Glaubens, der unter Bedingungen prononcierter Modernität die Struktur eines Glaubens an den Glauben annimmt. Die Funktion der Religion besteht nach der differenztheoretischen Sicht der Systemtheorie nicht in einer ethischen Einbettung autonomer Moral und positiven Rechts in die lebensweltlichen Kontexte dichter Beschreibungen, sondern in der Schärfung und Bearbeitung der Differenz zwischen autonomer säkularer Gesellschaft und Vernunft. Martin Breul hat mich in diesem Zusammenhang mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass hier unterschiedliche Bedeutungen von Differenzbewusstsein stärker zu berücksichtigen wären. Differenz kann einmal als kritische Distanz der Religion zur gesellschaftlichen Wirklichkeit verstanden werden. Religion wäre dann im Sinne eines Gegenentwurfs zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen. Religiöses Bewusstsein markierte so eine humane Differenz zum Konkurrenzdenken, Machbarkeitswahn und übertriebenen Individualismus der gegeben gesellschaftlichen Wirklichkeit. Religiöses Bewusstsein artikulierte damit eine normative Differenz zwischen politischer Realität und einem dem gegeben transzendenten Ideal gelungenen und gerechten Lebens. Die begriffliche Voraussetzung dieses Verhältnisses bestünde aber gerade in der Unterstellung eines diskursiven Kontinuums von religiösen, moralischen und politischen säkularen Überzeugungen. Davon zu unterscheiden ist eine radikalere Bedeutungsvariante, welche die Differenz zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen und ihren Logiken als prinzipielle Nichtkommunzierbarkeit des religiösen Sinns im Raum der Gesellschaft und der politischen Öffentlichkeit versteht. Hinzu tritt schließlich noch die von
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LUHMANN, NIKLAS, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd.3, Frankfurt a.M. 1993, 315. N. LUHMANN, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 314.
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Breul kritisierte starke methodische Differenz zwischen dem Fremd- und Selbstverständnis religiöser Akteure. Die letztgenannte Unterscheidung der Innen- und Außenperspektive scheint mir allerdings bereits aus methodischen Gründen für eine soziologische Analyse und philosophische Geltungsreflexion von Religion konstitutiv und unverzichtbar. Allerdings ist zuzugeben, dass das radikal differenztheoretische Modell von Religion in bedeutungstheoretischer Hinsicht zur Folge hat, den Austausch zwischen religiösen und säkularen Semantiken nicht mehr als Verstehensprozess im gewöhnlichen Sinn aufzufassen. Die systemtheoretische und differenztheoretische Analyse von Religion betrachtet Fremdreferentialität als gesteigerte Selbstreferentialität, nicht als übergreifende Kommunikation mit dem anderen. Die Realität des anderen bleibt extern und wird nur als Stimulus zur Steigerung der Komplexität der Selbstreferenz verarbeitet. Ein differenztheoretisches Modell von Religion, wie es sich im Anschluss an Luhmann formulieren lässt, begreift die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Codes von Moral und Religion gerade als Steigerung der Binnenkomplexität und blendet die individuellen Überzeugungen und Erfahrungen der beteiligten Subjekte systematisch aus. Diese Entfremdungseffekte einer solchen distanzierten Beschreibung scheinen aber unvermeidlich, um das komplexe Verhältnis von Religion und öffentlicher Vernunft in der Gegenwart angemessen zu bestimmen. Auch Habermas hat ja in seinen maßgebenden Überlegungen zu „Glauben und Wissen“ darauf hingewiesen, dass unter „nachmetaphysischen“ Bedingungen religiöse Subjektivität, als bewusstes Zentrum religiösen Erlebens, gerade nicht mehr die Funktion erfüllen kann, Medium einer integrierenden Einbettung der autonomen Vernunftmoral in übergreifende Weltbilder zu sein. Religiöse Erfahrung ist „exzentrisch“ zu Erfahrungen jener normativen Ansprüche wie sie durch Recht und Moral verkörpert werden. Wie Habermas in seinen Überlegungen zu Kierkegaard eindrücklich darlegt, konfrontiert dieser auf radikale Weise „das nachmetaphysische Denken mit der unüberbrückbaren Heterogenität eines Glaubens, der die anthropozentrische Sicht des innerweltlich ansetzenden philosophischen Denkens kompromisslos leugnet“20. Dieser „neoorthodoxe Gegenzug zum anthropozentrischen
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HABERMAS, JÜRGEN, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in: Ders. (Hg.),
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Selbstverständnis der Moderne“21 schafft gerade in philosophischer Hinsicht erst die Voraussetzungen für eine angemessene Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens. Daher gilt es im Anschluss an Kierkegaard die Negativität und Paradoxie einer Strategie der religiösen Einbettung autonomer Vernunftmoral und positiven Rechts offenzulegen. Dieser existentialistischen Binnenperspektive Kierkegaards entspricht die funktionalistische Außenperspektive Luhmanns auf Religion unter Bedingungen radikalisierter Moderne und Säkularität. Danach markiert Religion die Unbestimmtheitslücke zwischen den durch die Sachlogiken von Moral, Politik und Recht festgelegten Normen und jenem Horizont unbestimmter Geltungsvoraussetzungen, die den jeweiligen als verbindlich festgelegten Normen unthematisch im Rücken bleiben. Zu wissen, dass wir zu einer Gattung vernünftiger Wesen gehören, mag als der unbestimmte Horizont jeder bestimmten moralischen oder juristischen Beurteilung angesehen werden. Jene moralische Erfahrung, die prinzipiell von allen autonomen Personen geteilt werden kann, ist gerade keine bestimmte ethische Erfahrung. Religiöses Bewusstsein ist gerade leer, unbestimmt, hat kein Bild vom Menschen im Unterschied zu den in ihrer Sachlogik wohl bestimmten und definiten ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen. Religiöses Bewusstsein hat nicht die Funktion, das Wesen der menschlichen Gattung zu bestimmen und zu veranschaulichen, sondern an seine Unbestimmtheit und Unanschaulichkeit zu erinnern. Es geht nicht um die ethische Einbettung autonomer Moral und positiven Rechts in die lebensweltlichen Kontexte dichter Beschreibungen, sondern um die Schärfung und Bearbeitung der Differenz zwischen autonomer säkularer Gesellschaft und Vernunft. Notwendig ist unter Bedingungen reflexiver Säkularisierung die Umstellung der gesellschaftlichen Funktion des religiösen Glaubens von Integrations- auf Differenzbewusstsein. Diese Bestimmung von Religion als Differenzbewusstein der Moderne unterscheidet sich zugleich von Fehlformen der Bestimmung dieses Verhältnisses im Horizont von Konzepten öffentlicher Vernunft, in denen diese Differenz entweder politisch überdramatisiert oder banalisiert wird. Diese
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Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, 216-257, 251. J. HABERMAS, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen, 244.
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Auffassung richtet sich also sowohl gegen abstrakt antagonistische Interpretationen, die Religion ausschließlich zum Vehikel partikularer Identitäten bestimmt, die gegen das prinzipielle Unrecht des Rechts rebellieren und das prinzipielle Recht der Besonderheit gegen die Allgemeinheit reklamieren. Es hält aber, auf rechte Weise, an der unaufhebbaren Differenz zwischen Religion und Recht fest und erhebt die Religion nicht in den Rang einer metaphysischen überpositiven und vorrechtlichen Grundlage des Rechts. Eine differenztheoretische Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Recht bietet somit eine Alternative zu jenem Amalgam von universaler Geltungsprätention religiöser Weltbilder in Gestalt des Naturrechts, die sich mit dem partikularen und antagonistischen Selbstbehauptungswillen einer Institution verbindet, die sich bewusst „entweltlichen“, also aus der säkularen Welt zurückziehen und gegen sie positionieren möchte. Im religiösen Differenzbewusstsein geht es vielmehr um die Konstitution und Bearbeitung der paradoxen Einheit von Einheit und Differenz, also jener Art von kognitiver und normativer Integration, kurz gesagt, um die Form von öffentlicher Vernunft, die postsäkulare, radikal ausdifferenzierte Gesellschaften noch auf reflexive Weise ausbilden können.
Religiöse Epistemologie und öffentliche Religion. Zum erkenntnistheoretischen Status religiöser Überzeugungen Eine Replik auf Thomas M. Schmidt M ARTIN B REUL
Eine der Kernfragen religionsphilosophischer Debatten der Gegenwart ist das Problem einer vernunftgemäßen Ortsbestimmung religiöser Überzeugungen in gesellschaftlichen und politischen, d.h. öffentlichen Diskursen. Thomas M. Schmidt hat in dieser gleichermaßen religionsphilosophisch wie gesellschaftlich relevanten Debatte einen innovativen und inspirierenden Ansatz vorgelegt, der Religion, jenseits einer liberalen Privatisierung oder einer postsäkularen Funktionalisierung, einen genuin eigenen, öffentlich relevanten Ort zuweist, indem er ihre Rolle als ‚Marker‘ von Differenz und Unverfügbarkeit bestimmt. 1 Mein Beitrag hat eine doppelte Zielsetzung: Zum einen werde ich in kritisch-rekonstruktiver Absicht die Reichweite der komplexen Position Schmidts zu Religion als Differenzbewusstsein analysieren. Zum anderen werde ich, nachdem die bloße Markierung von formaler Differenz als einzige Funktion der Religion in zeitgenössischen Gesellschaften als fragwürdig zurückgewiesen wird, versuchen, weitere und umfassendere Potenziale der Religion für postsäkulare liberale Gesellschaften auszuloten. Die
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Vgl. SCHMIDT, THOMAS M., Religiöser Glaube und öffentliche Vernunft. Reflexive Säkularisierung und Differenzbewusstsein, in diesem Band, 155-171. Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Artikel.
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Kernthese des Beitrags ist dabei, dass letztlich Fragen der Religiösen Epistemologie die Grundierung der gesellschaftstheoretischen Fragestellung nach religiösen Überzeugungen in spätmodernen Gesellschaften liefern. Ich skizziere darum abschließend ein Modell der Rechtfertigung religiöser Überzeugungen, welches über die drei Schmidt’schen Optionen Privatisierung – Übersetzung – Differenzbewusstsein hinausgeht und die Potenziale der Religion wertzuschätzen vermag, ohne blind für die Risiken einer öffentlichen Religion zu werden oder sie zu bloßen Sinnlieferanten zu funktionalisieren.
1. R ELIGION ALS D IFFERENZBEWUSSTSEIN ? ANFRAGEN AN T HOMAS M. S CHMIDT Der Beitrag von Thomas M. Schmidt unternimmt den herausfordernden und anspruchsvollen Versuch, das überaus komplexe Verhältnis von Religion und demokratischer Öffentlichkeit, bzw. das Verhältnis von religiösen Überzeugungen und den politischen Diskursen spätmoderner, pluralistischer und liberaler Gesellschaften, zu beleuchten. Sein Vorschlag lautet, dass Religionen als Marker eines Differenzbewusstseins wichtige Funktionen in pluralisierten Gesellschaften übernehmen, ohne zugleich materiale Normen begründen zu können. Damit geht er sowohl über die latent paternalistische liberale Idee hinaus, Religionen einfach zur Privatsache zu erklären, als auch über die Habermas’sche Idee einer kooperativen Übersetzung. Beide verstehen religiöse Überzeugungen als letztlich defiziente bzw. nicht allgemein teilbare Überzeugungen, wohingegen Schmidt auf einer Eigenlogik des Religiösen beharrt und diese implizite Abwertung religiöser Überzeugungen vermeidet. In dieser Hinsicht handelt es sich um einen innovativen Appell an religiöse Bürgerinnen und Bürger, sich der möglichen Rollen und Funktionen ihrer religiösen Überzeugungen bewusst zu werden: Religiöse Überzeugungen können nicht mehr als Begründungsfiguren für Moral, Recht oder eine bestimmte Staatsform herangezogen werden, da diese ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Schmidt geht aber noch weiter und sagt, dass diese ethisch ausgedünnte, vielleicht etwas spröde säkulare Vernunft nicht einmal mehr eingebettet werden sollte in umfassende religiöse Narrative, Auffassungen des Guten oder auch motivationale religiöse Gründe. Vielmehr sollen religiöse Überzeugungen allein aufgrund ih-
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rer Unterschiedenheit von autonomen Überzeugungen die Eigenständigkeit und Nicht-Angewiesenheit eines liberalen und säkularen Staates auf religiöse Überzeugungen aufzeigen. Gerade darin liege ihre Funktion, weil es durch die Markierung von Unterschieden gelinge, die Eigengesetzlichkeit autonomer Gründe aufzuzeigen: „Nun wird überdeutlich, dass die Funktion von Religion nicht länger in der Repräsentation von Integration und der Einbettung einer vermeintlich abstrakten Vernunftmoral und eines positiven Rechts zu sehen ist, sondern in der Beförderung des Bewusstseins der autonomen Eigenlogik von Recht und Moral.“ (167) Dieser Vorschlag ist nicht nur systematisch bereichernd, sondern auch historisch überaus anschlussfähig. Ich kann hier nicht auf Einzelheiten eingehen und möchte mich nicht auf die feinen Verästelungen einer HegelExegese einlassen, jedoch scheint mir die Rahmung der Position Schmidts durch die beiden philosophiegeschichtlichen Paten Hegel und Kierkegaard ausgesprochen attraktiv zu sein. Auch die Absage an antagonistische Modelle von Demokratie, die dem öffentlichen Diskurs jegliche epistemische Dimension rauben und das re-sakralisierte Politische als Ränkespiel von mächtigen Interessenvertretern betrachten, ist überzeugend, insbesondere durch den begriffshistorischen Nachweis, dass die Rede von einer ‚Heiligkeit des Rechts‘ eben gerade nicht seine religiöse Aufladung, sondern seine ‚quasi-göttliche‘, d.h. autonome vernünftige Geltung meinte. Der problematischen Renaissance, die beispielsweise ein Autor wie Carl Schmitt derzeit erlebt, wird hier das Fundament entzogen: Eine Redeweise von ‚vorpolitischen‘ Grundlagen des Staates oder der ‚Heiligkeit des Rechts‘ impliziert keinesfalls die Notwendigkeit einer Reaktivierung eines kryptotheologischen, substanziell verstandenen Begriffs des ‚Politischen‘.2 Die Unaufgebbarkeit von Autonomie und Subjektivität werden von Schmidt gegen jede neokonservative oder dekonstruktivistische Lesart von Politik überzeugend in Stellung gebracht. Bei aller inhaltlichen Nähe möchte ich aber zugleich auf einige begriffliche Unklarheiten bzw. diskussionswürdige Punkte in Schmidts Ansatz hinweisen, die weniger als Kritik zu verstehen sind denn als Anfragen und Hinweise auf Begründungslücken in argumentativen Schnittstellen. Ich
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Vgl. dazu auch JÜRGEN HABERMAS, ‚Das Politische‘ – Der vernünftige Sinn eines zweifelhaften Erbstücks der Politischen Theologie, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken II, Berlin 2012, 238-256.
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werde insgesamt vier Anfragen formulieren: Erstens möchte ich hinterfragen, ob Schmidts Analyse der Entwicklung des weltanschaulichen Pluralismus tragfähig ist. Zweitens ist es m.E. nicht ausgemacht, dass die vorgetragene Analyse der Funktion religiöser Überzeugungen kompatibel mit der Selbstbeschreibung religiöser Individuen ist. Drittens lässt sich anfragen, inwiefern die stark systemtheoretisch angelegte Beschreibung der Systeme Religion, Moral und Recht angemessen ist, und schließlich viertens, ob nicht zwei Arten der Verwendung des Begriffs „Differenz“ bzw. „Differenzbewusstsein“ vorliegen, deren Unterschiedlichkeit nicht hinreichend gekennzeichnet wird.
Die Entwicklung des weltanschaulichen Pluralismus Schmidt unterscheidet in seinem Ansatz drei Reflexionsschübe bzw. „Stufen“ (159) der Entwicklung des Verhältnisses von liberalem Rechtsstaat und religiösen Überzeugungen. Zunächst identifiziert er die liberale Trennung von Religion und Politik, die sich paradigmatisch im Politischen Liberalismus John Rawls’ äußert, sodann eine postsäkulare ‚Zwischenstufe‘, in der die Notwendigkeit einer kooperativen Übersetzung religiöser Gehalte in säkulare Sprache postuliert wird, und schließlich die dritte Stufe einer Betonung der Andersartigkeit von Religion, die nicht länger als einigendes Band der Gesellschaft, sondern nur noch als Signal für die Eigenlogik von Recht und Moral fungiert. Mir ist nicht ganz klar, ob diese Beschreibung einer stufenartigen Entwicklung bedeutet, dass diese Stufen der Entwicklung von Säkularisierung im Sinne einer fortschreitenden und immer fortschrittlicheren Entwicklung zu sehen sind. Falls das der Fall ist, liegt der Einwand nahe, hier eine spezifisch westlich-europäische Form der Säkularisierung und religiösen Pluralisierung zu einem allgemeinen Gesetz des Fortschrittes der Menschheit zu machen. Diese nicht sehr wohlwollende Lesart des Ansatzes würde bedeuten, dass die implizierten Stadien der Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit ein essenzialistisches, fortschrittsgläubiges Konzept wären, so als ob manche Gesellschaftsformen noch archaischreligiöse Formen wären, andere schon liberal oder postsäkular, und schließlich einige besonders weit entwickelte Gesellschaften eben Differenzbewusstseins-Gesellschaften. José Casanova hat überzeugend gezeigt, dass die Tendenz, verschiedene Stufen der Entwicklung einer Gesellschaft an-
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zunehmen, die linear durchlaufen werden, dem komplexen Phänomen der Säkularisierung nicht gerecht wird.3 Es ist z.B. unplausibel, entweder die europäischen oder die amerikanischen Wege des Umgangs mit Religionen in pluralistischen Gesellschaften als ‚Sonderweg‘ auszuzeichnen, da die Annahme eines Sonderwegs immer noch eine Art Standardentwicklung impliziert, von der dann entweder Europa oder Amerika abweichen. Vielmehr ist es notwendig, die subkutan wirksame Annahme einer fortlaufenden, stadialen Gesellschaftsentwicklung hinter sich zu lassen: „Europäer neigen dazu, ihre eigene Säkularisierung, das heißt den verbreiteten Niedergang religiöser Ansichten und Praktiken in ihrer Mitte, als natürliches Ergebnis ihrer Modernisierung zu erfahren. […] In dieser Hinsicht tendiert die durch dieses historische Stadialbewusstsein vermittelte Säkularisierungstheorie dazu, als Prophezeiung zu wirken, die sich selbst erfüllt.“4 In diesem Sinne ist die Redeweise einer stufenartigen Entwicklung problematisch, zumal mit der Konstruktion von Entwicklungsstufen notwendigerweise Vereinfachungen einhergehen: So ist es beispielsweise nicht ausgemacht, dass die „beiden ersten Stufen der Neutralisierung und der kooperativen Übersetzung […] sich noch weitgehend innerhalb der Vorstellung eines einheitlichen Rahmens, der durch nationalstaatliche Begrenzung oder einen homogenen kulturellen Horizont eindeutig bestimmt ist“ (159), bewegen. Die Annahme eines quasi zivilreligiösen Hintergrundkonsenses, die sowohl Rawls’ Konzept einer öffentlichen Vernunft als auch Habermas’ Übersetzungsvorbehalt unterstellt wird, ist m.E. fragwürdig. 5
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Vgl. JOSÉ CASANOVA, Die Erschließung des Postsäkularen. Drei Bedeutungen von ‚säkular‘ und deren mögliche Transzendenz, in: Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.), Postsäkularismus. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/ New York 2015, 9-39. Casanova illustriert seine begrifflichen Differenzierungen hinsichtlich des Begriffs des Säkularismus mit Hilfe einer Reihe von eindrucksvollen Fallstudien, die eine bemerkenswerte Pluralität im Umgang verschiedener Staaten und Gesellschaften mit Religionsgemeinschaften aufzeigen und nahelegen, die Auszeichnung einer bestimmten (z.B. der europäischen) Form der Säkularisierung als ‚Standardform‘ der Entwicklung aufzugeben. EBD., 16. Diese Annahme ist in meinen Augen weder werkexegetisch gerechtfertigt – sowohl Rawls als auch Habermas würden sich wahrscheinlich dagegen wehren, in ihren Konzeptionen einen „homogenen kulturellen Rahmen“ (158) zu implizieren; noch beachtet sie in historischer Perspektive die Ausdifferenziertheit des nachreformatorischen religiösen Pluralismus.
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Zur Selbstbeschreibung religiöser Individuen Ich bin, zweitens, nicht sicher, ob die von Schmidt entworfene Skizze von inhaltlich entleerten, differenzbewusstseinschaffenden religiösen Überzeugungen der Selbstbeschreibung religiöser Individuen gerecht wird. Was ist mit solchen Bürgerinnen und Bürgern, die nach einer „religiously integrated existence“6 streben, d.h. die sich nicht damit abfinden wollen, dass ihre religiösen Überzeugungen nur ein System unter vielen anderen darstellen, welches nur für bestimmte Bereiche z.B. der Kontingenzbewältigung oder der Markierung von Differenz zuständig ist? Auch wenn dieser Anfrage ein zugegebenermaßen durchaus streitbares Verständnis von religiöser Identität zu Grunde liegt, lässt sie sich doch weiterspinnen zu einer Rückfrage an die geltungstheoretische Reichweite des Ansatzes im Ganzen: Ist es der Anspruch der vorgelegten Analyse religiöser Überzeugungen, die Tiefenstruktur bzw., mit Wittgenstein gesprochen, die Grammatik aller religiösen Überzeugungen offen zu legen und auch religiösen Hardlinern nachzuweisen, dass sie eigentlich Überzeugungen vertreten, die maximal Differenzbewusstsein, aber keine umfassenden politischen Normen begründen können; oder soll ein Ideal formuliert werden, wie religiöse Bürgerinnen und Bürger ihre religiösen Überzeugungen in pluralistischen Gesellschaften verstehen sollten, auch wenn viele von ihnen das derzeit so gar nicht tun? Anders formuliert: Handelt es sich um einen erkenntnistheoretischen Anspruch, der die Struktur religiöser Überzeugungen erhellen möchte, oder um einen politisch-philosophischen Anspruch, der die Kompatibilität religiöser Überzeugungen für pluralistische Gesellschaften untersucht und ein Appell an religiöse Bürgerinnen und Bürger formuliert, ihre Reflexionsleistungen so zu steigern, dass sie die Markierung von Differenzbewusstsein als einzige angemessene Rolle ihrer religiösen Überzeugungen in pluralistischen Gesellschaften anerkennen?
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NICHOLAS WOLTERSTORFF, Why We Should Reject What Liberalism Tells Us about Speaking and Acting in Public for Religious Reasons, in: Weithman, Paul J. (Hg.), Religion and Contemporary Liberalism, Notre Dame 1997, 162-181, hier: 177.
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Die Angemessenheit einer systemtheoretischen Analyse Die Redeweise von der Eigenlogik bestimmter Systeme, wie z.B. der Rechtsprechung, der Moral oder auch der Religion macht, wie Schmidt selbst sagt, starke Anleihen bei der Luhmann’schen Systemtheorie. Ich möchte dafür argumentieren, dass diese Theorie keineswegs unhinterfragt als angemessene Beschreibung (und erst recht nicht als normative Theorie) spätmoderner Gesellschaften dienen kann, da sie die Durchlässigkeit verschiedener Systeme unterschätzt. Warum soll es nicht möglich sein, auch materiale semantische Gehalte aus religiösen Überzeugungen in eine allgemein teilbare Sprache zu übersetzen, so dass aus religiösen Überzeugungen mehr in die säkulare Öffentlichkeit hinein diffundieren kann als nur das inhaltsleere Bewusstsein ihrer radikalen Andersartigkeit? Es könnte problematisch sein, ausschließlich die Differenz religiöser Überzeugungen zu betonen und damit ihre unbestreitbaren inhaltlichen Beiträge zu öffentlichen Diskursen eventuell vorschnell zu beschneiden. Meines Erachtens ergibt sich durch die systemtheoretisch angelegte Analyse also die Gefahr, die gesellschaftskritischen Potenziale von Religion durch die Betonung ihrer radikalen Differenz aus der Öffentlichkeit auszuklammern und damit zu verschenken. Es ist zudem auch auf einer beschreibenden Ebene nicht sinnvoll, von einer derartigen Trennung von religiösen und moralischen oder politischen Überzeugungen auszugehen – ihrer Struktur nach könnten sich diese Überzeugungen ähnlicher sein als im Ansatz von Schmidt impliziert. Diese Anfragen an die deskriptive und normative Adäquatheit der Luhmann’schen Systemtheorie verweisen bereits auf die epistemologischen Überlegungen zum erkenntnistheoretischen Status religiöser Überzeugungen, die ich im zweiten Teil dieses Artikels skizzieren werde. Zwei Verwendungen des Begriffs „Differenzbewusstsein“ Meine vierte und letzte Anfrage an den Ansatz von Schmidt basiert auf dem Verdacht, es hier mit zwei Verwendungsweisen der Begriffe „Differenz“ bzw. „Differenzbewusstsein“ zu tun zu haben. Zum einen werden Religionen verstanden als Elemente, die das Bewusstsein der Unbestimmtheit und Unverfügbarkeit des Menschen und seiner unantastbaren Würde wach hal-
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ten, da sich keine Essenz der menschlichen Natur oder kein Wesen der Gattung Mensch angeben lassen kann. Hier schaffen Religionen legitimerweise Bewusstsein für Differenz im Sinne einer letztlichen Unverfügbarkeit, welches gerade in pluralistischen und durchökonomisierten Gesellschaften wichtig ist. Der Differenzbegriff wird jedoch auch auf eine andere, bedeutend umfassendere Art und Weise verwendet: Religionen fungieren nicht länger als ethisch-umfassende Einbettung einer universalen Vernunftmoral, sondern legen durch ihre radikale Andersheit die Autonomie der säkularen Rechtsprechung und die Eigenlogik einer vernünftigen Moral offen. Hier sollen Religionen also nicht Differenzbewusstsein im Sinne einer Mahnung an die Unverfügbarkeit des Menschen, sondern im Sinne einer umfassenden Abgrenzung schaffen: Durch ihre inhaltlich unüberbrückbaren Differenzen werden Religion und Moral zu zwei Systemen mit eben jener Eigenlogik stilisiert. Ich möchte anfragen, ob dieses zweite, weitaus umfassendere Verständnis von Differenzbewusstsein nicht dazu tendiert, Religion und Moral als zwei inkommensurable Sphären zu betrachten, zwischen denen kein Austausch stattfinden kann, nicht einmal auf motivationaler Ebene oder in der Übersetzung von religiös grundierten Normen in allgemein teilbare Sprache. Dies scheint durch die affirmative Rezeption der Kierkegaard’schen Religionsphilosophie durch Schmidt zumindest nahe gelegt zu werden. Jedoch ist die Kierkegaard’sche Auffassung von religiösen Überzeugungen als dem Anderen der Vernunft, in das man unter Aufopferung des Verstandes springen müsse, eine nicht besonders plausible Extremposition.7 Hier wäre sicherlich Klärungsbedarf, inwiefern das Verständnis von religiösen Überzeugungen als differenzbewusstseinschaffenden Überzeugungen die Kierkegaard’sche Religionsphilosophie voraussetzen muss, zumal fraglich ist, ob dann nicht auch Esoteriker, Astrologen oder Sektenmitglieder, die ebenfalls eine radikale Andersheit gegenüber vernünftigem Recht und autonomer Moral ausdrücken, diese Funktion von Religion gleichermaßen ausüben könnten. Zudem bestünde in dieser zweiten Lesart von „Differenzbewusstsein“ die Gefahr, Religionen zur reinen Privatsache zu machen – wer inhaltlich gar nichts beizutragen hat und auch
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Vgl. exemplarisch SÖREN KIERKEGAARD, Die Krankheit zum Tode, Hamburg 1991, 37f.; DERS., Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken: Zweiter Teil (Ges. Werke 10.2), Gütersloh 1994, 314f.
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nicht für motivationale Gründe, die Einbettung demokratischer Identitäten in umfassende Kontexte o.ä. zuständig ist, sondern nur ex negativo die radikale Andersartigkeit säkularer Systeme anzeigen kann, hat, überspitzt formuliert, in der demokratischen Öffentlichkeit nichts verloren. Als Zwischenfazit möchte ich meine Rückfragen an Schmidts Ansatz kurz zusammenfassen: Erstens wäre meines Erachtens zu klären, ob in der Rede von Stufen der Reflexivität der Säkularisierung nicht ein kontingenter Prozess der weltanschaulichen Pluralisierung, wie er im Westen stattgefunden hat, zu einer allgemeinen Aussage überhöht wird. Zweitens bin ich mir nicht sicher, ob mit dem Vorschlag, Religionen als Kontrastmittel, d.h. als Markierer der Eigengesetzlichkeit unterschiedlicher Systeme, die Selbstzuschreibung einer großen Zahl religiöser Bürgerinnen und Bürger eingeholt werden kann. Drittens möchte ich die Adäquatheit einer systemtheoretisch angelegten Analyse hinterfragen und dafür argumentieren, dass inhaltlich wertvolle Beiträge zu öffentlichen Diskursen unnötigerweise beschnitten werden könnten. Schließlich ist es, viertens, in meinen Augen nicht ganz klar, wie genau der Differenzbegriff zu verstehen ist: als Metapher für die Unverfügbarkeit von personalen Individuen, oder als umfassende Kennzeichnung der Religion als ein radikal anderes System mit inkommensurabler Eigenlogik. Jenseits dieser kritischen Anfragen, die die Identifizierung von Differenzbewusstsein als einzige Funktion von Religionen in spätmodernpostsäkularen Gesellschaften als fragwürdig markieren, möchte ich in einem zweiten Schritt darlegen, in welchem Verhältnis religionspolitische Debatten und Fragen einer religiösen Epistemologie stehen. Mein Verdacht, der diesen Schwenk zur religiösen Epistemologie motiviert, ist, dass Schmidt die kognitiven Potenziale der Religion, die durchaus diskursiv verhandelbar sein und gesellschaftskritische Impulse für eine demokratische Öffentlichkeit bieten können, durch die Betonung der radikalen Alterität religiöser Überzeugungen nicht ausschöpft. Es stimmt zwar, dass es unmöglich ist, ein einheitliches inhaltliches Wesen religiöser Überzeugungen zu definieren; es ist m.E. jedoch falsch, daraus abzuleiten, dass es „leer und unbestimmt“ (170) ist.
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2. Ö FFENTLICHE R ELIGION UND RELIGIÖSE E PISTEMOLOGIE Wenn Religionen nicht bloße Marker von Alterität oder Differenz, sondern kritische öffentliche Instanzen sein sollen, die auch inhaltlichen Input für den öffentlichen Diskurs liefern, dann ist zu fragen, welche epistemologischen Vorannahmen und Unterstellungen mit einer solchen Auffassung einhergehen. Im Kern stellen sich hier zwei Fragen: Zum einen sollte geklärt werden, welche epistemische Struktur religiöse Überzeugungen haben. Welche Elemente sind konstitutiv für sie und inwiefern unterscheiden sie sich von anderen Überzeugungen? Zum anderen ist fraglich, welches Konzept von ‚Öffentlicher Vernunft‘ angemessen ist: Lässt sich der universalistische Charakter der Vernunft aufrechterhalten, wenn man ihre unhintergehbare Kontextgebundenheit berücksichtigt? Welche Kriterien der (religiösen) Urteilsbildung, die jenseits der je partikularen religiösen Traditionen angesiedelt sind, könnten verteidigt werden? Ich komme zunächst zur Frage nach der epistemischen Struktur religiöser Überzeugungen: Die kritischen Potenziale der Religion können nur dann öffentliche Relevanz entwickeln, wenn religiöse Überzeugungen eine epistemische Struktur haben, die diskursiv zugänglich ist, d.h. wenn sie propositionale Elemente haben, über deren Rationalität sinnvoll verhandelt werden kann.8 Ohne sich die funktionalistischen Verengungen eines Über-
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Auf diese Annahme wäre zum einen die ‚postsäkulare‘ Übersetzungsforderung Habermas’ festgelegt, welche zwar die Sinnhaftigkeit einer rettenden Aneignung religiöser Potenziale für öffentliche Diskurse auf praktischer Ebene betont, aber auf theoretischer Ebene an einer strikten Grenze zwischen den Sphären von Glauben und Wissen insistiert, wodurch eine problematische Asymmetrie in der Betrachtung religiöser Überzeugungen entsteht (vgl. zur Begründung einer strikten Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen J. HABERMAS, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt 2005, 216-257; vgl. zur ausführlichen Analyse der skizzierten Aporie BREUL, MARTIN, Religion in der politischen Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung, Paderborn 2015, 145-173; vgl. zu dieser Lesart Habermas’ kritisch WEBER, ANNE, Religion im postsäkularen Diskurs. Anmerkungen aus interreligiöser Perspektive, in diesem Band, 257-288). Zum anderen ist aber auch eine systemtheoretische Analyse konzeptionell nicht dazu in der Lage, Übersetzungen zwischen verschiedenen eigengesetzlichen Systemen einzufordern. Es ist zwar kon-
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setzungsvorbehalts zu eigen machen zu müssen, kann eine Analyse der fundamentalen epistemischen Struktur religiöser Überzeugungen dazu dienen, ihre politischen Potenziale fruchtbar zu machen, ohne zugleich die Grenzen zwischen autonomen Vernunfterkenntnissen und Glaubenssätzen aufzuweichen. Gefordert ist lediglich die Einsicht in die Unterscheidung „zwischen dem […], was Menschen moralisch voneinander fordern können, und dem, was für sie vielleicht bedeutsamer ist, nämlich Auffassungen davon, was ein Leben lebenswert und gut macht.“9 Damit sind jedoch Vorentscheidungen einer religiösen Epistemologie getroffen: Religiöse Überzeugungen (und generell Auffassungen über das gute Leben) sind so beschaffen, dass sie zwar sinnvollerweise verhandelt, aber zugleich nicht, wie z.B. moralische Normen, allgemein verbindlich gemacht werden können. Dies erklärt sich durch die unhintergehbare Doppelstruktur religiöser Überzeugungen, die sich sowohl durch die Dimension des Glaubensaktes (faith) als auch des Glaubensinhalts (belief) auszeichnen. Eine authentische religiöse Überzeugung erschöpft sich nicht im bloßen Für-Wahr-Halten bestimmter propositionaler Sätze, sondern ist durch eine existenzielle praktische Dimension (faith) gekennzeichnet, die auch als Haltung oder Einstellung zur Welt im Ganzen bezeichnet werden kann. Dieser performative Aspekt, der religiösen Überzeugungen eignet, ist jedoch begleitet durch inhaltliche Auffassungen und Überzeugungen über die Beschaffenheit der Welt (belief). Religiöse Überzeugungen sind nicht ausschließlich performative Praxis, sondern enthalten kognitiv gehaltvolle Elemente, die eine religiöse Praxis autonom begründen können. Beide Elemente religiöser Überzeugungen, die regulativ-expressive Komponente und die kognitiv-propositionale Komponente, sind gleichursprünglich und nicht aufeinander reduzierbar. 10
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sistent, Religion systemtheoretisch nur als Marker von Alterität zu verstehen; dies verschenkt aber, wie oben skizziert, die Potenziale der inhaltlich relevanten öffentlichen Beiträge von Religionsgemeinschaften. RAINER FORST, Toleranz im Konflikt, Frankfurt a.M. 2007, 23. Vgl. zu dieser Analyse M. BREUL, Religion in der politischen Öffentlichkeit, 175191; MALY, SEBASTIAN, Glauben und Wissen, in: Schmidt, T.M. / Pitschmann, A. (Hg.), Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014, 291-304; WENDEL, SASKIA Glauben statt Wissen. Zur Aktualität von Kants Modell des ‚praktischen Vernunftglaubens‘, in: Wasmaier-Sailer, Margit/ Göcke, BenediktPaul (Hg.), Idealismus und natürliche Theologie, Freiburg/ München 2011, 81-103; VON STOSCH, KLAUS, Was sind religiöse Überzeugungen?, in: Joas, Hans (Hg.), Was
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Die performativ-propositionale Doppelstruktur religiöser Überzeugungen ist verantwortlich dafür, dass die propositionalen Gehalte religiöser Überzeugungen intersubjektiv und diskursiv verhandelt werden können – keinesfalls sind sie opak oder ausschließlich aufgrund ihrer radikalen Andersheit relevant. Zugleich sind religiöse Überzeugungen unterscheiden von autonomen Vernunfterkenntnissen: Weil sie eine unhintergehbare, existenziell-praktische Dimension haben, können sie nicht allgemein verbindlich gemacht werden. Ihre Wahrheit kann nicht in rationalen Verfahren ‚andemonstriert‘ werden, vielmehr bedarf die Anerkennung religiöser Überzeugungen eben auch der praktischen Dimension des faith. Wenn Religionen dergestalt als kognitiv zugängliche und diskursiv verhandelbare Überzeugungssysteme verstanden werden, die sich zugleich nicht in autonomer Vernunfterkenntnis erschöpfen, ist damit eine Absage an die Extrempositionen des Fideismus und des Rationalismus verbunden. Religion ist weder allein auf autonome Erkenntnisse der Vernunft rückführbar (dies wäre das Missverständnis des Rationalismus), noch einer diskursiv-vernünftigen Erörterung ihrer Geltungsansprüche unfähig (dies wäre das Missverständnis des Fideismus). Es ist nicht sinnvoll, Religion als ein opakes Anderes der Vernunft zu betrachten, welches sich ausschließlich durch seine radikale Andersheit zur Vernunft bestimmt.11 Vielmehr können religiöse Überzeugungen kognitive Gehalte haben, über die es durchaus sinnvolle Diskurse geben kann und die öffentlichkeitsrelevante und politisch bedeutsame Inhalte jenseits der formalen Markierung von Differenz in sich tragen können. Neben diesen Vorannahmen zur epistemischen Struktur religiöser Überzeugungen ist eine zweite Kernfrage relevant, die sich auf die Einheitlichkeit der menschlichen Vernunft bezieht: Variieren die Standards der Bewertung von Überzeugungen mit den jeweiligen Systemen bzw. Sprachspielen, innerhalb derer sich bestimmte Überzeugungen artikulieren, oder gibt es kontextübergreifende Minimalkriterien der allgemeinen Vernunft, die als Mindeststandards der Vernünftigkeit für alle Überzeugungen gleichermaßen gelten?
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sind religiöse Überzeugungen? (Preisschriften des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover I), Göttingen 2003, 103-146. Vgl. dazu ausführlich HÖHN, HANS-JOACHIM, Praxis des Evangeliums – Partituren des Glaubens. Wege theologischer Erkenntnis, Würzburg 2015.
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Wenn religiöse Überzeugungen öffentliche Relevanz für sich beanspruchen möchten, ist in meinen Augen nur die zweite Option gangbar. Auch wenn die Vielfalt der Stimmen der Vernunft unbestreitbar ist, ist es m.E. zugleich eine zwingende Annahme, einen integrierenden Rahmen verschiedener Sprachspiele und Weltdeutungssysteme zu postulieren, der kommunikativ-formale Vernunft genannt werden kann.12 So wird sowohl ein material ausgestaltetes und in diesem Sinne nur schwer universalisierbares, weil unzeitgemäß substanzielles Konzept der Vernunft ausgeschlossen; als auch eine Aufspaltung verschiedener Weltdeutungssysteme in inkommensurable Sphären vermieden, die keinerlei kritischen Vergleich, Übersetzungsleistungen oder Dialog ermöglicht, weil sprachspielexterne Kriterien der diskursiven Bewertung dieser Sphären fehlen. In genau diese Falle der Unmöglichkeit einer kontexttranszendenten Kritik laufen Ansätze, die auf der Systemtheorie Luhmanns aufbauen. Religionspolitische Konflikte lassen sich jedoch mit Verweisen auf die Eigenlogik von (religiösen) Systemen kaum lösen, da dergestalt ein Dialog konzeptionell verunmöglicht wird, geschweige denn die kritischen Potenziale von Religion öffentlich wahrgenommen oder religiöse Fundamentalismen auf vernünftiger Basis kritisiert werden können. Der hier bisher entwickelte Gedankengang nahm die Struktur religiöser Überzeugungen und ihr Verhältnis zu Standards der vernünftigen Rechtfertigung quasi von außen, aus einer externen Perspektive in den Blick. Wechselt man diese Perspektive und schaut innertheologisch, welche genuin theologischen Herausforderungen sich aus einem Beharren auf der öffentlichdiskursiven Relevanz religiöser Überzeugungen ergeben, so ist an erster Stelle die keineswegs unkontroverse Frage nach der Notwendigkeit einer Kriteriologie religiöser Urteilsbildung zu stellen. Es bedarf, wenn man die verschiedenen konkreten religiösen Sprachspiele nicht zu miteinander inkompatiblen, inkommensurablen Bereichen stilisieren möchte, einer Bestimmung von Minimalstandards der diskursiven Vernunft, an denen sich alle religiösen Aussagen messen lassen müssen. Die Kriterien der Vernünftigkeit bestimmter religiöser Sprachspiele können nicht aus den jeweiligen religiösen Sprachspielen selbst rekonstruiert werden, sondern bedürfen ei-
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Vgl. dazu HABERMAS, JÜRGEN, Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, in: Ders., Philosophische Texte Band V: Kritik der Vernunft, Frankfurt 2009, 117-154.
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ner kontexttranszendenten, in diesem Sinne externen Rekonstruktion. 13 Andernfalls wäre eine wichtige epistemische Dimension des öffentlichen Diskurses untergraben, da eine wechselseitige Verständigungsorientierung ohne die Unterstellung der Annahme dieser externen Kriterien sinnlos wäre. Dauerhafte öffentliche Präsenz ist nur von durch geteilte Minimalstandards der diskursiven Vernunft überlappenden Ausprägungen religiöser Lebenswelten zu erwarten, nicht aber von verkapselten und sich ausschließlich in eigengesetzlichen ‚Logiken‘ vollziehenden Systemen.14 Der naheliegende Einwand, religiöse Gewissheiten unter den Vorbehalt einer weltlichen Vernunft zu stellen, geht fehl: Eine vermeintliche Gewissheit, für die sowohl keine vernünftigen Gründe sprechen und die auch minimale Standards wie interne Widerspruchsfreiheit, Anschlussfähigkeit an andere wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse oder die Kompatibilität zu basalen moralischen Standards nicht erfüllt, kann nicht als gerechtfertigt gelten. Wer dennoch an diesen Gewissheiten festhält, leidet entweder „an einer frommen Einfältig13
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Vgl. analog dazu die Ausführungen Saskia Wendels, die festhält, dass Glaubensüberzeugungen „vor dem Forum der Vernunft zu verantworten [sind]; sie sind in ihrem Geltungsanspruch nicht allein zu behaupten oder allein im Rückgriff auf Autoritäten, Traditionen oder Konventionen zu rechtfertigen, sondern im Rückgriff auf autonome Argumente, die prinzipiell von allen, auch von Nichtgläubigen, eingesehen werden können, zu begründen.“ (WENDEL, SASKIA, Glauben statt Wissen. Zur Aktualität von Kants Modell des ‚praktischen Vernunftglaubens‘, in: Wasmaier-Sailer, Margit/ Göcke, Benedikt-Paul (Hg.), Idealismus und natürliche Theologie, Freiburg/ München 2011, 81-103, hier: 97). Auch der Verweis auf eine ‚geteilte Lebensform‘, die das Ende der Begründung derartiger Kriterien darstellen soll, ist m.E. nicht zielführend: Letztlich ist eine solche Wittgenstein’sche Perspektive nicht in der Lage, Kritik auch an solchen Überzeugungen oder Praktiken zu üben, die allererst konstitutiv für eine bestimmte Lebensform sind. Man wäre in dieser Konzeption, die geteilte Lebensformen als das Ende der Begründung vernünftiger Kritik betrachtet, angewiesen auf das ‚Entgegenkommen‘ anderer Lebensformen, um diese überhaupt kritisieren zu können. Es ist m.E. weitaus plausibler, auch hier einen umfassend-integrativen Rahmen eines formalen Vernunftvermögens als vorgeschaltete Bedingung der Möglichkeit der Entwicklung verschiedener Lebensformen auszuzeichnen, als dieses Vernunftvermögen bereits als Bestandteil einer bestimmten (d.h. unserer) Lebensform zu verstehen. Die kontextuelle Verfasstheit unserer Begründungen in konkreten Lebensformen ist unbestreitbar, jedoch sollte die Notwendigkeit solcher Kontextualisierungen nicht zu einem Ende der Begründung in einer geteilten Lebensform stilisiert werden, wie es z.B. Wittgenstein tut (vgl. L. WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen, § 19 und § 241; DERS., Über Gewissheit, §§ 358-361 und §§ 411-414).
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keit, die Denkfaulheit mit Gottesfurcht verwechselt [oder] an einer überheblichen Selbstzufriedenheit, die Gedankenlosigkeit mit Gottesgewissheit verwechselt.“15 Ohne den strukturellen Rahmen einer integrativen, kommunikativ verfassten Vernunft ist es demnach auch innertheologisch schwierig, das Projekt einer vernünftigen Glaubensverantwortung nach außen und damit öffentlich zu betreiben.16 Wenn man diese Erkenntnisse einer zeit- und vernunftgemäßen religiösen Epistemologie bündelt und in Überlegungen zu religionspolitischen Konflikten einbezieht, ist es weder notwendig, Religion auf die Funktion des „Sinnlieferanten“ eines ansonsten entleerten nachmetaphysischen und krypto-neutralen öffentlichen Diskurses zu degradieren, noch sie als bloßen Marker einer Differenz oder der letztlichen Unverfügbarkeit personaler Existenz zu verstehen. Vielmehr haben religiöse Beiträge in der politischen Öffentlichkeit das Potenzial, genuine kritische Beiträge in konkreten politischen Fragen zu liefern. Das heißt nicht, dass religiöse Überzeugungen in dieser funktionalen Rolle aufgehen – dies wäre genau die Nutzbarmachung von Religion, die Schmidt am Habermas’schen Übersetzungsparadigma überzeugend kritisiert – sondern eher, dass Religionen neben einer Vielzahl an individuell-existenziellen und lebenspraktisch-orientierenden Dimensionen eben auch eine öffentliche bzw. politische Dimension haben. Diese Dimension ist keinesfalls gefährlich oder lästig, wie viele Ansätze des politischen Liberalismus insinuieren, sondern ein wichtiger und wertvoller Beitrag in den Öffentlichkeiten pluralistischer postsäkularer Gesellschaften.17
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HÖHN, HANS-JOACHIM, Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn 2007, 202. Eng verwandte epistemologische Differenzierungen, die um die Möglichkeit kontexttranszendenter Kritik bei gleichzeitiger Wahrung der unhintergehbaren Kontextualität konkreter religiöser Überzeugungen kreisen, werden unternommen in WEBER, ANNE, Religion im postsäkularen Diskurs. Anmerkungen aus interreligiöser Perspektive, in diesem Band, 257-288. Insbesondere die von ihr fokussierte Frage nach den Kriterien interreligiöser Urteilsbildung hat entscheidende Implikationen für das Projekt einer ‚Religiösen Epistemologie‘ im Ganzen. Klassische Beispiele für diesen liberalen Paternalismus in Bezug auf Religion wären RAWLS, JOHN, Politischer Liberalismus, Frankfurt 1998 oder AUDI, ROBERT, Religious Commitment and Secular Reason, Cambridge 2000. Die liberale Privatisierungsforderung ist paradigmatisch von Jürgen Habermas kritisiert worden, dessen Begriffsprägung der ‚postsäkularen Gesellschaft‘ nicht nur eine soziologische, sondern hauptsächlich eine philosophische These ist: die Philosophie kann Religion nicht als
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Schmidt in seinem Ansatz einen bedenkenswerten Vorschlag zu einer zeitgemäßen Verhältnisbestimmung von liberalem Rechtsstaat, öffentlichem politischen Diskurs und religiösen Überzeugungen in spätmodernen Gesellschaften vorlegt. Meine Überlegungen stellen nur Anfragen hinsichtlich begrifflicher Unklarheiten oder Begründungslücken dar, nicht aber fundamentale Kritik. In der Bestimmung religiöser Überzeugungen als Bewusstsein der Differenz zeigt sich ein gangbarer Weg zur Vermittlung von diskursiver politischer Öffentlichkeit und religiöser Identität in spätmodernen Gesellschaften, der jedoch leichtfertig mit den diversen Bedeutungsschichten und ‚Potenzialen‘ der Religion für eine spätmoderne liberale demokratische Öffentlichkeit umgeht. Hier wäre weitere konzeptionelle Arbeit im Rahmen einer zeitgemäßen Fassung einer religiösen Epistemologie notwendig, für die ich einige Vorüberlegungen skizziert habe. Die Beantwortung der Frage, welche Bedingungen religiöse Überzeugungen erfüllen müssen, um als gerechtfertigt zu gelten, ist sowohl innertheologisch von bleibender Relevanz als auch entscheidend für eine kritische Einordnung der öffentlichen und politischen Reichweite religiöser Überzeugungen.18
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ersetzbares und archaisches ‚Auslaufmodell‘ betrachten, sondern ist durch die kognitiven Gehalte der Religion bleibend herausgefordert. Vgl. exemplarisch J. HABERMAS, Glauben und Wissen, Frankfurt 2001, DERS., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt 2005, DERS., Nachmetaphysisches Denken II, Berlin 2012. Wie Schmidt an anderer Stelle formuliert, erhält die Religion in Habermas’ Denken genau wie in der zeitgenössischen Philosophie damit nicht nur ein „vorübergehendes Gastrecht“, sondern „vollständige Bürgerrechte“ (vgl. SCHMIDT, THOMAS M., Religiöser Diskurs und diskursive Religion in der postsäkularen Gesellschaft, in: Langthaler, Rudolf/ Nagl-Docekal, Herta (Hg.), Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas, Wien 2007, 322-340, hier: 330). Diese juristische Metapher steht jedoch in Spannung zur systemtheoretischen Analyse der Religion, wie sie in diesem Band vorliegt – in der systemtheoretischen Analyse gibt es keine übergreifende, integrative Instanz, die Religionen irgendwelche Rechte zusprechen kann, sondern nur eigengesetzliche, ‚autopoetische‘ Systeme, die aufgrund ihrer diversen ‚Logiken‘ füreinander jeweils Umwelt, aber keine Diskurspartner sein können. Vgl. dazu auch HABERMAS, JÜRGEN, Das Politische, 238f. Für Kontexte des Politischen führe ich eine solche Analyse durch in M. BREUL, Religion in der politischen Öffentlichkeit, 175-192.
Mitbegründer des öffentlichen Raums? Religion und öffentliche Vernunft in den Sozialphilosophien von John Rawls, Jürgen Habermas und Paul Ricoeur M AUREEN J UNKER -K ENNY
Die Frage nach religiösen Gründen im öffentlichen Diskurs – nach ihrer Berechtigung und ihrem Spezifikum – trifft auf unterschiedliche Konzeptionen des öffentlichen Raums, der Orte von Austausch, Diskurs und gegenseitiger Rechtfertigung und des Beitrags partikularer Traditionen oder Weltanschauungen. Ich möchte im Folgenden exemplarisch drei verschiedene philosophische Blicke zu Wort kommen lassen und untersuchen, wie sich in ihrem Gefüge die Legitimität religiöser Überzeugungen und die Rolle religiöser Traditionen im demokratischen Prozess der Meinungs- und Willensbildung darstellen. Als erstes untersuche ich die Auffassung von Religionsgemeinschaften und von philosophischen Schulen als „umfassende Lehren“, wie John Rawls sie in Political Liberalism entwickelt (1). Jürgen Habermas’ Neuentdeckung von Religionen als Interpretationsgemeinschaften mit „semantischem Potential“ für universalistische Diskurse in den Pathologien moderner Rationalisierung ist anschließend das Thema (2). Der dritte, hermeneutische Ansatz von Paul Ricoeur schließlich versteht religiöse Traditionen als Mitbegründer des öffentlichen Raums (3). Ich will diese Autoren unter drei Aspekten vergleichen: ihren Begriff der Vernunft, der Philosophie und ihrer Methoden (a), ihre Sicht von Grenzfragen der praktischen Vernunft zur Religion (b) und das aus ihrem allgemeinen Begriff der
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Vernunft resultierende Verständnis von öffentlicher Vernunft und ihrem Verhältnis zur Religion (c).
1. R ELIGIONSGEMEINSCHAFTEN UND PHILOSOPHISCHE S CHULEN ALS UMFASSENDE L EHREN IN J OHN R AWLS ’ P OLITISCHEM L IBERALISMUS a)
Bestimmungen der Vernunft und der Philosophie in Theorie der Gerechtigkeit und in Politischer Liberalismus
Von den Theorieentscheidungen, die für das Verhältnis von Religion und Vernunft relevant werden, möchte ich zunächst diejenigen beleuchten, die sich seit Theorie der Gerechtigkeit durchhalten (1) und dann diejenigen, die einen Neuanfang darstellen (2).1 (1) Grundlegende, seit Theory of Justice festgehaltene Rahmenbedingungen Eine erste Weichenstellung wird in der Wahl des Bezugspunktes von Gerechtigkeit vorgenommen: die Beschränkung auf die eigene Gesellschaft ist seit 1971 grundlegend und bleibt auch in der Erweiterung der Perspektive auf The Law of Peoples durchgängig. Der Rahmen der Gerechtigkeitstheorie ist der von Rousseau, nicht der kosmopolitische Rahmen Kants. 2 Wie
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RAWLS, JOHN, A, Theory of Justice, Cambridge 1971 (Zitate aus dem englischsprachigen Original, =TJ, im Text). RAWLS, JOHN, Political Liberalism, New York 1993 =PL). O’NEILL, ONORA, Bounds of Justice, Cambridge 2000, 72f, Anm. 19, mit Bezug auf RAWLS, JOHN, Political Liberalism, 49-51: „In developing a conception of ‚public reason‘ Rawls uses a term that is also central for Kant’s conception of reason. However, his account of public reason is more Rousseauian than Kantian, in that he sees it as the public reason of a particular people who are fellow-citizens in a bounded and closed society. By contrast, for Kant public reason must be able to reach ‚the world at large‘ and so cannot presuppose the shared assumptions of community or polity.“ Selbst wenn diese Mitbürger unterschiedliche Hintergrundkulturen und Weltanschauungen haben und Rawls’ Entwurf somit kein kommunitaristischer ist, sind sie
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wird nun innerhalb der Grenzen einer „bounded society“, die nicht zur Diskussion stehen, für Gerechtigkeit als „erster Tugend sozialer Institutionen“ (TJ, 3) argumentiert? Auch hier geht Kants universalistisches Erbe nur als Forderung der „impartiality“ in die Begründung der Gerechtigkeitstheorie ein. Sie wird dort von den Bedingungen des Urzustands übernommen: der „Schleier des Nichtwissens“ (TJ, 136-142) garantiert Unparteilichkeit, nicht die Akteure selbst, die durch das Eigeninteresse des rational choiceAnsatzes motiviert sind und die explizit kein Interesse aneinander nehmen. Für die Cambridger Philosophin Onora O’ Neill sind diese Kennzeichnungen der Gründungsväter „Idealisierungen“, d.h., sie gehören nicht zu logisch berechtigten Abstraktionen von konkreten Eigenschaften, sondern stellen nicht begründete und problematische Prämissen dar, die den Ausgang der Argumentation präjudizieren.3 Die zweite Basis für die Begründung der zwei Gerechtigkeitsprinzipien neben der reinterpretierten Sozialvertragstradition sind die „wohlüberlegten Überzeugungen“, die in ein „Reflexionsgleichgewicht“ (TJ, 20) mit den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit gebracht werden. Hier könnte ein Ort sein, das Erbe an Begriffen, Mentalitäten und Institutionen in der Entwicklung der europäischen Kultur einzubringen, die sich dem biblischen Monotheismus verdanken. Rawls geht diesen ideen- und institutionsgeschichtlichen Ursprüngen nicht weiter nach, wie auch der Münsteraner Philosoph Ludwig Siep beobachtet.4 Das kulturelle Reservoir, auf das die beiden Gerechtigkeitsprinzipien zurückgreifen können, bildet einen Resonanzboden und ein kohärentistisches Sicherheitsnetz. Die Frage an diesen zweiten Pfeiler der Begründung ist, als wie tragfähig oder angegriffen er sich herausstellen wird in Zeiten sozialen Wandels, wirtschaftlicher Rezession oder
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doch „Insider“; sie argumentieren partikularistisch, wenn sie sich auf die gemeinschaftlich geteilten Werte beziehen, wie O’Neill in Towards Justice and Virtue. A Constructive Account of Practical Reasoning, Cambridge 1996, 52, feststellt: „Particularist reasoning is intrinsically ‚insiders‘ reasoning.“ Sie halten Grenzen für selbstverständlich und akzeptieren sie als Vorgabe für die Reichweite ihrer Argumentation: „Those who see boundaries as the limits of justificatory reasoning will not take seriously [...] either the predicaments of those who are excluded or the alternatives for those who have been included“ (Bounds of Justice, 169). O’NEILL, ONORA, The Method of A Theory of Justice, in: Höffe, Otfried (Hg.), John Rawls – Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin 1998, 27-43, 30-37. SIEP, LUDWIG, Moral und Gattungsethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 111-120, 113, Anm. 5.
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der Verschärfung ideologischer Spaltungen in der „bounded society“. 5 Wie lassen sich Motivationen erneuern, unvertraute Herausforderungen wahrnehmen und die nachwachsenden und künftigen Generationen mit berücksichtigen, wenn von dem Überlegungsgleichgewicht zwischen persönlichen Überzeugungen und allgemeinen Prinzipien so viel für die Stabilität der gerechten Institutionen abhängt? Auch wenn Theorie der Gerechtigkeit Religionen nur im Rahmen der sozialen Vereinigungen erwähnt, denen Bürger angehören, so werden doch drei folgenreiche Bestimmungen getroffen, die den Horizont, zu dem Religionen beitragen können, beschränken: •
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1. der Rahmen des Verfassungsstaats, nicht der der Oikumene als der ganzen bewohnten Welt und der Erde als die den Menschen anvertraute Schöpfung; 2. die Annahme eines ursprünglichen Selbstinteresses im Urzustand, das sowohl das soziale Band als auch die moralische Verpflichtung als Erfahrung des einzelnen zumindest unterminiert, wenn nicht gar leugnet und ersetzt; 3. die Beschränkung auf Reziprozität, die Gerechtigkeit von der Ebene der Moralität auf die des Rechts verlagert.
Auch wenn Rawls mit seiner Betonung der Grundrechte und der „inviolability“ (TJ, 3), der Unverletzlichkeit des einzelnen, das Opferprinzip des Utilitarismus erfolgreich zurückweist, und auch wenn jeder Person ein Sinn für ihr Gutes und ein Gerechtigkeitssinn zugesprochen werden, so ist doch schon jetzt eine Reduktion des von Kant konzipierten Rahmens unverkennbar, mit Folgen für die Rolle, die Religion einnehmen kann. (2) Revidierte Ausgangspunkte Die wichtigste Neuerung in Political Liberalism (1993) ist die Einsicht in die Bedeutung des gesellschaftlichen Pluralismus, die eine grundlegende
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HÖFFE, OTFRIED, Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Ders. (Hg.), John Rawls – Eine Theorie der Gerechtigkeit, 3-26, 25: „Wie verhält man sich, wenn in moralischen Krisenepochen oder moralischen Umbruchzeiten oder beim Zusammenstoß verschiedener Kulturen die Voraussetzung, ein substantieller Minimalkonsens über Gerechtigkeit, brüchig wird?“
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Revision des Philosophiebegriffs zur Folge hat. 1971 hatte Rawls es noch für möglich gehalten, kantische und aristotelische Theorieelemente als kompatibel zu behandeln und seine Reinterpretation der „Kategorischen Imperative“, die der Urzustand seines Erachtens vornimmt, mit dem „Aristotelischen Prinzip“ der Selbstverwirklichung in einem Lebensplan zu kombinieren; zwei Jahrzehnte später sieht er alle weltanschaulichen Gemeinschaften und alle philosophischen Schulen als bleibend distinkt und unvermittelbar an. Die Ebene für mögliche Konvergenzen muss außerhalb dieser Traditionen gesucht werden, auf einer neutralen Plattform, auf die sich alle beziehen können, die sonst nur innerhalb ihrer eigenen Überzeugungsgemeinschaft argumentieren: „public reason“ ist die Größe, die ein solches Feststellen von bestimmten Übereinstimmungen zwischen „vernünftigen“ (reasonable) Lehren erlauben soll – etwa zwischen Buddhismus, Christentum, Kantischem Universalismus und utilitaristischer Wohlfahrt der Mehrheit. Angenommen wird die Fähigkeit jeder dieser Denktraditionen, ihre Sicht in eine „politische Konzeption“ zu übersetzen, die mit denen anderer kompatibel sein soll. „Justice as fairness: political not metaphysical“6 ist die Antwort, die Rawls auf die in seiner Sicht sonst unüberbrückbaren Gegensätze gibt, die mit der Stabilität einer Gesellschaft auch die Ausrichtung auf Freiheit und Gleichheit bedrohen. Auch wenn die jeweiligen Gründe für die Unterstützung dieser grundlegenden „politischen Werte“ in den Weltanschauungen liegen, so lässt sich doch ein „überlappender Konsens“ (PL,133-172) anzielen, auf dessen Basis Entscheidungen gerechtfertigt können. Angesichts dieser radikalen Schlussfolgerung aus der „Tatsache des Pluralismus“ stellen sich zwei Fragen: Erstens, ist die Notwendigkeit, die Instanz eines allgemeinen Wahrheitsbewusstseins abzuschaffen, zwingend, oder kann der Philosophie nicht weiterhin zugetraut werden, in gegenseitigem kritischem Austausch über Prämissen und Folgerungen zwischen den Denkschulen zu neuen Rekonstruktionen, Korrekturen und Ansätzen zu kommen? Muss der Unterschied zwischen dem Licht der allgemeinen Vernunft und den partikularen Weltanschauungen wirklich aufgegeben werden? Zweitens, können „umfassende Lehren“ nur als geschlossen und austauschunfähig angesehen werden, oder würde ein genauerer Blick nicht ver-
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RAWLS, JOHN, Justice as Fairness: Political not metaphysical, in: Philosophy and Public Affairs 14 (1985) 223-251.
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raten, dass die interne Entwicklung auch der Lehrgebäude der Religionen sich im Eingehen auf ihre zeitgenössischen Kulturen abspielte? Gibt es nicht Ressourcen innerhalb der verschiedenen Religionen, die Wahrheitsansprüche der anderen nicht ausschließlich für konkurrierend zu halten? Zum Beispiel die Anerkennung Jesu als Prophet auch im Islam, die Denkbarkeit anderer Heilswege durch einen nicht auf die Kirche beschränkten Heiligen Geist in der Theologie der Religionen, oder die schon erzielten Einigungen in der Suche nach einem religiös gestützten Weltethos? Wenn die metaphysischen, d.h., die philosophischen Ansätze und die religiösen Lehren wirklich auf derselben Wahrheitsebene wären und wenn sie alle nur unverträglich sind, dann lässt sich nicht erklären, was die öffentliche Vernunft dazu befähigt, Einheit zu stiften. Die Wiener Philosophin Herta Nagl-Docekal bemerkt zu dieser ansonsten unerklärlichen Koinzidenz: Rawls „schlägt vor, dass, allgemein gesprochen, die vielfältigen religiösen Lehren in diesen zwei Prinzipien der Gerechtigkeit übereinstimmen … er drückt die Hoffnung aus, dass es zwischen sonst einander entgegengesetzten Lehren einen ‚überlappenden Konsens‘ geben kann. Wichtig ist Rawls’ Nachdruck, dass dieser Konsens nicht als Kompromiss verstanden werden soll (für den alle involvierten Parteien einige Elemente ihrer Überzeugung aufgeben müssten), sondern als auf einer gemeinsamen Überzeugung basierend. Bedauerlicherweise finden wir in Rawls keine konsistente theoretische Basis für diese Ansichten. Wir sind erstens mit einem Widerspruch konfrontiert. [...] Rawls charakterisiert Religion zunächst als von einem spezifischen Modus der Vernunft geprägt und folgert, dass verschiedene religiöse Überzeugungen deshalb unfähig sein müssen, einander zu verstehen. Diese Ansicht ist, denke ich, kaum zu vereinbaren mit der Annahme eines ‚überlappenden Konsenses‘. Aber auch wenn wir diesen Widerspruch für einen Augenblick beiseite lassen, finden wir uns immer noch vor einer offenen Frage: Wie kann das angenommene Überlappen erklärt werden? Es erscheint unwahrscheinlich, dass der Konsens einem reinen Zufall zugeschrieben werden kann – speziell wenn Rawls behauptet, dass die verschiedenen Religionen in ihrem Überlappen mit anderen nicht variieren, sondern dass alle ein und derselben Vorstellung von ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ zustimmen. Offensichtlich bezieht sich Rawls auf ein Verständnis von Religion, das impliziert, dass
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verschiedene Lehren grundlegende Überzeugungen teilen. Er versäumt es jedoch, diese Konzeption explizit zu bestimmen.“7
Die nicht benannte, aber einzige mögliche Basis ist für sie ein den Religionen gemeinsames „Bedürfnis der Vernunft“, das expliziert werden muss und kann. Die Übersetzung der eigenen Einsichten der Religionen in „politische Konzeptionen“ (wie z.B. die des Katholizismus in die Katholische Soziallehre) setzt voraus, was nicht expliziert wird: eine interne Beziehung der Religionen zur Vernunft, die bei Rawls aber in einer Vielzahl von Weltanschauungstürmen gefangen gehalten wird: jede einzelne philosophische Denktradition und jede Religion ist wie eine Rapunzel ohne ihren Zopf, den sie herablassen kann, damit man zueinander herauf- und herabklettern kann. Dieser Zopf wäre die Beziehung zum allgemeinen Wahrheitsbewusstsein, die auch Religionen in sich haben. Aufgrund der Annahme einer ursprünglichen Inkommunikabilität muss jedoch eine Ersatzebene gefunden werden, die die Tiefe und die Basis möglicher Einigungen folgenreich beschränkt: die Ebene eines nur „überlappenden“, aber nicht wirklich geteilten Konsenses. Die politisch-ethische Gefahr dabei ist, dass weitergehende Ansprüche an public reason, die gerade von universalistischen Religionen erwartet werden können, als „unreasonable“ und „uncivil“ abgelehnt werden müssen, da sie über das hinausgehen, was in der Schnittmenge des überlappenden Konsenses vereinbart werden kann. Dagegen kann schon rein immanent aus der Perspektive der politischen Ethik gefragt werden, ob es nicht auch eine Gefahr für die Stabilität der Demokratie darstellt, in den Ansprüchen zu bescheiden zu sein und in Anbetracht der zu lösenden Zukunftsprobleme nur Vorschläge zuzulassen, die nicht über die Grenzen des Common sense hinausgehen.8
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NAGL-DOCEKALN, HERTA, ‚Many Forms of Nonpublic Reason?‘ Religious Diversity in Liberal Democracies, in: Lenk, Hans (Hg.), Comparative and Intercultural Philosophy, Berlin/ Münster 2009, 79-92, 91. In Political Liberalism, 224-225, begrenzt Rawls die öffentliche Rechtfertigungsbasis in Kernfragen der Verfassung und grundlegender Gerechtigkeit auf das mit dem gegebenen Common sense Vereinbare: „on matters of constitutional essentials and basic justice, the basic structure and its public policies are to be justifiable to all citizens, as the principle of political legitimacy requires. We add to this that in making these justifications we are to appeal only to presently accepted general beliefs and forms of
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Common sense ist ja nur eine partikulare, gesellschafts- und zeitspezifische Größe; wenn weitergehende, universalistische Perspektiven diesen level für unzureichend halten für eine adäquate Problemerfassung und Therapie, könnten sie sich schon außerhalb der Grenzen befinden, die dem demokratischen Konsens gezogen werden. Universalismus wäre unvernünftig, da zu anspruchsvoll, um von allen empirisch geteilt zu werden. b) Praktische Vernunft bei Rawls Es ist deutlich geworden, dass Rawls’ Analyse des demokratischen Pluralismus Weltanschauungsgemeinschaften einen grundlegenden Ort zuerkennt. Die Motivation, die sie ihren Mitgliedern spenden, kann für das demokratische Zusammenleben genutzt werden.9 In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie geht Rawls auf das „höchste Gut“ bei Kant ein, das die Frage der Motivation in Anbetracht des Scheiterns moralischer Intentionen zum Gegenstand macht; Rawls untersucht, ob von einer Antinomie der praktischen Vernunft die Rede sein kann. Er gibt zu, dass wir als moralisch Handelnde betroffen sind, wenn die „Guten an die Wand gedrückt werden“, aber er zieht den Gedanken allmählichen Fortschritts in der Verwirklichung des Guten Kants Analyse des Auseinanderklaffens von reiner moralischer Intention und Glücksverlangen vor.10 Die mögliche Brü-
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reasoning found in common sense, and the methods and conclusions of science when these are not controversial […] This means that in discussing constitutional essentials and matters of basic justice we are not to appeal to comprehensive religious and philosophical doctrines – to what we as individuals or members of associations see as the whole truth… As far as possible, the knowledge and ways of reasoning that ground our affirming the principles of justice and their application to constitutional essentials and basic justice are to rest on the plain truths now widely accepted, or available, to citizens generally. Otherwise, the political conception would not provide a public basis of justification.“ RAWLS, JOHN, The Idea of Public Reason Revisited (1997), wiederabgedruckt in RAWLS, JOHN, The Law of Peoples, Cambridge 1999, 129-180, 153: „We may think of the reasonable comprehensive doctrines that support society’s reasonable political conceptions as those conceptions’ vital social basis, giving them enduring strength and vigor.“ In Lectures on the History of Moral Philosophy, hg. v. HERMAN, BARBARA, Cambridge 2000, 322, beschreibt Rawls, wie Kant angesichts des Bösen Hoffnung und Glauben verbindet: „Without those religious beliefs, we might lose all hope that those
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cke, die in Kants Postulatenlehre zu finden wäre, ihr Relevanzaufweis des Gottesglaubens, wird nicht beschritten. Ebenso wenig wird das Verhältnis von deontologischer und teleologischer Ethik, des moralisch Gebotenen und des persönlich Erwünschten, thematisiert, zu deren Zueinander gerade Religionen beitragen könnten.11 c) Religion innerhalb der Grenzen der öffentlichen Vernunft Als relevante soziale Herkunftsgemeinschaften, die mit philosophischen Denktraditionen auf einer Ebene stehen, werden Religionen als Faktoren des Pluralismus ernst genommen. Ihre tiefe geschichtliche Verwurzelung wird anerkannt: „These doctrines have their own life and history apart from their current members and endure from one generation to the next.“12
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who are just and good won’t be pushed to the wall and come to think that the wicked and evil will dominate the world in the end. We lapse into cynicism and despair, and abandon the values of peace and democracy, since it is a need of reason, it might be said, to believe that there will be a certain matching, if not exact proportionality, between moral worth and happiness.“ Er selbst setzt jedoch auf graduellen Fortschritt, mit dem das Ziel eines Reichs der Zwecke erreicht werden kann: „When the object of the moral law is the secular ideal of a possible realm of ends, the basis for the postulates of God and immortality is far weaker.“ In diesem Fall reichen bestimmte Ansichten über die menschliche Natur, „certain beliefs about our nature and the social world [...] a realm of ends is possible in the world only if the order of nature and social necessities are not unfriendly to that ideal. For this to be so, it must contain forces and tendencies that in the longer run tend to bring out, or at least to support, such a realm and to educate mankind as to further this end. We must believe, for example, that the course of human history is progressively improving, and not becoming steadily worse or that it does not fluctuate in perpetuity from bad to good and from good to bad (LM, 319-20) [...] The content of practical faith has now greatly changed. It fixes on nature’s being (as we reasonably believe) not unfriendly to a realm of ends but instead conducive to it.“ (LM, 321) Zu Glaubensgemeinschaften und Universitäten als Orten, an denen Themen des Guten und des Gerechten zusammen exploriert werden können, vgl. SCHÜSSLER FIORENZA, FRANCIS, The church as a community of interpretation: Political theology between discourse ethics and hermeneneutical reconstruction, in: Browning, Don/ Schüssler Fiorenza, Francis (Hg.), Habermas, Modernity and Public Theology, New York 1992, 66-91. RAWLS, JOHN, Reply to Habermas, in: Habermas, Jürgen, Studienausgabe, Bd. II, Frankfurt 2009, 106.
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Aber der einzige Ort, an dem sie zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beitragen können, ist im Bereich des nicht-öffentlichen Vernunftgebrauchs, zu dem auch Universitäten und professionelle Vereinigungen gerechnet werden, deren Lehrtätigkeit, Forschung, Gutachten und Diskurse ebenso unter „non-public reason“ fallen. „Public reason“ hingegen ist im Obersten Gerichtshof und im Parlament angesiedelt, schon in Political Liberalism (PL, 231-240), aber mehr noch in Public Reason Revisited, in dem Rawls 1997 auch einen „erweiterten Gebrauch“ vorsieht: Religionen dürfen ihre Beiträge äußern, wenn sie sie nur irgendwann, „in due course“ in politisch teilbare Gründe übersetzen.13 Dieses „Proviso“ ist es, an dem Habermas zusätzliche Bedenken – neben seinem partizipativen, diskursiven Verständnis von Öffentlichkeit – anmeldet und „einsprachige“ religiöse Mitbürger in Schutz nimmt. In Bezug auf historische Religionen sieht Rawls speziell das Christentum in einem 1997 verfassten privaten Dokument als eine in ihrer Erlösungsbotschaft zu sehr auf das Ich bezogene Religion an. Demgegenüber war für ihn in seiner theologischen Abschlussarbeit von 1942 das Christentum noch Quelle einer damals universalistischen Orientierung.14 Wie unterscheiden sich die beiden anderen Ansätze von Rawls’ Analyse des Pluralismus und von seinem Lösungsvorschlag zur Rolle der Religion innerhalb der Grenzen der öffentlichen Vernunft?15
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DERS., Public Reason Revisited, in: The Law of Peoples, 152-156. DERS., Über meine Religion, in: Ders., Über Sünde, Glaube und Religion, Berlin 2010, 301-312. Vgl. Habermas’ Hinweis auf den Gegensatz seines Universalismus zur „ethnozentrischen Abschließung“, wie sie das III. Reich praktizierte, in seinem „Nachwort“, 326-327. Einen ausführlichen Vergleich habe ich in Religion and Public Reason. A Comparison of the Positions of John Rawls, Jürgen Habermas and Paul Ricoeur, Berlin/ New York 2014, unternommen.
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2. R ELIGIONEN
ALS I NTERPRETATIONS GEMEINSCHAFTEN MIT „ SEMANTISCHEM P OTENTIAL “ FÜR UNIVERSALISTISCHE D ISKURSE IN DEN P ATHOLOGIEN MODERNER R ATIONALISIERUNG BEI J ÜRGEN H ABERMAS
Ich möchte zunächst die Einsichten herausstellen, die Habermas und Ricoeur verbinden und dann auf ihre verschiedenen Entwürfe eingehen. Für beide europäische Denker müssen Religionen ihre Einsichten artikulieren, bevor sie sie übersetzen können. Nicht nur ihre Motivationen, sondern ihre Gehalte sind relevant für den normativen Kern der Moderne, eine Ethik gegenseitiger Anerkennung, die eine Kritik instrumenteller Vernunft impliziert. Ihre Anthropologien betonen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und die Rolle des anderen für das Selbst. Für beide ist die vorgängige Vermitteltheit durch geteilte Bedeutungen in der Lebenswelt fundamental, die auch die geschichtliche Dimension der Begegnung von „Jerusalem“ und „Athen“ in den die europäische Kultur konstituierenden Übersetzungen einschließt. In ihrer politischen Ethik betonen sie beide, dass das gemeinsame Projekt der Demokratie mehr als gerechtigkeitsbezogene Stabilität anzielt. Es wird von einem Überschuss oder einem utopischen Moment in Gang gehalten, das bei Ricoeur in den Hoffnungen ihrer Gründungsgeschichten verankert ist und auf eine staatsbürgerliche Idee verpflichtet, die das Lokale und das Kosmopolitische verbindet. Die Philosophie zehrt von existierenden Bedeutungen, Selbstverständnissen, Institutionen und Initiativen und bezieht sich auf sie in kritischer Selbstreflexion. Hoffnung im Widerstand zu einer defätistischen Wende der Vernunft, Aufmerksamkeit für pathologische Entwicklungen und Fehlschläge und bei Ricoeur auch die Angewiesenheit auf Vergebung bestimmen trotz gewichtiger Unterschiede bei beiden ihren Horizont. Was das Ethikverständnis betrifft, so stehen bei Habermas Moralität und Streben nach dem gelingenden Leben in einem disjunktiven, extrinsezistischen Verhältnis,16 während Ricoeur Kant und Aristoteles aufeinander bezieht und diesen Wunsch in Kants „gutem Willen“ wiederfindet. Für Habermas sind die den einzelnen
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HAKER, HILLE, Moralische Identität. Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson, Tübingen 1999, 60-67.
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vorgängigen Symbolwelten und kulturellen Traditionen wenig mehr als konventionelle Lebensformen; dass sie als partikulare Literaturen, in deren Brechung Menschheitserfahrungen wie Endlichkeit und Zukunftshoffnung, Selbst und Fremdes, das Böse und die Frage nach dem Sinn des Ganzen erscheinen, Ressourcen für Neuentwicklungen sein können, wird von seinem Begriff des „semantischen Potentials“ nur ansatzweise erfasst. a) Die Kompetenz der Philosophie in Habermas’ nachmetaphysischem Denken Habermas’ Vortrag auf dem Stuttgarter Hegel-Kongress 1981, in dem er sein Programm einer nachmetaphysischen Philosophie umreißt, ist als „ein, wenn nicht der Schlüssel zum ganzen Werk“ gekennzeichnet worden.17 Die beiden Rollen, die der Philosophie nach der Diversifizierung der Vernunft in die Einzelwissenschaften in der Moderne bleiben, sind die des Platzhalters für universalistische Fragestellungen und die des Interpreten zwischen den Wissenschaften und der Lebenswelt. Die Folgen der nachmetaphysischen Beschränkung, gegen die Karl-Otto Apel, Dieter Henrich, Herbert Schnädelbach und andere differenzierte Einwände vorgebracht haben, sind von Saskia Wendel benannt worden.18 In dem 2012 als Nachmetaphysisches Denken II publizierten Aufsatzband stellt Habermas inzwischen als Unterschied der Philosophie zu den Einzelwissenschaften die Selbstreflexion heraus: „Die Philosophie unterscheidet sich nämlich auch heute noch von den objektivierenden Wissenschaften durch die reflexive Frage nach dem Selbst- und Weltverständnis ‚des‘ Menschen oder ‚der‘ Einzelnen (und ‚der Moderne‘).“19
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BRUNKHORST, HAUKE, Platzhalter und Interpret, in: Brunkhorst, Hauke/ Kreid, Regina/ Lafont, Christina (Hg), Habermas-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Darmstadt 2009, 214-220, 215. WENDEL, SASKIA, Die religiöse Selbst- und Weltdeutung des bewussten Daseins und ihre Bedeutung für eine ‚moderne Religion‘. Was der ‚Postmetaphysiker‘ Habermas über Religion nicht zu denken wagt, in: Schmidt, Thomas/ Wenzel, Knut (Hg.), Moderne Religion? Theologische und religionsphilosophische Reaktionen auf Jürgen Habermas, Freiburg 32009, 225-265. HABERMAS, JÜRGEN, Nachmetaphysisches Denken II, Frankfurt 2012, 122.
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b) Grenzfragen der Vernunft zur Religion? An die Grenzfragen zwischen praktischer Vernunft und Religion, die für die Gründungsgeneration der Frankfurter Schule unabweisbar waren, ist Jürgen Habermas seit fast vierzig Jahren erinnert worden: Helmut Peukerts Anfragen schon an die Anfangsphase der Diskursethik stehen seit 1976 im Raum und sind nach wie vor unbeantwortet.20 Für Habermas gehören die Antinomie der praktischen Vernunft und die Postulatenlehre Kants nicht mehr zu den Grundlagenfragen der Ethik, an denen sie Kant zufolge scheitern kann, sondern zur Religionsphilosophie, und dort sind sie offensichtlich nicht mehr zwingend als offenbleibende Fragen, denen sich die Vernunft zu stellen hat, sondern werden zur Weltanschauungssache. Herta Nagl-Docekal, die schon zu Rawls zitierte Wiener Philosophin, stellt in ihrem jüngsten Buch, Innere Freiheit. Grenzen der nachmetaphysischen Moralkonzeptionen, fest, „wie die durch nachmetaphysische Prämissen bedingte Ausblendung der inneren Dimension von Moral darauf hinausläuft, dass auch die Frage nach einer möglichen Verknüpfung von Moral und religiösem Glauben unterbelichtet bleibt“21 . c) Religion zwischen opak und übersetzbar Die Achtung, die Habermas seit 2000, schon vor 9/11 und seiner Friedenspreisrede im Herbst 2001,22 der Religion als Quelle unabgegoltener und nirgendwo sonst replizierter Reflexionsgehalte und praktisch-solidarischer
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PEUKERT, HELMUT, Nachwort zur 3. Auflage 2009, in: Ders., Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung Frankfurt 32009, 357-394; Ders., Enlightenment and theology as unfinished projects, trans. P. Kenny, in: Browning, Don/ Schüssler Fiorenza, Francis (Hg.), Habermas, Modernity, and Public Theology, New York 1992, 43-65. NAGL-DOCEKAL, HERTA, Innere Freiheit. Grenzen der nachmetaphysischen Moralkonzeptionen, Berlin/ New York 2014: „Wird Autonomie im Sinne von Kants Konzeption der inneren Freiheit als Selbstgesetzgebung bestimmt, tritt die Verpflichtung zur Zuwendung zu anderen in ihrer Einzigkeit hervor, primär die Pflicht des Zuhörens, die auch globale Relevanz besitzt; und die Vermittlung von Glück und Moral stellt sich in einer subtileren Weise dar, als die gängige Rigorismuskritik annimmt.“ Cf. MENDIETA, EDUARDO, Appendix. Religion in Habermas’s Work, in: Calhoun, Craig/ Mendieta, Eduardo (Hg.), Habermas and Religion, Cambridge 2013, 391-407, 404.
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Ausrichtungen zollt, ist bemerkenswert. Die Sorgfalt, mit der er berechtigte prinzipielle von überzogenen, säkularistischen Begrenzungen religiöser Überzeugungen unterscheidet, ist hoch zu würdigen. Gegen J. Bernstein besteht er auf der Verbindung zwischen methodischem Atheismus und Agnostizismus.23 Gegen Paolo Flores d’Arcais und andere nimmt er den Gottesglauben als „nicht a priori irrational“ in Schutz.24 Anders als Rawls und in einer unerwarteten Parallelität mit Ricoeur sieht er den Austausch zwischen religiösen und säkularen Mitbürgern geradezu als Wurzel des Politischen an.25 Der Großteil der theologischen Kommentatoren teilt seine Insistenz auf der „institutionellen Schwelle“, jenseits derer nur Argumente der Vernunft für Fragen der allgemeinen Gesetzgebung zählen dürfen. Zurecht wendet er gegen philosophische Positionen, die die Neutralität des Staates aufgeben wollen, ein, dass das Zulassen religiöser Gründe im Parlament nur die Mehrheitskultur privilegieren würde, gegen die gerade die Religions- und die Gewissensfreiheit schützt.26 Abgesehen von Mitgliedern der Radical Orthodoxy sind es Philosophen, nicht Theologen, die im Namen der unparteilichen Gleichheit die Zulassung aller, auch religiöser Argumente fordern.27 Sein Eintreten für gemeinsame Übersetzungen kann als Eröffnung einer neuen Ebene der Selbstverständigung nur begrüßt werden. Und doch bleibt Religion der Vernunft fremd und äußerlich. Anders als Karl Jaspers, dessen Achsenzeitthese grundlegend für die dritte Phase von Habermas’ Behandlung der Religion ist, wird nicht die den Weltreligionen und philosophischen Systemen gemeinsame Wende zur Selbstreflexivität
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Habermas, JÜRGEN, Reply to My Critics, in: Calhoun, Craig/ Mendieta, Eduardo (Hg.), Habermas and Religion, Cambridge 2013, 347-390, 366-71. HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt 2005, 118 u.a. In Nachmetaphysisches Denken II, Frankfurt 2012, 242, spricht Habermas vom „Reflexivwerden einer politisch, also bewusst vollzogenen sozialen Integration“. Dieser Aktions- oder Vollzugscharakter fehlt in der englischen Übersetzung: In HABERMAS, JÜRGEN, ‚The political‘: The Rational Meaning of a Questionable Inheritance of Political Theology, in: Butler, Judith/ Habermas, Jürgen/ Taylor, Charles/ West, Cornel, The Power of Religion in the Public Sphere, New York 2011, 15-33, 18, wird der gleiche Satz wie folgt übersetzt: „Thus ‚the political‘ means the symbolic representation and collective self-understanding of a community that differs from tribal societies through a reflexive turn to a conscious rather than spontaneous form of social integration.“ EBD. So N. Wolterstorff, M. Cooke, P. Weithman, Th. McCarthy.
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betont, sondern die Religion als das „Andere“ der Vernunft stilisiert und in den Raum sprachloser Kunst abgedrängt. Ritual schaffe Solidarität durch gemeinsame Praxis, als wäre es nicht vielfach vermittelt und interpretativ umkämpft, wie die Deutung der Eucharistie zwischen Opfer und Mahlfeier illustriert, oder die Frage der Taufe nur von zum Glauben entschlossener Erwachsener oder auch für im Glauben noch unentschiedene Säuglinge. Diese Verbannung des Glaubens in eine von Vernunft unbeschrittene Region unterminiert zugleich die Möglichkeit zur Übersetzung. Der wirkliche Unterschied zwischen Glauben und Vernunft ist ein anderer, und er ist nicht opak, sondern explizierbar: die unableitbare Freiheit Gottes zu einer Selbstmitteilung, die Menschen nur nachvollziehen können, wenn sie geschehen ist: so fremd, so nah, so unvorhersagbar wie andere Freiheit. Im 2. Band seiner Theologischen Anthropologie stellt Thomas Pröpper Habermas deshalb die Frage: „Und warum überhaupt soll gerade das der Vernunft völlig Entzogene (statt etwa nur das in seiner Freiheit ihr Unverfügbare) Potentiale für sie bergen?“28 Der Soziologe Austin Harrington schließt seine Erörterung der verschiedenen neuen Bestimmungen von Religion bei Habermas mit einem Vorschlag, wie die universalistische Ethik, für die Habermas gegen aristotelische und postmoderne Ansätze in vielen interdisziplinären Dialogen eingetreten ist, erreicht werden kann: Erst dann, wenn sein Denken die Bereitschaft wiedergewinnt, sich etwas Einseitigerem, gefährlicher Partikularistischem, Entscheidendem oder Exzessivem auszusetzen – vielleicht mit der Folge, bestimmte Personen oder Gruppen aufzugeben, zu enttäuschen oder zu empören – erst dann, ist zu vermuten, wird es ihm möglich werden, die Universalität, die es so leidenschaftlich begehrt, zu erreichen.29
Mit diesem Hinweis auf das Potential von „exzessiven“ Inhalten aus partikularen Traditionen ist schon das Spezifikum benannt, das der Ansatz
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PRÖPPER, THOMAS, Theologische Anthropologie, Bd. II, Freiburg 2011, 765. HARRINGTON, AUSTIN, Habermas’s theological turn?, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 37 (2007) 45-61, 59: „Only when his thinking regains a commitment to expose itself to something more one-sided, something more dangerously particularistic, decisive or excessive – perhaps with the consequence of failing, disappointing or even antagonizing certain people or parties – only then, one might suggest, will it have a chance of acceding to the universality it so passionately desires.“
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Ricoeurs in die Debatte einbringt. Die Symbolwelten, narrativen und poetischen Genres, Gründungsgeschichten, Erinnerungen und Utopien gehen in die Bildung von Selbstverständnissen ein, die die Handlungsfähigkeit der einzelnen mit dem „kreativen Kern“ einer Kultur in Verbindung setzen. Die hermeneutische Dimension, die bei Rawls fehlt und bei Habermas im monotheistischen Erbe der westlichen Ethik anerkannt, aber kaum weiter exploriert wird, ist bei ihm grundlegend. Einige kurze Bemerkungen dazu vor meinen Schlussfolgerungen.
3. R ELIGIÖSE T RADITIONEN ALS M ITBEGRÜNDER DES ÖFFENTLICHEN R AUMS IN P AUL R ICOEURS HERMENEUTISCHEM A NSATZ a) Der phänomenologische Ansatz Ricoeurs phänomenologische Methode bezieht Intentionalität auf den Willen und verbindet die Offenheit für eine transzendentale Argumentation mit der hermeneutischen Analyse historischer Kulturelemente und konkreter Freiheitsvollzüge. Die Unterscheidung von ipse und idem in seiner Theorie des Selbst und sein Bestehen auf der Notwendigkeit der transzendentalen Methode als typisch für philosophische im Unterschied zu externen linguistischen Analysen von Kommunikation steht im Gegensatz zu den „nachmetaphysischen“ Ausgangspunkten von Rawls und Habermas.30
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Gegenüber Denkverboten spricht sich Paul Ricoeur dafür aus, dass methodische Zugänge offengehalten werden müssen: „Es gibt keine Tabus in der Philosophie, und Begriffe wie ‚Mentalismus‘ oder ‚Psychologismus‘ dürfen nicht mehr etwas Verbotenes bedeuten.“ RICOEUR, PAUL, Discours et Communication, Paris 2005, 15. Dies sei „keine hinreichende Antwort“, sondern indiziere nur, dass es die spezifische Aufgabe der Philosophie ist, nicht nur das zu analysieren, was Linguisten und Soziologen als „soziale Tatsachen“ auffassen (wie Kommunikation) (7-10); über ihre Untersuchungen hinaus sieht er es als notwendig an, die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation zu analysieren. Er konstatiert explizit, dass die Ebene oder „Ordnung der implizierten Intention“ in der Kommunikation „nur durch eine transzendentale Reflexion begründet werden kann“ (15).
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b) Handlungsfähigkeit und Hoffnung Der Vorrang der praktischen Vernunft bei Kant wird gegen Hegels rückwärtsblickende Würdigung der Stationen des Weltgeistes vor allem im Namen der Opfer der Geschichte verteidigt. Die Dimension der Hoffnung, die Kant wie kein anderer klassisch moderner Philosoph als unabweisbares Vernunftbedürfnis gewertet hat, verbindet die Philosophie mit der monotheistischen Verheißung. Im Dialog mit Hans Küng über das Weltethos verteidigt er, der Philosoph, die Differenzen der geschichtlichen Religionen gegen den Versuch einer Reduktion ihrer Vielfalt auf überlappende Werte ohne Rückverbindung zu ihrem je eigenen „fonds mystique“. Für ihn ist das Projekt Weltethos, das sie auf den Nenner gemeinsam geteilter Tugenden bringt, in Gefahr, tiefgreifend verschiedene Traditionen auf die Ebene einer „armen, entwurzelten“ praktischen Vernunft zu bringen.31 c) Das Spezifikum des biblischen Monotheismus: die „Ökonomie der Gabe“ und das „Maß des Überflusses“ (surabondance) Für Ricoeur ist die Spannung zwischen Universalem und Partikularen in der Ethik eine produktive: Goldene Regel und Feindesliebe, Gerechtigkeit und Liebe fordern einander heraus und brauchen einander zur gegenseitigen Inspiration und Korrektur. Gerechtigkeit kann nicht ersetzt werden durch caritas, agape kann als hyperethische unethisch werden, so wie auch Gerechtigkeit, z.B. bei Rawls, in Gefahr ist, in die kalkulierte Reziprozität eines do ut des zu degenerieren. Der Überschuss an Verheißung, Fülle des Lebens, Befreiung und Neubeginn, die in Schöpfung, Treue Gottes in seinem am brennenden Busch offenbarten Namen, in Exodus und Auferstehung Ausdruck finden, wird als „Ökonomie der Gabe“ und als „Maß des
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„Les religions, la violence et la paix“. Entretien Hans Küng – Paul Ricoeur autour du Manifeste pour une éthique planétaire de H. Küng, ARTE, 5. April 1996, Redaction: Laurent Andres, cf. www.fondsricoeur.fr, unter „texts on line“ (letzter Zugriff 16. März 2015).
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Überflusses“ zusammengefasst32 und ermöglicht Dankbarkeit, Großzügigkeit, Vergebung und den längeren Atem der Hoffnung als Grundeinstellungen zum Leben.
4. S CHLUSSFOLGERUNGEN ZUM V ERHÄLTNIS R ELIGION UND ÖFFENTLICHER V ERNUNFT
VON
Rawls sieht die Notwendigkeit, Religionen und alle anderen Überzeugungsgemeinschaften als nicht zu ignorierende soziale Größen ernstzunehmen und gleichzeitig einzuhegen. Da sie nicht miteinander ins Gespräch gebracht werden, kommen sie mir wie die besagten Rapunzeln vor, jede für sich, „high and dry“. Habermas geht es weniger um Religionen als politisch zu beachtende, äußere Faktoren, als um ihre semantischen Gehalte, mit denen sie vergessene Intuitionen wiedererwecken können. Ein Bild dafür wäre das der Bewässerung ausdorrender Landschaften, die auch in Zukunft Ernten ermöglicht. Bei Ricoeur hingegen kommt Religion nicht als „Wer“ wie bei Rawls oder als „Was“ wie bei Habermas in den Blick, also weder als ernstzunehmende Faktoren im kulturellen Hintergrund noch als semantischer Gehalt, sondern als Ursprung, als unergründliche Quelle von Antrieben, die die Handlungsfähigkeit des Selbst ausrichten, erweitern und neu zugänglich machen aus dem Reservoir an Symbolen, die diese Traditionen seit Jahrtausenden auslegen. Religionen sind für ihn Mitbegründer des öffentlichen Raums, und sie sind aufgefordert, sich dort auf gleicher Ebene mit anderen Bewegungen am Projekt eines „gelingenden Lebens mit und für andere in gerechten Institutionen“33 zu beteiligen: Oder sollten wir eine in sich vielfältige Grundlegungsebene annehmen, indem wir genau wie Rawls von der Idee des Kredits ausgehen, einer diversen Vielzahl von re-
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RICOEUR, PAUL, Ethical and Theological Considerations on the Golden Rule, in Figuring the Sacred. Religion, Narrative and Imagination, Minneapolis 1995, 293-302. DERS., Das Selbst als ein Anderer, München 1996, 210. Die Ausarbeitung der strebensethischen Ausrichtung auf das gute Leben im 7. Kapitel und der notwendigen Ebene der Moralität im 8. Kapitel wird im 9. Kapitel auf ihre spannungsvolle Vermittlung in konkreten Testfällen untersucht.
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ligiösen und säkularen, rationalen und romantischen Traditionen, die sich gegenseitig als Mitbegründer anerkennen unter dem doppelten Schutz des Prinzips des ‚überlappenden Konsenses‘ und der ‚Anerkennung vernünftiger Meinungsverschiedenheiten‘?34
Ein solches Setzen auf produktive Auseinandersetzungen in einer Streitund Kooperationskultur zwischen Mitbürgern verschiedener Traditionen über Ziele und Wege in spätmodernen technologischen Gesellschaften scheint mir den Kern demokratischer Beteiligung am besten zu erfassen. Ricoeur schlägt diese Grundlegung als Alternative zu zwei anderen Ansätzen vor: zur Autorität einer ererbten Gründungsgeschichte, wie der Roms, ab urbe condita, und zu einer vertragstheoretischen Selbstbegründung, in der Autorität in Macht reabsorbiert wird.35 Ricoeurs hermeneutische Aufmerksamkeit für den Bezug von politischer, rechtlicher und moralischer Autonomie auf symbolische Ordnungen36 , seine Gegenüberstellung von Kant und Hegel im Blick auf die Hoffnungsdimension der Vernunft37 und seine differenzierte Verbindung von Strebensethik und Moralität bringen den allgemeinen Begriff der Vernunft, den des ethischen Wollens und des moralischen Sollens ohne Verkürzungen in Anschlag. Sein Verständnis von öffentlicher Vernunft und ihrem Verhältnis zur Religion ist nicht nur nichtreduktiv, sondern auch interkulturell am aussichtsreichsten. Aus der Geschichte der wechselnden Legitimationsmodelle politischer Herrschaft zieht er folgende Konsequenz für das Christentum: In einem solchen Rahmen, der von diesem doppelten Prinzip (Konsens und Meinungsverschiedenheit) gekennzeichnet ist, könnte eine Rolle für die Autorität der Bibel und von kirchlichen Institutionen gefunden werden – aber nicht auf eine Weise, die zur Wiedergeburt des verlorenen Paradigmas der Christenheit führt. Stattdessen würde es darum gehen, dass christliche Gemeinden ohne Ressentiment ihren Teil an diesem gemeinsamen Unternehmen der Gründung übernehmen in offenem
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RICOEUR, PAUL, Reflections on the Just, Chicago 2007, 105. Cf. 164. EBD., 103. EBD., 23. DERS., Hope and the Structure of Philosophical Systems, in: Ders., Figuring the Sacred. Religion, Narrative and Imagination, Minneapolis 1995, 203-216.
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Wettbewerb mit anderen, heterogenen Traditionen, die selber von ihren ungehaltenen Versprechen neu belebt und angetrieben werden.38
Eine öffentliche Vernunft, die von ihren ungehaltenen Versprechen umgetrieben wird – das ist ein anderes Modell als das stabilitätsorientierte einer sorgfältig austarierten strikten Reziprozität, und auch mehr als die Wahrnehmung ursprünglicher Hoffnungen, die in entgleisenden Modernisierungsprozessen erst recht nicht eingeholt werden können. Ist die Bedingung der Möglichkeit solcher Reaktivierungen nicht eine ursprüngliche Produktivität, eine Quelle der Fülle, wie der Kölner Autor Hanns-Josef Ortheil sie in Mozart sprudeln sieht: „etwas Verschwenderisches“, „überbordend“, „diese nirgends haltmachende Streuung von Daseinsfreude“?39 Mitbegründer des öffentlichen Raumes aus einer Logik der surabondance durch eine nicht nur ausgleichende oder kritische Vernunft, sondern durch eine vom Urteil, dass alles Geschaffene „sehr gut“ (Gen 1, 31) sei, ursprünglich motivierte Kapazität zur schöpferischen Erneuerung.
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RICOEUR, PAUL, Reflections on the Just, Chicago 2007, 105. ORTHEIL, HANNS-JOSEF, Das Glück der Musik. Vom Vergnügen, Mozart zu hören, München 2006, 26.88.60.
Die Legitimität des Exzessiven. Überlegungen zur Inklusion partikularer Traditionen in den öffentlichen Diskurs Eine Replik auf Maureen Junker-Kenny A NA H ONNACKER
Die zeitdiagnostische These, wir befänden uns in einem post-säkularen Zeitalter, kann mit guten Gründen auf ihre Gültigkeit hin befragt werden. Bei allen Einwänden, die sich vor allem aus der begrifflichen Unschärfe der Wendung ‚post-säkular‘ bzw. bereits des zugrundliegenden Konzepts der Säkularität speisen, lenkt sie jedoch den Blick auf eine charakteristische Entwicklung der Gegenwart. So mag weder das allgemeine Religiositätsniveau (wieder) steigen, wie es die Rede von der „Rückkehr der Religion“ nahelegt, noch eine grundsätzlich negative Korrelation von Religion und Moderne widerlegt sein, noch überhaupt die Diagnose eines – nun vergangenen – säkularen Zeitalters bestätigt sein. Und schon gar nicht soll an die institutionelle Trennung von Kirche und Staat gerührt werden, deren Aufhebung weder als Beschreibung noch als Forderung adäquat scheint. Jedoch legt die Diagnose von der Post-Säkularität offen, dass eine ganz spezifische Problemstellung uns auch unter den Bedingungen der demokratischen und liberalen Moderne erhalten bleibt: Der öffentliche Raum und der Diskurs, der in ihm geführt wird, wird weiterhin mit Stimmen konfrontiert sein, die Überzeugungen aus religiösen Traditionen artikulieren. Sowohl mit Zwischenrufen aus den Kirchen und Glaubensgemeinschaften, von religiösen Initiativen und Verbänden als auch von einzelnen religiösen Bürgern ist zu rechnen. Die Gesellschaft ist insofern als post-säkular bestimmt, als sie
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nicht vollständig religionsfrei ist und wahrscheinlich auch nicht sein wird. Auch der nicht-religiöse Mainstream muss sich also zumindest zu religiösen Perspektiven verhalten. Diese Einsicht manifestiert sich unter anderem darin, dass die Mehrheit der Akteure der in der politischen Philosophie seit geraumer Zeit geführten Debatte um die Rolle religiöser Argumente im öffentlichen Diskurs darum bemüht ist, ein angemessenes Modell für den Umgang mit der religiösen Perspektive zu entwerfen. Die Angemessenheit eines Modells möchte ich daran messen, ob es in der Lage ist, die erkenntnis- und demokratietheoretischen Schwächen der vormals an einem säkularen bzw. gar säkularistischen Paradigma ausgerichteten Modelle zu beheben. Als eine dieser fruchtbaren Alternativen soll Maureen Junker-Kennys an Paul Ricoeurs orientierter Ansatz betrachtet werden. Im Folgenden werde ich dazu zunächst jeweils einen Punkt aus Maureen Junker-Kennys Rekonstruktion der Positionen von John Rawls und Jürgen Habermas (1.) vertiefend aufnehmen. An diesen Entwürfen lassen sich exemplarisch die kritischen Konzepte, die die Debatte prägen, aufzeigen. In einem nächsten Schritt ist dann das von ihr vorgebrachte Modell genauer in den Blick zu nehmen (2.), dem ich schließlich ergänzend Elemente aus der liberalen Tradition an die Seite stellen möchte (3.).
1. V ERMEIDUNG
UND
V ERMITTLUNG
Die Position, die im Rahmen des Politischen Liberalismus von John Rawls entworfen wird, kann treffend als eine Strategie der „Vermeidung“1 charakterisiert werden. Ausgehend von der Annahme eines permanenten und vernünftigen Pluralismus, also der These, dass alle Weltanschauungen und Philosophien als prinzipiell „unversöhnliche“, im Widerstreit stehende comprehensive doctrines gelten müssen, ergibt sich für Rawls die Forderung nach Neutralität. Der Bezug auf eine einheitliche Lehre für die Sicherung sozialer Einheit und Kooperation ließe sich nur noch mit Repression und Gewalt durchsetzen, der Pluralismus wird somit zum Stabilitätsprob-
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RAWLS, JOHN, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1994, 265, 320.
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lem.2 Um also friedlich zusammenleben zu können, braucht es eine freistehende Konzeption von Gerechtigkeit, die zwar aus Perspektive der jeweiligen Weltanschauungen affirmiert werden kann, aber nicht aus diesen abgeleitet ist und damit als politisch charakterisiert ist.3 Die Zustimmung zu ihr ist Ergebnis eines übergreifenden Konsenses der divergierenden religiösen und philosophischen Lehren.4 Für den politischen Diskurs ist ebenfalls eine neutrale, nicht durch die umfassenden Lehren bestimmte Ebene zu finden, die Versöhnung ermöglicht. Rawls etabliert dazu die Idee der öffentlichen Vernunft. Nur Gründe, die allgemein akzeptiert werden können, die Teil des common sense sind, gelten unter Maßgabe der öffentlichen Vernunft als legitim.5 Dieser Forderung liegt eine Legitimitätskonzeption zu Grunde, die die Reziprozität der Akzeptanz von Gründen als Kriterium setzt: Ich muss davon ausgehen können, dass die Gründe, die ich im politischen Diskurs anführe, nicht nur für mich, sondern auch für jeden anderen Bürger vernünftigerweise nachzuvollziehen sind. Dies gilt insbesondere für Gründe, die einschränkende Gesetze zur Folge haben.6 Religiöse Überzeugungen und auch alle anderen, nicht allgemein einsehbaren Überzeugungen sind also aufgrund ihres stabilitätsgefährdenen Potentials vom öffentlichen Vernunftgebrauch ausgenommen. Sie sind per Definition keine legitimen Gründe des politischen Nachdenkens im Sinne Rawls’. Religiöse, aber auch philosophische Traditionen sind einzuklam-
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Vgl. z.b. RAWLS, JOHN, Political Liberalism, New York 1996., 3f., 10, 13, 36f, 54-58, und DERS., Die Idee des politischen Liberalismus, 174, 288f., 334-342. Vgl. z.B. RAWLS, JOHN, Political Liberalism, 9, 12f.; DERS., Die Idee des politischen Liberalismus, 174, 341f.. Zur Charakterisierung als politisch vgl. weitergehend z.B. EBD., 343, 366 und NIESEN, PETER, Die politische Theorie des politischen Liberalismus: John Rawls, in: Brodocz, Andre/ Schaal, Gary (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart II. Eine Einführung, Opladen 2009, 27-64, hier: 31. Vgl. RAWLS, JOHN, Political Liberalism, 15, 38, 134, DERS., Die Idee des Politischen Liberalismus, 33, 296-300. Vgl. z.B. RAWLS, JOHN, Political Liberalism, 224f. Weitergehend zur Idee der öffentlichen Vernunft s. BORMANN, FRANZ, ‚Public Reason‘ bei John Rawls, in: Ders./ Irlenborn, Bernd (Hg.), Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft. Zur Rolle des Christentums in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2008, 237-266. Vgl. z.B. RAWLS, JOHN, Political Liberalism, S. xlvi, DERS., The Idea of Public Reason Revisited, in: The University of Chicago Law Review 64,3 (1997) 765-807, hier: 770f.
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mern, da sie dem „Anforderungsprofil öffentlicher Vernunft“ 7 nicht genügen. Die Einhegung weltanschaulicher Dispute in den Bereich des NichtPolitischen, die Vermeidung des Konflikts zwischen Traditionen zu Gunsten einer friedlichen und stabilen Gesellschaft lassen Rawls’ Entwurf als typischen Vertreter einer nur vermeintlich liberalen exklusivistischen Strategie erscheinen, die gerade aufgrund des „religious-reason-restraint“ 8 viel Widerspruch erfahren hat. Maureen Junker-Kenny übt nun Kritik an Rawls’ Modell in zwei sich ergänzenden Richtungen: Erstens kritisiert sie die von Rawls stark zurückgenommene Rolle der Philosophie.9 Im Lichte eines radikalen Pluralismus scheint sich ihre Kompetenz deutlich zu relativieren. Wenn die Philosophie selbst in eine Vielzahl wiederstreitender umfassender Lehren zerfällt, so wird ihr Anspruch auf die Ausübung einer verbindlichen, nicht kontingenten kritischen Funktion anderen Traditionen zumindest weniger plausibel. Als Instanz eines „allgemeinen Wahrheitsbewusstseins“ fällt sie sogar ganz aus. Umgekehrt verweist Junker-Kenny auf die nur vermeintliche Neutralität des von Rawls als Medium der Verständigung eingesetzten common sense. Gerade dieser sei ja nur partikular, bedingt und kontextspezifisch und damit ungeeignet, eine produktive Ressource für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu sein. In ihm manifestiert sich lediglich der kleinste gemeinsame Nenner aller partikularen Perspektiven. Ein universalistischer Ausgriff fehlt ihm. Zweitens problematisiert Junker-Kenny Rawls’ Charakterisierung umfassender Lehren. Implizit führe er ein Isolationsmodell des Verhältnisses von Vernunft und Religion ein. Wenn partikulare Traditionen als monolithisch, als unfähig zum Austausch nebeneinander stehend aufgefasst wer-
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BORMANN, FRANZ, ‚Public Reason‘ bei John Rawls, 248. WOLTERSTORFF, NICHOLAS, The role of religion in decision and discussion of political issues, in: Audi, Robert/ Wolterstorff, Nicholas (Hg.), Religion in the Public Square. The Place of Religious Convictions in Political Debate, Lanham 1996, 67120, hier: 75. Zur Kritik am liberalen Exklusivismus s. auch, HONNACKER, ANA, Post-säkularer Liberalismus. Perspektiven auf Religion und Öffentlichkeit im Anschluss an William James, Baden-Baden 2015, 70-87. Ausführlicher dazu vgl. JUNKER-KENNY, MAUREEN, Jenseits liberaler öffentlicher Vernunft: Religion und das Vermögen der Prinzipien, in: Schmidt, Thomas M./ Wenzel, Knut (Hg.), Moderne Religion? Theologische und religionsphilosophische Reaktionen auf Jürgen Habermas, Freiburg (u.a.) 2009, 92-127, hier: 96ff.
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den, so sind sie letztlich inkommunikabel, verständlich nur aus der Innenperspektive des eigenen Sprachspiels, gemäß ihrer Eigenlogik. Ob diese Beschreibung in angemessener Weise die Entwicklung religiöser und philosophischer Traditionen mit ihren weitreichenden Wechselwirkungen, synkretistischen Transformationen und Reflexionsbestrebungen würdigt, sei dahingestellt. Schwerer wiegt, dass die umfassenden Lehren ohne einen inhärenten Vernunftbezug auch nicht die von Rawls vorgesehene Funktion für den übergreifenden Konsens und die freistehende Konzeption der Gerechtigkeit erfüllen können. Eine Übersetzung ihrer Einsichten in die Sphäre des Politischen wäre ein aussichtsloses Unterfangen. Dann aber bliebe tatsächlich nur ihre Einhegung als Ausweg aus einem ansonsten unlösbaren Konflikt. Als ein Versuch der Vermittlung, der bereits einige wichtige Kritikpunkte an der Vermeidungsstrategie Rawls’ aufnimmt, kann der Ansatz von Jürgen Habermas gelten. Nachdem Habermas’ Einschätzung der Religion zunächst von der Ablösung der Religion durch die kommunikative Vernunft im Zuge fortschreitender Rationalisierung geprägt war und er dann von einer fortdauernden Koexistenz ausging, lässt sich spätestens seit Habermas Friedenspreisrede schließlich eine Offenheit und ein hohes Maß an Wohlwollen gegenüber der Religion bei ihm ausmachen. In dieser, wenn man so will dritten und (vorläufig?) letzten Stufe geht Habermas von einer Komplementarität und Kooperation von Vernunft und Religion aus und vertritt damit eine postmetaphysische und zugleich post-säkulare Auffassung.10 Im Zuge einer zunehmend skeptischeren Sicht auf die Moderne, in
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Vgl. einschlägig dazu HABERMAS, JÜRGEN, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defätismus der modernen Vernunft, in: Wenzel, Knut (Hg.), Die Religionen und die Vernunft. Die Debatte um die Regensburger Vorlesung des Papstes, Freiburg i. Br. 2007, 47-56; DERS., Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a.M. 2001. Zur Entwicklung bei Habermas s. z.B. SCHMIDT, JOSEF/ REDER, MICHAEL, Habermas und die Religion, in: Dies. (Hg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 2008, 9-25, hier: 12-18. Zum Begriff des nachmetaphysischen und post-säkularen Denkens vgl. z.B. HABERMAS, JÜRGEN, Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, 100-103, 299f. und ausführlich LINDE, GESCHE, „Religiös“ oder „säkular“? Zu einer problematischen Unterscheidung bei Jürgen Habermas, in: Schmidt, Thomas M./ Wenzel, Knut (Hg.), Moderne Religion? Theologische und religionsphilosophische Reaktionen auf Jürgen Habermas, Freiburg (u.a.) 2009, 153-202, hier: 173-192.
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deren Fokus vor allem eine auf Lebenswelt und Politik übergreifende, gegenüber diesen aber blinde Marktlogik steht, gelangt Habermas zur einer Reformulierung des Böckenförde-Theorems, die nahelegt, dass der Staat zwar nicht in seiner Legitimität an sich einer religiösen Unterfütterung bedarf, jedoch eine bestimmte motivationale Leistung zur Gemeinwohlorientierung, eine auf kooperatives und ziviles Verhalten zielende Grundhaltung, nicht aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln generieren kann.11 Religiöse Traditionen kommen damit als Ressourcen für die Grundlagen gelingenden Zusammenlebens in den Blick. Habermas sieht in ihnen sowohl semantische als auch praktische Potentiale, die kein säkulares Pendant bereithält. Sie transportieren „ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ 12 , indem sie die Dimension der Erlösung, aber auch des Verfehlens eröffnen.13 Diese Potentiale gilt es zu entschlüsseln und in säkulare Gehalte zu übersetzen. 14 Zwar honoriert Junker-Kenny grundsätzlich die Intuitionen, die Habermas in seinem Modell artikuliert, fragt es aber dennoch in seinen Grundlagen an.15 Sie verweist auf eine Spannung in Habermas’ Entwurf, die möglicherweise zum Kollaps seiner Position führt. Die Rede ist von der von Habermas konstatierten scharfen Grenzlinie zwischen Glauben und Wissen, Religion und Philosophie. Wenn Habermas von der Opakheit und der „diskursive[n] Exterritorialität“16 der Religion spricht, zementiert er damit eine bleibende Asymmetrie im Verhältnis von Glauben und Wissen und weist religiösen Überzeugungen einen Sonderstatus zu. Dies aber hat erhebliche Konsequenzen für die von Habermas eingeforderte Aufgabe der Übersetzung religiöser in säkulare Gehalte, die auf die Philosophie als Mittler setzt. Unter Annahme der postulierten Inkommensurabilität ist alles andere als
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Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion, Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, 9. Weitergehend zur These der „entgleisenden Modernisierung“ s. EBD., 106, 111, 247. Neben der Ökonomisierung ist es auch die Tendenz zu einem reduktionistischen Naturalismus, die Habermas beunruhigt, vgl. z.B. EBD., 7f, 147, 153. EBD., 13, vgl. auch EBD., 137. Vgl. EBD., 115. Zu den praktischen, bislang weitaus weniger in der Diskussion beachteten Potentialen vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, 47f. und DERS., Nachmetaphysisches Denken II, 105, 111. HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion, 13, 116, 149. Vgl. JUNKER-KENNY, MAUREEN, Religion and Public Reason, Berlin/ Boston 2014, 290f., ebenso DIES., Jenseits liberaler öffentlicher Vernunft, 123. HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion, 135.
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klar, wie die Philosophie diese Leistung vollbringen soll. Habermas erklärt eine „rettende Übersetzung“17 , also eine ohne Bedeutungsverlust, zum Zielpunkt. Wenn die philosophische Vernunft aber die religiösen Gehalte immer nur umkreisen, nie aber im vollen Sinne erfassen kann und ihr letztlich fremd bleiben muss,18 wie er meint, so ergibt sich ein Problem. Um in der Metapher zu bleiben: Übersetzer müssen zweisprachig sein. Die nachmetaphysische Philosophie fiele damit für diese Funktion aus. Und mehr noch: Liefe Habermas’ Auffassung nicht auf eine Bankrotterklärung für die Religionsphilosophie, für die philosophische Denkarbeit an religiösen Traditionsgehalten hinaus? Es wäre dann doch wieder die Theologie mit ihrer binnenperspektischen Kompetenz, die gefragt wäre.19
2. M ITBEGRÜNDUNG
UND
Ü BERSCHUSS
Der basale Kritikpunkt Junker-Kennys an beiden Konzeptionen, der Behandlung umfassender Lehren bei Rawls und der Religion als Verbündete, aber zugleich übersetzungsbedürftige Partnerin gegen eine „entgleisende Modernisierung“ bei Habermas, scheint mir die Verhältnissetzung von Religion und Vernunft zu sein. In beiden Entwürfen steht das Partikulare, und paradigmatisch für das Partikulare die Religion, dem Universalen, der öffentlichen Vernunft, in einer Weise entgegen, die einen vermittelnden Brückenschlag a priori auszuschließen scheint, gleichwohl sowohl Rawls als auch Habermas die Notwendigkeit eben jenes Brückenschlags eingesehen haben. Mit Ricoeur nun unterbreitet Junker-Kenny eine alternative Konzeption. Ricoeurs hermeneutische Philosophie bietet, ausgehend von der phä-
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EBD., 116. Vgl. EBD., 115, 149-152. Vgl. LINDE, GESCHE, „Religiös“ oder „säkular“, 198ff. Für eine ausführlichere Kritik Junker-Kennys an Habermas’ Philosophiebegriff s. JUNKER-KENNY, MAUREEN, Praxis gegenseitiger Anerkennung? Die Relevanz der philosophischen Kritik an Jürgen Habermas’ Ansatz für die Entwicklung eines Begriffs christlicher Praxis, in: International Journal of Practical Theology, 1 (1997) 41-82, hier: 66-73, ebenso DIES., Religion and Public Reason, 117f. Zum viel kritisierten Topos der Übersetzung s. z.B. auch THOMALLA, KLAUS, Bedeutung und Grenzen der Habermas’schen Religionsphilosophie, in: Schweidler, Walter (Hg.), Postsäkulare Gesellschaft. Perspektiven interdisziplinärer Forschung, Freiburg/ München 2007, 115-147, hier: 129-144.
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nomenologischen Methode, eine artikulierte Analyse des Selbst und der Intersubjektivität, von Imagination und Interpretation sowie einen Entwurf von kulturellem Pluralismus als Ressource gesellschaftlicher Kreativität und Erneuerung. Kulturen stellen symbolische Formen und Praktiken zur Erschließung von Realität, zur Interpretation des Lebens bereit. Utopien und religiöse Traditionen entwerfen alternative Realitäten. Heterogene Traditionen sind je Mitbegründer der Gesellschaft, sodass eine pluralistisches, kein einheitliches Fundament vorliegt, aus dem sich die Motivation und Anerkennung für die Grundlagen des Zusammenleben speisen.20 Dieser Entwurf stellt Religion auf gleicher Ebene mit anderen partikularen Traditionen in einen produktiven Streit und ein Ringen um Kooperation. Religion ist stets bereits in den öffentlichen Raum eingegangen, da sie Teil seiner symbolischen Welt ist, aus der sich die Kultur formiert. Sie und andere partikulare Traditionen haben ihn mitbegründet. Ihr Potential für eine (demokratische) Gesellschaft übersteigt den eines Elements des überlappenden Konsenses, sondern ist fundamentaler: Sie hält den Sinn für das Mögliche lebendig.21 Ich möchte drei Aspekte herausgreifen, unter denen ein solcher Ansatz begrüßenswert und vielversprechend ist. Erstens bewegt er sich weg von Paradigma des absoluten Konsenses, dem sich zumindest implizit die meisten Vertreter der Debatte verschrieben zu haben scheinen. Dass ein Konsens aber oftmals nur um den Preis der Einebnung von Eigenheiten, einer negativen Neutralisierung von Differenzen errungen werden kann, wird meist nicht berücksichtigt. Pluralismus wird eher als Problem denn als Bereicherung betrachtet, der Umgang mit ihm liegt dementsprechend in der Reduktion statt in einer Würdigung. Vor allem demokratietheoretisch ist ein Ansatz wie der von Junker-Kenny präsentierte daher positiv zu bewerten: Gerade die partikularen Perspektiven sind es, die Minderheitenpositionen, die nicht Teil des common sense sind, die als wichtiges Korrektiv dienen können – gegen eine Festigung des Status quo, eine Immunisierung der Mehrheitskultur, für eine adäquate gesellschaftliche und politische Meinungs- und Willensbildung. Eine neutralisierende De-Pluralisierung läuft Gefahr, die Anliegen von Minderheiten nicht ausreichend zu Gehör zu bringen und den Diskurs zu Gunsten der Mehrheit
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Ausführlicher dazu JUNKER-KENNY, MAUREEN, Religion and Public Reason, v.a. 184-202, 228-231. Vgl. JUNKER-KENNY, MAUREEN, Religion and Public Reason, 294f, 299f.
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zu vereinheitlichen.22 Es scheint daher sinnvoll und geboten, die Grenzen des „Zugelassenen“ aus demokratietheoretischen Gründen nicht zu eng ziehen. Unterfüttern und stärken ließe sich diese Position durch eine Theorie der Deliberation, die zeigt, dass der demokratische deliberative Prozess nicht nur konkurrierende Meinungen aushalten kann, sondern gar auf diese angewiesen ist und von diesen profitiert. Ein solch agonistisches Modell von Demokratie begrüßt Pluralität vielmehr als Beitrag zum kompetitiven Lernprozess, der Demokratie auszeichnet. Alle Wissensressourcen werden genutzt, auch situiertes, spezifisches Wissen aus partikularen Lebenskontexten findet Eingang in die kollektive Bemühung um eine optimale Problemlösung. Pluralität ist dann keine Gefahr für die Stabilität, sondern eine Ressource für die Entwicklung und Erneuerung einer Gesellschaft.23 Darüber hinaus ist anzumerken, dass eine möglichst hohe Partizipation (oder zumindest Ermöglichung der Partizipation) einer drohenden Entfremdung von Bürgern mit partikularen Überzeugungen vorbeugt, die im schlimmsten Falle zu destabilisierenden Radikalisierungseffekten führten. Die Entstehung eines Grabens zwischen Religiösen und Säkularen ist unbedingt zu vermeiden.24 Zweitens führt Junker-Kennys Konzeption weg von der dualen Logik des „religiös“ vs. „säkular“ – diese Dualität hat die Debatte um den Ort der Religion in der liberalen Öffentlichkeit deutlich geprägt und wurde vielfach kritisiert. Nicht nur in Ansätzen, die eine exklusivistische Strategie verfol-
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Vgl. z.B. TRIGG, ROGER, Religion in the Public Sphere, in: Parker, Michael G./ Schmidt, Thomas M. (Hg.), Scientific Explanation and Religious Belief. Methodological, Practical and Political Issues, Tübingen 2005, 30-43, hier: 40 oder NIESEN, PETER, die politische Theorie des politischen Liberalismus, 49f. Auf den Verlust einer wahrhaft kritischen Vernunft in Rawls’ Entwurf verweist Junker-Kenny schon in Jenseits liberaler öffentlicher Vernunft, 117f. Vgl. z.B. JUNKER-KENNY, MAUREEN, Jenseits liberaler öffentlicher Vernunft, 125, für eine umfassende Abkehr vom Ideal des Konsenses s. RESCHER, NICHOLAS, Pluralism, Against the Demand for Consensus, Oxford 1993, für seine Kritik an Rawls und Habermas in dieser Hinsicht besonders 186-195. Vgl. dazu z.B. SCHMIDT, THOMAS M., Zur Rationalität religiöser Überzeugungen in pluralistischen Gesellschaften, in: Rusconi, Gian Enrico (Hg.), Der säkularisierte Staat im postsäkularen Zeitalter Berlin, 2010, 79-94, hier: 79, oder CALHOUN, CRAIG, Secularism, Citizenship, and the Public Sphere, in: Ders./ Juergensmeyer, Mark/ VanAntwerpen, Jonathan (Hg.), Rethinking Secularism, Oxford (u.a.) 2011, 75-91, hier: 88.
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gen, sondern auch in vermittelnden Ansätzen, wird eine epistemische Dichotomie behauptet, die sich argumentativ nur schwer halten lässt. Weder sind religiöse Gründe gegenüber säkularen rational minderwertig oder gar irrational, noch lässt sich eine plausible genetische Differenz ausmachen, etwa eine „natürliche“, verlässliche Entstehung säkularer Gründe, während hingegen religiöse Gründe übernatürlichen Ursprungs seien, also quasi „vom Himmel fallen“ oder aber rein autoritär sind.25 Eine solche dichotomische Auffassung stellt eine extreme Verzerrung und Reduktion der Vielfalt religiösen Argumentierens dar. Indem alle partikularen Traditionen gleichsam gemeinsam ins Rennen um Geltung und Gehör geschickt werden, erfolgt die Bewertung ihrer Gehalte ohne diese Vorentscheidung. Als drittes ist der von Junker-Kenny selbst kritisch in den Mittelpunkt gerückte Aspekt zu nennen: Das Verhältnis von Religion und Vernunft. Während diese bei Rawls und Habermas, etwas zugespitzt gesagt, eher in einem Nicht-Verhältnis stehen, entfaltet Junker-Kenny ein nicht-reduktives Vernunftverständnis, das die Dimensionen von theoretischer und praktischer Vernunft sowie der Urteilskraft berücksichtigt, wobei der praktischen Dimension ein Primat zukommt.26 Diese Konzeption erlaubt es, dass die Botschaft der Religion nicht als opak für die Vernunft zu postulieren ist, sondern von einer internen, dialektisch zu beschreibenden Beziehung auszugehen ist. Die partikularen Konzepte von Liebe und Mitleid stehen den universalen von Gerechtigkeit und Reziprozität in einer produktiven Spannung gegenüber, sie dienen als gegenseitige Korrektive und transformieren sich im Austausch auf eine höhere Ebene. Religiöse Gehalte zielen auf das Universale, sie stehen in einem universalen Horizont. 27 Diese Verhältnissetzung erlaubt es, religiöse Traditionen in einem doppelten Sinne als kritikfähig aufzufassen: sowohl als Akteur als auch Empfänger von Kritik. Damit sind sie in die Lage versetzt, sowohl Impulse im öffentlichen Diskurs zu setzen als auch aus ihm heraus zu empfangen. Ihre Inklusion in den Diskurs hätte dann nicht nur eine belebende Wirkung auf den Meinungsund Willensbildungsprozess, sondern würde zugleich einer möglichen Im-
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S. dazu z.B. EBERLE, CHRISTOPHER, Religious Convictions in Liberal Politics, Cambridge, 2002, 14f., 240, 313f., 332f. Ausführlicher dazu s. JUNKER-KENNY, MAUREEN. Religion and Public Reason, 280289. Vgl. JUNKER-KENNY, MAUREEN, Religion and Public Reason, 297f.
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munisierung der religiösen Traditionen entgegenwirken. Es wird ihnen zumindest erschwert, sich selbst außerhalb des öffentlichen Diskurses stellen und idiosynkratisch in einen isolierten Sonderbereich mit eigenen, nicht rechenschaftspflichtigen Standards zu agieren. Dieser Punkt scheint mir neuralgisch zu sein, und ich möchte einige kritische Rückfragen anschließen: nach den angesetzten Maßstäben der Kritik, den Rechtfertigungsstandards und schließlich Junker-Kennys Philosophieverständnis. Zunächst einmal ist zu beleuchten, welche Maßstäbe der Kritik in einem Entwurf gelten, der eine Pluralität an Legitimitäten zuzulassen scheint. Die Einrichtung eines – zumindest vermeintlich – neutralen Bereichs im Zuge der Exklusion partikularer Überzeugungen verschafft ja immerhin der Intuition Geltung, dass auf der Ebene der widerstreitenden Traditionen mit ihren je eigenen Geltungsansprüchen auf friedliche und gerechte Weise keine Einigung über das, was für alle gültig sein soll, erreicht werden kann. Die im überlappenden Konsens gemeinsam befürwortete Gerechtigkeitskonzeption ist als freistehende eben nicht abhängig von bestimmten Quellen und bietet einen allgemeinen Standard, von dem aus die partikularen Traditionen, bzw. ihre Einlassungen in den öffentlichen Raum geprüft werden können. Fällt diese neutrale Instanz weg, die eine universale Perspektive bietet, an der sich alles messen lassen muss, so droht ein Überzeugungsrelativismus. Letztlich wäre dann doch wieder eine einzelne – wohl lautere, mächtigere – Gruppe diejenige, die vorgibt, was verbindlich und legitim ist. Wenn man die Einbeziehung des Partikularen als konstitutiven, unverzichtbaren Teil der Öffentlichkeit betrachtet, dessen Potentiale also entfesselt, sollten zugleich Grundregeln des öffentlichen Diskurses mitgegeben werden, die unweigerlich auftretenden starken Differenzen in friedlicher und tatsächlich produktiver Weise zu bearbeiten. Gibt es Verhaltensregeln oder Rechtfertigungspflichten, die die angestrebte Kooperation strukturieren und anleiten? Damit ist die Ebene der öffentlichen Deliberation berührt. Bei Habermas etwa findet man die Forderung nach einer anspruchsvollen Haltung, in der die kooperative Übersetzungsleistung vollzogen werden soll. Auf Seiten der Religiösen gilt, dass sie sich relativierend ins Verhältnis setzen müssen zu konkurrierenden Überzeugungen, die Autorität der Wissenschaften bezüglich des Weltwissens sowie den modernen Verfassungsstaat anerkennen, sich also als fähig zum Diskurs, zur Toleranz und Pluralität erweisen sollen. Umgekehrt soll auf Seiten der Säkularen ein anspruchsvolles,
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selbst-reflexives und selbstkritisches post-säkulares Bewusstsein ausgebildet werden: Ihnen wird abverlangt, das semantische und auch praktische Potential religiöser Traditionen anzuerkennen – ihnen also agnostisch und lernbereit gegenüberzustehen. Die Fallibilität des aufgeklärten Bewusstseins wird angemahnt, um vor dessen möglichen Grenzüberschreitungen und ihrer drohenden Borniertheit zu bewahren.28 Daran anschließend ist dann auch der Öffentlichkeitsbegriff von JunkerKenny zu befragen. Welche Öffentlichkeit ist der Raum des Exzessiven? Fasst man „Öffentlichkeit […] als generiert und regeneriert aus dem Handeln aller als ‚Mitbegründer‘ des öffentlichen Raums“29 auf, so ist damit ein weites Konzept der Öffentlichkeit etabliert, das klarerweise den Horizont von Rawls’ Sphäre des öffentlichen Vernunftgebrauchs überschreitet. Eine institutionelle Schwelle scheint nicht eingezogen zu sein. JunkerKenny kritisiert ja nicht nur das Rawlssche „Proviso“, das religiösen Überzeugungen weiterhin eine eingeschränkte Rolle zuweist, nämlich anmahnt, diese „beizeiten“ durch öffentliche Gründe zu ersetzen.30 Vielmehr ist die Beschränkung partikularer Traditionen auf die sogenannte zivilgesellschaftliche „Hintergrundkultur“, eine Öffentlichkeit außerhalb der Parlamente und des Obersten Gerichtshofes, bereits nicht mehr angemessen. Dort haben die comprehensive doctrines in Rawls’ Entwurf ihren Ort und leisten einen wichtigen Beitrag zur Erlangung und Stabilisierung des überlappenden Konsenses.31 Der problematische Bereich des Politischen im Sinne Rawls’ ist also eine sehr „kleine“, eng begrenzte Öffentlichkeit. Auch bei Habermas gilt die Übersetzungsforderung im strengen Sinne nur jenseits einer informellen Öffentlichkeit, also in Institutionen wie Parlamenten und Gerichten, Ministerien und Verwaltungseinrichtungen.32 In 28
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Vgl. z.B. HABERMAS, JÜRGEN, Glauben und Wissen, 14, und DERS. Zwischen Naturalismus und Religion, 10, 13, 137, 143 und DERS., Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, 49, 55. JUNKER-KENNY, Jenseits liberaler öffentlicher Vernunft, 126. Vgl. z.B. RAWLS, JOHN, Political Liberalism, lii, DERS., The Idea of Public Reason Revisited, 776, 783f. Vgl. z.B. RAWLS, JOHN, The Idea of Public Reason Revisited, 767f. und DERS., Political Liberalism, 14. Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion, 133-136. Cristina Lafont weist darauf hin, dass dieses „institutional translation proviso“ allerdings die von Habermas bei Rawls’ Proviso diagnostizierten Probleme auch nur um eine Ebene nach oben verschiebt, vgl. z.B. LAFONT, CRISTINA, Religion and the Public Sphere:
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der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit hingegen dürfen keine „Sprachverbote“ bestehen, das Prinzip säkularer Rechtfertigung greift erst, wenn die Ebene der Legislative, Judikative oder Exekutive erreicht ist, da hier eine allgemeine Nachvollziehbarkeit erreicht werden muss.33 Das „Maß des Überflusses“ auch dort gelten zu lassen, wo allgemeinverbindliche Gesetze erlassen werden, die eben jedermann betreffen, und nicht nur in der gleichsam vorgeschalteten Arena der politischen Meinungsund Willensbildung, unterläuft zumindest die liberale Grundintuition, dass das solche Entscheidungen in allgemein nachvollziehbaren Gründen wurzeln sollten, um ihren unumgänglichen Zwangscharakter politischer Macht zu mildern. Ein vollkommen inklusivistischer Ansatz, der sowohl vollständigen Verzicht auf Rechtfertigungspflichten als auch auf eine wie auch immer definierte enge Sphäre des Politischen oder eine institutionelle Schwelle übt, muss zumindest auf seinen möglichen Preis hin geprüft werden, wenn er als die fruchtbarere Alternative vorgestellt wird.34 Die „Methode der Vermeidung“, der Einhegung oder gar Verbannung der Religion bewahrt eben vor dem „Exzessiven“, das unabweislich Teil ihres Potentials ist. Das Exzessive kann durchaus als Kehrseite des „Überflusses“ betrachtet werden. So zeichnet sich der legale Bereich ja gerade dadurch gegenüber dem moralischen aus, dass er sich an Gerechtigkeit – nicht an Liebe – orientiert. Das mag als Kompromiss erscheinen, hat sich aber als stabile Lösung erwiesen. Die Instanz, die bei Junker-Kenny eingesetzt wird, um zu vermitteln und zu bewerten, ist die Philosophie, für deren Universalität und starke Kompetenz gegenüber den partikularen Weltanschauungen plädiert wird. Jedoch bleibt der Bezugspunkt dieser auf Differenzen reflektierenden Vernunft im Dunkeln. Was qualifiziert die Vernunft als allgemein? Müsste sie nicht vielmehr selbst als kontext- und zeitspezifisch aufgefasst werden? Der Philosophiebegriff, für den Junker-Kenny eintritt, hängt von einem starken metaphysischen Vernunftbegriff ab. Die Philosophie fände sich dann doch
33 34
Remarks on Habermas’ Conception of Public Deliberation in Postsecular Societies, in: Constellations 14, 2 (2007) 239-259, hier: 244f. Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion, 11. Zur Kritik völlig unqualifizierter Inklusion s. HONNACKER, ANA, Post-säkularer Liberalismus, 128ff.
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dort wieder, von wo Rawls und Habermas sie entfernt hatten: in der Rolle der Richterin. Es wäre zu explizieren, wie es ihr von dieser Position aus gelingt, kritisch zu bleiben und nicht doktrinär zu werden,35 also das ihr von Junker-Kenny zugesprochene „allgemeine Wahrheitsbewusstsein“ den partikularen Traditionen als Horizont offenzuhalten und auch anzumahnen, ohne sich selbst im Besitz der Wahrheit zu wähnen und damit am Konkurrenzkampf der Weltanschauungen teilzunehmen.
3. R ECHTFERTIGUNG
UND
K RITIK
Wie ist es nun um die Legitimität des Exzessiven im öffentlichen Raum bestellt? Zunächst einmal ist sie zu bestätigen und unterstreichen. Auch Äußerungen, die vom common sense abweichen, dürfen artikuliert werden. Sie sind darüber hinaus aber weitaus mehr als nur zu tolerierende Störfaktoren: Sie bilden ein wichtiges Korrektiv zum Status quo und stellen damit den Motor für Meinungs- und Willensbildungsprozesse dar, die tatsächlich kreativ sind, also nicht nur das immer schon Gegebene konfirmieren. Maureen Junker-Kennys Vorschlag eines inklusivistischen Modells religiöser Perspektiven in den öffentlichen Diskurs betont das Potential, das in religiösen Traditionen liegt. Mit dem Konzept der Mitbegründung des öffentlichen Raums gelingt es ihr, ein der post-säkularen Situation angemessenes Modell zu entwickeln, das Religion nicht als das Andere der Vernunft ansieht und auf erkenntnis- und demokratietheoretisch problematische Weise vom öffentlichen Diskurs auszuschließen versucht. Ich möchte abschließend dafür plädieren, Junker-Kennys Ansatz dezidiert in den Rahmen liberaler deliberativer Demokratietheorien einzubetten. In diesem Zuge könnten sowohl Kommunikationsregeln für den Diskurs etabliert werden, als auch das Prinzip der gegenseitigen Rechtfertigungspflicht stark gemacht werden. So scheint mir beispielsweise ein Rückgriff auf Habermas’ Forderungen zur Haltung der Diskursteilnehmer eine fruchtbare Ergänzung darzustellen, um der möglichen Dominanz exzessiver Inhalte vorzubeugen und diese zu kultivieren. Die Idee des „Überfließenden“ könnte damit deutlich von einer reinen Überwältigungsstrategie unter-
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Zur Beschreibung philosophischer Traditionen als „kritisch“ und „doktrinär“ vgl. HAMPE, MICHAEL, Die Lehren der Philosophie, Eine Kritik, Berlin 2014, 45-102.
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schieden werden. Den in den Diskurs eingebrachten Überzeugungen wird nicht einfach freier Lauf gelassen, sondern ein kommunikatives Grundgerüst gesetzt, das den Prozess der Problemlösung fördern soll: Verzicht auf jegliche Exklusion, Ermöglichung der Partizipation, Aufrichtigkeit und Zwanglosigkeit.36 Ebenso wäre das liberale Ideal der öffentlichen, gegenseitigen Rechtfertigung zu berücksichtigen. Gerade unter der Annahme der Partikularität jeglicher Perspektive ist es geraten, sich über die Bedingungen des Argumentierens und Begründens zu verständigen. Will man weder die Position eines erkenntnistheoretischen Relativismus einnehmen, bei dem alle Überzeugungen als gleichwertig angenommen werden, noch eine bestimme Perspektive gegenüber allen anderen privilegieren und damit einen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus einführen, so verlagert sich die Legitimität von Diskursen in den Prozess selbst und folgt prozeduralen Kriterien. Dementsprechend ist zu fragen, worin die Bedingungen der Legitimität eines Prozesses, an dessen Ende eine Entscheidung über ein allgemeinverbindliches Gesetz steht, bestehen und eine Theorie der Rechtfertigung zu artikulieren.37 Gekoppelt mit einem allgemeinen Fallibilitätsbewusstsein, der Fähigkeit zur Lernbereitschaft, Perspektivenübernahme und Selbstdistanzierung wäre einem im vollen Sinne diskursiven Austausch, der nicht nur Perspektiven aufeinanderprallen lässt, zumindest der Boden bereitet. Das Exzessive hätte in diesem Rahmen seinen legitimen Ort. Ob es sich um biblische Erzählungen, Artikulationen mystischer Erfahrungen, utilitaristische Erwägungen oder marxistische Überzeugungen handelt, spielt in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit keine Rolle. Alle haben sich gleichermaßen hinsichtlich ihres Beitrags zu einem öffentlich verhandelten Thema evaluieren zu lassen. Der von Ricoeur inspirierte Ansatz Junker-Kennys ließe sich so als Gegengewicht zu einer eher säkularistisch auftretenden liberalen Tradition ins Feld führen, aber auch als produktive Ergänzung zu
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Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion, 89-92. Als besonders fruchtbar in Bezug auf die Debatte um religiöse Gründe im öffentlichen Diskurs können die Entwürfe von Christopher Eberle, Gerald Gaus und Cristina Lafont gelten, s. z.B. EBERLE, CHRISTOPHER, Religious Convictions in Liberal Politics, GAUS, GERALD, Justificatory Liberalism. An Essay on Epistemology and Political Theory, New York/ Oxford 1996 und LAFONT, CRISTINA, Religion and the Public Sphere.
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dieser verstehen, die den Liberalismus im Lichte der post-säkularen Situation neu interpretiert.
Religion und die politische Öffentlichkeit
Öffentlichkeit und Liberalismus Eine pragmatistische Neubestimmung anhand des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Religion M ICHAEL R EDER
D ER ‚ARABISCHE F RÜHLING ‘ ALS I MPULS POLITISCH - PHILOSOPHISCHE D EBATTE
FÜR DIE
Der ‚Arabische Frühling‘ ist nicht nur politisch, sondern auch philosophisch bemerkenswert, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Erstens hat der ‚Arabische Frühling‘ seinen Ausgangspunkt in einer breiten öffentlichen Bewegung in den arabischen Gesellschaften, die im Vergleich zu herkömmlichen öffentlichen Bewegungen in westlichen Gesellschaften neuartige soziale und kulturelle Formen angenommen hat. Der Einsatz vielfältiger Kommunikations- und Informationsmittel und einer transformierten kulturellen Symbol- und Bildsprache zeigt die große Heterogenität und Dynamik dieser öffentlichen Bewegung. Gleichzeitig ist sie auch inhaltlich durch eine große Pluralität von Meinungen und Argumenten gekennzeichnet, in der insbesondere religiöse und säkulare Argumente immer weniger voneinander getrennt werden können. Damit stellt die Bewegung eine Herausforderung für die politische Philosophie dar, die oftmals auf traditionelle Formen der Kommunikation und bestimmte Typen des Argumentierens – und zwar im Sinne eines säkularen Liberalismus – abstellt. Zweitens zeigen sich in den vielfältigen regionalen Entwicklungen des ‚Arabischen Frühlings‘ verschiedene politische Suchbewegungen, die philosophisch betrachtet ebenfalls eine Herausforderung für die politische Philosophie, und zwar insbesondere die Demokratietheorie, darstellen. Dabei
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geht es vor allem um die Frage, ob es einen Kernbestand der Demokratie als institutionelles Arrangement gibt und wie weit kulturelle Transformationen oder Erweiterungen dieses Kernbestandes aus philosophischer Sicht begründet werden können. Drittens ist der ‚Arabische Frühling‘ durch eine Diskussion über das Verhältnis von Religion und Staat gekennzeichnet. Im Umbruch bisheriger autokratischer Systeme und unter dem Einfluss neuer islamischer und islamistischer Akteure wird diskutiert, ob die strikte Trennung des Westens zwischen Religion und Staat auch für diese Regionen sinnvoll ist und wie neue Wege des Verhältnisses von (politischer) Öffentlichkeit und Religion philosophisch begründet werden können. Der ‚Arabische Frühling‘ ist in dieser dreifachen Weise ein Impuls für die philosophische Diskussion, insbesondere für das Verständnis von Öffentlichkeit im Kontext liberaler Gesellschafts- und Demokratietheorien. Zu diskutieren ist vor diesem Hintergrund insbesondere, inwieweit bisherige Öffentlichkeitskonzepte, die zumeist in der Tradition des philosophischen Liberalismus verortet sind, solche Entwicklungen angemessen erklären können und damit fähig sind, gegenwärtige (welt-)gesellschaftliche Transformationen zu erfassen. In diesem Beitrag soll das Verhältnis von Öffentlichkeit und Religion als ein Beispielfeld dienen, um das gegenwärtig prägende liberale Modell von Öffentlichkeit kritisch zu reflektieren. Dabei soll diskutiert werden, mit welchem Konzept von Öffentlichkeit man sinnvoller Weise die Funktion von Religion in modernen Gesellschaften erklären kann und welche Konsequenzen sich für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften daraus ergeben. Nach einer ersten Systematisierung der Debatte der politischen Philosophie zum Konzept der Öffentlichkeit, werden im Folgenden zwei Autoren (Richard Rorty und Jürgen Habermas) zu ihrer Verhältnisbestimmung von Religion und Öffentlichkeit befragt. Dabei wird mit den Überlegungen von Rorty begonnen, weil er in der bisherigen Debatte weniger wahrgenommen wird als Habermas, dessen Konzept der postsäkularen Gesellschaft seit nunmehr 15 Jahren intensiv diskutiert wird. Den Beitrag schließen systematische Schlussfolgerungen für eine Weiterentwicklung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Religion ab.
Ö FFENTLICHKEIT
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S PEZIFIKA EINES PHILOSOPHISCHEN V ERSTÄNDNISSES VON Ö FFENTLICHKEIT Der Begriff der Öffentlichkeit ist insbesondere seit der Aufklärung verstärkt in die philosophische Debatte aufgenommen worden. Autoren wie Immanuel Kant haben das Konzept der Öffentlichkeit als Ort des vernünftigen Austausches von Meinungen für moderne Gesellschaften in philosophischer Hinsicht Grund gelegt. 1 Zu einem Kernbegriff philosophischer Gesellschafts- und Demokratietheorie ist er allerdings erst im 20. Jahrhundert geworden. Dies ist ganz unterschiedlichen Autoren zu verdanken, beispielsweise den Arbeiten von John Dewey, Hannah Arendt oder Jürgen Habermas.2 Wichtige Bausteine dieser philosophiegeschichtlichen Debatten waren erstens die Betonung des wechselseitigen Verhältnisses von Öffentlichkeit und Demokratie, womit von verschiedenen philosophischen Theorien ausgehend betont wird, dass Demokratie notwendig auf eine vitale (politische) Öffentlichkeit (z.B. als kollektiver Erfahrungsraum) angewiesen ist. Wenn Öffentlichkeit an Vitalität verliert oder stark reglementiert wird, drohen Demokratien als Ganze pathologische Züge anzunehmen, so die implizite Annahme. Zweitens wurde in einer historischen Perspektive der Strukturwandel von Öffentlichkeit, insbesondere von Habermas, in seinen verschiedenen Facetten philosophisch rekonstruiert – angefangen von den Frühformen bürgerlicher Gesellschaften in der Aufklärung, über pathologische Verzerrungen moderner Öffentlichkeit durch Ökonomisierung und Kommerzialisierung bis hin zu den normativen Potenzialen und politischen Funktionen ausdifferenzierter Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Öffentlichkeit als philosophisches Konzept lässt sich vor dem Hintergrund dieser Debatten des vergangenen Jahrhunderts auf unterschiedlichen Argumentationsebenen ansiedeln. Entweder es wird ein soziologisch bzw. 1
2
Vgl. KANT, IMMANUEL, Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1999. Vgl. exemplarisch hierzu DEWEY, JOHN, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Braunschweig u.a. 31964; ARENDT, HANNAH, Vita activa oder vom tätigen Leben, München/ Zürich 2002; JÜRGEN HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.
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politikwissenschaftlich orientierter Zugang zur Konzeptualisierung von Öffentlichkeit gewählt. Dann ist die Öffentlichkeit vor allem der Ort des Austausches von nicht-privaten Äußerungen, der durch einen demokratischrechtsstaatlichen Rahmen gesichert wird. Als öffentlicher Raum wird er meist als ein Gegenüber zu den offiziellen politischen Institutionen verstanden, teilweise auch als ein Gegenüber zur ökonomischen Sphäre. Ein zweiter Zugang geht stärker von den Inhalten öffentlicher Debatten aus und versteht Öffentlichkeit als die Gesamtheit der Meinungen der Bürger, die in gesellschaftliche Debatten eingebracht werden und die gleichzeitig auf der Hörerseite von allen Bürgern als Diskursbeiträge wahrgenommen werden können. Dabei wird Öffentlichkeit meist als ein kommunikatives Geschehen verstanden. Besonders in der von Habermas geprägten Interpretation wird das Konzept von Öffentlichkeit zudem oftmals aus einer normativen Perspektive heraus erklärt. Die öffentlichen Diskurse, so das implizite Argument, sind im Kern erst dann der Öffentlichkeit zuzurechnen, wenn sie einem bestimmten Ziel genügen, nämlich der Orientierung hin auf ein „besseres“ Zusammenleben der Menschen. Mit Begriffen wie Gemeinwohlorientierung oder Ausrichtung an Gerechtigkeit werden dann die Akteure beschrieben, die diese normativen Ziele in der Öffentlichkeit verfolgen. In einigen Debatten fällt diese normative Orientierung besonders auf, wenn fast ausschließlich Nichtregierungsorganisationen (wie Amnesty International oder Greenpeace) als Akteure der Öffentlichkeit identifiziert werden. Damit verbunden ist bei an Habermas orientierten Ansätzen ein Rekurs auf das Konzept der kommunikativen Vernunft, und zwar in dem Sinne, dass nur die Akteure der Öffentlichkeit in den philosophischen Überlegungen Beachtung finden bzw. deren Geltungsansprüche als berechtigt interpretiert werden, die im Sinne der kommunikativen Vernunft auf das „bessere“ (d.h. nach bestimmten Vernunftstandards bewertete) Argument unter Beteiligung aller betroffenen Bürger und damit eine konsensorientierte Konfliktlösung gesellschaftlicher Themen abzielen. In der aktuellen Debatte erweitern Autoren wie Volker Gerhardt diese Perspektive auf Öffentlichkeit, insofern beispielsweise Gerhardt Öffentlichkeit als gesellschaftliches Bewusstsein des einzelnen Bürgers interpretiert.3 Menschliches Bewusstsein, so Gerhardt, ist niemals nur individuell,
3
Vgl. GERHARDT, VOLKER, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012.
Ö FFENTLICHKEIT
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sondern immer schon auch sozial und politisch, wenn es sich äußert. Der Mensch wird in dieser anthropologischen fundierten Deutung von Öffentlichkeit zum homo publicus. Die Öffentlichkeit wird räumlich wie sprachlich als der Ort gedeutet, an dem eine Gesellschaft ihren politischen Willen findet – auf der Basis der freien Meinungsäußerung aller Bürger. In den meisten skizzierten Ansätzen wird (im weitesten Sinne) Öffentlichkeit aus der Perspektive eines politischen Liberalismus interpretiert. Die Freiheit der Meinung und Handlungen der Bürger fungiert dabei als ein philosophischer Ausgangspunkt. Zudem zeigt sich – zumindest in der Mehrzahl der Ansätze – eine normative Konnotation des Öffentlichkeitsbegriffs. Dieses Modell impliziert jedoch einige Schwierigkeiten, von denen vier explizit benannt werden sollen. Erstens wird von soziologischer, aber auch philosophischer Perspektive die Trennung von privat und öffentlich kritisiert, die einem liberal orientierten Modell von Öffentlichkeit zumeist zu Grunde liegt. Neue Kommunikations- und Informationstechnologien ermöglichen vielfältige Hybridformen dieser Grenzziehung und insbesondere Studien zum lebensweltlichen Verhalten von Jugendlichen zeigen, dass diese Grenze porös, wenn nicht ganz aufgelöst wird. Die Beschreibung der Öffentlichkeit muss daher an anderen Stellen ansetzen, als dies bislang der Fall gewesen ist, so der Vorwurf.4 Zweitens zeigt sich im öffentlichen Raum, der mehr und mehr in den traditionell privaten Bereich hineinreicht, eine enorme Heterogenität der Akteure, Kontexte und Diskursformen. Eine solche plurale Differenzierung, die moderne Gesellschaften insgesamt, aber eben auch in hohem Maße die Öffentlichkeit betrifft, „umfasst alle Formen der Ausbildung unterschiedlicher sozialer Sinnwelten, die nicht auf der Ausdifferenzierung funktional spezialisierter Handlungssphären beruhen, sondern relativ unspezifisch Überzeugungen, Einstellungen und Erlebniswelten umfassen.“5 Die bisherigen Modelle von Öffentlichkeit suggerieren bei aller Betonung der Pluralität von Akteuren und Meinungen jedoch eine gewisse Homogenität, was sich insbesondere an den Analysen zu NGOs als Hauptakteure der Öffent-
4 5
Vgl. exemplarisch PHILLIPS, ANNE, Geschlecht und Demokratie, Hamburg 1995. PETERS, BERNHARD, Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 2007, 95.
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lichkeit ablesen lässt. Diese Homogenität wird heute mehr und mehr aufgelöst.6 Schlussendlich ist eine dezidiert normative Ausrichtung von Öffentlichkeit zu kritisieren. Im öffentlichen Raum proliferiert mit den Akteuren nämlich auch die normative Zielrichtung der Akteure selbst. Dies war in gewisser Weise schon immer ein Kennzeichen moderner Gesellschaften, aber zeigt sich gegenwärtig in einer neuen Qualität und Form. Die Pluralität normativer Ziele und Motivationen vervielfältigt sich in global verflochtenen und interkulturell verfassten Gesellschaften zunehmend, weshalb keine einheitliche normative Ausrichtung als Kernmerkmal der Öffentlichkeit mehr automatisch angenommen werden kann. Deshalb kann das Ziel der Öffentlichkeit auch nicht sein, eine konsensorientierte Aushandlung politischer Themen zu leisten. Bei der Konzeptualisierung von Öffentlichkeit sollte deshalb „nicht ihre Kapazität zur Konfliktlösung durch aktuelle Konsensbildung oder zur Legitimation einzelner politischer Entscheidungen im Vordergrund stehen. Das ‚Agora-Modell‘ politischer Entscheidungsfindung durch öffentliche Beratung ist irreführend, wenn es um größere Öffentlichkeiten geht.“7 Wenn dies, z.B. mit dem Hinweis auf die kommunikative Vernunft, dennoch getan wird, dann werden viele Äußerungen ausgeklammert und die Struktur und auch das Potenzial der Öffentlichkeit selbst nicht ernst genommen. Öffentliche Diskurse sind aber vielmehr durch ganz unterschiedliche Formen von Vernünftigkeit ausgezeichnet und damit auch durch sich stark unterscheidende normative Zielvorstellungen. Dies ist jedoch kein Defizit, sondern eher eine Stärke der Öffentlichkeit, worauf bei-
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Dabei bleibt jedoch Nancy Frasers Kritik an den liberalen Öffentlichkeitskonzepten auch für die pluralisierten Öffentlichkeiten nach wie vor bestehen (vgl. FRASER, NANCY, Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Nationalstaates, Frankfurt a.M. 2001, 107-150). Der Öffentlichkeitsbegriff suggeriert nämlich, so ihr Argument, dass jeder Bürger gewissermaßen automatisch eine Möglichkeit zur Partizipation in diesem Bereich habe, was jedoch ein Trugschluss sei. Denn viele Menschen werden aus unterschiedlichen Gründen (z.B. Bildungsniveau, technisches Knowhow, finanzielle Möglichkeiten) von den öffentlichen Diskursen abgeschnitten. Dies gilt auch für den gegenwärtigen heterogenen Raum der Öffentlichkeit, auch wenn die Zugangsmöglichkeiten insgesamt sicherlich vielfältiger geworden sind. B. PETERS, Sinn von Öffentlichkeit, 202.
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spielsweise radikale Demokratietheorien in Absetzung vom Habermasschen Konzept von Öffentlichkeit verweisen.8 Damit sind einige wichtige Merkmale des gegenwärtigen Diskurses über Öffentlichkeit skizziert. Im Folgenden sollen zwei Ansätze vorgestellt werden, die Antworten auf die Frage geben, wie aus philosophischer Sicht die Funktion und der Ort der Religion in der Öffentlichkeit angemessen verstanden werden kann: dies sind Richard Rorty und Jürgen Habermas. Die Beschäftigung mit diesen beiden Ansätzen hilft wiederum die skizzierte Kritik am gegenwärtigen liberalen Konzept von Öffentlichkeit zu plausibilisieren und Schlussfolgerungen für mögliche Weiterentwicklungen aufzuzeigen.
R ORTY
UND H ABERMAS ALS B EISPIELE EINES LIBERAL GEPRÄGTEN Z UGANGES Rortys Religionsverständnis kann vor dem Hintergrund seiner pragmatistisch begründeten Kritik an Wahrheitstheorien und der damit korrespondierenden Bedeutung des Liberalismus im Feld des Politischen rekonstruiert werden. Denn er ist sowohl skeptisch gegenüber den Wahrheitsansprüchen, die Religionen oftmals erheben, als auch gegenüber ihren moralischen Forderungen, die seiner Ansicht nach meist einen antiliberalen Charakter haben. Deshalb plädiert er für eine kritische Haltung gegenüber der Religion, die er in der Rede anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises 2001 als Antiklerikalismus bezeichnet. Diese Position bringt zunächst eine grundlegende Skepsis gegenüber dem metaphysischen Denken der Religion zum Ausdruck, wie es sich beispielsweise in Schöpfungstheologien findet. Mit solchen theologischen Annahmen vertreten Religionen metaphysische Positionen mit universalem Geltungsanspruch, obwohl in liberalen Gesellschaften aus seiner (neo-)pragmatistischen Sicht keine metaphysischen Wahrheitsansprüche mehr erhoben werden können – auch nicht von religiösen Bürgern. Aussagen über Gott als das höchste Seiende oder Schöpfer der Welt, sind für Rorty als metaphysische Aussagen deshalb sinnlos. Damit wird die Kritik an jeder Form von Wahrheitstheorie zur Grundlage seiner Reflexion der Rolle von Religion in liberalen Gesellschaften. „Um die
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Vgl. exemplarisch MOUFFE, CHANTAL, Das demokratische Paradox, Wien 2008.
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Religion vor der Onto-Theologie zu retten, muss man das Bedürfnis nach universeller intersubjektiver Übereinstimmung schlicht als ein menschliches Bedürfnis unter anderen begreifen, als eines, das nicht automatisch alle anderen aussticht.“9 Religiöse Aussagen machen für Rorty nur als individuelle Selbsterschaffung Sinn. Er interpretiert sie als literarische Äußerungen im Kontext privater Weltdeutungen, also ohne jeden Allgemeinheitsanspruch.10 In dieser Verortung der Religion spiegelt sich die liberale Trennung von privat und öffentlich offenkundig wider; sein Religionsverständnis erweist sich „geradezu als Paradigma einer grundsätzlichen Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem.“11 Religiöse Bürger neigen allerdings dazu, diese Unterscheidung zu unterlaufen, denn ihre Überzeugungen implizieren nicht nur metaphysische oder anthropologische Annahmen (zum Beispiel ein bestimmtes Menschenbild, das aus der Ebenbildlichkeit Gottes begründet wird), sondern die Gläubigen leiten daraus auch normative Imperative ab, die sie in öffentliche Diskurse einzubringen versuchen. Damit überschreiten religiöse Bürger nicht nur die Grenze zwischen privat und öffentlich, sondern sie nehmen außerdem philosophisch nicht rechtfertigbare Universalisierungen normativer Aussagen vor. Sie stellen somit, so Rorty, einen Angriff auf die liberale Ordnung dar. Diese Kritik richtet sich ganz besonders an die Institutionen der Weltreligionen. Positiv gewendet formuliert Rorty dies folgendermaßen: „Der Antikleriker vertritt die Auffassung, dass kirchliche Institutionen trotz allem Guten, das sie tun – trotz all dem Trost, den sie den Bedürftigen und Verzweifelten spenden – die Gesundheit demokratischer Gesellschaften gefährden. [...] Unserer Auffassung nach ist nichts gegen die Religion einzuwenden – solange kirchliche Institutionen nicht versuchen, die Gläubigen für politische Forderungen zu mobilisieren und solange Gläubige und Nichtgläubige darin übereinkommen, miteinander nach dem Motto ‚leben und leben lassen‘ umzugehen.“12 Die Position des Antiklerikalismus versteht Religion also als eine Gefährdung des demokratischen Liberalismus. Rorty treibt die Sorge an, dass
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RORTY, RICHARD, Antiklerikalismus und Atheismus, in: Rorty, Richard/ Vattimo, Gianni (Hg.), Die Zukunft der Religion, Frankfurt a.M. 2006, 43. Vgl. REECE, GREGOR. L., Irony and Religious Belief, Tübingen 2002, 84. KLEEMANN, GEORG M., Private Götter, öffentlicher Glaube. Richard Rorty und die Religion, in: Theologie und Philosophie 2007, 82/ 1, 30. R. RORTY, Antiklerikalismus und Atheismus, 38.
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die Betonung von Rechtgläubigkeit schlussendlich zu autoritären Strukturen führt und sich damit die „Religion in den Händen klerikaler Religionsführer zu außerreligiösen Zwecken instrumentalisieren“13 lässt. Im Privaten haben religiöse Äußerungen ihre Berechtigung, zur Begründung ihrer Geltungsansprüche gibt es aber keine andere Instanz als das subjektiv Innere des Menschen. Im öffentlichen Raum sind Religionen vor allem deshalb gefährlich, weil sie sich nicht auf das liberale Spiel der Meinungen im öffentlichen Diskurs einlassen, sondern ihren Mitgliedern absolute Positionen vorschreiben, so sein Vorwurf. Religionen haben vor allem Probleme mit Diskursen, in denen politische Entscheidungen unabhängig von metaphysischen, anthropologischen oder ethischen Vorannahmen gefällt werden. Rorty bezeichnet Religionen deshalb auch als conversation stopper. „The main reason religion needs to be privatized is that, in political discussion with those outside the relevant religious community, it is a conversation stopper.“14 Hinsichtlich vieler gesellschaftlicher Fragen, beispielsweise der Bioethik oder Sexualmoral, hält er der Religion vor, dass sie rein private Entscheidungen für alle verbindlich regeln lassen will, dafür aber keine im säkularen Diskurs einsichtigen Argumente vorbringen kann. Ihre Argumente seien in säkular-liberalen Kontexten weder verständlich noch sinnvoll verhandelbar, womit sie grundlegende Imperative des Liberalismus unterlaufen würde. Im Privaten kann wiederum religiöse Freiheit gewahrt werden: Ob sich beispielsweise religiöse Bürger für oder gegen eine Abtreibung entscheiden, kann als eine freie, religiös begründete Entscheidung des Einzelnen interpretiert werden. Wenn also Religion im Privaten verortet wird, garantiert dies auch religiöse Freiheit, so das Argument von Rorty. Der politische Liberalismus will den öffentlichen Diskurs von solchen privaten, weltanschaulich geprägten Annahmen freihalten und damit keine Beschränkungen für das politische Feld aufstellen. „A speaker’s depth or spirituality is [no] more relevant to her participation in public debate than her hobby or hair colour.“15 Gläubige tun sich nach Rorty aber oft schwer, dies zu akzeptieren, und argumentieren immer wieder für eine rigorose Übertragung privat-
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G. M. KLEEMANN, Private Götter, öffentlicher Glaube, 31. RORTY, RICHARD, Religion as Conversation Stopper, in: Common Knowledge 1994, 3/ 1, 2. R. RORTY, Religion as Conversation Stopper, 4.
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religiöser Überzeugungen in politisch-öffentliche Debatten. Damit erheben sie für ihre privaten Ansichten zur individuellen Lebensgestaltung in der Öffentlichkeit nicht rechtfertigbare Geltungsansprüche; teilweise wollen sie ihre Überzeugungen sogar in allgemeines Recht überführen. Einige Jahre später greift Rorty diese Argumentation in dem Artikel Religion in the public square16 auf und entwickelt sie in der Auseinandersetzung mit den Überlegungen von Nicholas Wolterstorff weiter. Dieser hatte gegen Rorty eingewendet, dass Religionen geschichtlich betrachtet nicht nur eine Anleitung zu individueller Selbsterschaffung gewesen seien, sondern auch enorme soziale Veränderungen angestoßen hätten, beispielsweise den Kampf gegen Unterdrückung oder soziale Ungerechtigkeit. „Yes indeed, religion is sometimes a menace to the freedoms of a liberal society. But the full story of how we won the freedoms we presently enjoy would give prominent place to the role of religion in the struggle; the good that religion does is not confined to providing, in Rorty’s words, comfort ‚to those in need or in despair‘. Has the prominent role of religion in the American civil rights movements already been forgotten? Has its prominent role in the revolutions in South Africa, Poland, Romania, and East Germany already passed into amnesia?“17 Rorty stimmt Wolterstorff zu, dass Religionen historisch betrachtet teilweise Solidarität und Leidüberwindung befördert hätten. Wenn sie dies täten, dürften Religionen in öffentlichen Diskursen ihre Argumente vorbringen, beispielsweise wenn sie ihren Einsatz für soziale Gerechtigkeit als Konsequenz ihres Glaubens oder mit Verweis auf die Lektüre heiliger Schriften begründeten. Aber gleichzeitig will er die Reichweite und Geltung dieses Engagements nach wie vor stark begrenzen. „So, instead of saying that religion was a conversation-stopper, I should have simply said that citizens of a democracy should try to put off invoking conversation-stoppers as long as possible. We should do our best to keep the conversation going without citing unarguable first principles, either philosophical or religious.“18
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Vgl. RORTY, RICHARD, Religion in the Public Square. A Reconsideration, in: Journal of Religious Ethics, 2003, 31/ 1, 141-149. WOLTERSTORFF, NICHOLAS, An Engagement with Rorty, in: Journal of Religious Ethics 2003, 31/ 1, 133. R. RORTY, Religion in the Public Square, 148f.
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Die bisherigen Argumentationsschritte zeigen vor allem die Beschränkungen, denen Religionen im öffentlichen Raum nach Rorty in liberalen Gesellschaften unterliegen sollten. Jedoch deutet er in seinen späten Arbeiten auch Möglichkeiten für eine positive Funktionsbestimmung an, die abschließend skizziert werden sollen. Diese Überlegungen diskutiert Rorty unter dem Begriff der Kulturpolitik19, die für ihn den Diskurs einer Gesellschaft darüber darstellt, welches Vokabular in der Öffentlichkeit zugelassen werden sollte. An die Stelle der metaphysischen Frage nach Gott tritt damit die kulturelle Frage, welchen Stellenwert Gesellschaften der Religion in der Öffentlichkeit einräumen wollen. Auch hier insistiert Rorty zuerst wiederum auf die religiöse Neutralität der Öffentlichkeit. Die Entscheidung, „welche sozialen Praktiken aufgegeben oder eingeführt werden sollen“20, die Kernfrage der Kulturpolitik, kann weder auf eine umfassende Metaphysik noch auf eine allgemein-menschliche Erfahrung zurückgreifen. Das einzige Kriterium für die Abwägung für oder gegen eine soziale Praktik ist wiederum ihre Nützlichkeit für das Zusammenleben der Gemeinschaft. Im Sinne einer „Privatisierung der Vervollkommnung“21 spielt für Rorty die Dichtung eine wichtige Rolle als kulturpolitische Praxis. Diese übernimmt im Zuge der säkularen Moderne auch Funktionen der Religion: So gibt sie Anregungen zur Gestaltung des individuellen Lebens, reflektiert menschliche Grenzerfahrungen oder entwirft Ideale zur Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ein zentrales Ideal der romantischen Dichtung ist dabei die Liebe. Genau dieses Ideal ist es, das Rorty folgend, nun wiederum zum zentralen Orientierungsmaßstab für Religion in modernen Gesellschaften werden könnte. Wenn Religionen das Ideal der Liebe als Gegenpart zur liberalen Forderung nach Solidarität verstehen, könnten sie konstruktive Impulse in den Prozessen der Selbsterschaffung ausüben. „The point of religion is not to produce any specific habit of action, but rather to make the sort of difference to a human life which is made by presence or absence of love.“22 In diesem Sinne ist Gott für Rorty ein Symbol für die Hoffnung auf den Tag, „vielleicht schon in diesem oder im nächsten Jahrtausend“, in dem „meine fernen Nachfahren in einer globalen Zivilisa-
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Vgl. RORTY, RICHARD, Philosophie als Kulturpolitik, Frankfurt a.M. 2008. R. RORTY, Philosophie als Kulturpolitik, 54. EBD., 61. RORTY, RICHARD, Philosophy and Social Hope, London 1999, 158.
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tion leben werden, in der Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist.“ 23 Damit werden religiöse Hoffnungen in den Pragmatismus integriert, ohne dass sie metaphysisch begründet werden. Diese Hoffnung bedarf allerdings einer radikalen Uminterpretation vieler religiöser Überzeugungen und einer Zurückweisung dogmatisch-theologischer Erklärungen, die auf metaphysische Annahmen aufbauen. „Ziel ist nicht nur die Aufgabe oder entmythologisierend-symbolische Uminterpretation zahlreicher Glaubensinhalte, sondern der generelle Verzicht, die religiöse Haltung in einem Glaubensbekenntnis auszudrücken.“24 Die Verschmelzung einer Hoffnung an die Wirkmächtigkeit liberal konzeptualisierter Solidarität mit einem Glauben, der sich im Feld der individuellen Selbsterschaffung dem Ideal der Liebe verschreibt, nennt Rorty Romantik. „I shall call this fuzzy overlap of faith, hope and love ‘romance‘.“25 Positionen eines religiösen Humanisten im Sinne der Romantik weisen deshalb strukturelle Ähnlichkeiten mit den Ansätzen der Neopragmatisten auf – allerdings nur wenn Erstere ihre epistemologischen Voraussetzungen anerkennen. In diesem Glauben an die Möglichkeiten des Humanismus zeigt sich nun noch einmal indirekt ein möglicher positiver Begriff von Religion in Rortys Ansatz. Auf diesen spielt er selbst in seinem Gespräch mit Vattimo an, wenn er zugesteht, dass das Neue Testament als literarisches Produkt ein Vorgänger der romantischen Hoffnung sei. Die Bibel kann in dieser Hinsicht eine Anleitung zur kreativen Selbsterschaffung im Sinne eines neuen religiösen Humanismus sein.26 Die Überlegungen von Jürgen Habermas zur postsäkularen Gesellschaft setzen sich deutlich von denen Rortys ab. Auch wenn Habermas ebenfalls von den beiden großen philosophischen Strömungen des Liberalismus und Pragmatismus geprägt ist, so fällt seine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Religion anders aus. Dabei spielen die beiden Konzepte der kommunikativen Rationalität und der deliberativen Demokratie eine besondere Rolle in seiner sozialphilosophischen Bestimmung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Religion. Die Konzeption
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R. RORTY, Antiklerikalismus und Atheismus, 47. G. M. KLEEMANN, Private Götter, öffentlicher Glaube, 29. R. RORTY, Philosophy and Social Hope, 160. Vgl. MICHENER, RONALD T., Engaging Deconstructive Theology, Aldershot 2007, 135.
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der kommunikativen Rationalität schließt er an Kant an und wendet dessen Ansatz gleichzeitig intersubjektiv. Das Merkmal der Rationalität liegt deshalb vor allem in ihrer Fähigkeit, sich intersubjektiv auszutauschen und sich auf das für alle Betroffene überzeugendste Argument zu verständigen. Paradigmatisch zeigt sich dieses Verständnis in der Grundlegung der Diskursethik. Normative Geltungsansprüche, so die Argumentation von Habermas, sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie verständigungsorientiert ausgehandelt sind, d.h., wenn alle Betroffenen diesen potenziell zustimmen können. Der diskursethische Grundsatz lautet, „dass nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“ 27 Unter dem Stichwort der deliberativen Demokratie entfaltet Habermas die demokratietheoretischen Konsequenzen der Theorie des kommunikativen Handelns.28. Dabei betont er, dass für moderne Gesellschaften institutionalisierte Meinungs- und Willensbildungsprozesse eine zentrale Rolle spielen, weil damit kommunikative Rationalität in öffentlich-politischen Verfahren institutionalisiert und gemäß dem diskursethischen Grundsatz alle Betroffenen an diesen beteiligt werden können. Im Kern geht es Habermas dabei um Prozeduren der Beratung und Beschlussfassung mit dem Ziel eines kommunikativ erzeugten gesellschaftlichen Konsenses. In diesem Zusammenhang spielt die kreative und dezentrale organisierte Öffentlichkeit eine wichtige Rolle, vor allem weil sie die gesellschaftliche Pluralität von Meinungen in diesen komplexen Prozessen der formellen in informellen Deliberation sichert. Der Liberalismus greift der Ansicht von Habermas nach mit der Betonung des Schutzes negativer Rechte zu kurz und muss in der Sichtweise der deliberativen Demokratie auf die aktive politische Beteiligung aller Bürger erweitert werden. Es geht ihm dabei um eine intersubjektive Wendung des herkömmlichen liberalen Demokratieverständnisses. Allerdings bleibt Habermas dabei immer im Rahmen des liberalen Ansatzes, insofern er den öffentlichen Raum auch begrenzt. Denn er weist deutlich aus, welche Argumente überhaupt im öffentlichen Raum zulässig sind und welche in Demo-
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HABERMAS, JÜRGEN, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, 103. HABERMAS, JÜRGEN, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992.
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kratien Beachtung finde sollten. Mit Rekurs auf das Konzept der kommunikativen Rationalität sind es genau die Akteure, die in der säkular-liberalen Semantik nach dem Austausch und einer Einigung der Meinungen suchen. Darin spiegelt sich indirekt auch eine deutliche Grenzziehung zwischen privat und öffentlich wider, die sich bei Habermas an den Überlegungen zur Unterscheidung von Moral und Ethik ablesen lässt. Habermas verwendet in diesem Zusammenhang einen formalen Begriff von Moral, wenn er betont, dass innerhalb der Diskursethik Normen die Zustimmung aller Betroffenen benötigen. Im ethisch-existenziellen Gebrauch äußern Menschen dagegen materiale Werte, die eingebettet und damit abhängig sind von den jeweiligen lebensweltlichen Kontexten. Ethische Fragen liegen auf der Ebene des Individuums und sind auf das Telos des je einzelnen Lebens bezogen. Die Philosophie bezieht in diesem Bereich der Ethik keine inhaltliche Stellung, sondern übernimmt lediglich die Moderation. Sie rekonstruiert die Argumente, die sich aus den ethischen Weltbildern speisen, und achtet auf die formalen Spielregeln des Austausches der Argumente. Eine rationale Entscheidung zwischen konkurrierenden Weltbildern kann sie jedoch nicht fällen. Damit werden Überlegungen des ethisch-existenziellen Bereichs der praktischen Vernunft bei Habermas letztlich im Privaten verankert und von dem öffentlichen diskursethischen Bereich der Aushandlung von Normen ausgeklammert. Lange Zeit war Habermas skeptisch gegenüber der Religion als einem gesellschaftlichen Akteur. Dies hängt auch mit seinem Konzept von rationaler Motivation zusammen.29 Weil nämlich Religionsgemeinschaften ihren Mitgliedern anspruchsvolle metaphysische oder anthropologische Weltbilder mit auf den Weg geben, implizieren sie Argumente, die vom (säkularen) Wissen aus letztlich als nichtrational angesehen werden müssen. Noch mehr: Aufgrund dieser Vorannahmen können Religionen sogar demokratische Aushandlungsprozesse blockieren, was Habermas in seinen frühen Schriften als eine potenzielle Gefahr für die Demokratie deutet. Deswegen
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Vgl. REDER, MICHAEL/ CHESTER, CHIMARA, Demokratie und Motivation – Über die Bedeutung und Grenzen rationaler Motivation in demokratischen Prozessen, in: Brüntrup, Godehard/ Schwartz, Maria (Hg.), Warum wir handeln – Philosophie der Motivation, Stuttgart 2011, 121-135.
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sollte „die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt werden.“30 In der Friedenspreisrede, die den Titel Glauben und Wissen31 trägt, entfaltet Habermas eine neue Perspektive auf Religion, die er in den vergangen Jahren sukzessive weiterentwickelt hat.32 Ausgangspunkt ist die Einschätzung, dass die Säkularisierungsthese heute an Erklärungskraft eingebüßt hat. Religion und säkulare Welt stehen vielmehr in einem Wechselverhältnis zueinander – ja noch mehr: Sie sind in Zeiten komplexer gesellschaftlicher Prozesse auf ein konstruktives Miteinander angewiesen. Hinter dieser Einschätzung steht ein eher skeptischer Blick auf aktuelle (welt)gesellschaftliche Entwicklungen, beispielsweise auf die ungebremste Dynamik der Weltwirtschaft oder die schwindende Sensibilität für gesellschaftliche Pathologien auf nationalstaatlicher Ebene. Habermas betont, dass aufgrund solcher Entwicklungen moderne Gesellschaften zu entgleisen drohen, vor allem, wenn die Solidarität der Bürger und ihre Motivation, sich an öffentlichen Diskursen zu beteiligen, schwinden werde. „So liegt es auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist.“33 Religion kommt nun in einer funktionalen Sichtweise als eine moralische Ressource in den Blick, weil sie religiösen Bürgern in besonderer Weise ein Begründungspotenzial für moralische Fragen zur Verfügung stellt. Auch die Sinnstiftungsfunktion der Religion ist angesichts der komplexen moralischen Fragen moderner Gesellschaften wieder gefragt. Vor allem aber stellen sie eine wichtige Motivationsressource für die Bürger dar. Der Begriff „postsäkular“ fungiert als Kulminationspunkt dieser Argumentation: Moderne Gesellschaften sollten sich auf den Fortbestand von Religionen einstellen und nicht länger an der Säkularisierungsthese festhalten. Stattdessen können sie aus einem konstruktiven Dialog mit den Religi-
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HABERMAS, JÜRGEN, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981, 118. Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Glauben und Wissen. Ansprachen aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M. 2001. Vgl. besonders HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2005. HABERMAS, JÜRGEN/ RATZINGER, JOSEF, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005, 33.
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onen einen Gewinn zur Gestaltung komplexer gesellschaftlicher Problemlagen ziehen. In dieser Konzeption der postsäkularen Gesellschaft zeigt sich wiederum die Transformation eines klassischen liberalen Paradigmas, beispielsweise gegenüber Autoren wie Rorty oder auch Rawls. Habermas will gegenüber diesen Autoren Religionen in öffentlichen Arenen stärker beachten, allerdings nur, wenn sie ihre weltanschaulichen Hintergrundüberzeugungen in eine allgemein verständliche, und das heißt liberal-säkulare Sprache übersetzen. Ziel dieses Diskurses ist es, religiöse Semantiken für alle Bürger zugänglich zu machen. Diese Übersetzung ist dabei keine Einbahnstraße, sondern ein wechselseitiger Lernprozess für alle Bürger. Das demokratische Staatsbürgerethos kann nur dann „allen Bürgern zugemutet werden, wenn die religiösen und säkularen Bürger komplementäre Lernprozesse durchlaufen.“34 Trotzdem zeigt sich auch hier der Kern liberalen Paradigmas, denn Habermas interpretiert religiöse Überzeugungen letztlich als opak. „Der Glaube erhält für das Wissen etwas Opakes, das weder verleugnet noch bloß hingenommen werden darf.“35 Der Riss zwischen Weltwissen und Offenbarungswissen ist nicht wieder zu kitten, weshalb in öffentlichen Arenen für Habermas nur säkulare Gründe eine Rolle spielen dürfen. Äußerungen der Religionen sind Teil des ethischen Gebrauchs der praktischen Vernunft und damit der individuell geprägten, lebensweltlich bedingten Vorstellungen vom guten Leben. Natürlich sind auch diese bezogen auf die Gemeinschaft und weisen für den jeweiligen Menschen eine hohe Plausibilität auf. Doch ihre Geltung haben sie als religiöse Überzeugungen nur im privaten Raum. Das nachmetaphysische Denken soll Religion deshalb als etwas ihm Äußeres verstehen. Der Philosophie kommt die Aufgabe zu, das säkulare Denken vor diesen religiösen Überzeugungen zu schützen, denn sobald die „Grenze zwischen Glauben und Wissen porös wird und sobald religiöse Motive unter falschem Namen in die Philosophie eindringen, verliert die Vernunft ihren Halt und gerät ins Schwärmen.“36
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J. HABERMAS, Zwischen Naturalismus und Religion, 146. HABERMAS, JÜRGEN, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in: Reder, Michael/ Schmidt, Josef (Hg.), Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 2008, 29. J. HABERMAS, Zwischen Naturalismus und Religion, 252.
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Die beiden skizzierten Ansätze von Rorty und Habermas sind Spiegelbild der vorherrschenden Bedeutung des Liberalismus in der politischen Philosophie. Auch wenn ihre Akzentuierungen des Liberalismus und die Konsequenzen für die Verhältnisbestimmung von Öffentlichkeit und Religion unterschiedlich ausfallen, so prägen doch zentrale Merkmale des politischen Liberalismus ihre Argumentation. Dies sind vor allem eine klare Trennung zwischen privat und öffentlich, eine Fokussierung auf den einzelnen (z.B. gläubigen) Bürger und eine Betonung der säkular-liberalen (kommunikativen) Vernunft hinsichtlich des politischen Deliberationsprozesses. Im Folgenden sollen diese Punkte kritisch diskutiert und ein alternatives pragmatistisch orientiertes Modell der Verhältnisbestimmung von Öffentlichkeit und Religion vorgeschlagen werden.
M ORALISCHER F UNKTIONALISMUS IM LIBERALEN D ISKURS ÜBER Ö FFENTLICHKEIT UND R ELIGION Ein erster Kritikpunkt ergibt sich aus dem liberal orientierten Verständnis von Öffentlichkeit, das letztlich beide Autoren bei allen Differenzen implizieren. Wie gezeigt, neigen liberale Ansätze dazu, nur die Akteure der Öffentlichkeit wahrzunehmen, die ein bestimmtes Ziel teilen: die liberalsäkulare Gesellschaftsordnung. Daraus ergibt sich ein verengter Blick auf Öffentlichkeit, denn Akteure werden primär daraufhin untersucht und beurteilt, inwiefern sie dieses Ziel implizieren oder nicht. Öffentliche Akteure, die nicht primär normative ausgerichtet sind oder eine bestimmte liberalsäkulare Semantik teilen, werden in diesem Modell tendenziell unterbelichtet. Daraus ergibt sich bei beiden Autoren ein gewisser moralischfunktionaler Reduktionismus. Religionen werden daraufhin analysiert, inwiefern sie einen Beitrag zur Gestaltung liberaler Gesellschaften leisten können. Sie erscheinen als eine moralische Ressource, die den religiösen Bürgern ein spezifisches Begründungspotential für moralische Fragen zur Verfügung stellt. Dabei fallen die Antworten von Rorty und Habermas freilich unterschiedlich aus: Während Habermas das moralische Potenzial der Religionen positiv hervorhebt, kritisiert Rorty eben dieses. In beiden Fällen scheint aber eine ähnliche Verkürzung vorzuliegen, weil Religionen scheinbar auf ihre moralischen Aussagen reduziert werden.
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Ein solcher moralischer Funktionalismus weist allerdings ein zentrales Problem auf. Denn es besteht die Gefahr einer Instrumentalisierung von Religion, die ihr selber nicht angemessen ist. Insbesondere bei Habermas scheint es so zu sein, dass Religionen bei gesellschaftlichen Störungen oder Pathologien helfen sollen, diese konstruktiv zu bearbeiten. Dies wird allerdings der Mehrdimensionalität von Religionen nicht gerecht. Schon Friedrich Schleiermacher hatte darauf hingewiesen, dass Religionen nicht auf Moral oder Metaphysik reduziert werden dürfen37, wie das bei Habermas und auch Rorty zu sein scheint. Das Spezifikum der Religionen besteht vielmehr darin, dass sie eine multifunktionale Struktur aufweisen, die sich nicht in die Logik eines gesellschaftlichen Teilsystems einpassen lässt. Auch bereits Franz Rosenzweig sieht mit einem solchen funktionalen Verständnis die Gefahr verbunden, dass Religion zu einem abgegrenzten Teilsystem der Gesellschaft degradiert wird und damit gerade ihr umfassender Anspruch an den Menschen verloren geht. Rosenzweig wendet sich deshalb gegen eine „Auffassung von der Religion als einem Schubfach in der Kommode der Kultur“38, weil die „Einschränkung des Offenbarungsglaubens auf eine ‚religiöse Sphäre‘“ die Religion ihres „messianischen und auf Erlösung zielenden Charakters“39 beraubt. Religion im Sinne Rosenzweigs ist zwar immer auch öffentliche Religion, aber keine die sich als funktionales Teilsystem an die gesellschaftlich vorherrschende Argumentationsweise anpasst, sondern diese ganz bewusst kritisch in Frage stellt, ja vielleicht sogar zu sprengen versucht.40 In moralischer Hinsicht ist noch auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen: Habermas und Rorty weisen zu Recht auf die Ambivalenz von Religionen hin. Dies führt Habermas dazu, den Übersetzungsvorbehalt und die 37
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Vgl. SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Göttingen 61967. ROSENZWEIG, FRANZ, Der Mensch und sein Werk. Briefe und Tagebücher 1 (Gesammelte Schriften Band I), Den Haag 1979, 966. KOHR‚ JÖRG‚ Gott selbst muss das letzte Wort sprechen‘. Religion und Politik im Denken Franz Rosenzweigs, Freiburg/ München 2008, 265. Vgl. J. KOHR, Gott selbst, 280. Deswegen geht Rosenzweig sogar so weit, lieber ganz auf den Religionsbegriff zu verzichten, um den kritischen Charakter der Gottesrede vor gesellschaftlichen und anthropogenen Verkürzungen zu bewahren, die sich in einem funktionalen Religionsverständnis widerspiegeln. Man kann den Begriff ‚Religion‘ „immer entbehren, wenn man einen ‚angerufenen‘ Namen nennt.“ (F. ROSENZWEIG, Der Mensch und sein Werk, 899)
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Anerkennung des Egalitarismus von Moral und Recht als Zugangsvoraussetzungen für Religionen in den öffentlichen Raum einzuführen. Rorty selbst geht noch einen Schritt weiter, indem er betont, dass sich gerade in historischer Perspektive religiöse Institutionen machtpolitisch äußerst problematisch verhalten haben und sie deshalb tendenziell aus der Öffentlichkeit verbannt werden sollten. Dieser Beobachtung muss man einerseits zustimmen, denn Religionen haben als gesellschaftliche Institutionen oftmals eine ambivalente Rolle in sozialen und politischen Prozessen gespielt und tun dies bis heute41, vor allem, wenn sie gewalttätig gegenüber Andersgläubigen sind und ihren Anhängern enge Grenzen setzen, wie mit nichtreligiösen Menschen umzugehen ist.42 Andererseits erscheint die Funktion und Gewichtung des historischen Arguments, wie Rortys es vorbringt, nicht unproblematisch, denn auch wenn religiöse Institutionen historisch betrachtet negative Wirkungen in sozialen und politischen Prozessen hatten und haben, so ist dies noch kein Argument dafür, diese Institutionen grundsätzlich kritisch zu beurteilen. Jeffrey Stout macht darauf aufmerksam, dass Religion auch als Institution nicht per se ein conversation stopper sein muss, weil sie – gerade in der Logik des Pragmatismus – keinen festen inhaltlichen Wesenskern besitzt. Religiöse Institutionen sind von ihrer Grundausrichtung her (Bezug auf das Absolute, Unbedingtheitsanspruch religiöser Erfahrung usw.) ambivalent, aber deswegen sollten sie nicht automatisch im Privaten verankert werden. Rortys grundlegende Kritik an religiösen Institutionen ist vielmehr vor allem der liberalen Skepsis gegenüber autoritären und die Freiheit einschränkenden Machtstrukturen geschuldet, weshalb er zu der Behauptung neigt, Atheisten seien bessere Menschen als Gläubige. „This explains why many of his writings project a utopia in which theists not only keep their religious convictions private, but eventually pass from the scene altogether.“43
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Vgl. MÜLLER, JOHANNES/ REDER, MICHAEL, Religions and Global Justice. Reflections from an Inter-Cultural and Inter-Religious Perspective, in: Mack, Elke (u.a.) (Hg.), Absolute Poverty and Global Justice. Empirical Data – Moral Theories – Initiatives, Aldershot/ London 2009, 91-99. Vgl. MÜLLER, JOHANNES, Religionen – Quelle von Gewalt oder Anwalt der Menschen? Überlegungen zu den Ursachen der Ambivalenz von Religionen, in: Müller, Johannes u.a. (Hg.), Religionen und Globalisierung, Stuttgart 2007, 119-137. STOUT, JEFFRY, Presidential Address. The Folly of Secularism, in: Journal of the American Academy of Religion 2008, 76/ 3, 535.
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Dieses Urteil aber ist empirisch wie systematisch nur schwer haltbar, vor allem auch, weil sich religiöse Bürger deswegen nicht aus dem öffentlichen Leben zurückziehen oder gar vollständig auf ihren Glauben verzichten werden. „They will continue believing what they believe and acting on the apparent political implications of their beliefs regardless of whatever liberal advice they hear to change their ways.“44 Stout will deshalb aus der Perspektive eines Neopragmatismus den Ansatz von Rorty kritisch weiterdenken und Religionen – egal ob in einer konservativen oder progressiven Spielart – als einen wichtigen Teil der Öffentlichkeit in modernen Demokratien interpretieren, zum Beispiel zur Förderung von Sozialkapital. In diesen Formen sind sie ein integraler Bestandteil moderner Gesellschaften und sind als solche ernst zu nehmen, was wiederum an die Überlegungen von Habermas erinnert. Gegenüber diesem betont Stout allerdings, dass Religionen sich in ihrer religiösen Semantik und Handlungsform in die Öffentlichkeit einbringen sollten, weil gerade darin ihr Potenzial für öffentliche Diskurse und kollektive Lernerfahrung liege.
K RITIK EINER SCHARFEN G RENZZIEHUNG
ZWISCHEN
ÖFFENTLICH ODER PRIVAT Eine zweite Kritik an den skizzierten Ansätzen richtet sich an die Unterscheidung von privat und öffentlich. Rortys Verständnis von Religion fußt paradigmatisch auf dieser Unterscheidung, die für ihn das Fundament der politischen Philosophie per se ist. Religion wird vor dem Hintergrund dieser Trennung im Privaten verankert, und die liberale Ironikerin wacht in der Öffentlichkeit darüber, dass die Religion nicht unberechtigt aus dem privaten Bereich heraus normative Urteile oder politische Forderungen in die Öffentlichkeit trägt. Diese Trennung von privat und öffentlich ist ein wichtiges Diktum in vielen aktuellen Ansätzen der politischen Philosophie. Sie ist auch ein zentrales Element demokratischer Gesellschaften, weil damit die freie Lebensgestaltung des Einzelnen gesichert wird, in die der Staat nur im Ausnahmefall und unter Verweis auf besondere Gründe eingreifen darf. Die Trennung, hier ist Rorty zuzustimmen, ist auch ein wichtiges Element bei der
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J. STOUT, Presidential Address, 539.
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Begründung und Umsetzung der Religionsfreiheit, weil damit der private Raum des einzelnen Gläubigen, in den der Staat nicht intervenieren oder Vorschriften für die Religionsausübung machen darf, überhaupt erst identifiziert wird. Gegen eine strikte Grenzziehung von Privatem und Öffentlichem, wie sie insbesondere Rorty annimmt, lassen sich allerdings auch einige systematische Einsprüche erheben. Erstens ist anzufragen, ob sich eine eindeutige Trennung empirisch überhaupt halten lässt, denn gerade global betrachtet zeigt sich deutlich, dass Gesellschaften die Trennlinie sehr unterschiedlich ziehen, beispielsweise je nachdem, wie sie die Stellung des Individuums im sozialen Beziehungsgeflecht interpretieren. In vielen ostasiatischen Gesellschaften wird das soziale Netzwerk, in das Menschen immer schon einbezogen sind, deutlich stärker betont, weshalb die Grenze zwischen privat und öffentlich an einer vollkommen anderen Stelle gezogen wird als in europäischen Gesellschaften, wie sich exemplarisch an sozialen Themenfeldern wie dem Gesundheitsbereich ablesen lässt.45 Aber auch in Europa (nicht zuletzt in den mehr und mehr multikulturell ausdifferenzierten Gesellschaften) findet sich keine einheitliche Grenzziehung (mehr), was der kulturell bedingten Strukturierung von Gesellschaften geschuldet ist. Wenn sich die Grenze zwischen privat und öffentlich empirisch allerdings überhaupt nicht eindeutig bestimmen lässt, dann stellt sich die Frage, ob Religion wirklich so strikt im Privaten verankert werden kann, wie Rorty dies tut bzw. was diese Verankerung (bei flexibler Trennlinie) systematisch überhaupt bedeutet.46
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Vgl. exemplarisch INTHORN, JULIA/ KAELIN, LUKAS/ REDER, MICHAEL, Gesundheit und Gerechtigkeit. Ein interkultureller Vergleich, Wien/ New York 2010, 65-83. Ludwig Nagl nimmt in seiner Kritik an der Grenzziehung von privat und öffentlich bei Rorty explizit auf Jacques Derrida Bezug. Rorty selbst interpretiert Derrida noch in Richtung einer strikten Trennung der beiden Bereiche. „Derridas Bedeutung liegt darin, dass er den Mut besaß, den Versuch zur Vereinigung des Privaten und Öffentlichen aufzugeben, dass er das Streben nach privater Autonomie nicht mehr mit der Hoffnung auf Rückwirkung und Nutzen für die Allgemeinheit verband“ (RORTY, RICHARD, Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1989, 208). Derrida wehrt sich allerdings gegen eine zu strikte Unterscheidung von privat und öffentlich und damit auch gegen eine ausschließliche Verortung der Dekonstruktion im Privaten, wie Rorty sie ihm unterstellt. Derrida „insistiert mit Nachdruck darauf, dass es eine Singularität gibt, die sich der glatten [...] Dichotomie ‚privat‘/ ‚öffentlich‘ entzieht“ (NAGL, LUDWIG, Segmentierte Narration? Kritische Anmerkungen zu Richard
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Zweitens ist auch in einer normativen Hinsicht zu diskutieren, ob diese Grenze sinnvoller Weise so strikt gezogen werden sollte. Die feministische Forschung hat in den vergangenen Jahren beispielsweise darauf hingewiesen, dass eine zu strikte Trennung von privat und öffentlich zu einer Verharmlosung von – in der Sprache Rortys formuliert – Leid und Demütigung führt. Wenn die Grenze stark gemacht wird, ist dies oftmals ein Grund dafür, dass der private Raum jenseits allgemein akzeptierter normativer Orientierungen strukturiert wird, was in der Geschichte oftmals zu Diskriminierung in Form von psychischem und physischem Leid geführt hat. 47 Es lässt sich wohl nur schwer ein plausibles Argument anführen, wieso Rortys Forderung nach Liberalismus – verstanden als solidarische Leidüberwindung – an den Grenzen der individuellen Selbstentfaltung haltmachen sollte. Wäre das Private, normativ betrachtet, von der Öffentlichkeit vollständig getrennt, dann müssten alle privaten Handlungsweisen, die sich einer öffentlich-diskursiven Kritik entziehen, gleichermaßen normativ gültig sein. Die These einer starken Trennung von privat und öffentlich „führt in die Irre, wo sie eine Privatisierung normativer und religiöser Geltung festschreiben wollte, denn damit würde sie einem Geltungs-Dezisionismus Vorschub leisten. Es kommt hier gerade auf einen lebendigen Austausch zwischen privater Sphäre und Öffentlichkeit an, für die nicht zuletzt die Religionsgemeinschaften im Einflussbereich der biblischen Überlieferungen Sorge trugen und sich noch immer engagieren.“ 48
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Rortys Opposition ‚private Ironie‘/ ‚liberale Hoffnung‘, in: Trinks, Jürgen (Hg.), Möglichkeiten und Grenzen der Narration, Wien 2002, 173). Er hebt besonders hervor, so Nagl weiter, dass jede philosophische Reflexion, und so auch die Dekonstruktion, immer in einem dynamischen Spannungsfeld zwischen beiden gesellschaftlichen Feldern steht. „Dekonstruktion ist somit für Derrida nirgendwo bloß ‚privat‘, sondern interagiert mit ‚Öffentlichkeit‘ in mindestens zweifacher Weise: 1), so Derrida, hängt Dekonstruktion vom publiken Diskurs, als durch ihn institutionalisiert und ermöglicht, ab, und 2) wirkt sie in den öffentlichen Diskurs […] hinein“ (Ebd., 175). Wie sich dies in der Bestimmung von Öffentlichkeit und Religion bei Derrida niederschlägt, würde es eigens zu diskutieren gelten; vgl. hierzu REDER, MICHAEL, Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie, Freiburg 2014, 231-270. Vgl. KRAUSE, ELLEN, Einführung in die politikwissenschaftliche Geschlechterforschung, Opladen 2003, 65-84. WERBICK, JÜRGEN‚ ‚Religion ist keine Privatsache!‘ Theologische Einwände gegen eine politisch allzu bequeme Floskel, in: Thierse, Wolfgang (Hg.), Religion ist keine
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Eine derart starke Privatisierung der Religion fordert Habermas sicherlich nicht, denn er gesteht Religionen wie gesehen sehr wohl zu, sich in die öffentliche Aushandlung gesellschaftlicher Fragen einzubringen. Nichtsdestotrotz bleiben religiöse Äußerungen auch bei ihm letztlich Teil des Privaten. Dies hängt v.a. mit seiner Unterscheidung von Normen und Werten zusammen.49 Während im Bereich der Moral überparteiliche Geltungsansprüche erhoben werden können, ist das ethisch-existenziell Nachdenken der praktischen Vernunft über Werte Teil privater Weltdeutungen, die nicht verallgemeinert werden dürfen. Werte sind daher abhängig von dem jeweiligen lebensweltlichen und weltanschaulichen Kontext. Religiöse Äußerungen sind Teil dieses ethisch-existenziellen Gebrauchs der praktischen Vernunft und damit der individuell geprägten und weltanschauliche bedingten Vorstellung vom guten Leben zuzuordnen. Das Abgrenzungskriterium zwischen Moral und Religion als Teil der Ethik ist dabei die allgemeine Zugänglichkeit der Sprache und die öffentliche Akzeptabilität der zugelassenen Gründe. In der Trennung von Moral und Ethik bei Habermas zeigt sich ein zwar formaler, aber letztlich doch starker Vernunftbegriff, was wiederum einige Probleme aufwirft. Denn ethische Weltdeutungen und normative Diskurse sind in der gesellschaftlichen Realität immer miteinander verbunden. Der eine Bereich speist sich aus dem anderen und umgekehrt. In diesem Wechselspiel erheben auch Weltbilder Rationalitätsansprüche. Die Argumente für ein gutes Leben verstehen sich selbst nicht als private Weltdeutungen. Sie implizieren vielmehr berechtigter Weise allgemein verständliche Argumente. Auch wenn diese Argumente nicht alle Philosophen überzeugen mögen, so erscheint es kaum möglich, sie aufgrund einer Trennung von
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Privatsache. Düsseldorf 2000, 99. Philosophiehistorisch betrachtet stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob Rortys Privatisierungsthese von Religion überhaupt mit den Überlegungen von Dewey oder James rechtfertigbar ist, wie er dies tut. Einige Kritiker sind skeptisch, weil sich Rorty ihrer Ansicht nach mit der Betonung der Privatisierungsthese von seinen pragmatistischen Ursprüngen entfernt. „In effect, Rorty’s thinking on religious beliefs marks a significant departure from his pragmatic forebears, even though he employs (especially Dewey) to bolster his own position.“ (FLASHERTY, JAMES, Rorty, Religious Beliefs, and Pragmatism, in: International Philosophical Quarterly, 2005, 45/ 2, 175). Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991, 100118.
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Ethik und Moral in den Bereich der nur individuell begründbaren Ethik zu verlegen. Die Tatsache, dass man diesen Weltdeutungen eine eigene Rationalität zugesetzt, heißt noch nicht, dass der Diskurs unter ihnen entschieden wäre. Dies ist nur der Fall, wenn ein starker, auf Einheit abzielender Vernunftbegriff angenommen wird. Dies bedeutet auch, dass religiöse Überzeugungen nicht als opak verstanden werden müssen, sondern dass ihnen eine eigene Vernünftigkeit zugestanden werden kann. Ein Blick auf die Religion zeigt deshalb für die politische Philosophie insgesamt die wechselseitige Bezogenheit und Durchlässigkeit von Privatem und Öffentlichem. Einerseits ist Rorty und Habermas mit Rekurs auf die Religionsfreiheit darin zuzustimmen, dass der private Raum religiöser Überzeugungen vor dem Zugriff staatlicher Macht geschützt werden muss. Andererseits gilt damit allerdings nicht in selber Weise der Umkehrschluss, dass die Religion ausschließlich im Privaten zu verankern ist.
P ERSPEKTIVEN FÜR EIN PRAGMATISTISCHES V ERSTÄNDNIS VON Ö FFENTLICHKEIT UND R ELIGION Ein grundlegendes Problem aller liberalen Perspektiven auf das Verhältnis von Öffentlichkeit und Religion ist, dass sie stark auf das Individuum fokussieren und damit den sozialen Charakter des Politischen und auch des Religiösen zu wenig beachten. Diese Betonung des Individuums ist beispielsweise eine wichtige Implikation der Konzeption der liberalen Ironikerin von Rorty. „Obviously, what Rorty has done, as he moves the discussion from political theory to a theory about intellectual responsibility, is to identify the private with the individual.“50 Obwohl Rorty mit Rekurs auf Robert Brandom den Vorrang des Sozialen vor überzogenen Wahrheitsoder Erkenntnisansprüchen hervorhebt, setzt die Betonung des Privaten notwendig einen starken Begriff des Individuums voraus, der zu diesem Vorrang des Sozialen zumindest teilweise im Widerspruch steht. Im Privaten zielt das scheinbar vereinzelte Individuum auf Selbstentfaltung, wofür Dichtung und Religion eine Orientierung geben können. Das Individuum entscheidet sich scheinbar vollkommen selbstständig für diese oder jene Orientierung und damit auch dafür, religiös musikalisch zu sein oder nicht.
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G. L. REECE, Irony and Religious Belief, 90f.
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Diese Gleichsetzung von Individuum und privatem Raum ist vor dem Hintergrund des postulierten Vorrangs des Sozialen widersprüchlich, denn es sind gerade soziale Beziehungen und Netzwerke, welche die Orientierungen der Selbstentfaltung prägen und weshalb Religion bzw. religiöser Glaube nicht ausschließlich Angelegenheiten des Individuums sind. Eine ähnliche Verkürzung findet sich bei Habermas wieder, der im Letzten ein auf das Individuum fokussiertes Religionsverständnis impliziert, ohne dies eigens zu thematisieren. Religiöser Glaube wird von Habermas nämlich in einem fideistischen Sinne als eine nichtrationale Entscheidung des einzelnen Menschen gedeutet. Religion ist allerdings weniger eine mit der Vernunft nicht mehr plausibilisierbare, private Entscheidung des einzelnen Gläubigen, sondern immer auch eine soziale Angelegenheit. Religiöse Überzeugungen, Semantiken, Rituale und auch Institutionalisierungen erklären sich letztlich erst aus der religiösen Praxis heraus, die Gläubige gemeinsam entwickeln.51 Gegen Rorty und Habermas ist vor einem solchen pragmatistisch orientierten Religionsverständnis außerdem einzuwenden, dass religiöse Bürger sehr wohl in ihrer religiösen Semantik allgemein verständliche und vernünftige Argumente vortragen können. Auch innerhalb der Religionsgemeinschaften geben sich religiöse Menschen wechselseitig Argumente für ihre Überzeugungen. Reece betont daher zu Recht: „Rorty has seriously misconstrued religious beliefs, and has ignored the communities of justification in which religious people live their lives and hold their beliefs.“52 Der Grund dafür liegt im Konzept der Ironie selbst, weil Rorty damit annimmt, dass für private Vokabeln keine Gründe mehr angegeben werden können. Der romantische Ironiker kann deshalb nur noch literarisch verfasste Geschichten erzählen, die im Grunde nur für das erzählende Individuum verständlich sind. Ähnliches gilt für den ethisch-existenziellen Vernunftgebrauch bei Habermas, in dem Religionen verankert sind, und der aus philosophischer Sicht nicht mehr reflektiert werden kann. Beide Annahmen gehen aber am Selbstverständnis von Erzählungen und auch religiösen Überzeugungen vorbei, weil sich diese immer auch als eine Begründung für eine bestimmte Praxis verstehen, die nicht nur für den Erzähler selbst verstehbar ist.
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M. REDER, Religion in säkularer Gesellschaft, 344-400. G. L REECE, Irony and Religious Belief, 98.
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Religion sollte deswegen in einem pragmatistischen Sinn, so ließe sich im Anschluss an die Überlegungen von Dewey53 formulieren, als eine soziale Praxis verstanden werden, die sowohl ins Private als auch in gesellschaftliche Prozesse und Strukturen eingebunden ist. „One’s basic commitments, beliefs, and dominant ideas cannot be separated from praxis – for the believer, faith cannot be separated from works.“54 Religion ist damit immer auf beiden Seiten der vermeintlich eindeutigen Trennung von privat und öffentlich angesiedelt. „What about social forms which are in between the public and private spheres, which Durkheim labels as secondary groups? Religion, I would argue, should be placed in more of an intermediate position in modern society. As a social form it is not totally outside the public realm in that it still has some influence, both nationally and internationally.“55 Religion sollte deshalb nicht auf den Bereich der privaten Selbsterschaffung oder den existenziellen Bereich der praktischen Vernunft beschränkt werden. Stattdessen sollte sie als eine sozio-kulturelle Praxis verstanden werden, die sowohl privates und öffentliches Leben übergreifend prägt als auch eine eigene Vernünftigkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Erkenntnis- wie vernunfttheoretisch wird damit für eine Verschränkung von dem vermeintlich (öffentlich) Vernünftigen und (privaten) Glauben argumentiert und religiösen Aussagen eine Vernünftigkeit zugeschrieben. Zu klären ist hierbei allerdings, was genau unter Religion verstanden werden soll und was mit der Vernünftigkeit religiöser Praktiken gemeint ist. Dazu ist es notwendig, Religion nicht nur aus der Sicht der politischen Philosophie von außen, sondern auch aus der religionsphilosophischen Innensicht zu rekonstruieren. Dies wird im aktuellen Diskurs über das Verhältnis von Öffentlichkeit und Religion oft vernachlässigt. Hierzu wäre es sinnvoll stärker auf die Verschränkung von Glauben und Wissen zu achten als dies liberale Ansätzen tun. Jacques Derrida betont beispielsweise dieses Wechselverhältnis von Glauben und Wissen, weil beide historisch wie systematisch in einer großen Nähe zueinander stehen.
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DEWEY, JOHN, Ein allgemeiner Glaube, in: Ders. (Hg.), Erfahrung, Erkenntnis und Wert, Frankfurt a.M. 2004, 229-292. SWEET, WILLIAM, Religious Belief, Political Culture, and Community, in: Ramos, Alice (Hg.), Faith, Scholarship, and Culture in the 21st Century, Washington 2002, 310. WALLACE, RUTH A., Religion, Privatization and Maladaptation: A Comment on Niklas Luhmann, in: Sociological Analysis, 1985, 46/ 1, 29.
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Dabei ist letztlich dieser Gegensatz zu überwinden und „jenseits des Gegensatzes zwischen Religion und Vernunft“56 nach ihren gemeinsamen Quellen zu fragen, so die Erweiterung der Position Kants durch Derrida. Ihr wechselseitiges Bedingungsverhältnis „kann man dort erkennen, wo Glaube und Wissen immer schon ein Bündnis eingegangen sind, am Ort selbst, dort, wo das in der Entgegensetzung eingegangene Bündnis einen Knoten bildet.“57 Eine naive Entgegensetzung erscheint ihm nicht begründbar, weil beide immer schon aufeinander bezogen sind. Wenn Wissen ausschließlich als säkular-liberales verstanden wird, besteht seiner Ansicht nach eine Versuchung darin, „dass man zu wissen glaubt, was das Wissen ist, das Wissen, das strukturell vom Glauben, vom Vertrauten – vom Treuhänderischen und der Verlässlichkeit unabhängig sein soll.“58 Das Wissen impliziert seiner Ansicht nach aber immer auch einen Aspekt des Glaubens und so hat die Vernunft „selbst eine religiöse Vorgeschichte, die in ihre Fundamente eingebaut“59 ist. Damit ist allerdings nicht ausgesagt, dass Wissen immer auf eine bestimmte Form des (religiösen) Glaubens angewiesen sein muss. Derrida fasst vielmehr das Moment des Glaubens deutlich weiter als eine Offenheit gegenüber dem Unverfügbaren oder dem Anderen, das niemals gewusst, aber vertrauensvoll geglaubt werden kann. 60 In der Tradition der negativen Theologie kommt für Derrida diese Einsicht in besonderer Weise zum Ausdruck. In der Verbindung dekonstruktivistischer Kritik an einer scharfen Grenzziehung von öffentlich und privat und unter Bezugnahme auf pragmatistische Traditionen können Religionen dann als „sprachliche und symbolhafte Ausdrucksformen [verstanden werden], die das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz im Sinne eines wissenden Nichtwissens
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DERRIDA, JACQUES, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Ders./ Vattimo, Gianni (Hg.), Die Religion, Frankfurt a.M. 2001, 49. J. DERRIDA, Glaube und Wissen, 11. EBD., 53. HAEFFNER, GERD, Morgenröte über Capri. Die Philosophen Derrida und Vattimo zur Rückkehr des Religiösen, in: Stimmen der Zeit (1999) 217/ 10, 681. Hierzu bemerkt beispielswiese Eddo Evink in der Auseinandersetzung mit den Überlegungen von Derrida. „Thus, the force of faith does not have to be religious faith; it can also be atheistic, ideological, or just a matter of feeling.“ EVINK, EDDO, Jacques Derrida and the Faith in Philosophy, in: Southern Journal of Philosophy (2004) 42/ 3, 323.
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thematisieren und damit eine soziale Praxis konstituieren, die einen umfassenden Anspruch an die religiösen Menschen stellen.“61 Mit der Zurücknahme einer scharfen Trennung von Glauben und Wissen geht eine Aufhebung der eindeutigen Unterscheidung von öffentlich und privat einher. Religion ist in dieser Perspektive nicht nur eine Form privater Selbsterschaffung, sondern eine sozio-kulturelle Praxis, die sich jenseits dieser Differenzsetzung vollzieht. In vielfältigen solcher Praktiken spielen Momente des Glaubens und Wissens gleichermaßen eine Rolle. Der Liberalismus, der die (scheinbar) neutralen Argumente der säkularen Vernunft in der Öffentlichkeit betont, unterminiert diese Bedeutung gesellschaftlicher Praktiken, die Grundlage moderner Gesellschaften sind. Chantal Mouffe macht genau solche Praktiken gegenüber der liberalen Tradition stark. Autoren wie Habermas „wollen die Bindungen an liberale Demokratie auf einen Typus der rationalen Zustimmung gründen, der die Möglichkeit der Herausforderung ausschließt. Aus diesem Grund müssen sie Pluralismus in einem nicht-öffentlichen Bereich verbannen, um Politik von dessen Konsequenzen abzuschirmen.“62 Stattdessen will sie moderne Gesellschaften aus einer anderen Perspektive „konzipieren, welche die Typen von Praktiken und nicht Formen der Argumentation berücksichtigt.“ 63 Religion ist eine solche sozio-kulturelle Praktik, die im Öffentlichen wie Privaten beansprucht vernünftig zu sein. Werden die beiden scharfen Trennungen von Glauben und Wissen bzw. privat und öffentlich zurückgenommen, kann Religion als eine solche Praxis in den Blick genommen werden. In dieser Argumentationslinie ist es sinnvoll und notwendig, Religion (verstanden als sozio-kulturelle Praxis) als Teil öffentlicher Diskurse aufzufassen. Natürlich müssen sich auch Religionen an den demokratischen Rahmen gesellschaftlicher Prozesse halten, insbesondere, was ihr Verhältnis zu anderen Religionen betrifft. Aber sie können einen wichtigen Teil zum Gelingen moderner Demokratien beitragen. Deliberative Verfahren, so kann mit Rekurs auf Stout argumentiert werden, werden nicht gefährdet, wenn sie religiöse Argumente als solche beachten, sondern erst, wenn einzelne Gruppierungen – seien sie religiös oder säkular – einen Absolutheits-
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M. REDER, Religion in säkularer Gesellschaft, 349. C. MOUFFE, Das demokratische Paradox, 95. EBD., 99.
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anspruch im politischen Raum erheben.64 Wichtig ist daher ein offener und fairer Umgang der verschiedenen Praktiken miteinander und weniger die Frage, ob religiöse Semantiken in der Öffentlichkeit zugelassen werden oder nicht. Für das Verhältnis sozialer Praktiken zueinander und gegenüber dem Staat ist wechselseitiger Respekt von zentraler Bedeutung. Im Zuge dessen werden pragmatistische Überlegungen, ganz im Sinne Rortys, an die liberale Argumentation anschlussfähig, allerdings in einem deutlich weiter gefassten Sinn praktischer Deliberation. „A model of this way of building community is ecumenism. Here, one can see how individuals and groups of people might come to work with others in a way that recognises the values in other perspectives and is open to change, but is not arbitrary, and is also consistent with Christian religious belief.“65
F AZIT Die Diskussion über das Verhältnis von Öffentlichkeit und Religion führt wie gesehen zu einer Reflexion des vorherrschenden liberalen Konzepts von Öffentlichkeit insgesamt. Die Auseinandersetzung mit Habermas und Rorty zeigt, dass viele Ansätze zu stark auf das Individuum (den politischen Bürger, den Gläubigen usw.) fokussieren, ohne den zu Grunde liegenden sozialen und kulturellen Praktiken angemessen Beachtung zu schenken. Diese sind es jedoch, die den Motor moderner Gesellschaften ausmachen. Zudem sind diese geprägt durch unterschiedliche Verständnisse von Vernünftigkeit, die nicht mehr in eine übergeordnete Einheit aufgehoben werden können. Selbstverständlich bleibt die Notwendigkeit zur Deliberation in modernen Gesellschaften. Und dort wo Religionen gewalttätig werden und Andersdenkende aus dem politischen Feld ganz ausschließen wollen, ist dies hoch problematisch. Trotzdem – und darauf verwies uns bereits die Einstiegsüberlegung zum ‚Arabischen Frühling‘ – sind gerade moderne Gesellschaften mehr denn je auf eine Pluralität sozialer und kultureller Praktiken angewiesen, die nicht vorschnell in den Raum des Privaten abgeschoben,
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Vgl. STOUT, JEFFRY, Rorty on Religion and Politics, in: Auxier, Randall E./ Hahn, Lewis E. (Hg.), The Philosophy of Richard Rorty, Chicago u.a. 2010, 527ff. W. SWEET, Religious Belief, 310.
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sondern als solche hörbar und als Teil der politischen Deliberation verstanden werden sollten.
Religion im postsäkularen Diskurs. Bemerkungen aus interreligiöser Perspektive A NNE W EBER
1. E INLEITUNG Im folgenden Beitrag, der in seiner ursprünglichen Fassung als Replik auf Michael Reder angelegt worden ist, will ich weniger auf die von ihm problematisierten Verkürzungen der Öffentlichkeitskonzeptionen bei Rorty und Habermas eingehen, als versuchen die von ihm eingeforderte religionsphilosophische „Innensicht“ zu präsentieren.1 Dazu will ich zunächst mit Klaus von Stosch die Besonderheit religiöser Überzeugungen skizzieren und die Struktur einer rationalen Glaubensverantwortung nach Wittgenstein erläutern (2). Vor diesem Hintergrund soll in einem zweiten Schritt nach der Vernünftigkeit des Glaubens gefragt werden. Die fundamentaltheologische Rekonstruktion der Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen scheint mir für die in Frage stehende Geltungskraft religiöser Argumente in postsäkularen Diskursen entscheidende Richtungshinweise zu liefern. In Rekurs auf die von Hans-Joachim Höhn formulierte Bestimmung des Religiösen als dem vernunftgemäß Anderen der Vernunft will ich dabei für ein unterscheidendes In-Beziehung-Setzen von Glauben und Wissen bzw. Offenbarung und Vernunft argumentieren (2.1).
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Siehe zu der Aufgabenstellung: REDER, MICHAEL, Öffentlichkeit und Liberalismus. Eine pragmatistische Neubestimmung anhand des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Religion, in diesem Band, 227-256, hier 252f.
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Vor diesem Hintergrund gilt es dann zu überlegen, welches philosophische Vernunftkonzept auf diese Verhältnisbestimmung reagieren kann (2.2) und inwieweit eine (scharfe) Trennung von Glauben und Wissen bzw. die damit verhandelter Opakheitsunterstellung tatsächlich als Zumutung für religiöse Teilnehmer in (post)säkularen Diskursen kritisiert werden muss (2.3). Anders als Reder in seinen Überlegungen zum Öffentlichkeitsbegriff, möchte ich daran anschließend in einem dritten Schritt die friedliche Begegnung zwischen den Religionen als eigentliche Herausforderung post(säkularer) Diskurse markieren und dabei schließlich mögliche Chancen und Schwierigkeiten interreligiöser Dialogbemühungen antizipieren (3).2
2. G LAUBENSVERANTWORTUNG NACH W ITTGENSTEIN . Z UR B ESONDERHEIT Ü BERZEUGUNGEN
RELIGIÖSER
Folgt man Klaus von Stosch in seiner theologischen Verarbeitung der Spätphilosophie Wittgensteins, dann gilt es zunächst an die Weltbild- bzw. Sprachspielgebundenheit von Bedeutungen zu erinnern.3 Das Sprachspiel konfiguriert durch seine Anordnung und Verarbeitung von Erfahrung ein spezifisches, tiefengrammatisches Koordinatensystem, das über die Korrelation von Proposition, Handlung und Gegenstand Bedeutung generiert: Die Grundlage dieses Koordinatensystems bilden dabei entsprechend Überzeugungen, die nicht noch einmal sinnvoll bezweifelt werden können, insofern sie selbst die Gründe des Bezweifelns erzeugen und bei der Prüfung von Wissens- oder Wahrheitsansprüchen schon performativ in Anspruch genommen sind. Solche basalen oder grammatischen Überzeugungen erzeu-
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Siehe zu den folgenden Überlegungen grundlegend auch: WERBICK, JÜRGEN, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg/ Basel/ Wien 32005, 847-881. Vgl. hierzu und zum Folgenden besonders: VON STOSCH, KLAUS, Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz. Untersuchungen zur Verortung fundamentaler Theologie nach Wittgenstein, Regensburg 2001 (ratio fidei, 7); DERS., Was sind religiöse Überzeugungen?, in: Joas, Hans (Hg.), Was sind religiöse Überzeugungen?, Göttingen 2003 (Preisschriften des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover; 1), 103-146; DERS., Grundloser Glaube? Zur Glaubensverantwortung nach Wittgenstein, in: FZPhTh (49) 2002, 328-346.
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gen also eine Hintergrundfolie, die allen reflexiven Bewertungen und Kategorisierungen vorausgeht. Sie liegen in Weltbildern gebündelt vor und synthetisieren Regeln, die wiederum als Tiefengrammatik allererst ermöglichen bedeutungsvolle Sätze formulieren zu können. Die Bedeutung von Sätzen zeigt sich mit anderen Worten also nicht im Sinne einer Korrespondenz von Zeichen, Wort oder Satz mit einer Tatsache in der Welt, sondern durch seinen Gebrauch bzw. durch die Erläuterung der Einbettung des Satzes in ein spezifisches weltbildgebundenes Sprachspiel und seine regulative Geltung auf handlungstheoretischer Ebene. Grammatische Sätze bilden dabei nicht nur die Grundlage aller Wirklichkeitsdeutung und sind das Substrat jeder Denkbewegung, sondern markieren zugleich auch für Rechtfertigungsvorgänge und Begründungsfragen einen Endpunkt des Zweifelns. Entscheidend ist an dieser Stelle nun von Stoschs Einsicht, dass religiöse Überzeugungen zwar einerseits einen solchen grammatischen Charakter haben, insofern sie den Wirklichkeitszugang und die Weltdeutung von gläubigen Menschen prägen und sich somit auf den ersten Blick wie basale Überzeugungen verhalten.4 Auf den zweiten Blick, so betont er, lassen sich Glaubenssätzen jedoch nicht einfach mit grammatischen Sätzen identifizieren, d.h. die Annahme ihrer Unbezweifelbarkeit lässt sich als fideistische Fehleinschätzung ausweisen.5 Wenn nämlich in Verweis auf Wittgensteins Untersuchungen die unmissverständliche, alternativenlose Realisierung des propositionalen Gehalts einer Überzeugung als ein zentrales Merkmal grammatischer Sätze bestimmt wird, dann mag sprachspielintern hinsichtlich der regulativen Kraft von religiösen Überzeugungen zwar eine gewisse Unbezweifelbarkeit angedeutet sein. Jedoch ist der Hinweis auf diese regulative Kraft als Begründungleistung nicht ausreichend. Insofern die Beschreibung der regulativen Rolle auf Weltbildebene nämlich bereits voraussetzt, was im Blick auf die in Geltung stehenden Regeln noch zu klären wäre, erweist sich die daran anschließende Begründung als zirkulär und selbstreferentiell. Darüber hinaus reicht die performative Unhintergehbarkeit, d.h. die in der Instanziierung unterstellte Unbezweifelbarkeit wenn überhaupt nur bis zum Rand des Sprachspiels und kann demnach also keineswegs allgemeine bzw. weltbildexterne Gültigkeit beanspruchen. Vor diesem Hintergrund stellt von Stosch heraus, dass religiöse Überzeugungen
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Vgl. DERS., Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz, 258ff. Siehe dazu: EBD., 222ff., 268f.
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folglich der Definition grammatischer Sätze nicht entsprechen, d.h. trotz des grammatischen Charakters einerseits aus externer wie andererseits auch aus interner Perspektive bezweifelt werden können: Die faktische Pluralität von Werte- und Glaubenssystemen und deren komplexe und vielschichtige Instanziierungsformen innerhalb moderner, global vernetzter Gesellschaften, verdeutlich bereits aus (religions)externer Perspektive, dass es zu jeder bewussten Wirklichkeitsdeutung, jeder konkreten Realisierung der eigenen Überzeugungen sowohl theoretische als auch praktische Gegenvorschläge gibt. Weil also eine unüberschaubare Vielfalt an Lebensentwürfen existiert, die sich selbst in der großen Klammer demokratischer Normen nicht noch einmal beruhigen lässt bzw. lassen will, stellt jeder Fremde und seine alternierende Handlungspraxis eine Anfrage an die eigene Handlungspraxis, aber ebenso an die Korrelation von Handlung und dem ihr zugrundeliegendem Geltungsanspruch innerhalb des eigenen Sprachspiels dar. Zumindest führt der Andere also vor Augen, dass sich meine Instanziierungsweisen im Gegenlicht der charakteristischen Pluralität moderner Gesellschaften als kontingent erweisen. Vor diesem Hintergrund ist die Alternativenlosigkeit und Allgemeingültigkeit als Merkmal grammatischer Sätze entsprechend nicht gegeben. Darüber hinaus zeigt sich die Kontingenz religiöser Überzeugung ebenso in dem sprachspielinternen Umstand, dass religiöse Rede sich inhaltlich auf eine letzte Wirklichkeit bezieht. Diese letzte Wirklichkeit, das Unbedingte oder Ultimate, lässt sich nämlich auch aus einer sprachspiel- bzw. weltbildinternen Perspektive weder mit letzter Sicherheit beschreiben – in christlichem Kontext mahnt so z.B. das Bilderverbot des Dekalogs oder das IV. Laterankonzil die je größere Unähnlichkeit zwischen den Vorstellungen, die sich Menschen von Gott machen, und dem Göttlichen selbst an. 6 Noch ist es – wie von Stosch am Beispiel der für das Christentum identitätsstiftenden Überzeugung des Deus Caritas verdeutlicht – möglich, das inhaltliche Bekenntnis zu Gottes unbedingter Liebe im eigenen Handeln so zu instanziieren, dass an der Bedeutung und Wirklichkeit dieses Satzes kein
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An dieser Stelle kündigt sich gleichwohl eine Diskussion an über die Vermittelbarkeit bzw. Mittelbarkeit von Unbedingtem in Bedingtem. Vgl. zu den unterschiedlichen Positionen stellvertretend Hans-Joachim Höhn und Magnus Striet: HÖHN, HANS-JOACHIM, Gott – Offenbarung – Heilswege. Fundamentaltheologie, Würzburg 2011, 151ff.; STRIET, MAGNUS, Offenbares Geheimnis. Zur Kritik der negativen Theologie, Regensburg 2003.
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Zweifel mehr möglich wäre:7 Weder ist es dem Menschen in der Gebrochenheit seiner Freiheit möglich die Unbedingtheit der Anerkennung des Anderen unmissverständlich zu realisieren. Noch ist die Realisierung der (unbedingten) Anerkennung eines Anderen eine genuin moralische Handlung. Das unbedingte Ja zu einem Menschen kann vielmehr selbst zu einer unmoralischen Handlung, d.h. einem Unrecht werden, sobald sie die Anerkennung eines Dritten gefährdet.8 Auch wenn Liebe und Erlösung also als die alles umfassende, letzte Wirklichkeit angenommen und im eigenen Handeln regulativ zu Grunde gelegt werden, so bleibt die Wahrheit dieser letzten Wirklichkeit solange bezweifelbar, wie es nicht gelingt, sie immer und zu jeder Zeit widerspruchsfrei umzusetzen. Damit wird deutlich, dass selbst ein so zentrales Bekenntnis wie der (christliche) Liebes- und Solidaritätsanspruch nicht universal und unmissverständlich zur Geltung gebracht werden kann und somit folglich hinter der Definition grammatischer Sätze zurückbleibt. Vor diesem Hintergrund lässt sich insgesamt nun festhalten, dass die an religiöse Überzeugungen adressierte Begründungsforderung nicht etwa ein Missverständnis ist, welches es durch grammatische Untersuchungen zu heilen gelte.9 Vielmehr müssen diese sich durch die Pluralität von Werteund Überzeugungssystemen herausfordern lassen und auch im Blick auf die bleibende epistemische Differenz zwischen dem Bedingten und Unbedingten ihre einmal festgelegten Bilder, Formulierungen und Doktrinen (selbst)kritisch hinterfragen.10 Dass der universale Anspruch von Glaubenssätzen weltbildintern nicht realisierbar ist, d.h. religiöse Überzeugungen ihrer Struktur nach auf etwas verweisen, das sie immer nur symbolisch
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Siehe dazu entsprechend: K. VON STOSCH, Grundloser Glaube, 334f. Vgl. dazu auch DERRIDA, JACQUES, Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas’, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 71997, 121-235. Vgl. zu dieser mit einer fideistischen Haltung identifizierten Formulierung: EBD., 330. Dass ein solches Hinterfragen im letzten niemals aufhört, sich also ständig De- und Rekonstruktionsprozesse und Bedeutungsverschiebungen ereignen, ist sicherlich ein unbequemes Merkmal postmoderner Gesellschaften und wird von nicht wenigen in unterschiedlichen Kontingenztilgungsbewegungen abgelehnt. In meinen Augen kann aber von einer emanzipierten Gesellschaft, einem aufgeklärten Glauben und einer selbstkritischen Vernunft erst dann die Rede sein, wenn diese Dynamik angenommen wird. Siehe dazu Abschnitt 2.1; 2.2.
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vermittelt erläutern können, sensibilisiert auch in Begründungsfragen dafür, dass eine abschließende, transhistorische Sicherstellung von Deutungen und Interpretationen in religiösen Sprachspielen nicht möglich ist. In christlicher Sicht „ist jedes Glaubenszeugnis angesichts des im Christentum fest verankerten eschatologischen Vorbehaltes und angesichts der Fallibilität allen menschlichen Urteilens immer auch vorläufig und verbesserungsfähig.“11 Darüber hinaus lässt sich an dieser Stelle zugleich die erste Besonderheit religiöser Überzeugungen aufzeigen: Denn trotz des doppelten Kontingenznachweises religiöser Überzeugungen, d.h. ihrer Bezweifelbarkeit auf interner wie externer Ebene, müssen sie ihren regulativen Status nicht zwangsläufig einbüßen. Auf die Einsicht, dass religiöse Überzeugungen sich nicht im strengen Sinne wie grammatische Sätze verhalten, folgt im Umkehrschluss nach von Stosch nicht, dass sie im Blick auf die Begründung ihrer Geltungs- und Wahrheitsansprüche wie enzyklopädische Sätze behandelt werden dürfen. Er exemplifiziert diese Besonderheit im Blick auf das Gebet als Glaubensakt, der den Zweifel aufnehmen und wach halten kann, ohne den bezweifelten Gehalt auch auf regulativer Ebene außer Kraft setzen zu müssen. Performativ ist das Gebet also bereits das Zeugnis einer bestimmten Haltung dieser Welt gegenüber, obwohl es die Plausibilität dieser Haltung – z.B. in Konfrontation mit dem Leiden in der Welt – in Zweifel stellt. Eine zweite Besonderheit religiöser Überzeugungen ergibt sich darüber hinaus aus der oben skizzierten Überlegungen zu Sprachspielen und den darin erfolgenden Bedeutungszuschreibungen: Mit von Stosch weisen religiöse Überzeugungen in ihrer Struktur nämlich sowohl eine kognitiv-propositionale, als auch eine orientierend-expressive Dimension auf. Die propositionalen oder sachhaltigen Elemente beziehen sich dabei auf die konkreten Inhalte und Aussagen über die letzte Wirklichkeit. Weil religiöse Sätze sich aber nicht auf Einzeldinge in der Wirklichkeit beziehen, sondern Aussagen über die Wirklichkeit selbst bzw. Ausdruck des Verhältnisses zu dieser letzten Wirklichkeit sind, erschließt sich die Bedeutung religiöser Aussagen, d.h. ihr propositionaler Gehalt letztlich nur in der Zusammenschau von Weltbild-Regeln und Glaubenspraxis. Entsprechend kann ihre Validation nicht wie bei enzyklopädischen Sätzen über eine em-
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VON STOSCH, KLAUS, Zur Möglichkeit und Unmöglichkeit des interreligiösen Dialogs. Untersuchungen im Anschluss an Catherine Cornille, in: EuG 2/ 2011, 1-25, 4.
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pirische Verifikation oder Falsifikation verlaufen. Die Verhandlung propositionaler Gehalte, d.h. eine Bewertung religiöser Aussagen entlang der Standards enzyklopädischer Sätze, erweist sich als rationalistische Verkürzung.12 Eine solche Adressierung ignoriert mit anderen Worten die durch Wittgensteins Bedeutungskonzeption nahegelegte Einsicht, dass sich die Bedeutung von Aussagen nur an der Korrelation mit der jeweiligen (Sprachspiel-)Praxis ablesen lässt und auch Wahrheitszuschreibungen dadurch erst an Tiefenschärfe gewinnen. Nimmt man also ernst, dass Begründung, Verstehen und Übersetzen von Sprachspielen an die gemeinsame menschliche Handlungsweise zurückverweisen ist, d.h. nur „beim Entdecken der gemeinsamen praxeologischen Verwurzelungen der unterschiedlichen Sprech- und Lebensweisen“13 gelingen kann, geht der Versuch der Wahrheitsprüfung durch einen übergeordneten, weltbildexternen Standpunkt folglich ins Leere. Am Beispiel der Kategorie der Auferstehung wird deutlich, dass der Glauben an die Auferstehung, d.h. der propositionale Gehalt dieses Satzes nicht dadurch falsifiziert wird, dass naturwissenschaftlich berechtigte Zweifel an der Wiederbelebung eines Leichnams formuliert werden können. In der christlichen Rede von Auferstehung wird ebenso wenig das historische Faktum des Leeren Grabes diskutiert. Vielmehr gilt es einerseits auf seine Rolle im christlichen Sprachspiel, d.h. seine Geltung in soteriologischen Fragenkontexten zu blicken und andererseits die in dieser Aussage enthaltenen regulativen Potentiale, d.h. die Instanziierung dieser Aussage in der jeweiligen Glaubenspraxis des Einzelnen, zu erhellen. Erst dann lässt sich die Bedeutung des Satzes verstehen; lässt sich überlegen, welche Wahrheit auf propositionaler Ebene zum Ausdruck gebracht wird.14 Von Stosch hatte wie angedeutet im Horizont der Bedeutungstheorie Wittgensteins darüber hinaus betont, dass religiöse Überzeugungen einen
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Vgl. dazu auch HÖHN, HANS-JOACHIM, Zeit und Sinn. Religionsphilosophie postsäkular, Paderborn 2010, 98ff. K. VON STOSCH, Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz, 47. M.E. argumentiert Habermas ähnlich, wenn er moralischen Aussagen einen wahrheitsanalogen Charakter attestiert. Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Wahrheitstheorien, in: Ders., Rationalitäts- und Sprachtheorie. Philosophische Texte Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2009, 208-269, 220f, 236; DERS., Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: Ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, 53-126, 66, 86.
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regulativen Status besitzen, d.h. das Leben der Gläubigen orientieren. Die umgekehrte Annahme religiöse Überzeugungen seien deshalb alleine wie grammatische Sätze zu verstehen und damit nicht grundsätzlich bezweifelbar, war bereits als fideistisches Missverständnis ausgewiesen worden. Im Blick auf die Besonderheiten religiöser Überzeugungen kann an dieser Stelle nun zusätzlich darauf hingewiesen werden, dass es zwar sicherlich auch möglich ist, das eigene Leben ohne ein kognitives Erfassen der Inhalte von Glaubenssätzen regeln zu lassen. Aber – selbst unabhängig von der Forderung eines fides quaerens intellectum oder einer rational verantworteten Wirklichkeitsdeutung – scheint die Bindungskraft an eine konkrete Praxis ungleich stärker, sobald der in ihre realisierte Geltungsanspruch sich auf Vernunftebene, d.h. im Rahmen rationaler Argumentation, als vernünftig bzw. vernunftgemäß ausweisen lässt.15 Ohne die Rückkopplung der regulativen Elemente an die Sachebene religiöser Überzeugungen wäre die Glaubenspraxis also kein reflektiertes Zeugnis einer bestimmten Botschaft, sondern ein blind gelebter Glauben, der die Forderung nach einer rationalen Glaubensverantwortung unterläuft. Zudem würde das Ausweichen vor einer kognitiven Auseinandersetzung mit den sachhaltigen Elementen riskieren, die tieferen Bedeutungsschichten religiöser Semantik zu verschütten. Diese scheinbar paradoxe Annahme lässt sich erneut am Beispiel der Auferstehung entwickeln: Ohne die Berücksichtigung einer naturwissenschaftlichen und historischen Kritik droht die Rede von der Auferstehung in einem archaischen Wunderglauben verloren zu gehen und riskiert in einem rationalitätskritischen Rückzugsgefecht zur letzten Bastion christologischer Identifizierungshoffnungen zu gerinnen. Erst die durch historisch-kritische Exegese bestärkte Erkenntnis der Parabolizität und Symbolik religiöser Rede legt nachhaltig die Möglichkeit frei, Auferstehung als das im Horizont des kategorischen Indikativs der Liebe Gottes gegebene Versprechen, der bleibenden Gerettetheit des ganzen Menschen jenseits seiner biologischen Disintegration, zu erläutern.16
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Siehe dazu: H.-J. HÖHN, Zeit und Sinn, 96f; DERS., Religion – das vernunftgemäße Andere der Vernunft?, in: Endreß, Martin u.a. (Hg.), Herausforderungen der Modernität, Würzburg 2012, 277-302. Siehe zum Gedanken: VON STOSCH, KLAUS, Einführung in die Systematische Theologie, Paderborn u.a. 2006 (UTB), 161f.
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Dieser Analyse folgend zieht von Stosch nun insgesamt die Konsequenz, dass beide Dimensionen weder aufeinander reduzierbar sind, noch einzeln als epistemisch basal angesehen werden können. Vielmehr bedingen sie sich gegenseitig und beschreiben erst zusammengenommen einen authentischen Glauben:17 Die propositionale Bedeutung einer religiösen Aussage kann nur dann als angemessener Ausdruck einer Glaubensüberzeugung gewertet werden, wenn sie mit der Praxis korreliert ist, d.h. sie ist erst in Geltung, wenn ihr Inhalt sich auch auf orientierend-expressiver Ebene ausdrückt. Umgekehrt erweist sich ein bloß gelebter Glauben ohne Rückbindung an die ihm zugrunde liegenden, normativen Kernaussagen als unreflektierte und damit gefährlich willkürliche Interpretation. Es lässt sich festhalten dass religiöse Überzeugungen entsprechend einen quasigrammatikalischen Charakter haben und in religiösen Sprachspielen basale Überzeugungen sind, die jedoch z.B. in Form des Glaubenszweifels oder bei Rechtfertigungsprozessen immer wieder verflüssigt werden können und somit insgesamt kontingent bleiben. Nimmt man diese Statusbeschreibung ernst, dann sind Theologien somit einerseits nicht von der rationalen Rechtfertigung ihrer spezifischen Glaubensinhalte suspendiert. Vielmehr folgt aus der Einsicht in die Kontingenz der eigenen religiösen Perspektive ein Formungsbewusstsein, d.h. ein Bewusstsein für die Möglichkeit, dass die eigenen religiöse Überzeugungen oder die von bestimmten Gruppen formulierten Glaubensurkunden in sich verändernden historischen oder kulturellen Kontexten je neue Bedeutungsfacetten erhalten und re-interpretiert werden können. Vor diesem Hintergrund wird die Erläuterung und argumentative Explikation der eigenen Überzeugungen zur Grundlage eines selbst-kritischen, sich gegenüber alternativen Wirklichkeitsdeutungen verantwortenden Glaubensvollzugs. Andererseits erschöpfen sich religiöse Überzeugungen eben aufgrund ihrer besonderen Struktur nicht in kognitiv-propositionalen Elementarisierungsprozessen. Vielmehr verweist die Begründung von religiösen Überzeugungen auf das gegenseitige Bedingungsverhältnis von sachhaltigen und regulativen Elementen. Für die Rechtfertigungs- und Begründungsforderung, die
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Dazu insgesamt: K. VON STOSCH, Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz, 49-62, 222-241, 268-277. Zum Zitat: DERS., Komparative Theologie – ein Ausweg aus dem Grunddilemma jeder Theologie der Religionen?, in: ZKTh 124 (2002), 294311, 301.
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an religiöse Überzeugungen im Rahmen der Frage nach ihrer Teilnahme an säkularen Diskursen ergeht, folgt daraus, dass diese Verwiesenheit, d.h. der sprachspielinterne Geltungsausweis von Gründen und die besondere tiefengrammatische Verwurzelung religiöser Überzeugungen, berücksichtigt werden muss. Welche Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und Wissen bzw. Offenbarung und Vernunft kann im Horizont dieser Überlegungen nun stark gemacht werden? Ist der Verweis auf die Vernunft als dem kleinsten gemeinsamen Nenner in postsäkularen Diskursen dabei tatsächlich ein Affront gegen religiöse Teilnehmer? Bleibt Offenbarung umgekehrt immer eine Zumutung für säkulare Vernunft und erweist sich die unterstellte Übersetzungsdoppelbelastung nur für religiöse Diskursteilnehmerinnen dabei als gerechtfertigt? 2.1 Die Vernünftigkeit des Glaubens und das Andere der Vernunft Im Horizont der Verhältnisbestimmung zwischen Vernunft und Glauben einerseits und der von Habermas eingeforderten epistemischen Einstellungen religiöser Bürgen bzw. Argumente im Hinblick auf deren gleichberechtigte Teilnahme an (post)säkularen Diskursen andererseits,18 schwelt immer auch die Frage nach der Vernünftigkeit der religiösen Wirklichkeitsdeutung. Um einer Antwort auf diese Frage unter postsäkularen Diskursvorzeichen näher zu kommen, will ich im Folgenden Hans-Joachim Höhns Ansatz skizzieren. In seinen religionsphilosophischen Überlegungen hat Höhn besonders transzendental- und universalpragmatische Ansätze für theologische Fragestellungen fruchtbar gemacht und dabei den Glauben als das vernunftgemäß Andere der Vernunft zu profilieren versucht: Analog zu von Stosch macht er im Sinne dieser Bestimmung zunächst darauf aufmerksam, dass die Wahrheitsfähigkeit religiöser Aussagen nicht sinnvoll vor dem Forum der theoretischen Vernunft, d.h. unter Anwendung empirischdeskriptiver Evaluationsverfahren überprüft werden kann.19 Ebenso wenig
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Vgl. dazu: HABERMAS, JÜRGEN, Religion in der Öffentlichkeit, in: Ders., Politische Theorie. Philosophische Texte Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2009, 259-297, 287. Vgl. dazu insgesamt: H.-J. HÖHN, Zeit und Sinn, 98f.
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gelingt es ihm zufolge, die Eigenlogik religiöser Überzeugungen im Rahmen praktischer oder ästhetischer Vernunfturteile vollständig zu erfassen und bewerten zu können. Ähnliches lässt sich auch im Blick auf den quasigrammatischen Status religiöser Sätze attestieren, insofern das regulative Potential religiöser Überzeugungen zwar durch den Blick auf die Verbindung von sachhaltigen und regulativen Elementen erhellt werden kann, sich deren Geltung auf tiefengrammatischer Ebene jedoch nicht im Sinne praktisch-vernünftiger Begründungsverfahren herstellen lässt. Vielmehr, so gibt Höhn zu bedenken, weisen religiöse Überzeugungen in ihren metaphysischen Gehalten über die Vernunft hinaus und sind demnach auch im Sinne einer rationalen Glaubensverantwortung nie vollständig aus Vernunft ableitbar. Auch wenn damit das Verhältnis von Glauben und Vernunft zunächst als Differenzbestimmung erläutert wird, unterstreicht er gleichsam deren bleibende Verwiesenheit aufeinander. Die Einzugsbereiche beider werden dabei nicht als konkurrierende Verdoppelung von Zuständigkeiten beschrieben, sondern im Sinne eines verständigungsorienterten, unterscheidendenden In-Beziehung-Setzens.20 In dieser Verhältnisbestimmung kündigt sich für Höhn dabei nun einerseits sowohl die Vernunftgemäßheit des Glaubens an, als auch andererseits dessen Alterität gegenüber aufgeklärter Vernunft. Der Verweis auf eine solche Andersheit von Vernunft, auf etwas, das über sie hinausgeht, ist dabei zunächst insofern eine Zumutung, als das im Schatten eines Vernunftjenseitigen unbemerkt immer auch das Widrige, Destruktive und Irrationale existiert. Dennoch sei die aufgeklärte Vernunft angesichts der lebensweltlichen Expropriation und Absolutsetzung systemischer Imperative mehr denn je auf materiale Impulse angewiesen, um die unabgegoltenen Projekte der Moderne fortsetzen zu können. 21 Entlang dieser Diagnose gibt Höhn zu bedenken, dass Vernunft in ihren Kompetenzen unterbestimmt bleibt, wenn sie (sozial)pathologische Verzerrungen bloß eindämmen oder therapieren will ohne auch positivutopistische Gesellschafts- und Lebensvisionen zu entwickeln.22 Der Rekurs der Vernunft auf ihr Anderes und damit ein Eingedenken des Religiö-
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Zur Formulierung: EBD., 99. Dazu: EBD., 96f; sowie HABERMAS, JÜRGEN, Glauben und Wissen. Friedenspreisrede des Deutschenbuchhandels 2001, Frankfurt a.M. 2001, 9-31, 12f. Vgl. H.-J. HÖHN, Zeit und Sinn, 96. Aus philosophischer Perspektive in ähnlichem Problembewusstsein: BENHABIB, SEYLA, Kritik, Norm und Utopie, Frankfurt a.M. 1991.
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sen könne sich dabei entsprechend stimulierend auf die Operationalisierung aufklärerischer Impulse jenseits dialektischer Fallstricke auswirken und damit die Funktionstüchtigkeit der Vernunft insgesamt erhalten. Ähnlich wie Habermas betont er dabei jedoch ausdrücklich, dass es trotz dieser Diagnose nur dann gerechtfertigt ist, von der Vernunft die Anerkennung dieses Anderen zu verlangen, d.h. mit der Möglichkeit der Entdeckung von Sinn- und Motivationsressourcen auch den Erhalt ihres schattigen Gegenteils zu riskieren, wenn diese Anerkennung, „wenn das Woraufhin dieses Überstiegs mit der Logik der Vernunft kompatibel ist.“23 Diese Kompatibilität lässt sich dadurch erreichen, dass jenes Andere sich an Vernunft zurückbindet. Nur eine solche Rückbindung bzw. ihr Fehlen kann das Andere der Vernunft verlässlich „als vernunftgemäße Inspiration oder Zumutung“ identifizieren. Entsprechend ist „den Vernünftigen eine Hinwendung zu diesem Anderen“ also alleine dann anzuraten, wenn „es bereit ist, (die diskursive) Vernunft anzunehmen.“ Der rückbindende Bezug des Anderen auf die Vernunft markiert folglich das Unterscheidungsmerkmal zwischen (s)einer Vernunftgemäßheit und Vernunftwidrigkeit. Demnach kann religiöser Glaube nur dann als das, der Vernunft gemäße Andere bestimmt werden, wenn er sich „gegenüber dem diesseits und jenseits der Diskurslogik liegenden Vernunftwidrigen“24 abgrenzt, d.h. seine Unterschiedenheit nicht zugunsten einer destruktiven Opposition zur Vernunft oder in unbemerkter Solidarisierung mit deren, im Schatten lauernden Feinden erläutert. Diese Definition der Vernunftgemäßheit religiöser Einstellungen bzw. die daran anschließende Verhältnisbestimmung von Glauben und Vernunft als ein unterscheidendes In-Beziehung-Setzen lässt sich gut mit der vorgestellten Glaubensverantwortung nach Wittgenstein vermitteln: Im Rahmen der skizzierten Rechtfertigungsforderung wird Vernunft nicht etwa als dem Glauben nachgeordnete Instanz bestimmt. Vielmehr informiert sie die argumentativen Erläuterungen und Plausibilisierungen religiöser Geltungsansprüche bzw. deren praktische Instanziierung im eigenen und je anderen Sprachspiel. Der für Glaubenssätze geforderte Aufweis, dass die „regulative Instanziierung dieses Satzes logisch möglich und mit bestimmten Hand-
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Zu diesem und zu den beiden Folgezitaten: H.-J. HÖHN, Zeit und Sinn, 97. Kursive Hervorhebung: A.W. EBD., 97.
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lungsweisen in Zusammenhang zu bringen ist“25 , setzt also bereits die Minimalgeltung rationaler bzw. argumentationslogischer Kriterien voraus, mit deren Hilfe der Korrelationsnachweis moderiert wird: Religionsinterne Konsistenz und religionsexterne Kohärenz, d.h. eine inhaltliche Widerspruchsfreiheit der spezifischen Lehre und deren grundsätzliche Vereinbarkeit mit naturwissenschaftlichen und historisch-kritischen Welterklärungsinstanzen, sind also auch für von Stosch neben der Einsicht in die doppelte Kontingenz religiöser Überzeugungen die entscheidenden Indikatoren für die Vernunftgemäßheit des Glaubens. Der Auswies der Vernunftgemäßheit ist dabei nicht nur eine Form der rationalen Verantwortungsübernahme für das eigene Weltbild, sondern darf zugleich im Rahmen interdisziplinärer aber auch interreligiöser Begegnungen als Signal für die Bereitschaft gelten, die eigenen weltbildkonstitutiven Überzeugungen in das je andere Sprachspiel übersetzen zu wollen. Gleichsam wird ebenso im Horizont seiner Analysen darauf hingewiesen, dass der religiöse Glauben in seinem tiefengrammatischen Bezug auf Offenbarung und dem damit impliziten Anspruch eines radikalen Perspektivenwechsel letztlich auch eine Zumutung für (säkulare) Vernunft und ihr Bemühen um weltanschauungsneutrale, weltbildintern plausibilisierbare Urteile darstellen muss.26 Diese Zumutung wird u.a. darin deutlich, dass ein vollständiges, bzw. gleichzeitiges Reflexivwerden weltbildkonstitutiver Überzeugungen nicht möglich ist bzw. nur zum Preis eines radikalen Perspektiven- d.h. Weltbildwechsels vollzogen werden kann.27 Die Erinnerung daran, dass ein in heterogenen und pluralen Gesellschaften gelebter Glauben in der Verantwortung steht, sich zur Kontingenz religiöser Überzeugungen argumentativ zu verhalten und damit das eigene Formungsbewusstsein zu reflektieren, neutralisiert dabei wie gezeigt gleichsam fideistische Interpretationen.
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K. VON STOSCH, Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz, 313. Einen solchen Perspektivenwechsel haben viele Protagonisten in der Geschichte der Weltreligionen als „Bekehrungserlebnis“ geschildert. Ähnliches attestiert Habermas im Kontext der Frage nach der Möglichkeit die Lebenswelt einer moralischen Betrachtung bzw. Evaluation vollständig zugänglich machen zu können. Dies gelinge nicht, „weil vergesellschaftete Subjekte zu den Lebensformen und Lebensgeschichten, in denen sich ihre Identität gebildet hat, eine rein hypothetische Einstellung nicht einzunehmen vermögen.“ HABERMAS, JÜRGEN, Was macht eine Lebensform rational?, in: Ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991, 31-48, 35.
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Insgesamt will ein Glauben, der nach Einsicht sucht, diese Einsicht auch im Referenzsystem postsäkularer Theologie also gerade durch Abwägung von Gründen und Argumenten gewinnen, die durch die Vernunft an ihn herangetragen werden. Nur im Versuch einer argumentativen Einlösung seiner Geltungsansprüche, d.h. des In-Beziehung-Setzens seiner Gehalte mit Vernunfturteilen, kann ein religiöses Sprachspiel als vernunftgemäß, aufgeklärt und authentisch bestimmt werden. Gleichwohl lässt sich die Semantik religiöser Aussagen im Blick auf ihren besonderen Status, aber ebenso in der Beschreibung des Religiösen als des vernunftgemäß Anderen, nicht vollständig durch argumentative Analysen erfassen bzw. diskursiv verflüssigen. Dass sich die Eigenlogik und Symbolik religiöser Wirklichkeitsdeutungen nicht rückstandsfrei in die Vernunft resorbieren lässt, kann vor dem Hintergrund der vorangegangenen Analysen nun im Umkehrschluss nicht länger zu der Annahme motivieren, Glaubensaussagen im Letzten doch von den rationalen Rechtfertigungsforderungen dispensieren zu dürfen. Selbst wenn eine strikte Trennung von Glauben und Wissen dem Selbstverständnis religiöser Menschen auf tiefengrammatischer Ebene häufig nicht entsprechen mag und das Votum für eine weniger „scharfe Trennung“28 somit sinnvoll, d.h. glaubenspraktisch plausibel erscheint, so ist es dennoch unerlässlich Glauben und Vernunft bzw. deren Kompetenzbereiche bleibend zu differenzieren. Vor dem Hintergrund der bemühten Verhältnisbestimmung und mit dem Ziel die Forderung des fides quaerens intellectum nicht von vorneherein als Tautologie zu deklarieren, ist eine solche Distinktion zum einen deshalb wichtig, weil die (nachmetaphysische) Vernunft sich nur so nicht wieder mit Hypotheken belastet, von denen sie seit ihrer Selbstaufklärung befreit worden war. Will sie die mit Kant mühsam hervorgebrachte Differenzierungsleistung nicht wieder einebnen und so erneut „ins Schwärmen“29 geraten, wird die Unterscheidung von Glauben und Wissen also unerlässlich. Zum anderen erweist sich diese Unterschiedenheit ebenso für einen verantworteten Glauben als zentral, denn nur unter diesen Vorzeichen ist es möglich, bleibend zwischen „authentischem Glauben“ und religiösem Eskapismus, Fideismus und Fanatismus differen-
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Vgl. dazu M. REDER, a.a.O. 250f. Siehe: HABERMAS, JÜRGEN, Die Grenzen zwischen Glauben und Wissen, in: Ders., Kritik der Vernunft. Philosophische Texte Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 5, Frankfurt a.M. 2009, 342-386, 363, 381.
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zieren zu können.30 Im Sinne eines Glaubens, der sich als Anderes nicht aber als Opposition der Vernunft versteht, verhindert die Unterscheidung, dass Religion „zum Platzhalter von Beliebigkeit und Unvernunft“31 wird oder im Schatten vernunftdefätistischer Positionen für fundamentalistische Interessen vereinnahmt wird.32 In diesem Zusammenhang stellt die Verwiesenheit der Religion auf Vernunft im Sinne der Bestimmung des Religiösen als des vernunftgemäß Anderen der Vernunft für gläubige Menschen weder eine Bedrohung noch eine Diffamierung ihres Glaubens dar. Vernunft ist vielmehr immer schon Integral eines authentischen Glaubensvollzuges von Einzelnen, ebenso wie ein verbindender locus theologicus großer, heterogener Glaubensgemeinschaften und ihrer Glaubensformulare. 2.2 Kommunikative Vernunft als Gesprächspartnerin religiöser Überzeugungen? Im Horizont der Bestimmung des Religiösen als des vernunftgemäß Anderen der Vernunft ist bis hierhin nun ein Vernunftkonzept unterstellt worden, das einerseits die Kompetenzen der einzelnen Vernunft- und Rationalitätsstimmen zu erkennen vermag, sich zugleich unter bestimmten Voraussetzungen ihrem Anderen gegenüber offen zeigt und andererseits in der Lage ist diese unterschiedlichen Stimmen problemorientiert miteinander ins Gespräch bringen zu können. Komplementär dazu war besonders im Blick auf die Verwiesenheit von kognitiven und expressiven Elementen religiöser Überzeugungen deutlich geworden, dass zu engmaschige, d.h. szientistisch überkompensierende oder naturalistisch enggeführte Rationalitäts- und Vernunftprofile den Eigensinn religiöser Sprachspiele nicht erfassen können und demnach als alleinige Gesprächspartner für religiöse Sinnsysteme kaum angemessen erscheinen. Mit anderen Worten richtet sich auch von re-
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Vgl. dazu insgesamt: H.-J. HÖHN, Zeit und Sinn, 101. Auch Höhn gibt dabei zu bedenken, dass die Darbringung von Gründen für oder gegen eine bestimmte Wirklichkeitsdeutung bzw. ein exklusiv an diskursive Gründe gebundener Nachweis der Vernunftgemäßheit religiöser Aussagen an Grenzen kommt und somit letztlich nur diskursextern und im Blick auf die Glaubenspraxis plausibel gemacht werden kann. EBD., 97. EBD. Höhn betont dabei, dass die Ermöglichung des Überstiegs der Vernunft im Sinne eines ihr gemäßen Anderen im Dienste ihrer Funktionalität und Operationalisierbarkeit steht.
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ligiöser Seite aus eine gewisse Erwartung an potentielle, säkulare Diskursteilnehmer hinsichtlich ihres Vernunftverständnisses bzw. Rationalitätsgebrauches. Diese Feststellung weist m.E. darauf hin, dass die Vermutung einer einseitigen Übersetzungsbelastung und Aufgabenverteilung schon alleine deshalb nicht trifft, weil das Verhältnis von Glauben und Vernunft sich im christlichen Selbstverständnis nicht als Opposition darstellt. 33 Zugleich flankiert die damit antizipierte Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und Wissen bzw. Offenbarung und Vernunft die Suche nach einem philosophisch zugrunde gelegten Vernunftkonzept in dessen Rahmen sich der religiöse Glauben verantworten soll: Die Erwartungen religiöser Diskursteilnehmerinnen an die generelle Offenheit für die Bedeutung religiöser Semantiken und der gleichzeitige Erhalt rationaler Urteilsfähigkeit lassen sich m.E. nur sinnvoll unter den Vorzeichen einer kommunikativ situierten Vernunft adressieren. Im Rahmen eines solchen, besonders in Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns profilierten Vernunftkonzepts, scheint es nämlich einerseits möglich Glauben und Wissen bleibend zu unterscheiden, ohne dass diese Unterscheidung andererseits aber in einer Trennung paralysiert wäre. Im Rahmen einer universalpragmatischen Rationalitätsrekonstruktion hat Habermas neben einem strategischen ebenso einen verständigungsorientierten Wirklichkeitszugang als Funktion der Vernunft identifiziert. Eine für kommunikative Rationalität charakteristische, intersubjektive Verhandlung in Frage stehender Geltungsansprüche bzw. ihr reflexiver Problem-Modus des am Konsens ausgerichteten Diskurses ist dabei jedem strategischen oder zweckrationalen Vernunftgebrauch vorgeordnet.34 Das stetige Bemühen um die Integration zuvor noch nicht bedachter oder abgeblendeter Interessen und Argumente erweist sich für kommunikative Vernunft also nicht als eine von außen aufgetragene, normative Maßgabe, sondern ist ihr Funktionsmodus. Durch die universalpragmatische Fundierung dieser Integrationsmöglichkeit können gleichzeitig mit Hilfe performativer Argumentationsfiguren Regeln identifiziert werden, entlang derer sich divergierende Positionen mit
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Diese Aussage entstammt allerdings einer bestimmten Lesart römisch-katholischer Theologie und will nicht vergessen, dass es in der christlichen Tradition durchaus konkurrierend-oppositionierende Verhältnisbestimmung gibt. Vgl. dazu u.a.: HABERMAS, JÜRGEN, Rationalität der Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zu Begriff der kommunikativen Rationalität, in: Ders., Rationalitäts- und Sprachtheorie, 105-145.
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einander ins Gespräch bringen und kritisch bewerten lassen. Damit sind also einerseits formale Kriterien angegeben, die das kritische Potential der Vernunft erhalten. Zugleich zeichnet eine kommunikativ-komprehensive Vernunft sich jedoch durch einen integrativ-verstehensorientierten Zugang zu ihr unbekannten Gehalten aus. Mit anderen Worten wirkt verständigungsorientierte Rationalität m.E. demnach sowohl als ein pars construens für die gemeinsame Urteilsfindung und mutuale Perspektivenübernahme, weil sie verstehen, nachvollziehen und erklären will. Anders als ihr transzendentalpragmatisches Pendant wirkt sie im Bewusstsein der bleibenden Weltbildinternität ihrer Urteile zugleich ebenso aber als pars destruens, d.h. hinterfragt, bezweifelt und dekonstruiert einmal formulierte Urteile und die Möglichkeit kongruenter Übersetzungen.35 In einer solchen dekonstruktivistischen Dynamik und gleichsam in Orientierung an der idealen Diskursgemeinschaft beugt sie entsprechend all jenen Urteilsfindungsprozessen vor, die in einer endgültigen Abschließung von Kontexten die konsensuelle Zustimmung zum Preis fauler Kompromisse erkaufen wollten.36 Auch wenn also im Rahmen des universalpragmatischen Vernunftverständnisses keine weltbildexternen Bezugspunkte verortet werden, so formuliert die universalpragmatische Rekonstruktion idealer Sprechbedingungen dennoch den Anspruch entlang der diskursiven, auf Konsens als kontrafaktischem Ideal angelegten Argumen-
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Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit der transzendentalpragmatischen Lesart bzw. Letztbegründungsansprüchen u.a.: J. HABERMAS, Diskursethik, 105f; DERS., Erläuterungen zur Diskursethik, in: Ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1992, 119-226, 195. Vgl. zu dieser Lesart der kommunikativen Vernunft: DERRIDA, JACQUES, Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, in: Ders., Die différance. Ausgewählte Texte hg. v. Engelmann, Peter, Stuttgart 2004, 279-333. Auch wenn ich die Unterschiedenheit beider betont habe, fordert eine dekonstruktivistische Dynamik für die Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen trotzdem noch einmal nach den gemeinsamen Quellen zu fragen ist. Vgl. dazu auch: DERS., Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Ders./ Vattimo, Gianni (Hg.), Die Religion, Frankfurt a.M. 2001, 49f. Vgl. zur kritisch-konstruktiven Beschäftigungen mit postmodernen Bedenken ggü. Universalistischen Diskursen: HABERMAS, JÜRGEN, Konzeptionen der Moderne. Ein Rückblick auf zwei Traditionslinien, in: Ders., Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2009, 366-399, 388f. Siehe auch: J. HABERMAS, Religion in der Öffentlichkeit, 291f.
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tation zumindest in Normenfragen eine über partikulare Werteurteile hinausgehende Orientierung generieren zu können. In dem von nachmetaphysischen Leitplanken gesäumten Bewegungsspielraum der gegenwärtigen Philosophie ist „(d)ie kommunikative Vernunft gewiß eine schwankende Schale – aber sie ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen ‚bewältigt‘.“37 Das Bemühen Partikularismen zu transzendieren und weltanschauliche Überzeugungen noch einmal auf ihre Gültigkeit in einer je größeren Diskursgemeinschaft, im je anderen Sprachspiel zu befragen, ist dabei also keineswegs willkürlich, sondern angeleitet durch einen an Emanzipation und solidarischer Gerechtigkeit interessierten, kommunikativen Vernunftgebrauch. Die Erweiterung der Verständigungsorientierung auf eine Einverständnisorientierung, d.h. die Ausrichtung am Universalisierungsgrundsatz lese ich dabei schließlich weder als Forderung auch die Rationalität partikularer Werteüberzeugungen durch eine Universalisierbarkeitsprüfung bestimmen zu wollen, d.h. letztlich den Einfluss öffentlicher Vernunft auch auf private Bereiche auszuweiten. Noch verfolgt eine solche Erweiterung sicherlich die Absicht die typologisch-heuristische Trennung zwischen Normen und Werten, öffentlicher und privater Sphäre begründen zu wollen.38 Eher erscheint mir die mit der Konsensorientierung verbundene Verallgemeinerbarkeitsprüfung einen verantwortlichen Umgang mit persönlichen und privaten Werteurteilen zu antizipieren, gerade weil die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Bereich im Horizont intersubjektiver Identitätsgenese und kommunikativer Vergesellschaftung nicht fixiert werden können. Auch im Rahmen partikularer Wertesysteme ist das Abfragen der Geltungskraft- und Weite entsprechend eine Chance die eigene Wirklichkeitsdeutung sprachfähig zu machen, d.h. ins Gespräch mit anderen Wertesystem bringen zu können. Diese Überlegungen konvergieren mit der Annahme, dass die im kontrafaktischen Ideal impliziten Diskursregeln es allererst ermöglichen die Interessen des Einzelnen durch das diskursive Fragen nach den Gründen und Grundlagen einer Wirklichkeitsinterpretation
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Zum Zitat und Gedanken: JÜRGEN HABERMAS, Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, in: Ders., Kritik der Vernunft, 117-154, 152. Die Vermittlung im Modus kommunikativer Rationalität ist entsprechend als antagonistisches Prinzip zur Ausdifferenzierung der Vernunftmomente zu verstehen. Vgl. zu dieser Annahme kritisch: M. REDER, a.a.O. 237f..
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und im Bewusstsein um deren lebensweltliche Prägung, gegen pragmatische Kompromisse, Privatisierungs- und Elitisierungstendenzen, d.h. lediglich persuasive Kommunikation profilieren zu können.39 Zugleich fordern Vergesellschaftungsprozesse unter Umständen tatsächlich die Befragung der persönlichen Werteurteile danach, ob diese die Zustimmung aller Betroffenen finden könnten. Gerade von sozial-politisch engagierten Glaubensgemeinschaften, die an den Schnittstellen von partikularen Wertesystemen und öffentlichen Normenfindungsprozessen angesiedelt sind und anderen intermediären Organisationen,40 die im Einflussbereich unterschiedlicher Logiken stehen, wird entsprechend eine erhöhte Sensibilität gefordert. Trotz seines sicherlich als liberal zu beschreibenden Ansatzes, scheint mir Habermas unter den Vorzeichen einer kommunikativen Vernunft dennoch weniger von einer strikten Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre auszugehen, als er mit der Unterscheidung zwischen verständigungs- und einverständnisorientiertem Sprachgebrauch die unterschiedlichen Modi dieser Vernunft in den je unterschiedlichen Sphären zu bedenken versucht.41 Vor diesem Hintergrund lässt sich m.E. zeigen, dass Habermas die lebensweltliche Prägung der Diskursteilnehmer keineswegs übersieht, womit der von Reder formulierte Verdacht Habermas dränge Religion in den Bereich des Privaten ab, nicht wirklich trifft.42 Religiöse Grundhaltungen sind wie andere Überzeugungen solange privat, wie sie sich nicht im öffentlichen Raum behaupten. Damit ist zugleich nicht gesagt, dass diese nicht be-
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Vgl. HABERMAS, JÜRGEN, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: Ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1992, 9-30, 13f. Vgl. zur Bestimmung der Kirche als intermediäre Organisation: GABRIEL, KARL, Modernisierung als Organisierung von Religion, in: Krüggeier, Michael u.a. (Hg.), Institution – Organisation – Bewegung. Sozialformen der Religionen im Wandel, Veröffentlichungen der Sektion „Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bd. 2, Opladen 1999, 19-37, besonders: 30f. Vgl. dazu auch: HABERMAS, JÜRGEN, Rationalität der Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität, in: Ders., Rationalitäts- und Sprachtheorie, 105-145. In seiner Friedenpreisrede spricht Habermas davon, dass die pluralisierte Vernunft „osmotisch“ nach beiden Seiten, d.h. starken Traditionen wie auch weltanschaulichen Inhalten offen bleibt, ohne ihre Eigenständigkeit preiszugeben: DERS., Glauben und Wissen, 15. Vgl. M. REDER, a.a.O., 237f.
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reits im öffentlichen Raum präsent sind, insofern sie bei der intersubjektiven Vergesellschaftung als implizite Geltungsansprüche handlungsregulative Kraft entfalten. Das Vermögen bei Handlungskonflikten diese Geltungsansprüche explizit zu machen und dabei von persönlichen Geschmacksurteilen zu abstrahieren einerseits, und das Bewusstsein um die Unmöglichkeit einer vollständigen Abblendung dieser lebensweltlichen Imprägnierung andererseits, stellen sich m.E. als zwei Seiten der einen Medaille vor: Im Horizont einer intersubjektiven Identitätsgenese und eines „von Haus aus vergesellschafteten Individuums [...] unterscheiden sich private Moral und öffentliche Gerechtigkeit nicht mehr im Prinzip, sondern nur noch im Hinblick auf den Organisationsgrad und die institutionelle Vermittlung der Interaktionen.“43 Entsprechend scheint mir diese, im Anspruch gesellschaftlicher Relevanz und Geltung erzeugte Permeabilität der Grenzen zwischen ethisch und moralisch bzw. privat und öffentlich auch auf religiöse Argumente anwendbar zu sein.44 Zwar legt die Übersetzungsforderung religiöser Argumente in (post)säkulare Vernunft nahe, dass religiöse Überzeugungen nur unter bestimmten kognitiven Voraussetzungen, nämlich der Rückbindung an Vernunft, gleichberechtigte Diskursinhalte darstellen. Dennoch folgt daraus erstens weder, dass Religion schlicht im Bereich des privaten verortet wird, noch zweitens, dass sich die Übersetzungsarbeit als ein einseitiger, auf Kosten religiöser Bürger stattfindender Vorgang erweist. Habermas macht vielmehr deutlich, dass „die fällige Übersetzung [...] in der politischen Öffentlichkeit selbst geleistet wird“45 , in der „politische Teilnahme religiöser Organisationen“46 bereits zum komplexen Bild einer vielstimmigen Gesellschaften gehören. Zudem muss die Übersetzungsarbeit als ein kooperativer Vorgang verstanden werden, insofern sie auch auf Seiten der
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HABERMAS, JÜRGEN, Erläuterungen zur Diskursethik, in: Ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1992, 119-226, 166. Eine andere Deutung von Habermas’ Überlegungen zur Rolle der Religion in (post)säkularen Diskursen nimmt an dieser Stelle vor: BREUL, MARTIN, Religion als Differenzbewusstsein? Zum erkenntnistheoretischen Status religiöser Überzeugungen, in diesem Band, 173-188, hier: 182f. J. HABERMAS, Religion in der Öffentlichkeit, 279. EBD., 278.
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säkularen Bürger ein Mindestmaß an Offenheit gegenüber der möglichen Wahrheit religiöser Argumenten als normative Erwartung voraussetzt.47 Zwar wird im Rahmen kommunikativer Vernunft und ihrer jeweiligen Diskursordnungen bzw. in den an Einverständnis und Verallgemeinerbarkeit ausgerichteten Begründungsprofilen zunächst ein starker Vernunftbegriff nahegelegt, in dessen Gegenlicht die diskutierten Differenzierungen und Trennungen tatsächlich problematisch erscheinen. Dennoch darf weder vergessen werden, dass die Diskurstheorie in der Habermaschen Provenienz als Universal- und nicht Transzendentalpragmatik formuliert ist, d.h. weder Letztbegründungsansprüche stellt noch die Kontingenz der eigenen Rationalitätstheorie ignoriert.48 Zum anderen sind Habermas handlungsund rationalitätstheoretische Erläuterungen natürlich immer kontrafaktische Idealisierungen, die im Blick auf pathologische Verzerrungen kommunikativer Prozesse heuristisches Potential entfalten sollen. So hat auch die Orientierung am Konsens einen asymptotischen Charakter und die kommunikative Vernunft mit ihren starken Ansprüchen scheint sich im Eingedenken der bleibenden Möglichkeit unbemerkt Machtstrukturen perpetuiert, Anfragen abgeblendet oder Unrecht übersehen zu haben jeder Zeit schwächen zu lassen: Kommunikativer Vernunft – auch im Blick auf die Aushandlung der Grenzen zwischen Glauben und Wissen – geht es also immer wieder darum „(i)n der Revolte eines abweichenden Willens“49 die Stimmen aufzuspüren, die in den starren, vernunfttheoretischen Idealisierungen ausgegrenzt scheinen und damit für „die verletzte Integrität menschlicher Würde, die versagte Anerkennung, die vernachlässigten Interessen, die verleugnete Differenz“ zu sensibilisieren.50
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Dazu besonders: EBD., 279. Vgl. noch einmal ganz ausdrücklich: DERS., Diskursethik, 54, 105f; DERS., Erläuterungen zur Diskursethik, 195f; DERS., Religion in der Öffentlichkeit, 295. Zu beiden Zitaten: DERS., Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: Ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1992, 100-118, 115. Habermas den Gebrauch eines starken Vernunftbegriffs (samt der damit einhergehenden rationalen Deklassierung religiöser Überzeugungen) zu unterstellen, d.h. ihn einer rigiden, unverhandelbaren Trennung von Glauben und Wissen bzw. Jerusalem und Athen anzuklagen, wird seinem Denken m.E. schon mit Blick auf seine Reaktion auf J.B. Metz Aufsatz zur anamnetischen Vernunft nicht gerecht. Vgl. zur kritischen Darstellung der Debatte zwischen Habermas und Metz: MÜLLER, KLAUS, In der End-
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Vor diesem Hintergrund muss auch die Orientierung an rationalen Kriterien folglich immer die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass diese Rationalitätszuschreibungen selbst schon Konsequenzen eines bestimmten Wirklichkeitszugangs oder Vernunft-Paradigmas darstellen. Auch wenn Konsistenz und Kohärenz prima-facie plausible Kriterien für die Verantwortlichkeit einer religiösen Überzeugung sind, so sollte die damit verbundene Grenzziehung zwischen authentischem und vernunftdefätistischem Glauben nicht apriorisch getroffen werden, sondern sich – und sei es nur versuchsweise – im und durch den Einzelfall befragen lassen. Insgesamt ist also erst eine säkulare bzw. kommunikative Vernunft, die sich anders-vernünftigen Suchbewegungen nicht kategorisch verschließt und dennoch kritisches Profil besitzt, für religiöse Sprachspiele anschlussfähig bleibt und diesen bei ihren Übersetzungsarbeiten moderierend zur Seite stehen kann.51 In Rekurs auf sein Verständnis von Philosophie als Platzhalterin und Interpretin hatte Habermas in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass Philosophie im Allgemeinen und kommunikative Vernunft im Besonderen dabei „in der Rolle eines Übersetzers, moralische, rechtliche und politische Eintracht nur fördern (kann), wenn sie in der legitimen Vielfalt der substantiellen Lebensentwürfe von Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen aufklärend, aber nicht als besserwissende Korrektur auftritt.“52 2.3 Opakheit und Mehrsprachigkeit Die von vielen Seiten angeklagte Unterstellung einer letzten Opakheit religiöser Überzeugungen drückt nach allem bisher Gesagten schließlich m.E. auf eine – ja bereits von Habermas eingestandene – religiös unmusikalische
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losschleife von Vernunft und Glaube. Einmal mehr Athen versus Jerusalem, Berlin 2012, 1ff. Dass diese Moderation auch in theologischer Perspektive als Bereitstellung von Mitteln, „die es erlauben, Denkbewegungen zu folgen, bei denen die Treue zum Eigenen keine Abwertung des Anderen bedeuten muss“ erwünscht ist, legt Klaus von Stosch nahe: VON STOSCH, KLAUS, Religiöse Wahrheitsansprüche in doppelter Kontingenz. Zur Möglichkeit der Wertschätzung religiöser Pluralität, in: Lütterfelds, Wilhelm/ Mohrs, Thomas (Hg.), Wahr oder tolerant? Religiöse Sprachspiele und die Problematik ihrer globalen Koexistenz, Frankfurt a.M. u.a. 2004, 125-148, 127. J. HABERMAS, Die Grenzen zwischen Glauben und Wissen, 378.
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Weise aus, dass die tiefengrammatische Verankerung des christlichen Offenbarungsglaubens von einem Nicht- oder Anders-Gläubigen nicht als basale Überzeugung geteilt und vertrauenswürdig angenommen werden kann. Gerade weil der weltbildkonstitutive Charakter religiöser Überzeugungen wie skizziert tiefengrammatisch festlegt, welche Gründe im Spiel des Gründegebens und -Nehmens als gute Gründe geltend gemacht werden; gerade weil ein atheistisches Sprachspiel das Vertrauen auf die, im theistischen Sprachspiel antizipierte, letzte Wirklichkeit nicht herstellen kann, müssen die im Horizont dieses Vertrauens vorgebrachten Gründe sperrig erscheinen. So mag jeder Akt einer über den Tod hinausgehenden Solidarität, sich aus einer atheistisch-naturalistischen Perspektive immer auch als ein irrationaler Akt, zumindest aber als eine, das eigene Leben gefährdende Naivität darstellen. Entsprechend liegt es in einem a-religiösen Weltbild in der Tat nahe, Glaubensinhalte, die ein solches ‚biologisch riskantes Handeln‘ motivieren, als irritierend wahrzunehmen. Eine solche Sperrigkeit oder Opakheit, die schließlich auf den Umstand der reflexiv nicht vollständig argumentativ zu verflüssigenden Tiefengrammatik Bezug nimmt, lässt sich m.E. umgekehrt auch einem atheistischen Weltbild attestieren: Solange sich die Existenz Gottes weder mit letzter Sicherheit belegen noch widerlegen lässt, nehmen atheistische Weltbilder – zumindest in ihrer radikalen Absage an ein Ultimates – Bezug auf eine letzte Wirklichkeit, die mit den Mitteln der Vernunft nicht unbezweifelbar begründet werden kann. Gleichwohl entfalten diese Überzeugungen für die Atheistin dennoch eine regulative Bedeutung und produzieren dabei Normen, die wiederum in theistischen Weltbildern möglicherweise irritieren oder auf Widerspruch stoßen. Mit anderen Worten lassen sich „ [d]ie Perspektiven, die entweder in Gott oder im Menschen zentriert sind, [...] nicht ineinander überführen.“53 Gleichwohl ist damit nicht kategorisch ausgeschlossen, dass die jeweils aktivierten Semantiken sich nicht füreinander verständlich, d.h. im Rahmen des Korrelationsnachweises von Überzeugung und Handlung nachvollziehbar plausibilisieren lassen. Unter der Voraussetzung also, dass solche, nach eigenen Logiken funktionierenden, fremden Inseln dennoch besucht und beurteilt werden können, erweist sich die Vernunft – gegen alle Inkompatibilitätsvermutungen – als der kleinste gemeinsame Nenner dieser Plausibilisierung. Gleichsam navigiert sie im kommunikativ-diskursiven Format als
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Fährmann zwischen diesen Inseln immer angesichts ihres Erzitterns im Meer der Kontingenzen.54 Noch einmal: Der dabei in Anschlag gebrachte Vernunftbezug erweist sich also deshalb nicht als „asymmetrische Bürde“55 , weil religiösen Menschen diese Rückbindung an Vernunft im Blick auf die vorgestellten Ansätze rationaler Glaubensverantwortung zum einen nicht fremd ist und zum anderen nicht nur religiöse Bürger eine epistemische Einstellung zu Perspektivenpluralität, säkularen Wissensbeständen und politisch-rechtlichen Ansprüchen finden müssen. Ebenso wird nämlich von der säkularen Bürgerin gefordert eine kognitive Anpassung zu leisten, insofern von ihr sowohl die „selbstreflexive Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusivistischen Selbstverständnisses der Moderne“56 erwartet wird, als auch die Offenheit gegenüber sprachspielpraxeologischen Begründungsverfahren und damit der möglichen Wahrheit religiöser Überzeugungen. Die epistemischen Minimalanforderungen in Form des verständigungsorientierten Nachvollzugs der jeweiligen weltanschaulichen Gründe sind also als eine gemeinsame Aufgabe adressiert, deren Bearbeitung sich Bürger eines demokratischen Gemeinwesens gegenseitig schulden.57 Gesteht man zu, dass eine Abtragung der Unterscheidung von Glauben und Wissen droht, Vernunft metaphysisch zu überdrehen und sie dabei kriterial leer zu laufen, ein Auseinanderziehen der beiden aber umgekehrt weder die Historizität der Vernunft bedenkt, noch Theologie als Glaubenswissenschaft zu erfassen vermag, dann ist das Eingeständnis letzter Opakheit m.E. weder
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Vgl. zur Insel- und Fährmann-Metapher: LYOTARD, JEAN-FRANÇOIS, Der Widerstreit, München 1989, 225f. Siehe auch Fußnote 33. Dazu auch: WELSCH, WOLFGANG, Zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M. 1996, 335ff. J. HABERMAS, Religion in der Öffentlichkeit, 285f. Vgl. dazu auch: DERS., Glauben und Wissen, 14f, 21. DERS., Religion in der Öffentlichkeit, 287. EBD., 280. Abgesehen davon, dass ich versucht habe gegen Reders Kritik zu zeigen, inwieweit der Hinweis auf die Opakheit religiöser Überzeugungen aus religionsexterner Perspektive mit der religionsinternen Einsicht in die Unmöglichkeit einer vollständigen reflexiven Aufhellung der Korrelation von Glaubenssätzen und Glaubenspraxis korrespondiert, ohne dass diese Unmöglichkeit einem Fideismus das Wort redet, wird in meinen Augen darüber hinaus nicht klar, wie Reders Explikation der Religion als sozio-kulturelle Praxis, also die pragmatische Deutung von Glaubensvollzügen vor dem Fideismus-Vorwurf schützen soll! Vgl. M. REDER, a.a.O., S. 250f.
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eine Unterstellung von Irrationalität, noch eine Kapitulation gegenüber dem Versuch diese opaken Gehalte je neu nach ihrer Vernunftanbindung zu fragen. Wenn die – freilich wenig charmante – Rede von der Opakheit des Religösen also nicht auf dessen Irrationalität, sondern seine Vernunft-Alterität verweist, dann zeugt sie letztlich sogar von Respekt gegenüber dessen Eigenlogik und dem Bemühen, das im Glauben an die Wahrheit einer Offenbarung reflektierte Vertrauen nicht rational vereinnahmen zu wollen.58 Insgesamt würde ich also betonen, dass die Unterscheidung von Glauben und Wissen auch mit Habermas nicht die Unvernünftigkeit des Glaubens unterstreicht oder diesen in der Forderung nach rational nachvollziehbaren Gründen sprachlos werden lässt, sondern in der besonderen Bezeichnung die Grenzen philosophisch-säkularer Vernunft zu erkennen gibt. Kommunikative Vernunft maßt sich also im bewussten Verzicht auf inhaltliche Stellungnahmen weder an, Richtungshinweise für die existentiellen Fragen der Menschen zu geben, noch will sie sich „in einer ästhetisch gewordenen Theorie als das farblose Negativ trostspendender Religion (inszenieren).“59 Sie gibt freilich in „enthaltsamer Koexistenz“ und im Sinne einer Leerstellenanzeige zu erkennen, dass die Motive eine bestimmte Glaubensüberzeugung auf praktischer Ebene umzusetzen, sich nicht alleine durch den Blick auf die Konsistenz und Kohärenz dieser Überzeugungen erklären lassen.60 Die Festlegung der umstrittenen Grenze erweist sich somit bleibend „als ei-
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Damit ist auch das Ausgreifen der Vernunft nach Antworten, die an ein mindestens schwach-naturalistisches Sprachspiel gebunden sind, begrenzt. Diese Begrenzung wiederum verhindert, dass die Narrative personaler Gottesvorstellungen und die Frage nach der Möglichkeit natürlicher Offenbarung gegeneinander ausgespielt werden oder sich in der Präferenz einer bestimmten Deutung des Ultimaten ein neuerlicher Absolutismus erzeugte würden, der sich als Vernunftgeburt möglicherweise nicht wieder durch die erkenntnistheoretische Bescheidenheit einer negativen Theologie oder aber der Lehre des Dharmas usw. eingefangen ließe. Siehe zum Terminus und Gedanken: K. MÜLLER, a.a.O., 71f. Vgl. zum an die negative Metaphysik Adornos gerichteten Zitat und zum Gedanken der „enthaltsamen Koexistenz“ mit Religion: J. HABERMAS, Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, 153. Ähnliches gibt Höhn zu bedenken und entfaltet in Anlehnung an Ebeling, d.h. im Horizont der Spannung zwischen logischem Apriori der Moralität und dem existentialen Apriori der Mortalität seine postsäkulare Religionsphilosophie und damit seinen Ansatz der Existentialpragmatik: H.-J. HÖHN, a.a.O., 114ff.
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ne kooperative Aufgabe […], die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen.“61 Eine grundlegende Bedingung für das Gelingen solcher kooperativen Grenzbestimmungen und die daran anschließenden gemeinsamen Übersetzungsarbeiten ist entsprechend also die Fähigkeit einer reziproken Perspektivenübernahme. Weil eine solche Perspektivenübernahme nie vollständig gelingen kann und immer Gefahr läuft die Diskursteilnehmer zu Projektionsflächen der eigenen Wirklichkeitsdeutung zu machen bzw. deren Geltungsansprüche unter den hermeneutischen Vorzeichen der eigenen Wertesysteme zu verhandeln,62 ist es wichtig sie durch Sprachfindungsprozesse zu begleiten. Mit anderen Worten lässt sich das Risiko einer stillschweigenden Projektion nur dadurch nachhaltig bearbeiten, dass man sich mit wohlwollendem Blick und einer gewissen epistemischen Bescheidenheit bzw. Gastfreundlichkeit in das Weltbild des Gegenübers hineinbegibt und dessen Sprachspiel erlernt.63 Wenn also die Übersetzungsarbeit als kooperative Aufgabe ernst genommen wird, stellt sich die Frage nach der Geltungskraft religiöser Argumente in postsäkularen Diskursen zunächst immer als Frage nach der Möglichkeit unterschiedliche Sprachspiele erlernen und damit zentrale Gehalte übersetzen zu können. Die damit antizipierte Sprachfähigkeit beschreibt das Erkennen der jeweiligen Korrelationen zwischen Tiefengrammatik, regulativen Elementen und konkreter Handlungspraxis und ein Verstehen der Regeln, die sich in diesen Bedeutungszuschreibungsprozessen und semantischen Operationen instanziieren. Ein solches In-Sprache-Finden wird begleitet von explikativen Diskursen, die auf einer ersten Orientierungsebene zunächst „kognitive Dissonanzen“64 identifizieren. Unabhängig davon, ob sich diese harmonisieren lassen oder am Ende ein begründeter Dissens steht, so sind es diese Dissonanzen, die in
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J. HABERMAS, Glauben und Wissen, 22. Vgl. zu dieser Kritik: YOUNG, IRIS MARION, Asymmetrical Reciprocity. On Moral Respect, Wonder, and Enlarged Thought, in: Dies., Intersecting voices. Dilemmas of gender, political philosophy, and policy, Pinceton 1997, 38-59. Vgl. zum Gedanken der epistemischen Demut und Gastfreundlichkeit als Grundhaltung im Kontext des interreligiösen Dialogs: CORNILLE, CATHERINE, The impossibility of interreligious dialogue, New York 2008, 9ff., 137ff., 177ff. Vgl. auch: K. VON STOSCH, Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, 111f., 156ff. Vgl. zum Terminus: J. HABERMAS, Religion in der Öffentlichkeit, 285.
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Form von konfligierenden Geltungsansprüchen die eigenen Überzeugungen nach ihren Geltungsgründen befragen bzw. im Modus einer verständigungsorientierten Kritik je wieder an die eigene Tiefengrammatik readressiert werden. Das Erlernen von Sprachkompetenzen ist schließlich kein rein theoretisches Bemühen, sondern führt besonders im Blick auf die Verschränkung von sachhaltigen und regulativen Elementen auf einer zweiten Orientierungsebene immer auch zur Hinwendung und Analyse der konkreten Lebens- oder Glaubenspraxis. Zwar verläuft jede Begegnung mit dem Anderen und seinen Weltanschauungen zunächst hermeneutisch inklusiv, insofern ansozialisierte Stereotype aus sozialpsychologischer Perspektive das menschliche Verstehen und die Erfahrungsverarbeitung präjudizieren.65 Dennoch ist die bewusste Auseinandersetzung, d.h. der Versuch die Regelanwendung des Anderen in seinem Weltbild nicht nur theoretisch nachzuvollziehen sondern auch praktisch zu er-leben, ein Schlüssel um diese Stereotype allererst erkennen und abbauen zu können. Die Forderung nach Sprachfähigkeit bzw. nach einem Hineinfinden in das Sprachspiel des Anderen ist letztlich entsprechend eine mit Mitteln der kommunikativen Vernunft ausweisbare, moralische Forderung. Sie soll einerseits dabei helfen Vorurteile und stillschweigende Projektionen in reziproken Perspektivenübernahmen aufzudecken und andererseits zu einer selbstkritischen Erkundung und Prüfung der eigenen tiefengrammatischen Überzeugungen motivieren. In diesem Horizont kann das Bemühen um Sprachfähigkeit schließlich eine rational verantwortete, emanzipierte Vergesellschaftung anleiten.66 Die von Höhn ermittelte Filterfunktion der kommunikativen Vernunft erweitert sich entsprechend um die Aufgabe sowohl auf Seiten religiöser als auch nichtreligiöser bzw. säkularer Bürger Sprachfähigkeit zu schulen. Insofern kommunikative Vernunft ihre Funktionalität letztlich nur gewährleisten kann, wenn sie in der Lage ist die unterschiedlichen Sprachspiele und Weltdeutungs-Inseln rational und verständigungsorientiert zu vermitteln, gehört Mehrsprachigkeit zu ihrem Tagesgeschäft. In der in-
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Vgl. u.a.: WERTH, LIOBA/ MAYER, JENNIFER (Hg.), Sozialpsychologie, Berlin/ Heidelberg 2008, 377ff. Entsprechend sehe ich mit Höhn den Vorteil einer Reflexion des Verhältnisses von Religion und Vernunft unter den Vorzeichen eines transzendental- bzw. universalpragmatisch erläuterten Vernunftbegriffs in der Ermöglichung der diskursiven „Selbstaufklärung“ des Individuums bzw. in der mit Apel gesprochen „Selbsteinholung“ des Denkens. Vgl. H.-J. HÖHN, Zeit und Sinn, 104f.
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tersubjektiv ausgerichteten, gemeinsamen Suche nach konkreten Lösungen, nach Erkenntnis, funktionierender sozialer Interaktion oder nach Sinn, realisiert sie dabei nachhaltig das integrativ-kritische Potential kommunikativer Rationalität. Mit der zunehmenden Fragmentierung und vor dem Hintergrund weltanschaulicher und religiöser Vielfalt, scheint mir ihre Urteilsfähigkeit schließlich desto mehr an Tiefenschärfe zu gewinnen, je sicherer sie sich in den unterschiedlichen Sprachspielen zu bewegen vermag. 67 Vor diesem Hintergrund und im Blick auf die in Frage stehende Geltung religiöser Argumente in (post)säkularen Diskursen, erklärt sich auch die von Habermas geforderte „epistemische Einstellung“, die religiöse Bürger „zu fremden Religionen und Weltanschauungen finden“ 68 müssen. Wenn nämlich die Vernunft, an die sich das Religiöse zurückbindet als eine kommunikative konzeptualisiert ist und damit die Diskursregeln appliziert werden, dann wäre die Verweigerung gegenüber alternierenden (religiösen) Geltungsansprüchen tatsächlich irrational – das Religiöse könnte somit nicht länger als das vernunftgemäß Andere der Vernunft bestehen. Diese Aufforderung ist wiederum in Erinnerung an die Einsichten einer Glaubensbegründung nach Wittgenstein für Gläubige nichts Ungewöhnliches. Im Blick auf den Umstand, dass die „Korrelation zwischen Grammatik und Praxis [...] sich nie bis ins Letzte aufhellen“69 lässt und somit viele Teile der eigenen Glaubensgrammatik unbewusst bzw. abgeblendet bleiben, obwohl sie die Bedeutung der religiösen Rede mitbestimmen, war der religiös Andere als Ausgangspunkt vorgestellt worden, an dessen selbstverständlichem, abweichendem Regelbefolgen die Aufdeckung der eigenen implizit und unbewusst instanziierten Regeln katalysiert wird: „Entsprechend ist der interreligiöse Dialog die einzige Möglichkeit, nicht nur um den Anderen in seiner Andersheit zu verstehen, sondern auch um die Bedeutung des Eigenen umfassender zu erkennen.“70
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Diese Annahme konvergiert letztlich mit der Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, deren Urteile je mehr Anspruch auf Allgemeingültigkeit ausweisen können, desto mehr unterschiedliche Perspektiven in ihrem Konsens problembewusst zusammenfinden. Vgl. J. HABERMAS, a.a.O., 285. Vgl. zum Zitat und zum Gedanken noch einmal: K. VON STOSCH, Der Wahrheitsanspruch religiöser Traditionen, 222f; DERS., Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, 187f DERS., Der Wahrheitsanspruch religiöser Traditionen, 223.
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3. I NTERRELIGIÖSER D IALOG , K OMPARATIVE T HEOLOGIE UND KRITERIOLOGISCHE ANSCHLUSSFRAGEN Wenn die eigenen Tiefenschichten der Bedeutung religiöser Überzeugungen also häufig nicht unabhängig von der durch Andersgläubige herausgeforderten Praxis identifiziert werden können, dann ist das theologische Nachdenken über den Glauben darauf angewiesen sich in der Begegnung mit dem religiös Anderen durch dessen alternativen Glaubensvollzug kritisch informieren zu lassen.71 Mit anderen Worten initiiert eine die eigenen Glaubenswahrheiten herausfordernde Begegnung mit unterschiedlichen Wirklichkeits- und Weltdeutungen das theologische Denken und ermöglicht dabei als kritische Prüfung der eigenen Glaubensskripte zugleich eine emanzipierende Erkenntniskritik „die die Tiefenpositionen des eigenen und des fremden Glaubens aufarbeitet und einer diskursiven Praxis und damit auch der Wahrheitsfrage zugänglich macht.“ 72 Im Blick auf die Besonderheit religiöser Überzeugungen lassen sich Bedeutung und Geltungsanspruch dabei wie gezeigt nie unabhängig von den konkreten Sprachspielzusammenhängen d.h. nur hinsichtlich der spezifischen Korrelation von Überzeugung, Tiefengrammatik und Handlungspraxis diskutieren. In diesem Zusammenhang erweist sich der auf Habermas epistemische Einstellungsforderungen reagierende Versuch, interreligiöse Dialogbemühungen unter den Vorzeichen einer Theologie der Religionen zu begleiten, als fragwürdig: Zum einen vermögen die, in deren klassischem Format entworfenen Modelle des religionstheologischen Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus es nicht, der Herausforderung gerecht zu werden, für den eigenen religiösen Wahrheitsanspruch einstehen und dabei gleichsam die Andersheit des Anderen ohne versteckte superioristische Vereinnahmungen würdigen zu können.73 Zum anderen stellt sich die Relationalisierung von Religionen auf einer allgemeinen Ebene im Horizont der Einsichten in die Besonderheiten religiöser Überzeugungen, d.h. im Blick auf die darin ange-
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Vgl. dazu und zum Folgenden: DERS., Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, 188f. EBD., 189. Vgl. zur kritischen und ausführlichen Diskussion der religionstheologischen Modelle: EBD., 17ff.
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zeigte mikrologische Vorgehensweise, als unplausibel dar. Entsprechend kann die geforderte Auseinandersetzung mit religiöser Andersheit niemals als Allgemeinvergleich erfolgen. Vielmehr muss sich auch „die religionstheologische Diskussion [...] auf komparative Betrachtungen zu konkreten religiösen Überzeugungen konzentrieren.“74 Um mit anderen Worten also die Sprachfähigkeit religiöser Überzeugungen in postsäkularen Diskursen zu gewährleisten, ist es aus theologischer Perspektive sowohl unerlässlich die Verwiesenheit des Glaubens auf Vernunft auszuweisen und dadurch seinen Charakter eines vernunftgemäß Anderen zu begründen, als auch für die sprachspielpraxeologischen Besonderheiten der Begründungsleistungen religiöser Überzeugungen zu sensibilisieren. Unter den Vorzeichen einer je für ihr Anderes kritisch offenen, d.h. kommunikativen Vernunft, scheint sich Komparative Theologie auf diese Anforderungen einlassen zu können und stellt damit eine aussichtsreiche Alternative zu den religionstheologischen Grundmodellen dar. Mit der in ihrem Kontext geforderten Hinwendung zum Einzelfall und im Modus verständigungsorientierter Kommunikation lassen sich die Wahrheitsansprüche religiöser Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, d.h. würdigend und doch kritisch miteinander ins Gespräch bringen.75 Komparative Theologie braucht dabei den Dialog in zweifacher Hinsicht, denn zum einen lässt sich nur im „Mitspielen der Sprachspiele des anderen“76 verstehen, welche Regeln in Geltung sind, insofern sich „Konvergenz und Divergenz zwischen seinem und meinen Regeln nur über die interne Regeldeutung des anderen erschließen.“ Dabei wird die Sprachspielbesucherin nicht zuletzt aufgefordert, ihre Heterointerpretation des Anderen im Horizont seiner Autointerpretation auf grammatischer Ebene zu überdenken. Zum anderen kann diese dialogisch verarbeitete Begegnung dabei aber ebenso zu einer neuen Autointerpretation der eigenen Regelanwendung bzw. der Glaubenssätze im eigenen Sprachspiel führen, lässt die eigene Regelanwendung zumindest aber bewusst werden. Die Begegnung mit der Anderen – und das gilt nicht nur für religiöse, sondern prinzipiell für alle anderen Wirklichkeitsdeutungen – fördert also im letzten auch aus komparativ-theologischer Perspektive das Reflexivwerden
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EBD., 187. Siehe dazu, d.h. zur Methode, Zielen und Herausforderungen Komparativer Theologie: EBD., 133ff. Vgl. dazu und den beiden folgenden Zitaten: EBD., 190.
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der unbewussten religiösen Geltungsansprüche und ermöglicht somit ein kritisch-emanzipatorisches Selbstverhältnis. Die in der sprachspielpraxeologischen Glaubensverantwortung angelegten friedensstiftenden Potentiale werden somit erst durch die interreligiöse Begegnung vollständig aktiviert und können ihre Wirkung im möglichen Aufdecken von Familienähnlichkeiten zwischen den Theologien nachhaltig entfalten. Gerade bei interreligiösen Streitfragen stellt sich gleichsam die Frage, entlang welcher Kriterien letztlich entschieden werden soll, welche Geltung die jeweils vorgebrachten Argumente für die Urteilsfindung im interreligiösen Dialog haben können.77 Diese Frage wird umso dringlicher, je stärker mit den interreligiösen Dialogbemühungen das Interesse verbunden ist auch auf handlungspraktischer Ebene konkrete Orientierung zu leisten. Die Suche nach Kriterien, die eine Urteilsfindung verantwortet anleiten und von unterschiedlichen religiösen Positionen gleichsam akzeptiert werden können, markiert m.E. eine notwendige Bedingung, um die häufig durch Vorurteile oder apologetisch-missionarische Grundhaltungen belasteten Dialogbemühung nicht vorschnell scheitern zu lassen. Dabei können solche Kriterienvorschläge, die aus einer spezifischen religiösen Tradition heraus entwickelt werden, durch ihre materialen Gehalte eine hohe Orientierungsund Bindekraft entfalten. Gleichsam sind sie in ihrer Partikularität als Beurteilungskriterien für andere religiöse Weltbilder kaum geeignet, insofern sie Andersheit noch prä-diskursiv zu vereinnahmen drohen und darüber hinaus eben nur für die jeweilige Tradition, aus der sich die Kriterien ableiten, verbindlich sind. Auch der auf dieses Problembewusstsein reagierende Versuch eine autonom-philosophische Kriteriologie zu entwickeln und damit Beurteilungskriterien zu formulieren, die letztlich sogar von nichtreligiösen Diskutanten akzeptiert werden könnten, gerät an Grenzen. Denn in Erinnerung an die Besonderheit religiöser Überzeugungen und das im Horizont rationaler Glaubensverantwortung diskutierte Risiko durch zu engmaschige Rationalitätsansprüche den Eigensinn religiöser Rede abzublenden, erweist sich eine rein philosophische Kriteriologie als ebenso wenig geeignet, um interreligiöse Urteilsfindungsprozesse anzuleiten. Ob es sich entlang dieser Problemskizze nun empfiehlt die geforderte Übersetzung zwischen säkularen und religiösen Semantiken auch als Aufgabe einer interreligiösen Krite-
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Siehe zu der Kriterien-Frage als „Gretchenfrage“ jeder Komparativen Theologie der Religionen: EBD., 293ff.
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riologie zu verstehen und ob das mikrologische Vorgehen ebenso bei der Kriteriensuche zu Einzelfallentscheidung führen sollte, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Im letzten steht aber m.E. auch eine Kriteriologie, die einerseits ermessen soll, welche religiösen Überzeugungen im Rahmen postsäkularer Diskurse Berücksichtigung finden dürfen und dabei andererseits im Sinne einer kooperativen Übersetzungsleistung die Eigenlogik religiöser Sinnsysteme erhalten will, vor eben dieser Herausforderung.78 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Kriterien-Frage – sowohl in interreligiösen als auch postsäkularen Kontexten – als Prüfstein für den Erfolg interreligiöser bzw. postsäkularer Such- und Verständigungsprozesse. Nur wenn es nämlich gelingt die unterschiedlichen Semantiken für einander sprachfähig zu machen und dabei gleichsam deren Logiken zu erhalten, lassen sich Sinn- und Motivationspotentiale nachhaltig aktivieren. Erst dann erweist sich die Hoffnung auf eine gelingende Fortsetzung des Projekts der Moderne als aussichtsreich.
78
Vgl. dazu ausführlich: BREUL, MARTIN, Religion in der politischen Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung, Paderborn 2015.
Religiös motiviert – autonom legitimiert – politisch engagiert Zur Zukunftsfähigkeit Politischer Theologie angesichts der Debatte um den öffentlichen Status religiöser Überzeugungen S ASKIA W ENDEL
In einer ihrer wöchentlichen Kolumnen auf „Spiegel Online“ plädierte die Schweizer Autorin Sibylle Berg unter dem Titel „Die Erde ist eine Scheibe, Schwule sind Sünder“ für eine strikte Privatisierung von Religion und Glaube: „Glauben. Vermutlich hält er viele am Leben, hilft ihnen, sich in diesem schwierigen Leben zurechtzufinden, und sollte von den Nichtgläubigen mit Freundlichkeit betrachtet werden. Allerdings sollte er ein interessantes Privatvergnügen sein, das ruhig und in den vier Wänden praktiziert werden sollte. Anders als homosexuelle, intersexuelle, queere Lebensformen, die vollkommen gleichberechtigt und öffentlich in unsere Welt gehören, mit all den damit verbundenen Rechten und Pflichten des Einzelnen. Daran glaube ich.“1 Berg anerkennt hier den Grundsatz, dass das vermeintlich Private politisch ist, vor allem die in den Bereich des Privaten abgedrängte, ja verdrängte Sexualität. Und zu Recht markiert sie das Problem, dass homophobe Einstellungen auch im Rückgriff auf religiöse Überzeugungen legitimiert werden. Doch daraus folgert sie die gleichsam umgekehrt proportionale Abdrängung des Religiösen aus der Öffentlichkeit ins
1
www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/glauben-und-toleranz-sibylle-berg-kolumne-a1022024.html, Zugriff am 7.3.2015.
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Private: Die Deprivatisierung der Sexualität muss, folgt man Berg, mit der Privatisierung von Religion einhergehen. Unweigerlich entsteht der Eindruck, dass statt Sexualität nunmehr Religion. zu einem schlüpfrigen Terrain geworden ist, zu etwas Schambesetztem, Peinlichem, das nicht vor aller Augen, sondern nur hinter verschlossenen Türen gelebt werden soll: Nicht mehr öffentlich gezeigte Lieben, ob heterosexuell, schwul/lesbisch oder sonst wie „queer“ gelten hier als unanständig, sondern öffentlich praktizierte Religiosität, egal welcher Ausrichtung. „Küssen verboten!“ wird durch „Beten verboten!“ ersetzt. Wer „offen religiös“ lebt, handelt in dieser Perspektive quasi wider den guten Geschmack, ja fast schon unmoralisch. Das aber ist eigentlich nichts anderes als die überkommene Haltung des so genannten bürgerlichen Anstands und bürgerlicher Moral, nur unter Austausch des Materialobjekts, verbunden mit dem Versuch, Unliebsames aus den Augen der Öffentlichkeit zu verbannen. Verkannt wird die politische Bedeutung des Religiösen im Übrigen auch gerade in Form bestimmter, religiös konnotierter Körperpraxen, die sich umso mehr potenziert, je mehr diese in den sogenannten Privatbereich abgedrängt werden. Liberalität in puncto Sexualität und Lebensform wird durch Antiliberalität in Sachen Religion erkauft und führt sich so selbst ad absurdum, wenn nun statt der Freiheit der (sexuellen) Lebensform diejenige der religiösen Lebensführung auf die eigenen vier Wände beschränkt wird.2 Umgekehrt allerdings wird diese Forderung nach einer strikten Exklusion des Religiösen aus dem Bereich des Öffentlichen durch strikt inklusivistische Positionen begünstigt, die konkrete ethische wie politische Forderungen recht pauschal durch Rekurs auf religiöse Überzeugungen zu begründen suchen, die ungefiltert in die öffentliche Debatte eingebracht wer-
2
Diese von Berg verfochtene radikale Exklusion von Religion aus der Öffentlichkeit wurde in der Debatte um den Status religiöser Überzeugungen in der Öffentlichkeit insbesondere von Richard Rorty vertreten (vgl. RORTY, RICHARD, Religion as Conversation-Stopper, in: Ders., Philosophy and Social Hope, London 1999, 168-174). Vgl. zur Darstellung des strikten Exklusivismus und zur Unterscheidung von moderateren Positionen ausführlich BREUL, MARTIN, Religion in der politischen Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung, Paderborn 2015.
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den sollen.3 Teilweise werden diese Rechtfertigungsversuche mit einer ausgesprochen kulturpessimistischen Grundmelodie untermalt. Gerechtfertigt werden die dezidiert religiösen Begründungsversuche nun aber u.a. auch durch den Hinweis, dass Religion immer auch politisch und gerade nicht nur von rein privater Bedeutung sei. Nicht nur die einzelnen Gläubigen hätten sich als Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft mit ihren Überzeugungen einzubringen und einzumischen – bis hin zum Widerstand gegen konkrete gesellschaftliche Missstände, sondern auch die religiösen Organisationen und Institutionen wie etwa die christlichen Kirchen und ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten. So könnte etwa auch der Einspruch kirchlich-konservativer Kreise gegenüber schwulen und lesbischen Lebensformen und – gemeinschaften geradezu als antibürgerliches Engagement interpretiert werden, welches sich auf ein politisches Verständnis des Christentums beruft und gegen dessen Reduzierung auf den Privatbereich streitet. Gerade wenn Sexualität keine bloße Privatsache ist, sondern zutiefst politisch, dann, so könnte man folgern, ist auch die christlich-konservative Kritik an der Homosexualität nicht nur eine Sache der privaten Moral und der Diskussion um die „rechte“ christliche Lebenspraxis, sondern eine Frage der politischen Ethik, da nicht nur von individueller, sondern von universaler und damit gesellschaftlich-politischer Bedeutung. Und dann, so könnte man schließen, muss man auch die entsprechenden religiösen Überzeugungen offensiv in den öffentlichen Diskurs einbringen. Die skizzierte Kontroverse zwischen Exklusivismus und Inklusivismus religiöser Überzeugungen fordert insbesondere die Theologie heraus, denn sie betrifft nicht nur das Verständnis religiöser Überzeugungen im Allgemeinen, sondern das Selbstverständnis des christlichen Glaubens im Besonderen und letztlich auch dasjenige der Theologie als Reflexion dieses Glaubens. Vor allem aber ist eine Theologie herausgefordert, die sich in den Traditionen Politischer Theologie bewegt, und zwar in doppelter Hin-
3
Diese Position wird u.a. von Nicholas Wolterstorff, Paul Weithman und Christopher Eberle vertreten (vgl. WOLTERSTORFF, NICHOLAS, The Role of Religion in Decision and Discussions of Political Issues, in: Audi, Robert/ Ders. (Hg.), Religion in the Public Square.The Place of Religious Convictions in Political Debate, Lanham 1997, 67 -120; WEITHMAN, PAUL, Religion and the Obligations of Citizenship, New York 2002; EBERLE, CHRISTOPHER, Religious Conviction in Liberal Politics, Cambridge 2002). Vgl. hierzu M. BREUL, Religion in der politischen Öffentlichkeit, 36-42, 46-55.
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sicht: Zum einen widerstreitet sie bekanntlich jeglichem Versuch einer Privatisierung von Religion, zum anderen aber versteht sie sich nicht als ein konservatives, sondern als ein emanzipatorisches und herrschafts- sowie gesellschaftskritisches Projekt.4 Dabei bringt sie religiöse Überzeugungen in politischen Diskursen direkt und unvermittelt ein. Hier verstrickt sie sich jedoch in Probleme, die mit solchen inklusivistischen Positionen verbunden sind, und vor allem erscheint es schwierig, eine Grenzlinie zu anderen Formen politischer Einmischung aus religiösen Gründen zu ziehen. Worin läge etwa genau der Unterschied zwischen religiös begründetem politischem Einspruch und Engagement gegen die aktuelle Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union und demjenigen gegen die rechtliche Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften hinsichtlich der Legitimität dieses öffentlichen Engagements? Kann den einen vorenthalten werden, was die anderen für sich beanspruchen, nur weil man unterschiedliche Inhalte und politische Ziele verfolgt? Gibt es „legitime“ und „illegitime“ Politische Theologie, und welche Instanz entscheidet darüber, was legitim ist und was nicht?5
BÜRGERLICHER R ELIGION – WIDER DIE P RIVATISIERUNG VON R ELIGION
1. J ENSEITS
Politische Theologien kritisieren privatisierte Religionen als „bürgerliche Religionen“, die etwa im Blick auf das Christentum das Messianische der
4
5
Vgl. hierzu etwa METZ, JOHANN BAPTIST, Zum Begriff der neuen Politischen Theologie 1967-1997, Mainz 1997, 9-22, 26-60; SÖLLE, DOROTHEE, Eine Erinnerung um der Zukunft willen, in: Edward Schillebeeckx (Hg.), Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1988, 13-19; DIES., Politische Theologie. Erw. Neuaufl. Stuttgart 1982, 61-75; MOLTMANN, JÜRGEN, Die Politik der Nachfolge Christi gegen christliche Milleniumspolitik, in: Schillebeckx, Edward (Hg.), Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft, 1931. Die in diesem Aufsatz zitierte Literatur zur Politischen Theologie und Befreiungstheologie ist häufig älteren Datums. Dies hat seine Ursache vor allem darin, dass diese Theologien „in die Jahre gekommen sind“. Auf katholischer Seite dürfte dies auch darin wurzeln, dass sich die lange Zeit zweier Pontifikate (1978-2013) mit einer Theologie- und Kirchenpolitik, die diesen Theologien alles andere als wohlgesonnen waren, gleichsam wie Mehltau über bestimmte theologische Diskussionen gelegt hat.
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Reich-Gottes-Botschaft Jesu negiert haben. So dienen sie dazu, den herrschenden status quo dadurch zu legitimieren und zu verlängern, dass sie sich als unpolitisch generieren: „In dieser bürgerlichen Religion ist die messianische Zukunft aufs äußerste bedroht. Und zwar nicht in erster Linie dadurch, dass sie zur Beschwichtigung und Vertröstung, zum Opium für die zukunftslosen Habenichtse entfremdet wird; sondern dadurch, dass sie zur Bestätigung und Bestärkung für die bereits Habenden und Besitzenden gerät, für die ohnehin Aussichts- und Zukunftsreichen dieser Welt.“6 Zugleich handelt es sich, so die These, bei bürgerlichen Religionen um gänzlich abstrakte, entleerte Religionen, die sich – wieder mit Blick auf das Christentum – von den konkreten materialen Gehalten des Evangeliums und der Nachfolgepraxis Jesu abgelöst haben und so letztlich beliebig werden: „Bürgerliche Religion meint […] eine spezifische Entschärfung des Gehalts jüdisch-christlicher Tradition in der Moderne.“7 Die Privatisierungsforderung strikter Exklusivisten entpuppt sich so als Variante eines falsch verstandenen, individualistisch verengten Liberalismus, als Variante eines bürgerlichen Religionsverständnisses noch in der Ablehnung von Religion. Wer Religion privatisieren möchte, sorgt so gesehen ob gewollt oder ungewollt dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. Das ist die vertrackte Dialektik dieser Position, die der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno so bestechend analysierten „Dialektik der Aufklärung“ gleicht: In der Absicht der Einhegung von gesellschaftlichen Gewaltpotenzialen und Konflikten, in der herrschaftskritischen Motivation der Kritik öffentlicher Religionsausübung, trägt sie nur noch mehr zur Absicherung des gesellschaftlichen status quo bei. Sie nimmt der Religion ihren prophetischen, messianischen Stachel, weil sie sie auf das behagliche Kämmerlein
6
7
METZ, JOHANN BAPTIST, Messianische oder bürgerliche Religion? Zur Krise der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Concilium 15 (1979), 308-315, hier: 308. EICHER, PETER, Bürgerliche Religion. Eine theologische Kritik, München 1983, 12. Vgl. auch Dieter Schellong: „Im Zuge dessen, daß das aufstrebende Bürgertum die überkommene christliche Religion zersetzte, kam ein neuer, ein abstrakter und formalisierter Begriff von Religion auf. Er diente dem Bürgertum dazu, Distanz herzustellen zur überkommenen christlichen Religion, indem ‚Religion‘ jenseits von ihr angesiedelt wurde, und gleichzeitig den Bruch zu verharmlosen, indem auch die entleerte und gestaltlos werdende Religion ‚Religion‘ hieß.“ (SCHELLONG, DIETER, Bürgertum und christliche Religion. Anpassungsprobleme der Theologie seit Schleiermacher, München 1975, 7f.).
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des Bürgers einengt, auf nur individuelle Trostspendung und Kontingenzbewältigung halbiert8 und dabei die Dimension universaler, auch gesellschaftlich-politischer Hoffnung und Kontingenzbewältigung außer Acht lässt. In der berechtigten Kritik bürgerlich-konservativer Gesellschaftspolitiken, die die Genese bürgerlicher Ehe- und Familienbilder mit deren universaler Geltung verwechseln und diese dann noch religiös zu überhöhen trachten, verstrickt man sich genau in jener bürgerlichen Sichtweise, wenn man nun Religion individualistisch verengt und privatisiert. Man nimmt der Religion ihr zutiefst rebellisches Moment, ihren Charakter der Unterbrechung des Immergleichen, ihren Auftrag, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“ (D. Bonhoeffer). Dann aber reduzierte man sie auf ein pures Opiat, man konstruiert eine bloße Vertröstungsideologie. Ob diese dann tatsächlich so harmlos ist, so depotenziert wie erhofft, darf bezweifelt werden, denn sie besitzt stabilisierende Funktion und ist gerade darin von politischer Bedeutung und damit auch alles andere als harmlos. Zudem begibt man sich gerade auch im Blick auf die gesellschaftspolitischen Kontroversen, auf die Befürworterinnen und Befürwortern strikter Exklusion von Religion aus der Öffentlichkeit oft rekurrieren, der Möglichkeit einer machtkritischen Analyse des Beitrags religiöser Legitimationsdiskurse etwa zur Etablierung und Verteidigung des bürgerlichen Ehe- und Familienideals, wenn man die politische Dimension des Religiösen schlichtweg kappt. Aus theologischer Perspektive wird man also darauf hinweisen müssen, dass Forderungen nach strikter Exklusion von Religion aus der Öffentlichkeit den Charakter zumindest des christlichen Glaubens als Praxis der Nachfolge Jesu verkennen: „Der Glaube der Christen ist eine Praxis in Geschichte und Gesellschaft, die sich versteht als solidarische Hoffnung auf den Gott Jesu als den Gott der Lebenden und der Toten, der alle ins
8
Genau dies, die Reduktion von Religion auf rein individuelle Kontingenzbewältigung, wurde von Politischen Theologinnen und Theologen als Grundcharakteristikum bürgerlicher, systemstabilisierender Religionskonzeptionen bzw. als „Zivilreligion“ analysiert und entsprechend kritisiert, so etwa die Bestimmung von Religion als Kontingenzbewältigung durch Hermann Lübbe (vgl. LÜBBE, HERMANN, Religion nach der Aufklärung, Graz/ Wien/ Köln 1986, bes. 127-218) oder Niklas Luhmann (vgl. etwa LUHMANN, NIKLAS, Soziologische Aufklärung III, Köln/ Opladen 1981, 293-308). Vgl. zu dieser Kritik ausführlich J. MOLTMANN, Politische Theologie, 7078.
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Subjektsein vor seinem Angesicht ruft.“9 Diese Praxis ist zutiefst politisch und so gar nicht zu privatisieren, im Gegenteil – wer den Glauben privatisierte, höbe ihn letztlich auf.10
VERSTRICKT – DAS ARGUMENTATIVE P ROBLEM P OLITISCHER T HEOLOGIEN
2. I N I NKLUSIVISMUS
Man könnte nun folgern, dass aus einer theologischen Perspektive, die um die öffentliche und politische Relevanz des Christentums weiß, eine inklusive Position folgt, zumal die angestammten Politischen Theologien genau besehen solch einer inklusiven Linie folgen. Denn sie begründen ihre politischen Voten mit dezidiert religiösen Gehalten. So betont etwa Jürgen Moltmann den Biblischen Bezug nicht nur auf die Reich-Gottes-Botschaft Jesu11, sondern auf das „Wort vom Kreuz“: „Das Kreuz ist unsere politische Kritik, das Kreuz ist unsere Hoffnung für die Politik der Freiheit. Die Erinnerung an den gekreuzigten nötigt uns zu einer politischen Theologie.“12 Ebenso offenbarungstheologisch argumentierte Dieter Schellong, der zudem in expliziter Rezeption Karl Barths jede Form einer natürlichen Theologie mit bürgerlicher Religion gleichgesetzt hatte. 13 Man könnte einwenden, dass dies auf den protestantischen Hintergrund beider Theologen zurückzuführen sei, und dass gerade bei Schellong Politische Theologie mit einer Kritik an der liberalen Theologie in der Tradition Schleiermachers
9
10
11
12 13
METZ, JOHANN BAPTIST, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 41984, 70. Deshalb spricht Franz-Xaver Kaufmann in seiner Soziologie des Christentums dem Glauben auch zu Recht eine weltdistanzierend-widerständige Dimension zu (vgl. KAUFMANN, FRANZ XAVER, Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989, 85; DERS., Wo liegt die Zukunft der Religion?, in: Krüggeler, Michael u.a. (Hg.), Institution, Organisation, Bewegung. Sozialformen der Religion im Wandel, Opladen 1999, 71-97, hier: 81.) So auch Sölle in ihrem Bezug auf das Evangelium und auf die Praxis Jesu in DIES., Politische Theologie, 69-75. J. MOLTMANN, Politische Theologie, 69. SCHELLONG, DIETER, Theologische Kritik der „bürgerlichen Weltanschauung“, in: Concilium 15 (1979), 315-319.
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einhergehe. Doch auch in den katholischen Varianten Politischer Theologie findet sich der direkte Rekurs auf religiöse Überzeugungen, etwa wenn sich Johann Baptist Metz auf die „memoria passionis, mortis et resurrectionis Jesu Christi“ als Ankerpunkt für das politisch bedeutsame Leidensgedächtnis und die Hoffnungsbotschaft der Christinnen und Christen bezieht. 14 Und auch die Theologie der Befreiung als politisch sich verstehende Theologie begründet ihre Positionen vorzugsweise Biblisch etwa auf die alttestamentliche Exodustradition, die Propheten oder auf das Solidaritätshandeln Jesu und damit direkt in Bezug auf Biblisch hergeleitete materiale Gehalte. Diese werden unter dem Anspruch des Primats der Praxis und des ihr inhärenten „Wahrheitskriteriums“ hermeneutisch mit jener Praxis und der Situation, in der sich vollzieht, vermittelt.15 Politische Theologien folgen damit deutlich einer inklusiven Position, sie bringen ihre Überzeugungen direkt und ungefiltert in politische Diskurse bzw. in die Öffentlichkeit ein. Damit handeln sie sich jedoch genau die Probleme ein, die diese Positionen mit sich bringen16: (1) Das geltungstheoretische Problem: Religiöse Begründungen besitzen nur für diejenigen Geltung, die bereits umfassende religiöse Grundannahmen teilen. Selbst wenn sie so formuliert werden, dass sie prinzipiell auch von Nichtgläubigen verstanden und intellektuell nachvollzogen werden können, werden sie nur von denen wirklich akzeptiert werden können, die ihnen auch voluntativ zustimmen. Das aber setzt bereits eine Haltung des Glaubens voraus. Explizit religiöse Begründungen ethischer und politischer Ansichten „funktionieren“ dann in begründungslogischer Absicht nur auf dem „forum internum“ bestimmter Religions- und Glaubensgemeinschaften, unbeschadet der universalen Geltungsansprüche, die mit religiösen Überzeugungen zweifelsohne verbunden sind. Ethische und politische Positionen zielen nun aber auf reziproke Rechtfertigungen, auf größtmögliche Akzeptanz, ja auf Universalität ab. Dann aber bedürfen sie eines Rechtfertigungsverfahrens, das sich prinzipiell an alle zu richten vermag und daher auf explizit religiöse Gründe in begründungslogischer Absicht verzich-
14 15
16
Vgl. z.B. J. B. METZ, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 95-103, 114-119. Vgl. hierzu detailliert das epistemologische Grundlagenwerk der Befreiungstheologie von BOFF, CLODOVIS, Theologie und Praxis. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie der Befreiung, München/ Mainz 1983. Vgl. hierzu ausführlich M. BREUL, Religion in der politischen Öffentlichkeit, 192202.
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ten muss.17 Somit scheidet auch der Rekurs auf Gehalte aus, die offenbarungstheologisch legitimiert werden. (2) Das interpretatorische Problem: Aus dem geltungstheoretischen Problem folgt weiterhin ein schwerwiegendes interpretatorisches Problem. Politische Theologien setzen darauf, dass sich Geltungsansprüche in der Praxis bewähren und bewahrheiten; die Praxis selbst ist Wahrheitskriterium. Wohl aber ist diese nicht ausschließlich ihr eigener Referenzpunkt, sondern letztlich die Hoffnung darauf, dass die Leidensgeschichte der Opfer nicht das letzte Wort haben wird. In Bezug auf konkrete Aspekte der Jesuanischen Botschaft wird zu einer Praxis der Nachfolge Jesu aufgefordert, die auch und gerade im konkreten politischen und sozialen Engagement sich vollzieht. In der Überzeugung der emanzipatorischen und herrschaftskritischen Ausrichtung dieser Jesuanischen Botschaft und der ihr entsprechenden christlichen Glaubenspraxis kristallisierten sich konkrete politische Gehalte und „Einsatzfelder“ heraus, konkrete Parteilichkeit (nicht Parteipolitik!) Politischer Theologien, häufig angebunden an bestimmte soziale Bewegungen: Frieden, Ökologie, Asylpolitik und Menschenrechte, EineWelt-Politik, soziale Gerechtigkeit, Kapitalismuskritik, Geschlechtergerechtigkeit. Und vor allem widmete man sich der Etablierung einer „Theologie nach Auschwitz“, entsprechend dem Neuen Kategorischen Imperativ
17
Man könnte einwenden, dass Politische Theologien auf Begründungsdiskurse im engeren Sinn verzichten und stattdessen im engen Konnex von „gefährlicher“ Erinnerung der Opfer und Besiegten der Geschichte und der befreienden Erzählung erlöster Freiheit und umfassender Hoffnung für die Lebenden und die Toten weniger auf argumentative Verfahren, sondern auf narrativ-theologische Konzeptionen setzen (vgl. etwa J. B. METZ, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 118f.) Dann aber, so könnte man schließen, hätten sie kein begründungslogisches Problem mit ihrer direkten Referenz auf religiöse Überzeugungen, und so stellte sich auch das Problem inklusiver Positionen nicht. Dieser Einwand entlastet jedoch nicht, sondern fällt im Gegenteil im Blick auf die begründungslogische Leerstelle im Reflexionsgang Politischer Theologie in geltungstheoretischer Hinsicht auf die Politische Theologie zurück. Vgl. hierzu meine kritischen Anmerkungen zu dem begründungstheoretischen Ausfall in Konzeptionen Politischer Theologie in WENDEL, SASKIA, „[…] denn wir haben auf Dich gehofft.“ Gedanken zu einer möglichen Verbindung von erstphilosophischer Glaubensverantwortung und Politischer Theologie, in: Böhnke, Michael u.a. (Hg.), Freiheit Gottes und der Menschen. Festschrift für Thomas Pröpper, Regensburg 2006, 213-221.
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Theodor W. Adornos, dafür Sorge zu tragen, dass Auschwitz nicht sich wiederhole. Politische Theologinnen und Theologen waren und sind von klaren Überzeugungen bezüglich der „richtigen“, der treffenden, „wahren“ Interpretation des politischen Engagements von Christinnen und Christen getragen. Oder anders formuliert: Ihr politischer Einsatz lebt von deutlichen universalen Geltungsansprüchen, auch dann, wenn diese nicht expliziert oder nicht begründungslogisch durch argumentative Verfahren ausgewiesen werden. Neben dem bereits genannten geltungstheoretischen stellt sich aber genau hier auch ein interpretatorisches Problem: Wer garantiert denn, dass die vorgelegte Interpretation christlicher Gehalte, die Deutung der Jesuanischen Botschaft, der Bezug auf das Evangelium und die entsprechende politische Ausrichtung wirklich zutreffend sind? Handelt es sich zweifelsohne um Deutungen überlieferter Erzählungen, so stellt sich ja gerade dann die Frage nach den Kriterien für diese Deutungen: Gibt es „gute“ und „schlechte“ Interpretationen? Was unterscheidet berechtigte Interpretationen von puren Ideologien? Genügt hier die ungefilterte Referenz auf narrative Traditionen und ihre Auslegungen zur „Apologie“ der eigenen Überzeugungen? Und vor allem: Wer entscheidet darüber, was eine „gute“ Deutung ist und was nicht? Oder provokativ gefragt: Worin genau liegt der Unterschied zwischen denjenigen Politischen Theologien begründet, die im Rekurs auf die befreiende Botschaft Jesu ein emanzipatorisches Projekt verfolgen, und denjenigen Christinnen und Christen, die sich ebenfalls auf christliche Überlieferungen und auf das Biblische Zeugnis beziehen, daraus aber konservative Werte ableiten und verteidigen und dann entsprechend politisch agieren? Ist der emanzipatorisch in Anspruch genommene direkte Rekurs auf Bibel und Offenbarung prima facie besser als der konservative, ist das progressive Projekt einer „Sache Jesu, die Begeisterte braucht“ a priori legitimer als der reaktionäre Schlachtruf „Gott will es!“? Genau besehen konfligieren hier unterschiedliche Auslegungen der politischen bzw. öffentlichen Relevanz des Christentums, und unterschiedliche Varianten der ungefilterten Inklusion religiöser Überzeugungen in den öffentlichen Diskurs. 18
18
Dies ist nicht deckungsgleich mit der wichtigen Differenz zwischen „alter“ und „neuer“ Politischer Theologie. Die „alte“ Politische Theologie Carl Schmitts war ja erstens kein genuin theologisches Projekt, sondern versuchte sich in der Deutung ehemals theologischer als säkulare politische Begriffe, und sie war zweitens klar antide-
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Darin aber könnten sie beide, um es mit Richard Rorty zu sagen, auf je ihre eigene Art und Weise zu „conversation stoppern“ werden, und zwar sowohl gegenüber eher religiös unmusikalischen Bürgerinnen und Bürgern, aber auch und vor allem sich selbst gegenüber. Diejenigen, die aufgrund des antiliberalen Agierens konservativ-religiöser „pressure groups“ Religion privatisieren möchten, werden dies auch dann tun, wenn gleichsam progressive „pressure groups“ ihr Anliegen in gleicher Art und Weise, nämlich radikal inklusiv und teilweise mit ebenso antiliberalem Unterton, durchzusetzen versuchen. Man merkt die Absicht und ist bleibend verstimmt, ob es sich nun um emanzipatorische oder konservative Anliegen handelt. Es hilft nichts, der einen Seite Ideologieanfälligkeit vorzuwerfen, wenn man die Hermeneutik des Verdachts nicht immer auch auf sich selbst und eigenen Positionen, ggf. auch die je eigene Ideologieanfälligkeit, anwendet. Dazu aber bedarf es der Bereitschaft zur kritischen Prüfung der eigenen Positionen und Interpretationen, die Anerkenntnis der Fallibilität eigener Deutungen und (auch religiöser) Überzeugungen – und damit auch eines legitimatorischen Verfahrens jenseits bloß narrativer Auslegung, das eben nicht mehr auf die strikte Inklusion religiöser Überzeugungen setzen kann.
mokratisch ausgerichtet in ihrem Bestreben, faschistische und nationalsozialistische Herrschaftsformen durch Analogie zur hierarchischen Struktur des römischen Katholizismus zu rechtfertigen. Es geht hier vielmehr darum, deutlich zu machen, dass es durchaus auch den Anspruch einer gleichsam „konservativen“ Politischen Theologie geben könnte, die nicht zugleich schon antidemokratisch, völkisch o.ä. ausgerichtet sein muss. Dabei wird es nicht genügen, das Label „Politische Theologie“ quasi vor „konservativem Gebrauch“ zu schützen und allein für eine emanzipatorische Politik zu reklamieren. Eine „progressive“ Politische Theologie wird sich selbstkritisch fragen müssen, ob sie in ihrer eigenen Geschichte und Programmatik nicht selbst auch antiliberale Anteile hat, die sich zum „backslash“ für eigene emanzipatorische Anliegen gerade auf dem Feld der Gesellschaftspolitik erweisen könnten – bis hin dazu, wie weit sie selbst noch unbearbeitete blinde Flecken auf dem Terrain der Körperpolitiken und der „Bio-Macht“ (M. Foucault) aufweist, denen sich eine erneuerte Politische Theologie, die die Diskussion um Machtdiskurse auch und gerade auf dem Feld der Körperpraxen in sich aufgenommen hat, widmen müsste.
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3. R ELIGIÖSE M OTIVATION STATT B EGRÜNDUNG ZUR Z UKUNFTSFÄHIGKEIT P OLITISCHER T HEOLOGIE Will sich Politische Theologie nun auch und gerade angesichts der aktuellen Kontroverse um die öffentliche bzw. politische Relevanz religiöser Überzeugungen als zukunftsfähig erweisen, sollte sie ihr eigenes Konzept in dreifacher Hinsicht modifizieren: Erstens: Sie sollte ihren Rekurs auf religiöse Überzeugungen dahingehend modifizieren, dass sie diese nicht mehr ungefiltert als Legitimationsbasis einbringt, sondern als Motivationshorizont ihrer (politischen) Positionen und Aktionen. Damit folgt sie dem Übersetzungsauftrag, den liberale Exklusivisten wie Rainer Forst oder Jürgen Habermas an religiöse Akteurinnen und Akteure herantragen19, wird aber zugleich entgegen der Aufforderung etwa Robert Audis, auch religiöse Motivationen zu übersetzen20, verdeutlichen können, dass religiöse Motivationen zwar nicht als rechtfertigende, jedoch als handlungsanleitende Gründe auch öffentlich artikuliert werden können und sollen und somit auch keiner Übersetzung bedürfen. 21 Zweitens: Sie sollte den epistemischen Status religiöser Überzeugungen überprüfen und damit auch den Geltungsanspruch ihrer eigenen Wahrheitsbehauptungen. Drittens: Sie sollte sich noch detaillierter als bisher einer umfassenden theologischen Begründung ihres eigenen emanzipatorischen Anliegens widmen und durch eine kritische Hermeneutik christlicher Gehalte verdeutlichen, weshalb die konservative Inanspruchnahme und Auslegung dieser Gehalte alles anderes als zwingend ist. Im Zuge dessen müsste sie ihre Kritik an der bürgerlichen Religion nochmals gesellschaftspolitisch weiten und
19
20
21
Vgl. etwa FORST, RAINER, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a.M. 2003, 612ff., 703f.; HABERMAS, JÜRGEN, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005; DERS., Glauben und Wissen, Frankfurt a.M. 2001. Vgl. z.B. AUDI, ROBERT, Religious Commitment and Secular Reason, Cambridge 2000; DERS., Democratic Authority and the Separation of Church and State, Oxford 2011. Vgl. hierzu auch SCHMIDT, THOMAS, Glaubensüberzeugungen und säkulare Gründe, in: ZEE 45, 248-261.
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dabei auch Kritiken an Machtdiskursen im Feld von Beziehungsethiken, Lebensformen, Sexualitäts- und Körperpolitiken mit einbeziehen. 3.1 Religiöse Überzeugungen als Motivationshorizont Politischer Theologie Ein Grundproblem Politischer Theologie stellt wie bereits erläutert ihre inklusive Position dar, ihr Festhalten am direkten Einbringen religiöser Überzeugungen als Basis ihres Konzepts selbst dann, wenn sie sich selbst Begründungsdiskursen zu entziehen sucht. Genau besehen handelt es sich um ein doppeltes Problem: Auf der einen Seite wird epistemisch in geltungstheoretischer Hinsicht zu viel beansprucht, wenn religiöse Überzeugungen eine legitimatorische Last tragen sollen, die sie aus den genannten Gründen gar nicht tragen können. Auf der anderen Seite wird epistemisch zu wenig beansprucht, wenn man hinsichtlich der Begründung der eigenen Positionen einem argumentativen Verfahren eher reserviert gegenüber steht und stattdessen auf die Kraft des Narrativen religiöser Traditionen setzt. Es könnte sich auch für die Politische Theologie als ein guter Weg erweisen, analog zur „autonomen Moral im christlichen Kontext“ auf eine autonome Rechtfertigung ethischer und politischer Positionen und Forderungen zu setzen, also auf „säkulare“, philosophische Begründungen ohne Rekurs auf religiöse Überzeugungen und Gehalte. Diese Begründungen können prinzipiell auch von denjenigen nicht nur verstanden, sondern auch akzeptiert werden, die nicht religiös sind, und sind somit dazu fähig, den ihnen eigenen universalen Geltungsanspruch zu rechtfertigen und argumentativ einzulösen. Religiöse Überzeugungen können dann als Motivationshorizont für das je eigene Anliegen benannt und offen gelegt werden, um so auch den eigenen Standpunkt und das eigene Interesse deutlich und nachvollziehbar zu machen.22 Im Unterschied zu den autonom, also ohne Rekurs
22
Vgl. hierzu etwa AUER, ALFONS, Autonome Moral und christlicher Glaube, Düsseldorf 1971; BÖCKLE, FRANZ, Fundamentalmoral, München 41985; GOERTZ, STEPHAN, Moraltheologie unter Modernisierungsdruck. Interdisziplinarität und Modernisierung als Provokation für die Theologische Ethik, Münster 1999; HÖHN, HANS-JOACHIM, Das Leben in Form bringen. Konturen einer neuen Tugendethik, Freiburg 2014; WENDEL, SASKIA, „Das freie Subjekt als Prinzip Theologischer Ethik“, in: Goertz, Stephan/ Hein, Rudolf B./ Klöcker, Katharina (Hg.), Fluchtpunkt Fundamentalismus. Gegenwartsdiagnosen katholischer Moral, Freiburg 2013, 159-173. Vgl. am Beispiel
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auf religiöse Traditionen vorgebrachten Gründen, die die jeweilige Position rechtfertigen sollen, kommt diesen motivationalen Aspekten religiöser Überzeugungen jedoch keine rechtfertigende Funktion zu.23 Religion wäre damit nicht aus dem Bereich des Öffentlichen verbannt und privatisiert, sie fungiert aber auch nicht als begründungstheoretischer „conversation stopper“. Zum „Peinlichen Vorfall“ (B. Brecht) wird sie unter solchen Voraussetzungen dann wohl allenfalls nur noch für diejenigen, denen jegliche explizit religiöse Position und entsprechend öffentlich geäußerte Motivation schon ein Dorn im Auge ist. Dann ist allerdings die schon eingangs gestellte Frage gestattet, wie sich diese strikte Abdrängung des Religiösen aus der Öffentlichkeit überhaupt mit der Liberalität und Pluralität des demokratischen Gemeinwesens verträgt, und ob das Recht auf Religionsfreiheit nur für die negative Religionsfreiheit und nicht auch für die positive zu gelten hat. Und ob die angestammte „Religion des Bürgers“ hier nicht schlichtweg durch die „Nichtreligion des Bürgers“ ausgetauscht wird. 3.2 Die Differenzierung von Glauben und Wissen als Leitlinie Politischer Theologie Neben dieser Unterscheidung zwischen der begründungslogischen und der motivationalen Inanspruchnahme religiöser Überzeugungen ist eine weitere Differenzierung hinsichtlich des epistemischen Status religiöser Überzeugungen zentral: diejenige zwischen Glauben und Wissen. Rekurriert etwa Politische Theologie auf konkrete Gehalte der christlichen Tradition wie etwa die Reich-Gottes-Botschaft Jesu, das Solidaritätshandeln als Praxis der Nachfolge Jesu oder die Erinnerung von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu als Horizont einer umfassenden Hoffnung für die Lebenden und die Toten, so gilt es dabei herauszustellen, dass es sich hier um Glaubens-,
23
des Begriffs „Menschenwürde“ auch WENDEL, SASKIA, Rationale Begründung und christliches Verständnis, in: Deutsche Kommission JUSTITIA ET PAX. Menschenwürde. Impulse zum Geltungsanspruch. Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden (127) 2013, 63-70. Diese Unterscheidung zwischen rechtfertigenden und motivationalen Gründen hat vor allem Martin Breul als wichtigen Beitrag zur Debatte um den Status religiöser Überzeugungen markiert. Vgl. detailliert M. BREUL, Religion in der politischen Öffentlichkeit, 216-227.
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MOTIVIERT
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AUTONOM LEGITIMIERT
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nicht aber um Wissensüberzeugungen handelt.24 Sie stellen somit keine Gewissheiten zur Verfügung, sondern handlungsleitende Sinndeutungen menschlicher Existenz. So wie Religionen insgesamt Sinndeutungssysteme in praktischer Hinsicht sind, so auch im Besonderen der christliche Glaube. Solcherart aber sind sie unbeschadet dessen, dass es sich um feste Überzeugungen handelt, die mit universalen Geltungsansprüchen versehen sind, grundsätzlich fallibel. Sie stellen „letzte Fragen“ (Th. Nagel) bzw. fragen nach „letztgültigem Sinn in geschichtlicher Kontingenz“, können diese Fragen jedoch in materialer Hinsicht weder „letztgültig“ noch zweifelsfrei beantworten. Theologische Reflexion ist hier zur Selbstbescheidung aufgefordert, und das ist gerade in Bezug auf ihren politischen Anspruch von großer Bedeutung. Denn es schützt vor fundamentalistischen Versuchungen und Attitüden und davor, Religion und Liberalität gegeneinander auszuspielen. Wer um die prinzipielle Begrenztheit auch seiner noch so festen religiösen Überzeugungen weiß – wer also „weiß“, dass er/sie „glaubt“ und nicht „weiß“ – ist in der Lage, religiös zu sein und zugleich die Pluralität demokratischer Gesellschaften anzuerkennen sowie auf Veränderung ungerechter Verhältnisse zu dringen, ohne dabei das demokratische Gemeinwesen bereits unter den Generalverdacht eines „Systems“ zu stellen. 25 Dadurch gelänge es auch, sich erfolgreich von denjenigen religiös motivierten Kräften abzugrenzen, die in der gegenwärtigen Gesellschaft ein von „Meinungsdiktatur“, diversen „Ideologien“ und „political correctness“ durchsetztes System sehen, nur weil die breite gesellschaftliche Mehrheit mittlerweile anderen Überzeugungen folgt als denen eines religiös aufgeladenen Traditiona-
24
25
Vgl. hierzu etwa ausführlich WENDEL, SASKIA, Glauben statt Wissen. Zur Aktualität von Kants Modell des ‚praktischen Vernunftglaubens‘, in: Wasmaier-Sailer, Margit/ Göcke, Benedikt-Paul (Hg.), Idealismus und natürliche Theologie, Freiburg/ München 2011, 81-103. Vgl. auch M. BREUL, Religion in der politischen Öffentlichkeit, 179-192. Vgl. hierzu auch WENDEL, SASKIA, Der universale Geltungsanspruch der Religionen und das Problem der Gewalt, in: Heimbach-Steins, Marianne/ Bielefeldt, Heiner (Hg.), Religionen und Religionsfreiheit. Menschenrechtliche Perspektiven im Spannungsfeld von Mission und Konversion, Würzburg 2010, 167-178; DIES., Extremistenbeschluss für Gläubige? Kleine Polemik gegen fundamentalistische Nichtgläubige, in: HK 62 (2008), 359-364.
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lismus.26 Oder sich auch von denjenigen Formen politischer Religion zu distanzieren, die im Namen religiöser Überzeugungen und Autoritäten Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige ausüben oder zumindest nicht ausschließen und dabei nicht nur liberale Gesellschaften im Allgemeinen missachten, sondern die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland im Besonderen. Auch dies könnte dazu beitragen, „öffentliche Religion“ von ihrem Image der Geschmacklosigkeit, vor allem aber auch vom Generalverdacht der Gewaltförmigkeit zu befreien.
3.3 Die Kritik christlicher Tradition als Aufgabe rational sich verantwortender Politischer Theologie Zu guter Letzt bleibt es eine wichtige Aufgabe Politischer Theologie, ihre eigene emanzipatorische und herrschaftskritische Interpretation der christlichen Überlieferung gerade im Blick auf das Biblische Zeugnis gegenüber denen zu rechtfertigen, die eine gänzlich andere Deutungspraxis etabliert haben und weiter tradieren möchten. Dies wird nicht allein durch narrative Verfahren und entsprechende Hermeneutiken gelingen, sondern es bedarf dazu einer Form philosophisch-rationaler Theologie, die auf Begründungsdiskurse und argumentative Verfahren setzt, durch die die Legitimität einer bestimmten Deutungspraxis aufgewiesen werden kann. Das heißt: Auch Politische Theologien sollten das Geschäft religiöser Epistemologie und der „analysis fidei“ pflegen und nach dem epistemischen Status religiöser Überzeugungen, nach den Möglichkeitsbedingungen von Glaubenshaltung und Glaubensgehalt, nach Rechtfertigungsmöglichkeiten religiöser Gründe,
26
Diese Kräfte gehen teilweise implizit, manchmal sogar auch explizit Bündnisse mit der politischen Rechten ein, und es dürfte zu den zentralen zukünftigen Aufgaben einer emanzipatorisch sich verstehenden Politischen Theologie gehören, diese Allianzen offen zu legen, zu kritisieren und ihnen entgegenzuwirken. Vgl. hierzu etwa STRUBE, SONJA ANGELIKA (Hg.), Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Freiburg i. Br. 2015; DIES., Rechtsextremen Tendenzen begegnen. Arbeitshilfen für Gemeindearbeit und kirchliche Erwachsenenbildung, Freiburg i. Br. 2013. Vgl. zur Allianz von Teilen des kirchlich-konservativen Milieus mit der Neuen Rechten auch PÜTTMANN, ANDREAS, Die antiliberale Versuchung. Wo es um Familie geht, scheuen manche Christen nicht die Nähe zu autoritären Mächten, in: HK 69 (2015), 49-53.
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nach kognitivem Gehalt, realistischem Anspruch und ontologischen Verpflichtungen religiöser Überzeugungen fragen. Und sie sollten sich dabei offensiv in die Tradition einer „natürlichen Theologie“ stellen, die bestimmte Glaubensinhalte nicht gegen ihre rationale Rechtfertigung wie Kritik immunisiert. Denn auch wenn religiöse Überzeugungen im öffentlichen Diskurs in puncto Ethik und Politik keine rechtfertigende, sondern motivationsanzeigende Funktion haben, so sind sie ja innerhalb eines konkreten religiösen Deutungssystems keineswegs irrational oder bloß emotiv verfasst, auch und gerade weil sie mit universalen Geltungsansprüchen verknüpft sind, die einen Realismus wie ein kognitives Verständnis ihres Gehalts implizieren.27 Zu dieser kritischen Rechtfertigungsaufgabe der eigenen Überzeugungen gehört auch die Anbindung an machtkritische Diskurse und deren Analysen etwa der religiösen Legitimation der „Bio-Macht“ und entsprechend normierter Körperpraxen, Lebensformen etc. Die eingangs erwähnte Deprivatisierung der Sexualität beispielsweise ginge dann mit einer Deprivatisierung des Religiösen insofern Hand in Hand, als bestimmte Normierungen sexueller Praxen und Lebensformen auch mit bestimmten religiösen Überzeugungen einhergehen und umgekehrt. Die Aufsprengung dieser Normierungen wird dementsprechend nur dann gelingen, wenn man die religiöse Dimension von Körperpolitiken einbezieht, und zwar auch dann, wenn es um die Etablierung neuer Körperpolitiken und -diskurse geht.28 Solcherart religiös motiviert, autonom legitimiert und politisch engagiert könnten auch christliche Glaubenspraxen ihre politische Relevanz bezeugen und ihr Recht wie ihre Pflicht auf öffentliche Präsenz deutlich machen. Glaube „hilft“ nicht nur, „sich in diesem schwierigen Leben zurecht zu finden“, sondern ist parteilich mit jenen, die darin umzukommen drohen oder in ihm umgekommen sind. Er bürstet die Geschichte der Sieger gegen den Strich im Namen der Toten und Zerschlagenen und hält die kleine Pfor-
27 28
Vgl. hierzu auch M. BREUL, Religion in der politischen Öffentlichkeit, 179-186. Vgl. hierzu bereits etwa die Konzeptionen von ALTHAUS-REID, MARCELLA, The Queer God, London/ New York 2003; DIES./ ISHERWOOD, LISA (Hg.), Controversies in Body Theology. London 2008. Besonderes Interesse gilt auch der Eucharistie als körperpolitischem Ort. Vgl. BIELER, ANDREA/ SCHOTTROFF, LUISE (Hg.), The Eucharist. Bodies, Bread & Resurrection, Minneapolis 2007, 127-155. CAVANAUGH, WILLIAM T., Torture and Eucharist: Theology, Politics, and the Body of Christ, Malden/ Oxford 2000.
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te offen, durch die jede Sekunde der Messias treten kann (W. Benjamin). Ihm wäre denn auch nicht etwa nur mit der paternalistischen Haltung von „Freundlichkeit“ zu begegnen, analog etwa zur „Bekömmlichkeit“ diverser Nahrungs- und Genussmittel, die auch dazu beitragen können, hilfreich durchs Leben zu kommen. Die angemessene Haltung Religiösen wie Nichtreligiösen gegenüber ist vielmehr Respekt in der wechselseitigen Anerkennung als Freie und einander Gleiche und das, was der Philosoph Rainer Forst Wertschätzungs-Toleranz nennt: die Anerkennung auch anderer Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll, auch dann wenn ich sie selbst nicht teile.29 Wer sie zu leben versucht, wird sich in demokratischen, offenen Gesellschaften nicht hinter den eigenen vier Wänden verstecken müssen, wird aber auch umgekehrt niemanden dazu zwingen, sich dahinter zu verbergen, ob aus Gründen sexueller, religiöser oder welcher Lebensform auch immer.
29
Vgl. R. FORST, Toleranz im Konflikt, 47f.
Die Öffentlichkeit Gottes V OLKER G ERHARDT
1. E IN ANLASS
IN
K ÖLN
„Wie war zu Köln es doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem!“ Vermutlich hält sich der Kölner die Ohren zu, wenn ein angereister Gast einmal mehr den ersten Satz jenes Gedichts zitiert, nach der die Stadt wie ein Schlaraffenland erscheint. Ich würde verstehen, wenn niemand daran erinnert werden möchte, was die Stadt mit den Heinzelmännchen verloren hat. Vielleicht gibt es auch Kölner, die sich über schläfrige Mitbürger ärgern, die offenkundig immer noch mit der Wiederkehr der guten Geister rechnen. Schließlich muss man auch an jene denken, die empört sind, dass man den Kölnern jemals unterstellen konnte, sie hätten sich derart helfen lassen, ohne zu fragen, woher die Hilfe kommt.1 Das Unheimliche an der Bequemlichkeit, die der preußische Autor des satirischen Gedichts den Kölnern unterstellt, besteht in der metaphysischen Sorglosigkeit, sich der Verkehrung der Ordnung einfach zu überlassen. Sie vertrauen darauf, dass es bei ihnen einfach bequemer als anderswo zugeht, obgleich sie davon gehört haben müssen, dass man sogar in Düsseldorf oder in Bonn die Brötchen selber backen und die Schweine eigenhändig schlachten muss. Doch die Kölner im spöttischen Gedicht lassen es dabei bewenden, dass alle Welt arbeiten muss, während sich bei ihnen alles im Schlaf erledigt. Von der neugierigen Frau des Schneiders abgesehen, die
1
Ich verweise auf die volkstümliche Ballade des Malers und Dichters August Kopisch aus dem Jahre 1836.
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mit ihren hinterlistig ausgestreuten Erbsen, dem bequemen Leben ein Ende macht, will offenbar niemand wissen, warum das so ist. Genau so stellt sich ein allein auf das Wissen setzender Freigeist den gläubigen Menschen vor. Wer glaubt, braucht nicht zu wissen, und wer weiß, braucht nicht zu glauben. Eben dies unterstellt die erklärtermaßen atheistische Giordano Bruno-Stiftung, wenn sie in Abwandlung eines nicht ohne Witz formulierten Werbespruchs ihrerseits die Frage stellt: „Glaubst du noch oder denkst du schon?“ Bei IKEA hieß es noch „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ Die Werbestrategen des Möbelhauses vertrauten darauf, dass ihre Kunden sich trotz der verlockenden Alternative zwischen Wohnen und Leben nicht vom Wohnen abhalten lassen und dabei trotzdem leben. Tatsächlich kommen die Käufer weiterhin in Scharen, um Möbelteile zu kaufen, die sie dann zu Hause mit Inbrunst zusammenschrauben. Vielleicht haben die selbstzahlenden Hobby-Mitarbeiter der Firma dabei noch einen anderen Spruch des Möbelriesen im Ohr, der ihnen – ebenfalls vor dem Hintergrund einer Alternative, die keine ist – erklärt, dass „Wohnen besser als Stehen“ ist? Diese Ironie fällt der religionskritischen Redaktion des Spruchs leider zum Opfer. Dass „Wohnen“ und „Leben“ keine Alternative ist, weiß jeder; aber dass „Glauben“ und „Denken“ sich wechselseitig ausschließen sollen, kann nur jemand annehmen, der weder das eine noch das andere kennt. Und wenn nun jemand schon von sich aus den Eindruck erwecken will, dass er gar nicht glaubt, muss er sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass er, leider, leider, nicht denken kann. Könnte er denken, würde er mit einer derart dummen Alternative gar nicht erst hausieren gehen. So ehrenwert der Atheismus in seinem Beitrag zur philosophischen Schärfung des Gottesbegriffs und in der Einübung der individuellen Freiheit auch ist: Die Kritik, dass sie weder denken noch genau beobachten können, wird man den Vertretern der Giordano Bruno-Stiftung nicht ersparen können. Hätten sie nicht wenigstens das vom heroischen Ingenium ihres selbsterwählten Namenspatrons gelten lassen können, dass man weder denken noch wissen kann, ohne zu glauben? Wie anders könnte man für seine auf Wissen gegründete Überzeugung sterben? Und was soll man von angeblichen Botschaftern der modernen Wissenschaft halten, die nicht wissen, dass sich mit dem exponentiellen Wachstum des Wissens, auch die Anlässe für den Glauben sprunghaft vermehren? Mit jedem Wissen eröff-
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nen sich neue Horizonte des Nicht-Wissens, und zugleich steigt der Anspruch auf ein Handeln, für das Wissen allein niemals zureichend ist. Wer das nicht zur Kenntnis nimmt, verhält sich zum Wissen und zur Wissenschaft wie die im Gedicht beschriebenen Kölner, die nicht fragen, wer die Arbeit tut, die sich für sie im Schlaf erledigt.
2. G LAUBEN
AN UND DURCH DAS
W ISSEN
Tatsächlich kann von einer Verzichtbarkeit des Glaubens allein angesichts der Menge des angestiegenen Wissens und Denkens keine Rede sein. Eher ist es umgekehrt: Je mehr wir wissen, umso größer ist unsere Angewiesenheit auf die Kenntnisse, die uns mit unseresgleichen und der Welt verbinden, und umso ausgedehnter und unerlässlicher ist unser Vertrauen auf den Sachgehalt des Wissens. Also wächst das Ausmaß, in dem wir nicht nur faktisch an das Wissen glauben, sondern auch aus existenziellen Gründen an es glauben müssen. Mit der Menge des Wissens wächst auch unsere Einsicht in dessen Grenzen, die wir gleichwohl im Vertrauen auf die Verlässlichkeit unseres Wissens fortgesetzt zu überschreiten haben. Nur auf Wissen gestützt, brächten wir nicht den geringsten Mut zum Handeln, geschweige denn zum Hoffen auf. Also ist vor das Wissen der Glauben gesetzt, und dort, wo es endet, leitet uns wieder ein Glauben an. Es ist ein Glauben, der auf weiterreichendes Wissen hofft; also kennen wir den Glauben auf, an und durch das Wissen. Diesen Glauben kann man in den sachlich-pragmatischen Dimensionen als „Unterstellung“, „Annahme“, „Mutmaßung“, „Überzeugung“ oder auch als „Vertrauen“ bezeichnen. Doch in allen existenziellen Fragen, in denen sich eine Person als ganze auf das Ganze ihres Daseins bezieht, muss vom „Glauben“ die Rede sein. Er ist der ständige Begleiter des Wissens, auf das er freilich selbst auch angewiesen ist. Im vollen Sinn des Wortes hat der Glauben eine Dimension, die jederzeit auch religiöse Züge annehmen kann, auch dort, wo er sich nicht ausdrücklich auf eine bestimmte Vorstellung von einem als göttlich begriffenen Ganzen beziehen muss. Er ist durch nichts dazu genötigt, das Ganze des Daseins in der Form eines gegenständlichen Wesens zu denken; wohl aber kann er es als ein Ganzes ansehen, das ihm etwas bedeutet, gerade
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auch weil er es als größer und umfassender als alles ihm sonst Bekannte – und somit letztlich als unfassbar – ansieht. Dennoch kann ihm dieses Ganze, weil er ihm mit Zweifeln und Fragen, ja gelegentlich auch mit Fassungslosigkeit gegenübertritt, von seinem eigenen Anspruch her in der Form einer personalen Instanz gegenwärtig sein. Also ist der notwendig zum Wissen gehörende Glaube auch gegenüber den historisch überlieferten Formen religiöser Bekenntnisse offen. Als totalisiertes Heinzelmännchen wird es gleichwohl keinen ernsthaft nach einem Ziel seines Wissens, nach dem Zweck seines Handelns und damit nach einem Sinn seines Daseins suchenden Gläubigen überzeugen können.
3. D IE
UMFASSENDE
D IMENSION DES S INNS
Die mit wenigen Worten skizzierte Verbindung von Wissen und Glauben2 tritt umso schärfer hervor, je mehr sich die lange Zeit mit den alltäglichen Unterscheidungen verbundene metaphysische Gewissheit verliert. Tag und Nacht, Himmel und Erde, aber auch oben und unten bieten keine objektiven Gegensätze mehr, sondern müssen in Relation zum jeweiligen Standpunkt und zum semantischen Gehalt einer von ihnen Gebrauch machenden Rede jeweils so bestimmt werden, dass sie von unseresgleichen nachvollzogen werden können. Das setzt eine Orts-, Zeit- und Sinnbestimmung sowohl beim Sprecher wie auch beim Hörer voraus. Der dazu benötigte intellektuelle Aufwand ist groß, was sich heute allein an der Schwierigkeit erweist, eine dem Selbstbewusstsein eines Individuums analoge reflexive Selbstreferenz in digitaler Form zu erzeugen. Es gibt Rechenprogramme die in größter Geschwindigkeit mit großen Datenmengen so umgehen können, dass sie sich dadurch selbst verbessern. Aber derart überzeugend „Ich“ zu sagen, dass auch ein anderes Ich davon in alltäglichen Zusammenhängen existenziell angesprochen werden könnte, gelingt offenbar nicht.3 2
3
Siehe dazu ausführlich: GERHARDT, VOLKER, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014, 32015. Vorerst jedenfalls. Das wird eindrucksvoll im Film her von Spike Jonze (mit Joaquín Phoenix in der Hauptrolle) vor Augen geführt. Die Handlung macht die existenzielle Angewiesenheit des Menschen auf seinen eigenen Körper und die Unerlässlichkeit realer sozialer Kontakte deshalb so anschaulich, weil der Protagonist diese Selbstver-
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Ich behaupte nicht, dass die Simulation der Selbstreferenz einer künstlichen Intelligenz prinzipiell unmöglich ist. Mir genügt, auf den intellektuellen Aufwand aufmerksam zu machen, der nötig ist, um unter sich stets verändernden Bedingungen bei situativer Wahrung der eigenen Identität die anderen in ihrer Identität so anzusprechen, dass verschiedene Individuen gleichwohl dasselbe meinen und sogar tun können: Dazu gehört nicht nur eine Unmenge an Informationen, die parat gehalten werden müssen, sondern ein kaum weniger umfangreiches Set alternativer Möglichkeiten, die mit größter Sensibilität und Flexibilität für die jeweiligen Gegebenheiten augenblicklich verfügbar zu sein haben, um bei einer (durch vorgegebene Kriterien) als einschlägig angesehenen Konstellation von auslösenden Reizen mit dem Anschein spontaner Reaktionsfähigkeit präsent zu sein. Und alles dies muss mit den Ansprüchen von Personen verbunden sein, die es, wohl gemerkt, weder im physikalischen, noch im physiologischen Sinn „gibt“. Sie bedürfen vielmehr immer erst der Entwicklung im sozialen Zusammenhang sowie der Aneignung durch das Selbst eben der Person, die zu sich „Ich“ sagen können muss. Lassen wir offen, ob und wie es den Ingenieuren der künstlichen Intelligenz gelingt, unsere individuelle Kapazität im oszillierenden Einsatz von Erkenntnis und Überzeugung, von Wissen und Glauben zu imitieren. Für den Augenblick muss es genügen, von der Unverzichtbarkeit dieses Zusammenspiels auszugehen, das überall dort, wo es sich um Zukunfts- oder Schicksalsfragen einer sich als Einheit begreifenden Person handelt. Sie allein ist es, die eine religiöse Reichweite ihrer Vorstellungen haben kann, die in der Regel in vielfacher Weise mit historischen, sozialen und kultischen Elementen verbunden sind, sich individuell aber auch gegen den Widerstand von Andersgläubigen behaupten können.4 Seine Tiefendimension hat dieses Zusammenspiel dadurch, dass es im höchsten Grade intellektuell vermittelt ist, allein weil es Sachverhalte des Wissens auf problematische Lebenslagen von sich als Einheiten begreifende Personen in einer als einheitlich aufgefassten Weltlage bezieht – eine
4
ständlichkeit unter dem Eindruck eines Trennungsschmerzes eine Weile lang vergisst. Zu den Andersgläubigen rechne ich in diesem Fall auch jene, die meinen, sie kämen ohne jeden religiösen Glauben aus und stattdessen nur an die Wissenschaft oder an politische oder künstlerische Ziele glauben.
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Leistung, die man „Sinnverstehen“ nennt. Doch zu dieser Leistung gehört das mitlaufende Bewusstsein der psychischen Befindlichkeit und der sozialen Selbsterfahrung, die beide mit der physiologischen Disposition eines Individuums verbunden sind. Man kann gespannt sein, mit welchen Mitteln digitale Programme sich diese psychosoziale Tiefendimension erschließen, ohne selbst einen Körper zu haben. Dabei darf man nicht vergessen, dass es für Menschen so essenziell ist, einen Körper zu haben, wie es für digitale Programme grundlegend ist, ohne Körper auszukommen. Doch wie hier operative elektronische Lösungen zu finden sind, soll unsere Sorge nicht sein. Wir sind zufrieden, wenn wir eine Ahnung davon haben, wie sehr Wissen und Glauben gleichermaßen auf einen leiblich fundierten, gesellschaftlich geformten, seelisch grundierten, semantischlogisch präzisierten, rational versicherten und als einsichtig verstanden Sinn gegründet sind, der sich im steten Grenzverkehr zwischen beiden entweder als verlässliches Wissen oder als vertrauensvoll angenommener Glauben erweist. Dabei erfolgt der Übertritt in die religiöse Dimension in der Regel erst im Umgang mit den „letzten Fragen“ des Sinns, mit dessen „ersten Problemen“ wir es ständig zu tun haben.
4. D IE I NTEGRATION UNTERSCHIEDLICHER D IMENSIONEN DES S INNS Es sind vielfältige Erfahrungen, die uns im reflektierten Bewusstsein die metaphysische Gewissheit im Umgang mit den alltäglichen Unterscheidungen von oben und unten, von Tag und Nacht, von Himmel und Erde nehmen. Nietzsche bringt sie im Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft ursächlich mit dem „Tod Gottes“ in Verbindung. Das ist eindrucksvoll formuliert, aber in der Sache ein bedauernswerter historischer Kurzschluss, denn schon die rationale Welterklärung der antiken Kosmologen hat das leibhaftige Koordinatensystem der alltäglichen Weltorientierung erschüttert. Wenn die Erde eine Kugel ist, wie schon Cicero zu berichten weiß,5 sind „oben“ und „unten“ nicht mehr für alle Menschen gleich.
5
Und wie es für Archimedes selbstverständlich war. Zu CICERO, De re publica. Vom Staat, Hamburg 2007.
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Die um einiges weitergehenden Theorien der neuzeitlichen Astronomie haben die Rede vom Himmel definitiv zu einer bloßen Metapher gemacht. Das hat deren Protagonisten jedoch nicht davon abgehalten, in ihrer Bemühung um eine angemessene Beschreibung der Stellung Gottes nachzulassen. Descartes und Pascal, Hobbes und Spinoza, Newton und Leibniz, Kant, Fichte oder Hegel könnten hier, jeweils auf ihre Weise, als Beispiele dienen. Mit Blick auf die Dichtung könnte ich mich auf Pope, Haller oder Brockes, auf Goethe, Novalis oder Jean Paul berufen. Sie alle haben im kältesten Bewusstsein von der Unendlichkeit einer in sich keinen erkennbaren Sinn freisetzenden Natur dennoch mit größter Entschiedenheit daran festgehalten, dass er darin für den denkenden, fühlenden und empfindenden Menschen gleichwohl zu finden sein muss. Was man dazu einzig braucht, ist die Doppelperspektive des Blicks auf die Welt und auf sich selbst. Den Fingerzeig dazu gibt bereits die (trotz allem) gelingende alltägliche Weltbewältigung, die inmitten des Zusammenbruchs eines vermeintlich objektiven Koordinatensystems der Natur sowohl eine pragmatische Verständigung wie auch eine begrenzte technische Nutzung der Natur mit Hilfe der Natur ermöglicht. Im Ganzen kann die menschliche Kultur, die selbst als eine der vielen Formen der Natur verstanden werden muss,6 als eine aus ihr mit technischen Mitteln evolutionär erzeugte Umwelt angesehen werden, die es dem Menschen erlaubt, selbst in wechselnden Umwelten nach eigener Einsicht zu leben.7 Das sich unter diesen Bedingungen schon früh entwickelnde Wissen hat den Glauben vermutlich von Anfang an als unverzichtbaren Begleiter. Mit der im Gang der kulturellen Evolution rasch zunehmenden Komplexität von beiden, also von Wissen und Glauben, erhöht sich die Sensibilität für die räumliche, zeitliche, psychische und soziale Relativität aller Aussagen. Die macht es uns heute schwer, den früher als einleuchtend empfundenen Optionen der älteren Überlieferung zu folgen. Wir sind weniger geneigt, an Wunder zu glauben, und erkennen Kontinuitäten, wo man einst von polaren, sich auch ethisch ausschließenden Gegensätzen sprach.
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Vgl. dazu GERHARDT, VOLKER, Kultur als Form der Natur, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Urgeschichte, Jg. 21, 2013, Heft 12, 91-104. Vgl. dazu GERHARDT, VOLKER, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999.
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Unbeschadet unserer Hochschätzung für Mythen und Märchen, die sich wohl auch in Zukunft als unentbehrlich erweisen werden, können und müssen wir differenzieren, wo immer überkommene Aussagen in der Form von Sachverhaltsbeschreibungen vorliegen, die wir heute in letztlich nicht objektivierbare Sinnfragen des Lebens, der Kunst, der Bildung oder der Wissenschaft zu übersetzen haben. Das müssen wir nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nur um den Preis der Selbst- und Weltvergessenheit abweisen lassen. Es wäre somit gedanken- und verantwortungslos, die von uns mit Blick auf die mythische und religiöse Überlieferung geforderte Übersetzungsarbeit zu verweigern. Wir haben die Traditionsbestände der Religionen, so weit es irgend geht, kritisch zu zergliedern. Aus der Sicht der Wissenschaft gibt es keinen vernünftigen Grund, die Bücher der Hindus und die Reden Buddhas, das Alte oder das Neue Testament, die Thora oder den Koran in ihren Textaussagen für derart heilig anzusehen, dass man ihnen mit Rücksicht auf die Gläubigen eine historisch-kritische Analyse ersparen kann. Allerdings muss ihre Wirkungsgeschichte selbst als Tatbestand verstanden werden, den es in der Bewertung ihres Sinngehalts, in ihrer symbolischen Chiffrierung sowie in ihrer Rolle als Weltbild- und Zeichengeber zu beachten und zu achten gilt. Dabei gehen wir natürlich von den Zusammenhängen aus, in denen die gegenständlichen Unterscheidungen überhaupt erst die Chance freisetzen, etwas als etwas zu verstehen. Und wenn sie uns darüber hinaus, sei es im Respekt vor ihrer historischen Leistung, sei es mit Blick auf den eigenen kulturellen Zusammenhang, oder sei es in der persönlichen Perspektive auf das Ganze des eigenen Daseins, etwas bedeuten, dann kann ebendies die Bedeutung sein, die, jeweils nach unseren eigenen Möglichkeiten, zum tragenden Moment unserer unter Sinnerwartungen stehenden Weltorientierung wird. Sie kann der Wissenschaftler mit größter Nüchternheit analysieren, der Politiker und der Bürger können ihr Verhalten darauf einstellen und der Gläubige kann in seiner eigenen Sinnperspektive bereichert werden oder befremdet sein.8
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Nur im Vorbeigehen merke ich an, dass hier Vorgänge angesprochen sind, die den Religionen eine größere Öffentlichkeit bieten, also auch den Glauben betreffen und somit die Öffentlichkeit Gottes tangieren, über die noch zu sprechen sein wird.
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Es gibt somit keinen Anlass, den allgemeinen Hinweisen auf Mächte und Kräfte, die über das Menschenmögliche hinausgehen, die Aufmerksamkeit zu entziehen, nur weil die Schilderung der konkreten Umstände uns unwahrscheinlich oder sogar widersinnig erscheint. So können selbst als trivial empfundene Erzählungen lehrreich sein, und die ältesten Urkunden der Religionen können den Anspruch erheben, höchstem Aufschluss über uns selbst zu geben.9 Wie im alltäglichen Handeln, so sind auch in der Auslegung von Texten unsere Erwartungen notwendig auf Wirkungszusammenhänge bezogen, die nicht in unserer Verfügung stehen. Deshalb bleibt es sinnvoll, bei allem, was den Lebenszusammenhang im Ganzen betrifft, auf den Glauben an eine das Gute begünstigende Kraft zu setzen. Denn niemand lebt allein aus eigener Kraft. Folglich kann es auch nur richtig sein, sich über den Status einer Rede über den Sinn des von uns in allen Fällen angestrebten Sinns rational zu verständigen.10 Das soll im Folgenden am Beispiel der Rede von der Öffentlichkeit Gottes geschehen.
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UND IHRE
Kürzlich überraschte mich eine junge Muslima, die wiederholt Interesse daran geäußert hatte, den ihr fremden Glauben der Christen zu verstehen, mit der Feststellung, jetzt wisse sie, warum die Christen Ostern feiern; aber warum sie zur Beichte gehen, das verstehe sie noch nicht. Denn man brauche Gott nichts zu beichten; er wisse doch ohnehin von den Verfehlungen der Menschen. Auf die Vorhaltung einzugehen, war nicht schwer, weil ja auch der Gott der Christen das Attribut der Allwissenheit mit Allah teilt. Also ließ sich die Erläuterung ganz auf die Unverzichtbarkeit sowohl der Einsicht wie auch der Reue der Gläubigen verlegen, die ein Bewusstsein von ihren Sünden benötigen, wenn sie sich aus eigener Kraft bessern können sollen. Ob
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Zur Illustration empfehle ich KANT, IMMANUEL „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ von 1786, eines der eindrucksvollsten Beispiele wissenschaftlicher Auslegung von Genesis 3 (AA 8, 107-124). Auch dazu verweise ich auf die in der ersten Anmerkung genannte Publikation.
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man sich, wie die Protestanten, in einem gemeinsamen Eingeständnis der versammelten Gläubigen oder, wie es in der Tradition der katholischen Kirche üblich ist, in einer Ohrenbeichte gegenüber einem institutionellen Stellvertreter Gottes seine Verfehlungen vergegenwärtigt, macht gegenüber einer von außen kommenden Nachfrage nur einen geringen Unterschied. So oder so sage man Gott nichts Neues; entscheidend sei vielmehr, dass man ihm gegenüber seine eigenen Verfehlungen eingesteht. Der Sinn der Beichte hänge am Bewusstsein der eigenen Schuld, nicht aber an der Allwissenheit Gottes. Ich weiß nicht, ob die Antwort meinem Gegenüber eingeleuchtet hat. Aber mir ist nie zuvor so deutlich geworden, für wie selbstverständlich die öffentliche Stellung Gottes auch über die Grenzen zwischen den Religionen hinaus angesehen werden kann. Sie ist bereits mit der Allwissenheit verknüpft. Wenn wir Wissen bereits strukturell mit einem allgemeinen Verständnis des jeweils Gewussten verbunden sehen,11 leuchtet das augenblicklich ein. Es kann überdies dadurch verdeutlicht werden, dass Gott „alles sieht“. Und wenn Gott ohnehin nichts verborgen bleibt, weil er ins Innere eines Menschen blicken und selbst dessen geheime Gedanken lesen kann, wird man gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Erregung über die Zudringlichkeit der staatlichen Geheimdienste keinen Einwand machen können. Angesichts der breiten Abschöpfung aller digital in Umlauf gebrachten Daten kann sich der Gläubige eigentlich nur über die Methoden und Interessen der dreisten Akteure empören, nicht aber über die Tatsache der allgemeinen Verständlichkeit des Privaten. Denn unter dem alles wahrnehmenden Organ der göttlichen Allwissenheit ist der Gläubige längst an eine viel umfassendere Aufklärung gewöhnt, die ihm selbst stets nur höchst eingeschränkt zur Verfügung steht. Ehe die NSA das Handy der Kanzlerin abhört, weiß Gott schon, was sie sagen will, und vor allem: was sie ihren Gesprächspartnern verschweigt. Wer das für eine aktualistische Rückprojektion in ältere Zeiten hält, dem seien Texte Jean Pauls, Kierkegaards oder Sartres empfohlen, die zu Protokoll geben, wie man sich unter der totalen Beobachtung Gottes fühlt. Dabei kommen die drei Autoren zu höchst unterschiedlichen Bewertungen:
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Dazu GERHARDT, VOLKER, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012.
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Jean Paul ist beglückt, dass wenigstens Gott alles weiß; Kierkegaards Vater zerbricht unter dem Bewusstsein der göttlichen Mitwisserschaft seiner Schuld; und Sartre sagt sich schon als Kind von der ihm unerträglichen Allgegenwart der göttlichen Kontrollinstanz los.12 Doch so offensichtlich die angenommene Allgegenwart Gottes für den Gläubigen auch ist: Es gibt auch Vorbehalte gegen die damit verbundene These von der Öffentlichkeit Gottes: Da ist zum einen die Tatsache, dass er sich selbst nicht in der Offenheit zeigt, die wir im politischen Zusammenhang von öffentlichen Akteuren erwarten; die unzureichende Evidenz Gottes, die manche Agnostiker beklagen, wenn sie ihren Mangel an Glauben zu erklären suchen, taugt zwar nicht als Entschuldigung für den Agnostizismus, könnte aber ein Einwand gegen die These von der Öffentlichkeit Gottes sein. Denn Gott bleibt trotz zahlreicher Offenbarungen in seinem Werk, in seinem Wort und in seinem fortgesetzten Wirken ein in seinem Wesen verborgener Gott. Und ob man einen deus absconditus als einen „öffentlichen Gott“ bezeichnen kann, wird man mit Recht in Zweifel ziehen können. Nicht weniger gewichtiger ist der zweite Einwand gegen die These von der Öffentlichkeit Gottes: Wenn man vor Gott keine Haustür schließen kann, wenn er bei jedem Gespräch, selbst mit dem Freund und der Geliebten, den Lauscher abgibt und sogar meine unausgesprochenen Gedanken kennt, dann gibt es den Raum des Privaten nicht, der die Rede von der Öffentlichkeit überhaupt erst sinnvoll macht. Öffentlichkeit ist ein politischer Begriff, der eine gesellschaftliche, eine institutionelle Leistung in der Herstellung einer Gemeinsamkeit zwischen Menschen einschließt. Er bezieht seinen Sinn daraus, dass sich in seinem Gebrauch der Ursprung und der Vorzug seiner eigenen Leistung erkennen lassen. Somit bleibt der Öffentlichkeit der Ausgangspunkt des Persönlichen und Privaten eingeschrieben; nur wo Persönliches und Privates gewahrt sind, kann es sinnvoll sein, von einer Sphäre des Öffentlichen zu sprechen.13
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13
PAUL, JEAN, Selberlebensbeschreibung. Konjektural-Biographie, Leipzig 2013; KIERKEGAARD, SÖREN, Furcht und Zittern, Hamburg 52004; SARTRE, JEAN-PAUL, Die Wörter, Reinbek 1968. Das gilt auch für die Einsicht in die Öffentlichkeit des Bewusstseins, das sich in seinem vollen Umfang nur unter den begleitenden Konditionen der Subjektivität vollzieht. Dazu ergänzend zu den Ausführungen im 5. Kapitel der Öffentlichkeit (2012)
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Wenn nun aber Gott in seiner alles durchdringenden Allwissenheit gar keinen vor ihm geschützten Raum des Privaten mehr übrig lässt, fällt es schwer, sein Wirken als öffentlich zu bezeichnen. Denn im Vergleich zu diesem Wirken gibt es nichts mehr, dass sich davon unterscheiden ließe. Also kann man das Wirken Gottes nur als die theokratische Version totalitärer Herrschaft ansehen, die schon deshalb den Titel des Öffentlichen nicht verdient, weil sie in sich keinen Raum für Privates lässt. Also wird man hinter die These von der Öffentlichkeit Gottes ein Fragezeichen setzen. Zwar spricht vieles für die metaphysische Publizität, erst recht, wenn man ihre Konsequenz für die Gesamtheit aller Menschen bedenkt. Angesichts der Öffentlichkeit Gottes würde die Menschheit zu einem Volk unter einem Herrn, der es in seiner umfassenden Kenntnis vereint, durch die sich alle Menschen zu einem einzigen Glauben allein aus einer sie alle gleichermaßen verbindenden Einsicht bringen lassen. Dabei hat die Idee der Öffentlichkeit den Vorzug, dass sie wie keine andere die größtmögliche Vielfalt der Individuen zulässt und ihnen, selbst in der reaktiven Gesamtheit aller verständigen Personen, die Freiheit lässt, sich zum öffentlichen Weltgewissen Gottes zu bekennen. Doch der Zweifel bleibt, ob wir ihn so überhaupt angemessen beschreiben können.
6. G OTT
IST ANDERS ZU DENKEN
Der Zweifel wird sich so lange nicht auflösen lassen, als wir Gott nach Art einer Instanz denken, die über allem thront und die Welt im Stil einer alles ordnenden Obrigkeit, gleichsam von außen, regiert. Wir verstehen gut, dass eine solche Vorstellung naheliegt. Sie macht Gott groß und allem überlegen. Doch sie steht in Gegensatz zu unserem Wissen über die Welt und führt in einen eklatanten Widerspruch zu unserem Selbstverständnis, nicht zuletzt zu unserem Anspruch auf Freiheit und Verantwortlichkeit. Schließlich höhlt sie gerade die höchsten Begriffe aus, unter denen wir Gott zu denken suchen. Von Allmacht, Allwissenheit oder ewiger Güte kann mit Blick auf einen konkurrenzlos ohnehin über alles verfügenden Herrscher nicht mehr sinn-
von GERHARDT, VOLKER, Die Öffentlichkeit des Bewusstseins, in: Kühnlein, Michael (Hg.), Die Politik und das Vorpolitische, Baden-Baden 2014, 501-535.
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voll die Rede sein. Denn die Begriffe der Macht, des Wissens und des Guten sind aus den endlichen Relationen menschlicher Welterfahrung gewonnen; sie setzen den Widerstreit der Mächte, das Nichtwissen, das Lernen und den Wissenszuwachs voraus und sind allemal an die Gegensatzerfahrung angesichts des Schlechten und des Bösen gebunden. Sobald wir Attribute Gottes totalisieren, verlieren sie ihre Bedeutung, es sei denn, wir stellen Gott einen ihm opponierenden Gegengott (nach Art eines Teufels) zur Seite – womit er nicht mehr der wäre, auf den wir mit unserem Glauben setzen. Also haben wir Gott anders zu denken. Und mir liegt daran zu betonen, dass dies tatsächlich als ein Akt des Denkens möglich ist. Wäre es anders, hätte die Philosophie zum Thema Gottes nichts beizutragen. Eine rationale Theologie, wie sie mir vorschwebt, wäre ein aussichtsloses Unterfangen. Meine Überlegung ist die folgende: Die Nähe von Glauben und Wissen und das in seiner Leiblichkeit und Sinnlichkeit, in seiner Sozialität und Subjektivität gründende rationale Selbstverständnis des Menschen, das im Göttlichen den alles tragenden Sinn seines Daseins sucht, kann sich nicht damit zufriedengeben, in Gott nur einfach das nicht erkenn- und benennbare Negativ der erfahrenen Welt namhaft zu machen. Die negative Theologie ist ein Propädeutikum des theologischen Denkens und kann nicht ernsthaft als dessen letzte Auskunft gelten. Folglich lässt sich Gott auch nicht in eine absolute Transzendenz, gleichsam in das Jenseits von allem verlegen, wo er für den Menschen so unerreichbar wäre wie die Welt für ihn. Wirklich anders, wahrhaft göttlich und dennoch mit uns verbunden denken wir Gott hingegen, wenn wir ihn als das Ganze zu fassen suchen, das uns die Welt bedeutet. Dann ist er die alles einbeziehende Einheit der Welt, zu der auch wir selbst mit dem Ganzen unserer Person gehören. In diesem internen Weltverhältnis zweier wenn nicht für sich bestehender, so doch offenkundig auf einander bezogener Einheiten von Mensch und Welt entfaltet sich das, was wir als den Sinn unseres Lebens erfahren. Es ist das, was wir als die Bedeutung des Daseins überhaupt annehmen und das wir dem in sich bedeutungsvollen Ganzen der Welt anheimstellen können. Dann kann Gott als der Sinn des Sinns begriffen werden.14
14
Dazu das 5. und 6. Kapitel des bereits erwähnten Buches: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche.
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Dabei kann und darf nicht bestritten werden, dass in diesem Begriff des Göttlichen der Zugang, den der Mensch zu ihm findet, eine zentrale Rolle spielt. Wir können Gott gar nicht anders denken als mit unseren menschlichen Kräften. Und auch glauben können wir nur so, wie wir es verstehen. An uns selbst, inmitten unserer Zufälligkeit und Abhängigkeit, unserer gleichermaßen äußeren wie inneren Gegensätzlichkeit erfahren wir unsere personale Einheit, als sei sie, so paradox es auch klingt, selbstverständlich. Erst diese an uns selbst erlebte Einheit eröffnet uns die Möglichkeit, auch das Ganze des Daseins (oder der Welt) als Einheit zu denken. Also liegt in der anthropomorphen Konzeption des Göttlichen kein Einwand, sondern ein Beleg für die Authentizität unserer Suche nach Sinn, in der wir darauf vertrauen, dass im Göttlichen alles seinen Rang erhält, ohne uns zuzumuten, den Gott in allem anzubeten. Der Pantheismus ist eine ehrenwerte metaphysische Option, die grundsätzlich allem Gerechtigkeit angedeihen lassen möchte. Für den Glauben aber ist entscheidend, dass die Person des Menschen ihren Anspruch erhebt. Sie verlangt nach dem ihr verständlichen Sinn; sie vermag im Göttlichen den Grund des ihr nahekommenden, sie beruhigenden, ihr einleuchtenden Sinns anzunehmen, so dass sie Gott als Sinn des Sinns anzuerkennen vermag. Auch wenn der Philosophie für diesen letzten Schritt die Argumente fehlen, erlaubt die Entsprechung des Ganzen der Welt mit dem ihm zugehörigen Ganzen der Person dem Gläubigen durchaus, im Göttlichen die ihm korrespondierende personale Einheit anzusprechen.
7. E INE
UNIVERSELLE
ATMOSPHÄRE
DER
O FFENHEIT
Was bedeutet diese hier in aller Kürze vorgestellt Konzeption des Göttlichen für die Öffentlichkeit? Sicher ist, dass sie nicht das sein kann, was sich im Bewusstsein eines allwissenden Gottes – gleichsam nur für ihn selbst – konstituiert. Die Öffentlichkeit Gottes kann sich nur auf die prinzipiell öffentliche Zugänglichkeit der Welt beziehen, ja sie hat ihr Wesentliches darin, sie zu symbolisieren, so dass sie eine Herausforderung für alle ist, die sich selbst als Person nicht nur im beschränkten Raum ihrer jeweiligen politischen Öffentlichkeit zu bewähren suchen, sondern ihre Referenz
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im Ganzen der Menschheit sehen und in der Verantwortung vor der Welt handeln wollen. In der Nachfolge Kants sehen wir einen großen Erfolg darin, dass diese Verantwortung des Menschen für sich selbst, vor seinesgleichen und für die Welt allein aus der Vernunft des Menschen begründet werden kann. Die „Menschheit in der Person eines jeden Menschen“ ist die Instanz, die jeden persönlich stimulieren und moralisch disziplinieren kann: Sie reicht überdies aus, um Grundrechte für alle Menschen zu begründen. Brauchte man dazu eine theologische Prämisse, wäre es nie zur Charta der Menschenrechte gekommen. Und angesichts der immer noch mit einem hohen Gewaltpotenzial aufgeladenen religiösen Gegensätze auf der Erde hätte Weltpolitik als gänzlich aussichtsloses Unterfangen zu gelten. Aber gerade die Tatsache, dass ein nicht geringer Teil der auch zu dieser Stunde weltweit ausgetragenen politischen Konflikte im Zeichen religiöser Gegensätze stehen, sollte uns Anlass sein, über die Leistung des religiösen Glaubens für eine friedliche Verständigung nachzudenken. Natürlich wissen wir, dass die Berufung auf religiöse Motive (nicht anders als die Beschwörung nationaler Interessen) oft nur Vorwand ist. Die Machthaber lenken von ihren Schwächen ab, und die Angreifer tarnen ihren Mangel an politischer Substanz. Doch dass die Täuschung immer noch in großem Maßstab verfängt, ist Grund genug, über die Stellung der Religion und über ihren Beitrag zu einer auf Verständigung beruhenden Einheit der Welt nachzudenken. Und da scheint es mir wichtig, nicht nur die unkündbare Verbindung von Glauben und Wissen zu exponieren, nicht nur deutlich zu machen, dass die Rationalität der wissenschaftlichen Zivilisation mit der Einbettung in eine Kultur der sinnlichen Zerstreuung, der sportlichen Ertüchtigung und der künstlerischen Sammlung bedarf, sondern dass sie auch nach der geistigen und geistlichen Erneuerung verlangt, zu der vorzüglich die Religion zu rechnen ist. Und wenn der Glauben in diesem Zusammenhang nicht zum Rückzug oder gar zur Isolierung führen soll, kann er, gerade in seiner Konzentration auf das Religiöse, auf den Trost, die Stärkung und Ermutigung allein durch den Glauben, auf die Öffentlichkeit Gottes setzen. Sie symbolisiert das Ganze der Welt in ihrer Offenheit für jeden, der sich ihr mit seinen besten Kräften in existenzieller Offenheit anvertraut.
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Dazu gehört die individuelle Hinwendung zum Ganzen, in dem man sich nicht vor den Aufgaben der Welt verschließt, aber den Zuspruch zu seinen eigenen Absichten und persönlichen Zielen benötigt. Im Glauben an einen Gott, der das bedeutungsvolle Ganze des Daseins im Insgesamt aller Dinge und Ereignisse symbolisiert, ist auch das Subjektive in seinem Recht. Hier wird das Individuelle einer Trauer, einer Liebe oder einer Hoffnung universell. Der vom Ganzen der Welt getragene Sinn, in dem jeder individuelle Lebenssinn seine Bedeutung und seine Erfüllung erlangen kann, schafft unabhängig von aller Politik einen privaten Raum, in dem man Kraft auch und gerade dann gewinnen kann, wenn man von allem getrennt und von allen anderen verlassen ist. In unserer unmittelbaren geschichtlichen Nachbarschaft bezeugt der Todesmut der Opfer der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts die Kraft eines aus dem Inneren geschöpften Glaubens.15 In größter Verlassenheit haben sie auf eine die Geschichte überspannende Gegenwart Gottes vertraut. Wenn auf dem erst 2001 errichteten Gedenkstein für den am 26. März 1942 in einem Wald bei Riga zusammen mit seiner Frau und drei seiner Töchter erschossenen Hamburger Rabbiner Joseph Carlebach in hebräischer, russischer, lettischer und deutscher Sprache der Vers 16,18 aus dem Buch Hiob zu lesen ist: „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Schreien finde keine Ruhestatt!“, dann setzt bereits das Alte Testament auf die Öffentlichkeit Gottes in einer öffentlichen Welt. Und so sollten auch wir die Gegenwart des Göttlichen in unserer Welt verstehen. So schrecklich es ist: In Zeiten der Bedrohung und der Vernichtung, in der die Rettung nur noch von innen kommen kann, stellt sich das Verlangen nach dieser Öffentlichkeit ganz von selber ein. Aber sie kann auch in den Zeiten der Entspannung und des Friedens ihre Verdienste haben: So befreit das Vertrauen in die Öffentlichkeit Gottes die Kirchen von den Zwängen des Marktes. Es entlastet sie davon, mit ihren Leistungen, gar mit ihren „guten Taten“ zu werben, und sie kann darauf verzichten, wie eine Partei auf Stimmenfang zu gehen. In der Öffentlichkeit Gottes wird jedem eine offene Welt verheißen, der seinen Glauben mit offenem Geist zu leben sucht. So von den Interessen der Macht befreit, können die Kirchen den Glauben in einer über allem Zwang erhabenen Weise in der Gemeinschaft der
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Dazu des Näheren der Beschluss des Buches über den Sinn des Sinns (2014).
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Gläubigen ausüben, vorleben und stärken; sie können Einrichtungen der Verständigung über erste und letzte Fragen und vor allem der wechselseitigen Hilfe für alle sein, die der Hilfe bedürfen. Dem hat ihre offene und öffentliche Praxis zu entsprechen, in der sie nicht genötigt ist, das Geheimnis der weltlichen Gegenwart des Göttlichen zu leugnen. Also kann eine Gemeinschaft der Gläubigen auch vom Paradox der Gotteserfahrung durchdrungen sein. Es liegt darin, dass der öffentliche, für alles stehende und alles begründende Gott, den alle auf ihre Weise loben können, doch ganz und gar als mein Gott angesprochen werden kann. Denn im Vertrauen auf die alles umfassende Größe und Güte Gottes kann der Gläubige, wann immer er es nötig hat, persönlich zum Ganzen der Welt als seinem Alter ego sprechen.
Volker Gerhardts öffentliche Theologie. Kritische Anmerkungen aus theistischer Perspektive P ATRICK Z OLL
Um Volker Gerhardts Beitrag adäquat verstehen und würdigen zu können, ist es meiner Ansicht nach hilfreich, ihn als Teil eines größeren Forschungsunternehmens zu interpretieren, welches sich an folgender Ausgangsfrage orientiert: „Welchen Sinn macht die Rede von ‚Gott‘ in einer modernen Welt und im kritischen Selbstvollzug des modernen Subjekts?“1 Für die Architektonik von Gerhardts Antwort auf diese Frage sind meiner Meinung nach drei Thesen maßgeblich, die er auch im vorliegenden Artikel – in unterschiedlicher Ausprägung – vertritt und anhand derer ich seine Ausführungen analysieren möchte. Methodisch werde ich so verfahren, dass ich diese Thesen zunächst vorstelle. In einem zweiten Schritt rekonstruiere ich die Argumente, die er zu ihrer Begründung anführt, um sie abschließend einer kritischen Würdigung zu unterziehen.
D REI T HESEN Den Hintergrund von Gerhardts Ausführungen über die Öffentlichkeit Gottes bildet eine „kritisch-emanzipatorische These“ (künftig: KET), welche in der Tradition der Aufklärung und ihrer Religionskritik steht. Kritisiert wird
1
Inzwischen ist Gerhardts Ausarbeitung dieses Projektes publiziert: GERHARDT, VOLKER, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014.
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ein „klassischer“ bzw. vorkritischer Gottesbegriff im Namen der menschlichen Freiheit und Würde. „Gott“ als ein „totalisiertes Heinzelmännchen“ zu konzipieren, welches als transzendentes Wesen existiert und als Garant einer dem Menschen vorgegebenen und von ihm zu entdeckenden teleologisch-sinnhaften Seinsordnung fungiert, ist unkritisch und mit dem emanzipatorischen Projekt der aufgeklärten Moderne nicht zu versöhnen.2 KET behauptet also, dass eine vorkritische Rede von „Gott“ in einer modernen Welt keinen Sinn mehr macht, in der das aufgeklärte und mündige Subjekt sich seiner eigenen Freiheit bewusst ist und im – durchaus manchmal unbequemen – Vollzug dieser Freiheit nach Sinn sucht. Die kreative Pointe von Gerhardts Beitrag besteht meiner Meinung nach im Vertreten einer zweiten „dialektischen These“ (künftig: DT), die eine Art „Aufklärung der Aufklärung“ unternimmt und die Religionskritik einer Kritik unterzieht. Verstehe ich ihn richtig, dann behauptet er, dass der Religionskritik der Aufklärung in ihrer Ablehnung einer vorkritischen und entmündigenden Gottesvorstellung zuzustimmen ist, dies jedoch gerade nicht bedeutet, dass „Gott“ bzw. das „Göttliche“ zwangsläufig keine (öffentliche) Rolle im Prozess der menschlichen Sinnsuche mehr spielen dürfen, wie dies z.B. Vertreter des „Neuen Atheismus“ behaupten. 3 „Denken“ und „Glauben“ stehen eben nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander.4 Versucht man eine ideengeschichtliche bzw. religionsphilosophische Verortung von Gerhardts DT, so legen sich mir insbesondere Bezüge zu Kant, Hegel, Feuerbach und Schleiermacher nahe. Gerhardt scheint dem Anthropomorphismusvorwurf Feuerbachs zuzustimmen, wenn damit gemeint ist, dass von Gott nicht jenseits von einem Bezug zur menschlichen Existenz geredet werden kann – dazu später mehr –, jedoch wendet er diesen Vorwurf positiv: Er muss eben nicht zur Folge haben, dass die (öffentliche) Rede von Gott obsolet wird.5 In der Tradition der Kantischen Metaphysikkritik und Postulatenlehre schafft Gerhardt somit „Platz für den Glauben“. Die Rede vom „Göttlichen“ hat auch für den modernen Men-
2
3 4 5
Vgl. GERHARDT, VOLKER, Die Öffentlichkeit Gottes, in diesem Band, 307-323, hier: 310f.. Vgl. EBD., 307f. Vgl. EBD., 308. Vgl. EBD., 319. Hierzu z.B. auch V. GERHARDT, Sinn des Sinns, 216f.
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schen und seine Sinnsuche weiter Bedeutung, weil sie eine notwendige Implikation menschlichen „sinnhaften“ Selbstvollzugs ist. „Gott“ ist „Sinn des Sinns“6, der Horizont vor dem der Mensch sein Dasein erst sinnvoll entfalten kann. Als ein praktisches Implikat menschlichen Daseinsvollzugs kann „Gott“ nicht bewiesen, muss aber postuliert werden. Die Verwiesenheit menschlicher Sinnsuche auf „das Ganze“7, die Erinnerung daran, dass „niemand allein aus eigener Kraft“8 lebt und individueller Sinn sich darin finden lässt, dass sich man sich seiner „Aufgehobenheit“ in einem die eigene Existenz umfassenden Sinnhorizont bewusst wird, lässt unvermeidlich an Schleiermacher denken und könnte vielleicht so formuliert werden: „Glauben als Bewußtsein der schlechthinnigen Abhängigkeit der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz vom Sinn des Ganzen“. Während Gerhardt mit DT den Nachweis führt, dass eine „rationale Theologie“9, also ein sinnvolles Sprechen über „Gott“ für moderne und aufgeklärte Menschen möglich ist, erläutert er in seiner „konstruktiven These“ (künftig: KT), welche praktischen Konsequenzen ein solches Verständnis Gottes bzw. des Göttlichen für die verschiedenen Dimensionen menschlichen Selbstverständnisses und öffentlichen Miteinanders hat. DT schafft sozusagen die Möglichkeit, überhaupt erst über so etwas wie KT nachzudenken, weshalb der argumentativen Absicherung von DT eine besondere Bedeutung zukommt.
R EKONSTRUKTION
DER
ARGUMENTE
Wie begründet Gerhardt nun seine Thesen? Ich beginne mit der Vorstellung von zwei Argumenten, die Gerhardt zur Unterstützung von DT formuliert. Das erste Argument bezeichne ich als „Kompatibilitätsargument“, weil es die These zu begründen sucht, dass der Glaube an einen göttlichen Grund
6
7 8 9
Vgl. V. GERHARDT, Die Öffentlichkeit Gottes, 319. Dieser Gedanke wird näher ausgeführt in V. GERHARDT, Sinn des Sinns, 209-266. Vgl. Die Öffentlichkeit Gottes, 309. Vgl. EBD., 315. Eine solche „rationale Theologie“ wird hier in Abgrenzung zu einer „negativen Theologie“ konzipiert; vgl. EBD., 319.
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des Daseins mit unserem Wissen um die Welt und uns selbst kompatibel ist.10 Es lässt sich so reformulieren: Kompatibilitätsargument: P1: Es kann zwischen einem aufgeklärten und einem unaufgeklärten Glauben unterschieden werden. P2: Ein aufgeklärter Glaube ist mit Wissen kompatibel. Konklusion: Also ist der Glaube an einen göttlichen Grund des Daseins mit unserem Wissen um die Welt und uns selbst kompatibel. Die mit P1 eingeführte Distinktion erlaubt es Gerhardt, sich von einer pauschalen Religionskritik zu distanzieren: Die allgemeine These, dass das Wissen dem Glauben an einen göttlichen Grund des Daseins keinen Raum lässt, ist falsch, weil sie nicht zwischen einem „aufgeklärten“ und einem „unaufgeklärten“ Glauben unterscheidet. Eine besondere Begründungslast trägt somit P2. Damit die in P1 eingeführte Unterscheidung seine Konklusion stützt, muss er Überlegungen nennen, die für die Wahrheit von P2 sprechen. Diese Überlegungen, die ich das „Kontingenzargument“ nenne, liefert Gerhardt auch: Wir können das stetig ansteigende Wissen nicht auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüfen, sondern müssen an das Wissen „glauben“, also postulieren, das es wahr bzw. verlässlich ist.11 „Glaube“ ist also ein notwendiges Korrelat zum Wissen des modernen Menschen um die Welt und sich selbst. Man könnte es vielleicht auch so formulieren: „Glaube“ ist der Modus des Wissens kontingenter Wesen, er ist der „Horizont“ unseres Wissen-Könnens, eine Art Einstellung zum Wissen. Für die Wahrheit von P2 – also die Kompatibilität von Wissen und aufgeklärtem Glauben – spricht also eine transzendental gewendete Analyse der Bedingungen menschlichen Wissen-Könnens. „Aufgeklärt“ ist daran, dass der Mensch in der Reflexion und Rekonstruktion des Erkennens der Welt und seiner selbst anerkennen muss, dass er als kontingentes Wesen nur wissen kann, wenn er auch zu glauben bereit ist. Während Gerhardt mit seinem Kompatibilitätsargument in einer eher formalen Weise seine dialektische These begründet, finden sich bei ihm
10 11
Vgl. EBD., 308-315. Vgl. EBD., 308f.
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auch inhaltliche Überlegungen, die ich als „existentielles Gottesargument“ betitle und im Folgenden rekonstruiere. Ziel dieses Arguments ist es, die Behauptung zu begründen, dass eine rationale Verständigung über den Status unserer Rede von „Gott“ bzw. dem Göttlichen möglich ist, was wiederum eine notwendige Bedingung für Gerhardts konstruktive These von der „Öffentlichkeit Gottes“ und ihrer Bedeutung für das menschliche Zusammenleben darstellt. Doch zunächst zu Gerhardts existentiellem Gottesargument: Existentielles Gottesargument: P1: Die Sinndimension menschlicher Existenz konstituiert sich aus dem notwendigen Zusammenspiel von Wissen und Glauben. P2: Die Konstitution dieser Sinndimension ist unabhängig von einem unaufgeklärten bzw. metaphysischen Gottesbegriff. P3: Die Frage nach dem Sinn bzw. der sinnhaften Dimension seiner Existenz stellt sich für jeden wissenden Menschen notwendigerweise (folgt aus P1 und dem Kontingenzargument). Konklusion: Also ist eine rationale „Theo-Logie“ in der Bedeutung einer Verständigung über den „Sinn des Sinns“ möglich. Akzeptiert man Gerhardts Kompatibilitäts- und Kontingenzargument, dann erscheint es äußert plausibel auch P1 als wahr anzuerkennen. Neu ist hier die Einführung des Begriffs „Sinn“, der als eine Art von Fundament oder Grund definiert wird auf dem Glaube und Wissen miteinander agieren. 12 „Sinn“ im menschlichen Leben entsteht aus dem „Grenzverkehr“ zwischen „verlässlichem Wissen“ und „vertrauensvoll angenommenen Glauben“13. Kontroverser erscheint P2 mittels derer Gerhardt seine wiederum eher formale Argumentation für die notwendige Sinndimension menschlicher Existenz von P1 gegenüber „unaufgeklärten bzw. metaphysischen“ Positionen abzugrenzen trachtet, die einen Bezug auf „Gott“ für konstitutiv erachten, um sinnvoll von der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz sprechen zu können.
12 13
Vgl. EBD., 310-312. Vgl. EBD., 312.
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Meines Erachtens stützt Gerhardt P2 mit zwei Überlegungen. Eine erste Überlegung mutet pragmatisch an: Weltbewältigung gelingt auch ohne eine metaphysische Gottesvorstellung.14 Anders formuliert: Es scheint problemlos möglich, das eigene Leben in der Interaktion mit sich selbst und der Welt als sinnhaft zu erfahren, ohne dass dafür ein Bezug auf eine metaphysische Gottesvorstellung oder ein aus ihr abgeleitetes objektives „Koordinatensystem der alltäglichen Weltorientierung“15 von Nöten wäre. Eine zweite Überlegung zur Plausibilisierung von P2 hingegen erscheint mir kontroverser als Gerhardts Ausführungen auf den ersten Blick vermuten lassen, weil er hier ein kontroverses Verständnis von Religion und der Rationalität religiöser Aussagen einführt. Religiöse Aussagen scheinen für Gerhardt eine ausschließlich symbolisch-expressive Funktion der subjektiven Selbst- und Weltdeutung zu haben.16 An jüngere Ausführungen von Jürgen Habermas angelehnt muss dort, wo Religion Sachverhaltsbeschreibungen mit objektivem Anspruch formuliert, eine Art von „Übersetzungsarbeit“ geleistet werden.17 Dass dies manchmal erforderlich ist, leitet sich meiner Ansicht nach schon aus einem adäquaten Verständnis der entsprechenden religiösen Texte selbst ab, die oft eben nicht primär die naturwissenschaftliche Frage des „Wie“, sondern des „Warum“ beantworten wollen (denken wir z.B. an den Schöpfungsbericht der Bibel). Problematisch erscheint mir aber, wenn Habermas oder Gerhardt allen religiösen Aussagen mit diesem „Übersetzungsanspruch“ einen kognitivobjektiven Anspruch jenseits subjektiver Weltdeutung und -interpretation absprechen. Die möglichen Spannungen zwischen einem religiösen und einem rein naturalistisch-naturwissenschaftlichen Weltbild erscheinen mir hier zu Gunsten eines Naturalismus aufgelöst, indem der Anspruch der Religion auf eine rationale Selbst- und Weltbeschreibung auf die interpretativsubjektive Sphäre reduziert wird. Verlässliche und objektive Sachverhaltsbeschreibungen sind wohl nur von der Naturwissenschaft zu erwarten. Bevor ich mit der Rekonstruktion von Gerhardts Argumentation fortfahre, möchte ich nur zwei mögliche Kritikpunkte an dieser Plausibilierungsstrategie von P2 kurz erwähnen: Wie oben schon angedeutet, scheint
14 15 16 17
Vgl. EBD., 312f. Vgl. EBD., 312. Vgl. EBD., 313. Vgl. EBD.
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Gerhardts „Rettung“ der Religion bzw. der Rationalität religiöser Aussagen erstens ein reduktives und damit kontroverses Religionsverständnis vorauszusetzen, was noch einmal eigens gegen Einwände verteidigt werden müsste. Doch selbst wenn man Gerhardts Religionsverständnis zustimmen würde, bliebe zweitens zu fragen, ob mit diesem „Übersetzungsprogramm“ nicht entscheidende und unverzichtbare „Stimmen“ religiöser Akteure für den demokratischen Diskurs verloren gehen, weil sich die „normative Kraft“ oder „Dimension“ bestimmter religiöser Aussagen eben aus ihrer Bindung an objektive Sachverhaltsbeschreibungen ableitet, die verloren geht, wenn man sie als rein subjektiv-interpretative Aussagen mit expressiver Funktion reduziert. Ein Beispiel: Für Christen leitet sich die normative Idee der unverlierbaren und absoluten Würde eines jeden Menschen aus der Überzeugung ab, dass es eine objektive Tatsache ist, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Die grundlegende Gleichheit und Würde jedes einzelnen Menschen – die sich in den Menschenrechten ausbuchstabiert – ist eben keine menschliche Setzung, die als eine mögliche und subjektive Interpretation der conditio humana zur Disposition gestellt werden könnte, sondern die Geltung dieser normativen Ideen leitet sich aus einer religiösen Sachverhaltsbeschreibung über die Welt, Gott und den Menschen ab, die beansprucht, wahr und objektiv zu sein. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass eine derartige realistische Begründungstrategie von menschlicher Würde und von Menschenrechten ausschließlich oder notwendigerweise auf religiöse Überzeugungen Bezug nehmen muss. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass eine solche „religiöse Stimme“ und mögliche Begründungsstrategie für Menschenrechte notwendigerweise im demokratischen Diskurs verstummen müsste, wenn man das von Gerhardt bzw. Habermas vorgeschlagene Übersetzungsprogramm konsequent umsetzt.18 Die Reduktion von Religion auf die Funktion
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Hier könnte man einwenden, dass nicht einsichtig ist, warum dadurch eine solche „religiöse Stimme“ in einer Demokratie notwendigerweise zum Verstummen gebracht wird. Da derartige religiöse Überzeugungen ja niemandem zu schaden scheinen, spricht zunächst einmal nichts dagegen, dass sie auch öffentlich geäußert werden dürfen, selbst wenn man sie für irrational oder „unaufgeklärt“ hält. Ich möchte meine Überlegung deshalb folgendermaßen präzisieren: Wo derartige religiöse Stimmen notwendigerweise verstummen müssen, ist der politische Diskurs, in dem es um die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt geht. Die Argu-
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individueller Weltorientierung scheint nur zum Preis des Verlustes der normativen und prophetisch-sozialkritisch-gesellschaftlichen Dimension von Religion zu haben zu sein. In einer gewissen dialektischen Ironie lässt sich mit Marx und Feuerbach aber fragen, warum man sich mit einem solch schalen Religionsdestillat in der Opiumhöhle individueller Selbstfindung und -interpretation zufrieden geben sollte, wenn ein ungestrecktes Religionsverständnis nicht nur zur Interpretation der bestehenden Verhältnisse befähigt, sondern auch die normative Kraft hat, zu ihrer Veränderung zu motivieren. Dieser kleine kritische Exkurs über Gerhardts existentielles Gottesargument und dessen Anspruch zu zeigen, dass eine rationale „Theo-Logie“ – also eine rationale Verständigung über den Status unserer Rede vom Göttlichen – möglich ist, leitet nun zur Rekonstruktion von Gerhardts „konstruktiver These“ von der Öffentlichkeit Gottes über. Die Begründung der „dialektischen These“ mittels des existentiellen Gottesarguments bereitet gemäß meiner Interpretation sozusagen erst das Terrain, auf dem Gerhardt dann seine konstruktive These entfalten kann. Für meine bisherige Interpretation von Gerhardts Gedankengang spricht im übrigen auch, dass man seine Argumentation für die Öffentlichkeit Gottes als einen Versuch lesen kann, die soziale und politische Dimension seiner Funktionsbestimmung von Religion bzw. Theologie herauszuarbeiten. Vor dem Hintergrund des von mir weiter oben skizzierten Vorwurfs, dass Gerhardts Religionsverständnis zu einer Entpolitisierung von Religion führt, religiösen Überzeu-
mente, die diese Stimmen formulieren, dürften keine Rolle mehr spielen im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung, weil sie dem von Gerhardt und Habermas formulierten Rationalitätsmaßstab für religiöse Aussagen nicht genügen. Dieser Rationalitätsmaßstab besagt eben, dass nur dann vernünftig und öffentlich von „Gott“ gesprochen werden kann, wenn religiöse Aussagen, die die Form objektiver Sachverhaltsbeschreibungen haben, als subjektiv-interpretative Sinnaussagen reformuliert werden. Um eine Rolle im öffentlichen Prozess der Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt spielen zu dürfen, müssen religiöse Überzeugungen also die Bedingung erfüllen, dass in der als „öffentlich“ definierten Weise über sie gesprochen werden kann. Genau dies bedeutet aber, dass die Argumente, die die oben skizzierte religiöse Stimme formuliert, die mit einem Rekurs auf theologische Ideen wie „Schöpfung“ und „Gottesebenbildlichkeit“ Menschrechte zu begründen versucht, keine Berücksichtigung mehr finden dürfen und sie so de facto zum Verstummen gebracht wird im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt. Ich danke Georg Sans für diesen kritischen Einwand.
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gungen ihre normative Kraft nimmt und damit im demokratischen Diskurs wichtige – sozialkritische und prophetische – normative Stimmen zum Verstummen bringt, können seine Ausführungen über die Öffentlichkeit Gottes also als eine antizipierende Replik gelesen werden, die eben nachzuweisen versucht, dass die Rede von Gott als „Sinn des Sinns“ nicht privatistisch misszuverstehen ist, sondern sie eine immanent soziale und politische Dimension hat, eben weil sie notwendigerweise öffentlich ist. Zentral für die Begründung der These von der notwendigen Öffentlichkeit Gottes scheint mir ein zweistufiger Gedankengang Gerhardts, dessen ersten Schritt ich als „Implikationsargument“ bezeichnen möchte.19 Implikationsargument: P1: „Wissen“ ist strukturell mit dem Anspruch verknüpft, öffentlich zu sein. P2: „Gott“ besitzt notwendigerweise die Eigenschaft der Allwissenheit. Konklusion: Wenn Gott allwissend ist, dann hat er den Anspruch öffentlich bzw. für den Menschen erkennbar zu sein. Gerhardt scheint zunächst durchaus Sympathie für diese Möglichkeit zu haben, die These von der Öffentlichkeit Gottes mittels eines Rekurses auf die traditionelle Vorstellung von der Allwissenheit Gottes zu begründen, denn er verteidigt sie gegen mehrere Einwände.20 Letztlich steht ihm dieser Weg aber nicht offen, weil der mit P2 eingeführte (metaphysische) Gottesbegriff eben „unaufgeklärt“ ist und deshalb sowohl die Wahrheit von P2 des Kompatibilitätsarguments negiert, als auch die Plausibilität von P2 des existentiellen Gottesarguments unterminiert. Die zweite Stufe seines Begründungsgangs für die These von der Öffentlichkeit Gottes besteht in einem positiv gewendeten Anthropomorphismusargument21, welches ich so rekonstruiere:
19 20 21
V. GERHARDT, Die Öffentlichkeit Gottes, 315. Vgl. EBD., 315f. Vgl. EBD., 319. Mehr zu dieser argumentativen Strategie ist zu finden in V. GERHARDT, Sinn des Sinns, 216-266.
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Anthropomorphismusargument: P1: Die Sinndimension menschlicher Existenz in der Welt konstituiert sich aus dem notwendigen Zusammenspiel von Wissen und Glauben. 22 P2: Im Nachdenken über den Sinn seines Daseins in der Welt kann der Mensch Gott als „das Ganze“ oder „die Einheit“ jener Welt denken, in der er als Mensch nach dem Sinn seiner Suche nach Sinn fragt.23 K(onklusion) 1: Der Begriff „Gott“ bezeichnet nicht ein (metaphysisch) transzendentes Wesen, welches jenseits der für den Menschen zugänglicherkennbaren und denkbaren Welt existiert, sondern vielmehr die menschlich-rationale Idee eines „Sinn des Sinns“, also eines „in sich bedeutungsvollen Ganzen der Welt“, die notwendigerweise gedacht werden muss, wenn der Mensch nach dem subjektiven Sinn seines Daseins in der Welt und im Vollzug seiner Existenz in der Auseinandersetzung mit der Welt fragt.24 K2: Die Rede von „Gott“ als „Sinn des Sinns“ (K1) ist notwendigerweise öffentlich, weil sich die menschliche Sinnsuche im Zusammenspiel von „Wissen“ und „Glauben“ in der Welt vollzieht (P1), also notwendigerweise eine öffentliche Zugänglichkeit und Erkennbarkeit der Welt voraussetzt (P2). P3: Die wesentliche Funktion einer Rede von der Öffentlichkeit Gottes besteht darin, die Öffentlichkeit der Welt zu symbolisieren, also auf jene „Ganzheit“ und „Einheit“ zu verweisen, auf die der Mensch im Nachdenken über den Sinn seiner Suche nach einem persönlichen Daseinssinn unwiderruflich stößt.25 K3: Durch die Rede von der Öffentlichkeit Gottes wird der Mensch auf das „Ganze“ bzw. die „Einheit“ der Welt verwiesen (P3; K1) und wird sich al-
22 23 24 25
V. GERHARDT, Die Öffentlichkeit Gottes, 312. Vgl. EBD., 319. Vgl. EBD., 319f. Vgl. EBD. 319.
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lein damit bewusst, dass er sein individuelles Handeln vor der Welt bzw. „dem Ganzen der Menschheit“ zu verantworten hat.26 K4: Da eine solche Rede von der Öffentlichkeit Gottes keinen unaufgeklärten oder metaphysischen Gottesbegriff voraussetzt, sondern aus dem rationalen Nachdenken des Menschen über die Bedingungen der Möglichkeit seiner existentiellen Daseinsdeutung resultiert (K1), birgt ein solcher „Glaube“ bzw. eine solche „Vernunftreligion“ ein zweifaches Potential: a) Zum einen kann sie den Menschen zu einem Vertrauen in die grundlegende Offenheit der Welt für seine individuelle Sinnsuche ermutigen.27 b) Zum anderen kann sie gerade für diejenigen Hoffnung und Trost sein, die eine konkrete Welt erfahren, die sich für ihre Existenz nicht als offen erweist und deren Übernehmen von Verantwortung für sich, den Nächsten und die Welt sie solches Leid erfahren lässt, dass sie guten Grund haben, am Glauben an einen „Sinn des Sinns“ zu zweifeln.28
D REI KRITISCHE ANMERKUNGEN P ERSPEKTIVE
AUS THEISTISCHER
Nach dem bescheidenen Versuch, die sprachgewaltigen Ausführungen Gerhardts in drei Thesen und entsprechenden Argumenten einzufangen, möchte ich mir in einem letzten Schritt erlauben, drei kritische Anmerkungen aus theistischer Sicht zu formulieren.29 Überprüft werden soll mit der
26 27 28 29
Vgl. EBD. Vgl. EBD., 320. Vgl. EBD., 322. Unter dem Begriff „Theismus“ verstehe ich eine religionsphilosophische Position, die behauptet, dass folgende Aussagen wahr sind: (1) Etwas, das als „Gott“ bezeichnet wird, existiert. (2) Dieses Etwas besitzt bestimmte Eigenschaften wie z.B. Allgüte, Allwissenheit, Allmacht etc. (3) „Gott“ ist nicht identisch mit der „Welt“. (4) „Gott“ nimmt irgendwie Anteil und Einfluss auf das Weltgeschehen. Mehr zu diesem Terminus und seiner Abgrenzung zu anderen Positionen ist z.B. zu finden bei LÖFFLER, WINFRIED, Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 22013, 31-34. Insbesondere Punkt (3) – also die Abgrenzung eines Theismus von einem Pantheismus – scheint mir für eine kritische Auseinandersetzung mit Gerhardts
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bewussten Einnahme eines partikulären Standpunkts, inwieweit sich Gerhardts Ausführungen über die Öffentlichkeit Gottes mit den reflektierten Überzeugungen von religiösen Menschen aus der jüdisch-christlichen Tradition – also einer Teilmenge der adressierten Öffentlichkeit – widerspruchsfrei vereinbaren lassen. Meine beiden ersten Kritikpunkte beziehen sich auf Gerhardts Verhältnisbestimmung von „Glaube“ und „Wissen“. Mir scheint, dass er zur Begründung seiner dialektischen These – also der These von der Vereinbarkeit eines aufgeklärten Glaubens mit dem Wissen – entweder mit einem Glaubensbegriff operiert, der zu formal ist, um dies leisten zu können, oder aber einen inhaltlichen Glaubensbegriff einführt, der für Theisten nicht akzeptabel ist, weil er zu reduktiv ist. Ich möchte mit einer Standardanalyse des Begriffs „Wissen“ beginnen, um dies aufzuzeigen:
religionsphilosophischem Entwurf entscheidend, weshalb ich versuchen möchte, diesen Punkt hier noch einmal etwas präziser zu fassen. In der Tradition eines christlichen Theismus könnte man die in Punkt (3) ausgesagte Nicht-Identität zwischen „Gott“ und „Welt“ in modaler Weise ausdrücken: „Gott“ bezeichnet das, was notwendig existiert, während der Begriff „Welt“ die Gesamtheit oder Summe der Dinge bezeichnet, die nur in einer kontingenten Weise existieren. Eng damit zusammen hängt ferner die theistische Vorstellung einer asymmetrischen ontologischen Abhängigkeit zwischen „Gott“ und „Welt“: Gott ist der Grund für die Existenz und den Fortbestand der Welt, aber wenn es die Welt nicht (mehr) gäbe, würde Gott nicht aufhören zu existieren. Meine kritische Anfrage, ob Gerhardts religionsphilosophisches Projekt sich als offen genug für theistische Gläubige erweist, lässt sich vielleicht auf die Frage reduzieren, ob Gerhardts Ansatz sich als fähig erweist, sich in einer für Theisten befriedigenden Weise von einem Pantheismus abzugrenzen. Ich bin Georg Sans zu Dank verpflichtet für seine kritischen Anmerkungen zu meinem Begriff von „Theismus“, die mich zu diesem Präzisierungsversuch veranlasst haben und verdanke der Lektüre seiner Rezension von Gerhardts Der Sinn des Sinns die Aufmerksamkeit auf die Frage des Pantheismus, vgl. SANS, GEORG, „Der Sinn des Sinns – Volker Gerhardt befragt das Göttliche“, in: Stimmen der Zeit 1 (2015), Bd. 233. Es wäre an dieser Stelle interessant zu untersuchen, ob Gerhardt mit der Wahl seiner epistemologischen Herangehensweise an die Gottesfrage und der daraus resultierenden Identifikation von „Gott“ als „Sinn des Sinns“ nicht eine Reduktion ontologischer Fragestellungen auf epistemologische vornimmt, die Maurizio Ferraris als „transzendentalen Fehlschluss“ (d.h. die Verwechslung von „Sein“ und „Wissen“) bezeichnet, vgl. FERRARIS, MAURIZIO, Manifest des neuen Realismus, Frankfurt a.M. 2014, 33-55, hier: 34.
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Standardanalyse des Wissensbegriffs 30 Eine Person S weiß, dass p genau dann wenn gilt: (1) Die Überzeugungsbedingung ist erfüllt = S ist davon überzeugt, dass p, d.h. S glaubt (im Sinne einer propositionalen Einstellung), dass Sätze mit dem Inhalt p wahr sind. (2) Die Wahrheitsbedingung ist erfüllt = Es ist der Fall, dass p, d.h. das, was S glaubt, ist wahr. (3) Die Rechtfertigungsbedingung ist erfüllt = S’ Glaube, dass p der Fall ist, ist gerechtfertigt. Den Glaubensbegriff, den Gerhardt in seinem Kompatibilitäts- und Kontingenzargument verwendet, um DT zu begründen, bezeichne ich als „epistemisch-formalen Glauben“ (EFG), weil er meiner Ansicht nach die Einsicht einer Standardanalyse des Wissensbegriffs reformuliert, dass „Wissen“ nur dann vorliegen kann, wenn die Überzeugungsbedingung (1) erfüllt ist. „Wissen“ kann man eben nur, wenn man auch „glaubt“, weil zu jeglichem „Wissen“ die Einnahme einer propositionalen Einstellung erforderlich ist. Mein erster Kritikpunkt lautet nun, dass ein solcher Begriff von „Glaube“ zu formal und damit zu schwach ist, um seine dialektische These begründen zu können. Anders als Gerhardt anzunehmen scheint, ist mittels EFG noch nicht die Vereinbarkeit von religiösem Glauben und Wissen erwiesen, denn EFG wird weder der fiduziellen (z.B. „Ich glaube an Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat“), noch der doxastischen Dimension (z.B. „Ich glaube, dass Gott Jesus Christus von den Toten auferweckt hat“) theistischen Glaubens gerecht.31 Religiöser Glaube in seiner fiduziellen Dimension lässt sich nicht auf einen rein epistemisch-formalen Glaubensbegriff reduzieren, weil es beim religiösen Glauben um eine
30
31
Ich orientiere mich hier an der Darstellung von GABRIEL, MARKUS, Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg 22013, 36. Mehr zur Unterscheidung von „fiduziellem“ und „doxastischem“ Glauben und insgesamt gute Überblicke für die Thematik „Glaube/ Wissen“ finden sich in VALENTINI, DONATO/ SECKLER, MAX, „Glaube und Wissen/ Denken“, in: Lexikon für Theologie und Kirche; KASPER, WALTER et al. (Hg.), Freiburg i. B. 1993-2001, 693-696; MALY, SEBASTIAN, „Glauben und Wissen“, in: Schmidt, Thomas/ Pitschmann, Annette (Hg.), Religion und Säkularisierung – Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014, 291-304.
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propositionale Einstellung (Fiduzialglaube) gegenüber bestimmten inhaltlichen Aussagen über Gott, die Welt und den Menschen geht (doxastischer Glaube). Religiösen Glauben mit EFG gleichzusetzen, hieße aber gerade, den Glaubensakt (fides qua creditur) vom Glaubensinhalt (fides quae creditur) zu trennen. Ein Glaubensakt im Sinne von EFG ist als propositionale Einstellung formal gesehen indifferent gegenüber dem, auf das er sich als Geglaubten bezieht. Dies ist bei einem religiösen Glauben im theistischen Sinne nicht der Fall, weil er sich gerade dadurch definiert und gegenüber anderen religiösen wie nicht-religiösen Glaubensweisen abgrenzt, dass der Glaubensakt sich auf bestimmte Glaubensinhalte bezieht. Mein erster Kritikpunkt besagt also, dass der Glaubensbegriff, den Gerhardt in seinem Kompatibilitäts- und Kontingenzargument verwendet, aus theistischer Sicht zu formal ist und er deswegen – anders als von ihm beansprucht – nicht die Vereinbarkeit von religiösem Glauben und Wissen erwiesen hat. Die Begründung seiner dialektischen These ist damit – aus theistischer Sicht – unbefriedigend, weil der hier verwendete Glaubensbegriff in seiner Formalität wesentliche Dimensionen religiösen Glaubens nicht erfasst und berücksichtigt. Hierauf könnte Gerhardt erwidern, dass meine Kritik ins Leere läuft. Denn er weist ausdrücklich darauf hin, dass sein Nachdenken über den Sinn des Sinns offen ist für theistische Vorstellungen und Interpretationen. 32 Eben mittels dessen, was ich oben als „existentielles Gottesargument“ rekonstruiert habe, habe er gezeigt, dass auch ein theistischer Glaube und ein theistisches Sprechen über „Gott“ mit dem „Wissen“ vereinbar und damit auch rational und für aufgeklärte Menschen möglich sein kann. Mein zweiter Kritikpunkt lautet deshalb, dass man Gerhardts Ausführungen zwar so lesen kann, dass er mit dem Begriff „Sinn“ einen zweiten, inhaltlich füllbaren Begriff von „Glauben“ einführt, dies aus theistischer Perspektive aber wiederum zu keiner befriedigenden Begründung seiner dialektischen These führt, weil dieser „Sinn-Glaube“ Theisten die Aufgabe ontologischer commitments aufnötigt, die ihr Glaubensverständnis impliziert. Bevor ich diesen Gedankengang entwickle, gilt es zunächst meine These zu plausibilisieren, dass Gerhardts Begriff von „Sinn“ als eine Substituierung für einen inhaltlich gefüllten oder füllbaren Begriff von „Glauben“
32
Vgl. V. GERHARDT, Die Öffentlichkeit Gottes, 310, 312f., 318f.
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verstanden werden kann. Wie ich oben mit der Rekonstruktion des existentiellen Gottesarguments aufgezeigt habe, ist „Sinn“ für Gerhardt etwas, das über die rein epistemisch-formale Dimension des „Glaubens“ hinausgeht. Anders als mit der rein formalen Beziehung von EFG zu „Wissen“ scheint „Sinn“ in einer hermeneutischen oder interpretativen Relation zum Wissen zu stehen. Man könnte es vielleicht so ausdrücken, dass „Sinn“ nicht auf einer Ebene mit „Wissen“ angesiedelt ist, sondern „Sinn“ in einem transzendentalen Verhältnis zu „Wissen“ steht und die Funktion des Sinns eben ist, das Wissen zu interpretieren und der Welt des Subjekts damit Bedeutung zu verleihen. Es ist auf dieser transzendentalen „Sinn-Ebene“, auf der Gerhardt meines Erachtens nun die Religion ins Spiel bringt und einen anderen Anlauf nimmt, um seine dialektische These von der Vereinbarkeit von „Wissen“ und einem solchen „Sinn-Glauben“ zu begründen. Bescheidet sich nämlich der religiöse Glaube auf die Funktion eines solchen „Sinn-Glaubens“, d.h. ist er bereit, seine metaphysischen Ansprüche auf wahre Sachverhaltsbeschreibungen aufzugeben, dann ist er ohne Probleme mit dem „Wissen“ einer aufgeklärten Welt vereinbar. Ein theistischer „Glaube“ kann in einer Welt aufgeklärten „Wissens“ auf der Ebene der subjektiven Interpretation, der Deutung des Wissens, Platz haben, aber eben nicht mehr auf der objektiven Ebene der Sachverhaltsbeschreibungen.33 Ein religiöser Glaube ist mit dem Wissen vereinbar, wenn er sich auf seine transzendentale bzw. hermeneutische Aufgabe der sinnhaften Interpretation des Wissens beschränkt.34
33 34
Vgl. EBD., 314. Für meine kritischen Anfragen habe ich einen theistischen Standpunkt gewählt. Allerdings wird an dieser Stelle besonders deutlich, dass diese Kritik auch als eine metametaphysische Kritik reformuliert werden könnte, also als eine Kritik an der kantischen Metaphysik, die Gerhardts religionsphilosophischer Ansatz voraussetzt. Mit Tuomas Takho gesprochen, wäre meine Kritik an Gerhardts Religionsphilosophie dann als eine Kritik an der kantischen Metaphysik und ihren Kategorien des Verstehens zu reformulieren, die aus Sicht einer (neo-)aristotelischen Metaphysik nicht in der Lage ist, kategoriale Unterscheidungen des Seins adäquat abzubilden, die es braucht, um z.B. der Vorstellung einer Nicht-Identität und ontologischen Differenz von „Gott“ und „Welt“ gerecht zu werden: „We may also contrast Aristotelian metaphysics with Kantian metaphysics: categories are central to both, but in Aristotelian metaphysics they are categories of being whereas in Kantian metaphysics they are categories of understanding.“, TAHKO, TUOMAS, Introduction, in: Ders. (Hg.),
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Eine solche Verhältnisbestimmung von religiösem Glauben als „SinnGlaube“ und „Wissen“ mag auf den ersten Blick äußerst attraktiv erscheinen, dennoch meine ich, dass Theisten mindestens zwei gute Gründe haben, gegen diese Reinterpretation ihres Glaubens als „Sinn-Glaube“ und die damit verbundene Platzzuweisung in einer aufgeklärten Welt zu protestieren. Den ersten Grund habe ich schon weiter oben unter dem Stichwort „Entpolitisierung“ diskutiert und möchte ihn hier nur kurz in Erinnerung rufen. Die Frage ist, ob es sich bei einer religiösen Überzeugung wie z.B. „Der Mensch ist als Gottes Ebenbild geschaffen“ wirklich nur um eine Interpretation der conditio humana handelt, oder ob diese Überzeugung nicht auch ontologische commitments impliziert. Ist es nicht gerade der Anspruch dieser Überzeugung, dass hier eine wahre und objektive Sachverhaltsbeschreibung über das Sein des Menschen, sein Wesen bzw. Natur vorgenommen wird, die den normativen Geltungsanspruch einer solchen Überzeugung erklärt? Dieses Beispiel dient hier freilich nur der Illustration der viel grundlegenderen Frage: Geht Theismus ohne Metaphysik bzw. welchen Preis hat eine solche transzendentale Reinterpretation des Theismus? Mein „Entpolitisierungs-Argument“ spricht für die Annahme, dass dieser Preis nicht nur für die entsprechenden Religionsgemeinschaften recht hoch ist, sondern auch für die säkulare Öffentlichkeit zu der sie gehören. Ein zweiter Grund den ich aus theistischer Perspektive gegen Gerhardts Versöhnungsvorschlag von religiösem Glauben als „Sinn-Glaube“ mit „Wissen“ vorbringen möchte, besagt, dass eine solche Funktionsbestimmung von Religion und Glaube nicht nur in einem inakzeptablen Sinne reduktiv ist, sondern dass ein solches reduktionistisches Verständnis von „Glaube“ letztlich auf einen inakzeptabel ontologisch reduktiven Begriff von „Wissen“ verweist. Gerhardt verlangt von Menschen mit religiösen Überzeugungen auf der einen Seite, scheinbar fragwürdige metaphysische commitments ihres Glaubens aufzugeben, während er auf der anderen Seite mit einem Wissensbegriff operiert, der ein commitment zu einer naturalistischen Ontologie bzw. Metaphysik impliziert. Meine kritische Rückfrage an Gerhardt lautet deshalb, ob es nicht denkbar ist, dass die Lösung des neuzeitlichen Problems des Verhältnisses von religiösem Glauben und Wissen nicht in einem Metaphysikverzicht der Religion besteht, sondern vielmehr
Contemporary Aristotelian Metaphysics, Cambridge: Cambridge University Press 2012, 1.
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in einer Korrektur einer inadäquaten – weil reduktiven – Metaphysik der aufgeklärten Moderne. Bevor ich andeute, wie ein solcher Alternativvorschlag aussehen könnte, gilt es jedoch kurz meine These zu plausibilisieren, dass Gerhardts Nachdenken über die Verortung des Sinns und den Sinn des Sinns in einer aufgeklärten Welt die Wahrheit eines Naturalismus bzw. einer naturalistischen Ontologie voraussetzt. Hauptanhaltspunkt ist für mich hier, dass es für Gerhardt scheinbar „Sinn“ in der Welt nur gibt, wenn und wo es erkennende und interpretierende Subjekte gibt. Eine solche Annahme erscheint auf den ersten Blick plausibel, sie ist aber metaphysisch betrachtet weder neutral noch unschuldig. Wenn man z.B. annimmt, dass es so etwas wie „Form“ und „Struktur“ in nicht-lebendigen Entitäten (z.B. chemischen Verbindungen) oder zielgerichtetes Verhalten lebendiger Wesen in der Welt auch gäbe, wenn Menschen gar nicht existierten, kann man dann nicht auch davon sprechen, dass es so etwas wie „Sinn“ auch außerhalb des menschlichen Bewusstseins in der Natur gibt? Gehört der Verweis auf gewisse teleologische oder finale Zusammenhänge in der Natur zu einer objektiven und adäquaten Erklärung von Vorgängen, oder ist „Teleologie“ immer etwas, was das individuelle Subjekt mittels der intentionalen Struktur seines Bewusstseins in die grundlegend nicht-teleologische bzw. mechanistische Natur hineininterpretiert? Nicht nur bestimmte anti-metaphysische bzw. anti-teleologische Formulierungen Gerhardts35, sondern insbesondere die hier rekonstruierte transzendentale Argumentation seines religionsphilosophischen Ansatzes sprechen dafür, dass er diese Fragen verneint, was wiederum ein starker Indikator dafür ist, dass sein Lösungsvorschlag für eine dialektische Versöhnung von Glaube und Wissen auf der impliziten Prämisse der Wahrheit eines Naturalismus gründet. Verbannt man teleologische Erklärungen im Sinne des Naturalismus aber gänzlich aus dem Bereich der Natur, dann reduziert sich die Menge objektivierbarer Sachverhaltsbeschreibungen allerdings in erheblichem Maße. Als eigentliches „Wissen“ kann dann nur gelten, was mittels einer naturwissenschaftlichen Methodik beschrieben und erklärt werden kann. Die letzte Zuflucht für die Entdeckung von „Sinn“ in der Welt bleibt dann das Bewusstsein des individuellen Subjekts.
35
V. GERHARDT, Die Öffentlichkeit Gottes, 310, 312, 318f .
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Trifft meine Interpretation zu, dann besteht das eigentliche Problem im Verhältnis von „Glaube“ und „Wissen“ nicht in den religiösen Sachverhaltsbeschreibungen und den in ihnen implizierten ontologischen commitments, die als ein antiquierter Fremdkörper in einer „aufgeklärten“ naturalistischen Beschreibung der Welt wirken, sondern eben bei einer antiteleologischen und mechanistischen Naturbeschreibung, die sich verabsolutiert und so etwas wie „Sinn“ nur noch als subjektive Interpretation dessen verstehen kann, was mittels der Naturwissenschaften gewusst werden kann. Die neuzeitliche Problematik des Verhältnisses von „Glaube“ und „Wissen“ resultiert nach meinem Dafürhalten aus einem reduktiven Wissensbegriff, der wiederum aus einer problematischen naturalistischen Ontologie herrührt. Anders als für Gerhardt liegt die Lösung dieser Problematik deshalb aus theistischer Sicht nicht in der von ihm vorgeschlagenen transzendentalen Reinterpretation des Glaubens, sondern in der Aufdeckung und Revision einer ideologischen Verengung des Wissensbegriffs. Es gilt nicht vorrangig „Gott anders zu denken“36 – dies sicherlich auch – sondern vielmehr die Welt bzw. die Natur. Ein dritter und letzter Kritikpunkt bezieht sich auf die Stabilität der Gerhardtschen Position bzw. die Viabilität seines Versöhnungsprojekts von Religion und aufgeklärter Moderne. Wie deutlich geworden sein sollte, unternimmt er mit seiner These von der „Öffentlichkeit Gottes“ den anspruchsvollen Versuch, mittels einer Kritik der aufgeklärten Religionskritik eine rationale und öffentliche Rede und Verständigung über Gott bzw. das Göttliche zu ermöglichen. Naturgemäß wohnt einem solchen Projekt eine erhebliche Spannung inne: Es darf nicht hinter die – berechtigte – Kritik der Aufklärung zurückfallen, muss sich aber als genügend offen für Menschen mit religiösen bzw. theistischen Überzeugungen erweisen. Die Kategorien des „Sinns“ und des „Sinn des Sinns“ scheinen hier auf den ersten Blick geeignet, um der Religion bzw. dem Glauben eine solche Brücke in die aufgeklärte Moderne zu bauen. Meine Kritikpunkte machen aber deutlich, dass sich zumindest für Menschen mit theistischen Überzeugungen die Frage stellt, ob sie nach dem Überqueren der Brücke noch dieselben sind, die sie vorher waren. Denn wie „offen“ ist Gerhardts Vorschlag wirklich? Inwieweit ermöglicht er eine rationale Verständigung über „Gott“ mit reflek-
36
Vgl. EBD., 318.
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tierten Theisten? Als Lackmustest kann die folgende theistische Gretchenfrage dienen: Lässt sich jenseits des existentiellen Daseinsvollzugs des Menschen sinnvoll von „Gott“ reden, oder konstituiert sich „das Göttliche“ vollständig durch menschliche Reflexionsleistungen? Mein dritter Kritikpunkt besagt nun, dass Gerhardt mit seinem Projekt einer öffentlichen Theologie vor einem Dilemma steht, welches dessen Instabilität anzeigt: Negiert er, dass sich „das Göttliche“ vollständig durch menschliche Reflexionsleistungen konstituiert, dann zeigt sich, dass sein transzendentaler Ansatz einer metaphysischen Grundierung und Reflexion bedarf, die er selbst nicht zu leisten im Stande ist. Bestreitet er hingegen, dass sich sinnvoll und rational über „Gott“ und dessen Existenz jenseits des existentiellen Daseinsvollzugs des Menschen reden lässt, dann wird deutlich, dass sein Projekt einer öffentlichen Theologie Vorbedingungen für eine rationale Verständigung über Themen wie „Gott“, „das Göttliche“, „Religion“ und „Glaube“ stellt, die von Menschen mit reflektierten theistischen Überzeugungen berechtigterweise zurückgewiesen werden können und dürfen.37 Es ist gerade die von Gerhardt anscheinend nicht sehr geschätzte bzw. sehr kritisch betrachtete Tradition „negativer Theologie“ innerhalb theistischer Re-
37
In Anlehnung an meine Ausführungen in den Fußnoten 29 und 34 könnte man diesen Punkt wiederum als eine metametaphysische Kritik formulieren. Die Gretchenfrage lautet dann, ob Gerhardt mit den epistemologischen Kategorien seiner kantischen Metaphysik in der Lage ist, in einer ontologischen Weise über „Gott“ bzw. „das Göttliche“ und sein Verhältnis zur Welt zu sprechen. Wenn Gerhardt negiert, dass es überhaupt Sinn macht, in einer solchen ontologischen Weise von „Gott“ zu sprechen, dann wird es in meinen Augen für ihn schwer, seine religionsphilosophische Position von einem Pantheismus abzugrenzen, während es für Theisten schwer wird, seinen Anspruch zu akzeptieren, dass er hier eine „öffentliche Theologie“ präsentiert, die als Grundlage für eine rationale Verständigung über Religion dienen kann. Gesteht er hingegen zu, dass ein Sprechen von „Gott“ jenseits von epistemologischen Kategorien sinnvoll sein kann – etwa, um die Differenz zwischen „Gott“ und „Welt“ auszudrücken –, dann wäre seine Religionsphilosophie zwar offen genug für Menschen mit theistischen Überzeugungen, allerdings wäre gleichzeitig erwiesen, dass sein transzendentaler Ansatz aus metaphysischer Sicht unvollständig bzw. ergänzungsbedürftig ist.
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ligionen, die davor warnt zu meinen, dass das, was wir als „Gott“ oder das „Göttliche“ bezeichnen, identisch ist mit dem, was „Gott“ ist.38
F AZIT Als Fazit kann Folgendes festgehalten werden: An Gerhardts konstruktivem Vorschlag für eine öffentliche Theologie in der von Gott als „Sinn des Sinns“ gesprochen werden kann, ist zunächst einmal zu würdigen, dass er sich darum bemüht zu zeigen, dass man in einer vernünftigen Weise auch unter den Bedingungen der aufgeklärten Moderne „glauben“ kann. Von seiner existentiellen Argumentation, die die Relevanz des „Glaubens“ für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens und Daseinsvollzugs aufzeigt, können meiner Ansicht nach nicht nur viele Fundamentaltheologen und analytische Religionsphilosophen etwas lernen, sondern jeder Gläubige, der im Dialog mit seiner säkularen Umwelt von seinen religiösen Überzeugungen und deren Relevanz für ein gelingendes Leben verständlich Rechenschaft ablegen will. Während diese konstruktive Stoßrichtung von Gerhardts religionsphilosophischem Projekt von vielen Menschen mit religiösen Überzeugungen als wohltuend intelligent und offen wahrgenommen werden dürften, so habe ich mit meinen kritischen Anmerkungen dargelegt, dass dieses Projekt sich für reflektierte Theisten als noch nicht offen genug darstellt und sich insofern als instabil erweist, als es den Anspruch hat, eine öffentliche Theologie zu formulieren, die für jeden vernünftigen Menschen akzeptabel ist. In meiner Analyse habe ich nachgezeichnet, dass die Ursachen für diese Instabilität in Gerhardts Begründung seiner dialektischen These zu finden sind. Es bleibt also die Frage, ob sich in der Diskussion von Gerhardts Vorschlag nicht gerade zeigt, dass eine Beschäftigung mit „Religion“ aus der Sicht der „Vernunft“ nicht nur erforderlich ist, weil die Aufklärung nicht zu einem Verschwinden der Religion geführt hat, sondern sich die Religion als konstitutives Element einer vernünftigen Weltanschauung entpuppt, die es
38
Vgl. EBD.
V OLKER G ERHARDTS ÖFFENTLICHE T HEOLOGIE | 345
der Vernunft ermöglicht, ihre eigenen Voraussetzungen zu hinterfragen und so davor bewahrt, zu einer Ideologie zu verkommen. 39
39
Mein Dank gilt Ralf Klein, Georg Sans und Sabine Scharnagl für das Korrekturlesen und die kritische Kommentierung des Manuskripts.
Autorinnen und Autoren
Breul, Martin, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Universität zu Köln. Promotion in Kath. Theologie an der Universität zu Köln, Forschungsschwerpunkte: Religionsphilosophie, Religiöse Epistemologie, Diskurstheorie, (Post-)Säkularismus. Gerhardt, Volker, Prof. Dr., Lehrstuhl für Philosophie an der HumboldtUniversität Berlin; Mitglied im Deutschen Ethikrat, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Politische Philosophie, Metaphysik und Philosophische Theologie. Goldstein, Warren S., Dr., Direktor des Center for Critical Research on Religion; lehrt Soziologie an der Harvard Universität; Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie, Säkularismus, Kritische Theorie, Religion und Marxismus. Honnacker, Ana, Dr., Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover; Promotion im Fachbereich Philosophie der GoetheUniversität Frankfurt; Forschungsschwerpunkte: Pragmatismus, Politik und Religion, Religion in der demokratischen Öffentlichkeit. Junker-Kenny, Maureen, Prof. Dr., Lehrstuhl für für Theologie am Department of Religions and Theology am Trinity College, Dublin; Vorsitzende der Confederal School of Religions, Theology and Ecumenics. Forschungsschwerpunkte: Religion und öffentliche Vernunft, Glaube in der Moderne, Diskursethik, Handlungstheorie.
348 | R ELIGION – ÖFFENTLICHKEIT – M ODERNE
Könemann, Judith, Prof. Dr., Lehrstuhl für Praktische Theologie (Religionspädagogik) an der Kath.-Theologischen Fakultät der WWU Münster, Mitglied im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster; Vorstandsmitglied im Centrum für Religion und Moderne. Forschungsschwerpunkte: Religion in der Moderne, Religion und Öffentlichkeit, Empirische Theologie, Rolle der Kirchen in der Öffentlichkeit. Liedhegener, Antonius, Prof. Dr., Lehrstuhl für Politik und Religion am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) an der Universität Luzern; Forschungsschwerpunkte: Politik und Religion in liberalen Demokratien, Zivilgesellschaft und Religion, religiöse Interessen in der EU. Meuth, Anna-Maria, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster Religion und Politik der WWU Münster, Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie, Intersektionalität von Religion/ Geschlecht/ Herkunft/ Klasse, Medizinsoziologie. Reder, Michael, Prof. Dr., Lehrstuhl für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Völkerverständigung an der Hochschule für Philosophie München. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie; Religionsphilosophie; Grundlage der Sozialwissenschaften. Schmidt, Thomas M., Prof. Dr., Lehrstuhl für Religionsphilosophie, Principal Investigator des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, Hauptantragssteller des DFG-Graduiertenkollegs „Theologie als Wissenschaft“. Forschungsschwerpunkte: Epistemologie religiöser Überzeugungen, Religion und Demokratie, Habermas über Religion, Religionsphilosophie des Pragmatismus. Weber, Anne, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kath. Theologie an der Universität Paderborn; Forschungsschwerpunkte: Interreligiöser Dialog, Kriterien interreligiöser Urteilsbildung, Diskurstheorie, Religion in der Spätmoderne. Wendel, Saskia, Prof. Dr., Lehrstuhl für Systematische Theologie am Institut für Kath. Theologie der Universität zu Köln, stellvertr. Direktorin der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Forschungsschwer-
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punkte: Religiosität und Religion in der späten Moderne, Begründungsproblematik des christlichen Glaubens, philosophische/ theologische Gotteslehre und Anthropologie, Christliche Mystik, „Gender“ und Religion. Zoll, Patrick SJ, Dr., Lehrbeauftragter für Politische Philosophie und Sozialethik an der Hochschule für Philosophie München. Promotion in Politischer Philosophie an der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Liberalismus und Perfektionismus, Öffentliche Rechtfertigung, Religionsphilosophie.
Religionswissenschaft Frederik Elwert, Martin Radermacher, Jens Schlamelcher (Hg.) Handbuch Evangelikalismus Januar 2017, ca. 380 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3201-9
Christiane Königstedt Frankreich und seine »Sekten« Konfliktdynamiken zwischen Katholizismus, Laizismus und Religionsfreiheit Juni 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3427-3
Tommi Mendel Common Roads – Pilgern und Backpacking im 21. Jahrhundert Buch und DVD Juli 2015, 152 Seiten, kart., mit DVD, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3019-0
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