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German Pages [767] Year 2020
Geist und 5 Geisteswissenschaft Hans Joas Jörg Noller (Hg.)
Geisteswissenschaft – was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Transformation
VERLAG KARL ALBER
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Boris Wandruszka
Metaphysik des Leidens
VERLAG KARL ALBER
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Seele, Existenz und Leben Band 35 Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie, Forschungskreis Lebensphänomenologie, Universität Freiburg i. Br und Department of Philosophy DePaul University, Chicago
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Boris Wandruszka
Metaphysik des Leidens Das Leiden und seine Stellung im Ganzen der Wirklichkeit
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Boris Wandruszka Metaphysics of Suffering Suffering and its position in the whole of reality In the book Philosophy of Suffering, published in 2009, Boris Wandruszka seeks to uncover that immanent structure of life and life dynamics that leads to the simplest and fundamental structural moments of suffering; therefore, this first »science of suffering« did not transcend the limits of intuitability, but remained in the »immanence of ›inner life‹ or experience«. In the current book Metaphysics of Suffering, the »real conditions of the possibility of suffering« will be determined: How must a world be constituted so that a suffering being can appear therein? It will be shown that human life, which is exposed to a plural-agonistic world, is not free of suffering, but that on the other hand suffering cannot be the last word, but is necessarily related to wholeness, maturation, salvation, and harmony. Only on the background of the tension between the absolute fullness of being, meaning and life and the always problematic and fragile participation of people in the »absolute and overpowering primal life« can suffering arise, be suffered, understood, but also overcome. Here the »sacrificial thought«, in which the inevitable suffering is freely accepted and thereby transformed, reaches its purest and highest form. Only after clarifying these conditions, the »theodicy question« as »the problem of problems« is tackled and discussed guided by Job’s story. Ultimately, it turns out that despite all the pain, lack, injustice and nonsense, a »potential of the infinite« is hidden within suffering, which refers to its overcoming through fulfillment of being, meaning and value, through action, knowledge and love and that these three »powers« need the challenge of suffering to explore their breadth, depth and height. The Author: Dr. phil, Dr. med. Boris Wandruszka, specialist in psychosomatics and psychotherapeutic medicine, Stuttgart, study of philosophy. Has been working on a »philosophy of suffering« for a long time, in which he seeks to bring together medicine, psychotherapy and philosophy.
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Boris Wandruszka Metaphysik des Leidens Das Leiden und seine Stellung im Ganzen der Wirklichkeit Im 2009 erschienenen Buch Philosophie des Leidens versucht Boris Wandruszka, jene immanente Lebensstruktur und Lebensdynamik aufzudecken, die zu den einfachsten und fundamentalen Strukturmomenten des Leidens vorstößt; diese erste »Wissenschaft vom Leiden« transzendierte daher nicht die Grenzen der Anschaubarkeit, sondern verblieb in der »Immanenz des ›inneren Lebens‹ bzw. des Erlebens«. In Metaphysik des Leidens werden die »realen Bedingungen der Möglichkeit von Leiden« ermittelt: Wie muss eine Welt beschaffen sein, damit darin ein leidendes Wesen erscheinen? Es wird gezeigt, dass menschliches Leben, das einer plural-agonalen Welt ausgesetzt ist, nicht leidfrei möglich ist, dass aber andererseits das Leid nicht das letzte Wort sein kann, sondern notwendig auf Ganzheit, Reifung, Erlösung und Harmonie bezogen ist. Nur auf dem Hintergrund der Spannung zwischen absoluter Seins-, Sinn- und Lebensfülle und der stets problematischen und fragilen Teilhabe von Menschen am »absoluten und leidüberwindenden Urleben« kann Leiden entstehen, durchlitten, verstanden, aber auch überwunden werden. Hier erreicht der »Opfergedanke«, in dem das unvermeidliche Leid frei angenommen und dadurch transformiert wird, seine reinste und höchste Ausformung. Erst nach Klärung dieser Verhältnisse wird die »Theodizeefrage« als »das Problem der Probleme« angegangen und am Leitfaden der Hiob-Erzählung diskutiert. Letztlich erweist sich, dass trotz allem Schmerz, Mangel, Unrecht und Unsinn ein »Potential des Unendlichen« im Leiden verborgen liegt, das auf seine Überwindung durch Sein-, Sinn- und Werterfüllung, durch Tat, Erkenntnis und Liebe verweist und dass diese drei »Mächte« der Leidensherausforderung bedürfen, um ihre Weite, Tiefe und Höhe auszuloten. Der Autor: Dr. phil., Dr. med. Boris Wandruszka, Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Stuttgart, Philosophiestudium. Arbeitet seit längerem an einer »Philosophie des Leidens«, in der er Medizin, Psychotherapie und Philosophie zusammenzuführen sucht.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49007-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82098-8
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»Et là, – c’est comme un nid sans plumes, sans chaleur … – On sourit avec des pleurs, et chante en grelottant …« »Und hier, hier ist ein Nest, aus dem die Wärme wich … – Durch Tränen lächelnd, mit frostbebendem Gesang …« (Arthur Rimbaud, Les Étrennes des Orphelins)
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Vorwort
Ein Werk wie dieses, das über einen Zeitraum von vierzig Jahren hinweg entstand, ist ein unabschließbares »work in process« und, insofern es an Klarheit, Differenziertheit und Tiefe gewinnt, ein »work in progress«. Zwar ist seine Thematik – die Ergründung des Phänomens »Leiden« – von mir ergriffen, aber nicht einfach frei gewählt worden. Vielmehr drängte es sich nach langen Jahren früher und wiederholter Traumatisierungen, unglücklicher familiärer Umstände, schwerer Krankheiten, falscher Lebensentscheidungen und allerlei akuter und chronischer Leiden so sehr auf, dass die Beschäftigung mit seiner Thematik eher einer Nötigung als einem freien Entschluss glich. Sein Zweck war darum zunächst die persönliche Bewältigung des Unausweichlich-Unerträglichen. Doch bald schon, etwa mit zwanzig Jahren, wurde klar, dass es sich nicht um ein zufälliges oder grausam-auferlegtes Schicksal handelte, das ich so schnell wie möglich loswerden musste, sondern um eine Aufgabe, deren Lösung nicht nur mir, sondern allen, die leiden, besonders denen, die in dieser Welt ohne Aussicht auf ein unbeschwertes und gelingendes Leben sind, zukommen sollte. Da ich selbst nicht nur viel durchzustehen hatte – und wohl mein restliches Leben noch durchstehen muss –, sondern mit den Studien der Medizin, Psychotherapie und der Philosophie – Letztere schon seit dem 14. Lebensjahr – Voraussetzungen schuf, die in dieser Konstellation besonders günstig für die gestellte Aufgabe waren, fühlte ich mich geradezu aufgerufen, an diese Arbeit heranzugehen. Als mir nach dem Abitur drei Fragen zur Leidensthematik aufgingen, wusste ich nicht nur, dass ich mich um diese Auseinandersetzung nicht herumdrücken konnte, sondern dass ich dafür ein ganzes Leben würde benötigen und einsetzen müssen. Ich schätzte die Zeitspanne, die für dieses Unternehmen benötigt würde, auf etwa vierzig Jahre. Die drei erwähnten Grundfragen zum Leiden lauteten:
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Vorwort
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Was sind Leid und Leiden überhaupt (quid malum et miseria)? Haben sie eine innere Struktur, d. h. eine Seinsbeschaffenheit, durch die sie sich charakteristisch von anderen Phänomenen wie Anstrengung, Mühsal, Schmerz, Krankheit, Übel, Arbeit, Glück und Erfolg usw. unterscheiden? Woher rühren Leid und Leiden letztlich (unde malum et miseria)? Wie muss ein Wesen bzw. wie muss das Universum beschaffen sein, dass darin Leid und Leiden möglich, vielleicht sogar nötig sind? Und schließlich: Wie kann und soll der Mensch mit den vielfältigen leiblichen, psychischen, sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen, religiösen und metaphysischen Leiden umgehen, so dass sie angemessen wahrgenommen, verstanden und bewältigt werden (quomodo laborare cum malo et miseria)?
Aus diesen drei Grundfragen zum Leiden ergaben sich drei Wissenschaften vom Leiden: 1.
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die Phänomenologie von Leid und Leiden, die sich mit der phänomenal zugänglichen – leiblichen, psychischen, sozialen und geistigen – Struktur von Leid und Leiden beschäftigt, d. h. mit ihrem charakteristischen »Wesen«; die Metaphysik von Leid und Leiden, die die vorletzten und letzten Bedingungen, Gründe und Quellen von Leid und Leiden aufdeckt, durch die die Herkunft und evtl. das Ziel von Leid, Übel und Leiden verständlich werden; und die Ethik von Leid und Leiden, die versucht, den hilfreichen bzw. dysfunktional-schädlichen Umgang mit dem Leiden herauszuarbeiten.
Entsprechend diesen drei Wissenschaften schrieb ich drei Bücher, von denen das erste veröffentlicht ist, die in ihrem Inhalt und Umfang, in ihrer Differenzierung und Methodik hohe Anforderungen an den Leser stellen und daher nicht ohne Mühe angeeignet werden können. 1 Daher lässt sich dieses Werk nicht mit populären Ratgebern vergleichen, deren Ziel es ist, schnell zu helfen. In meinem Werk ging es stets um mehr, nämlich um die Seins-, Sinn- und Wertfrage des Menschen in Bezug auf seine Stellung im Kosmos und im Leben überVgl. B. Wandruszka (2009: »Philosophie des Leidens. Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens«, Alber, Freiburg i. B.).
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Vorwort
haupt, die unmöglich an den Tatsachen von Unglück und Misserfolg, Schmerz, Verletzung und Krankheit, Glück, Sinn und Erfolg, Sinnlosigkeit, Unrecht, Sehnsucht und Erfüllung vorbei behandelt und beantwortet werden kann. Genau dieser Horizont bildete sich auch in der Werkentstehung selbst ab, die durch viele Hemmungen und Störungen, Fehlgriffe und Rückschläge, Ablehnungen und Tücken, durch Gleichgültigkeit, zorniges Missverstehen und überhebliche Zurückweisung behindert, letztlich aber dann doch genau dadurch, dass ich all dies annahm und daran zu wachsen versuchte, gefördert wurde. Zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr rang ich damit aufzudecken, was Leiden als solches überhaupt ist bzw. was eigentlich geschieht, wenn wir leiden. Da bis heute an diesem Punkt in der Geistes- und Philosophiegeschichte, in Psychologie und verwandten Wissenschaften, soweit ich dies erkunden konnte, keine durchdringenden und systematischen Arbeiten vorlagen – vielleicht von A. Schopenhauer und der buddhistischen Psychologie abgesehen –, stand ich vor einem schroffen und abweisenden Hochgebirge, das alleine und ohne Führer zu besteigen war. Entsprechend blieben Sackgassen, Abbrüche, Umwege, Fehlwege, Abstürze, »Erfrierungen«, Verzweiflungen und resignative Selbstaufgaben nicht aus. Doch letztlich kämpfte ich mich durch und fand im dreißigsten Lebensjahre die Lösung – der Gipfel des ersten und schwierigsten Teiles, der »Phänomenologie des Leidens«, war erstiegen! Und in der Tat war ich auf eine verborgene Struktur gestoßen, die so überraschend sinnig, komplex, tief, vor allem für Wesen und Stellung des Menschen im Ganzen so erhellend war, dass ich nur staunen und dankbar sein konnte. So war ich nicht nur von »guten Mächten wunderbar geborgen und getragen«, sondern auch ermutigt, gestützt und zu einem guten Ende geführt worden. Im Gegensatz zur »Phänomenologie des Leidens«, die ich originär und mit viel Mühen ermitteln und aufbauen musste, konnte ich im Falle der »Metaphysik des Leidens« auf viel Vorarbeit zurückgreifen, vor allem auf die »Grundlegung der Philosophie« (1965–1971) meines wichtigsten Lehrers, des deutsch-ungarischen Philosophen Béla Freiherr von Brandenstein (1901–1989). Trotzdem erwies sich diese Arbeit keineswegs als leicht, sie hatte ihre eigenen Schwierigkeiten, die der ungeheueren Weite, Tiefe und Kompliziertheit der Thematik geschuldet sind, zumal mich in der Zeit ihrer Ausführung – vom dreißigsten Lebensjahr bis heute – so schwere Beeinträchti11 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Vorwort
gungen auf allen Lebensgebieten trafen und behinderten, dass das Niederschreiben fast immer mit körperlichen, seelischen und sozialen Schmerzen verbunden war und zur wahren Qual wurde. Jetzt zum ersten Mal zeichnet sich ein Ende dieser Leiden ab, für die allerdings ein so hoher Preis gezahlt werden musste, dass dieses Leben – nicht nur vom bürgerlichen Standpunkt, sondern auch vom Standpunkt meines persönlichen Potentials, meiner Neigungen und Sehnsüchte aus – wie ein durchgängiges Scheitern erscheint. Aber auch dies konnte ich »leidenstheoretisch« nutzen und daraus eine – jedenfalls für mich – ermutigende Theorie sowohl des Scheiterns als auch des Opferns entwickeln, die notwendig spirituelle Dimensionen umfasst. Schlussendlich wagte ich es, aus der phänomenologischen und metaphysischen Ergründung des Wesens des Leidens eines der schwersten und bedrängendsten Probleme des Geistes, zumal eines spirituell offenen und tiefer fragenden Geistes anzugehen: das Problem der Pathodizee bzw. allgemeiner gesagt: das Problem, ob und inwiefern dem Übel und dem Leiden ein Sinn zukomme, der ihnen einen annehmbaren Ort in Dasein und Welt zuweist. 2 Auch hier erwies sich die Antwort als sehr komplex und vielschichtig, doch hoffe ich, eine Lösung gegeben zu haben, die psychologisch, soziologisch, philosophisch und theologisch befriedigt. Jedenfalls habe ich mich darum bemüht und dabei alle mir bekannten Lösungsversuche, so gut es geht, berücksichtigt und kritisch eingearbeitet. Denn natürlich, der Mensch kann diese Frage nicht übergehen, sie folgt ihm wie eine dunkle Erinnye auf dem Fuß, und er kann sie nur dadurch »loswerden«, dass er sie in seinem Lebenshaus willkommen heißt, bewirtet und zu verstehen sucht. Dann kann sie – wie schon bei Aischylos in seiner »Orestie« – zur lebenswahrenden Eumenide werden. Ich wünsche mir, dass mein Lebenswerk, das sich hier theoretisch niederschlug, das ich aber auch als Arzt, Psychotherapeut, Künstler und politisch engagierter Mensch umzusetzen versuchte, diese »metanoetische Wirkung« nicht nur bei mir und vielen meiner Patienten, sondern bei allen Menschen tue, die sich nicht scheuen, eine gewisse
Wird die Frage nach Sinn und Unsinn des Leidens mit der Frage nach dem Zusammenhang von Gott und Leid verknüpft, hat man es mit dem Problem zu tun, wie ein allmächtiger, allweiser und allliebender Gott mit dem Unmaß an Leid, Unrecht und Bosheit in der Welt konsistent zusammengedacht und in diesem Sinne »gerechtfertigt« werden kann. Der Philosoph G. W. Leibniz (1646–1716) führte dafür den Begriff der »Theodizee« (»Gottesgerechtigkeit«, »Gottesrechtfertigung«) ein.
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Vorwort
Lebenszeit und Mühe für die drängendste aller existenziellen Fragen, die sich den Menschen stellt, aufzubringen. 3 Da niemand solch ein Werk, wie das hier vorgelegte, allein aus sich heraus schaffen kann, möchte ich Herrn Dr. Rolf Eraßme dafür herzlich danken, dass er sich die Mühe gemacht hat, es durchzulesen und auf sprachliche, formale, inhaltliche und argumentative Mängel hin zu prüfen. Zu besonderem Dank bin ich außerdem Herrn Lukas Trabert, dem Leiter des Karl Alber Verlages in Freiburg, verpflichtet, der den Mut hat, eine solche schwierige und umfängliche Arbeit, die wohl kaum einen großen Leserkreis finden wird, zu betreuen und zu veröffentlichen. Stuttgart, 13. 9. 2018
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»Metanoia« bezeichnet eine seelisch-geistige Einstellungsumkehr.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Besondere Bezeichnungen
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 1.1. Gegenstand, Herkunft und Problem einer Metaphysik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die drei Hauptquellen der Erkenntnis als Ausgsangsbasis einer jeglichen Metaphysik . . . . . . . . . . . 1.3. Das Wesen der Metaphysik und ihre Abgrenzung von Phänomenologie, Ontologie und Theologie . . . . . . 1.4. Die ontologische Grundstruktur des Seins und die besondere ontologische Stellung des Leidens . . . . . 1.5. An den Grenzen und darüber hinaus: metaphysische Regionen und Gegenstände . . . . . . . . . . . . . 1.6. Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 1.7. Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik . . . . . . 1.8. Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft: die innere Verbundenheit der Seinsregionen . 1.9. Die Verankerung der metaphysischen Dimension des Leidens in der Phänomenologie des Leidens: die Selbsttranszendierung des Leidens . . . . . . . . 1.10. Die Notwendigkeit einer Metaphysik des Leidens: das Leiden begründet sich nicht selbst . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens: die reduktiv-regressive Methode und ihre Abgrenzung von Intuition, Deskription, Deduktion und Induktion als Weg einer grundsätzlichen Revision und Erneuerung der klassischen Metaphysik . . . . . . . . 1.12. Denkprinzip gleich Seinsprinzip? Die Verwurzelung des epistemologischen Erkenntnisprinzips im ontologischen Seinsprinzip, ihre Differenz und Identität . . . . . . . 1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre . . . . . . . . . . . . . . . . 1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik: Platon, Buddha, A. Schopenhauer, S. Kierkegaard, Thomas v. Aquin, Hiob, Genesis, »Epikur« . . .
Das Fundament: Leiden und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Freiheit und Gebundenheit im Leiden: Nur ein partiell freies, partiell unfreies Wesen kann leiden; die Unmöglichkeit unmittelbarer Leidzufügung . . . . 2.2. Das Wesen der Freiheit: Bestimmungsoffenheit, Selbstbestimmungsfähigkeit und Selbstannahme . . . . 2.3. Der metaphysische Beweis der Freiheit über die Unmöglichkeit des infiniten Regresses . . . . . . . . . 2.4. Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem . . . . 2.6. I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung . . . . 2.7. Das Verhältnis von endlichem und unendlichem Sein: die Unmöglichkeit des metaphysischen Finitismus . . . 2.8. Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos: die Unmöglichkeit sowohl des metaphysischen Monismus als auch des metaphysischen Dualismus . . . . . . . . 2.9. »Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel . . . . . 2.10. Freiheit und Unfreiheit des Menschen als Selbsterfahrung: die menschliche Freiheit als Einheit von Abhängigkeit und Selbständigkeit . . . . . . . . . . .
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II.
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Inhaltsverzeichnis
2.11. Freiheit und Unfreiheit als fundamentale Leidensquellen: Sehnsucht nach absoluter Autonomie und das Faktum der Nichtsverfallenheit . . . . . . . . . . . . . 2.12. Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit; Reinigung des Gottesbegriffs von Anthropomorphismen und die Unmöglichkeit der direkten Leidzufügung durch Gott . 2.13. Das schlechthinnige Sein bei Parmenides und die Theorie des Allbewusstseins in der indischen Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.14. Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild: die Verkennung der Gebrochenheit der Existenz oder der Mensch in naiver Weltgeborgenheit . . . . . . . . 2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit: Die allgemeine Kosmologie des Leidens . . . . . . . . 3.1. Leiden, Zeit und Zeitlichkeit: Zeitunterworfenheit und doppelte Zeitlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . 3.2. Das Problem der Entstehung überhaupt und die traditionellen drei Kausalitätskonzepte . . . . . . . . . 3.3. Die Kausalität des Leidens: Getroffenheit, Betroffenheit und Selbstentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Das Wesen des Übels und seine Ordnung . . . . . . . 3.6. Das Problem der »privatio boni« . . . . . . . . . . . . 3.7. Qualität und Quantität des Übels . . . . . . . . . . . . 3.8. Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen als eines Zwischen-, Konflikt-, Mängel- und Universalwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9. Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: Weltveräußerung und Weltausgesetztheit des Menschen 3.11. Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch . . . . 3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste .
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III.
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Inhaltsverzeichnis
3.13. Das Weltwechselwirken und das Leiden: Pluralität, Antagonismus und Dissonanz der metaphysischen Grundkräfte des Kosmos und die »Kraftspezialisierungstheorie« . . . . . . . . . . . . . 3.14. Leiden als unvermeidbare Folge der Unfertigkeit, Unreife, Prozessualität, Pluralität und Agonalität der Wirklichkeit; die Widerlegung der stoischen Theodizee . 3.15. Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt, eine werdende einer fertigen Welt, eine werdend-selbsttätige einer werdend-passiven, eine personale einer nicht-personalen Welt vorzieht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.16. Hiobs Theodizee und ihr Ungenügen: die mythische Gleichsetzung von Gott und Natur . . . . . . . . . . . 3.17. Theodizee zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . .
Natur und Leiden: Die Verinnerlichung der Natur durch das Leiden im veräusserten Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Naturgeschehen und Kausalität; Zuständigkeit und Grenzen der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . 4.2. Das gebrochene Weltbild der Neuzeit . . . . . . . . . 4.3. Das Problem des Seelisch-Geistigen und das Leiden in der vormenschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Die Oszillationstheorie und das Leiden . . . . . . . . . 4.6. Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte . . . . . . . . . . . . . 4.7. Die Erklärungsprinzipien der modernen Evolutionstheorie: »Zufall und Notwendigkeit« . . . . . . . . . . 4.8. Die evolutionären Kausal- und Gestaltungsfaktoren – eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9. Die Evolution als Geburts- und Leidensprozess mit zunehmender Verselbständigung und Emanzipation ihrer Gebilde vom Umweltbezug . . . . . . . . . . . . 4.10. Die drei Grundübel nach G. W. Leibniz mit einer Ergänzung durch ein viertes Grundübel auf dem Hintergrund der kosmischen Evolution . . . . . . . .
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IV.
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Inhaltsverzeichnis
4.11. Der menschliche Leib als prekäre Synthese der Evolution; seine Antiquiertheit, Gebrechlichkeit, Offenheit und Plastizität . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12. Existenzielle Unbehaustheit und Preisgegebenheit als anthropologische Grundentfremdung des Menschen . . 4.13. Der Mensch als Bürger zweier Welten: die Weisheit des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.14. Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn: Gott- bzw. Heimatverlust und Weltdurchgeistigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.15. Religionsphilosophisch-mythologischer Exkurs zur Ursprungsfrage von Leiblichkeit und Schuld (mit eigenem Lösungsvorschlag) . . . . . . . . . . . . 4.16. Der Sinn von Schmerz, Mühsal, Verletzung, Krankheit, Altern und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.17. Der Sinn der Evolution und des Leidens darin; die Unvermeidbarkeit des Leidens in der Evolution . . . . 4.18. Die Inkommensurabilität von Leibleben und Geistleben: ihre polar-konfliktuöse Lebenseinheit . . . . . . . . . 4.19. Das Leiden der Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.20. Der Mensch als natürlich-übernatürlicher Abschluss der Evolution; die Lehre vom »großen Menschen« (homo maximus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.21. Noch einmal Hiob und sein Scheitern an der kosmologischen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.22. Theodizee dritter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
5.1.
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Mensch, Kultur und Leiden: Die Explikation des Leidens im Kulturgeschehen und in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Die Kultur als unvermeidbare Entfremdungs- und Leidensquelle: die Selbstentfremdung in der Objektivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Die historisch wechselnde Polarität von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft, von Freiheit und Ordnung, Willkür und Wertorientierung als Leidensquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
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Inhaltsverzeichnis
5.3.
5.4. 5.5. 5.6. 5.7.
5.8. 5.9. 5.10. 5.11.
5.12. 5.13.
5.14.
VI. 6.1.
6.2. 6.3. 6.4. 6.5.
Das Leiden als Preis der Kulturentwicklung: die großen Kulturepochen der Menschheit und die Theorie der Kulturentwicklung . . . . . . . . . . . . . Der Bewusstwerdungs- und Selbstwerdungsprozess als Leid- und Heilungsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . Personale Unreife, Vielfalt der Interessen und Kampf der Lebensmächte (»Ideen«) als Quelle des Leidens . . . . . Herrschaft, Abhängigkeit, Autonomie und Leiden . . . Das Problem der Kommunikation als Leidquelle: die Grenze des Verstehens und das Ichsein als einzigartigunvertretbare Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . Das Leiden als Marker dessen, was Not tut: die utopische Potenz des Leidens und der metaphysische Sinn der Zeit Not als Grund des Leidens: der überforderte Mensch und der Sinn des Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Sinn der Zeit und des Raums . . . . . . . . . . . Sinn und Unsinn der Geschichte: die schwere Geburt des Humanum (»dynamischer Platonismus«/»kritischer Humanismus«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Segen zum Fluch . . . . . . . . . . . . . . . . . Theodizee vierter Teil: die Rolle des Nichts im Seinsgeschehen mit einer Kritik an der plotinischen Gleichsetzung von Materie und Üblem, Materie und Bösem . Hiobs Unkenntnis der unbewussten Seelentätigkeit; die Unmöglichkeit einer Erbsünde . . . . . . . . . . .
Gott und das Leiden: Gott als letzte Fremdheit und Eigenheit des Menschen Macht und Ohnmacht: Leiden als Ausdruck von grundhafter Ohnmacht und grundhafter Erlösungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Gottferne und Verlorenheit ins drohende Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod als Symbol der Nichtsverfallenheit; Anmerkung zu T. di Campanella . . . . . . . . . . . Der kosmische Sinn des Todes . . . . . . . . . . . . Die Urangst und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . .
20 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
470 509 514 516
523 526 531 533
536 541
544 554
. 559 . 559 . 562 . 566 . 570 . 572
Inhaltsverzeichnis
6.6. 6.7. 6.8. 6.9. 6.10. 6.11.
6.12.
6.13. 6.14. 6.15. 6.16. 6.17. 6.18. 6.19. 6.20. 6.21. 6.22. 6.23. 6.24. 6.25. 6.26.
Die Härte Gottes und die »Nichtswürdigkeit« des gefallenen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gottesverlust als Strafe? Von der Unmöglichkeit eines zornigen, reuigen und strafenden Gottes . . . . . Der leidlose Gott, der leidende Gott und der »leidend« mitfühlende Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und offener Zukunft mit der Allmacht und Allwissenheit Gottes . . Gottes Gerechtigkeit und das Problem der Ausgleichsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gewährung destruktiven, »ungerechtfertigten« Leidens und ihr Sinn: die Öffnung des pU Abgrundes des Menschen (»homo abyssus«) . . . . . . . . . . . . . . Leiden als Achtung der fehlbaren Freiheit durch Gott: Warum erschafft Gott überhaupt frei-fehlbare Wesen? Seine Mitverantwortung für das Übel und das Böse in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leiden als Achtung der kosmischen Ordnung durch Gott und damit der Ermöglichung menschlicher Freiheit . . Leiden als Achtung der leidvollen Handlungskonsequenzen für Selbsterkenntnis und Selbstkorrektur . . Leiden als Erweckung und Lehre . . . . . . . . . . . . Leiden als Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Anfechtungs- und Versuchungsleid . . . . . . . . Leiden als Warnung und Bewahrung vor größerem Übel; Anmerkung zu A. Schopenhauer . . . . . . . . . . . . Leiden als Führung und Erziehung . . . . . . . . . . . Das Schuld- und Sündenleid . . . . . . . . . . . . . . Leiden als Reinigung und Vorbereitung für die Vervollkommnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Leid von Reue, Buße und Sühne; der falsche und der rechte Sinn des Strafleids . . . . . . . . . . . . . . . . Das stellvertretende Leiden, das Drama der Soteriologie und die Koinonia der Leidenden . . . . . . . . . . . . Das Opferleid – sein Wesen und Sinn . . . . . . . . . Die Transformation existenziellen Zwangsleids in freiwilliges Opferleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeit und Unmöglichkeit des Gottesopfers . . .
575 577 582 586 590
596
600 602 604 606 608 609 613 618 620 623 625 628 637 643 645 21
https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Inhaltsverzeichnis
6.27. Leiden als Vorschein der Durchgeistigung und Heiligung der Schöpfung: »Verklärung des Leidens durch das Leiden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.28. Das reine Leiden als Ort der Gottvereinigung oder das Leiden als »Seinsbrand« in Gott . . . . . . . . . . . . 6.29. Das Leiden des Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . . 6.30. Das Leiden der Gottferne, der Gottlosigkeit, der Widergöttlichkeit und sein Sinn . . . . . . . . . . . . . . . 6.31. Der Sinn von Gottes Schweigen und die Sprachen Gottes 6.32. Die Einheit der Lebensurgründe in Gott und ihre Diskrepanz im Weltsein als Fundament des Leidens und des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.33. Das Problem der besten und der schlechtesten aller möglichen Welten und seine Auflösung . . . . . . . . 6.34. Problem und Wesen des Schicksals . . . . . . . . . . . 6.35. Hiob und der neue Gott: Auflösung anthropomorpher Projektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.36. Theodizee fünfter Teil: die Stellung des Gottmenschen im Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII. 7.1. 7.2.
7.3. 7.4. 7.5. 7.6. 7.7.
Der metaphysische Sinn des Leidens . . . . . . . . . . Die ontologische Abkünftigkeit allen Leidens und der vertikale Rückverweis des Leidens . . . . . . . . . . . Der vielfältige Sinnzusammenhang des Leidens und die horizontalen Querverweise des Leidens; das Kreuz als Synthese von Vertikalität und Horizontalität . . . . . . Die möglichen Zwecke des Leidens und die Instrumentalisierung des Leidens . . . . . . . . . . . Dynamik und Endsinn des Leidens oder die utopischen Vorverweise des Leidens . . . . . . . . . . . . . . . . Die dreifache Aufhebung des Leidens in Sein, Sinn und Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unmöglichkeit einer letzten metaphysischen Tragik bzw. eines Pantragismus des Seins . . . . . . . . . . . . . . Der Sinn von Ausweglosigkeit, Scheitern und Absurdität: der positiv-spirituelle Sinn einer Selbstvernichtung der Menschheit als äußerster Sinngrund des Leidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
647 649 651 654 656
662 665 668 672 674 679 679
681 683 687 688 689
692
Inhaltsverzeichnis
7.8.
7.9. 7.10.
7.11. 7.12.
7.13. 7.14. 7.15. 7.16. 7.17.
Das Leiden als Spur größeren Lebens und als Statthalter der Vollendung: der individuelle Mensch als zu realisierende »Seite Gottes« . . . . . . . . . . . . . . Das Leiden als Geburt, Lehre und Weg . . . . . . . . . Die unvermeidlich katastrophalen Folgen des Gottverlustes für die Menschheit: die »Verkehrtheit der Welt« und noch einmal das Problem der Erbsünde . . . Ursprung und Sinn des Bösen: Hat »Auschwitz« einen Sinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hiob und Jesus oder der geschichtlich-metaphysische Sinn des Judentums: das alte Zion und das neue Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Höchstsinn des Leidens: das freiwillige Opfer und die Unmöglichkeit eines Gottesopfers . . . . . . . . . »Eritis sicut Deus«: das letzte Bild des Menschen und eine kurze Metaphysik der Geschichte . . . . . . . . . Grad und Fassungskraft: die Ordnung der unerlösten und der erlösten Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Kritik der Theodizeekritiker . . . . Ein letztes Wort: die äußere und innere Schönheit der leidenden Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
693 697
699 701
708 715 718 727 730 738
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761
23 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Besondere Bezeichnungen:
Zur genaueren Bestimmung des Seinsranges eines Seienden wird die zeitliche Charakteristik benutzt. Ihr gemäß gibt es folgende Zeit- bzw. Dauerdimensionen: 1.
2.
3.
4.
5.
E = endlich. Dies umschließt alle jene Wirklichkeiten, die einen Anfang und ein definitives Ende haben und dazwischen endlich lange dauern, die also finit sind. Dahin gehören alle physischen Gebilde und alle Gegenstände und Zustände des Seelenlebens, d. h. einerseits die materiellen Körper und der Leib, andererseits Phantasien, Gedanken, Vorstellungen, Impulse, Stimmungen usw. pU = potentialunendlich = endlos. Dies umfasst alle jene Wirklichkeiten, die zwar einen Anfang haben, doch nicht enden, auch nicht enden können. Hierzu zählen die »Geistseele« bzw. das geistige Ich und überhaupt alle personalen Wesen. aU = aktualunendlich. Hiermit wird jene Wirklichkeit bezeichnet, die zeitlos, also ohne Anfang und ohne Ende, sprich ewig und damit immer als Totum zugleich besteht. Hierzu zählt allein die Urwirklichkeit der Gottheit (einschließlich ihres aU Ideenalls). atU = aktualisiertunendlich = vaU (Vergöttlichung). Dies bedeutet, dass ein erschaffenes und damit anfängliches Geistgeschöpf (pU) oder ein Mensch zu Gott erhoben und mit ihm voll eins, und d. h. aktualunendlich, wird. Im christlichen Raum trifft dies nur auf den Gottmenschen Jesus Christus zu. Dieser Vorgang wird auch als Vergöttlichung bezeichnet (vaU). Da im Gottmenschen alle Dauerdimensionen zusammenkommen, ist er formal als E-pU-atU zu bestimmen. E-pU ist der irdische Mensch als innigste Einheit eines vergänglichen Körpers, des Leibes, und der unerschöpflichen Geistseele.
25 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Besondere Bezeichnungen
6.
7.
E-pU-aU = daU (Durchgöttlichung) meint jenen Menschen, der von Gott erfüllt oder zu ihm erhoben, auch mit ihm vereinigt ist, aber nicht im Sinne der Vergöttlichung, sondern der Durchgöttlichung, die nur den Kern der Geistseele verunendlicht, aber nicht den ganzen Menschen, was bedeutet, dass sich der Mensch »peripher« endlos (pU) weiterentwickelt. Eine Sonderstellung nimmt die metaphysische Materie als Träger des kosmischen Wechselwirkens ein: Zwar ist sie (von Gott) geschaffen und substanzial, also selbständig bestehend, in diesem Sinne »real« und daher nicht nur Vorstellungsinhalt geistiger Wesen, dennoch passiv, endlich ausgedehnt und als Wirkfeld endlos (pU) teilbar. Durch diese besondere Wesensstruktur macht sie es möglich, dass schöpferische Wirkkräfte ihre Wirkungen, wozu alle bekannten Naturgebilde und alle menschlichen Werke zählen, endlos fein und differenziert in sie hineinschaffen, wo sie, gleichsam als objektivierte »Gedanken«, getragen werden und intersubjektiv zugänglich sind. Wahrscheinlich hat die metaphysische Materie nur eine endlich-finite Dauer und wird von Gott aufgegeben, wenn alle seine tätigen Geschöpfe »in sein Reich« zurückgekehrt sind, wo Er dann selbst das Medium aller Kommunikation und alles Wechselwirkens abgeben wird.
Aktiv sind nur die pU-Wesen, d. h. Wesen im zweiten Seinsrang, und das aU-Wesen im ersten Seinsrang. Alle Dinge im dritten Seinsrang sind wesenhaft inaktiv, nichtsdestotrotz bewegt, sinndurchwirkt und geistgeprägt, was bedeutet, dass sie geschaffen und erhalten werden müssen. In der Mathematik gibt es Größen und Mengen in allen drei Dauer-Dimensionen, die durchwegs inaktiv sind und von aktiven Wesen gedacht, bewirkt und erhalten werden, so z. B. die pU-Mengen des menschlichen Bewusstseins, ausdrückbar als endloses Zählen, und die aU-Mengen im göttlichen Bewusstsein, etwa das reine Kontinuum einer unendlichen Geraden oder alle Brüche zwischen 1 und 2. Sowohl im geschöpflichen Bewusstseinsleben als auch in der Natur sind reine Kontinuen unmöglich; deshalb sind Bewegungen stets diskret, unstetig, »saltatorisch«.
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Einleitung
»L’homme dépasse l’homme infiniment« – »Der Mensch geht unendlich über den Menschen hinaus.« (B. Pascal, Pensées, 1669, posthum, 434)
Viele Phänomene des Lebens weisen über ihre Selbstgegebenheit im Erleben und ihre darin gesetzten Grenzen in Dimensionen hinaus, die sich der direkten Erfahrung entziehen: Wünsche, Sehnsüchte und Utopien übersteigen die Gegenwart auf die niemals direkt gegebene oder gar durchschaubare Zukunft hin; Trauer um einen Verlust, Erinnerungen und Reue weisen über die Gegenwart in die versunkene, ebenfalls nie direkt gegebene Vergangenheit zurück; Träume, Fehlleistungen und schöpferische Einfälle lassen etwas von der rätselhaften Tiefe des »Unterbewussten« erahnen; mathematische Größen und Gestalten, die unendlich klein und unendlich groß sind wie der Punkt, die echte Gerade, alle Brüche zwischen 0 und 1 und die unvorstellbaren Größen der komplexen Zahlen transzendieren die gesamte bekannte Erscheinungswelt in ein Reich der ewig unveränderlichen und doch alles Endliche und Zeitliche auf geheimnisvolle Weise ordnenden und haltgebenden Verhältnisquantitäten; 1 tief ergreifende Werterlebnisse wie das Erleben von Anmut und Erhabenheit, Würde und Gerechtigkeit, von Wahrheit und Güte, Barmherzigkeit und Liebe gehen mit einem Unbedingtheitscharakter einher, der die durch Was die Möglichkeit unanschaulicher Erkenntnis betrifft, vergleiche etwa B. Bavink (1951, 91): »Dass sie – die nichteuklidische Geometrie – aber rein logisch angesehen denkbar ist, lässt sich strikt beweisen. Es geht daraus unzweifelhaft hervor, dass das menschliche Denken einen weiteren Kreis umfasst als die menschliche Anschauung.« Dieser »weitere Kreis«, den man im unanschaulichen Denken entfalten kann, ist erweisbar um Unendliches größer als die immer endlich begrenzte Anschauung des Menschen. Ein nicht-anschauliches Denken ist darum nicht, wie I. Kant meint, notwendig »leer« bzw. zwar leer an sinnlicher oder gestaltlicher Anschauung, aber nicht leer an echter Erkenntnis, an »Gedankeninhalt«.
1
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Einleitung
und durch bedingte und gebrochene Erfahrungswelt der Menschen durchwirkt und zugleich überragt; 2 und alles, was entsteht, vorher also nicht war, weist auf einen Quellgrund zurück, der sich zumeist der Erfahrung entzieht. 3 Schließlich und endlich ist da ein Existenzial, das die Menschen ergreift, »beirrt« 4 und erschüttert wie kaum ein anderes, eine leibliche, soziale und seelisch-geistige Seinsmacht, die irgendwie zugleich in die Vergangenheit, die Zukunft, in das Unbewusste und ins Zeitlose weist und den Menschen nötigt, die radikalsten, alle Begrenztheiten transzendierenden Fragen zu stellen: nach dem Zusammenhang von Sein und Nichts, nach der Möglichkeit von Entstehen, Werden und Vergehen, nach dem Sinn des Lebens, nach der postmortalen Existenz, nach Freiheit und Unfreiheit, nach der Existenz Gottes, nach der Herkunft des Seins, des Lebens, des Geistes, und vor allem die Frage nach der erlösenden, alles Unheil und Unrecht beendenden Zukunft – diese Seinsmacht ist das Leid. 5 Unter den genannten Phänomenen kann man solche unterscheiden, die auf eine Realität bezogen sind, die prinzipiell erreichbar ist, und solche, die sich auf »das Uneinholbare« beziehen. 6 Den Anfang der Welt, das Ende der Zeit, unendlich große und kleine mathematische Größen, auch die reine Liebe, das Unbewusste und die Gottheit In der Marquise von O. hat H. v. Kleist eine Figur geschaffen, deren Reinheit und Wahrhaftigkeit so groß, so »unglaublich« ist, dass sie von aller Welt, und d. h. auch von ihrer Familie, als Betrügerin verworfen und verbannt wird. 3 Etwas, das entsteht, zuvor also nicht war, weist notwendig auf einen »Wirkgrund« zurück, der das beginnende Dasein jenes entstehenden Etwas ermöglicht. Denn da etwas, das entsteht, weder sich selbst bewirken kann, weil es sonst hätte schon existieren müssen, was direkt selbstwidersprüchlich ist, noch durch nichts ins Sein gelangen konnte, weil dann das »nichts« des Seins wäre, muss ihm ein aktiv wirkendes Prinzip vorgeordnet werden, das den Übergang von nichts zu etwas leistet. Dieser Wirkgrund kann nun aber nicht innerhalb der möglichen Erfahrung liegen, da – im Falle der Annahme des der Wirkung zeitlich vorangehenden Verursachers – ad infinitum in die Vergangenheit zurückgefragt werden müsste. Dies bedeutete jedoch in der Konsequenz, dass überhaupt nie etwas verursacht wurde und also niemals etwas entstand, was der unleugbaren Tatsache des Entstehens und Werdens direkt widerspricht. Die Wirkursache kann daher, wie zu zeigen sein wird, ihrer Wirkung nicht in derselben Dimension zeitlich vorangehen, sondern muss ontologisch »über« ihr stehen. Was schon hier zur Sprache kommt, ist das über alle Empirie hinausweisende »metaphysische Kausalprinzip«. 4 Siehe H. Schmitz (2011, 9 ff.). 5 Mit den Worten P. Strassers (2000) handelt es sich bei all den genannten Transzendierungen und Transzendenzen um »ontologische Überschüsse«, die, als »Wege nach draußen«, aus der »Immanenzverdichtung« herausführen. 6 Zum »Uneinholbaren« siehe W. Schweidler (2008). 2
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Einleitung
in ihrem Ansichsein, überhaupt die weitaus größere Fülle des Seienden – solches und vieles mehr liegt jenseits der »Physis«, also der erfahrbaren Welt und heißt darum »metaphysisch«, womit der Umstand bezeichnet wird, dass der Mensch solch ein »Transphysicum« aus eigener Kraft nicht in sein unmittelbares Erleben und Anschauen heben kann. Aber wie, so fragt sich sogleich, kann er dann davon wissen und sinnvoll reden? Oder ist hier alles nur diffuse Ahnung oder gar nur willkürliche Konstruktion? Wenn man die Frage umkehrt, stellt sich die Perspektive anders dar und führt einen Schritt weiter. Zu fragen ist, wie alle die eingangs genannten Phänomene, die als solche in der Gegenwart erlebt werden, über sich hinaus in die Dimensionen des Nicht-Mehr, NochNicht, Nicht-Hier, Überhaupt-Nicht-im-Endlichen, ins Ganz-Andere, also in eine Art »Nichts«, genauer, in das Nicht-voll-bei-uns hinüberweisen können? Am Ende dadurch, dass dieses »Nichts« nicht einfach nichts, sondern ein anderes und verborgenes Sein ist, das die Menschen mit Dimensionen verbindet, die sie vergessen haben, die sich entziehen, zu denen der Schlüssel bisher nicht gefunden wurde oder die sich nie eröffnet haben, aber dennoch »Spuren« im Hier und Jetzt hinterlassen, die als »Vorschein« eines Nicht-Imaginierbaren fungieren? Sind die Menschen mit diesen transzendenten, in das Hiesige zwar irgendwie hereinscheinenden, in ihrem eigenen Sein aber entzogenen Regionen des Seins verknüpft, weil sie ohne diese nicht bestehen würden, ihre Gegenwart ohne sie nicht das sein könnte, was sie ist, und sie also bewusst oder unbewusst von diesen »übersinnlichen Regionen« – dem Unbewussten, der Tiefe des Leiblichen, dem Göttlichen, dem Idealen usw. – her leben, von ihnen getragen und genährt, aber auch oft irritiert und erschüttert? Eine Philosophie des Leidens, die nicht nur, wie in meiner philosophischen Dissertation, die erlebbare Grund-, Wesens- und Folgestruktur des Phänomens Leiden erhellen will, sondern in die Hintergründe und Abgründe des Leidens hineinfragt, will zeigen, dass das Leben von direkt nicht greifbaren, durchaus in seine Immanenz hineinwirkenden Seinsmächten und Seinsstrukturen umgeben und durchwirkt ist. 7 Weitaus mehr Kräfte und Ordnungen, als dem Menschen bewusst und direkt anschaulich sind, tragen und halten ihn, so dass er durch sie einerseits ermöglicht, andererseits beschränkt und gebunden wird. Da diese Kräfte und Strukturen die zum Teil erweis7
Siehe B. Wandruszka (2009).
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Einleitung
bar notwendigen, nicht nur plausiblen oder hypothetischen Seinsvoraussetzungen des Erlebens, Anschauens und Handelns sind, können sie retrograd erschlossen werden, und zwar, wie das der Anspruch einer Philosophie ist, die nicht auf Glauben und spekulativem Konstruieren beruhen will, mittels vernünftiger Argumente in logisch nachvollziehbaren, methodisch ausgewiesenen und kritisch reflektierten Diskursen. Dabei geht sie stets vom erfahrbaren, empirischen Phänomen im weitesten Sinne aus und sucht zunächst dessen inneres seinslogisches Strukturgefüge phänomenologisch aufzuhellen, um von da aus weiter über den empirisch-erfahrbaren Horizont hinauszufragen. 8 Wie das wissenschaftlich korrekt möglich ist, wird im ersten Abschnitt dargestellt. Er ist wissenschaftstheoretisch unumgänglich, um sachgerechte und methodisch durchsichtige Philosophie zu betreiben. Philosophie, die nicht mehr Wissenschaft sein will oder kann, deren Aussagen also nicht, wie der Wiener Kreis um M. Schlick, O. Neurath und R. Carnap forderte, überprüfbar und als richtig oder falsch erkannt werden können, wird zur halbkünstlerischen Essayistik oder zur phantastischen Spekulation. 9 Das bedeutet keinesfalls, dass Philosophie, wie an dieser Stelle der Wiener Kreis zu Unrecht meinte, im Sinne der Naturwissenschaften vorgehen müsste. 10 Zu ihrem eigenen Schaden versuchte die neuzeitliche Philosophie immer wieder, entweder der Mathematik nachzueifern und aus allgemeinen Axiomen und Begriffen konkrete Zusammenhänge zu deduzieren, 11 oder sie »Phänomeno-logie« bedeutet »Logos des Phänomens«, und Logos meint wiederum Sinn, Struktur, Gefüge, Zusammenhang, Wesensbeziehung oder »innere Natur«. Der hier vorgelegte Ansatz ist zwar eine »Spekulation«, insofern er die Erfahrung zu transzendieren sucht, aber er geht stets von einer bestimmten Erfahrung aus und schließt von da aus auf die notwendigen Bedingungen dieser Erfahrung zurück, konstruiert also nicht »rein aprioristisch« ohne alle Erfahrung, weswegen dieser Rückschluss mehr als die bloße Abstraktion eines begrifflich fassbaren Wesensgefüges von einem Phänomen ist. Zwar baut dieser Rückschluss auf der Phänomenanalytik auf, überschreitet diese dann aber zu den transzendentalen und ontologischen »Bedingungen der Möglichkeit« dieses Phänomens hin. 9 Allerdings verneinten in Anlehnung an I. Kant der radikal antimetaphysisch eingestellte Wiener Kreis, aber auch B. Russell, G. E. Moore und L. Wittgenstein, weiter E. Husserl und M. Heidegger die Möglichkeit einer echt wissenschaftlichen Metaphysik. Dagegen halten J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 5–8) eine wissenschaftliche, d. h. in Grenzen Gewissheit und theoretische Sicherheit gebende, Philosophie für möglich. Vgl. auch W. Krampf (1973). 10 Vgl. die klare Kritik von J. Habermas (1984, 15–36) am »Szientismus«. 11 Wenn auch der Versuch, die Philosophie mathematisch durch Kombinatorik und 8
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Einleitung
versuchte, es den empirischen Wissenschaften gleichzutun und zu induzieren, also aus konkret-empirischen Daten allgemeinere Gesetze herauszudestillieren. Beides geht nachweislich am Wesen der philosophischen Erkenntnis vorbei, und, recht betrachtet, hat die Philosophie ihren eigenen Denkweg bis heute nicht gefunden bzw. immer wieder verloren, auf jeden Fall nicht als klaren und sicheren Besitz mit sich getragen. 12 Platon, Aristoteles, Thomas v. Aquin, I. Kant und viele andere wandten die spezifisch philosophische Denkmethode zwar an, jedoch nicht selten nur intuitiv oder nicht konsequent und explizit genug. Auch bei R. Descartes trifft man sie an, doch vermischt mit der mathematischen Deduktion, worin ihm C. Wolff, B. de Spinoza, teilweise I. Kant, J. G. Fichte und, ins Dialektische gewendet, G. W. F. Hegel und viele andere folgten. Die deduktive Mathematik ist der verborgene Stammvater des philosophischen Systems«, sagt der Physiker und Philosoph C. F. v. Weizsäcker m. E. zutreffend über die idealistischen Systeme. 13
Das musste in die philosophische Krise führen, in der entweder an der philosophischen Erkenntnismöglichkeit überhaupt gezweifelt oder das philosophische Denken mit unkritisch-willkürlicher Gedankendichtung gleichgesetzt wurde. Im 19. Jahrhundert gelang es einigen Denkern, die sich wie B. Bolzano, F. Brentano, E. Husserl, 14 A. v. PauDeduktion aufzubauen mit R. Descartes, B. Pascal, G. W. Leibniz, B. de Spinoza und C. Wolff in der Neuzeit anhebt und seinen ersten Höhepunkt erfährt, so darf nicht verkannt werden, dass schon im Spätmittelalter gewisse Ansätze dazu vorliegen, so etwa bei dem Katalanen Ramon Lull (1232–1316) in seiner »Ars generalis ultima« und bei Nicolaus Cusanus (»Nihil certi habemus in nostra scientia, nisi nostram mathematicam«). Mit G. Frege, B. Russell und A. N. Whitehead wird dann um 1900 nochmals der Versuch gemacht, die Logik zu mathematisieren, durch Zeichenkombinatorik zu universalisieren und zu perfektionieren. Vgl. kritisch dazu B. v. Brandenstein (1970 und 1976). 12 Vgl. dazu auch M. Wundt (1931). 13 Siehe C. F. v. Weizsäcker (1985, 29). 14 Vgl. auch E. Husserl (2009, 5). Er spricht hier von einer phänomenologischen Reduktion und meint damit den beschreibend-analysierenden Rückgang vom Phänomen auf seine Konstitutionsbedingungen, die E. Husserl »gut kantisch« in bestimmten Formen der Bewusstseinstätigkeit gründen lässt. Immerhin geht auch hier der philosophische Weg »gut aristotelisch« vom Bedingten zurück zum Bedingenden und wird nicht konstruiert. Allerdings umfasst der Rückgang (Reduktion) auf die subjektiven Akte nicht alle Möglichkeiten der Reduktion, sondern muss durch eine »objektivistische Wende« ergänzt werden, die E. Husserl im Sinne der »eidetischen Reduktion« vom gegebenen Gegenstand auf sein Wesen (eidos), d. h. sein inneres Strukturgefüge, vollzieht. Denn auch im Gegenstand, in der Sache bzw. im Phänomen
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Einleitung
ler und B. v. Brandenstein von den spekulativen Deduktionen und Dialektiken abwandten, die originär philosophische Methode, die reduktiv-regressive Analyse, als die rückschreitend-rückfragende Aufdeckung der notwendigen Voraussetzungen eines Phänomens wiederzuentdecken und nach und nach in ihrer Eigenart herauszuarbeiten. 15 Im Werk des deutsch-ungarischen Philosophen B. v. Brandenstein (1901–1989) hat sie wohl ihren differenziertesten und umfassendsten Niederschlag gefunden, in einer »Grundlegung der Philosophie« (1965–1970), wie sie in dieser Weise von G. W. Leibniz erstrebt, aber nur fragmentarisch erreicht wurde. Leid als Übel und Leiden am Leid-Übel als Aktvollzug von Subjekten erwiesen sich bei meinen langjährigen Bemühungen sehr bald als ausgezeichnete Phänomene, weil sie, verbunden mit allen Seinsregionen, in selbige hinüberweisen. Das Leiden ist ein Schlüssel von enormer Reichweite und darum von entsprechend epistemologischer Tragweite. 16 Allerdings musste zuvor geklärt werden, was Leiden und Leid überhaupt sind, welche innere Struktur, vor allem Grund- und Wesensstruktur sie besitzen und wie sie mit dem Sein überhaupt und dem seelisch-geistigen Leben insbesondere, aber auch mit der Leiblichkeit, dem Unbewussten und der intersubjektiven Kommunikation zusammenhängen. 17 Das hatte ich in meiner philosophischen Dissertation (2009), die eine grundlegende Phänomenologie des pathischen Lebens darstellt, zu klären versucht. selbst gibt es »oberflächliche«, sprich bedingte Strukturen und tiefer gelegene, oft verborgene, bedingende und in der Sache selbst gelegene Grundstrukturen. Die sachimmanente »Reduktion« sucht die Grundstrukturen bzw. das Wesensgefüge im Phänomen auf, während die transzendentale Reduktion über das Phänomen hinaus zu den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit dieses Phänomens im Ich zurückschreitet, daher keine bloße Reduktion, sondern eine Regression darstellt. Vgl. zu Husserls Methodenlehre E. Pivčević (1972, S. 11–25). Diese transzendentale Regression muss schließlich durch eine ontologische Regression ergänzt werden. Dazu gleich mehr. 15 Denn schon Aristoteles (1995, Bd. 6, 1, Absatz 1) beschreibt sie auf der ersten Seite seiner »Physik«. 16 Vgl. übereinstimmend E. Angehrn (2003, 25 ff.). 17 Grundstruktur und Wesensstruktur eines Phänomens sind nicht identisch, wie wohl E. Husserl und M. Heidegger zu meinen scheinen. Die Wesensstruktur ist mehr als die Grundstruktur, setzt diese aber voraus. Die Wesensstruktur ist reicher, aber oft nicht grundhaft, die Grundstruktur ist ärmer, dafür aber grundhaft und bedingt und trägt daher alles Seiende und jede Wesenheit, besonders wenn unter »Wesen« die allgemeine Gattungsform wie bei Aristoteles und E. Husserl oder »das Idealtypische« wie bei J. W. v. Goethe und M. Weber verstanden wird. In den nächsten Kapiteln soll das konkret gezeigt werden.
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Einleitung
Zudem gilt es hier wie nirgends, selbstkritisch zu sein, jedes Denkergebnis auf seine innere Stimmigkeit (Konsistenz oder positive Evidenz), seine Denkbarkeit (Widerspruchsfreiheit oder negative Evidenz), seine logische Kohärenz mit anderen, weitgehend gesicherten Aussagen, seine empirische Korrespondenz mit anderen, weitgehend gesicherten Tatsachen und auf seine notwendigen Voraussetzungen (Wohlbegründetheit) hin zu überprüfen. Geschieht diese kritische Selbstreflexion nicht, bleibt solche Philosophie unkritisch-naiv, etwas, das sich jede Wissenschaft leisten kann und, was ihre Grundlagen betrifft, leisten muss, die Philosophie sich dagegen, will sie ihr Selbstverständnis als Prinzipienwissenschaft nicht verletzen, nicht leisten darf. Aus diesem Grund vollführt das philosophische Denken stets rekursiv-kreisende Bewegungen, die ihm den Schwung nehmen mögen, dafür aber mit in die Tiefe dringender Gründlichkeit belohnen. 18 Was die Philosophie m. E. von allen anderen Wissenschaften unterscheidet, ist ihr Ergründungs- und Begründungsimpetus: Da sie auf das Ganze des Seins, die Totalität, zielt, diese aber konkret nicht erreichen kann, nimmt sie den Umweg über die letzten und höchsten Seinsbestimmungen, die Gründe, die »archai«, die »principia«, in der berechtigten Annahme, dass sie mit diesen Gründen, 19 die sich in allem Seienden zeigen (sollen sie das Begründete wirklich begründen, also bestimmen und tragen), das »Ein und Alles« erreichen und dadurch alles Seiende – wenn schon nicht im Detail, so doch prinzipiell – erfassen kann. 20
Vgl. ebenso R. L. Fetz (1988, 42 ff.) und J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 6). Siehe N. Hartmann (1964, 6): »Tatsächlich kann keine Philosophie ohne irgendwelche Grundanschauungen über das Seiende bestehen«, wobei N. Hartmann betont, dass unter dem »Seienden« entgegen der heutigen Meinung nicht nur das physischempirische Seiende verstanden werden darf, sondern alles, wovon gesagt werden kann, dass es »ist«, also auch imaginiert Seiendes (Vorstellungen, Phantasien), ideal Seiendes (reine Figuren, Zahlen, Begriffe etc.) und reflexiv Seiendes (Stimmungen, Selbstzustände, Akte etc.). 20 Vgl. B. v. Brandenstein (1955, 9–18: »Was ist Philosophie?«,). Es wird sich zeigen, dass dieses »größte Ganze« nicht die bekannte Welt mit allen ihren physikalischen, biologischen, psychischen, kulturellen usw. Bereichen ist, zumal die Welt als werdende offen und unfertig, also wesenhaft »unganz«, a-total ist. So ist auch nicht, wie M. Gabriel (2013) richtig betont, zu erwarten, dass sie durch eine physikalische »Formel« erschöpfend beschrieben werden kann. Ihre Vielaspektivität und Vieldimensionalität hindert aber entgegen M. Gabriel keineswegs, die Welt als »eine« zu fassen, zumal wenn es gelingt, ihre vorletzten und letzten Seinsgründe, aus denen sie sich gestaltet, aufzudecken. 18 19
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Einleitung
Zu diesen Gründen, d. h. zu den tiefsten, letzten bzw. höchsten Seinsbestimmungen, will sie jedoch nicht auf zufälligem Wege, sondern auf deskriptiv und rational-analytisch nachvollziehbarem, methodisch gesichertem und systematisch zusammenhängendem Wege gelangen, vorher gibt sie sich nicht zufrieden. 21 Wo sie diesen Impetus aufgibt oder für sinnlos erklärt, da verliert sie gegenüber den Spezialwissenschaften ihre »differentia spezifica«, da wird sie letztlich überflüssig. Ich möchte mit dieser Arbeit, die zu den Gründen und Abgründen des Leidens und des geschöpflichen Lebens überhaupt auf methodisch klar und deutlich ausgewiesenem Wege hinführt, zeigen, dass die heute weit verbreitete Selbstentmächtigung der Philosophie kein zwangsläufig-unumkehrbarer Vorgang ist, dass Philosophie, von einer phänomenologischen Basis ausgehend, sehr wohl zugleich kritisch und auf methodisch tragfähige Weise transempirisch-metaphysisch sein kann und in ständiger Selbstreflexion zu den Fundamenten von Sein, Welt, Leben und Erkennen vorzudringen vermag. 22 In diesem Rahmen wird die Frage nach dem Sein, dem Sinn und der Bewältigungsmöglichkeit des Leidens gestellt: zuerst nach dem Sein bzw. der Seinsgrundstruktur in der phänomenologischen Ontologie des Leidens (quid malum), nach Herkunft und Sinn in der Metaphysik des Leidens (unde malum) und schließlich nach dem Wert und der Bewältigungs- bzw. Überwindungsmöglichkeit des Leidens in der Ethik des Leidens (laborare cum malo). Dabei ist die Überzeugung leitend, dass die Frage nach der praktischen Bewältigungsmöglichkeit des Leids nicht befriedigend beantwortet werden kann, wenn die Fra-
Und eben dieser Weg muss sich als Methode des Denkens, insofern er zu den Gründen vordringt, von anderen Wissenschaften charakteristisch unterscheiden, weil die Spezialwissenschaften weder den Anspruch noch das Vermögen haben, in und hinter den Phänomenen die (letzten) Seins- und Erkenntnisgründe zu erfragen und zu erhellen. 22 Vgl. die klarsichtig-kritische Darstellung der philosophischen Lage der Gegenwart durch H. Schnädelbach (2013, 7–16), V. Hösle (1997, 13–108) und B. v. Brandenstein (1957, 4–14; 1965 a, 7–19; 1983, 13 f.). Siehe auch J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 5): »Was die letzten Lebensfragen des Menschen betrifft, ist unsere Gegenwart weithin aus der Gewissheit in die Ungewissheit gefallen. Namentlich breitet sich immer mehr ein Misstrauen gegen die Philosophie aus, von der man nicht Sicherheit, sondern nur noch Problematik erwartet, die alle Inhalte des Wissens den übrigen Wissenschaften überlassen und sich auf die Klärung der formalen Strukturen des Wissens im Sinne von Wissenschaftstheorie beschränken soll.« 21
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Einleitung
gen nach dem Sein und dem Sinn geistig nicht umfassend und durchdringend geklärt worden sind. 23 Diese ersten Hinweise erlauben am Ende dieser Einleitung eine Bemerkung zu einem der Grundprobleme aller Philosophie, das von vielen das »Problem der Probleme« genannt wird, dem Problem der Stellung, des Sinns und des Wertes des Übels in der Welt. 24 Und in der Tat scheint es keine Religion und keine tiefere Philosophie zu geben, die sich nicht mit dieser Herausforderung konfrontiert sehen, gleich ob sie theistisch oder atheistisch, monotheistisch, polytheistisch oder pantheistisch verfasst sind. Im Rahmen monotheistischer Religionen und Philosophien modifiziert sich dieses Problem bekanntlich zu der besonderen Frage nach der Vereinbarkeit des Glaubens an ein absolut gütiges und zugleich allmächtiges Wesen mit der unleugbaren Existenz von Leid und Übel, Bosheit und Schlechtigkeit in der Welt, das G. W. Leibniz (1646–1716) »Theodizee« (1710), wörtlich »Gottesgerechtigkeit« oder »Gottesrechtfertigung« genannt hat. In einer Weise, die zu Missverständnissen Anlass gibt, wird dieser Kunstbegriff mit der Umschreibung übersetzt: »Rechtfertigung Gottes angesichts des von ihm trotz seiner Allmacht und Güte zugelassenen physischen Übels, moralisch Bösen und des Leidens in der Welt«, 25 Sinn meint hier in umfassender Weise Sinnzusammenhang und schließt auch den Sinnmangel, den Unsinn und den Widersinn ein. So betrachtet, lässt sich die Sinnfrage nicht auf die Zweckfrage reduzieren. Der Zweck ist ein spezieller Sinnzusammenhang, so dass die Möglichkeit besteht, dass etwas Sinn hat, aber keinen Zweck. Das Leiden steht immer in einem Sinnzusammenhang, ob es aber immer einen Zweck hat, wird zu prüfen sein. 24 Der Begriff »Übel« (malum) umfasst in Anlehnung an G. W. Leibniz alles wertmäßig Negative, alles Wertwidrige, also das Schlechte, Misslungene und Leidvolle (malum physicum, malum psychicum, malum soziopoliticum etc.) ebenso wie das Gemeine und Böse (malum morale). So gebrauche ich ihn in der folgenden Analyse (s. u. III.5; IV.10) und ergänze die Grundarten der Übel um eine vierte. Wenn auch selten, so gibt es allerdings Denker wie H. Lübbe (1986, 204), die das Theodizeeproblem für ein rein akademisches, also überflüssiges Problem halten, das weder theoretisch noch religiös von Bedeutung sei, sondern nur den praktischen Sinn habe, das Bewusstsein der Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz durch »Kontingenzbewältigung« zu besänftigen. Abgesehen davon, dass diese These, wie auch N. Hoerster (2017, 20–25) aufweist, fragwürdig ist und gut widerlegt werden kann, käme sie auf die alte marxistische These »Religion = Opium fürs Volk« hinaus, der gegenüber die existenzialistische These eines A. Camus, dass die Absurdität der gottlosen Welt tapfer auszuhalten sei, aufrichtiger und einem selbsttäuschenden Glauben vorzuziehen wäre. 25 Siehe Brockhaus Enzyklopädie (1993: Bd. 22, Stichwort: »Theodizee«). 23
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Einleitung
wo in Wahrheit nicht Gott zu rechtfertigen ist, sondern der Glaube an bzw. das menschliche Wissen um ihn. 26 Denn es fragt sich, ob dieser Glaube zu rechtfertigen ist und ob er sich überhaupt im Angesicht der Maßlosigkeit ungerechten und anscheinend sinnlosen Leidens halten lässt oder ob man ihn aufrichtigerweise aufgeben muss? Wer an Gott glaubt oder sogar von ihm zu wissen meint, kann sich daher an dieser Frage nicht vorbeidrücken, das verlangt, wie der Theologe A. Kreiner 27 zu Recht sagt, die intellektuelle Redlichkeit. 28 Darüber hinaus gilt, dass die Theodizeefrage nur überhaupt unter zwei Bedingungen sinnvoll gestellt werden kann: erstens unter der Bedingung, dass es Gott überhaupt gibt bzw. dass seine Existenz erkennbar ist (oder doch wenigstens vernünftig plausibel gemacht werden kann), und zweitens unter der Bedingung, dass die kosmische Wirklichkeit eine in den Grundlagen vernünftig erfassbare Ordnung aufweist. 29 Wo beides oder eines von beiden prinzipiell im Dunkeln Vgl. übereinstimmend J. Hessen (1955 a, 219 ff.) und (1962, 324 ff.). Er weist diesen Gedanken wie viele andere Denker, z. B. J. H. Fichte und N. Söderblom, als widersinnig zurück. Nach ihm ist es vermessen, Gott verteidigen zu wollen, und also darf der Mensch Gott nicht zu rechtfertigen versuchen. In Wahrheit, so J. Hessen (1955 a, 221), könne sich Gott nur selbst rechtfertigen, und das tue er »in seinem Wirken als Heilswirken«, also eschatologisch. Erkenntnistheoretisch kann der Philosoph Gott insofern nicht direkt vor den »Gerichtshof der Vernunft« ziehen und ihn verurteilen oder verteidigen wollen, als er niemals für den Menschen zum Objekt werden kann. 27 Vgl. A. Kreiner (2005, 394 ff.). 28 Noch weiter geht G. Streminger (1992, 73) und m. E. zu Recht, wenn er sagt: »… aber solange das Theodizeeproblem ungelöst ist, kann es zu Gott keine echte Vertrauensbeziehung geben.« Denn wie sollte man, fragt G. Streminger, zu einem möglicherweise indifferenten oder gar grausam-sadistischen Gott Vertrauen entwickeln können? Da G. Streminger von der Tatsache des Übels und des Leids (voreiligerweise) auf einen solchen Gott zurückschließt, hält er den Glauben an ihn (sittlich) für unvertretbar. Dieser Schluss wäre in der Tat unvermeidbar, wenn Gott die einzige und direkte Wirkursache der Welt wäre, da er dann auch direkt Übles und Böses schaffen würde, weshalb eine jede konsistente Theologie, ob philosophisch oder nichtphilosophisch, genötigt ist, sich diesem Problem zu stellen und Alternativen zu entwickeln, in denen Gott nicht alles und direkt bewirkt, um es so aufzulösen. Andernfalls bliebe von allem Glauben nur das »credo quia absurdum« oder, fast konsequenter, ein »Monosatanismus« (Ed. Hartmann) zurück. Es wird sich zeigen, dass weder Naturalismus noch Pantheismus bzw. Panentheismus in der Lage sind, das Problem des Übels einer Lösung zuzuführen. 29 Siehe P. Koslowski (1992, 263–307), besonders (263): »[…] Theodizee […] als eine wirkliche Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt [ist] nur möglich, wenn Theodizee […] umfassende Theorie der Gesamtwirklichkeit, spekulative OntoTheologie ist, nicht aber als Rechtsstreit gegen Gott aufgefasst wird […] (sie) kann nicht als statische Rechtfertigung der gegebenen Wirklichkeit […] durchgeführt wer26
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Einleitung
liegt, ist eine Klärung der Theodizeefrage unmöglich und ein jeder Antwortversuch ohne Sinn. 30 Selbst als Hypothese würde er, da nie verifizierbar, nichts taugen. Daraus folgt, dass die Fragen nach dem Seinssinn des Leids und nach der Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit von Gott und Leid, wenn sie mit philosophischem Anspruch auftreten, die argumentativ-rationale Aufhellung der fundamentalen Wirklichkeitsstruktur und ihres Zusammenhangs mit dem letzten Daseinsgrund verlangen. Diese Überlegungen implizieren ein neues Verständnis sowohl der kosmischen und biologisch-stammesgeschichtlichen Evolution als auch der tiefenbewussten Schichten des Menschen, ohne das das Leid- und das Theodizeeproblem rätselhaft bleiben. 31 Erst mit Ch. Darwins Deszendenztheorie, ja überhaupt mit dem den gesamten den […] Die Welt kann nur als Werk eines guten Urhebers gerechfertigt werden, wenn sie als eine gedacht wird, die gefallen ist und erlöst werden wird.« 30 In der Tat gibt es Autoren, die sich mit dem Theodizeeproblem ohne den Versuch, die Existenz Gottes und die Grundstruktur der Wirklichkeit zu klären, beschäftigen, so z. B. F. M. Voltaire, H. Jonas (1994), A. Kreiner (2005), C.-F. Geyer (1992), G. Streminger (1992), O. Marquard (1982), W. Schmidt-Biggemann (1988) und N. Hoerster (2017). Zumeist begnügen sie sich damit, die Theodizeeproblematik auf bloß philosophiehistorischem, rein begriffslogischem und ethischem Wege zu lösen. Die Grundargumentation ist dabei meistens folgende: Da ein allmächtiges und absolut gütiges Wesen alles kann und nur das Beste will, kann es unmöglich das Mangelhafte, Fehlerhafte, Schädliche und Destruktive wollen oder zulassen, und also kann es, wenn es Übel und Leid gibt, was niemand bestreitet, unmöglich solch ein Wesen geben. Andere Autoren wie Platon, Plotin, Augustinus, G. W. Leibniz und G. W. F. Hegel versuchen dagegen eine Lösung des Problems auf dem Hintergrund einer umfassenden Wirklichkeitsanalyse. Sie kommen interessanterweise zu einem gegenteiligen Ergebnis, was vor allem daran liegt, dass sie Gott zwar Allmächtigkeit, aber nicht Allwirksamkeit beilegen. Das bedeutet, dass Gott nicht alles direkt und allein bewirkt, sondern Machtwirken geschöpflichen Wesen überträgt. Dagegen hält I. Kant (1791) in seiner Schrift »Das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee« eine Lösung der Theodizeeproblematik, sei es positiv, sei es negativ, aus erkenntnistheoretischen Gründen für unmöglich, obwohl er – inkonsequenterweise – die Argumente der Theodizeebefürworter dann doch mit logischen Mitteln, also etwa mit dem Satz des Widerspruches zu entkräften versucht. 31 An diesem Punkt gerät die Geschichtsphilosophie J. Bernharts (1945, 8 f.) an eine problematische Grenze, da sie Sinn und Unsinn der Geschichte unabhängig von einer jeglichen Naturphilosophie ermitteln will. So spricht er von »Natur ohne EigenSinn«, was, wenn es wahr wäre (was er nicht erweist), bedeutete, dass die menschliche Kultur, die aus der Natur herauswächst, sich vielfach auf sie stützt, aus ihr schöpft und sie weiterführt, weder Ort noch Sinn im Naturganzen besäße. Im Gegensatz dazu versucht die hier vorgelegte Arbeit einen tieferen Sinnzusammenhang zwischen Natur und Kultur herauszuarbeiten, der zeigt, dass das Leiden unabhängig von der Na-
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Einleitung
Kosmos erfassenden Entwicklungsgedanken und mit der Klärung der Natur des »Unbewussten« lässt sich, so eine These dieser Arbeit, das Leid- und Theodizeeproblem erfolgreich in Angriff nehmen, denn noch bei G. W. Leibniz und I. Kant fehlten diese beiden Wissensbestände, ohne die eine überzeugende bzw. zureichende Patho- und Theodizee unmöglich ist. Andererseits gilt es, sowohl über den Freudianismus als auch über den Darwinismus hinauszugehen und nicht, wie heute die gesamte Wissenschaft einschließlich großer Teile der Theologie, in der positivistischen Natur- und überhaupt Seinsbetrachtung, die meint, alles auf Zufallsmutation und Gesetzesnotwendigkeit zurückführen zu können, stecken zu bleiben. 32 Es geht darum, eine Synthese zwischen wissenschaftlicher Metaphysik und empirischer Wissenschaft zu leisten, dann erst kommt man in Sachen Sinn des Leidens (und vielleicht auch Theodizee) über ein bloßes hypothetisches Spekulieren hinaus. 33 In eine Frage gekleidet, lautet das Programm dieser Arbeit: Wie lässt sich von dem bloßen Phänomen »Leiden« auf wissenschaftlichem Wege zu seiner vollen Wirklichkeit, sprich zu jenen wirklichen Voraussetzungen gelangen, ohne die das Leiden nicht möglich wäre? Wissenschaftlich meint dabei philosophisch-wissenschaftlich und umfasst intuitive, deskriptive, analytische und diskursiv-begründende (erweisende) Verfahren, mit deren Hilfe, wo möglich, die vorletzten und letzten Seins- und Erkenntnisgründe des Leidens ermittelt werden, die verstehen lassen, was das Leiden ist, wie es möglich ist und welches Sinn- und Unsinnspotential in ihm liegt.
turgeschichte und ihrem metaphysischen Sinn unmöglich aufzuklären ist. Vgl. B. v. Brandenstein (1975, 63–65: »Vom Sinn der Natur«). 32 Vgl. B. v. Brandenstein (1975, 59–62: »Fragen an die Entwicklungstheorie«). 33 Nichtpositivistische Alternativen zu den darwinistischen Erklärungsgründen »Zufall und Selektion« sind B. v. Brandenstein (1930, 1947, 1965–1970), H. Jonas, R. Koltermann (1997), P. Overhage (1964), J. Illies (1983) und R. Junker/S. Scherer (2013), ontologisch und erkenntnistheoretisch begründet nur bei B. v. Brandenstein.
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I. Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
1.1. Gegenstand, Herkunft und Problem einer Metaphysik als Wissenschaft In Philosophie und Wissenschaft hat das Wort »Metaphysik« keinen guten Klang, vielmehr wurde es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, mit der relativ kurzen Ausnahme des deutschen Idealismus, zum Unwort, das für begriffliche Spiegelfechterei, intellektuelle Phantasterei und leere Begriffskonstruktion steht. 1 Das war nicht immer so. Vor I. Kants (1724–1804) »Zertrümmerung« 2 der klassischen Metaphysik galt sie als die Königswissenschaft des menschlichen Denkens, 3 da sie I. Kant (Werke, III, 2011, 124) definiert die Metaphysik fälschlicherweise gerade als jenes Denken, das allein aus reinen Begriffen, also Begriffen, die ohne empirischen Bezug sind, reine Begriffe zu deduzieren sucht. Im Folgenden soll dies hinterfragt werden. 2 Vgl. M. Mendelssohn (1785) in »Vorbericht zu seinen Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes«, Erster Teil, wo er I. Kant den »Alleszermalmer« nennt. I. Kant (Werke, Bd. II, 2011, 58) betont, dass er nur die theoretische bzw. »spekulative« Metaphysik als Scheinwissenschaft entlarvt, dagegen eine praktisch-ethische Metaphysik nicht nur für möglich, sondern für notwendig erachtet. Scheinwissenschaft ist die theoretische Metaphysik nach ihm deswegen, weil sie sich auf »lauter synthetische Sätze apriori« stützt, die nach ihm letztlich Erdichtungen sind. Noch in diesem Abschnitt soll dargelegt werden, dass die Metaphysik keineswegs auf synthetischen Urteilen aufgebaut werden muss, sondern – ausgehend von unleugbaren empirischen Tatbeständen – mittels analytischen Urteilen auf dem Weg der reduktiven Erläuterungsurteile und der regressiven Erweiterungsurteile erbaut werden kann. 3 Als der »Urvater« der Metaphysik als Wissenschaft vom Sein des Seienden und als »prima philosophia« gilt Aristoteles (siehe »Metaphysik« I, 1 ff.). Von dieser »metaphysica generalis« (ab dem 17. Jahrhundert auch »Ontologie« genannt), deren Gegenstand nach Aristoteles »das Seiende als solches« (on he on) bzw. die innere Grundstruktur des Seins ist, wird traditionell die »metaphysica spezialis« unterschieden, die das Seiende im Ganzen – regionalontologisch in Kosmologie, Noologie/Psychologie und Theologie unterteilt – untersucht. Vgl. die tiefdringende »Geschichte der Metaphysik« von M. Wundt (1931), die allerdings das typische, von mir bald dargelegte Erkenntnisverfahren der Metaphysik nicht zu bestimmen weiß. 1
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
sich die Erhellung des edelsten, freilich auch schwierigsten Gegenstandes der Philosophie zur Aufgabe gemacht hatte, zum einen die Erhellung des letzten Fundaments alles Seienden bzw. das Sein des Seienden (Metaphysica generalis oder Ontologie) und zum anderen die Strukturanalyse der Gesamtwirklichkeit mit ihren Hauptregionen der Kosmologie, Noologie und Theologie (Metaphysica spezialis). 4 Fragen wie die nach dem Sein überhaupt und seiner Grundstruktur, dann nach dem Beginn, Aufbau und Ende des Kosmos, nach dem innersten Wesen von Zeit, Raum, Kausalität und Werden, nach der Natur des Geistes, nach Freiheit und Unsterblichkeit, nach dem göttlichen Urgrund und schließlich nach dem Sinn des ganzen Seins und Lebens wurden gestellt und zu beantworten gesucht. 5 Charakteristisch für diese Antwortversuche war der Anspruch, Erkenntnisse auf rationale Weise, d. h. argumentativ begründet, methodisch gesichert und systematisch geordnet, zu gewinnen. Denker wie Platon, Aristoteles, Thomas v. Aquin, R. Descartes, G. W. LeibVgl. ähnlich J. Halfwassen (2015, 11 ff.); J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 123 ff.); vgl. ebenso A. Dempf (1986, 13 ff.); vgl. dazu auch »Hist. Wörterbuch der Philosophie« (1980, Bd. 5, 1186–1279), Artikel »Metaphysik«; vgl. dazu ähnlich »Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie« (2004, Bd. 2, 870–873); vgl. dagegen Detel (2007, 13): Nach ihm behandelt die Metaphysik die Frage, welche Gegenstände (»Dinge«, »Etwasse«, Seiende) es überhaupt gibt bzw. geben kann. In dieser Fassung ist sie allerdings nicht klar von Ontologie, Gegenstandslogik und Mathematik abgegrenzt, die es alle mit »Seiendem« i. w. S. zu tun haben – die Ontologie mit der Seinsgrundstruktur alles Seienden, die Gegenstandslogik mit dem Seinsaspekt des Zusammenhangs bzw. der inneren, sachhaften Logizität in allem Seienden und die Mathematik mit dem Seinsaspekt des Quantitativ-Gestaltlichen allen Seienden; vgl. wieder anders Schwedler (2008, 2): Er versteht unter Metaphysik dasjenige, »was innerhalb des Gegebenen unfassbar bleibt und sich an allem Seienden nur als die ihm Sinn gebende Grenze indirekt zu zeigen vermag […]« Hier bleibt offen, wie sich das UnfassbarUneinholbare doch zeigt und methodisch nachvollziehbar – und nicht nur glaubend oder meinend – aufgewiesen werden kann. Wenn der »Sinn« nicht nur Wunsch und Projektion sein soll, fragt sich, wie sein objektiver, seinsmäßiger Status bestimmt ist und ermittelt werden kann. Die hier vorgelegte Arbeit wird zu zeigen versuchen, dass jegliche Metaphysik zwar von unmittelbaren Erfahrungen ausgeht, aber darüber hinausstrebt und dabei indirekt vorgeht. Das, was sie dabei erschließt, ist empirisch bzw. bloß phänomenologisch-intuitiv nicht einholbar, nichtsdestotrotz aber methodisch streng erweisbar. Vgl. zum Wesen der Metaphysik, der metaphysischen Methode und zur Transzendierbarkeit des Bewusstseins B. v. Brandenstein (1965 a, Kap. 16., 17., 18., 19.). 5 Konkret: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Wie ist das Sein in seinem Kern, an seinem »Grunde« bestimmt? Was bedeuten solche Grundbestimmungen des Seins wie Dass-Sein (Existenz, Dasein), Was-Sein (Essenz, So-Sein, Wesen) und EinsSein (Einheit), und in welchem Zusammenhang stehen sie? 4
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Gegenstand, Herkunft und Problem einer Metaphysik als Wissenschaft
niz, B. de Spinoza und C. Wolff versuchten, in diesem Sinne herauszuarbeiten, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Auch I. Kant 6 schloss sich diesem Anliegen über Jahrzehnte seines Lebens an, bis er, geweckt durch die englischen Empiristen J. Locke und D. Hume, aus »seinem dogmatischen Schlummer« 7 erwachte, diese Denkhaltung, in die er nach eigenem Bekunden zeit seines Lebens »verliebt« war, aufgab und in seiner »Kritik der reinen Vernunft« von 1781 als eitles, wissenschaftlich unmögliches Unterfangen entlarvte. 8 Trotzdem war er sich bewusst, dass im Menschen grundsätzlich ein unaustilgbarer Hang zum Übersinnlichen lebt, der immer wieder nach den letzten Seinsgründen und Seinsquellen fragt und fragen muss. Wenn dies so ist, erhebt sich sogleich das Bedenken, wie ein Wesen mit solch einem Zwiespalt möglich ist und nach den letzten Erkenntnisgründen zu fragen vermag, ohne dafür die geistige Ausrüstung zu besitzen. Kann man etwas wissen wollen, was man wesenhaft nicht wissen kann? Dies ist kein geringes geistontologisches Problem – und selbst eine Grundquelle von Leid und Zerrissenheit –, das, wie zu zeigen sein wird, auch I. Kant nicht löste. Bevor auf diese Frage näher eingegangen wird, gilt es zu klären, was die Metaphysik als philosophische Wissenschaft bedeutet bzw. als was sie gemeint war und wie sie entstand. Das Wort selbst steht mit Andronikos von Rhodos aus dem ersten Jahrhundert vor Christus in Zusammenhang, der die Schriften des Aristoteles bibliothekarisch ordnete und diejenigen, die Aristoteles selbst als »erste Philosophie« (prima philosophia) bezeichnete, nach (metá) dessen »Physik«, also nach seiner Kosmologie, aufführte. 9 »Metá« meint hier nichts anderes als ein örtliches »nach« und hat keine weitere sachliche Bedeutung. Dies änderte sich, als das Wörtchen »metá« den Sinn von »hinter« oder »über« erhielt. Während sich die »Physik« auf die erfahrbare Welt bezog, behandelte die Metaphysik die nicht direkt erfahrbaren, verborgenen und nur indirekt ermittelbaren Gründe (griechisch: archai), Fundamente, Urquellen und Urweisen allen Seins oder noch einfacher: das Sein als solches bzw. die Seinsgrundstruktur alles Seienden, die als Grundstruktur sachlich zwar das Die sachliche Auseinandersetzung mit I. Kants Metaphysikkritik, die entscheiden muss, ob Metaphysik als Wissenschaft möglich ist, folgt im Kapitel 1.12. 7 Siehe I. Kant (Werke, III, 2011, 118). 8 Siehe den Brief von I. Kant an M. Mendelssohn vom 8. 4. 1766. In: K. Vorländer (1924: »Immanuel Kant, der Mann und sein Werk«, II.3. Die sechziger Jahre). 9 Vgl. M. Wundt (1931, 2). 6
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
Erste, nach Aristoteles epistemologisch aber das Letzte, sprich Letzterkannte ist. 10 Betrachtet man diese beiden Werke des Aristoteles, die »Physik« und die »Metaphysik«, genauer, trifft diese Klassifikation auf ihn selbst nicht zu. So werden in der aristotelischen Physik metaphysische, aus der Erfahrung allein nicht beantwortbare Probleme behandelt, so z. B. die Fragen nach dem Anfang der Welt, nach den innersten Strukturmomenten von Zeit und Raum, nach dem Wesen der Bewegung, nach den Letztursachen des Lebens und nach dem Ursein der Gottheit, während in seiner »Metaphysik« nicht nur Analysen zur Seinsgrundstruktur und zu den Letztgründen der Wirklichkeit, sondern auch phänomenologische Deskriptionen und Analysen vorgefunden werden, die sich auf die direkt anschauliche Struktur des empirischen Seins beziehen. Bei der Metaphysikkritik von D. Hume und I. Kant sinkt der Begriff dann zu einem willkürlichen Spekulieren herab, wie das besonders eindrucksvoll an den sehr bissigen und im Ganzen tendenziösen Invektiven deutlich wird, die I. Kant in den »Träumen eines Geistersehers« 11 gegen den Theosophen E. Swedenborg schleudert. 12 Hier meint »metaphysisch« nur noch »übersinnlich« und »spekulativ« im schlechtesten Sinne des Wortes. »Metaphysisch«, wie I. Kant es tut, als »übersinnlich« zu bezeichnen bzw. »übersinnlich« mit »jenseits der Erfahrung« gleichzusetzen, 13 ist verfänglich und unangemessen, da es durchaus nichtsinnliche, nicht durch die Leibessinne vermittelte Erfahrungen gibt, so nämlich alle inneren und reflexiven Erfahrungen der eigenen Phantasiewelt, der eigenen seelisch-geistigen Akte und Zustände oder Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 6, Kap. 1). Siehe I. Kant (Werke, I, 2011, 918–989). Dort nennt ihn I. Kant einen »Erzphantast unter allen Phantasten« (Werke, I, 2011, 966). Nach I. Kants Biograf L. E. v. Borowski liegt, wie E. Benz (1979, 155 ff.) anführt, in dieser Auseinandersetzung der erste Keim für »Kants Kritik der reinen Vernunft« mit ihrem Anliegen, die Grenzen der Vernunft zu bestimmen. In einem Brief an Charlotte von Knobloch (zit. bei E. Benz 1979, 158 ff.) zeichnet I. Kant dagegen ein positives Bild von E. Swedenborg. E. Benz arbeitet Hintergrund und Sinn dieser Diskrepanz überzeugend heraus. 12 Vgl. dagegen die hervorragenden Arbeiten zu E. Swedenborg und I. Kant von E. Benz (2004). 13 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, Einleitung). I. Kant versteht unter »Metaphysik« jene »Wissenschaft«, die Gegenstände behandelt, die prinzipiell der Erfahrung, also auch der möglichen Erfahrung entzogen sind, was gewiss richtig ist, aber nicht ausschließt, dass sie erschlossen werden können. 10 11
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Die drei Hauptquellen der Erkenntnis als Ausgsangsbasis
der idealen Gegenstände der Mathematik und Logik, die alle direkt erfahrbar sind, ohne sinnlich zu sein, wie es umgekehrt empirische Dinge gibt (z. B. die Ultraschallwelt der Fledermäuse, den Anfang der Welt), die für die menschlichen Sinne unzugänglich sind. 14 Die ungenaue Differenzierung der sinnlichen und unsinnlichen Erfahrung in I. Kants Werk (und nicht nur bei ihm) hat sich denn auch verhängnisvoll ausgewirkt, wie gezeigt werden soll. An diesem Punkte sei darum auf die drei grundsätzlichen, nicht aufeinander rückführbaren Erfahrungsquellen hingewiesen, ohne deren genaue Unterscheidung exakte Philosophie nicht möglich ist.
1.2. Die drei Hauptquellen der Erkenntnis als Ausgsangsbasis einer jeglichen Metaphysik Als erste Quelle der Erfahrung ist die Sinneswahrnehmung zu nennen; als zweite die Anschauung innerer, rein geistiger Gegenstände, z. B. von Vorstellungen, Gedanken, Begriffen, mathematischen Größen, Phantasien, Ahnungen, Werten etc.; und als dritte Quelle der Erfahrung die reflexive Wahrnehmung der eigenen ungegenständlichen bzw. »inständlichen« 15 Selbstvollzüge (Akte) und die aus den Akten sich bildenden Zustände, also das im Selbsterleben erfahrbare, eher statische Selbstsein des Erlebenden. 16 Hierher gehören zum Das sieht auch I. Kant in der »Kritik der reinen Vernunft«, B 34, der im Falle der Mathematik deshalb von »reinen Anschauungen« spricht. 15 Der Begriff »inständlich« geht auf K. Graf Dürckheim (2001, 36) zurück, der damit alles Seiende meint, was sich vollzieht bzw. selbst vollzieht, also aktiv, selbständig und an ein Erleben gebunden ist. 16 Viele Denker versuchen, die drei Erkenntnisquellen aufeinander bzw. auf eine einzige Erkenntnisquelle zurückzuführen. So will z. B. E. B. de Condillac (1754) in seiner »Abhandlung über die Empfindungen«, worin er seine sensualistische Erkenntnistheorie entwickelt, die beiden Erfahrungs- und Erkenntnisquellen der intrapsychisch-gegenständlichen und der ungegenständlich-reflexiven Introspektion, die er beide kennt, auf die Sinneswahrnehmung zurückführen. Er bedient sich dabei der genetischen Methode, die zeigen will, dass aus der Sinneswahrnehmung die anderen Erfahrungsquellen mit Notwendigkeit abgeleitet werden können bzw. notwendig daraus entstehen. Hierbei unterläuft ihm der logisch-erkenntnistheoretische Fehler, aus einer zeitlich-genetischen Folge, die von ihm richtig gesehen wird, da das Kleinkind erst sinnliche Erfahrungen macht und später zur Introspektion und Reflexion gelangt, ein notwendiges Deduktionsverhältnis zu machen, also eine bloß sukzessive, insofern kontingente als eine deduktiv-logisch-notwendige Folge auszugeben. Obwohl dies nicht angeht, geht auch das Umgekehrte nicht an, etwa als der idealistische Versuch, 14
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
einen die Akte der Entscheidung, des Vorsatzes, der Freude, des Mitleids, der Hoffnung, des Unterscheidens und Schließens, zum anderen die aktiven Zustände der Entschlossenheit, der Einsicht, der Güte, der Gelassenheit und der Traurigkeit usw. Es ist unglücklich, all dies, wie I. Kant es tut, unter den Sammelbegriff der »Erscheinungswelt« zu fassen, mit der Folge, dass er das Ich nur logisch bzw. erkenntnistheoretisch, also abstrakt und nicht in seinen immer konkreten, realen Akten und Zuständen zu fassen bekam. Hierdurch wird mehr verschleiert als geklärt, und es ist darum kein Zufall, dass I. Kant keine Philosophie der Akte, der Selbstvollzüge und der aktiven Zustände entwickelte, dies vielmehr erst im 19. und 20. Jahrhundert von Denkern wie F. Brentano, E. Husserl, M. Scheler und N. Hartmann in den Blick genommen wurde.
aus dem reinen Denken die Sinneswahrnehmung abzuleiten. Gewiss gehen Sinneswahrnehmung und Denken eine engste Verbindung ein, und die Sinneswahrnehmung ist selbst eine sinnlich-konkrete Form des Denkens, und zwar ein unreflektiert-intuitives, implizites, am Konkreten orientiertes Denken. Aber dass sich aus diesem sinnlichen Denken das abstrakt-mathematische Denken, das introspektive Schauen und das reflexive Denken erheben und sich von den Sinnen lösen, das ist keineswegs ein notwendiger Prozess, zumal er bei vielen Menschen und erst recht bei den Tieren unterbleibt, sondern das ist ein »Sprung«, der nur möglich ist, weil im Menschen das abstraktere Denken in Logik, Mathematik, Philosophie, Ethik etc. angelegt ist und nur »schläft«, aber durch die Interaktionen mit anderen Subjekten geweckt wird, erwacht und sich durch Lernprozesse »im sinnlichen Feld« entfaltet. Richtig gesehen, ist es eine Leistung der Kultur bzw. ihrer Höhe, Tiefe und Ausdifferenzierung, dass ihre Individuen zu höchsten logischen, mathematischen, ethischen etc. Denkleistungen gelangen, eine Leistung, die an den geistigen Keimen des Menschen ansetzt, sie aber nicht macht und erfindet. Während also der Sensualismus, etwa eines E. B. de Condillac, nur die Sinneswahrnehmung als Erkenntnisquelle anerkennt, sieht der Empirismus, etwa eines J. Locke, zwei Erkenntnisquellen, die Sinneswahrnehmung und die innere Wahrnehmung (Introspektion). Leider aber differenziert er nicht genauer zwischen der gegenständlichen Introspektion und der ungegenständlichen Reflexion, was – so auch bei I. Kant – zur Folge hat, dass sie gleichgesetzt werden bzw. die Reflexion als »vorempirisch« bzw. apriorisch gedeutet wird. Aber auch die Reflexion bezieht sich auf Erfahrbares, z. B. auf die eigenen Akte und Zustände, und kann von da aus, unabhängig von weiterer Empirie, auf transzendentale Voraussetzungen reduktiv, nicht deduktiv, wie I. Kant meint, zurückschließen, die evtl. jenseits der Erfahrung liegen.
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Das Wesen der Metaphysik und ihre Abgrenzung
1.3. Das Wesen der Metaphysik und ihre Abgrenzung von Phänomenologie, Ontologie und Theologie Um sinnvoll Metaphysik zu betreiben, ist man, wie diese Überlegungen zeigen, genötigt, ihren Begriff klarer zu bestimmen. Zunächst gilt es, die Metaphysik von allen Wissenschaften zu unterscheiden, die sich ausschließlich auf das Erfahrbare, d. h. auf das sinnlich, ideal und reflexiv Erfahrbare, beziehen. Hierzu zählen alle Natur- und Geisteswissenschaften, ebenso die philosophische Phänomenologie und Axiologie oder Wertlehre. Im Unterschied zu den ersten beiden, die keine Grundwissenschaften sind, erstrebt die philosophische Phänomenologie, jene Bestimmungen, Wesenszüge und Eigenschaften eines Sachverhaltes aufzudecken, die zwar direkt erfahrbar und darum geistig anschaulich sind, aber kategorialen, sprich grundlegenden Charakter besitzen und auf andere Bestimmungen nicht zurückgeführt werden können. So verstanden E. Husserl, M. Scheler und M. Heidegger ihre Phänomenologien. 17 Wenn sich diese philosophische Arbeit weiter vertieft und über die grundlegenden Seinsstrukturbestimmungen eines bestimmten Sachverhaltes, etwa bei M. Scheler die Wesensstruktur der Reue, der Liebe, des Leidens hinausgeht und die Frage nach der Seinsgrundstruktur des Seienden überhaupt stellt, wie dies Aristoteles, M. Heidegger, N. Hartmann, G. Jacobi und B. v. Brandenstein versuchen, dann konstituiert sich eine Lehre vom Sein, eine phänomenologische Ontologie als Logos vom On überhaupt. So allgemein und grundlegend diese Seinslehre sein mag, so bewegt sie sich stets insofern im phänomenologischen Bereich, als sie die Seinsgrundstruktur (das Sein schlechthin) im erfahrbaren konkreten Seienden, sei es der eigenen Existenzvollzüge, sei es des Inder-Welt-Seins, sei es im Dingsein, herauszuheben, zu beschreiben und in ihrem inneren Zusammenhang zu verstehen sucht. 18 Stößt So spricht E. Husserl (2009) in »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« etwa von Fundierungszusammenhängen oder M. Heidegger (1979, 41) in »Sein und Zeit« von Fundamentalstrukturen. 18 Im Sinne I. Kants stellt sie »analytische Erläuterungsurteile« auf, arbeitet also solche Strukturen eines Gegenstandes heraus, die zwar in ihm, aber erst nur implizit oder, wie I. Kant (Werke, II, 2011, 52) sagt, »verworren« in ihm liegen. Das Verfahren, das zu solchen Urteilen führt, heißt die »reduktive Analyse«, da sie das Bedingte in einem Gegenstand auf seine gegenstandsimmanenten Grundbedingungen zurückführt. 17
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sie bei dieser Analyse auf die letzten, nicht mehr weiter differenzierbaren Seinsstrukturmomente, hat man es mit einer phänomenologischen Fundamentalontologie zu tun, die mit Metaphysik, wie sie I. Kant kritisierte, nichts zu tun hat und im Übrigen von Aristoteles in seiner »Metaphysik« (und in anderen seiner Schriften) als Kategorienlehre des Seins, d. h. als Lehre von den Urweisen des Seins, zu geben versucht wurde. 19 Wie N. Hartmann zu Recht betont, müssen »Seinsfragen nicht notwendig metaphysisch« sein. 20 Entgegen der heutigen Gepflogenheit, die Ontologie und Metaphysik gleichsetzt, muss daher zwischen phänomenologischer Ontologie und transphänomenaler Metaphysik unterschieden werden. 21 Was ist also unter Metaphysik sinnvollerweise zu verstehen? M. E. bleibt nur eine Möglichkeit: Sie soll jene Wissenschaft bezeichnen, die zwar von Erfahrungsgrundlagen ausgeht, darüber hinaus aber deren empirisch nicht direkt zugänglichen, sondern indirekt zu erschließenden Wirklichkeitsgründe ermittelt. 22 Ob und wie das M. Heidegger (1927) unternimmt in »Sein und Zeit« eine Wende auf den Menschen hin, insofern er den »Sinn des Seins« (seine Ur- und Grundstruktur) nicht an irgendeinem Seienden, sondern an jenem ausgezeichneten Seienden, das über ein Seinsverständnis verfügt, aufzudecken sucht, das heißt: am »Dasein« des Menschen. Nach seinem eigenen Bekunden ist ihm dieses Vorhaben in »Sein und Zeit« nicht abschließend gelungen. Im Übrigen ist es gleichgültig, auf welch konkretes Seiende sich der Erkennende bezieht, da die Seinsgrundstruktur, wenn es sie überhaupt gibt, an jedem noch so unscheinbaren Seienden muss aufgewiesen werden können. Sonst ist sie keine Seins-grund-struktur. Vgl. zu den Ur- und Grundweisen des Seins B. v. Brandenstein (1983, 104–115). 20 Siehe N. Hartmann (1933, 338). 21 Vgl. M. Heidegger (1966, 31 f.), der das problematische Verhältnis zwischen Metaphysik und Ontologie sieht und daher empfiehlt, »auf den Gebrauch der Titel »Ontologie« und »ontologisch« zu verzichten.« Dies scheint mir über das Ziel hinauszuschießen. Versteht man unter Ontologie in sprachlich wie sachlich angemessener Weise die Lehre vom Sein und seinen Grundweisen bzw. von den »Transzendentalien«, also die Lehre von der Grundstruktur des Seins überhaupt (und nicht nur dieses oder jenes Seienden), lässt sie sich präzise von der Metaphysik abgrenzen. 22 Am besten geht sie von unleugbaren empirischen Tatbeständen, z. B. von je eigenem Erleben oder von der Veränderlichkeit aller erfahrbaren Wirklichkeit aus. Vgl. dagegen I. Kant (Werke, II, 2011, 124), der festsetzt, dass Metaphysik ihrem angeblichen Anspruch nach in keiner Weise von Erfahrung ausgehe, sondern rein aus Begriffen Begriffe ableite: »Zuerst, was die Quellen einer metaphysischen Erkenntnis betrifft, so liegt es schon in ihrem Begriffe, dass sie nicht empirisch sein können«; ähnlich I. Kant (Werke, II, 2011, 118): Der spekulative Verstand sei insofern unbrauchbar, als »dieser aber, wo im Allgemeinen, aus bloßen Begriffen geurteilt werden soll, z. B. in der Metaphysik […]« Diese Behauptung ist jedoch historisch wie sachlich falsch: Zwar überschreiten metaphysische Diskurse als Urteilsketten die Erfahrung, 19
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Das Wesen der Metaphysik und ihre Abgrenzung
möglich ist, gilt es zu zeigen, doch nur in dieser Fassung lässt sich m. E. Metaphysik klar und deutlich von den positiven Spezialwissenschaften, von der philosophischen Phänomenologie und von der nicht notwendig transempirischen Ontologie unterscheiden. Doch nicht nur das. An diesem Punkt wird zudem deutlich, wie sie sich von anderen Grundwissenschaften, vor allem von der Mathematik und Logik abhebt. Während diese beiden nur bestimmte, für sich allein nicht bestandsfähige, »vorwirkliche« oder besser wirklichkeitskomponierende Aspekte des Wirklichen behandeln, die Mathematik die quantitativ-gestaltlichen, die Gegenstandslogik die relational-zusammenhangsartigen Aspekte des Seienden, behandelt die Metaphysik vollwirkliche Sachverhalte und Zusammenhänge, und zwar die seinsmäßig ersten, grundlegenden, ursprünglichsten Wirklichkeiten, klassischerweise die Wirklichkeiten Gottes, des Geistes, der Materie, des Werdens, der Kausalität, des Aufbaus des Kosmos, seinen Anfang und sein Ziel u. a. m. Mit dieser Spezifizierung lässt sich die Metaphysik bündig als philosophisch-fundamentale und damit notwendig universale Wirklichkeitswissenschaft, und weiter als jene Wissenschaft bezeichnen, die die fundamentalen Wirklichkeiten und Wirklichkeitszusammenhänge und nicht nur gewisse Aspekte derselben aufzudecken sucht. Da diese fundamentalen Wirklichkeiten und Wirklichkeitszusammenhänge der Erfahrung nur teilweise direkt zugänglich sind und im Entscheidenden sich erweisbar der Erfahrung entziehen, wiewohl sie aus der Erfahrung mittels Rückschluss über die Erfahrung hinaus erschlossen werden können, transzendiert die Metaphysik den Horizont der Erfahrung und stößt ins Transempirische und Transpositive vor. Dieses Transempirische ist aber keineswegs notwendig unsinnlicher Natur, denn die Vergangenheit bzw. der fragliche Anfang der Welt z. B. sind als solche zwar transempirisch, aber keineswegs unsinnlich oder übersinnlich, so wie es umgekehrt Nichtsinnliches und Übersinnliches gibt, das cisempirisch, d. h. diesseits der Erfahrung, liegt. Damit ist klar, dass die Metaphysik nichts mit Okkultismus und übersinnlicher Geisterseherei zu tun hat, da diese eingestandenaber stets so, dass sie von einer geeigneten, nämlich ohne Selbstwiderspruch nicht leugbaren Tatsache ausgehen. Trotzdem können sie notwendige Geltung bei sich haben (vgl. diesen Abschnitt über I. Kant). Im Übrigen beginnen weder Platon, Aristoteles, Augustinus und Thomas v. Aquin noch G. W. Leibniz und R. Descartes – im Unterschied zu B. de Spinoza in seiner »Ethik« und G. W. F. Hegel in seiner »Logik«! – mit erfahrungslosen Begriffen.
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
erweise nur auf Erfahrung beruhen, allerdings auf einer, die angeblich weder in sinnlicher Wahrnehmung noch in bloßer Phantasiebildung wurzelt. Wie fragwürdig dies ist, beweist der Umstand, dass Denker wie E. Swedenborg und R. Steiner selten stichhaltige Kriterien für die Unterscheidung von spiritistischer Phantasterei und wirklichem Einblick in »übersinnliche Welten« angeben und sich nur auf ihre Intuition berufen, die bekanntlich sehr (selbst-)täuschbar ist. Die echte Metaphysik ist da einerseits bescheidener, andererseits weitaus anspruchsvoller: Sie sagt nämlich, dass sie jene transempirischen Wirklichkeiten, die sie ermittelt, niemals direkt anschauen, sondern nur erschließen kann, doch das, was sie erschließt, mit angebbaren notwendigen Vernunftgründen und allgemein nachvollziehbaren Diskursen und nicht nur intuitiven Behauptungen zu erreichen bestrebt ist. Unabhängig von der Frage, ob und wie solche Metaphysik methodisch möglich ist, unterscheidet sie sich folglich charakteristisch von Phänomenologie, Ontologie, Mathematik und Logik und berührt Grundfragen, Grundanliegen und Grundsehnsüchte des Menschen, die, unbefangen betrachtet, den Kernbestand der Philosophie ausmachen. Wo sie diesen Kernbestand aufgibt, da verliert die Philosophie nach Aussage nicht weniger Philosophen – z. B. nach G. W. F. Hegel 23 – ihre Daseinsberechtigung und reduziert sich entweder auf bloße Methodenlehre und Erkenntniskritik oder auf eine bloße Deskription dessen, was erfahrbar ist, womit sie sich in einem vordergründigen Positivismus verfängt. Da jene Grundfragen, Grundanliegen und Grundsehnsüchte im Menschen nicht auszulöschen sind, wandern sie konsequenterweise in esoterische oder ideologische Bereiche ab, wo sie oft sehr viel Schaden anrichten und, weil wesenhaft dogmatisch, bald autoritär und doktrinär werden. Von Theologie und Religion, insofern sie sich auf Glaube und Offenbarung berufen, unterscheidet sich die philosophische Metaphysik dadurch, dass sie ihrem Anspruch nach nicht auf Glaube und Offenbarung, sondern auf Erfahrungswissen und daraus erfolgenden Siehe G. W. F. Hegel (1986, Werke 5, 13): »So merkwürdig es ist, […], so merkwürdig ist es wenigstens, wenn ein Volk seine Metaphysik verliert, wenn der mit seinem reinen Wesen sich beschäftigende Geist kein wirkliches Dasein mehr in demselben hat.« Trotz des gegensinnigen »Mainstreams« halten manche Philosophen der Gegenwart wie J. Halfwassen (2015, 11 ff.), J. B. Lotz und B. v. Brandenstein (1966) Metaphysik für unverzichtbar und als echte Wissenschaft mit ihrer eigenen Methodik für möglich.
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Das Wesen der Metaphysik und ihre Abgrenzung
notwendigen Vernunftrückschlüssen auf transempirische Wirklichkeiten, wozu auch die Wirklichkeit Gottes zählt, gründet. Die Theologie der reinen Metaphysik beruft sich darum nicht auf Offenbarung, Glaube und deren rational-systematische Durchdringung, sondern auf Erfahrung und Logik. Da die mittelalterliche Metaphysik einschließlich ihrer Theologie in der Regel den Glauben voraussetzt, ist sie nicht reine philosophische, sondern religiöse Metaphysik und religiöse Theologie, während z. B. die aristotelische und die cartesianische Theologie keinen Glauben voraussetzt und darum nicht-religiöser, sondern rein philosophischer und damit rein metaphysischer Art ist. 24 In der Mystik schließlich wird das Göttliche zwar direkt erfahren und muss daher nicht logisch erschlossen werden, doch wird es meist nicht klar und differenziert in seiner inneren Wesensstruktur erkannt. Deshalb benötigen Mystik und Religion der philosophischmetaphysischen Kritik, da alle Erfahrung, auch die des Göttlichen, der Selbsttäuschung ausgesetzt ist, und vieles, was sich Mystik, Intuition und Inspiration nennt, erweisbar mehr eine Projektion menschlicher Wünsche und Ängste darstellt als eine echte visio mystica oder Inspiration. Dem Inhalt nach gliedert sich die Metaphysik der Tradition gemäß in drei Bereiche, in die Lehre von den letzten Seinsgründen und Seinsverhältnissen des seelisch-geistigen Lebens, auch »Geistontologie«, Noologie oder philosophische Psychologie genannt, in die Lehre vom Grundaufbau des Kosmos, die Kosmologie, und in die Lehre vom Ursein, die philosophische Theologie. Beginnen muss sie, um sich sicher zu gründen, in der unmittelbaren Erfahrung des Erlebenden, um von da aus zu den Seinsgründen von Selbstsein, Leben und Welt und weiter zum Urgrund aller Wirklichkeit zurückzufragen und, wo möglich, mittels notwendiger, argumentativ vermittelter Rückschlüsse vorzudringen.
Wieder einen anderen Weg geht die phänomenologische Religionsphilosophie und Theologie etwa von M. Scheler, D. v. Hildebrand und J. Hessen, deren Ausgangspunkt zwar auch die Erfahrung, aber nicht die Erfahrung von Welt und Mensch, sondern die (angeblich) unmittelbare, »intuitive« Erfahrung des Heiligen bzw. Göttlichen in einem spezifisch religiösen Akt ist. Diese Erfahrung wird dann in einem zweiten Schritt auch logisch-diskursiv durchdrungen und systematisch dargestellt. Hier ist also die Basis im Grunde ein mystisches Erlebnis.
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1.4. Die ontologische Grundstruktur des Seins und die besondere ontologische Stellung des Leidens 25 Um die Metaphysik als Wissenschaft besser fassen zu können, ist eine detailliertere Abgrenzung von der anderen philosophischen Grundwissenschaft, der Ontologie, hilfreich. Letztere hat, wie bereits erwähnt, den Anspruch, das Sein im Seienden oder genauer, falls überhaupt vorhanden, die Seinsgrundstruktur in allem konkret Seienden – sei dieses physisch-real oder ideal, gegenständlich oder ungegenständlich, qualitativ, formal oder quantitativ – aufzufinden, so etwa bei M. Heidegger, N. Hartmann, B. v. Brandenstein u. a. Um dies zu leisten, genügt insofern ein einziges gegebenes bzw. zugängliches Seiendes, als die Seinsgrundstruktur in jedem möglichen Seienden, mag es noch so unscheinbar sein, impliziert ist, andernfalls wäre sie nicht grundhaft und grundsätzlich. Somit erhellt, dass die Seinsgrundstruktur keineswegs nur transempirisch oder außerhalb des empirisch Seienden bestehen kann, wie das bei den meisten und wichtigsten metaphysischen Gegenständen der Fall ist, sondern auch in den empirischen Gegenständen als deren notwendige Grundstruktur muss aufgezeigt werden können. Die Ontologie als die Grundwissenschaft von der Beschaffenheit bzw. dem inneren Strukturbau des Seins überhaupt hat daher drei Bedingungen zu erfüllen: –
– –
Die Seinsgrundstruktur muss erstens dadurch zugänglich sein, dass es überhaupt Seiendes, konkret Wirkliches, Phänomenales, das erfahrbar ist, gibt; sie muss zweitens in diesem Seienden die Grundhaftigkeit ihrer Bestimmungen begründet aufweisen; und sie muss drittens überhaupt durch das Denken erfassbar sein.
Die erste Bedingung ist vielfach gegeben, da der Mensch, wie gesehen, aus drei Erfahrungsquellen eine unerschöpfliche Vielfalt an Seiendem unmittelbar und mittelbar schöpft: erstens das Seiende, das sinnlich vermittelt ist, also die gesamte sinnliche Erscheinungs-
Im Falle des Leidens fällt die ontologische Kategorialstruktur mit der Existenzialstruktur zusammen, denn die Seinsgrundstruktur des Leidens ist stets eine Erlebensund Vollzugsgrundstruktur und also ein fundamentales Aktgefüge. Kategorien und Existenzialien wiederum bedeuten nichts anderes als die »Urweisen« des Seins und Lebens, hier des »leidenden Seins«.
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Die ontologische Grundstruktur des Seins
welt; zweitens das Seiende, das im Bewusstsein selbst ohne Rückgriff auf die Sinnenwelt erzeugt werden kann wie z. B. Vorstellungen, Begriffe, Gedanken, Entschlüsse, mathematische Größen, Phantasien, Werte, logische Figuren usw.; 26 und schließlich Seiendes, das in der Reflexion als Selbstakte und Selbstzustände gewahrt wird, etwa die Akte des Fragens, Zweifelns, Suchens, Erkennens und Zustände wie Stimmungen der Gelassenheit, Verzweiflung, Freude usw. All dies ist nicht nichts, sondern ist etwas, wenn auch nicht physisch-materiell Seiendes, welch Letzteres im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung nicht unmittelbar, sondern nur vermittels der leiblichen Sinne und des geistigen Wahrnehmungs- und Denkapparates zugänglich ist und als solches nur schwer in seiner eigenen Seinsbeschaffenheit aufzuklären ist und keinesfalls, wie die Materialisten und Naturalisten meinen, selbstverständlich zu Tage liegt. 27 Kurzum, es gibt viel Seiendes, das unmittelbar im Bewusstsein erscheint und das auf eine eventuelle Seinsgrundstruktur hin befragt werden kann. Ob diese Grundstruktur existiert oder nicht, und ob sie, wenn sie existiert, erfasst werden kann, kann nur die Probe aufs Exempel klären. Wie steht es damit? Wenn man von irgendeinem Seienden ausgeht, dann am besten von solchem, dessen Leugnung unmöglich bzw. direkt selbstwidersprüchlich ist. So erlebe ich mich z. B. als erkenntnissuchendes, als so und so gestimmtes, schreibendes, fragendes Wesen und kann dies nicht leugnen, ohne diese Leugnung selbst zu zerstören. Denn wenn ich sagen würde: »Ich erlebe nichts«, so ist dies ein Erleben, ein Akt des Erlebens und nicht nichts. Analog verhält es sich mit der Aussage: »Es gibt Veränderung, Wechsel, Wandel«. Wollte ich dies leugnen, indem ich sage, »Es gibt keine Veränderung«, so würde mit diesem Es handelt sich hier entweder um bloß intrapsychisch wirkliches Seiendes wie Phantasien oder Bewusstseinsakte oder um ideal Seiendes wie reine geometrische Figuren, logische Beziehungen oder Werte. Wird das Seiende wie oft, so auch von H. Pichler (1910, 3 ff.), auf das extrapsychisch Seiende, das angeblich allein daseiend ist, beschränkt, gerät man in Schwierigkeiten und engt die Ontologie unsachgemäß in naturalistischer Weise ein. Das »esse« kommt allem zu, von dem man überhaupt sagen kann, dass es ist, nicht nur dem, von dem man sagen kann, es ist in der physischen Wirklichkeit daseiend. Dasein haben auch die Inhalte einer bloßen Vorstellung, einer Phantasie, eines Gedankens, obschon nur ein imaginatives, ideales oder imaginäres Dasein, das jedoch stets etwas ist und nicht nichts. Damit muss sich an ihnen die Grundstruktur des Seins überhaupt aufweisen lassen. 27 Präzise gedacht, ist also auch die Materie (an sich) ein transempirisch-metaphysischer Gegenstand. 26
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
Satz evidentermaßen ein Wechsel von Worten, also ein Veränderungsprozess konstituiert und damit die Aussage aufgehoben. Solche ohne Selbstwiderspruch unleugbaren »Urtatsachen« gibt es viel mehr, als man gemeinhin annimmt, weswegen ich mit Bezug auf den »Wiener Kreis« von »neuen Protokollsätzen« spreche, die als Fundamentalsätze einer jeglichen Wissenschaft dienen können. Hier mögen die beiden genannten genügen, so dass sich feststellen lässt: Es ist absolut, d. h. unwidersprechbar, gewiss, dass es Seiendes gibt, z. B. mein Erleben oder Veränderliches. Von diesem konkret Seienden muss als erstes gesagt werden, dass es ist, als solches da ist, nicht nur für mich da ist (das auch), sondern zuallererst in sich da ist, man kann auch sagen, in sich besteht, in sich ruht, in sich befasst ist, kurz: »im Sein ist«, in diesem grundlegenden Sinne »existiert«. 28 Das, was einfach da ist, antwortet auf die Frage »Was ist da?«, etwa z. B. mein Erleben, diese Stimmung, diese Phantasie, diese Sinneswahrnehmung, diese Zahl, diese Frage, dieser Irrtum, dieser Wahn usw., worauf zu antworten ist: Das, was da in sich seiend ist, das ist ein Seinsgehalt, eine bestimmte konkrete Seinsqualität, z. B. dieses bestimmte Rot, dieses bestimmte Freudegefühl, dieser Gedanke jetzt und hier. Ohne diesen immer konkreten, indivdual-einzelnen Seinsgehalt, der das bestimmte Seiende mit seinem konkreten Gehalt füllt und hält, würde ein Sachverhalt, etwa eine bestimmte Farbe, eine Zahl, ein Gefühl usw. verschwinden. Das Wesenhafte und Eigentümliche dieses Seinsgehaltes ist, dass er das infrage stehende Seiende ganz individual und einmalig füllt, sozusagen von innen, sachhaltig, seinsmäßig füllt. Seinsgehalt und Seinsfüllung sind identisch, und ohne sie kann kein Seiendes, mag es noch so vage, abstrakt oder allgemein sein, da sein, bestehen bzw. erscheinen. Das Moment des Seinsgehaltes, dieses ersten Momentes der Seinsgrundstruktur, entspricht dem klassischen Seinsmoment des Da- und Dass-Seins, der Existenz, das in der aristotelischen Ontologie der »hyle«, dem »materiellen« Moment des Seins entspricht. In der Philosophiegeschichte wurde dieses fundamentalste, immer wesenhaft individual-einzelne Seinsstrukturmoment selten und, so weit ich sehe, nie gründlich thematisiert, bei Aristoteles als Als solches umfasst es nicht nur sinnlich vermittelte Gegenstände, sondern alles, was »des Seins« ist, mithin Aktvollzüge, Stimmungen, Gedanken, Begriffe usw., die vielfach nicht gegenständlich, sondern »inständlich« (siehe K. Graf Dürckheim 2001, 36) sind.
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Die ontologische Grundstruktur des Seins
»erste Substanz« und als »tode-ti« (Dieses-da) und bei Duns Scotus als »haecceitas«. Erst B. v. Brandenstein (1901–1989) hat daraus die Grundwissenschaft der Ontologie entwickelt, die Gehaltlehre oder Totik, die Lehre von den immer individual-konkreten, nie real allgemeinen, höchstens ähnlichen, oft aber qualitativ abweichenden Gehalten mit ihren qualitativen Kategorien und Gesetzmäßigkeiten. 29 Ohne sie ist keine Wissenschaft und damit auch keine Philosophie fundiert aufbaubar, weder eine phänomenologische Ontologie noch eine Metaphysik noch eine Epistemologie, denn ohne sie schwebt alles, das ohne solch einen Bezug auf einen Seinsgehalt nichts wäre, im Unbestimmten. Wie bekannt, baut auch I. Kant seine Erkenntnistheorie auf den sinnlichen Gehalten der Empfindungen auf, ohne deren ontologischen und metaphysischen Status allerdings zu klären. Das ist jedoch nicht alles. Die Seinsgrundstruktur entfaltet sich sogleich, d. h. unzeitlich zugleich, mit dem Seinsgehalt, der Seinsgefülltheit weiter und zeigt ein neues Moment: Wenn man einen Seinsgehalt erfährt oder erschließt, muss man denken, dass er als solcher gewisse Zusammenhänge konstituiert und wenigstens mit sich selbst und eventuell mit anderem zusammenhängt. Der Selbstzusammenhang bzw. die selbstbezogene Seinsform ist das, was allgemein als Identität bezeichnet wird: Voll identisch ist jedes Seiende nur mit sich selbst, partiell identisch mit vielem anderen. So ist Sokrates nur mit sich voll identisch, volle Identität wäre mit einem zweiten Sokrates nicht möglich, selbst wenn sie total gleich wären, denn der zweite ist nicht der erste und befindet sich z. B. nicht da, wo der erste ist, ist also wenigstens raumverschieden. Dagegen ist Sokrates als Grieche mit Platon, Aristoteles und Epikur (teil-)identisch, hängt also mit diesen dreien insofern real und allgemein zusammen, als sie Griechen, Philosophen, Männer, Europäer, Vorchristen usw. sind. Dieses Seinsmoment ist altbekannt und wurde als seinslogisches Formmoment in allen Dingen, so vor allem von Aristoteles erkannt und als Forma, Eidos, Logos, »Wort« oder Essenz bezeichnet. Ein Blick zurück macht klar, dass der Seinsgehalt bzw. die Qualität sachlich (nicht zeitlich) der Seinsform als dem Zusammenhangswesen eines Seienden vorausgeht, denn nur etwas, ein Seiendes, genauer, ein Seinsgehalt und nicht eben nichts kann mit sich und anderem zusammenhängen. Ein Zusammenhang ohne Zusammenhängendes ist in sich unmöglich, und also folgt das Seinsstruktur29
Vgl. B. v. Brandenstein (1965, Bd. 1: »Grundlegung der Philosophie«).
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
moment des Zusammenhangs – die »Form« als sachlogisches Bezugsmoment – dem Seinsgehalt nach, zwar nicht zeitlich, da ein Gehalt, der nicht wenigstens mit sich zusammenhängt, in sich haltlos, zusammenhanglos, völlig unverbunden und zerrissen, also unmöglich wäre. Seinsgehalt und Seinsform sind darum korrelat, bestehen zugleich und vollständig untrennbar, nur unterscheidbar ineinander, sind nicht verschiedene Dinge, sondern unterschiedene Seinsaspekte in ein und demselben Ding. Die Wissenschaft des Zusammenhangs überhaupt bzw. der Grundformen des Zusammenhangs ist die zweite ontologische Wissenschaft und kann als »Logik«, hier allerdings im Sinne von Seins- oder Sachlogik – nicht im Sinne der Wissenschaft von den Denkregeln, wie von Aristoteles entwickelt –, bezeichnet werden. Auch sie hat B. v. Brandenstein grundlegend und umfassend ausgeführt. 30 Während die Seinsgehalte immer qualitativ-einzeln sind, können die sachlogischen Zusammenhangsformen, z. B. die Formen der Gattung, der Unterordnung, der Entsprechung, der Klasse usw., real allgemein im Einzelnen bestehen und vom Einzelnen abgelöst im Denken für sich gedacht und behandelt werden. 31 In der Einheit von »Materie« und Form schließt sich nach antikem Denken die Seinsgrundstruktur ab, wobei sowohl der ontologische Status der Materie als auch derjenige der Form einerseits unterbestimmt, andererseits vieldeutig ist und dadurch die gesamte Ontologie problematisch bleibt. Nicht nur Antike und Scholastik, sondern auch moderne Ontologien meinen, mit Materie (»Gehalt«) und Form sei die Seinsgrundstruktur voll entfaltet. Das ist erweisbar nicht der Fall. 32 Vielmehr lässt sich feststellen, dass der mit sich zusammenhängende, also »geformte« Gehalt insofern ein neues Moment aus sich entlässt, als er eine Einheit bildet: Er ist einer, nicht zwei oder mehrere. Das ist ein durchaus drittes Moment, das den in der Form differenzierten Gehalt Vgl. B. v. Brandenstein (1965, Bd. 1: »Grundlegung der Philosophie«). Sie entsprechen den universalia in re und post rem des Mittelalters. 32 Hier deutet sich die Crux der dualistischen Aristotelisch-Thomasischen Ontologie von Hyle und Eidos (Stoff und Form) an, die das Hylemoment nicht recht zu fassen bekommt und das Moment der Form überdeterminiert. In ihm vereint Aristoteles nämlich die Seinsstrukturmomente des unanschaulich-begrifflich-logisch zu definierenden Wesens (forma, eidos, Essenz), die anschauliche Gestalt (morphé) und, insofern nach Aristoteles die forma selbst wirkmächtig ist, das dynamische Kraftmoment. Wie B. v. Brandenstein in seiner »Grundlegung« (1965–70) beweist, müssen diese Momente aufgrund ihrer verschiedenen Seinsmodalität in verschiedenen ontologischen und metaphysischen Wissenschaften ermittelt und bestimmt werden. 30 31
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Die ontologische Grundstruktur des Seins
wiedervereinigt und zu einer »Größe«, einer im weitesten Sinne gemeinten »Quantität« macht. So ist das Sein in seiner Grundstruktur nicht nur ein Dass und Dieses-Da (Gehalt, Existenz), nicht nur ein Was und Wesen (Essenz, Form), sondern auch ein Eines oder »Einssein« (Hen), das am ehesten auf die Frage Wie? antwortet. Die Wissenschaft, die sich mit dieser Ureigenschaft des Seins befasst, mit ihrer Größen-, Zahlen- und Mengenhaftigkeit, ist längst bekannt, meist jedoch nur als Fachwissenschaft entwickelt worden: die Mathematik. 33 Alles Seiende ist in der Tat mindestens insofern mathematisch, d. h. größenhaft-quantitativ, als es unter die Urkategorie alles Mathematischen fällt: die Einheit bzw. unter die drei mathematischen Urkategorien der Einheit, Ganzheit und Gleichheit. Ihr Wesenszug besteht im Gestalten bzw. im gestaltenden Umfassen. Am ursprünglichsten gestaltet sie den Gehalt mit seiner Form zur umfassten und umfassenden Einheit. Weiter gestaltet sie die unendlich vielen gestaltungshaft-quantitativen Größen, Mengen und quantitativen Beziehungen. Auch die Urquantität der Einheit ist grundlegend und tritt mit Gehalt und Form zeitlich zugleich, nur der inneren unzeitlichen Seinsordnung nach als drittes Moment auf. Evidenterweise kann sie nur an dritter Stelle erscheinen, da sie vereinigt und zusammengestaltet, wozu es mindestens zweier Momente, die zur Einheit gestaltet werden, bedarf. Im Grundlegenden sind dies Gehalt und Form, die in und durch die Gestaltung zur innerlich umfassten Seinseinheit gebracht werden. Die einfachste Seinsgrundstruktur offenbart somit nicht nur ein Moment oder auch nur zwei, sondern drei Momente: Gehalt, Form und Gestaltung; Existenz, Essenz und »Unienz«. Es leuchtet ein, dass sich mit ihr die Seinsgrundstruktur bzw. kategoriale Struktur des Seins überhaupt abschließt, da die Gestaltung den Gehalt mit seiner Form wiedervereinigt und gleichsam abrundet. Nach dieser Grundeinheit können nur mehr weitere neue Einheiten, also Mengen bzw. verschiedene Dinge kommen, die selbst wieder aus Gehalt, Form und Gestaltung komponiert sind. Die Grundhaftigkeit dieser trinitarischen Grundstruktur aus Gehalt/Seinsgefülltheit, Form/Seinszusammenhang und Gestaltung/
Vgl. aus neuerer Zeit die aufschlussreiche Arbeit des Thomisten J. B. Lotz (1988), der den Versuch unternimmt, das Sein in seiner Grundstruktur als Einheit (Gestaltung), Wahrheit (Form), Gutheit (Gehalt), Schönheit und Heiligkeit zu bestimmen. Unter »Grundbestimmung« versteht er das, was »Transzendentalie« im Mittelalter oder was heute »Grundkategorie« oder »Letztprädikat« bedeutet.
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Größenhaftigkeit wird daran ersichtlich, dass sie erstens nicht geleugnet werden kann, da auch eine Leugnung ihren bestimmten Gehalt, ihren Zusammenhang mit sich und anderem und ihre quantitative Bestimmung hat; 34 dass sie zweitens nicht auf Einfacheres zurückgeführt werden kann, sondern unmittelbar evident sich selbst begründet, und drittens alles Komplexere fundamental trägt und bestimmt. Denn ein noch Einfacheres als die Dreieinheit von Gehalt, Form und Gestaltung müsste erstens selbst in sich da sein, also einen Seinsgehalt haben, müsste mindestens mit sich als Form ureinfach zusammenhängen und wäre als solches eine Einheit, eine »Größe«. Gehaltgefülltheit (Qualität), Formzusammenhang (»Eidos«, »Wesen«, »Logos«) und gestaltliche Quantität (»Gestalt«, morphé) machen darum die tiefste Strukturschicht eines Seienden, also dessen »Sein« aus, und zwar durchaus anschaulich und nicht transzendent. Unstrittig kann diese Grundstruktur in jedem Seienden aufgedeckt werden, so z. B. an einem roten Blütenblatt: Die seinsfüllenden Seinsgehalte, die immer, weil füllend, konkret und einzeln sind, sind die Qualitäten von Farbe, Geruch, Schwere, Glattheit usw.; die zusammenhangbildenden Seinsformen sind die gedanklich erfassbaren und oft real allgemeinen, qualitativ leeren Begriffsstrukturen, z. B. die Pflanzengattung, die Ordnung der Lebewesen, der Zusammenhang mit einer Jahreszeit usw.; und die größenbildenden Quantitätsgestaltungen sind die zähl- und messbaren Momente, z. B. des Raumes, der Zeit, der Zahl und der Menge. Alle drei zusammen machen die Grundstruktur eines Gegenstandes aus, ob er sinnlich wahrgenommen, in der Innenwelt erzeugt oder diskursiv erschlossen wird. Eine Wirklichkeit, der eines dieser drei Seinsmomente fehlte, wäre weder erfahrbar noch denkbar, daher nichtig. Ohne Gehalt wäre sie nicht da, vor allem in sich nicht da; ohne Formzusammenhang würde sie mit nichts zusammenhängen, weder mit sich noch mit anderem (z. B. mit dem Erkennenden); und ohne Gestaltung wäre sie in sich ungeeint, also grundlegend zerrissen und damit nicht bestandsfähig. Aus diesen drei Seinsgrundmomenten lassen sich drei philosophische Grundwissenschaften entwickeln, die Gehaltlehre/Totik,
Klassischerweise werden diese Grundbestimmungen der universalen Seinsgrundstruktur »Kategorien« oder »Transzendentalien« genannt. In Sprache gefasst, nennt sie Thomas v. Aquin (1985, 4 f.) daher treffend »Ursätze«, die er, da sie nicht verneint werden können, ohne in der Verneinung gesetzt zu werden, als denknotwendig charakterisiert.
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die Formenlehre/Logik und die Gestaltungslehre/Mathematik. Sie bewegen sich, was ihre Kategorial- oder Grundlegungsstruktur betrifft, ganz im phänomenologischen Bereich, sind also anschaulich, erfahrbar und müssen nicht metaphysisch erschlossen werden. 35 Es ist klar, dass sie als dreifach ausgefaltete Ontologie, d. h. als Lehre vom Sein des Gehaltes, vom Sein der Form und vom Sein der Gestaltung, alle anderen Wissenschaften begründet und darum den Namen der »ersten Philosophie« verdient. 36 Auf ihr bauen Metaphysik, Pragmatik, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Ästhetik, Ethik, Religionsphilosophie und die Spezialwissenschaften auf, die immer schon ein, wenn auch meist unreflektiertes, Seinsverständnis implizieren. In meiner Dissertation habe ich diese phänomenologische Ontologie am Sachverhalt des Leidens entwickelt und in ihrer Besonderheit dargestellt. Sie modifiziert sich im Leiden in spezifischer Weise: Aus der Dreieinheit von Gehalt, Form und Gestaltung wird eine Fünfheit, wobei sich das dritte Moment in ein viertes und fünftes aufspaltet und dadurch die vorgelegte Seinsgrundstruktur nicht aufhebt, jedoch abändert bzw. komplizierter weitergestaltet. In jedem Leiden waltet in seinem bestimmten Sosein wesenhaft ein Mangel, der, weil er der Mangel von etwas ist, das sein sollte, einen Zwiespalt konstituiert, aus dem – als der Polarität der zwiegespaltenen, nicht getrennten (!) Momente – eine Spannung hervorgeht. Sichtlich wiederholt sich hier die trinitarische Grundstruktur des Seins wieder, da der Mangel das einfachste, gehalthafte Moment des Seins des Leidens ist, der Zwiespalt das zweite, zeitlich zugleich bestehende, der Seinsordnung nach aber folgende, formhaft-entzweiende Moment darstellt, und die Spannung das dritte, ebenfalls zugleich bestehende, doch zuletzt auftretende und das Leiden in seiner gespannten Einheit Hier wird eine tiefste philosophische Crux der Phänomenologie Husserlscher Provenienz sichtbar. Da sie nur die allgemeine bzw. »generische« Wesensstruktur eines Sachverhaltes aufdeckt, entgeht ihr weitgehend die gehaltlich-totische, wesenhaft singuläre Strukturkomponente des Seins, die wieder M. Heidegger besser sieht, allerdings nur im Blick auf den Menschen, das »Dasein«, womit die eidetische Bestimmung der Gegenstände ontologisch in der Luft hängt und einseitig wird. Ohne Totik ist keine ontologische Fundierung möglich. Das wusste bereits Aristoteles, der das Einzelsein des Seienden als »erste Substanz«, als tode-ti fasste, wissenschaftlich aber nicht ausarbeitete. Diese »Totik« liefert B. v. Brandenstein (1965, Bd. 1, 63 ff.: »Grundlegung der Philosophie«). 36 Dadurch wird auch eine jegliche Vernunftkritik begründet, weil die Vernunft bzw. die Kritik als geistiges Aktgeschehen nicht nichts, sondern etwas bzw. seinshaft ist und damit der trinitarischen Seinsgrundstruktur gehorcht. 35
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zusammengestaltende, mathematisch-größenhaft vereinigende Moment angibt. Interessanterweise bleibt die Seinsgrundstruktur des Leidens an diesem Punkt nicht stehen, sondern zeugt – als Erweis des dynamisch fundamentalen Spaltungswesens des Leidens – eine weitere Spaltung des Leidenden: Das dritte Moment der Spannung kann sich nämlich als Hemmung oder als Zwietracht, als Blockade oder als Oszillation, als Beschränkung oder Konflikt oder als beides mehr oder weniger zugleich weiter ausgestalten und offenbart so das Urwesen des Leidens in seiner intrinsischen Struktur und Dynamik – innere Entzweiung und Selbstentfremdung. 37 Aus diesem dynamischen Mangel heraus entfaltet sich die spezifisch transzendierende Zeitlichkeit des Leidens: Während die trinitarische Seinsgrundstruktur einen überzeitlichen Status aufweist, kann das Leiden nicht unzeitlich sein, sondern muss sich aus seinem NochNicht bzw. Nicht-Mehr notwendig zeitlich entfalten. Insofern ist das Leiden wesenhaft an Endlichkeit, genauer, an Potentialunendlichkeit gebunden. 38 Die weitere phänomenologische Leidensanalyse zeigt, dass die Zum Entfremdungsphänomen als »Beziehung der Beziehungslosigkeit« und »Nicht-bei-sich-zuhause-Sein« vgl. R. Jaeggi (2016). Leiden impliziert stets ein inneres Fremdwerden, ein Unverbundensein mit sich und Anderem, und zwar genau da, wo etwas verbunden und in Resonanz sein sollte. Dieser Zustand ist, oft nicht empfunden (!), typisch für das krankmachende neoliberal-ökonomische Arbeits-, Konsum- und Freizeitleben, das kein echtes a-funktionales Festen und Feiern kennt. 38 Ein rein endliches, statisch-fertiges Seiendes kann darum nicht leiden, sondern nur solche Wesen können leiden, die sich, was Aktivität und Selbstbezüglichkeit einschließt, erleben und zu transzendieren vermögen. Diese Differenzierung ist entscheidend und wird z. B. von M. Heidegger unterlassen, der den Menschen aufgrund seines Fragenkönnens und Fragenmüssens zwar richtig als wesenhaft endlichen bestimmt, aber nicht differenziert, dass Fragen (wie Leiden) nur für ein Wesen möglich ist, das jede Endlichkeit (fragend oder eben leidend) zu übersteigen vermag. Vgl. M. Heidegger (1951, 197 ff.). Insofern Leiden immer Erleben ist, kann es auch nie total passiv sein, wiewohl durch das Erleiden (Widerfahrnis, affectio, afflictio) immer ein grundpassives Moment gegeben ist, das aber erst im aktiven Erleben lebendig und erfahrbar ist. Deshalb darf Leiden nicht, wie z. B. M. Henry (2005, 124–139) dies tut, mit Erleiden, Sichempfangen und Sichertragen gleichgesetzt werden. M. Henry meint nämlich, dass das Leiden so ursprünglich wie das Leben sei, weil alles Leben notwendig ein Sich-selbst-Erleiden sei, was gewiss richtig ist. Da das Sich-selbst-Erleiden im Sinne eines Sich-selbst-Empfangens aber gar nicht leidvoll sein muss, liegt hier bei M. Henry eine Äquivokation vor, die dann zu Aussagen führt wie: Freude und Leiden seien im tiefsten Grunde des Lebens, im absoluten Leben, gleichzeitig gegeben und identisch. Wohl sind sie beide »Leben« und werden beide nicht nur lebendig-aktiv vollzogen, sondern auch erlitten, aber leidvoll ist nur das Leiden. 37
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fünf Leidensurmomente in ein kompliziertes seelisch-geistiges Aktgefüge eingewoben sind, das sich aus folgenden Akten zusammensetzt: – – – –
aus dem Akt der Wahrnehmung einer Störung/eines Widerfahrnisses (»Erleiden«, Affektion, Affliktion), aus dem Akt der (meist spontan-impliziten) Bewertung desselben als Übel, aus dem Akt eines vergeblichen, trotzdem anhaltenden meist emotionalen, eventuell auch praktischen Aufbegehrens dagegen und aus dem Akt der daraus entspringenden inneren Zerrissenheit als dem Selbstvollzug des Leidens und als Leiden an sich selbst, am »Dasein«. 39
Mangel, Zwiespalt, Spannung, Hemmung und Zwietracht treten hier auf höherer Ebene als Akte bzw. Aktmomente eines erlebenden Wesens und als Subjektzustände auf, Mangel und Zwiespalt besonders in den beiden ersten Akten, die Spannung besonders im Akt des Aufbegehrens, die Hemmung in Vergeblichkeit und Ohnmacht und die Zwietracht schließlich in der Zerrissenheit des Leidens. Dabei verweben sich stets passiv-erleidende und aktiv-mitgehende Momente, so dass auch das Erdulden beide Aspekte enthält. Daher ist rein passives Leiden so unmöglich wie rein aktives Leiden: Weder der Stein noch Gott können leiden. Darüber hinaus gilt, dass in jedem Leiden die Spur eines Anderen, Fremden, noch Unintegrierten (Nicht-zueigen-Gemachten) anwest, sogar dann, wenn das Widerfahrnis nicht aus der äußeren physischen Welt kommt, sondern aus dem Menschsein selbst stammt: So kann selbst die Freiheit als Widerfahrnis, als Last und Leid (vgl. S. Kierkegaard!) erfahren werden, mehr noch, sie ist am tiefsten Seinsgrunde des Menschen insofern ein volles echtes Widerfahrnis, als sich der Mensch die Freiheit nicht selbst geben kann, sondern sie mit seinem Erschaffensein empfängt und dann erst – nicht zeitlich, aber ontologisch später – ergreift und selbst gestaltet. Hier trifft der Mensch auf den letzten Grund seines Geschöpfseins, seine Grundpassivität, die aber noch nicht Leiden, sondern nur Erleiden (seiner selbst von seinem Ursprung her) ist, eine Grundpassivität, die nur in der Selbstaktivität des Erlebens, des aktiven Selbstlebens erlebt und erfahren werden kann. Im Gegensatz zum Erleiden besitzt Vgl. A. Holzhey-Kunz (1994), die das »Leiden am Dasein« von daseins- und psychoanalytischer Seite her untersucht.
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Leiden daher, entgegen der Auffassung von M. Henry, immer ein Moment der Aktivität. 40 Ohne die allgemein-philosophische und die leidensspezifische Onto-Phänomenologie würde aller Leidenslehre das Fundament fehlen, so dass nicht gewusst werden könnte, womit man es zu tun hat. Der Gefahr, sich in Spekulationen zu verlieren, wären Tür und Tor geöffnet. So aber gibt es Grund unter den Füßen, und viele Fragen, etwa die, ob im Urgrund des Göttlichen Leiden möglich ist und ob Tiere leiden, lassen sich einer Klärung annähern. Analoges gilt von der Aufdeckung des vorletzten und letzten Sinns des Leidens aus seiner Grundstruktur heraus. Als Vorgriff auf das Ganze darf angedeutet werden, dass das Leiden all jenes Seiende umfasst, das nicht-absolut (Nicht-Gott) ist, aber zum Absoluten bzw. zur Fülle des Seins zurückzukehren und mit ihm einszuwerden strebt. Der Weg, der diese Rück- und Einkehr theoretisch aufweist, ist weit, zumal in der Philosophie nicht das Ergebnis, sondern der Erhellungsprozess im Zentrum der Arbeit steht. Bis es möglich ist, in die Metaphysik des Leidens einzutreten, muss daher noch einige methodische Vorarbeit geleistet werden.
1.5. An den Grenzen und darüber hinaus: metaphysische Regionen und Gegenstände Wenn Wahrnehmen, Denken und Erkennen, was niemand bezweifelt, an Grenzen stößt, dann legt sich der Gedanke von Bezirken nahe, die über diese Grenzen hinausgehen. Das ist allerdings nicht notwendig der Fall, da jenseits solcher Grenzen auch nichts sein könnte. Da man z. B. heute weiß, dass sich der Kosmos ausdehnt, folgt notwendig, dass er nicht unendlich weit ausgedehnt ist, sondern verschiebliche, d. h. notwendig immer endlich bestimmte, Grenzen besitzt, jenseits derer auch nichts mehr folgen könnte. Bisher gibt es keine Hinweise auf andere Kosmen außerhalb des bekannten Kosmos, die, wenn es sie gäbe, mit dem bekannten verbunden sein müssten, weil sonst nichts von ihnen gewusst werden könnte, und mit dem bekannten Kosmos dann ein Ganzes, einen polykosmischen Megakosmos, bildeten. Anders liegen die Verhältnisse, wenn man zwar an unüberwind40
Vgl. M. Henry (2017, 13–26).
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An den Grenzen und darüber hinaus: metaphysische Regionen und Gegenstände
liche Grenzen stößt, doch so manches »von drüben« herüberdringt und so beweist, dass es jenseits der Erfahrung dynamisch-wirksame Seinsbezirke gibt. In moderner Zeit gehört das so genannte »dynamisch-aktive Unbewusste« hierher, das schon definitionsgemäß nicht als solches, sondern nur in seinen Wirkungen und Spuren im Erleben bzw. Bewusstsein erscheint und nicht direkt erfahren werden kann. Und obwohl es sich hier um eine echte, die Erfahrung real übersteigende Transzendenz und entsprechend, wenn es wissenschaftlich angegangen wird, um Metaphysik handelt, was die Psychoanalytiker nicht bemerken, würde niemand die Existenz des Unbewussten, aus dem tagsüber unentwegt – und oft ohne oder gar gegen den Willen des Betroffenen – Vorstellungen, Gedanken und Impulse und nachts die Träume steigen, leugnen. Wieder anders verhält es sich mit der Transzendenz des Vergangenen. Hier hat man es mit etwas zu tun, das zu nichts wurde und nur aus seinen Rückständen, Spuren, Nachbildern und Erinnerungsresten in der Gegenwart erschlossen werden kann. Das Vergangene als solches ist nicht erfahrbar, sondern nur seine in die Gegenwart mitgeführte Spur, weswegen eine jede historische Wissenschaft über einen metaphysischen Kern verfügt, den sie ohne Gefahr der Selbstzerstörung nicht leugnen kann. Und in der Tat geht jene Wissenschaft meist naiv davon aus, dass sich das Vergangene im Gegenwärtigen irgendwie abbildet, was nicht selbstverständlich ist. So ist z. B. keineswegs sicher, dass die physikalischen Naturgesetze am Anfang des Kosmos schon gültig waren, vielmehr könnte es sein, dass sie sich erst in einem langen Stabilisierungsprozess herausgebildet haben. Wäre dem so, dürften heutige Astrophysiker nicht ohne Weiteres auf den Anfang des Kosmos zurückschließen, sondern müssten andere Szenarien, als heute üblich, zulassen. In gewisser Hinsicht noch unerfahrbarer als die Tiefe der Gegenwart im Unbewussten und als das Nicht-mehr-Sein der Vergangenheit in der Gegenwart ist das Noch-nicht-Sein der Zukunft, da sie nie gewesen ist. Wie sie dennoch werden kann, ist eines der Urprobleme der Philosophie, da auch das Künftige eine Seinsquelle besitzen muss, die tiefer reicht als der Seinsbestand der Gegenwart, da ansonsten alles Künftige schon gegenwärtig, also nicht künftig wäre und nicht künftig sein könnte. Mit gewissem Recht entwickelte Aristoteles daraus seine tiefgründige Lehre vom Potentiellen, doch lässt sich zeigen, dass die zum Künftigen offene und befähigte Gegenwart nicht der zureichende Seinsgrund des Zukünftigen ist. Es braucht eine wei61 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
tere Seinsdimension, eine, die alles Zeitliche überhaupt ermöglicht und selbst nicht mehr zeitlich, daher wesenhaft transzendent ist und gleichsam »von oben« die Zukunft – in und aus der Potentialität der Gegenwart heraus – nährt. 41 Erst hier würde verständlich, warum etwas und nicht nichts ist und warum etwas, das als Werdendes zunächst nicht ist, entstehen und ins Sein treten kann. Darauf komme ich zurück. Wer oder was bringt schließlich die konkrete Welt hervor, bewegt sie, ordnet sie, baut sie auf und ab und um? Da die Welt bewegt-dynamisch ist, müssen auch ihre Wirkpotenzen dynamisch-aktiv sein. Das besagt schon der Kausalitätssatz, wonach etwas, das entsteht oder – wie I. Kant sagt 42 – geschieht, eine Ursache, einen realen Seins- und Wirkgrund haben muss. Warum? Weil etwas, das nicht war, dann aber ist, womit Dynamik konstituiert ist, weder allein von sich her noch von rein nichts entstanden sein kann. Das bedeutet, dass im Begriff des Entstehens und Werdens notwendig die Verknüpfung mit einem Sein gefunden werden kann, das nicht im entstehenden Ding selbst gegeben ist, aber von diesem notwendig vorausgesetzt wird. 43 Vgl. B. v. Brandenstein (1984, 196–202: »Über die Zu-Kunft«). Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 47). 43 Wie die Einleitung der zweiten Auflage der KdrV beweist, erkennt I. Kant (Werke II, 2011, 54 f.) klar, dass im Begriff des Geschehnisses, genauer, des Entstehenden der Begriff der Ursache zwar nicht als solcher enthalten ist, aber ihm dennoch notwendig zukommt, insofern, als er die notwendige Voraussetzung seiner (des Geschehnisses) Möglichkeit ist. Dagegen sagt I. Kant, dass der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang »gänzlich apriori und aus bloßen Begriffen diese zweite Vorstellung zu der ersteren hinzugefügt« werde (54 f.). Stimmt dies? Offensichtlich nicht. Denn zum einen würde ohne die Erfahrung von Veränderung, Werden und Entstehen die Frage nach der Ursache gar nicht auftauchen, womit das »gänzlich apriori« schon nicht mehr haltbar ist; zum anderen wird der Begriff der Ursache nicht synthetisch hinzugefügt, wie I. Kant meint, sondern aus dem Begriff des Geschehnisses bzw. des Entstehenden analytisch-regressiv als dessen notwendige Seins- und Denkvoraussetzung erschlossen. Die Notwendigkeit, die I. Kant durchaus und richtig im Gegensatz zu D. Hume sieht, beruht gerade darauf, dass das Geschehnis bzw. Entstehen von etwas, das vorher nicht war, logisch wie sachlich unmöglich wäre, wenn kein Sein vorausgesetzt würde, das als Wirkgrund tätig ist. Keineswegs liegt die Notwendigkeit, wie I. Kant meint, allein in der Denkstruktur des Denkenden und wird von dieser in den empirischen Sachverhalt des Geschehens und Entstehens projiziert, sondern sie wird von der Sachlage des veränderlichen Geschehens selbst gefordert. Als Was, Wo und Wie diese Ursache zu denken ist, steht damit noch offen, wogegen I. Kant entgegen seiner richtigen Erkenntnis, dass die Ursache gerade wegen ihrer Notwendigkeit nicht in der Empirie angetroffen werden kann und also transzendent bestehen muss, sagt, die 41 42
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Nur, wie geschieht dies? Mechanisch-materiell aufgrund bloßer Stoßgesetze oder durch geistige Prinzipien oder durch Zufall oder sonst wie? Auch hier stößt die Erfahrung an Grenzen, hinter denen unmöglich nichts sein kann, da Bewegung, Wandel, Aufbau und Abbau nicht allein aus sich möglich sind, sondern, wenn sie nicht als völlig zufällig oder deterministisch festgelegt betrachtet werden, initiiert und geführt sein müssen. Zumindest für die zwischenmenschliche Kommunikation, in der das Du in seinem Selbstgewahrsein nicht unmittelbar als Ich gegeben und darum transzendent ist, ist dies anzunehmen. 44 Das Problem der Kausalität hat hier eine tiefe Wurzel und Fragwürdigkeit und weist über die Grenzen der Erfahrung hinaus. In allen bisherigen Fällen liegen dynamische Transzendenzen vor, die aktiv in die Gegenwart hineinwirken, ohne als solche in der Gegenwart selbst zu erscheinen; bestenfalls drücken sie sich darin aus. Daneben gibt es nicht-dynamische, unzeitlich-statische Transzendenzen, die seit alters bekannt sind. Hierzu gehören alle Gegenstände der überendlichen Mathematik, etwa die Lehre von den unendlich kleinen und unendlich großen Größen, Beziehungen und Mengen, aber auch die reine Geometrie, z. B. des echten Kreises, der unendlichen Gerade etc. Jeder kann die Diagonale in einem Quadrat einzeichnen, und jeder Anfänger würde auf Anhieb behaupten, hierbei handele es sich um eine endliche Größe, hat er sie doch endlich mit Anfang und Ende gezeichnet. Versucht er, sie zu berechnen, muss er erstaunt feststellen, dass sie in endlichen Verhältnissen nicht zu fassen ist, sondern in sich ein unendliches Größenverhältnis befasst. Mehr noch, er kann dies stringent und unwiderlegbar beweisen, obwohl er gleichzeitig aufweisen kann, dass ein endlicher Verstand wie der menschliche dieses überendliche Größenverhältnis nicht wird unmittelbar fassen und anschauen können. Wo diese Größe liegt, da sie weder in der bewegten und endlichen Natur noch im endlichen Vorstellungsvermögen bestehen kann, bleibt dem Mathematiker rätselhaft, weswegen er nicht sagen kann, wie es möglich ist, dass sein endUrsache eines Geschehens sei das diesem Geschehen zeitlich vorangehende, also doch empirisch feststellbare Geschehen. Logisch würde dadurch jedoch der Notwendigkeitsstatus der Ursache als notwendige Voraussetzung einer Veränderung verloren gehen, den I. Kant gerade retten will. Damit widerspricht sich I. Kant selbst und hebt seine Kausaltheorie auf. 44 Selbstverständlich offenbart sich das Ich des Anderen (z. B. als heiteres) im Leib, doch eben im Medium des Leibes und nicht in unmittelbarer Gewahrung.
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
licher Verstand eine unendliche Größe in ihrer Seinsweise nachweisen kann. Und doch ist es unwiderleglich so. Hätte I. Kant, der die Mathematik so verehrte, dieses einfache Beispiel bedacht, hätte er nicht behaupten können, dass transzendente Wissenschaft, sprich begründete und theoretisch gewisse Erschließung transempirischer Erkenntnis, unmöglich ist. Die wirkliche Diagonale des echten Quadrates, die weder gezeichnet noch direkt vorgestellt noch in der Natur gefunden werden kann, besteht zwar – durch den mit Notwendigkeit geführten Beweis begründet – unleugbar und bestimmt ihre inadäquaten Abbilder, die gezeichneten und vorgestellten Diagonalen, doch kann man sie nicht erfahren und anschauen, was allein einem unendlichen Geist vorbehalten ist. 45 Und dies lässt sich in der philosophischen Mathematik aufzeigen: Das gesamte unendliche All der reinen mathematischen Größen und Verhältnisse ist keine Fiktion, sondern besteht erweisbar im Allbewusstsein Gottes und bestimmt von daher idealerweise alle endlichen mathematischen Verhältnisse der Welt, gleichsam wie eine Hintergrundfolie, die in ihrem Eigensein entzoBekanntlich sagt I. Kant (Werke, II, 2011, 45), dass alle unsere Erkenntnis, damit auch die mathematische und geometrische Erkenntnis zwar »[…] in der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel […], so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung« (II, 2011, 45). Ist das wirklich so? Muss ein Mensch, der ein Dreieck aufzeichnet, das gewiss kein echtes Dreieck ist, wie auch I. Kant weiß, nicht mindestens die Erfahrung davon gemacht haben, was Ausdehnung, Größe, Quantität, Einheit, Vielheit, Konstruktion usw. ist, um das echte Dreieck konstruieren und daran dann (!) erkennen zu können, dass diese Konstruktion notwendig erfolgt und das Strukturgefüge des Dreiecks notwendige Verhältnisse in sich schließt? Zwar lässt sich das echte Dreieck nicht aus der Erfahrung entnehmen, das sieht I. Kant richtig, aber es lässt sich als notwendige Seinsvoraussetzung der empirischen Dreiecke, die als echte gemeint sind, im Zusammenhang mit der konkreten Erfahrung von Gestalt, Ausdehnung, Quantität, Berechenbarkeit usw. erschließen. Synthetisch ist hier zwar die Konstruktion, aber die ist kein Urteil; und der Rückschluss auf die notwendige Existenz eines echten Dreieckes, das weder in der Natur noch im menschlichen Denken, sondern wegen seiner Unendlichkeitsverhältnisse nur in einem absoluten Denken bestehen kann, geht vom Empirischen aus und erreicht nicht synthetisch, sondern analytisch mittels regressiver Rückschlüsse sein Ziel, eben das echte reine Dreieck. So muss festgehalten werden, dass die notwendige und allgemeine Erkenntnis wie in der Mathematik und Metaphysik zwar mit der Erfahrung anfängt, aber keineswegs, wie I. Kant meint, unabhängig von der Erfahrung aus dem reinen Denken geschöpft wird, sondern in der Erfahrung deren zwar erfahrungstranszendente, aber mit der Erfahrung notwendig zusammenhängende, weil diese bedingende und begründende Seins- und Denkvoraussetzung dieser Erfahrung im und durch das Denken ermittelt wird. In und aus der Erfahrung zu den mit dieser notwendig zusammenhängenden, wenn auch erfahrungstranszendenten Seinsvoraussetzungen also.
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An den Grenzen und darüber hinaus: metaphysische Regionen und Gegenstände
gen bleibt, aber nichtsdestotrotz, wie die Mathematik beweist, mit Notwendigkeit aus der bedingten Weltwirklichkeit als deren unabdingbare Seinsvoraussetzung erschlossen werden kann. 46 Eine weitere halb dynamische, halb statische Metaphysik eröffnet sich an jener Grenze, wo die Frage auftaucht, wodurch das, was Lebewesen untereinander kommunizieren, getragen und vermittelt wird. Der reine Raum? Die Materie, also der mit irgendetwas gefüllte Raum? Was man unmittelbar vom physischen Raum wahrnimmt, sind Sinnesqualitäten und deren Zusammenhangs- und Raum-Zeitmomente, die Materie an sich, den notwendig anzunehmenden Träger der sinnlichen Wirklichkeit, der zwischen den Subjekten Wechselwirkung und Kommunikation ermöglicht und vermittelt, ist sinnlich nicht zugänglich. Da die Materie rein empirisch in ihrem Ansichsein nicht erfahrbar ist, eben weil alles Erlebte und Wahrgenommene nicht an sich, sondern im Subjekt als von diesem abhängige Erscheinung besteht, stellt ihre Wesensbestimmung ein großes metaphysisches Problem dar und gehört nicht von ungefähr zu den schwierigsten philosophischen Herausforderungen, die dem reflektierten Denken gestellt sind. Denn wenn es einen selbständigen Träger der physischen Werdewelt gibt – und es muss ihn, wie gesagt, geben, weil sonst keine intersubjektive Kommunikation möglich ist und alles im Solipsistischen bleibt –, dann kann dieser in seiner Selbständigkeit nicht die wesenhaft unselbständige Erscheinungswelt des sinnlich wahrnehmenden Bewusstseins sein, sondern bleibt grundlegend verborgen und kann bestenfalls erschlossen werden. Und so ist es auch: Die Materie in ihrem substanzialen Kern, in ihrer echten Trägerfunktion 47 für alle physischen und sprachlichen Wechselwirkungen, ist eine transzendente, transempirische Wirklichkeit, der man nur auf Umwegen habhaft werden kann. 48 Was z. B. von P. Plichta (2012) in Bezug auf die physische Natur nachzuweisen versucht wird. 47 Platon (1982, Bd. 5, 49 a) spricht in seinem Dialog »Timaios« von der Weltmaterie treffend als Aufnehmerin und Amme des Werdens. Daran anknüpfend vertieft Plotin die Einsicht in das Wesen der Materie und erkennt viele ihrer Züge, z. B. den, dass sie die sichtbaren Wirkungen der Weltseele bzw. der Geistkräfte aufnimmt, ohne selbst wahrnehmbar zu sein, lädt aber diese tiefe Erkenntnis leider dann mit moralisierendnegativen Mythologemen auf und bezeichnet die Materie als böse, lügnerisch, maßlos und nichtseiend. Vgl. hierzu kritisch-zusammenfassend F. Billicsich (1955, 113–116). 48 Vgl. B. v. Brandenstein (1966, Bd. 3, III., 265 ff.: »Die Materie«) und (1955, 166– 174: »Die Materie und der Raum«), der die Andeutungen Platons und Plotins zum Wesen der Materie durchdenkt, reinigt und versachlicht. 46
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
Mehr vom Lebensweltlichen her öffnen sich metaphysische Regionen, wenn man die den meisten Menschen so selbstverständlichen, in Wahrheit nicht selbstverständlichen Sinn- und Wertfragen in den Blick nimmt. Hat das Leben, hat der Kosmos einen Sinn? Hat die einzelne Existenz einen Wert, der über den Nutzwert für die Gattung hinausgeht und gewissermaßen einen Ewigkeitsstempel trägt? Ethik und Religion sind davon überzeugt, aber sie wissen, dass die tiefste Sinn- und Wertquelle solcher Phänomene wie Güte, Achtung, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe nicht in der naturalen Wirklichkeit allein wurzelt, denn dort regieren Gleichgültigkeit, Eigennutz, Vorteilsnahme, Rücksichtslosigkeit, Zerstörung, Neid und Hass, sondern, wenn sie nicht illusionär sein sollen, über die Welt in Sphären hinausweisen, die empirisch zwar nicht zugänglich sind, an die die ethisch ernsthaften und religiös hingebungsvollen Menschen aber zu allen Zeiten unerschütterlich geglaubt haben und sich von dorther berührt, getragen, genährt, auch korrigiert und ermahnt fühlen. Diese Metaphysik geht über eine bloß theoretisch-philosophische Metaphysik hinaus und bildet eine existenziell-ethische Metaphysik, wie sie etwa I. Kant mit Nachdruck vertrat, ohne die sich ein Mensch nur an relativen Realitäten orientieren kann. Wenn das ganze Sein dem Nichts verfällt, dann kann auch nichts eine letzte und höchste Gültigkeit besitzen, dann sind Güte, Achtung, Liebe und Wahrheit nichtshaft und am Ende seins-, sinn- und wertlos. Das aber widerspricht ihrem unmittelbaren Seinssinn und dem ihm korrespondierenden Wertgefühl in eklatanter Weise, wie I. Kant, E. Husserl, M. Scheler, N. Hartmann, J. Hessen, D. v. Hildebrand, K. Jaspers und B. v. Brandenstein, und früher schon Sokrates, Platon, Aristoteles, Boethius, Thomas v. Aquin, R. Descartes, G. W. Leibniz, B. de Spinoza, G. W. F. Hegel u. v. a. herausgestellt haben. 49 Wer konsequent alle Metaphysik leugnet, der darf folgerichtigerweise, wie N. Hartmann 50 betont, weder Logik noch Erkenntnistheorie, weder Mathematik noch Naturphilosophie, weder Ethik noch Tiefenpsychologie, 51 weder Archäologie noch Geschichte, 52 weder Ästhetik noch Religionsphilosophie betreiben – das ergibt alles keinen Sinn und wird bestenfalls zu Ihre Antipoden F. Nietzsche, M. Heidegger und J.-P. Sartre sehen das nicht mehr. Vgl. N. Hartmann (1933, 296 ff.). 51 Und überhaupt keine Psychologie. 52 Wie gesagt, muss auch der Historiker insofern »Metaphysik« voraussetzen, als er die Vergangenheit bzw. das, was vergangen ist und nicht mehr unmittelbar erfahren werden kann, als (ehedem) real voraussetzt. 49 50
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Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft
einem konventionalen Wort- oder Sprachspiel. Ob und wie Metaphysik methodisch solide möglich ist, werden die nächsten Kapitel mit dem Aufweis der spezifisch metaphysisch-philosophischen Erkenntnismethode und ihrer Konfrontation mit der Metaphysikkritik, besonders der von I. Kant, zu zeigen versuchen.
1.6. Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft Immer wieder ist in Philosophie und Wissenschaft zu hören, die Annahme übersinnlicher, genauer, transempirischer Wirklichkeiten sei überflüssig und müsse mit dem Occamschen Rasiermesser eliminiert werden. 53 Vorsichtigere Denker zeigen dagegen, dass diese Einstellung unhaltbar ist oder nur selten konsequent durchgehalten wird. 54 Klassisch ist der Denkfehler im angeblich metaphysikfreien Materialismus, dem entgeht, dass die Annahme einer selbständig-wirklichen Materie nicht allein auf sinnlicher Erfahrung beruhen kann, da das Wesentliche dieser Materie, ihre angenommene Selbständigkeit (Substanzialität), nicht in der Sinneswahrnehmung erscheinen kann, wo nur unselbständige, von der Wahrnehmung und dem Denken abhängige Phänomene, eben die Empfindungen und Vorstellungen als Korrelate bzw. Repräsentanten der physischen Welt erfahren werden. Daraus folgt nicht, dass diese Sinneswahrnehmung in anderer Hinsicht nicht etwas vom Wesen der Materie enthüllen könnte, aber die Siehe W. Occam (1998, 249): »Nichts darf man ohne eigene Begründung annehmen, es sei denn, es sei evident oder aufgrund von Erfahrung gewusst oder durch die Autorität der Heiligen Schrift gesichert.« In klassischer Form findet sich der Satz erstmals bei Johannes Clauberg (Logica vetus et nova 1654, p. 320): »Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem [oder: sine necessitate]«, deutsch: »Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden.« 54 Zu ihnen gehört z. B. H. Jonas (1988, 64). Auch R. Wiehl (1996, 10) fragt zu Recht, ob eine von allen metaphysischen Resten gereinigte Erfahrung »nicht ein Kunstprodukt sei, ein Destillat aus der Erfahrung, welches in Wahrheit immer auch ein Anderes in sich enthalte oder doch auf ein solches verweise.« Wenn die Erfahrung einen solchen Rest real enthält, ist er allerdings als solcher nicht »metaphysisch«, also transempirisch, wogegen die Erfahrung in der Tat so beschaffen sein kann, dass sie über die Erfahrungsgrenze hinausweist. Obwohl R. Wiehl selbst keinen Weg zu einer neuen oder zur alten Metaphysik angibt, auch nicht geben will, so meint er doch, dass die Erfahrung die Metaphysik als Gegenpart und Kontrast brauche. Dieses »Brauchen« bleibt bei ihm unbestimmt, da er nicht zeigt, wie das Denken aus seinem unmittelbaren Erfahrungshorizont in die transempirischen Regionen vordringen kann. 53
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
Substanzialität der Materie kann sie nicht direkt sichtbar machen. Zudem gilt, dass jede Wahrnehmung von Materie ein seelisch-geistiger Akt und daher geistig mit- oder rekonstruiert, also keineswegs ein »factum brutum« ist. Gerade das Materiekonzept ist im höchsten und unvermeidlichen Maße geistig und metaphysisch. Eine Denkinkonsistenz ähnlicher Art bietet der Metaphysikkritiker I. Kant, der sagt, der menschliche Geist könne von den Dingen, wie sie an sich existieren, nichts, sondern nur von ihren der Wahrnehmung bewussten Erscheinungen wissen, deren Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung mit den Dingen theoretisch nicht überprüfbar sei, und der dennoch gleichzeitig zu wissen angibt, dass diese angeblich unwahrnehmbaren und unerkennbaren Dinge an sich – – – – –
existieren, viele – und nicht etwa eins – sind, den Sinnesapparat affizieren, also aktiv sind (!) und nicht räumlich und nicht zeitlich sind (!) und dadurch, dass sie auf den Wahrnehmungsapparat wirken, die erlebten Phänomene kausal hervorbringen, vor allem die vom Menschengeist nicht erzeugbaren Sinnesqualitäten. 55
Schon J. G. Fichte 56 erkannte, dass hier ein Widerspruch vorliegt, der entweder zur völligen Verwerfung der Dinge an sich führt – so die Entscheidung J. G. Fichtes, der nur ein »Ding an sich« anerkennt, das absolute Ich – oder die Annahme zulässt, dass vom Ding an sich irgendetwas erkannt werden kann. 57 Im letzten Fall, den I. Kant selbst Wie man sieht, wendet I. Kant das Kausalprinzip auf das Ding an sich an, obwohl er stets betont, dass es nur auf die phänomenale Welt angewandt werden darf. So entsteht »schlechte« Metaphysik. Vgl. übereinstimmend die differenzierte und durchdringende Kritik von O. Willmann (1979, Bd. 3, 280 ff.). 56 Vgl. J. G. Fichte (GA I, 4, 1962–2011, 216). 57 Die Position des »kritischen Idealrealismus«, die hier vertreten wird, unterstellt, dass die physische Wirklichkeit im Bewusstsein des Erkennenden erscheinen kann, aber nicht in identischer, sondern in analoger und meist nur approximativer Weise. Letztlich steht dahinter die Annahme, dass Subjekt und Welt, was ihre Grundstrukturen betrifft, denselben grundlegenden Seinsgesetzen unterstehen. Würde das nicht zutreffen, wäre der Weltbegriff unsinnig und wären Weltwirken, Interaktion und Kommunikation prinzipiell unmöglich. Diese Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie schließt ein, dass das Subjekt im Erkenntnisvorgang aktiv ist, allerdings überwiegend rezeptiv-aktiv (»nachgestaltend«), und schließt nicht aus, dass es zuweilen, z. B. wie bei den so genannten »Sinnestäuschungen« zwecks besserer praktischer Weltorientierung, darüber hinausgeht und etwas in der Wahrnehmung »dazu konstruiert«, was so nachweisbar nicht gegeben ist. Vgl. ähnlich J. Halfwassen (2015) und B. v. 55
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Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft
um den Preis der epistemologischen Inkonsequenz vertritt, hat man es mit Metaphysik zu tun, also mit der Annahme einer Wirklichkeit, die sich der direkten Erfahrung entzieht und anderweitig erschlossen werden muss. Umso überraschender ist es, dass I. Kant, der bezüglich transempirischer Realitäten alle logischen Beweise für unmöglich hält, dennoch mittels eines echten Beweisverfahrens die notwendige Realität der Dinge an sich gegen G. Berkeley (und J. G. Fichte) festzustellen sucht, ja mehr noch im krassen Gegensatz zu seiner transzendentalen Raumtheorie, wonach der Raum nicht das Ding an sich, sondern nur die intrapsychischen Erscheinungen bestimmt, behauptet: »Lehrsatz: Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewusstsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir.« 58 Als weiteres Beispiel, das bei I. Kant eine Inkonsistenz enthüllt, die für seine Philosophie und Erkenntnistheorie grundlegend ist, sei seine Auffassung genannt, die besagt, dass das, was dem Einzelmenschen in seiner Wahrnehmung von der Welt erscheint, von einer allgemeinen, alle Menschen auszeichnenden Vernunftstruktur geprägt und geformt sei, so vor allem von den apriorischen Anschauungsformen der Zeit und des Raums und von den Kategorialstrukturen des Verstandes (Substanz, Kausalität etc). Auch in dieser Auffassung, die von niemandem bestritten wird, steckt insofern Metaphysik, als die Vernunftstruktur aller Menschen nicht als solche erfahrbar und analysierbar ist, sondern nur von einem konkreten Menschen in seiner eigenen Vernunfttätigkeit aufgedeckt werden kann. Die Übertragung auf alle – Vergangenheit und Zukunft einschließenden – Menschen, Völker und Kulturen bzw. überhaupt, wie bei I. Kant, auf alle geistige Wesen kann empirisch nicht verifiziert werden, ihre Gültigkeit liegt jenseits aller möglichen Erfahrung und ist daher transempirisch. Selbst die philosophische Phänomenologie (E. Husserl, M. Scheler, N. Hartmann, M. Heidegger u. a.), die am nur erfahrenen Phänomen zu bleiben versucht, kommt nicht ohne metaphysische Annahmen aus, etwa wenn sie wie E. Husserl die Existenz eines »absoluten Ichs« oder zeitüberlegener Wesenheiten (»Ideen«) anBrandenstein (1965 a; 1965–1970), die erweisen, dass die Grundbestimmungen von Sein und Denken in gleicher bzw. analoger Weise gelten und so »Metaphysik als Wissenschaft« möglich machen. 58 Siehe I. Kant (Werke, II, 2011, B 275, 254–257).
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
nimmt oder wenn sie von einem echten »Selbst« spricht, dem die Wesensmomente der Eigenaktivität, der Intentionalität, der Selbstgewahrung und damit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, also Freiheit zukommen. Alle diese Wesenszüge lassen sich rein deskriptiv nicht gewinnen, sondern müssen argumentativ ermittelt werden und weisen über die bloße Anschauung hinaus. Zwar wäre ein absoluter und reiner Phänomenalismus frei von aller transempirischen Theorie möglich, doch ist er nirgendwo anzutreffen, da er für den Menschen in seinem existenziellen Ernst belanglos ist. Damit nicht genug: Auch ein solcher Phänomenalismus sieht sich mit der Frage konfrontiert, was wie wem erscheinen kann – womit er sich schon selbst transzendiert und die metaphysische Grenze berührt. 59 Wie sogleich dargelegt, lässt sich das Phänomenale nämlich rein phänomenal nicht fassen. Analog verhält es sich mit der Gesamtheit der Natur- und Geisteswissenschaften, da sie alle unbewusst metaphysische Vorannahmen machen und sich darum aufheben, wenn sie solche verleugnen. Die Physik etwa geht davon aus, dass Zeit, Raum, Materie und Energie nicht nur Sinnesphänomene bzw. nur innerpsychische Realitäten (Empfindungen und Phantasien), sondern Wirklichkeiten bzw. Aspekte derselben sind, die zwischen den wahrnehmenden Subjekten bestehen und eine eigenständige Welt bilden, die schon vor dem Menschen und über ihn hinaus Bestand hat. 60 Das aber ist eine metaphysische Annahme, die rein empirisch nicht validiert werden kann. Metaphysisch-erkenntnistheoretisch ist ebenfalls die Annahme, der menschliche Erkenntnisapparat könne von der Welt an sich mehr oder weniger adäquate Begriffe bilden, und metaphysisch ist erst recht die physikalische Annahme, der Kosmos habe einen ersten Beginn, vor dem entweder nichts oder eine unendlich ruhende Energieballung oder eine anfangslosunendliche Aneinanderreihung von explodierenden und wieder zusammenfallenden Universen bestand. 61 Vgl. übereinstimmend W. Stegmüller (1969). Eine in der Physik seltene Ausnahme ist der Physiker E. Mach (1838–1916), der alle Realität auf »Empfindungen« reduzieren wollte. 61 Wie weit der metaphysische Eifer in der Physik gehen kann, beweist die unter Physikern weit verbreitete Annahme, im Urknall sei die Energie auf einen echt unendlich kleinen Punkt zusammengeballt gewesen, sprich auf eine Art echten mathematischen Punkt. Es ist aber klar, dass ein unendlich kleiner Punkt weder wahrnehmbar noch feststellbar, allerdings rein mathematisch berechenbar ist, und es kann gezeigt werden, dass er als physikalische Realität unmöglich ist. Denn vom unendlich 59 60
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Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft
Die Biologie wiederum setzt transempirisch-metaphysische Realitäten voraus, wenn sie das Prinzip des Lebendigen objektiv setzt und nicht auf rein physikalisch-chemische Bedingungen zurückführt, selbst dann, wenn sie offen lässt, woher dieses Lebensprinzip stammt. Die historischen Wissenschaften müssen, wie gesehen, annehmen, dass die Vergangenheit, die insofern metaphysisch ist, als sie verschwunden ist, in der erfahrbaren Gegenwart Spuren hinterlässt, die den Menschen über das Verschwundene etwas Reales mitteilen. Ähnlich unterstellt die Psychoanalyse die empirisch nicht direkt überprüfbare, sondern nur erschließbare, darum wesenhaft transempirisch-metaphysische Existenz des Unbewussten, was S. Freud durchaus bewusst war. Und überhaupt stehen die Geisteswissenschaften auf metaphysischem Grund, wenn sie annehmen, dass die geistige Produktion eine eigenständige Quelle besitzt, die sich nicht in bloßer Psychobiologie erschöpft, sondern z. B. Güter, Werke und Werte schafft, die für sich Bestand und Geltung haben. Und selbst die Mathematik ist ohne Metaphysik unmöglich, zumindest dann, wenn sie echte Punkte, Geraden, Linien, Flächen, die Menge aller natürlichen Zahlen, die irrationalen Größen und damit das unendlich Kleine und das unendlich Große, das sich jeder Anschauung entzieht, zulässt. Schließlich und endlich ist jede Aussage metaphysisch, auch wenn sie von einer Erfahrung ausgeht, die das Bestehen einer echten Wirklichkeit behauptet. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, beweist die Seinskonzeption Buddhas (etwa von 560–480 v. Chr.), der alles Erfahrbare, sowohl das seelisch-geistige Innenleben als auch die physische Realität, für nicht-substanzial, für »nicht-insistent«, also für nicht-wirklich bzw. für eine bloße Illusion oder Projektion hält. Allerdings fragt sich, wer hier mit welcher Kraft illusioniert bzw. projiziert – soll es sich dabei wieder nur um eine Illusion oder Projektion oder nicht doch um ein reales, wirkliches Wesen handeln, das die gewaltig-schöpferische Kraft besitzt, ein ganzes Universum zu Kleinen lässt sich auf zeitlich-endliche Weise niemals ein Übergang zum zeitlichräumlich Endlich-Ausgedehnten herstellen und entsprechend kann sich aus solch einem Punkt unmöglich das bekannte und stets ausgedehnte Universum entwickelt haben. Analog verhält es sich mit der These der »keine-Grenze-Bedingung« von S. Hawking, die besagt, dass der Urknall aus einem anfangslos-zeitlos, also ewig unverändert bestehenden Vorzustand hervorgegangen sei. Was aber in der Ewigkeit, die ja unendlich ist, nicht geschah, kann nie geschehen; das zeigte schon I. Kant in seiner ersten Antinomie.
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
imaginieren? Wenn Buddha dem Menschen die Möglichkeit zugesteht, aus eigener Entscheidung und Kraft sich von dem sonst von ihm als deterministisch gedeuteten samsarischen Weltlauf (dem bedingten Entstehen) zu lösen, dann ergibt dies nur unter der metaphysischen Annahme einen Sinn, dass solch ein sich befreiendes Wesen über eine innere Freiheitspotenz verfügt und fähig ist, sich selbst und anderes zu bestimmen. Ein Wesen nämlich, das sich aus sich selbst bestimmt, ist eo ipso selbständig, eigenständig, im echten und vollen metaphysischen Sinne »substanzial« und nicht nur passive Erscheinung, Akzidenz, Illusion oder Projektion. Denkt man die Sache weiter und erkennt, dass die Behauptung, alles Seiende sei unselbständig und nur abhängig wirklich bzw. nur phänomenal, in einen infiniten, nie fertigen, immer fragmentarischen Regress führt, ersieht man, dass solche Unselbständigkeit eine verborgene selbständige Wirklichkeit impliziert, weil alles Unselbständige nur dadurch unselbständig ist, dass es von einem eigenständig Wirklichen abhängt. Da das Sein im Letzten nur ein Ganzes sein kann, denn ein Fragment, dem nichts fehlt, ist ein Widersinn, muss das Ganze als Ganzes notwendig unabhängig und selbständig, also vollwirklich sein. Selbst im Falle eines real anfangslosen Weltgeschehens, das sich im infiniten Regress des Denkens andeutet, wäre die unendlich-anfangslose Reihe des bedingt Entstehenden als solche ganz, genauer, unendlich-ganz und damit als ganze notwendig selbständig und nicht nur das Akzidens oder die bloße phänomenale Erscheinung irgendeiner weiteren Wirklichkeit. 62 Ergo: Phänomenalität ist wirklichkeitsfrei nicht zu denken. Zumindest muss derjenige, dem etwas erscheint, als Wirklichkeit und nicht mehr nur als Phänomen angesetzt werden, da er rein passiv nicht gedacht werden kann. Denn er muss mindestens in der Lage sein, sich das Phänomen erscheinen zu lassen. Das aber impliziert Aktivität, Eigenheit, Bewusstsein, Intentionalität und basale Reflexivität, also »Geist«, selbsttätigen, damit selbständigen Geist. Was aber selbständig ist, ist eo ipso wirklich und nicht nur Erscheinung, nicht nur Akzidenz oder Effekt. Daher kann entgegen I. Kant das empirische Ich nicht nur Erscheinung, sondern es muss, da es sich unmittelbar als selbsttätig-wirksam, selbstgewahrend und selbstgestaltend erfährt, zumindest auch »Ding an sich«, selbständige geistige Realität sein. Im Grunde meinte genau dies R. Descartes mit seinem »Cogito, (ergo) sum.« Wohl ermittelte er nicht, was er genau unter dem Sein des sum versteht, aber aus dem Kontext wird klar, dass er damit nicht etwas bloß Erscheinendes/Phänomenales, sondern etwas wirksam und daher selbständig Seiendes, in diesem Sinne eine echte lebendige Substanz meinte, die nach I. Kant angeblich nie erfahren, nur transzendental als notwendige Voraussetzung des empirischen Ich erschlossen werden kann. Da-
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Die Unvermeidbarkeit metaphysischer Annahmen in Alltag und Wissenschaft
Die Wirklichkeit als selbständiges An-sich-sein, wo auch immer sie anzutreffen ist, ist demnach, wie schon Aristoteles 63 betonte, die erste und oberste Kategorie des Seins und Werdens. Solche Wirklichkeit ist für den begrenzt und perspektivisch wahrnehmenden Menschen nur bedingt erfahrbar und reicht über den Erfahrungshorizont hinaus, weswegen sie metaphysisch ist. Selbst wer sie leugnet, setzt sie voraus, wenigstens insofern, als er sein Leugnen für wirklich, für seiend, für wirksam, dynamisch-aktiv und für wahr hält. Das Wirkliche als solches bzw. das Wirkliche überhaupt ist daher nicht zu leugnen; es kann nicht nur unwirkliche Erscheinungen, Illusionen und Projektionen geben, da alle diese entstehen und daher eines realen, wirklichen, weil wirksam-dynamischen Entstehungsgrundes und einer sie tragenden Wirklichkeit bedürfen, die, auch wenn sie nicht direkt erfahren werden kann, gedacht werden muss. Dass schlussendlich auch der Alltagsmensch zahllose metaphysische Vorannahmen macht, meist in der Tat naive, manchmal verschrobene und phantastische, das braucht hier nicht belegt zu werden. Doch beweist dieses unreflektierte Verhalten, dass im Menschen eine tief berechtigte Ahnung steckt, dass es über ihn hinaus Wirklichkeiten gibt, die er zwar nicht eins zu eins in seiner Erfahrung abbilden, mit denen er aber irgendwie in Verbindung treten kann und immer schon verbunden ist. Denn alles Metaphysisch-Transzendente, wenigstens insofern es für Menschen relevant ist, ragt, obschon nur in Spuren, in die Immanenz ihres Erlebens und Lebens hinein, ob es die objektive Materie ist oder das andere, nicht als solches erfahrbare Ich (das Du), ob es der Ursprung der Dinge oder ihr geheimnisvolles Ziel ist, ob es die idealen mathematischen Größen oder die ethischen Werte, das Unbewusste oder das transzendentale Ich, die Vergangenheit oder die Zukunft sind. Alles ist mit allem verbunden und bildet dadurch nicht nur Differenzen und Grenzen, sondern überspannt diese auch. Wie solch ein Überstieg theoretisch möglich ist, soll bald dargelegt werden.
gegen revoltierten zu Recht die deutschen Idealisten, auch wenn sie über das Ziel hinausschossen und das substanziale Ich zu einem göttlichen Ich verabsolutierten. Ein aktueller Vertreter solch eines »neuen Realismus«, der nicht nur das Bestehen echter Wirklichkeit, sondern auch ihre Erkennbarkeit vertritt, ist M. Gabriel (2018). 63 Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 6, Buch IX, 7–8).
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
1.7. Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik Ein Hauptvorwurf an alle Metaphysik, insofern sie mit dem Anspruch auftritt, Wissenschaft von der Wirklichkeit als ganzer und in ihren letzten Gründen zu sein, lautet, dass sie im willkürlich phantastischen Sinne »spekulativ« sei. Damit meint man, dass sie erstens auf keinem ausweisbaren empirischen Boden stehe und zweitens willkürlich aus allgemeinen Begriffen deduktiv konkrete Realitäten und spezifische Wahrheiten ableite. Es kann kein Zweifel bestehen, dass dieser Vorwurf, den I. Kant als erster mit epochaler Wirkung erhebt, in einigen Fällen zu Recht besteht. Denn wenn am Anfang eines Diskurses keine Erfahrung, sondern ein »bloßer« allgemeiner Begriff steht, aus dem dann versucht wird, das konkrete Weltgebäude deduktiv vom Allgemeinen zum Besonderen übergehend abzuleiten, dann hat man es mit einer Fehlform der Metaphysik und damit des philosophischen Denkens überhaupt zu tun. 64 Die Kritik setzt dabei an zwei Punkten an: Erstens kann menschliches Denken, wenn es nicht beliebig oder dogmatisch sein will, nicht anders, als von irgendeiner Erfahrung auszugehen, welche allerdings nicht die sinnliche sein muss, sondern auch eine imaginative, ideale oder reflexive sein kann; und zweitens kann aus allgemeinen Begriffen unmöglich ein weniger allgemeiner Begriff oder eine konkrete Wirklichkeit deduktiv abgeleitet werden. Denn im Allgemeinen ist niemals das Besondere, vielmehr im Besonderen das Allgemeine enthalten. Allein aus dem Begriff Mensch kann niemand ersehen, welcher konkrete Mensch gemeint ist; dagegen kann aus Sokrates, der unmittelbar, direkt, ganzheitlich, also »intuitiv« erfahren werden muss (soll er überhaupt erfahren werden), das Menschsein analytisch ermittelt werden. Letzteres ist aber keine synthetisch-deduktive, sondern eine analytisch-reduktive Operation. Wie man sieht, übertragen deduktive Philosophien das mathematische Verfahren, wo solche Deduktion oder besser operative bzw. kombinatorische Konstruktion möglich ist, auf das ganz anders geartete philosophische Denken, das umgekehrt verfährt, indem es »reduktiv« oder »regressiv« aus konkreten Erfahrungsinhalten deren notwendige und meist allgemeinere Seinsvoraussetzungen rückfragend, rückführend und damit analytisch und nicht synthetischL. Feuerbach (1955, 80) sagt klug und kritisch: »Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie zu beginnen.«
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Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik
konstruktiv (wie in der Mathematik) aufzudecken und zu erschließen sucht. Was die deduktiv-synthetische Begriffsbildung betrifft, sind klassischerweise die Philosophen C. Wolff, B. de Spinoza und G. W. F. Hegel zu nennen, die aus obersten und allgemeinen Denkgesetzen mittels einer scheinbar an die Mathematik angelehnten Methode das konkrete Seins- und Weltgeschehen an der Empirie vorbei zu deduzieren suchten. So will C. Wolff 65 (1679–1754) aus bloß denklogischen Regeln, z. B. aus dem Satz des Widerspruches, Seinsverhältnisse, also etwa die Kausalität bzw. den Satz vom zureichenden Grunde und die Naturgesetze deduktiv ableiten, und so beginnt B. de Spinoza 66 seine »Ethik« mit einer dogmatischen Definition der absoluten, nur selbstbestimmten Substanz (causa sui). In ähnlicher Weise hebt G. W. F. Hegel 67 in seiner »Wissenschaft der Logik« 68 mit dem reinen allgemeinen Sein an, um dann daraus mittels der dialektischsynthetischen Methode ohne Rückbezug auf die Empirie alles weitere konkrete Weltsein, z. B. das Werden, deduktiv abzuleiten. 69 Vgl. C. Wolff (1720, Kap. 2.). In: »Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt« und (1728) in dem zusammenfassenden Werk »Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen«. Kritisch nimmt W. Stegmüller (1970 b, 12 ff.) zu C. Wolff Stellung; vgl. auch den Artikel über C. Wolff von L. Kreimendahl (1994, 215–246). Eine genauere Analyse zeigt, dass C. Wolff die philosophische Zentralmethode zwar gut sieht, die darin besteht, durch Argumente von empirischen Tatbeständen zu deren bedingenden und ermöglichenden Gründen reduktiv zurückzufragen. Doch vermischt er dies mit der mathematischen Deduktion, die operiert, konstruiert und kombiniert, nicht analytisch auflöst und nicht vom Bedingten zum Bedingenden zurückfragt, sondern umgekehrt vom Bedingenden Bedingtes synthetisch abgestaltet. Hierin verfällt er wie viele Denker seiner Zeit dem »Zauber« des mathematischen Szientismus. Vgl. auch: C. Wolff (1730, § 27 ff. und § 56 ff.: »Erste Philosophie oder Ontologie«). Eine tiefdringende Kritik bietet H. Pichler (1910, 7 f.: »Über Christian Wolffs Ontologie«). Was das konkrete Beispiel betrifft, so ist kritisch zu sagen, dass zwar der Kausalsatz den Identitätssatz voraussetzt, jener aus diesem jedoch nicht ableitbar ist. Denn der Identitätssatz gilt schon für ein einziges Seiendes, während die Geltung des Kausalsatzes mindestens den Zusammenhang von zwei Wirklichkeiten voraussetzt. Damit ist evident, dass dieser nicht aus jenem deduktiv gewonnen werden kann. 66 Vgl. B. de Spinoza (1967, 3, 1. Definition). 67 Vgl. G. W. F. Hegel (1986, 82 f.). 68 Vgl. die treffende Kritik der hegelschen »Wissenschaft der Logik« durch L. Feuerbach (1955, 58 ff.), insbesondere ihres »Nichtsdiskurses«; vgl. zu Sein und Nichts Aristoteles: »Metaphysik« IX, 10; vgl. A. Lehmen (1923, Bd. 1, 327 ff.); vgl. J. B. Lotz (1992, 269 f.) in W. Brugger (1992). 69 Auch I. Kant lehnt sich an die Mathematik an und entwickelt daraus z. B. seine 65
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
Da fragt sich sogleich, ob solche Begriffe wie absolute Substanz, Causa sui, reines Sein und reine Vernunft überhaupt sinnvoll sind, also eine echte Realität treffen oder nur leere Begriffshülsen darstellen? 70 Unumstößliche Tatsache ist, dass die Menschen in ihrem Wahrnehmen und Denken nur konkret Seiendes, dieses und jenes und alles in gegenseitiger Abhängigkeit erfahren – von einer reinen absoluten Substanz oder einem reinen Sein, frei von allen konkreten qualitativen Bestimmungen und unabhängig nur in sich stehend, wissen sie nichts, zunächst jedenfalls nichts. Somit lässt sich nicht davon ausgehen, hier baut alle Deduktion, kritisch gesehen, auf Sand. Zu Recht sagt daher W. Windelband, nachdem er die außerordentliche Leistung G. W. F. Hegels gewürdigt hat: »Freilich entfaltete er am Gegebenen die Willkür des konstruktiven Denkens, die das Wirkliche nicht darstellte, wie es empirisch sich darbietet, sondern so, wie es in der dialektischen Bewegung sein sollte, und die Vergewaltigung des Tatsächlichen konnte da bedenklich werden, wo er versuchte, das empirische Material in ein philosophisches System zu bringen, so in der Naturphilosophie, in der Geschichte der Philosophie, in der Geschichte überhaupt.« 71 Darüber hinaus fragt sich, wie die Erkenntnismethode der Deduktion überhaupt gerechtfertigt werden kann, und da zeigt sich, dass hier in fundamentaler Weise Willkür im Spiel ist, die dem echten Erkenntnisprozess zuwider läuft. Wenn G. W. F. Hegel aus dem reinen Sein die Identität desselben mit dem reinen Nichts dialektisch deduziert und daraus – als Wechselspiel von Sein und Nichts – das Werden ableitet, dann kann dies nur um den Preis der Täuschung gelingen, da erstens die Identität als grundlegender Selbstzusammenhang des Seins dem Nichts nicht zukommen kann, weil das Nichts transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe und der Natur der reinen Vernunft, ja er meint sogar, die Naturgesetze aus dem Wesen der Vernunft ableiten zu können. In Wahrheit handelt es sich aber nicht um eine mathematische Deduktion apriorisch synthetischer Urteile, sondern um eine Rückschließung (Reduktion oder Regression) von der Erscheinungswelt auf ihre notwendig anzunehmenden Denkund Seinsvoraussetzungen mittels reduktiv-regressiver, immer analytischer Urteile. Diskursivität zwar allemal, aber nicht deduktive Diskursivität, die nur in der Mathematik, nicht aber in Logik und Philosophie möglich ist, wo alle Diskursivität reduktiv und regressiv verfährt. 70 Causa sui nicht im unmöglichen Sinne einer Selbstverursachung bzw. Selbsthervorbringung (aus nichts), sondern einer ursprünglichen Selbstbestimmung. Besser wäre daher »Conditio sui« oder »Determinatio sui«. 71 Siehe W. Windelband (1957, 527).
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Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik
sonst ein Seiendes wäre, woraus folgt, dass das Sein mit dem Nichts unmöglich identisch ist, und da zweitens das angeblich reine Nichts, wie L. Lütkehaus 72 zu Recht betont, bei G. W. F. Hegel keineswegs rein, sondern sehr seinshaltig und seinswirksam ist und bei G. W. F. Hegel in der Konstitution des Werdens als realer, weil wirksamer Gegenpart zum Sein fungiert, womit es seine Nichtshaftigkeit verliert. Bedenkt man das Wesen des Begriffs der Sache und dem Wesen des Erkenntnisvorganges nach, liegt auf der Hand, dass ein echter Begriff nur an und in etwas Begriffenem gebildet werden kann. Wo nichts, also nichts Seiendes im weiten und nicht nur physischen Sinne begriffen wird, da kommt kein Begriff zustande. Woher rührt aber das zu begreifende Seiende? Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird dieses Seiende unmittelbar wahrgenommen (etwa auch selbst erzeugt wie in der Phantasie und im Handlungsgeschehen) oder es wird mittelbar erschlossen. Im zweiten Fall gelingt die Erschließung nur, wenn sie von etwas ausgeht, das unmittelbar gegeben, unmittelbar erfahrbar ist, da sonst die Erschließung keinen Ausgangspunkt besitzt. Ein echter Begriff impliziert daher letztlich immer einen direkten, unmittelbaren Erfahrungsgrund, auch wenn er sich in vielen Fällen darin nicht erschöpft. So geht z. B. der Begriff »Vergangenes« von den unmittelbaren Erfahrungstatsachen erstens des »Gegenwärtigen« und zweitens des »Wandelbaren, Wechselhaften« aus, erschöpft sich darin aber nicht, sondern schließt über das Erfahrene in eine Sphäre zurück, die nicht mehr als solche erfahren werden kann, eben die Vergangenheit. Als Argument lautet dieser Gedankengang: »Wenn etwas existiert und (mir) gegenwärtig ist, was gewiss ist, und wenn dieses Gegenwärtige wandelbar ist, was ebenfalls sicher ist, da seine Veränderbarkeit erfahren wird, gilt unter der Annahme, dass diese Veränderlichkeit schon vor der jetzigen Gegenwart in Aktion war, dass es Vergangenes als ehemals Gegenwärtiges als zeitliche und logische Voraussetzung des Jetzigen gegeben haben muss.« Im Begriff des Vergangenen verbinden sich unmittelbare Erfahrungstatsachen mit erfahrungstranszendierenden, hier allerdings nur hypothetischen Rückschlüssen. Doch ohne echte Erfahrungsgrundlage wären diese Rückschlüsse unmöglich. Das aber ist keine dem mathematischen Vorgehen analoge Deduktion (allerdings auch keine Induktion), sondern eine rückfragende und rückschließende, in die72
Vgl. L. Lütkehaus (2005, 660).
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
sem Sinne reduktiv-regressive Analyse, die aus einem Erfahrungsmaterial dessen notwendigen Seins- und Denkvoraussetzungen ermittelt. Ein Begriff begreift demnach nur dann etwas, wenn er etwas unmittelbar Anschauliches fasst oder wenn er, von solchem ausgehend, nicht mehr unmittelbar Anschauliches mittelbar durch Rückschluss von unleugbaren Erfahrungstatsachen auf deren notwendige, wahrscheinliche oder mögliche Seinsvoraussetzungen erschließt. Gerechterweise muss gegenüber I. Kant, der eine Verflachungsform der Metaphysik, wohl die Wolffsche Schulmetaphysik, im Blick hatte, die er ansonsten selbst am Katheder lehrte, gesagt werden, dass die großen Metaphysiker wie Platon, Aristoteles, Boethius, Thomas v. Aquin, R. Descartes und G. W. Leibniz solcher falschen Begriffsbildung selten verfallen sind. Im Gegenteil bedienten sie sich zumeist des korrekten Rückschlussverfahrens, ausgehend von unleugbaren Erfahrungstatsachen, deren notwendig oder wahrscheinlich anzunehmenden Seinsbedingungen sie dann mittelbar erschlossen. Keineswegs konstruierten sie wie C. Wolff, B. de Spinoza oder G. W. F. Hegel more geometrico oder more genetico-dialectico aus willkürlich bzw. dogmatisch aufgestellten Behauptungen irgendwelche »Wahrheiten«. Hier zeigt sich bei I. Kant eine Verkennung des wahren metaphysischen Erkenntnisverfahrens, wenn er die missbräuchlichen Fehlformen, die es zu seiner Zeit gab, mit seinen reifsten Hochformen undifferenziert zusammenstellt. Der Vorwurf des Dogmatismus trifft daher keineswegs generell, sondern nur für bestimmte Fälle zu. Echte metaphysische Begriffs- und damit Erkenntnisbildung geht nicht konstruierend vor, ist nicht synthetisch, daher auch nicht dialektisch oder genetisch, sondern immer diskursiv-analytisch, und zwar dadurch, dass sie aus etwas unleugbar Gegebenem bzw. ganzheitlich-direkt-intuitiv Ergriffenem wie z. B. dem Veränderlichen dessen innere, meist verborgene Grundstruktur analytisch-reduktiv herausarbeitet, um diese schließlich – wiederum analytisch, dann aber regressiv – auf dessen vorletzte und letzte Seinsvoraussetzungen »anti-genetisch«, sprich rückfragend, rückführend, anti-konstruktivdiskursiv zurückzuführen. Um einer größeren Klarheit willen schlage ich für dieses intuitiv-diskursive Erkenntnisverfahren daher das Kunstwort »Implikatanalyse« vor. Am Anfang seiner »Physik« hat Aristoteles 73 dieses spezifisch 73
Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 6, Kap. 1: »Vorlesung über die Natur«).
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Fehlformen wissenschaftlicher Metaphysik
der Philosophie eigene Erkenntnisverfahren klar formuliert: Alles philosophische Erkennen geht von dem für den Menschen erkenntnismäßig Ersten, das das seinsmäßig Spätere bzw. Letzte ist, aus und schreitet zum seinsmäßig Ersten, Grundlegenden, Ursprünglichen, das das erkenntnismäßig Spätere, schließlich Letzte ist, durch eine Art Rückfragen und Rückdenken zurück. A. v. Pauler (1876–1933), der Lehrer B. v. Brandensteins, rehabilitierte diese Denkmethode im 20sten Jahrhundert, reinigte sie und stellte sie als eigene Erkenntnismethode der Erfahrungs- oder Anschauungsintuition, 74 der mathematischen Deduktion und der spezialwissenschaftlichen Induktion gegenüber und nannte sie »philosophische Reduktion«. 75 In Wahrheit Es sei nochmals betont, dass alles Denken von der Erfahrung (sinnlich, introspektiv, reflexiv) ausgeht, welche wiederum nur durch einen direkten, unmittelbaren, ganzheitlich-ungeteilten, konkreten Hinblick, sprich »intuitiv« bzw. »konspektiv« vollzogen werden kann. Die »Intuition« ist darum erweislich sowohl das Fundament aller diskursiven Erkenntnismethoden als auch der Abschluss eines jeden Diskurses. Falls es der meist zu übenden Intuition gelingt, in den Erfahrungsgegenstand tiefer und doch direkt hineinzuschauen, vielleicht sogar bis auf seinen anschaulichen Grund, dann erfolgt das, was E. Husserl »Wesensschau« (Ideation), J. G. Fichte »intellektuelle Anschauung«, H. Bergson »metaphysische Intuition« und was Thomas v. Aquin »Abstraktion« als das direkte Abheben einer Form vom sinnlichen Grund nennt. Aus dem Phänomen wird seine qualitative Eigenart direkt erfasst und ihre innere, sachlogisch und begrifflich gefasste Binnenstruktur herausgehoben. Um der Ideation aber epistemologisch Geltung zu verschaffen, muss sie auf einem nicht-intuitiven, diskursiven Weg gesichert, sprich methodisch begründet werden. Das leisten H. Bergson und E. Husserl, soweit ich sehe, nicht. Überhaupt fehlt bei E. Husserl, M. Heidegger und anderen Phänomenologen und Existenzialphilosophen zwar nicht der philosophische Ergründungsimpuls, aber der dazu notwendig hinzugehörende Begründungswille mit seiner entsprechenden philosophischen Begründungsmethodik, vor allem mit der Arbeit an der »negativen Evidenz« mittels der argumentatio ex negativo. So sieht es auch V. Hösle (1997, 87–99). 75 Vgl. A. v. Pauler (1925, 7–19), (1929, 269 ff.), (1936). Auch N. Hartmann (1964, 18 ff.) erkennt die Untauglichkeit von Induktion und Deduktion für die Auffindung der Grundprinzipien von Sein und Denken (damit für das philosophische Denken) und favorisiert die »analytische Reduktion«, die vom Gegebenen der Erfahrungstatsachen zu seinen in ihm verborgenen Grundbestimmungen zurückschließt. Für N. Hartmann ist charakteristisch, dass er diesen Prozess, darin I. Kant folgend, für bloß hypothetisch und für unabschließbar hält. Damit gibt er jedoch zu, dass er die Grundbestimmungen prinzipiell nicht auffinden kann. Das trifft schon deswegen nicht zu, weil erstens die Grundbestimmungen die notwendigen, also nicht hypothetischen Voraussetzungen der auf ihnen aufgebauten Folge- oder Erscheinungsbestimmungen des Gegebenen sind und weil zweitens nur jene Bestimmungen Grundbestimmungen sind, die an ihnen selbst ihr Grundsein ausweisen, und zwar so ausweisen, dass ihre Verneinung den gegebenen Erfahrungssachverhalt aufheben 74
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
findet sie in allen Wissenschaften Anwendung, doch in der Philosophie strebt sie erkenntnismäßig bis zu den letzten, nicht mehr weiter auflösbaren Gründen des Seins, Lebens und Erkennens und, wenn möglich, mittels notwendiger, damit gültig begründender Rückschlüsse zurück. Neben der deduktiven bzw. dialektischen Metaphysik, die in der Geschichte der Philosophie das wichtigste nicht-reduktiv-regressive Modell von Metaphysik war, gibt es weitere metaphysische Konzepte, und zwar die intuitiven, deskriptiven und die induktiven. Da ihre Inkonsistenz evident ist – handelt es sich bei allen doch um »hölzerne Eisen« –, müssen sie nicht umständlich widerlegt werden. Gemäß ihrem eigenen methodologischen Ansatz setzen alle drei – die intuitive Metaphysik z. B. H. Bergsons (1985, 126–148), die deskriptive Metaphysik z. B. P. Strawsons 76 und die induktive Metaphysik z. B. von C. Th. Fechner, H. Lotze, W. Wundt 77 und R. Swinburne 78 – nicht nur in der Erfahrung, im unmittelbar Gegebenen an, sondern verbleiben darin auch. Da Intuition, Deskription und Induktion nur unmittelbar Gegebenes, Erfahrenes, Anschauliches beschreiben und nicht solches, das nicht gegeben und nicht beschreibbar ist (tun sie es doch, sind sie nicht mehr deskriptiv), und darum erfahrungsübersteigende Sachverhalte nicht erreichen können, bieten sie zwar die Grundlage für einen jeglichen metaphysisch-regressiven Diskurs, gewürde, was heißt, dass ihre Verneinung unmöglich ist. Genau das meinen Thomas v. Aquin mit seinen »Ursätzen« und B. Bolzano mit seinen »Sätzen an sich«. 76 Vgl. P. Strawson (1972). 77 Siehe W. Wundt (1919, Bd. 1, 17): »Metaphysik ist der auf der Grundlage des gesamten wissenschaftlichen Bewusstseins eines Zeitalters oder besonders hervortretender Inhalte desselben unternommene Versuch, eine die Bestandteile des Einzelwissens verbindende Weltanschauung zu gewinnen.« Gegen diese Gleichsetzung von Philosophie und Weltanschauung wandte sich E. Husserl (EA 1911) in seiner Schrift »Philosophie als strenge Wissenschaft«. 78 Vgl. R. Swinburne (1987), der versucht, die Existenz Gottes und seine Schöpfung als die beste aller möglichen Welten wahrscheinlichkeitstheoretisch zu sichern. Da Gott aber kein empirischer Gegenstand ist, lässt sich überhaupt keine Wahrscheinlichkeit für oder gegen ihn angeben. Was aber die Schöpfung als die beste aller möglichen Welten betrifft, so verbleiben Swinburnes Argumente im rein Hypothetischen, da er Gottes Existenz unerwiesen voraussetzt und – dann richtigerweise – apriorisch impliziert, dass Gott als das Urgute nur das Beste wollen und schaffen kann, was schon G. W. Leibniz betonte. Das kann aber nur für die Schöpfung als ganze (und d. h. am Ende aller Zeiten!) gelten und gibt kein Kriterium an die Hand, welches konkrete Weltereignis gut oder schlecht ist und inwiefern es akzeptiert oder verändert werden muss.
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Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft
raten aber niemals in ihn hinein. Die Induktion wiederum, die durch Vergleich mehrerer Erfahrungsgegenstände allgemeinere Strukturen und Gesetzmäßigkeiten im Erfahrungsmaterial aufzudecken sucht und daher über die Empirie grundsätzlich nicht bzw. höchstens hypothetisch hinausgeht, hat keinen transempirischen Anspruch. Somit handelt es sich in allen drei Fällen um Fehlformen oder doch unklar bestimmte oder unzureichende Formen von Metaphysik.
1.8. Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft: die innere Verbundenheit der Seinsregionen Bevor die metaphysische Methode, die reduktiv-regressive Analyse, konkret angewendet und auf diesem Wege geprüft werden soll, seien Plausibilitätsgründe für die Möglichkeit einer metaphysischen Wissenschaft angegeben. Am Beginn möge das Gefühl des Menschen stehen, mit vielen Dimensionen verbunden zu sein, in die er zwar nicht direkt eintreten kann, die aber nicht völlig von ihm getrennt sind, sondern zuweilen in seine Welt hineinragen und hineinwirken. Solche Welten sind jene Regionen der physischen Welt, die er ohne Hilfsmittel nicht erhellen kann, etwa das astronomisch Große und das mikrophysikalisch Kleine, weiter das Vergangene und das Zukünftige. Andere Welten sind die idealen Regionen der reinen mathematischen Größen, vor allem der unendlich-kleinen und der unendlich-großen und der irrationalen, imaginären und transzendenten Verhältnisse, weiter die idealen Regionen der reinen Logik, also das »All der reinen Wahrheitsformen« (wie Identität, Zusammenhang, Bedingung, Ordnung, Unterordnung, Klasse, Entsprechung usw.), und schließlich die idealen Wertregionen des Guten, Schönen, Gerechten und Liebevollen. Der wirklichkeitsverbundene und tiefer in die Wirklichkeit hineinfühlende Mensch, so vor allem der frühe Mensch, fühlt darüber hinaus das Bestehen und Walten einer oder mehrerer höchster Seinsquellen all jener Sinn- und Wertverhältnisse und fasst sie als machtvolle Kraftwesen zusammen, als Gott oder Götter oder als ein Schicksalsgesetz. Apriori lässt sich daraus folgern: Wenn es Welten gibt, die der Mensch nicht unmittelbar erfahren kann, dann kann er nur indirekt von ihnen wissen. Indirekt kann er von ihnen jedoch nur dann wissen, wenn sie mit ihm verbunden sind, denn andernfalls könnte er sie von sich aus auf indirektem Wege nicht erstreben bzw. zu ihnen ge81 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
langen. Das aber setzt wiederum voraus, dass seine gegeben-erfahrbare Welt (im Kern die Welt des Erlebens, des Bewusstseins, der Intentionalität, der Kommunikation) mit jenen Regionen, die nicht direkt betreten werden können, seinsstrukturelle Gemeinsamkeiten hat, da völlig Verschiedenes und Inkompatibles nicht vermittelt werden kann. Das lässt sich an I. Kants Ding an sich gut exemplifizieren: Wenn I. Kant behauptet, dass das Ding an sich die Sinnesorganisation so affiziert, dass Sinnesqualitäten und, durch diese vermittelt, die phänomenale Welt im Erleben verursacht werden, dann impliziert dies notwendig eine gewisse (nicht totale) Kompatibilität zwischen den Menschen und den Dingen an sich. Gilt dies, dann ist das Ding an sich erstens nicht total unerkennbar, sondern kann indirekt und in gewisser Hinsicht analog erkannt werden, und zweitens folgt, dass nicht nur, wie I. Kant 79 meint, zwei Fälle möglich sind, »unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen […] Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung oder diese den Gegenstand allein möglich macht«, sondern drei Fälle, von denen der dritte lautet: Denken und Gegenstand sind durch gemeinsame Kategorien bestimmt. 80 Noch tiefer reicht der nächste Gedanke: Wenn jene Seinsregionen, die, obwohl transempirisch-transzendent, mit dem Menschen so verbunden sind, dass er sie indirekt erreichen kann, wenn jene Seinsregionen also der immanenten Welt nicht nur parallel beigeordnet, sondern als notwendige Voraussetzung der menschlichen Welt bzw. des In-der-Welt-Seins sach- und denklogisch vorgeordnet sind, dann erhält die Verbindung zwischen ihr und der Transzendenz eine neue und entscheidende Qualität, die nämlich, die notwendige Bedingung der menschlichen Immanenz zu sein, was den logisch zwingenden Rückschluss von dieser auf jene erlaubt. Ein einfaches empirisches Beispiel: Wenn bekannt ist, dass zur Zeugung eines Menschen ein Elternpaar notwendig ist, dann kann man von einem gegebenen Kind, das elternlos ausgesetzt ist, zurückschließen, dass es gemäß dem Kausalsatz irgendwo zwei Menschen geben muss oder gab, die das Leben dieses Kindes ermöglicht haben. Diese Eltern lassen sich dann suchen, obwohl sie empirisch zunächst nicht gegeben sind. Radikaler verhält es sich in dem Fall, wo die Physiker von der Hintergrundstrahlung Siehe I. Kant (Werke, II, 2011, 131). Vgl. O. Willmann (1979, Bd. 3, 386), der I. Kants einseitigen Subjektivismus sieht und sachlich überzeugend kritisiert.
79 80
82 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Plausibilitätsgründe für eine metaphysische Wissenschaft
des Weltraums, die man noch heute in minimaler Form messen kann, auf eine ursprüngliche, weit zurückliegende Explosion zurückschließen, eine Explosion, die insofern transzendent ist, als sie, da verschwunden, empirisch nicht direkt nachgewiesen werden kann. Und so gilt auch dies: Wenn es Gott geben sollte, und wenn dieser Gott eine notwendige Bedingung der menschlichen Existenz ist, dann muss er aus der Existenzverfassung des Menschen indirekt ermittelt werden können, denn als notwendige Bedingung des Menschendaseins selbst oder der Welt überhaupt kann er nicht völlig von ihm bzw. der Welt getrennt sein. Entsprechend fußt eine echte metaphysische Erkenntnis immer auf einem Seinsverhältnis zwischen zwei Realitäten, die einerseits verschieden und insofern getrennt, andererseits insofern verbunden sind, als die eine die notwendige Seinsbedingung der anderen ist, so dass diese nicht das sein könnte, was sie ist, wenn jene nicht wäre. Wo also metaphysische Seins- und Wertregionen bestehen, und wo diese zwar unmittelbar nicht erfahrbar, doch die notwendige Seinsvoraussetzung der für die menschliche Erfahrung zugänglichen Welt sind, da können jene Transzendenzen erkannt werden, nicht direkt, nicht als solche und nicht total, aber indirekt, mit Notwendigkeit und in gewisser, meist wesentlicher Hinsicht. Es wäre demnach unplausibel und unlogisch, wenn diejenigen Seinsregionen, die auch I. Kant für existent hält – Gott, die Welt als Ganzes, die intelligible Welt der Bewusstseinswesen, die Welt der mathematischen, logischen und sittlichen Werte –, wenn diese Welten, die nach I. Kant die phänomenale Welt wesentlich mitbestimmen, nicht partiell und indirekt erkennbar wären. Denn das bedeutete, dass sie in keiner Weise mit den menschlichen Subjekten verbunden wären, was wiederum hieße, dass sie nicht die Seinsvoraussetzungen des irdischen Lebens wären. Wäre das aber der Fall, könnte der Mensch von ihnen nicht einmal eine Ahnung haben, geschweige Begriffe und – gemäß I. Kant – regulative Ideen bilden. Das wäre nicht nur unmöglich, sondern sinnlos. Liegt dagegen eine Verbundenheit zwischen den empirisch nicht direkt zugänglichen und den empirisch zugänglichen Seinsregionen vor, muss die eine Seite dieser Verbundenheit beim Erfahrungssubjekt, die andere »drüben« anknüpfen. Ist dies der Fall, muss eine Erkenntnismöglichkeit, obgleich indirekt und beschränkt, bestehen, da der menschliche Intellekt von solch einer Verbundenheit mitbestimmt wäre und damit eine notwendige Spur, eine Art Abglanz seiner transempirischen Seins83 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
voraussetzungen aufweisen müsste. Das mag wenig scheinen, ist aber für die philosophische Wirklichkeitslehre, zumal für die Metaphysik des Leidens, ausreichend (siehe Abschnitt II. und III.). Schließlich und endlich besitzt der Mensch zahlreiche Verknüpfungsfähigkeiten von den vielfältigen Sinnesorganen über die Phantasie, das intuitive Gefühl, den rechnenden und messenden Verstand, die argumentierende Vernunft, die intellektuelle Anschauung, die Invention, die Intuition bis hin zur mystischen Schau, die ihn erkenntnismäßig mit allen Regionen, Schichten und Dimensionen der Wirklichkeit verbinden und die in der Zeit entstanden sind. 81 Wenn man vernünftigerweise voraussetzt, dass sich alle diese Erkenntnisorgane im Verlauf von Evolution und Geschichte an ihren Aufgaben und Gegenständen gebildet und geschärft haben, dann darf man erwarten, dass sie sich zwar in Maßen und Grenzen, doch in einiger Hinsicht ihren Herausforderungen angepasst und so die zu erfassenden Wirklichkeiten im Rahmen ihrer Möglichkeiten assimiliert haben. Ragen transempirisch-transzendente Seinsregionen wie das Unbewusste, das Ideale, das Unendlich-Kleine und Unendlich-Große, der Ursprung der Dinge, der Sinn, die Werte, die Wahrheit, das Ganze, die Ordnung und das Leben irgendwie in die Immanenz des menschlichen Subjekts hinein, ist es mehr als plausibel zu unterstellen, dass sich an ihnen auch Erkenntnismodi ausgebildet haben, die etwas von dem, dem sie ihre Existenz mitverdanken, erkenntnismäßig wiedergeben. Nicht zuletzt beweist die außerordentlich praktische Wirklichkeitsverbundenheit der menschlichen Wahrnehmungen, Erfindungen, Berechnungen und Kreationen eine ontologische Verwandtschaft, die nahelegt, dass alle Seinsregionen miteinander korrespondieren, miteinander kompatibel sind Im Unterschied zu J. G. Fichte (1962–2011, 463, Akademie-Ausgabe, Bd. 1), der den Begriff der intellektuellen Anschauung geprägt hat und ihn auf das absolute Ich und seine »Tathandlung« bezieht, halte ich es für unumgänglich, auch dem empirischen Ich die Fähigkeit zur unmittelbaren Selbstgewahrung und damit zur Tathandlung zuzusprechen, ohne es deswegen für absolut zu nehmen. Unmittelbarkeit und Absolutheit sind keineswegs identische bzw. notwendig zusammengehörende Begriffe. Das muss schon deshalb so sein, weil es nach J. G. Fichte das empirische Ich ist, das in sich die »absolute« Tathandlung als Selbstsetzung entdeckt. Darum ist auch zu fordern, dass sich die unmittelbare Selbstgewahrung (i. S. der intellektuellen Anschauung) im empirischen Ich zwar nicht in sukzessiver Zeitlichkeit, aber in einer zeitlichen Dauerform, die nicht zeitlos ist, vollzieht. Nur in einem göttlichen, zeitlos-ewigen Wesen würde sich die intellektuelle Selbstanschauung zeitlos, unmittelbar und absolut im Sinne des »actus purus« von Thomas v. Aquin konstituieren können.
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84 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Die Verankerung der metaphysischen Dimension des Leidens
und im letzten Grund denselben Urbestimmungen des Seins, Sinns und Wertes gehorchen. 82 Dies methodisch überprüfbar nachzuweisen, wird die Aufgabe sein.
1.9. Die Verankerung der metaphysischen Dimension des Leidens in der Phänomenologie des Leidens: die Selbsttranszendierung des Leidens Betrachtet man das Leiden unmittelbar von seiner menschlichen Betroffenheit her, lässt sich sagen: Es ruht nicht in sich selbst, es ist sich zuviel und leidet doch Mangel, es will von sich weg und kommt nicht von sich los, es strebt über sich hinaus und weiß nicht wohin – es ist da und ist zugleich so unerträglich, dass es seine Auflösung ersehnt. Oder anders: Das Leiden ist, was es nicht ist, und ist nicht, was es ist. Schon im Alltag fühlt der Mensch, dass das Leid sich nicht selbst genügt, es strebt nach Selbstüberwindung und nach Selbstaufhebung, und in der Tat kann es nur solange ertragen und getragen werden, als leidfreie Kräfte wie Zuversicht, Mut, Hoffnung, Geduld, Tapferkeit und Vertrauen vorhanden sind, die seiner herabdrückenden und zersetzenden Dynamik die Waage halten. Und so müssen im Leiden zwei Sinn- und Wirkrichtungen unterschieden werden, die miteinander im Streit liegen: der Wille, das Leiden loszuwerden, und die Ohnmacht, dies zu erreichen. Erst der Wille im Leiden macht das Leiden zum Leiden, da ein Mensch, der jeden Widerstand und Kampf aufgeben und sich ganz dem Leiden ergeben würde, entweder vernichtet würde oder sein Leid verflüchtigte. Auf der anderen Seite wirkt das Leiden durch seine innere Selbstaufzehrung in Richtung Entkräftung, Schwächung und Auflösung – am chronischen Leiden wird dies besonders deutlich. Beide Dynamismen beweisen, dass das Leiden nicht in sich ruht und sich nicht selbst genug ist, sondern nach Aufhebung strebt, entweder in der Vernichtung oder in der positiven Überwindung. Damit offenbart das Leiden eine Selbsttranszendierungsdynamik, die nur verständlich ist, wenn ihr eine Transzendenz entspricht. Alles Leiden ist auf seine Aufhebung bezogen, sei es im Nichts, sei es im Heil, und genau dies konnte aus der ontologischen Grundstruktur des Leidens – aus der Fünfheitsgestalt von Mangel, Zwiespalt, Spannung, Hemmung und 82
Zur Einheit von Sein, Sinn und Wert vgl. B. v. Brandenstein (1957, 179–182).
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
Zwietracht – herauspräpariert werden. 83 Aller Mangel ist Mangel an Sein, alle Spannung ist Spannung zwischen Polen, alle Hemmung impliziert eine Lebenskraft, einen »Willen«, der sich an einem Widerstand bricht, und alle Zwietracht impliziert Pluralität und Konflikt. Das Leiden weist aus sich selbst heraus auf die größere Fülle, und darum würde es, wenn es universal oder fundamental wäre, notwendig auf eine universale oder fundamentale Seinsfülle verweisen. Da sowohl im Menschen als auch, wie später zu zeigen sein wird, im Kosmos ein solcher universal-fundamentaler Seinsmangel aufgewiesen werden kann, der im Endlichen und Irdischen nicht behebbar ist, der aber kein passiver Mangel ist, sondern mit Spannung, Zwietracht, Kampf, sprich mit Aktivität verbunden ist, zeichnet sich ein Sein und Leben ab, das ganz mangelfrei und damit leidfrei ist und der Dynamik des Leidens erst ihren Sinn und ihre Ermöglichung gibt. Buddha 84 erkannte diesen fundamentalen Seinsmangel im Leiden als universalen Seinsdurst; Aristoteles 85 als Sehnsucht alles bewegten Seins hin zum unbewegten Urbeweger; Augustinus 86 als brennendes Herz, das erst in Gott zur seligen Ruhe findet; und alle großen Philosophen in den Urfragen des Geistes: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wozu sind wir da? Wie können wir glücklich werden? Überall wirkt hier das Leiden als Ungenügen mit, überall wirft es Fragen, Zweifel, Sehnsüchte auf, und man ahnt, dass es so lange nicht zur Ruhe kommt, wie sein innerster Seinsmangel nicht gestillt, sein Grunddurst nicht gelöscht, seine letzten Fragen nicht beantwortet und seine Sehnsucht nicht erfüllt wird. So wäre, wenn es stimmte, das Leiden, bildlich gesprochen, der Schatten der Gottheit und würde ohne Bezug auf sie, mag derselbe noch so unbewusst sein, verschwinden. 87 Alles Leiden weist über sich und somit über alles Seiende hinaus – allein dies kann schon den Versuch einer Metaphysik existenziell rechtfertigen.
Vgl. Paulus Römerbrief 1,18–32. Dort sagt Paulus, dass der Mensch der Nichtigkeit verfallen kann. 84 Vgl. Buddha (1998, 21 ff.). 85 Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 5, Buch XII, 7). 86 Vgl. Augustinus (1958, 1. Buch, 1). 87 Vgl. V. Frankl (1988). 83
86 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Die Notwendigkeit einer Metaphysik des Leidens
1.10. Die Notwendigkeit einer Metaphysik des Leidens: Das Leiden begründet sich nicht selbst Doch nicht nur existenziell, auch theoretisch lässt sich die Notwendigkeit einer Metaphysik rechtfertigen, da man sich nicht mit dem Leiden beschäftigen könnte, wenn der Mensch nicht über einen geistigen Überschuss verfügte, mit dessen Hilfe diese Herausforderung angegangen werden kann. Wenn das Leiden sich nicht selbst genügt und über sich hinaus weist, und zwar sowohl zurück zu seinen Ursachen, Bedingungen und Gründen, als auch voraus zu seiner Überwindung, dann ist eine Wissenschaft vonnöten, die das Leiden transzendiert, und eben das tut die Metaphysik des Leidens wie keine andere Wissenschaft, erhebt sie doch den Anspruch, sowohl die Ursprünge und Ermöglichungsgründe als auch die Zielgründe des Leidens zu ermitteln. Leiden ohne Ursprung ist so unmöglich wie Leiden ohne Ziel, und darum kann ihm nur eine Transzendierungswissenschaft gerecht werden. Sollte es kein Sein geben, aus dem das Leiden möglich war, und sollte es kein Sein geben, in dessen Fülle sich das Leiden aufheben kann, wäre das Leiden als Tatsache ein ontologisches Kuriosum, eine seinsmäßige Monstrosität (vgl. dazu das Spiegelgespräch mit M. Horkheimer vom 5. 1. 1970 oder hier Fußnote 126, S. 528). Wie gezeigt werden soll, ist das Leiden die Seinsweise eines typischen »Zwischenwesens«, das zwar außerhalb der Fülle des Seins steht, aber darauf bezogen ist und durch die »Wüste der Zeit« hindurch einen Weg geht, der zwar Not, Tod und Unglück mit sich bringt, aber auch eine neue Freiheit mit einer Weltgestaltungsmöglichkeit eröffnet, die den Menschen im Kosmos zum Mitschöpfer in einzigartiger Freiheit und Verantwortlichkeit erhebt, die alle endlichen Grenzen überschreitet. Darum ist Leiden nicht nur passiv, sondern eine, wenn auch beschwerliche, Arbeit und Läuterung, in der das Gold des Lebens von den Schlacken des Lebens geschieden wird. Auf diesem Weg wird das Leiden zum unentwegten Kampf der Weltakteure untereinander, deren Singularitäten, Diskrepanzen und Destruktionen nicht nur Leid schaffen, viel Leid und den überendlichen Abgrund des Leidens offenbaren (und offenbaren sollen), sondern dadurch den Verständigungs-, Versöhnungs- und Friedenswillen wecken, nach dem die ganze Schöpfung gemäß dem berühmten Wort des Paulus »stöhnt und seufzt«. 88 Dass dieser Leidensabgrund des 88
Siehe Apostel Paulus, Neues Testament, Brief an die Römer, Kap. 8, Vers 18–25.
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
Weltganzen in seiner Überendlichkeit nicht in endlicher Weise behoben werden kann, sondern nur durch die Einwohnung des Unendlichen zur Ruhe kommt, wird sich im Folgenden (siehe Abschnitt VI) als ein Ursinn des Leidens erweisen. Nur in der welteinwohnenden Gottheit könnte die Schöpfung leidfrei werden, wogegen im anderen Fall, im Falle der Unmöglichkeit solcher »Einwohnung«, das Leben notwendig im Abgrund des eigenen Leidens verbliebe und sich – sollte dies, wie das A. Schopenhauer für sein Prinzip des metaphysischen Lebenswillens vermutet, der Dauer- oder Endzustand sein – qualvoll selbst verzehrte. 89 Die Metaphysik des Leidens will von theoretischphilosophischer Seite her diesem ontologisch drohenden Selbstzusammenbruch des Lebens entgegenwirken, wohlwissend, dass dies nur ein »theoretischer Tropfen« auf den heißen Stein des Daseins ist. (Wer sich die folgenden sehr schwierigen und abstrakten Darlegungen zur Logik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie metaphysischer Probleme nicht zumuten möchte, kann direkt zu Kapitel 1.15. übergehen.)
1.11. Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens: die reduktiv-regressive Methode und ihre Abgrenzung von Intuition, Deskription, Deduktion und Induktion als Weg einer grundsätzlichen Revision und Erneuerung der klassischen Metaphysik Nach all diesen Vorbemerkungen und Hinführungen ist es angebracht, das Kernanliegen einer wissenschaftlichen Metaphysik zu formulieren. Ihre Herausforderung besteht darin, von gewissen empirischen Tatsachen ausgehend, die aus den drei genannten Quellen der Sinnes-, der Innen- und der Selbsterfahrung stammen, über alle mögliche Erfahrung hinaus durch einen diskursiven Rückschluss solche Wirklichkeiten zu erreichen, die als solche in der Erfahrung nicht auftauchen können oder anders: das »Uneinholbare« doch irgendwie einzuholen. 90 Die Notwendigkeit dieses Rückschlusses wird dadurch einsichtig, dass die nicht leugbare empirische Tatsache so, wie sie beschaffen Zur Selbstverzehrung des »Lebenswillens« vgl. A. Schopenhauer (1949, W I, § 28, 206). 90 Zum »Uneinholbaren« siehe W. Schweidler (2008). 89
88 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens
ist, nicht möglich wäre, wenn jene erschlossene transzendente Seinsbedingung nicht gültig wäre. Da diese empirische Tatsache ohne Selbstwiderspruch nicht verneint werden kann, muss daher auch ihre Seinsvoraussetzung, ohne die sie nicht das wäre, was sie ist, bestehen und gültig sein. Man sieht: Hier handelt es sich weder um eine Induktion noch um eine Deduktion noch um eine bloße Deskription, da die Induktion nur in mehreren empirischen Ereignissen die ihnen gemeinsame, allgemeinere Struktur durch Vergleich, Analyse und Zusammenfassung ermitteln kann. Dabei gelangt sie niemals zu einer allgemeinsten und notwendigen Aussage. Der universalen Verallgemeinerung ihrer Behauptung – z. B. »Alle Körper des Universums sind schwer« – kommt daher nur, wie auch I. Kant betont, hypothetischer Charakter zu. Warum überhaupt Körper da sind, warum sie sich bewegen, und warum sie sich gerade in der Weise des newtonschen Gravitationsgesetzes und nicht anders bewegen, kann keine Naturwissenschaft angeben und kann von keiner noch so feinen und umfänglichen Induktion ermittelt werden. Sie kann nur sagen: Wenn dieses Gesetz universal gilt, dann bewegen sich Körper so und so. Die mathematische Deduktion wiederum ist überhaupt weder ein Urteil, wie I. Kant fälschlicherweise meint (siehe Kapitel 1.12.), noch ein Schlussverfahren noch überhaupt eine Analyse, sondern zunächst einmal eine gestaltend-operative Synthese, eine Konstruktion oder Kombination: 5 und 7 ergibt addiert 12. Was ist dies? Eine Analyse, eine Urteilsaussage, ein Schluss? Nichts davon. Denn es wird weder die 5 noch die 7 zu 12 analysiert; auch wird keine Urteilsaussage getroffen, etwa im Sinne von »5 ist eine Quantität, und zwar eine ungerade«, wo vom Urteilssubjekt, der 5, etwas ausgesagt wird, nämlich das Urteilsprädikat »ungerades Quantitätssein«, das im Urteilssubjekt als immanentes, noch unexpliziertes Moment vorhanden ist, sondern es werden zwei Quantitäten, hier zwei Mengengrößen, zusammengestaltet und zu einer neuen Größe mit neuen Eigenschaften, der 12, so ineinsgestaltet, dass sie darin verschwinden und ihre alten Eigenschaften teilweise verlieren (wie z. B. die 5 ihre Ungeradheit). Hier hat man eine echte Synthese in Form der additiven Operation vor sich, weder einen Begriff noch ein Urteil noch eine Analyse noch ein Schlussverfahren. Erst nachdem die Synthese, hier als Addition, geleistet wurde, und das ist kein analytischer, sondern ein operativer Akt, kann ein Urteil gebildet werden, nämlich jenes, das darin 89 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
besteht, dass die 12 (Urteilsprädikat) im Urteil 5+7=12 weder von der 5 noch von der 7, was falsch wäre, sondern von deren Summe (5 + 7) als dem Urteilssubjekt ausgesagt wird – und das ist jetzt, aber erst jetzt (!), eine Analyse, ein Herausheben der Gleichheit der 12 aus der Mengengesamtheit (5 + 7). Nicht ist das Urteil synthetisch, wie I. Kant in diesem Fall meint, sondern es ist analytisch. Dieses Urteil steht aber nicht am Anfang, sondern es wird von einer typisch mathematischgestaltenden Synthese ermöglicht, die als Operation, Konstruktion oder Kombination die Grundlage für eine Urteilsanalyse bildet. Damit offenbart sich der wesentlich andere Erkenntnismodus der Deduktion im Vergleich zur analytischen Reduktion. Während diese vom Bedingten zurück zum Bedingenden (und nicht umgekehrt) schließt, kann die mathematische Deduktion von der Bedingung, der Voraussetzung zum Bedingten, zur Folge überleiten, und zwar durch Gestaltung, Umgestaltung und Abgestaltung. Das ist primär keine Erkenntnis, sondern ein Tun, ein Schaffen, kurz ein Operieren, was für die philosophische Erkenntnisgewinnung ungeeignet ist, die zu den realen Seins- und Erkenntnisgründen vorstoßen will, die der Menschengeist nicht schafft, sondern aufdecken und herausarbeiten muss. Alles mathematische Synthetisieren verbleibt dagegen im Feld der reinen Größen, Zahlen, Mengen und Größenbeziehungen; niemals kann es den direkten Übergang zur Wirklichkeit leisten, dazu bedarf es, wie in der Physik, notwendig des Rückgriffs auf die physische Erfahrung. Wie leistet in diesem Kontext die reduktiv-regressive Analyse ihre Erkenntnis, zumal im Modus der Notwendigkeit? Mit vier zentralen Begriffen soll dies präzisiert werden: mit den Begriffen der positiven Evidenz, der negativen Evidenz, dem Satz des Selbstwiderspruches und der argumentatio ex contrario. Ausgehen muss die reduktiv-regressive Analyse von einer positiven, unmittelbar intuitiv vollzogenen Evidenz, von einer Tatsache, am besten von einer solchen, die ohne Selbstwiderspruch nicht geleugnet werden kann (was Letzteres allerdings diskursiv ermittelt werden muss). In einem zweiten Schritt beschreibt und analysiert sie ihren Gegenstand bis zu seinen letzten immanenten Strukturmomenten und Strukturbeziehungen, den anschaulichen Kategorialverhältnissen – das ist die analytische Reduktion oder Implikatanalyse. 91 Die reduktive Analyse arbeitet nicht nur die grundlegenden Elemente, Momente oder Bausteine eines Phänomens heraus, sondern zugleich deren innere Beziehungen.
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Die epistemologische Möglichkeit metaphysischen Denkens
»Reductio« meint hier nicht Verminderung, sondern Rückführung des Komplexen auf seine letzten elementaren Momente, Aspekte und Bezüge. Von diesem Ergebnis ausgehend, stellt sie dann die Frage im Sinne des Satzes vom zureichenden Grunde, ob der infrage stehende Sachverhalt sich selbst genügt, also sich selbst vollständig oder genügend begründet, und zwar evidenterweise, oder ob er einer weiteren Begründung bedarf. In der Regel ist Letzteres der Fall. Hier setzt die regressive Analyse an, die die notwendigen Seinsvoraussetzungen des infrage stehenden Sachverhaltes bzw. Problems ermitteln will, insofern sie nicht mehr in diesem Sachverhalt selber vor-, sondern darüber hinaus liegen und nur als Spur im Sachverhalt anwesen. Um hier weiter zu kommen, muss die regressive Analyse einen Umweg, den Weg über die argumentatio ex contrario und die negative Evidenz nehmen. Beispiel: Es ist unmittelbar positiv evident, dass nicht nichts, sondern etwas ist, zumindest hier dieses mein Erleben, Denken, Fühlen, Schreiben usw. Analysiere ich reduktiv diese positiv-evidente Gegebenheit, stoße ich z. B. auf das nicht weiter reduzierbare Grundmoment der Intentionalität, d. h. der inneren Ausgerichtetheit all meines Erlebens, da jedes Erleben – Wahrnehmen, Dieser Hinweis ist deswegen von großer Bedeutung, da manche Denker die Leistung des Verstandes und seiner Analyse allein in einer oberflächlichen Zergliederung, Auftrennung und damit angeblichen Zerstörung des Phänomens erblicken. Zum Kern und Wesen eines Sachverhaltes vermöge nur, so z. B. H. Bergson (1985, 180–184), ein Hauptvertreter dieses verstandeskritischen, intuitionistischen Philosophierens, die »Intuition« vorzudringen. Die Fehler, die hier begangen werden, sehe ich darin, dass erstens die verstandesmäßige Analyse mit einer realen, z. B. physikalisch-chemischen Analyse, die angeblich nur zersetze, gleichgesetzt wird; dass zweitens die ganz andersartige philosophische Analyse verkannt und dass drittens die Intuition – nach H. Bergson (1985, 183) das »Sichhineinversetzen in die Sache« – überschätzt wird, angeblich ohne Symbolsprache möglich sein soll und kein kritisches Widerlager besitzt. Im Fall der reduktiven Analyse werden jedoch die Momente eines Phänomens nicht zertrennt, sondern unterschieden und dadurch zugleich aufeinander bezogen und damit sachgemäß miteinander verknüpft. Das ist eine quasi-synthetische Leistung des Verstandes innerhalb der Analyse, die H. Bergson verkennt, weswegen er dessen Betätigungsfeld irrigerweise nur in den Naturwissenschaften und an der Materie verortet, wo sie doch zweifellos auch in Philosophie, Geisteswissenschaften, Kunst und Religion »am Material des Geistigen« erfolgreich angewandt wird. In Wahrheit ist die unterscheidend-beziehende Arbeit des Verstandes, die »Arbeit am Begriff« (G. W. F. Hegel), sowohl im Alltag als auch in den Geisteswissenschaften unverzichtbar. Darum ist der Verstand nicht tot oder tötet gar das Leben, vielmehr ermöglicht er sein besseres Verständnis, allerdings stets anhebend von einer »Intuition qualitativer Gegebenheiten«.
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Fühlen, Wünschen, Denken, Wollen – das Erleben von etwas ist. 92 Will ich wissen, woher diese Intentionalität, die einmal entstanden ist, kommt, kann mir die positive Evidenz bzw. die deskriptive AnaIntentionalität darf hier nicht zu eng verstanden und nur auf rein kognitiv-konzeptuelle oder willentlich-bewusste, sprich absichtliche Intentionalität beschränkt werden. Intentional sind auch unreflektierte Verhaltungen, die aus ihrer Implizitheit oder Vorbewusstheit meist relativ leicht ins explizite Selbstbewusstsein überführt werden können. Damit nicht genug, können völlig unbewusste, durch Eigenanstrengung nicht zugängliche Intentionalitäten im Erleben und Verhalten aktiv sein, wie Psychoanalyse und Hypnose erkannten und wie das von Träumen, Fehlleistungen, Neurosen, schöpferischen Prozessen etc. belegt wird. Schließlich sind nicht nur kognitive und volitionale Akte, ob implizit, explizit oder völlig unbewusst, intentional, sondern auch das gesamte Emotionsleben. Bei Wunsch- und Affektgefühlen streitet das niemand ab, doch selbst Stimmungen sind, recht betrachtet, intentional, also auf Seiendes bezogen, nur nicht auf äußere Dinge bzw. gegenstandsbezogen (wie viele Wunsch- und Affektgefühle, aber längst nicht alle), sondern auf den Betroffenen selbst, sozusagen unmittelbar selbsthaft und damit unmittelbar rekursiv: »Ich (als Trauriger) bin traurig« heißt so viel wie »Ich fühle mich traurig, erlebe mich als traurig gestimmt«, was die intentional-reflexive Struktur im Modus der Gefühlsstimmung, eben auf das Seiende »mich« anzeigt. In der Tat durchdringt das Intentionale i. S. des Selbstausgerichtetseins (auf etwas, sei dies Anderes oder/und Eigenes) das gesamte Seelenleben, selbst da, wo sich Gewohnheiten und Automatismen einstellen, deren verblasste Intentionalität noch gut an ihrer Kontext- und Sinnbezogenheit sichtbar wird. Dem existenziellen Ausdruck der Intentionalität, der wesenhaften Ausgerichtetheit des Menschseins begegnet man schließlich im Lebens-, Sinn- und Glückswillen. Kurzum: Intentionalität ist keineswegs, wie viele Phänomenologen meinen, erstens notwendig auf ein Objekt bezogen, eben weil es auch auf das Subjekt, das Selbst bezogen sein kann, und es ist zweitens nicht notwendig vollbewusst, positional-explizit, im expliziten Sinne reflexiv. Im Gegenteil hat das »Selbst« auch in seinem unmittelbaren »Selbstgewahrsein« immer schon einen »rekursiven«, »reflexiven« Selbstbezug konstituiert, zwar nicht notwendig vollbewusst, explizit oder thematisch, so vor allem in der »unbewussten«, besser unmittelbar erlebenden und sozusagen »unthematisch-eingewickelten« Selbsthabe des Selbstgefühls. Ein völlig arekursives und non-intentionales Selbstsein, ein Selbst ohne jeden Selbstbezug (selfreference) ist daher, recht betrachtet, ein Selbstwiderspruch. Ein Selbst, das sich nicht selbst hat, ergreift, will, das nicht in einem Selbstbezug steht, den es selbst und damit aktiv konstituiert, ist kein Selbst. Ein reines Selbst-an-sich, dem kein Keim des FürSich innewohnt, kann nicht gedacht werden, das war die epochale Erkenntnisleistung J. G. Fichtes bezüglich des Ich und seiner Tathandlung in der intellektuellen Anschauung. Da J.-P. Sartre (1974) unter »reflexiv« ein elaboriertes, explizit-rationales Selbstbewusstsein versteht (eine Selbstkonzeptualisierung) und auch die präreflexive Stufe des Selbstgewahrseins als selbstreferentiell erkennt (Ipseität), kann man sich mit ihm einigen: Jedes Selbstbewusstsein ist qua (Selbst-)Bewusstsein stets selbstreferentiell, in diesem fundamentalen Sinne »reflexiv«, selbst-bezogen, doch muss diese basale Selbstbezüglichkeit (basale Reflexivität) nicht notwendig explizit oder konzeptuellelaboriert, sondern kann unmittelbares Selbstgewahrsein sein. So ließe sich eine ba-
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lyse dieser Intentionalität keine Auskunft geben, denn die Frage reicht über ihre Gegebenheit hinaus. Wie also weiterkommen? Durch die regressive Analyse mittels des Umwegs der argumentatio ex contrario und der negativen Evidenz. Das würde im konkreten Fall bedeuten, probeweise anzunehmen, dass die zweifellos entstandene Intentionalität entweder aus nichts oder aus etwas Nicht-Intentionalem, z. B. aus passivem Stoff, reiner Naturgesetzlichkeit oder aus total Unbewusstem entstanden sei. Diese Annahme gilt es dann durchzukämpfen und solange aufrecht zu erhalten, bis sie sich entweder bewahrheitet oder zu einem Selbstwiderspruch führt. Im letzten Fall hat sich auf dem Umweg der argumentatio ex contrario eine negative Evidenz eingestellt, die dazu nötigt, die Vorannahme aufzugeben und ihr Gegenteil anzunehmen. Genau das ist der Fall im angeführten Beispiel: Wenn die Intentionalität aus nichts kommt, dann ist das Nichts nicht nichts, sondern etwas, ist schöpferisch und besitzt die (außerordentliche) Kraft, ein intentionales Wesen, zu dem Bewusstsein und Absicht gehören, zu erzeugen. Wenn die Intentionalität aus Nicht-Intentionalem kommt, z. B. aus Atomen und Molekülen, dann verdankt sie sich, die wesenhaft aktiv, gerichtet, selbstgewahrend, vollzugshaft und in sich unräumlich, die also wenigstens auch selbstbestimmend ist, einer rein fremdbestimmten, »kausal« außenbestimmten Realität. Eine solche, etwa auch noch räumliche Realität kann, unmittelbar einleuchtend, keine intentionale, aktive und sich selbst gewahrende Realität hervorbringen, das ist ein unmittelbarer, sich selbst aufhebender Widerspruch. Darüber hinaus würde der apriorische Grundsatz verletzt, dass die Ursache nicht weniger mächtig und seinshaltig sein kann als ihre Wirkung. 93 Ebensowenig kann eine zwar wirkfähige, aber blinde Kraft, z. B.
sale, niederstufige von einer differenziert-komplexeren, also höherstufigen Reflexivität, welch Letztere irrtumsanfälliger ist, unterscheiden. Zur begrifflich-sprachlichen Unterscheidung schlage ich vor, die erste (und »primitivere«) »rekursiv«, die zweite (differenziertere) »reflexiv« zu nennen. 93 An diesem Punkt scheitert die naturalistische Ontologie J.-P. Sartres (1997), die annimmt, dass das bewusstlos-intentionslose, areflexive Ansichsein das bewusst-intentionale Fürsichsein hervorbringen könne. Letztlich lässt sich zeigen, dass die menschliche, wesenhaft beginnende und zeitlich erstreckte Intentionalität weder von einem bloßen Sein-an-sich noch von einem anderen zeitlichen Sein-für-sich, sondern nur von einem absoluten, zeitüberhobenen Sein-für-sich generiert werden kann, weil man andernfalls in einen infiniten Regress gerät.
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die physikalische Energie oder der Lebenswille A. Schopenhauers 94 (1788–1860), ein intentionales Wesen hervorbringen, da das Intentionale, das immer in sich »hell«, »erleuchtet« bzw. selbsthaft ist, in solchem Fall das Ergebnis von etwas wäre, das in sich »blind« und dunkel ist und sich gerade nicht selbst haben, nicht sich selbst ergreifen und ausrichten kann, eben weil dies irgendeine Art der Rekursivität impliziert. Da aber alle Intentionalität im Rahmen eines wesenhaften Selbstbezuges ein Sichselbstergreifen und ein Sichselbstausrichten impliziert, ist es unmöglich, dass sie sich einer Wirklichkeit verdankt, die dazu nicht in der Lage ist. Da am Ende dieser argumentatio ex contrario, wie zu sehen ist, ein sich selbst aufhebender Widerspruch, eine negative Evidenz steht, ist man genötigt, die erste Annahme aufzugeben und ihr Gegenteil anzunehmen. Dieses Gegenteil ist eine neue, eine zwar indirekte, aber wesentlich positive Evidenz: Eine Intentionalität, die, wie die menschliche, entstanden ist, kann weder auf nichts noch auf eine passive Wirklichkeit noch auf eine zwar aktive, aber blinde Wirklichkeit zurückgehen, sondern muss auf eine Wirklichkeit zurückgeführt werden, die selbst nicht nicht-intentionaler, also intentionaler, damit bewusster, geistiger, (wenigstens potentiell) reflexiver Natur ist. Wie diese des Näheren beschaffen ist, wird eine weitere regressive Analyse (Abschnitt II.) zeigen. 95 Die reduktiv-regressive Analyse mit ihren entsprechenden Urteilsketten ist zweifellos ein komplexes, in der konkreten Handhabe schwieriges Verfahren, das ohne Übung nicht sicher angewendet werden kann. Zu betonen bleibt, dass sie zwar diskursiv, aber nie rein apriorisch und deduktiv vorgeht, sondern stets auf einem reallogischen Seinszusammenhang aufbaut, der zwischen einer gegebenen Sache als der bedingten von einer nicht gegebenen, aber bedingenden Wirklichkeit, die mit einem ihrer Seinsmomente in die bedingte Vgl. A. Schopenhauer (1982, 4. Buch). Die heute für solche Fälle angwandte »Emergenztheorie« vermag hier nichts zu erklären, da sie nur das Auftauchen eines Phänomens beschreibt und nicht erklären kann, wie und wodurch dies erfolgt. Sehr häufig wird hier Beschreibung mit Begründung verwechselt. Aus der Tatsache, dass das Bewusstsein des Kindes bzw. des Frühmenschen im Leib und im Zwischenmenschlichen erwacht, folgt nicht, dass der Leib bzw. die Zwischenmenschlichkeit die zureichende Ursache bzw. der Ursprung des Bewusstseins seien. Sie sind »nur« Bedingungen, allerdings notwendige und wesentlich mitgestaltende Bedingungen, aber keineswegs der Ursprung des Bewusstseins; sie sind nicht hinreichend. Das gilt für die Emergenztheorie allgemein und grundsätzlich.
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Sache hineinverwoben ist und darum daraus erschlossen werden kann, geknüpft ist. Die probatorische Leugnung, die evtl. zu einer negativen Evidenz führt, dient dabei der Heraushebung des wirklichen Geltungszusammenhanges, sie hat demnach, wie der Descartessche Zweifel, methodischen Charakter und steht nicht für sich. Da bei metaphysischen bzw. transempirischen Verhältnissen der transzendente Pol jenes reallogischen Seinszusammenhanges nicht als positive Evidenz vorliegt, muss diese durch einen Umweg, sprich durch die Unmöglichkeit und damit Unhaltbarkeit der negativen Evidenz herausgearbeitet werden. Mit dieser Methode wird in der Mathematik z. B. die Irrationalität der Wurzel aus 2 bewiesen. Damit sollte das Verfahren der reduktiv-regressiven Analyse klargestellt sein, allerdings muss es im Folgenden, vor allem in der Auseinandersetzung mit I. Kant (1.12) weiter erprobt und besser kennengelernt werden. Es ist, wenn es zu den Gründen des Seins und Erkennens vordringt, die philosophische Erkenntnismethode katexochen. Ohne sie ist Philosophie als Grundwissenschaft nicht möglich, was der Selbstaufgabe ihrer Eigenart, ihres Gegenstandes und ihrer Erkenntnismöglichkeiten gleichkommt. Andererseits löst erst diese geklärte und gereinigte Methode jenen Anspruch ein, den die klassische, methodisch teils noch naive Metaphysik nicht einzulösen in der Lage war und daher – zu Recht – ihre Kritik und Ablehnung hervorrief. Dies erkannte I. Kant, doch gelang es ihm trotz eines anfänglich schweren und langen geistigen Ringens nicht, die rein theoretische Metaphysik zu retten. 96 Hauptursache dafür war die Vermischung von (mathematischer) Deduktion und metaphysischer Reduktion bzw. Regression. Und in der Tat behielte er Recht, wenn die reduktiv-regressive Analyse nicht möglich wäre: Ohne sie könnte die Grenze der möglichen Erfahrung nicht überschritten werden. Weil er den Erkenntnisweg der reduktiv-regressiven Analyse nicht fand, musste für ihn – durchaus konsequent – die Metaphysik als Wissenschaft unmöglich werden. 97 Diese Hypothek und vor allem jene genannte Verwirrung der Methoden hat die Philosophie m. E. bis heute nicht erkannt, geschweige denn aufgelöst.
Man bedenke, dass I. Kant seine Hauptwerke erst nach seinem 60sten Lebensjahr geschaffen hat. Was die Metaphysik überhaupt betrifft, hat I. Kant sie in praktischethischer Hinsicht zu retten versucht und in Grenzen »gerettet« (vgl. dazu R. Spaemann 1987, 9 ff.). 97 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 45 ff. und 308 ff.). 96
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
1.12. Denkprinzip gleich Seinsprinzip? Die Verwurzelung des epistemologischen Erkenntnisprinzips im ontologischen Seinsgesetz; ihre Differenz und Identität Das Kernstück der reduktiv-regressiven Analytik als Zentralmethode philosophischen und speziell metaphysischen Erschließens und Erkennens ist der Aufweis der negativen Evidenz, d. h. des indirekt-diskursiv ermittelten Selbstwiderspruches eines behaupteten Erkenntniszusammenhanges. Dieser Selbstwiderspruch ist das Ergebnis der argumentatio ex contrario und erweist sich damit als Denkgebilde, als erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Produkt und Konstrukt der Vernunft, nicht als Sachaussage zu einer Eigenschaft eines Erkenntnisgegenstandes. Denn er besagt in Aussagenform, dass etwas in derselben Hinsicht und im selben Augenblick ist und nicht ist, so ist und nicht so ist. Solche Selbstwidersprüche sind zahlreich, sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft. Ein planes Dreieck, das 200 Winkelgrade umfasst, ist strenggenommen ein Nichts, weder ein Dreieck noch ein Winkel, doch immerhin werden zwei denkbare Gegenstände – Dreieck und Winkel – im Bewusstsein nebeneinander gestellt und zu verbinden gesucht. Da diese Verbindung misslingt, kommt keine Erkenntnis zustande. Es liegt auf der Hand, dass der Versuch dieser Verbindung zweier inkompatibler Sachverhalte nicht nichts, sondern etwas ist, ein Versuch bzw. geistiger Akt, der das erwünschte Ziel, die Verbindung zweier Momente zu einem Erkenntnisgegenstand, nicht erreicht. Als solch gescheiterter Versuch kann dieser Akt nur in einem Bewusstsein, in einem geistigen Wesen bestehen, darum handelt es sich beim Selbstwiderspruch bzw. bei der negativen Evidenz um ein reines Denkgebilde, um nichts Gegenständlich-Objektives. Nur wo denkende Wesen sind, können Selbstwidersprüche und negative Evidenzen auftreten, darum sind sie rein subjektiv, was nicht willkürlich meint, sondern subjekthaft, in einem Subjekt erzeugt und (nur) dort bestehend. 98 Da die negative Evidenz eine implizite positive Aussage enthält, nämlich die, dass die erstrebte Verbindung zweier Elemente unmögBekanntlich verlegt G. W. F. Hegel den denklogischen Widerspruch in die Sache selbst, was zu folgenschweren Verwirrungen führt. Außerdem setzt er unsachgemäß den logischen Selbstwiderspruch mit dem positiven Gegensatz (z. B. zwischen Konservativen und Progressiven, etc.) gleich.
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Denkprinzip gleich Seinsprinzip?
lich, und zwar von der Sache her unmöglich ist, kann ein Dreieck in sich nicht zugleich planes Dreieck sein und 200 Winkelgrade umfassen. Hier wird die reine Subjektivität der negativen Evidenz zur inneren Sachhaltigkeit oder Objektivität eines Sachzusammenhanges hin überschritten bzw. zu transzendieren versucht. Man kann sagen: Der gescheiterte Erkenntnisversuch deutet die richtige positive Erkenntnis an, indem er zum sachhaft bestandsfähigen Erkenntniszusammenhang hinüberweist. Wenn die Elemente »planes Dreieck« und »200 Winkelgrade« nicht kompatibel sind, sondern sich gegenseitig aufheben, dann deutet sich die Möglichkeit eines kompatiblen, sachlich bestandsfähigen Erkenntniszusammenhanges an, der etwa so lauten könnte: Wenn planes Dreieck und 200 Winkelgrade nicht zusammengehen, dann gehen vielleicht planes Dreieck und eine andere Winkelsumme zusammen. Konstruiert man dann die Winkelsumme eines beliebigen planen Dreieckes, stößt auf die Winkelsumme 180 Grad und kann mathematisch-rechnerisch zeigen, dass ausschließlich diese mit dem planen Dreieck vereinbar ist, ist man von der negativen Evidenz zur positiven Evidenz hinübergelangt. Was heißt dies genauer? Der Übergang von der negativen Evidenz zur positiven Evidenz ist der Übergang vom Selbstwiderspruch, sprich vom Selbstnichtzusammenhang zum Selbstzusammenhang, von der Inkonsistenz zur Identität: Ein planes Dreieck ist dadurch bestimmt, dass es 180 Winkelgrade umfasst. Oder: Zu seiner Identität, zu seinem objektiven Seinsbestand gehören 180 Winkelgrade. Zwar bildet man auch mit dieser Aussage eine Aussage, einen Satz, also ein geistiges Produkt, etwas Subjektives, doch in objektivsachhafter Form. Das heißt, dass man von dem bloß subjektiven Gebilde der negativen Evidenz in das Innere, das Sachhafte, das »Wahre« des Erkenntnisgegenstandes gelangt ist. Damit wird offenbar, dass der reine erkenntnistheoretische Subjektivismus des negativ-evidenten Selbstwiderspruches in den positiv-evidenten, zwar subjektiv vollzogenen, aber objektiv gültigen, weil sachhaft (notwendig) bestandsfähigen Selbstzusammenhang eines Erkenntnisgegenstandes übergegangen ist. Oder anders: Der Selbstwiderspruch wurzelt in einem objektiven Selbstzusammenhang. Der Satz des Selbstwiderspruches, der nur subjektiv als Denkgebilde bestehen kann, verankert sich im objektiv gültigen Identitäts- bzw. Konsistenzsatz, der zwar auch, aber nicht nur ein Denkgebilde ist, sondern einen objektiven Seinszusammenhang wiedergibt, der nicht allein dem Denken, sondern dem zu 97 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
erkennenden Gegenstand entnommen ist. Hier, und zwar nur hier werden Denken und zu erkennendes Sein identisch-eins, und das »parmenideische Programm«: »Denken und Sein sind eins« ist erfüllt. 99 Stimmt dies wirklich? Und wie ist es möglich? Möglich wird diese Übereinstimmung dadurch, dass das Denken selbst ein Sein ist und einen Selbstzusammenhang, eine innere, objektive, sachhafte Identität konstituiert oder genauer: dass auch das Denken als bestimmtes Sein, nämlich als ein Sein, das aktiv, selbstvollzüglich und bewusst ist, unter dem allgemeinen, grundlegenden und übergeordneten Gesetz des Selbstzusammenhanges, der Identität und der Konsistenz steht, das besagt, dass etwas, das ist, so ist, wie es ist bzw. negativ, nicht so ist, wie es nicht ist bzw. nicht so ist, wie es nicht sein kann. Erkenntnisbestrebtes Denken und zu erkennender Gegenstand stehen demnach koordiniert und nicht, wie I. Kant meint, subordiniert unter dem Seinsgesetz des Selbstzusammenhanges, und genau deswegen können sie einander begegnen und in gewissen Hinsichten eins werden. 100 Wären sie absolut verschieden und inkompatibel, wäre Begegnung unmöglich, womit eine jede Erkenntnis unmöglich wäre. Da es aber unmöglich ist, dass das Denken, das so ist, wie es ist, und nicht so sein kann, wie es nicht sein kann, einem Gegenstand begegnet, der so ist, wie er nicht ist bzw. nicht so ist, wie er ist, wäre es unmöglich, wenn solch ein Gegenstand möglich wäre, da er in diesem Falle weder angeschaut noch erkannt werden könnte. Doch ist, wie gezeigt, solch ein Gegenstand nicht bestandsfähig, da er in sich, weil das Gesetz des Selbstzusammenhanges verletzend, unmöglich ist. Viele Erkenntniszusammenhänge sind für den Menschen nicht direkt erkennbar, sprich nicht durch direkt-einfache bzw. intuitive Anschauung erfassbar. Im Gegenteil sind die meisten Erkenntniszusammenhänge dem Menschen verborgen. So gibt es z. B. in der Mathematik unendlich viele unendliche Größen, die alle vom Menschen nicht direkt angeschaut und erfasst werden können. Von diesen unendlich vielen, direkt für den Menschen unzugänglichen Gegenständen und Verhältnissen gibt es manche, die dem Menschen ganz Siehe Parmenides (1981, 7). Siehe N. Hartmann (1964, 112): »Denn das Erkenntnisgebilde ist dem Erkenntnisgegenstande zugeordnet, hat also den Sinn, ihn zu repräsentieren. Es kann nur Erkenntniswert haben, soweit es die Seinsstruktur des Gegenstandes wirklich im Bewusstsein »darstellt« (repräsentiert); und darstellen kann sie es nur, wenn es sich auf den gleichen Kategorien aufbaut wie der Gegenstand.« (kursiv von B. W.). 99
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Denkprinzip gleich Seinsprinzip?
verborgen sind, von denen er also nicht einmal weiß, dass es sie gibt, und solche, die er, indirekt erschließend, erkennen kann. So kann er z. B. die Diagonale eines Quadrates in ihrem wahren Sein, das ein unendliches Größenverhältnis umfasst, nicht direkt anschauen und erkennen, und dennoch vermag er zu erschließen, und zwar mit notwendiger Gültigkeit, dass diese Diagonale keine rationale, endlich bestimmbare Länge besitzt. Solche Erkenntnis kommt auf einem Umweg, indirekt, erschließend, durch einen argumentativen Diskurs zu ihrem Ziel, nicht direkt durch einfachen Hinblick. Die indirekte Erkenntnis, auf die der Mensch mit seinem beschränkten direkten Erkenntnisausschnitt, seiner »kleinen Phänomenologie«, deshalb angewiesen ist, weil das Gegenstandsfeld unendlich groß ist, erarbeitet ihre Gültigkeit, indem sie von einem behaupteten, erkenntnismäßig und sachlich jedoch unmöglichen zu einem möglichen oder notwendigen Selbstzusammenhang übergeht. Auch sie tritt nicht aus dem erkennenden Subjekt heraus, aber sie wird dadurch objektiv gültig, dass sie erstens in die innere Seinsstruktur eines Erkenntnisgegenstandes vordringt, und zweitens dass sie einem Gesetz, erkenntnistheoretisch dem Gesetz des (unmöglichen) Selbstwiderspruches und ontologisch dem Gesetz des einzig möglichen Selbstzusammenhanges, der Identität bzw. Konsistenz, gehorcht, das nicht, wie I. Kant meinte, vom Subjekt ausgeht und einseitig den Erkenntnisgegenstand bestimmt, sondern logisch zugleich über bzw. in dem erkennenden Subjekt und dem Erkenntnisobjekt steht und beide in ihrem Da- und Sosein bis auf den Grund bestimmt. Somit wurzelt der Satz der Identität im Sein selbst, stets direkt erfahrbar im Sein des Denkenden selbst und entweder direkt im angeschauten Sein des erfahrenen Denkgegenstandes oder indirekt im nur erschlossenen Denkgegenstand. Der Satz der Identität, zunächst ein Denkgebilde, ist in einem ontologischen Gesetz, im Selbstzusammenhang des Seins überhaupt, verankert. Und weil dies so ist, kann das Denken objektiv, d. h. seins- und sachgerecht, seins- und sachbestimmt, gegenstandsund realitätsbezogen, sein. Somit wird deutlich, inwiefern Denken und Sein identisch sein können, nämlich da, wo sie beide gleichermaßen dem Grundgesetz der Identität – weiter des Zusammenhanges, der Ganzheit und Einheit – unterworfen sind und eben das sind, was sie jeweils sind. Doch nur im Grunde, also dort, wo das Urprinzip der Identität gilt, sind sie real identisch, ansonsten weisen sie Differenzen auf. In der Erkenntnis soll das Denken dem Sein gleich werden, soll sich ihm so hingeben 99 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
und anschmiegen, dass dieses jenem offenbar und angesichtig wird. 101 Das zu erkennende Seiende kann jedoch nur offenbar werden, wenn es sich zeigt, wenn es sich zeigen kann, und das kann es nur, wenn es sich so zeigt, wie es ist und wie es sein muss. Andererseits kann sich das zuerkennende Seiende nur zeigen, wenn das erkennende Seiende, das Denken, offen ist zu sehen, sehfähig, aufnahmefähig, hingabefähig, also so ist, wie es ist und sein kann, und nicht so, wie es nicht ist und nicht sein kann. 102 Da erkennendes Denken und zuerkennendes Sein nur im Grunde apriori identisch, ansonsten zumeist sehr verschieden sind, etwa weil, was der häufigste Fall ist, das Denken aktiv, bewusst und selbstbestimmt, das zu Erkennende ein passives Ding ist wie z. B. das Dreieck oder ein Sinnending, muss eine aktive Angleichung, eine adäquatio activa, eine »Identifizierung« (erkenntnistheoretisch, nicht psychologisch verstanden) erfolgen. Das wiederum ist nur dadurch möglich, dass sich das Aktive an das Passive oder evtl. an Aktives, z. B. an ein anderes Ich, das Erkenntnissuchende sich an das Erkenntnisgebende anschmiegt und ihm überlässt. Hier gilt, dass Denken und Sein nicht identisch sind, jedoch im Erkenntnisgeschehen »einig« werden und ihre »chymische Hochzeit« feiern. Solche Identifikation hat ihre Grenzen, und manchmal ist sie überhaupt nicht möglich, so etwa, wenn ein Mensch versuchen wollte, die Perspektive eines anderen Ich vollständig und vollkommen einzunehmen, was aufgrund der unübernehmbaren Eigenaktivität des Anderen unmöglich ist. Andererseits reicht sie viel weiter, als etwa I. Kant dachte, und zwar deshalb, weil dem Menschen der indirekte Erkenntnisweg offen steht, den I. Kant durch die Abweisung eines analytischen Urteils, das neue Erkenntnis zu geben imstande ist, für ungangbar hielt. 103 Seiner Meinung nach ist die 101 Nach der berühmten Formel des Thomas v. Aquin (1970): »Adaequatio rei et intellectus«. In: de Veritate, quaestio 1, articulus 1. 102 Wollte das erkennende Denken z. B. sich verweigern, sich anzugleichen, sondern wollte (vgl. F. Nietzsche!) »befehlen«, würde es seine spezifische Seinsart und damit seine Erkenntnismöglichkeit verfehlen. 103 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 52), wo er vom bloßen »Erläuterungsurteil« spricht, das angeblich keine neue Erkenntnis geben könne. Wie viele Logiker setzt I. Kant hier das analytische mit dem tautologischen Urteil gleich. Dieses gibt in der Tat keine neue Erkenntnis, sondern sagt im Urteilsprädikat offen dasselbe aus, was im Urteilssubjekt bereits explizit gesagt ist: »Der Schimmel ist weiß.« Im analytischen Urteil wird dagegen zwar im Urteilsprädikat auch nur ausgesagt, was im Urteilssubjekt enthalten ist, doch ist dieser Inhalt implizit, noch unaufgedeckt enthalten und muss erst bewusst
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Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre
menschliche Erkenntnis in die Grenzen der möglichen Erfahrung, letztlich in den direkten Erfahrungshorizont gebannt. Doch schon die positiven Wissenschaften, erst recht die Mathematik, widerlegen diese Behauptung, da sie alle vielfältige Erkenntnisse auf indirektem Wege und nicht selten solche Erkenntniszusammenhänge ermitteln, die grundsätzlich jenseits der Erfahrung liegen, Zusammenhänge etwa über den Ursprung des Weltalls, über das Wesen des Unbewussten, über die inneren Motive eines Anderen oder über die innere Struktur eines unendlich großen oder kleinen mathematischen Sachverhaltes, welche Erkenntnis, obwohl transempirisch, dennoch notwendiger Natur ist. Um diesen alles entscheidenden Punkt – den Kern der philosophischen Erkenntnismethode, die reduktiv-regressive Analytik – deutlicher herauszuheben und philosophisch-erkenntnistheoretisch gründlich zu belegen, folgt der Versuch, den Kantischen Standpunkt, der das größte Hindernis einer jeglichen wissenschaftlichen Metaphysik darstellt, darzulegen und, wo möglich, zu überwinden.
1.13. Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre 1.13.1. Mit seiner »Kritik der reinen Vernunft« von 1881 hat Immanuel I. Kant (1724–1804) die radikalste Metaphysik- und damit überhaupt Philosophiekritik, die die Philosophiegeschichte kennt, geschrieben. Sich dessen selbst vollbewusst, stellte sie I. Kant auf die Stufe der von Kopernikus bewirkten Revolution der Astronomie. 104 gemacht und herausgehoben werden. O. Willmann (1979, 393) spricht in seiner Kantkritik treffend von einem »eingewickelten« Urteilsprädikat. Das analytische Urteil liefert entgegen I. Kant darum sehr wohl neue Erkenntnis. Im Falle der metaphysischen, genauer, reduktiv-regressiven Erkenntnisgewinnung handelt es sich um eine bestimmte, komplizierte Verkettung von analytischen Urteilen, die über die Erfahrung hinaus mittels erst reduktiver, dann regressiver Urteile neue Erkenntnis gewinnt. Es ist allerdings zu bemerken, dass I. Kant an anderer Stelle in der Einleitung der KdrV durchaus sieht, dass das analytische Urteil etwas nur »verworren« Erkanntes ins helle Licht des Bewusstseins hebt und insofern doch Neues, zuvor Unbekanntes erkennt. Leider nutzt er diese Einsicht nicht. 104 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 25); vgl. erläuternd E. Hirschberger (1980, 268 ff.). Was die generelle Kritik an I. Kants Philosophie betrifft, besonders an der Autonomi-
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Ihre Durchschlagskraft erhält I. Kants Kritik nach seinen eigenen Angaben dadurch, dass sie, um überhaupt vernünftig argumentieren zu können, Wesen, Struktur, Funktion, Umfang und Grenze der Vernunft selbst zu bestimmen sucht. »Kant spürt daher das Verlangen, die Grenzen deutlicher zu ziehen, aus dem Dogmatismus herauszukommen, ohne in Skepsis zu verfallen.« 105 Sein Ergebnis ist, dass menschliche Erkenntnis über die Grenzen möglicher Erfahrung nicht hinauszukommen vermag, da sie unabdingbar an die Anschauung – die empirische Anschauung in der Welt- und Selbsterkenntnis, die reine Anschauung in der Mathematik – gebunden sei. Die Möglichkeit transempirisch-metaphysischer Erkenntnis wird somit, weil sie nach I. Kant nur mit leeren, anschauungslosen Begriffen umgehe und keinen Anhalt in der Anschauung habe, unmöglich. 106 Auf drei Säulen stellt I. Kant diese seine Erkenntnistheorie: auf die Säule der sinnlich erfahrenen Empfindungswelt der Farben, Töne etc., auf die Säule der nach ihm vorempirisch-apriorischen Anschauungsformen von Zeit und Raum und auf das System der reinen Begriffe, Urteile und Kategorien. Was das Wesen, den Seinsstatus, die Herkunft und die Auffassungsmöglichkeit der Sinnesempfindungen (Farbe, Klänge, Wärme, Druck etc.) angeht, so fasst sich I. Kant in seiner »transzendentalen Ästhetik« sehr kurz, so dass sie weitgehend im Dunklen bleiben. Immerhin folgert er aus ihrer Unverfügbarkeit und Nichtmanipulierbarkeit durch die menschliche Auffassung, dass sie von einer nicht wegzudiskutierenden, an sich seienden Welt zeugen und vom Menschen nicht »gemacht« oder synthetisiert, sondern rezeptiv aufgenommen werden. Obwohl dasselbe von Raum und Zeit gilt, denn auch sie erfährt der Mensch als rezeptiv aufgenommene, kaum verfügbare Wesenszüge der empirischen Welt, hält I. Kant dafür, dass sie vor aller Erfahrung im Menschen bestehen und die Anschaulichkeit der empirischen Welt konstituieren. Ja, er wagt sich so weit zu behaupten, die sierung des Subjekts und die Subjektivierung der ontologischen Prinzipien, sei auf die kluge und umfassende Kritik O. Willmanns (1979, 292–401: »Der Autonomismus als Nerv des kantischen Philosophierens«) verwiesen, die allerdings die Unhaltbarkeit des zentralsten Kantischen Philosophems, des synthetischen Urteils apriori, nicht untersucht, was in diesem Kapitel getan wird. 105 Siehe E. Sandvoss (2001, 276–267). 106 Weiter oben wurde gezeigt, dass Vieles aus der physischen Welt dem Menschen insofern transzendent ist, als es sich seiner Erfahrung prinzipiell entzieht, Metaphysik also auch physische Regionen umfasst.
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»Dinge an sich selbst«, also die Welt, insofern der Mensch meint, sie bestünde unabhängig von ihm, könnten objektiv weder räumlich noch zeitlich ausgedehnt sein. Da fragt sich allerdings, wie und woher er das wissen kann. Denn insofern nach I. Kant die Dinge in ihrem selbständigen Weltsein total unerkennbar sind, kann der Mensch streng genommen weder wissen, ob sie raumzeitlich bestimmt sind, noch, ob sie es nicht sind. I. Kants Annahme, nur die Erscheinungswelt, nicht die Dinge an ihnen selbst seien raumzeitlich bestimmt, schließt Letzteres keineswegs aus. Im Gegenteil wäre zu fragen, wie Dinge, die an ihnen selbst völlig zeit- und raumlos sein sollen, überhaupt in raumzeitliche Erscheinungen sollen übergehen können, zumal I. Kant jene als die notwendige ontologische Voraussetzung für diese betrachtet und hierbei sogar ein Kausalverhältnis unterstellt, das er sonst strikt nur auf die Erscheinungswelt beschränkt! Logisch können in Wahrheit nur solche Dinge an sich erscheinen, die dazu in der Lage sind, und insofern können sie nicht völlig unerkennbar sein. Die dritte Säule bzw., wie I. Kant sagt, den dritten Stamm unseres Erkenntnisvermögens bilden die Begriffe bzw. Urteile, in und mit denen der Mensch den nach I. Kant angeblich chaotischen bzw. verworren zerstreuten Empfindungsstoff gliedert, ordnet und versteht. 107 Auch dies geschehe apriorisch, was heißt, dass die Ordnungen, die der Mensch in der Welt zu finden meint, wie I. Kant selbst sagt, in sie hineinlegt, philosophisch genauer, von ihm konstituiert sind. Abgesehen davon, dass die empfundene Welt nie chaotisch vorgefunden wird und eine reiche, vom Menschen nicht erzeugbare Binnenstruktur aufweist, wäre auch hier zu fragen, wie eine Welt beschaffen sein muss – an deren Objektivität I. Kant, obschon unerkennbar, unbedingt festhält –, dass sie diese Projektionen theoretisch und vor allem praktisch zulässt und ermöglicht, also damit grundsätzlich kongruent und adäquat ist. 108 107 Es muss betont werden, dass das »Chaos der Empfindungen« keineswegs, wie I. Kant behauptet, eine empirische Tatsache ist, sondern bestenfalls eine Hypothese, die I. Kant ungeprüft und unerwiesen voraussetzt, welche Voraussetzung wiederum die entscheidende Basis für seine Annahme ist, dass alle Strukturierung der Erfahrung vom Anschauen und Denken des Subjektes ausgehe. In Wahrheit ist die »Empfindungsmaterie« immer schon strukturiert, ja hochstrukturiert, etwa gemäß der Sinnesorgane oder gemäß innerer Gesetze (Farbenkreis, Obertonreihe etc.), die von der Vernunft nicht originär gesetzt und synthetisiert, sondern rezeptiv-aktiv aus der Erfahrung entnommen und »nachgestaltet« werden. 108 Vgl. meine Dissertation (2009, Kap. X), wo auch gezeigt wird, dass ohne die Klärung des Wesens, der Stellung und der intrinsischen Ordnungen der Sinnesempfin-
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Da für I. Kant Denken und Erkennen notwendig in Urteilen erfolgen, was noch in diesem Kapitel kritisch hinterfragt wird, steht im Mittelpunkt seiner Argumentation letztlich jedoch weniger die Frage nach dem Status der Empfindungen oder der Anschauungsformen für die Erkenntnisleistung des Menschen, sondern, trotz dieser sehr wertvollen, leider nicht ausgeschöpften und durchdachten Triadisierung des Erkenntnisapparates, die Frage nach Wesen und Anzahl der logischen Handlungen, also der Urteile. Und so wird seine Analyse des Erkenntnisapparates von der Frage geleitet: Was sind Urteile überhaupt? Welche gibt es? Wie und worüber kann der Mensch überhaupt urteilen und auf diesem Wege Erkenntnisse gewinnen? Und dann: Wie ist, da allgemeine und notwendige Erkenntnisse nach I. Kant in der Erfahrung unmöglich sind, aber in der reinen theoretischen Physik und in der Mathematik unbezweifelbar vorkommen, solche notwendige Erkenntnis vor oder über alle Erfahrung hinaus möglich? 109 Die zentrale Rolle spielt dabei nach I. Kants 110 eigenem Bekunden die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des »synthetischen Urteils apriori«, was im Folgenden erläutert wird. 111
1.13.2. Nach I. Kant vollzieht sich die theoretische Erkenntnis des Menschen gemäß der Einleitung in der »Kritik der reinen Vernunft«, in der »Prolegomena« und zum Teil schon in den beiden Vorreden der Kritik dungen die Leiblichkeit ein Rätsel bleibt, und es daher wenig verwundert, dass die Leiblichkeit bei I. Kant kaum eine Rolle spielt. 109 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 45–66). 110 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 58 f.). 111 In seiner Schrift (1970 b) rekonstruiert W. Stegmüller, worin für I. Kant die »Notwendigkeit« bestand, die Erkenntnismöglichkeit des synthetischen Urteils apriori aufzustellen. Im Kern läuft seine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Überlegung auf folgendes Resümee hinaus: Um die Newtonsche Theorie philosophisch »definitiv zu begründen« (1970 b, 22), muss I. Kant die Möglichkeit einer synthetischen Erkenntnis apriori erweisen, da er den Weg des Wolffschen Rationalismus, der aus obersten logischen Prinzipien die Naturgesetze deduktiv herleiten will, für ungangbar, den skeptischen Weg des Empirismus von D. Hume, für den eine definitive Begründung der Naturwissenschaft unmöglich ist, für inakzeptabel hält. Vgl. weiter zum Problem W. V. O. Quine (1972, 167–194), der die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen analytischen und synthetischen Sätzen grundsätzlich bestreitet, was nicht der Aufgabe enthebt zu klären, welcher Natur Urteile überhaupt sind und welche Rolle die Synthese darin spielt.
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der reinen Vernunft in Urteilen. Diese Urteilseinteilung, die nach ihm »klassisch« genannt zu werden verdiene, für die Kritik des menschlichen Verstandes unentbehrlich sei und aller Wissenschaftlichkeit zugrundeliege, formiere sich in zweimal zweierlei Urteilsarten. 112 Zum Ersten stößt man auf Urteile, in welchen der Begriff des Prädikates im Subjektbegriff des Urteils notwendig enthalten ist: das sind die analytischen Urteile, nach I. Kants Beispiel »Der Körper ist ausgedehnt.« 113 Zweitens gibt es Urteile, in welchen der Begriff des Prädikates im Subjektbegriff gemäß I. Kant nicht enthalten ist, sondern zu diesem von außen hinzukommt, und das sind die synthetischen Urteile, bei I. Kant: »Der Körper ist schwer« und »7 + 5 = 12.« In einer anderen Hinsicht findet I. Kant Urteilsformen, die sich in ihrem jeweils besonderen Bezug zur Erfahrung konstituieren: erstens die aposteriorischen Urteile, die primär von der Erfahrung ausgehen und sich in der Erfahrung vollziehen und da Erkenntnis festsetzen: »Der Körper ist schwer«; und zweitens die apriorischen Urteile, die nicht aufgrund der Erfahrung, sondern vor und unabhängig von ihr aufgestellt werden, wiewohl sie stets von der Erfahrung angeregt, I. Kant sagt, »aufgereizt« werden, so das Urteil »7 + 5 = 12« oder das Urteil: Die echte oder reine Diagonale eines
Vgl. zur »Klassizität« I. Kant (Werke, III, 2011, 129). Um das Wesen des Urteils und seinen Zusammenhang mit den Vorgängen von Analyse und Synthese zu bestimmen, muss zuerst das Wesen des Analytischen und Synthetischen bedacht werden, was I. Kant in der Einleitung der KdRV nicht tut. Für die Zwecke dieser Arbeit mag es vorerst genügen, unter Analyse nicht das reale, von der Naturwissenschaft geübte Zerlegen oder Spalten eines Gegenstandes in seine Teile (z. B. die Spaltung des Atoms), sondern, wie das auch I. Kant so versteht, das Unterscheiden und Beziehen von Aspekten und Momenten eines einheitlichen Sachverhaltes zu verstehen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Unterscheiden von miteinander real zusammenbestehenden Momenten impliziert, den mitgegebenen Zusammenhang dieser Momente zu denken, was keine Synthese darstellt, sondern nur eine »Zusammenschau« (Konspektion). Unter Synthese soll demgegenüber das Zusammenbringen, Zusammenfügen und Zusammenhalten von verschiedenen, zuerst getrennt bestehenden Realitäten zu einer neuen Einheit verstanden werden, was etwa der Fall ist, wenn in der Sinneswahrnehmung ein Weltgegenstand mit dem Bewusstsein des Wahrnehmenden oder wenn in der Sprachbildung etwas zu Bezeichnendes mit dem bezeichnenden Zeichen oder wenn aus Steinen eine Mauer zusammengebracht und zu einer neuen, vorher so nicht bestehenden Einheit synthetisiert wird. 112 113
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Quadrates, die es so weder im Vorstellen noch im Physischen geben kann, ist irrational, das heißt: kann durch ein endliches Verhältnis nicht ausgedrückt werden. Bei analytischen Urteilen sei nach I. Kant Erfahrung weder nötig noch möglich, da hier der Begriff des Prädikates ohnehin im Subjektbegriff enthalten sei. 114 Aufgrund dieser Eigenschaft erweitern sie darum nach seiner Auffassung den Begriff des Satzsubjektes nicht und geben keine neue Erkenntnis. Sie stellen nur »Erläuterungsurteile« dar. Das aposteriorische Urteil komme dagegen dadurch zustande, dass der Begriff des Prädikates aufgrund der Erfahrung als zum Begriff des Subjektes zugehörig erkannt werde und darum diesem, das auch ohne jenes Prädikat als Eigenschaft bestehen kann, beigelegt werde. Hier sei neue Erkenntnis möglich, was die Grundlage für den Ausbau aller Erfahrungswissenschaften sei. Bei solchen Urteilen handele es sich daher um »Erweiterungsurteile«. Daneben gibt es gemäß I. Kant Wissenschaften, die (angeblich) versuchen, ohne Hilfe der Erfahrung neue Erkenntnisse zu liefern. Solche Wissenschaften sind die Mathematik und die Metaphysik. Aufgrund ihrer empirischen Erfahrungsunabhängigkeit können sie nach I. Kant nur in synthetisch-apriorischen Urteilen aufgebaut werden, solchen Urteilen, die ohne alle Erfahrung rein aus der Struktur der Vernunft entworfen oder hergestellt werden. 115 Da sich die Mathematik auf die reine, die Metaphysik aber weder auf eine empirische noch auf eine reine Anschauung stützt, stellt sich für I. Kant die Frage, wie synthetisch-apriorische Urteile überhaupt möglich sind. Um dieses Problem kreist, wie von I. Kant selbst betont und allgemein anerkannt wird, sein großes erkenntnistheoretisches Werk, die Kritik der reinen Vernunft. W. Stegmüller bestätigt diese Sicht und erweitert sie zur radikalen Frage:
114 Vgl. I. Kant (Werke, III, 2011, 126): »Erfahrungsurteile sind jederzeit synthetisch. Denn es wäre ungereimt, ein analytisches Urteil auf Erfahrung zu gründen.« Kann man das nach I. Kant rein analytische Urteil »Der Körper ist ausgedehnt« ohne alle Erfahrung eines Körpers überhaupt bilden? Vgl. ähnlich I. Kant (Werke, II, 2011, 53): »Denn es wäre ungereimt, ein analytisches Urteil auf Erfahrung zu gründen, weil ich aus meinem Begriffe gar nicht hinausgehen darf, um das Urteil abzufassen, und also kein Zeugnis der Erfahrung dazu nötig habe.« 115 Vgl. Stichwort »synthetisch«, »Synthese«. In: »Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie« (2004, 181 ff.).
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»[…] ob es synthetische Urteile apriori gibt, ist in einer gewissen Hinsicht eine Schicksalsfrage der Philosophie.« 116
1.13.3. Wie also sind die synthetisch-apriorischen Urteile möglich? Sie sind dadurch möglich, sagt I. Kant, dass die Subjekte mit den reinen Anschauungen der vor allem das Innenleben bestimmenden Zeit und des die Außenerfahrung bestimmenden Raumes, die die gesamte Erfahrung formen, auch vor oder außer der tatsächlichen Erfahrung Urteile bilden können, die sich synthetisch und apriorisch konstituieren. Diese Urteile heißen »rein«, nicht weil sie ohne Inhalt wären, sondern weil sie nach I. Kant erfahrungsfrei bzw. nur erfahrungsangeregt zustande kommen: so vor allem die Urteile der Mathematik, der reinen Naturwissenschaft und – nach I. Kant irrtümlicherweise – der Metaphysik. 117 Da die Objekte der Metaphysik aber außer der Zeit und des Raumes und so auch außerhalb aller möglichen Erfahrung liegen, gebe es 116 Siehe W. Stegmüller (1954 a, 535 f.). Vgl. weiter zum Problem des apriorischen Urteils: B. v. Brandenstein (1976, B., 57 ff.: »Das Urteil«); ders., »Grundlegung der Philosophie« (1966, Bd. 4, 152–159) und (181–185), an die ich mich bei meinen folgenden Ausführungen in den Grundzügen anlehne. 117 Vgl. I. Kant (Werke, III, 2011, 521): »Der Begriff ist entweder ein empirischer oder ein reiner Begriff (vel empiricus vel intellectualis). – Ein reiner Begriff ist ein solcher, der nicht von der Erfahrung abgezogen ist, sondern auch dem Inhalte nach aus dem Verstande entspringt.« Im Gegensatz zu Aristoteles, für den allgemeine Erkenntnis durch das »Abziehen« (Abstrahieren) der allgemeinen Form vom konkreten empirischen Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung zustande kommt, vertritt I. Kant die Ansicht, dass gewisse Begriffe (und ihr Inhalt!) im Sinne des Rationalismus mit seiner Theorie der ideae innatae rein aus dem Verstande entspringen bzw. diesem entnommen werden können. Allerdings meint I. Kant, dass es trotzdem eines empirischen Anstoßes bedürfe, damit es zur reinen intellektualen Begriffsbildung komme. Beispiel: Ein empirisches Dreieck, das in Wahrheit nie ein echtes Dreieck sein kann, erweckt den Verstand, den reinen Begriff des echten geometrischen Dreieckes zu bilden. Diesen aus der Mathematik bekannten Vorgang überträgt I. Kant auf alle Philosophie bzw. apriorische Wissenschaft, was erweisbar inadäquat ist. Die Erhellung z. B. der inneren Wesensstruktur der Trauer, des Wollens oder der Zeit, des Raumes etc. und ihre Rückführung auf die »Bedingungen ihrer Möglichkeit« hat mit der Mathematik und ihren deduktiven Verfahren nichts zu tun, sondern ist ein typisch analytischreduktives und regressives Vorgehen, das aus dem bedingt Gegebenen in reduktiven Urteilen sein immanentes Strukturgefüge und in regressiven Urteilen seine oft transzendenten, letztlich unbedingten Seinsvoraussetzungen ermittelt.
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für sie kein Medium und keinen Anhalt, vermittels dessen auf sie bezogene apriorisch-synthetische Urteile gebildet und an der Realität überprüft werden könnten, weshalb keine für diese transempirischen Dinge gültigen theoretischen Urteile möglich seien. 118 Darum hätten die auf sie bezogenen synthetischen Urteile keine konstitutive, d. h. erkenntnisgebende, sondern bloß regulative, die Gesamtheit der tatsächlichen und möglichen Erfahrungserkenntnis ordnende und in gewissem Sinne lenkende Bedeutung. Wenn der Mensch, darüber hinausgehend, beanspruche, solchen metaphysischen Sätzen Erkenntnisbedeutung beizulegen, dann werde er »dogmatisch« bzw. unkritisch und verfalle unvermeidlich in Widersprüche und Kontradiktionen, so dass einander widersprechende Urteile mit gleicher Gültigkeit in ein und derselben Hinsicht Wahrheit beanspruchen, damit aber in Wahrheit nichts bzw. alles beweisen. Das ist im Kern der Standpunkt der Kantischen Erkenntnistheorie bezüglich der Grenzen der Erkenntnis der menschlichen Vernunft. Was ist kritisch dazu zu sagen?
1.13.4. Das Erste, was angemerkt werden muss, ist, dass I. Kant diese Urteilslehre, die zweifellos, auch von ihm selbst betont, grundlegend für sein gesamtes kritisches Werk ist, ohne jeden kritischen Erweisversuch und mit schlichter Selbstverständlichkeit, also, wissenschaftlich gesehen, »dogmatisch« hinstellt. Der Leser der Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft erfährt 118 Da schon die zeitlich-räumliche, weiter materielle Welt nicht direkt, sondern nur mittels der sinnlichen Wahrnehmung erfahren werden kann, weil sie an sich transempirisch besteht, ist die Behauptung problematisch, Metaphysik beziehe sich nur auf Gegenstände außerhalb von Zeit und Raum. Im Gegenteil, die Metaphysik z. B. des materiell-empirischen Raum-Zeitgeschehens gehört zu den schwierigsten metaphysischen Problemen überhaupt. Richtig dagegen ist, dass sich Metaphysik auf Gegenstände bezieht, die außerhalb des subjektiven Erscheinungsraums und der subjektiven Erscheinungszeit liegen. Da gemäß I. Kant die »Dinge an sich« bzw. die objektive Welt weder zeitlich noch räumlich sind, meint er mit Zeit und Raum nur die subjektive Anschauung der beiden. Und da hat er Recht, dass die Metaphysik über diese ZeitRaum-Anschauung hinausstrebt. Unrecht hat er, dass die Metaphysik von reinen Begriffen und von keinerlei Erfahrung ausgehe; das ist weder bei Platon und Aristoteles noch bei R. Descartes und G. W. Leibniz der Fall. Im Folgenden wird dies kritisch hinterfragt.
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erstens nicht, warum sich die theoretische Erkenntnis nur oder hauptsächlich in Urteilen vollzieht; zweitens nicht, wie ein Urteil vor bzw. unabhängig von aller Erfahrung möglich sein soll; 119 drittens nicht, warum es gerade die zweimal zwei Kriterien des Analytisch-Synthetischen und des Aposteriorisch-Apriorischen sind, die alle möglichen Urteile formieren und viertens nicht, welche Urteilsform verwendet wird, die die Urteile in analytische und synthetische, apriorische und aposteriorische unterscheidet.
Ad 1. Der erste Punkt betrifft die Erkenntnis überhaupt, insbesondere die theoretische, und problematisiert nicht, dass es nicht nur diskursivtheoretische, sondern auch intuitiv-verstandesmäßige, praktische und emotionale Erkenntnisweisen gibt. Wie vollziehen sich diese? Und sind auch diese in den Horizont möglicher Erfahrung eingeschlossen? Die Behauptung, philosophische Erkenntnis vollziehe sich nur in (diskursiven) Urteilen, muss man verneinen, schon deswegen, weil alle, auch die theoretisch-diskursive Erkenntnis einer Basis bedarf, die nicht wieder nur diskursiv konstituierbar ist, weil man sonst in einen infiniten Regress gerät, sondern durch einen einfachen direkten Hinblick, durch einen ganzheitlich intuitiven bzw. konspektiven Erschauungsakt zustande kommt. 120 Diese Behauptung wird schon 119 Siehe I. Kant (Werke, II, 2011, 13): »Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag […] Diesen Weg, den einzigen, der übrig gelassen war, bin ich nun eingeschlagen und schmeichle mir, auf demselben die Abstellung aller Irrungen angetroffen zu haben, die bisher die Vernunft im erfahrungsfreien Gebrauche mit sich selbst entzweit hatten.« Liegt hier nicht insofern ein Selbstwiderspruch vor, als I. Kant einerseits beweisen will, dass alle Erkenntnis, die über die Grenzen der möglichen Erfahrung hinausgeht (was er Metaphysik nennt), unzulässig, weil unmöglich ist, andererseits dies dadurch erreichen will, dass er das Wesen der Vernunft (und ihre Grenzen) vor aller Erfahrung, also doch wohl transempirisch, transzendental oder transzendent bestimmen will? 120 Dies bestätigt I. Kant (Werke, II, 2011, 16 f.) insofern, als er zugibt, dass er der intuitiven Basis alles Denkens und ihrer »obzwar nicht so strengen, aber doch billigen Forderung nicht habe Genüge leisten können.« Diese Aussage hängt mit I. Kants Festsetzung zusammen, gemäß der philosophische Verstandeserkenntnis nur diskursiv sei (vgl. Prolegomena § 7). Eine genauere phänomenologische Analyse des Urteils
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durch die Grundstruktur des Urteils erwiesen. Denn woher nehmen die urteilenden Subjekte das Urteilssubjekt, von dem diskursiv ein Urteilsprädikat ausgesagt bzw. dem ein solches beigelegt wird? Wieder von einem Urteil? Keineswegs, sondern von einer Wahrnehmung, einer Erfahrung, einer Gewahrung. Und auch diese darf mit Recht theoretisch, nur nicht diskursiv-urteilsmäßig-theoretisch, sondern intuitiv-anschauend-theoretisch genannt werden. 121 Eine »Kritik der Vernunft«, die das Wesen des erkennenden Geistes bis auf seinen Grund durchleuchten will, kann nicht ohne Schaden auf die Betrachtung der intuitiven Basis aller Erkenntnis verzichten. 122 Die moderne Phänomenologie hat daran zu Recht angesetzt und damit neue Wege eröffnet. Allerdings darf hier Intuition nicht mit Gefühlsahnung oder »Schau in andere Welten« gleichgesetzt werden. Wie B. v. Brandenstein 123 in seiner Wissenschaftslehre zeigt, wirkt in der theoretischen Intuition als Hauptkraft die »gehaltliche oder qualitative Nachsetzung«, mittels welcher überhaupt erst der zu erkennende Sachverhalt bzw. seine Repräsentation ins Bewusstsein gesetzt wird, so im Rahmen der Sinneswahrnehmung oder im Falle der Phantasiesetzung. Hierbei handelt es sich noch nicht um ein Urteil, sondern um dessen Vorbereitung und Fundierung, also um eine echte Synthese, in der sich das Bewusstsein mit einem, dann urteilsmäßig zu analysierenden, Inhalt zusammenbringt. 124 Wie wichtig diese Einsicht ist, wird man an der Behandlung des synthetischen Urteils erkennen, in deren Durchführung I. Kant genau dies, die genauere Differenzierung zwischen dem synthetischnachsetzenden Akt und dem darauf aufbauenden (wesenhaft immer) analytischen Urteil, unterlässt bzw. verkennt. Ad 2. Eine beinahe noch größere Bedeutung spielt der bei I. Kant nicht genügend präzisierte und differenzierte Erfahrungsbegriff. In seinem gesamten Werk schwankt er auffällig zwischen »Erfahrung überkann das widerlegen – auch der Verstand hat seine intuitive Komponente, was I. Kant übrigens der Mathematik und ihren Urteilen zugesteht (Prolegomena § 7). 121 Vgl. die Evidenzlehre E. Husserls (1993, 120–127). 122 Vgl. anders W. Stegmüller (1954 b), der das Intuitionsproblem für unlösbar hält. 123 Vgl. B. v. Brandenstein (1966, 101 ff.). 124 Genauer handelt es sich um eine nachsetzende, also aktiv-rezeptive Synthese, der ein passives Erleiden vorhergehen kann. Vgl. E. Husserl (1929, § 38), wo er in vergleichbarer Weise von der »passiven Synthese« spricht.
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haupt« und »sinnlicher Erfahrung«, die I. Kant beide zumeist gleichsetzt, jedenfalls nicht klar scheidet. In Wahrheit gibt es, wie bereits erläutert, drei Erfahrungsquellen bzw. Erfahrungsstämme, erstens die sinnliche, über die leiblichen Sinnesorgane vermittelte Erfahrung, zweitens die Erfahrung der nicht sinnlich vermittelten Bewusstseinsgegenstände und drittens die Erfahrung der unsinnlichen und ungegenständlichen Selbstvollzüge (Akte) und Selbstzustände des Subjekts. Die sinnliche Erfahrung lässt sich weiter in zwei Hauptrichtungen scheiden: Da gibt es zum einen jene sinnliche Erfahrung, die sich auf eine Welt bezieht, die außerhalb des Leibes liegt, und zum anderen jene sinnliche Erfahrung, die sich auf die Leibeswelt selbst bezieht und eine Art leiblicher Reflexivität konstituiert. Das Auge, das Ohr, Geruch, Geschmack, Getast und das Gleichgewichtsorgan vermitteln Gestaltungen von der außerleiblichen Welt, während Hunger, Durst, Schmerz, Spannung, Druck, Jucken usw. nichts von der außerleiblichen, sondern von der leiblichen Welt bzw. vom leiblichen Selbst mitteilen. Analog gliedert sich die Erfahrung der inneren Gegenstandswelt charakteristisch auf: Da gibt es erstens die noch sehr stark sinnlich tingierten Phantasien, die dennoch unabhängig von den leiblichen Sinnesorganen rein aus der Imaginations- und Erinnerungskraft des Geistes aufsteigen; da gibt es zweitens die unsinnlichen Gedanken-, Begriffs-, Urteils-, Schluss- und sonstigen abstrakten Vorstellungsgegenstände; und da gibt es schließlich drittens die rein idealen Gegenstände, etwa die mathematischen Größen, die logischen Gesetze und die verschiedenen ethischen, praktischen, ästhetischen und religiösen Wertgegenstände. Während all dies gegenständlicher, nicht-personaler Natur ist, bezieht sich die Selbsterfahrung, wie das Wort sagt, auf das Selbst, das Ich, die Person selbst, vor allem auf ihre Selbstvollzüge oder Akte und ihre aktiven Zustände. Zu diesen gehören z. B. die Akte des Dankens, Entscheidens, Sichanvertrauens, Fragens, Hoffens, Sichängstigens, Zweifelns, Sichdurchsetzens, Nachdenkens, also volitionale, kognitive und emotive Akte und die zeitüberdauernden, meist aus Akten hervorgehenden aktiven Zustände der Person, z. B. die willentliche Entschlossenheit, die Treue, die Tapferkeit, aber auch Stimmungen wie die Traurigkeit, Ängstlichkeit, Zuversichtlichkeit, Gelassenheit usw. Es war psychologisch und erkenntnistheoretisch folgenschwer, 111 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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dass I. Kant diese Unterscheidungen nicht traf und alles undifferenziert unter den Überbegriff der »Erscheinungswelt« fasste. Denn man muss sich fragen, ob eine Sinneswahrnehmung nicht ganz anders erscheint als ein Entscheidungsakt? Während auf die erste der Begriff des Erscheinens noch zutreffen mag, insofern in der Sinneswahrnehmung etwas erscheint, was als solches – I. Kant 125 sagt: als Ding an sich – entzogen bleibt, gilt dies von personalen Akten nicht: Diese erscheinen nicht bzw. zeigen etwas anderes an, sondern sie zeigen sich unmittelbar selbst und sind in ihrem »An-sich-sein«, nämlich in ihrem Selbstvollzug, sprich in ihrer nicht von anderem ableitbaren Selbstaktivität als Seinsweise des Subjekts direkt erfahrbar. Gerade der selbstaktive Geist bzw. seine Akte und Zustände sind jenes einzige, dem Bewusstsein zugängliche »Ding-an-sich«, das I. Kant verkannte und als intelligibles Noumenon in die Sphäre der Unerkennbarkeit verbannte. Schon A. Schopenhauer 126 stellte dies in Frage, und die Aktphilosophie F. Brentanos 127 und später die Phänomenologien E. Husserls, 128 M. Schelers 129 und N. Hartmanns 130 korrigierten hier I. Kant grundlegend. Recht betrachtet, wurde dadurch R. Descartes rehabilitiert, der den Wesensunterschied zwischen den Selbstvollzügen der Person und ihren sinnlichen und unsinnlichen Bewusstseinsgegenständen, der »Welt der Erscheinungen«, klarer gesehen hatte. Einen letzten Punkt, der vor der kritischen Befragung von I. Kants Urteilstheorie erwähnt werden muss, betrifft seine Auffassung, dass es Urteile vor aller Erfahrung geben könne und dass nur diese, weil erfahrungsunabhängig, allgemein und apodiktisch gültig seien. 131 Wenn unter Empirischem im Sinne I. Kants alles verstanden wird, was überhaupt erscheinen kann, dann bezieht dies über die 125 Darin wurzelt I. Kants Realismus, während die radikalen Idealisten diesen Realitätsrest des Dinges an sich streichen und alles aus dem Ich entstehen lassen. 126 Vgl. A. Schopenhauer (1892, Bd. 1, 529 ff.). 127 Vgl. F. Brentano (1874). 128 Vgl. E. Husserl (1993, II/1, 343 ff.). 129 Vgl. M. Scheler (1923 b). 130 Vgl. N. Hartmann (1921). 131 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 46): »Wir werden also im Verfolg unter Erkenntnissen apriori nicht solche verstehen, die von dieser oder jener, sondern die schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden. Ihnen sind empirische Erkenntnisse oder solche, die nur a posteriori, d. i. durch Erfahrung, möglich sind, entgegengesetzt. Von den Erkenntnissen apriori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist.«
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sinnliche Erfahrung hinaus notwendig alle andere Erfahrung, etwa die nichtsinnliche Erfahrung von Zeitlich-Veränderlichem (im eigenen Erleben und in der Welt), von Räumlichem, von Ausgedehntem, von Körpern und von überhaupt Quantitativ-Größenhaftem usw. ein. 132 Wie aber soll ohne alle Erfahrungsbasis überhaupt ein Urteil, etwa das Urteil »Der Körper ist ausgedehnt« gebildet werden? Was I. Kant daher nur meinen kann, ist, dass es bestenfalls Urteile vor aller sinnlichen Erfahrung gebe. 133 Urteile vor aller Erfahrung überhaupt erweisen sich als unmöglich, sie müssen stets von einer inner-empirischen oder weltempirischen Basis ausgehen, die mehr als nur, wie I. Kant meint, Anstoß für apriorische Begriffsund Urteilsbildung ist, sondern, wie in der Fußnote 132 näher dargelegt, wesentliche Aspekte des Urteilsgeschehens, wie die quantitative Strukturiertheit der Welt, ihre Körperlichkeit usw., mitbringt. Folgt daraus, dass alle Erkenntnis, wie I. Kant sagt, weil bloß aposteriorisch, hypothetisch ist? Wie sich zeigen wird, ist das nicht der Fall. Damit wird der Kern der kritischen Befragung von I. Kants Urteilstheorie berührt. Ist sie, so wie er sie gibt, konsistent? Ad 3. Die genauere Betrachtung der Grundstruktur des Urteils und damit aller Urteilsformen zeigt, dass es synthetische Urteile im Sinne I. Kants – d. h. in Hinsicht ihrer Aussagefunktion – nicht gibt und nicht geben kann, da die Sachbedeutung des Urteilsprädikates (in 132 So könnte, um bei I. Kants Beispiel zu bleiben, das Urteil 5 + 7 ist 12 niemals vollzogen werden, wenn der Denkende nicht vorher in sich bzw. in der Welt die Erfahrung (!) von Einheit und Vielheit, von Quantitativem und Begrenztem, Gleichem und Ungleichem gemacht hätte bzw. ihm niemand beigebracht hätte, was 1, 0, Addition und Gleichheit bedeuten. Jenes Urteil wird mitnichten rein apriorisch vollzogen, sondern stützt sich auf die Erfahrung von Quantitativem im eigenen Erleben und in der Welt. Zwar ist es richtig, wenn I. Kant sagt, aus dem empirischen Dreieck könne seine geometrische Struktur (z. B. seine 180 Grad) nicht »abgezogen« werden, aber die Konstruktion des reinen Dreieckes ist ohne das empirisch vermittelte Erfahrungswissen von Einheit und Vielheit, Gleichem und Ungleichem, Ausgedehntem und Begrenztem, ja von Aktivität und Bewegung, ohne die das Konstruieren als Akt und Prozess unmöglich ist, nicht durchführbar. Die empirische Basis ist mehr als nur ein Anstoß, sie ist ein Konstituens des »apriorischen« Erkenntnisprozesses. 133 Siehe W. Stegmüller (1954 a, 535), der auch meint, es könne rein logische (analytische) Urteile ohne »jeden Wirklichkeitsgehalt« geben. Worüber wird dann aber geurteilt? Das nach I. Kant und W. Stegmüller rein analytische Urteil »Der Körper ist ausgedehnt« könnte ohne die Erfahrung von Körperlichkeit nicht zustande kommen.
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wahren Urteilen) wesenhaft in der Sachbedeutung des Urteilssubjektes enthalten ist, wenn auch nicht immer explizit, sondern »eingewickelt« bzw. implizit. Das synthetische Urteil apriori ist demnach logisch inkonsistent, woraus folgt, dass es überhaupt kein Urteil ist bzw. nur dem sprachlichen Anschein nach. 134 Da sich nach I. Kant 135 die Metaphysik allein aus synthetisch apriorischen Urteilen, angeblich bar aller Anschauungsbasis, aufbaut, fällt die kritizistische Schranke in dem Moment, wo gezeigt wird, dass solche Urteile nicht möglich sind und Metaphysik sehr wohl eine empirische Basis haben und trotzdem die Erfahrung auf wissenschaftlichem Wege übersteigen kann. Metaphysik wird möglich. Zweitens ist das analytische Urteil entgegen I. Kants Auffassung durchaus in der Lage, zahllos neue Erkenntnis zu liefern, weil es aus der komplizierteren und dem Erkennenden noch nicht hinreichend bewusst gemachten, daher erst aufzudeckenden inneren Verhältnisstruktur des Urteilssubjektes viele neue Bedingungen und Bezüge herausanalysieren kann. Unter diesen Bezügen und Wirklichkeitsverhältnissen sind grundsätzlich drei zu unterscheiden: –
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erstens solche, die sich nur auf den unmittelbaren Gegenstand des Urteilssubjektes, auf das Phänomen und seine immanente Struktur beziehen (z. B. auf eine bloße Phantasie, ein Gefühl, ein Ideal, auf das Wahrgenommene als solches). Hier spreche ich von der »Implikatanalyse« oder gemäß A. v. Pauler der reduktiven Analyse; zweitens solche, die den unmittelbar erfassten Gegenstand des Urteilssubjektes mit anderen, in den Bereich der möglichen Erfahrung gehörenden Gegenständen (z. B. das bloße erinnerte Bild, das ich vom Eiffelturm habe, mit dem realen, sinnlich vermittelten Eiffelturm) verbinden und die mittels einer hypothetischen Analyse in hypothetische Urteile gefasst werden;
134 Vgl. dagegen W. Stegmüller (1954 a, 538), der das synthetische Urteil apriori für widerspruchsfrei hält, andererseits aber zugibt, dass im gegebenen Einzelfalle nicht bestimmt werden könne, ob ein vorgelegtes Urteil ein synthetisches Urteil apriori sei oder nicht. Immerhin stimmt W. Stegmüller (1954 a, 540 f.) mit der hier vertretenen Position insofern überein, als er »die kantischen Bestimmungen für unzulänglich« hält. 135 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 58).
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und schließlich drittens solche, die den vom Urteilssubjekt intendierten Gegenstand auf seine notwendigen und erfahrungstranszendenten Seinsvoraussetzungen zurückzuführen versuchen und dabei zu apodiktischer Gewissheit gelangen, z. B. in Form von mathematischen Beweisen von transempirischen Größenverhältnissen und von logisch-regressiven Schlüssen. Hierbei handelt es sich um die regressive Analyse, die notwendig auf der reduktiven Analytik aufbaut.
Ad 4. Jenes Urteil, das die Urteile in analytische und synthetische, aposteriorische und apriorische untergliedert, kann als Metaurteil bezeichnet werden, das erweisbar selbst analytischer Natur ist. Denn es bezieht sich auf das Urteilsvermögen überhaupt und findet darin jene vier Urteilsformen, deren Validität in dieser Unterteilung, wie gezeigt wird, problematisch ist. Schon mit diesen Unterscheidungen wird die kritizistische Erkenntnistheorie I. Kants empfindlich erschüttert. Das soll an I. Kants eigenen Beispielen nun noch genauer nachgewiesen werden.
1.13.5. »Alle Körper sind ausgedehnt« sei, wie I. Kant sagt, ein rein analytisches, ohne empirische Grundlage gefälltes, apodiktisches, das heißt mit Notwendigkeit geltendes, Urteil, da die Ausdehnung als Eigenschaft im Körpersein selbst bestehe und in demselben enthalten sei. 136 Aber stimmt es, dass hier keinerlei Empirie im Spiel ist und das Urteil rein apriorisch gefällt wird? Und stimmt es, dass die Ausdehnung allen Körpern wirklich notwendig zukommt? Beginnen wir mit der zweiten Frage. I. Kant beweist nirgends, dass Körper notwendig ausgedehnt sind, dies scheint ihm intuitiv gewiss zu sein, obwohl er die Intuition sonst für das Wissen als untauglich erklärt, doch ist der Erweis dieses Zusammenhanges keineswegs einfach und muss von einer philosophischen Geometrie geleistet werden. Im Gegenteil beweist er nicht einmal, dass die Ausdehnung ein wichtigster Grundzug des Körperseins darstellt, da es sein könnte, dass andere Eigenschaften des Kör136
Siehe I. Kant (Werke, II, 2011, 52).
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perseins bedeutender sind als die Ausdehnung. Würde I. Kant das zu klären versuchen, hätte er entgegen seiner Behauptung, analytische Urteile würden keine neue Erkenntnis geben, durchaus neue und sehr bedeutende Einsichten gewonnen. Schon die Fragen, was Ausdehnung dem Wesen nach ist und wie sie zustande kommt etc., sind analytische Fragen, deren Beantwortung eine große Herausforderung darstellt. Einen weiteren kritischen Punkt berührt die Frage: Ist das analytische Urteil tatsächlich immer rein apriorisch? I. Kant sagt ja, die Nachprüfung sagt nein. Denn es fragt sich, woher das urteilende Subjekt von Körpern weiß? Doch offensichtlich aus der Erfahrung, sei es aus der sinnlichen, sei es aus der Erfahrung des inneren Vorstellungsund Phantasieraumes. Körper vor aller (!), nicht nur vor aller sinnlichen Erfahrung kann kein Mensch denken, und ihre Ausgedehntheit ist mit ihnen co-empirisch gegeben und muss analytisch aus dem erfahrenen Körpersein herauspräpariert und verstanden werden. Dabei kann der Mensch durchaus Neues erkennen (z. B. was das Wesen der Dimensionalität betrifft), und entsprechend sind entgegen I. Kants Auffassung analytische Urteile erstens erfahrungsfundiert, d. h. aposteriorisch, können zweitens trotzdem apodiktisch-allgemein gelten, eben weil ihr Gegenteil als selbstwidersprüchlich erkannt wird, und bieten drittens echte neue Erkenntnis. 137 Was für ein Urteil stellt I. Kants Beispiel »Alle Körper sind schwer« dar? I. Kant sagt, es handele sich um ein synthetisches Urteil aposteriori, bei dessen Aufstellung dem Körper aufgrund der sinnlichen Erfahrung die Schwere gleichsam von außen zugesprochen wird. 138 Ist das so? Die Antwort wird von der Frage abhängen, von 137 Es gibt Stellen bei I. Kant, die beweisen, dass er nahe daran war, den Fehler seiner Urteilslehre zu erkennen. Vgl. I. Kant (Werke, III, 2011, 125): »Dagegen enthält der Satz: einige Körper sind schwer, etwas im Prädikate, was in dem allgemeinen Begriffe (!, B. W.) vom Körper nicht wirklich gedacht wird, er vergrößert also meine Erkenntnis, indem er zu meinem Begriffe etwas hinzutut, und muss daher ein synthetisches Urteil heißen.« Völlig richtig sieht I. Kant, dass im allgemeinen Begriff des Körpers die Schwere nicht enthalten ist, und also, so müsste er folgern, über diesen bloß ausgedehnten Körper mit jenem Urteil »Der Körper ist schwer« gar nicht geurteilt wird! Letzteres Urteil ist nur dann richtig, wenn es nicht nur über den Körper »im allgemeinen Begriffe« urteilt, sondern über jenen, der schwer ist. Also wird auch hier nichts dazugetan, was im Urteil nicht wäre, und also ist auch dieses Urteil kein synthetisches. I. Kants Urteilslehre, das Fundament seiner ganzen Kritik der reinen Vernunft, wie er betont, zerbricht hiermit zum zweiten Mal. 138 Siehe I. Kant (Werke, II, 2011, 52).
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welchem Körper ausgesagt wird, dass er schwer sei? Schwer ist zweifellos nicht der bloß vorgestellte oder begrifflich gefasste Körper, sondern nur von jenem Körper darf behauptet werden, er sei schwer, auf den die Gravitation »beschwerend« einwirkt. Diese Behauptung ist aber nur deswegen möglich, weil die Schwere in ihm enthalten ist und aus ihm entnommen werden kann, während das Urteil »Der Körper ist schwer«, auf den nur vorgestellten Körper angewandt, falsch wäre, weil diesem die Schwere nicht einwohnt und daher nicht zugesprochen werden darf. Ergebnis: Auch das Urteil »Der Körper ist schwer« ist ein analytisches Urteil, dessen Grundlage allerdings nicht die reine innere Erfahrung ist (wie im Falle eines bloß vorgestellten Körpers), sondern die sinnliche Erfahrung. Das Urteil bezieht sich in diesem Fall auf einen komplizierter gebauten Körper, zu dessen Gesamtstruktur die Schwere gehört, was es möglich macht, sie dem Körper analytisch-urteilend zu entnehmen. Wohl gibt es hier eine Synthese, das spürt I. Kant richtig, aber sie liegt nicht im Urteil, sondern in jenem dem Urteil vorausgehenden Naturgeschehen, in dem ein Weltkörper mit der Gravitationswirkung verbunden, vereinigt, »aufgeladen« wird. Das aber ist kein Urteilsvorgang, sondern ein weltbildendes Kraftwirkungsgeschehen, das die Subjekte im Nachhinein analysieren und beurteilen. Über die genannte objektive Synthese im Naturgeschehen hinaus gibt es zwei weitere Synthesen von Bedeutung, die genannt werden müssen, um das Verhältnis von Synthese und Analyse an dieser Stelle durchdringend zu bestimmen. Dabei handelt es sich um Synthesen, von denen die eine dem Urteil vorangeht und die andere dem Urteil nachfolgt, und die beide weder Urteile noch Analysen sind. Die erste (insgesamt also zweite), dem Urteil vorausgehende Synthese ist die Wahrnehmung, in der der Weltgegenstand – der schwere Körper – irgendwie mit dem Erleben bzw. Urteilen zusammengebracht und vereinigt wird. 139 Die zweite (insgesamt dritte) ist Diese Synthese sieht auch I. Kant (Werke, II, 2011, 201) und fasst sie als sein transzendentales, alle synthetischen Urteile fundierendes Grundprinzip: »Ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung.« So richtig es ist, dass ohne die synthetische Anschauung des Subjektes kein Objekt in seiner inneren Mannigfaltigkeit (und in seiner mannigfaltigen Umgebung!) erkannt und identifiziert wird, so verkennt I. Kant zum einen, dass diese Synthese kein Urteilen ist, sondern als Akt der Wahrnehmung bzw. der Erfahrungsgebung dem Urteilen vorausgeht 139
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die sprachlich-begriffliche Synthese, in der die urteilsmäßige Erkenntnis in eine Wort- und Satzstruktur umgesetzt wird. In beiden Fällen handelt es nicht um Urteile, sondern um synthetische Akte, die als Wahrnehmungen dem Urteil vorausgehen bzw. die als synthetische Satzbildungen dem Urteil folgen bzw. mit ihm stattfinden. Das Urteil dagegen erfasst die Eigenschaft der in die Materiekörper verwobenen Gravitationswirkung so, dass es sie aus dem wahrnehmend aufgefassten, das heißt sinnlich empfundenen schweren Körper heraushebt. Ergo: Auch das aposteriorische Urteil ist analytisch, nicht synthetisch. Damit ist der Punkt erreicht, an dem I. Kant sein wichtigstes Urteilsbeispiel anführt, das Beispiel für ein apriorisch-synthetisches Urteil: 7 + 5 = 12. 140 Das Subjekt ist hier (7 + 5), das Prädikat (12), und das Urteil sagt die Gleichheit (=) von jenem mit diesem aus. Wie ist das Verhältnis von Subjekt und Prädikat beschaffen? Ist das Prädikat im Subjekt enthalten oder nicht? Nach I. Kant ist es nicht enthalten, sondern wird synthetisch hinzugegeben. Wäre dem so, fragt sich, wie in diesem Fall die 12 mit (7 + 5) soll gleich sein können? Offenbar ist die 12 im Urteilssubjekt (7 + 5) enthalten und wird erkenntnismäßig, also analytisch daraus entnommen (genauso wie z. B. die 2er-, 4er-, 6er-Teilbarkeit aus 7 + 5). Das Urteil erfasst demnach einen im Begriff des Urteilssubjektes steckenden Wesenszug, hebt ihn als Prädikat heraus und verbindet ihn mit dem Subjekt des Satzes in einem echten analytischen Urteil. Und doch: Auch hier gibt es eine Synthese, nämlich die additive Ineinsgestaltung bzw. additiv-operative Mengenbildung der einzelnen Zahlengrößen 7 bzw. 5 zur Mengeneinheit (7 + 5). Das ist in der Tat kein Urteil, sondern erst ein das Urteilssubjekt (7 + 5) zustande bringendes, operatives Gestalten. Das Ergebnis dieser operativen Gestaltung ist dann (7 + 5) als operative Menge, deren eindeutig abgestalteter Funktionswert die 12 ist, die mit jener operativen Menge an reiner Quantität gleich ist und im Urteil als Prädikat fungiert. Und da
und die »Materialität« des Objektes erst herbeibringt, setzt und sich selbst gibt; und zum anderen sieht er nicht, dass die vereinheitlichende Synthese, die das Subjekt im Angesicht des wahrzunehmenden Objektes (und seiner inneren Mannigfaltigkeit) zweifellos leistet, die innere Einheit des Objekts voraussetzt, ohne die jene Synthese keinen Anhalt fände, das Objekt von anderen nicht abgrenzbar wäre und zur bloßen Fiktion und Illusionsbildung herabsänke. 140 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 55 ff.).
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man hier eigentümlich quantitativen Verhältnissen gegenübersteht, die primär gestaltet und nicht geurteilt werden, muss zuerst das Urteilssubjekt operativ gebildet und aus diesem dann der Funktionswert auf Grund der rein quantitativen Gleichheit synthetisch abgestaltet werden. Erst nach der Ausführung dieser in keiner Weise urteilshaften, sondern mathematisch-operativen, gestaltenden Funktion kann das Resultat in ein Urteil gefasst werden, das nichts mehr gestaltet, sondern bloß die Gleichheit des Urteilssubjektes (7 + 5) mit dem Urteilsprädikat 12 als eine immanente Bedingung von (7 + 5) feststellt, und zwar analytisch feststellt. Auch das mathematische Urteil ist demnach analytisch. I. Kant hat jene von R. Descartes, G. W. Leibniz und später von B. Bolzano gesehene Tatsache, dass jedes Urteil in Hinsicht seiner Aussagefunktion analytisch ist, nicht gesehen. Tiefer eindringend, hat er allerdings die hinter den Urteilen steckenden sachlichen, wahrnehmungstheoretischen und vielleicht auch sprachlichen Synthesen erspürt. Weil er aber die entsprechenden ontologischen, mathematischen und logischen Voruntersuchungen nicht unternommen hat, konnte er die außerordentlich komplizierten Verhältnisse der Urteilsbildung nicht durchschauen und klären. 141 Am Schluss der kritischen Aufarbeitung der Urteilslehre von I. Kant darf die Feststellung eines Details nicht fehlen, das selten bemerkt wird und frappiert: Gemäß der zweifach-zweierlei Urteilskriterien I. Kants zur Bildung der grundlegenden Urteile wären vier Urteile zu erwarten. Doch I. Kant bietet in seiner Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft nur drei: das analytisch-apriorische, das synthetisch-aposteriorische und das synthetisch-apriorische. Wo aber bleibt das analytisch-aposteriorische Urteil? Offenbar meint I. Kant, dass es, weil analytische Urteile nicht aus der Erfahrung entnommen werden, sondern rein logisch vollzogen werden, nur apriorisch-analytische Urteile gebe. 142 Wie die Kritik zeigte, sind jedoch nicht nur grundsätzlich alle Urteile analytisch, entnehmen also das Urteilsprädikat immer dem Urteilssubjekt, sondern beziehen sich außerdem
141 Vgl. ähnlich das Gesamturteil von O. Willmann (1979, 380 ff.) und B. v. Brandenstein (1976, 62). 142 Dabei ist offensichtlich, dass alle empirischen Natur- und Geisteswissenschaften analytische Urteile fällen, etwa wenn sie einen Gegenstand auf seine Elemente analysieren, Urteile, die aposteriori zustande kommen und trotzdem in vielen Fällen allgemein gelten.
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stets auf irgendeine sinnliche oder nichtsinnliche Erfahrung, sind also aposteriorisch. 143 Erst nach dieser ersten, meist einfachen Urteilsstufe können die Urteile apriorisch in dem Sinne werden, dass sie nicht mehr erneut auf die Erfahrung zurückgreifen, sondern in einem komplizierten Urteilsprozess entweder nach rein mathematischen Gesetzen oder nach rein logischen Schlussregeln über die Erfahrung, von der sie ausgegangen waren, hinausgelangen. Wer z. B. einmal durch Erfahrung und Anschauung begriffen hat, was Quantität überhaupt ist (und ohne Erfahrung ist das unmöglich), der kann ohne weiteren Rückgriff auf die Erfahrung z. B. mittels der Zahl 1 neue Zahlen aufbauen oder eine Strecke teilen. Weil diese höhere Stufe jene einfachere voraussetzt, spreche ich von einem »sekundären Apriori«. 144 Kurzum: Das einzige Urteil, das bei I. Kant nicht vorkommt bzw. das er als »ungereimt« verwirft, ist genau das Urteil, das einzig möglich ist! 145 Weder gibt es primär-apriorische Urteile im Sinne einer völligen Erfahrungsunabhängigkeit der Urteilsform (unabhängig von der sinnlichen Erfahrung können sie sein, aber nicht von Erfahrung überhaupt), noch gibt es synthetische Urteile, sondern Urteile sind immer zunächst aposteriorisch-analytisch und in manchen Fällen dann sekundär apriorisch-analytisch. Schon diese seltsame und von I. Kant in der Kritik der reinen Vernunft nicht hinterfragte logische Disharmonie in seiner Urteilslehre hätte aufhorchen lassen müssen: Warum fehlt bei ihm eine Urteilsform, die seine Einteilung selbst fordert? Und warum verkennt er deren Bedeutung? 146 143 Wie gezeigt, stützt sich auch die angeblich rein apriorische Konstruktion des echten Dreieckes, welche kein Urteil, sondern eine synthetische Operation ist, auf die Erfahrungen von Einheit und Vielheit, Ausgedehntem und Nichtausgedehntem, Gleichem und Ungleichem, überhaupt auf Quantitatives im Bewusstsein und der Welt, das nicht nur den Anstoß für jene Operation gibt, wie I. Kant meint, sondern wesentliche Aspekte liefert, die ohne Erfahrung nicht vorliegen und jene Operation sachlich erst ermöglichen. 144 Eine große Konfusion bezüglich des Apriori entsteht dadurch, dass nicht zwischen dem erkenntnistheoretischen und dem ontologischen Apriori unterschieden wird. 145 Siehe I. Kant (Werke, III, 2011, 126, § 2c: »Prolegomena«). 146 Sechs logische Unzulänglichkeiten liegen m. E. I. Kants Urteilskonzeption zugrunde: 1. Sie ordnet voreilig dem »Analytischen« ausschließlich das »Apriorische« zu; 2. Sie setzt oft »analytisch« und »tautologisch« gleich; 3. Sie verkennt, dass analytische Urteile neue Erkenntnisse liefern können (im Gegensatz zu tautologischen); 4. Sie lokalisiert das »Synthetische« unbedachterweise im Urteil statt a. im realen Naturgeschehen, b. im Wahrnehmungsakt und c. in der Sprachbildung; 5. Sie erkennt im Erfahrungsobjekt nur den Anstoß für notwendige (und oft auch allgemeine) Ur-
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1.13.6. Mit der kritischen Revision von I. Kants Urteilslehre fällt die kritizistische Schranke, die alle Erkenntnis auf den Horizont möglicher Erfahrung begrenzt, und mit dieser Schranke schwindet das Verdikt gegen eine mögliche rationale Metaphysik. Urteile sind, so das Resümee, immer analytisch, und dennoch sind sie, da sie mit tautologischen nicht identisch sind, in der Lage, neue Erkenntnisse zu liefern, sogar solche, die mittels der regressiven Analyse über die Erfahrung auf wissenschaftlich gesicherte Weise hinausgehen und trotz ihres Erfahrungsausganges apodiktisch-allgemeine Erkenntnis liefern können. 147 Zwar gibt es kein Urteil ohne Synthese, doch diese Synthese findet nicht im Urteil, sondern vor und nach dem Urteil statt. Daher muss jedes Urteil von irgendeiner Erfahrungsbasis ausgehen, nur ist diese breiter als die sinnliche und bezieht nichtsinnliche, sprich imaginative, ideale und reflexive Erfahrungsräume ein. Dabei fungiert diese Erfahrungsbasis nie nur, wie I. Kant meint, als Anstoß, sondern als sachlich und logisch unumgängliches Objekt, das den Diskurs, mag er sich noch so weit von dieser Basis entfernen, stützt und in diesem Diskurs als notwendige Bedingung mitgeführt wird. Da alle auffassend-erkenntnisbezogene Erfahrung, indem sie den aufzufassenden Erkenntnisgegenstand im Subjekt nachsetzt und nachgestaltet, aktiv ist, hat sie wesenhaft synthetischen Charakter, so vor allem in der inneren und äußeren Wahrnehmung. 148 Dabei handelt es sich nicht um ein Urteilsgeschehen, sondern um die synthetisch herstellende Grundlegung für das wesentlich analytische Urteilen. Im Gegensatz zu I. Kants Auffassung ist die Urteilsanalyse jedoch, obschon sie stets von einer Erfahrungsbasis ausgeht, keinesteile und sieht nicht, dass es mit seiner Eigenstruktur ein notwendiger Bestandteil des Diskurses ist; und 6. verkennt I. Kant, dass notwendige Geltung des Binnengefüges durchaus in einem empirischen, wenn auch als ganzem kontingenten Gegenstand besteht. 147 Apodiktisch ist, wenn von Erfahrungstatsachen ausgegangen wird, eine solche Erkenntnis, die ohne Selbstwiderspruch nicht geleugnet werden kann, wie z. B. die Selbsterfahrung oder die Erfahrung von Zeitlichkeit. Werden deren notwendige Seinsvoraussetzungen regressiv und diskursiv-erweisend ermittelt, hat sich metaphysisch-wissenschaftliche Erkenntnis eingestellt. 148 Vgl. zur Struktur des Wahrnehmungsaktes B. v. Brandenstein (1966, 101–112).
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wegs an diese Erfahrungsbasis gekettet. Im Sinne des »sekundären Apriori« kann das urteilende und schließende Denkvermögen die Erfahrung, von der sie ausgeht, übersteigen, jedoch nie verlassen: In urtümlich philosophischer Weise schreitet dieser Erkenntnisprozess vom Bedingten reduktiv-regressiv zu den notwendigen (oder manchmal auch nur wahrscheinlichen) Vorbedingungen, zu den vorletzten und letzten Gründen, den archai bzw. prinzipia der durch sie bedingten Erfahrungsbestände zurück. 149 Auf diesem Weg können Gegenstände und Zusammenhänge analytisch aufgedeckt (in der philosophischen Mathematik auch ingressiv rekonstruiert) werden, die nicht mehr im Felde der direkten Erfahrung liegen, sondern deren logische und ontologische Voraussetzung bilden. Der springende Punkt gegenüber I. Kant ist, dass die Urteilsprädikate eines Urteils keineswegs nur, wenn sie nicht nur tautologisch sind, der Erfahrung entnommen werden müssen, sondern aus der Erfahrung über diese hinaus als deren notwendige Seinsbedingung ermittelt werden können. Würde metaphysische Erkenntnis, wie I. Kant der Metaphysik vorwirft, nur auf Synthese basieren, zumal auf solcher, die nicht in der Erfahrung gründet, hätte er Recht mit seiner Abweisung metaphysischer Erkenntnis. In Wahrheit basiert sie jedoch auf Erfahrungsbeständen, die sie analytisch-reduktiv auf ihre immanenten Grundstrukturen, was einer phänomenologischen Analytik entspricht, und darüber hinaus analytisch-regressiv auf ihre transzendenten notwendigen Seinsvoraussetzungen, was die metaphysische Analytik ausmacht, hin befragt. Dies verdeutlicht, dass es entgegen I. Kants Annahme überhaupt keine primär apriorische Erkenntnis gibt. Alle Erkenntnis muss von einem Aposteriori ausgehen (das sich, wie gesehen, nicht im sinnlichen Aposteriori erschöpft, sondern das intrapsychische und reflexive Aposteriori umfasst), weil es andernfalls bodenlos wäre. Doch vermag der Erkenntnisprozess im Sinne eines sekundären Apriori, von einem stets primären Aposteriori ausgehend, entweder operativ-konstruktiv mit innerer Notwendigkeit mathematische Welten zu erzeugen oder reduktiv-regressiv mit innerer Notwendigkeit seinslogische Zusammenhänge analytischretrograd bzw. regressiv aufzudecken. 149 Und eben weil diese Erfahrungsbestände durch die archai/principia bedingt sind, sind diese irgendwie, nämlich als Bedingungsspur in jene verknüpft und können daher aus ihnen herausgelöst, analysiert werden.
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Mathematische Erkenntnisse, die ohne Rückgriff auf die sinnliche Erfahrung zustande kommen und nicht darin überprüft werden können, gibt es zahllos viele; doch müssen auch sie von irgendeiner Erfahrung ausgehen, z. B. von der meist intuitiven Wahrnehmung und Gewissheit von dem, was Quantität, Einheit, Menge, Größe, Vielheit und Ausdehnung bedeuten. Wer überhaupt nicht begreift, wofür 5, das Gleichheitszeichen = oder die Addition stehen (und solche Arithmasteniker gibt es), der kann nicht die Summe von 7 + 5 bilden. Alles (erkenntnistheoretische) Apriori ist sekundär, was aber nicht, wie wieder I. Kant meinte, bedeutet, dass alles, was irgendwie an das Aposteriori einer Erfahrung gebunden ist, allein deswegen kontingent und urteilsmäßig hypothetisch sei. 150 I. Kant sah nicht, dass in einem an sich kontingenten Erfahrungsgegenstand notwendige Seinsbedingungen inhärieren, die das Erkenntnissubjekt als notwendige erkennen und herauslösen kann, ohne dass dadurch der ganze Gegenstand notwendig würde: So ist ein gezeichnetes oder vorgestelltes Dreieck als solches zufällig, müsste nicht sein, könnte auch nicht sein; doch wenn es einmal als ideal gemeintes Dreieck gedacht und gezeichnet wird, dann gelten an ihm gewisse notwendige Seinsverhältnisse wie z. B. die Winkelsumme zweier rechter Winkel, und keineswegs konstituiert sich diese Notwendigkeit, wie I. Kant meinte, aufgrund der Apriorität der inneren Raumanschauung. Das (ideale) Dreieck ist nicht deswegen notwendig 180 Grad-haltig, weil ihm dies von der subjektiven Raumanschauung auferlegt würde, sondern es ist in sich, als solches, auch wenn es nicht vorgestellt wird, notwendig 180 Grad-haltig; das ist ein Moment seiner inneren objektiv-sachhaltigen Struktur. 151
150 Im Gegensatz dazu gibt es ein primäres ontologisches Apriori, das allerdings auch nur »im Nachhinein«, also aposteriori erkannt werden kann. So liegt, wenn wir I. Kants Theorie als Beispiel nehmen, einem Wahrnehmungsakt zweifellos eine gewisse »ontologische« Lebens- und Denkstruktur des Menschen primär apriori zugrunde, doch kann auch diese erst aposterori als Bedingung der Möglichkeit des Wahrnehmungsaktes durch analytische Urteile retrograd oder regressiv aufgedeckt werden. 151 Im Übrigen taugt die subjektive Raumanschauung nicht, wie I. Kant meinte, für die Grundlegung der Geometrie, da sie nicht euklidisch, sondern perspektivisch ist. Was die nicht-euklidischen Geometrien und unanschauliche mathematische Verhältnisse betrifft, versagt die subjektive Raumanschauung und damit I. Kants Begründung der Mathematik vollends. Vieles in der Mathematik ist weder zeitlich noch räumlich bestimmt und kann trotzdem apodiktisch erkannt werden. I. Kants Behaup-
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Hier überspannte I. Kant mit seiner Behauptung, das Denken bestimme den Gegenstand, nicht der Gegenstand das Denken, das subjektive Erkenntnisprinzip und verkannte, dass sich das Erkenntnisvermögen, wenn es z. B. das innere Wesen des Dreiecks erkennen will, trotz seiner durchaus vorhandenen Eigenaktivität nach dem zu erkennenden Gegenstand und seiner immanenten Struktur richten, ihm sich anschmiegen muss, da es andernfalls erkenntnismäßig daran vorbeigeht und den Gegenstand verfehlt. 152 In Wahrheit bestimmt weder das Denken ausschließlich den Gegenstand, wie der transzendentale Idealismus meint, noch der Gegenstand, wie der Sensualismus meint, ausschließlich das Denken, sondern das Denken eignet sich durch Selbstanpassung aktiv den zu erkennenden Gegenstand an, was wiederum nur dadurch möglich ist, dass Denken und Gegenstand gleicherweise identischen oder doch ähnlichen Seinsprinzipien, sprich grundlegenden Seinskategorien unterstehen, im Übrigen unabhängig davon, ob es sich um sinnliche Gegenstände, ideale Gegenstände (wie Werte, reine mathematische und logische Größen) oder reflexive Sachverhalte (wie Subjektakte u. dgl.) handelt. Das Subjekt bleibt auch in dieser Konzeption aktiv, aber verfügt über keine absolute, sondern nur relative Autonomie. Ohne aktive Rezeption des Gegenstandes gäbe es keine aktive Erkenntnis, aber auch keinen Gegenstand, der mir vorgegeben ist. Ertung, die Geometrie ruhe (allein) auf der Raum-, die Arithmetik auf der Zeitanschauung, ist, sachlich nachweisbar, unhaltbar. 152 Vgl. O. Willmann (1979, 305–364), der die Versubjektivierung der ontologischen Prinzipien und die entgrenzte Autonomisierung der menschlichen Vernunft in Theorie und Praxis (Ethik) klar und deutlich herausarbeitet. Der Gedanke der »Anschmiegung« des Denkens an die zu erkennende Sache ist nicht neu, sondern entspricht weitgehend der Erkenntnislehre von Aristoteles und Thomas v. Aquin: Der intellectus agens hebt die innere Wesensstruktur, die »Form« oder »Essenz« des empirischen Gegenstandes im Sinne der »Abstraktion« aus dem Sachverhalt heraus und bildet daraus den entsprechenden Begriff der Sache. Dazu vgl. Aristoteles: »Über die Seele« II, 3 sowie »Metaphysik« VII, 15 und XIII, 4. Zum Urteil bei Thomas v. Aquin (1970, I, 3). Diese Abstraktionslehre gilt für alle objektiv logischen oder Wesensverhältnisse, vermag aber die echte mathematische Erkenntnis nicht zu erklären. Aus empirischen, in Wahrheit nie echt kreisförmigen Kreisen kann niemals der echte, mathematische Kreis abstrahiert werden, da er unmöglich in der Empirie, weder in der Natur noch in der menschlichen Vorstellung als einer aktualunendlichen Punktemenge, liegen kann. Die reine Geometrie ist, wie I. Kant richtig sieht, aus der Empirie weder abstrahierbar noch deduzierbar. Ihm gelang allerdings nicht, dieses Problem zu lösen; vielmehr vertrat er eine Sonderform der rationalistischen Lehre von den ideae innatae, die erweisbar nicht zureicht.
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Die Überwindung der Kantischen Erkenntniskritik: Kritik seiner Urteilslehre
kenntnis ist nicht nur, wie I. Kant meint, »Entwurf«, Synthese, Projektion.
1.13.7. Zusammengefasst: Die logische Notwendigkeit liegt im bestimmten Sosein oder inneren Wesen (Zusammenhangsstruktur) des zu erkennenden – real-empirischen, idealen, imaginativen oder reflexiv-inständlichen – Sachverhaltes und geht, wenn sich das erkennende Denken diesem Sachverhalt innerlich angemessen anschmiegt, von da aus auf das Denken über, so dass die innere Gültigkeit eines gegenständlichen Seinszusammenhanges zu einer Erkenntnisgültigkeit, man kann auch sagen, die Sachwahrheit zur Erkenntniswahrheit wird. 153 Erfolgt dies sachgerecht, hat sie für die Erkennenden notwendige Gültigkeit und nicht nur für den Gegenstand. Am Beispiel sieht man dies ein: Wenn erkannt wurde, warum das wahre oder ideale plane Dreieck notwendig 180 Grad befasst, dann hat man nicht nur einen dem Dreieck notwendig innewohnenden Seinszusammenhang erkannt, sondern diese Erkenntnis gilt dann auch für den Erkennenden selbst notwendig, weil sie (in sich) wahr (Seinswahrheit) und als wahre erkannt (Erkenntniswahrheit) ist. Damit entzieht sie sich seiner Willkür: Das Erkenntnissubjekt kann nicht mehr wollen, dass das Dreieck anders beschaffen wäre, es muss dies so denken und nimmt es auch zustimmend an, wenn es nicht einem absurden Trotz verfallen will. I. Kants erkenntnistheoretischer Subjektivismus zwang die Philosophie in Form der Phänomenologie (F. Brentano, E. Husserl), der Gegenstandstheorie (A. Meinong) und der Wahrheitstheorie (B. Bolzano, A. v. Pauler, Neuthomisten, B. v. Brandenstein) zu Widerspruch und Korrektur, die allerdings noch nicht ihre breitere Anerkennung fand. Diese Untersuchungen sollten genügen, um die Hindernisse, die einer rationalen Metaphysik von Seiten der kantischen Erkenntnistheorie und Kritik der theoretischen Vernunft im Wege liegen, zu beseitigen und die Möglichkeit echter Metaphysik aufzuzeigen. Metaphysik zaubert weder aus nichts Begriffe noch aus bloßen Begriffen andere Begriffe hervor, sondern analysiert ohne Selbstwiderspruch nicht zu leugnende Erfahrungsbestände auf ihr inneres Struktur153
Vgl. ähnlich J. Pieper (1966).
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gefüge bzw. Wesen (reduktive Analytik) und auf ihre überempirischen notwendigen Seins- und Denkvoraussetzungen (regressive Analytik) hin. Dem konkreten metaphysisch-transempirischen Erkenntnisprozess kann selbstverständlich nicht vorgegriffen, er muss an konkreten Problemstellungen und ihren Lösungen dargelegt und begründet werden. Das soll in einer Auseinandersetzung mit dem ersten, die Zeitproblematik betreffenden Beweispaar von I. Kants Antinomienlehre geschehen.
1.14. Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre Nachdem I. Kant mit seiner Urteilslehre die Unmöglichkeit einer jeglichen rationalen metaphysischen Erkenntnis gelehrt und nach seiner eigenen Aussage damit metaphysische Urteile, metaphysische Schlussfolgerungen und Beweise als bedeutungslos entlarvt hatte, machte er sich in der Kritik der reinen Vernunft (Elementarlehre, 2. Teil, 2. Abteilung, 2. Buch, 2. Hauptstück) überraschenderweise anheischig, klassische metaphysische Fragen wie die nach dem Anfang der Zeit, den Grenzen des Raumes, dem Wesen der Kausalität und der Existenz eines höchsten Wesens mit rationalen Mitteln, also argumentativ-logisch zu beweisen. Wie kommt das? Und ist dies, nachdem I. Kant die angebliche Unmöglichkeit solcher Beweise gezeigt hatte, nicht apriori unnötig oder gar widersinnig? Nach I. Kants Urteilslehre ist dies allerdings widersinnig oder doch zumindest überflüssig. Wenn metaphysische Erkenntnisurteile wirklich unmöglich sind, dann gibt es auch keinen Weg, mit ihnen die Unmöglichkeit von Metaphysik aufzuweisen. Doch I. Kant muss gefühlt haben, dass seine Urteilslehre nicht genügend Überzeugungskraft besitzt, sonst hätte er nicht ernsthaft Beweise klassisch-metaphysischer Art durchgeführt. 154 Dem entspricht, dass er erst gar nicht versucht zu zeigen, dass die klassischen metaphysischen Fragenkomplexe mittels Begriffen, Urteilen und Schlüssen nicht angegangen
154 Wie gesehen, versucht I. Kant, mittels eines solchen metaphysischen Beweises den Idealismus von G. Berkeley zu widerlegen und die Existenz eines außer uns seienden, »im Raume außer mir« seienden Dinges an sich als notwendige Bedingung der empirischen menschlichen Existenz zu beweisen, was nach seiner eigenen Auffassung echte Metaphysik, die er gerade widerlegt zu haben meint, ist!
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Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre
werden können. Im Gegenteil bildet er durchaus verstehbare, keineswegs sophistisch gemeinte, sondern sinnvolle und nach seiner Überzeugung zwingend-schlüssige Beweisketten, so dass man den Eindruck gewinnt, dass er seine vernunftkritische Urteilslehre aus dem Blick verloren hat. Auf diesem Hintergrund zeigt er, dass von ein und derselben Sache – z. B. vom Problem des Anfangs bzw. Nichtanfangs der Zeit – mit angeblich zwingender Beweislogik sowohl die Thesis – die Zeit hat notwendig einen ersten Anfang – als auch die Antithesis – die Zeit hat notwendig keinen ersten Anfang, ist also anfangslos, mithin unendlich – gilt. Und damit meint er, seine Urteilslehre, wonach metaphysische Urteile sinnlos seien, eben weil sich ihre Ergebnisse gegenseitig aufheben und weil sie empirisch nicht validiert werden können, bestätigt zu haben. Ist das wirklich so bzw. beweist er dies wirklich? Wenn seine kontradiktorischen Beweise tatsächlich gelten, d. h. gleichzeitig gelten können sollen, dann würde dies die Nichtgeltung bzw. Aufhebung des logischen Widerspruchssatzes bedeuten, mit der unerbittlichen, von I. Kant anscheinend nicht gesehenen Konsequenz, dass von ein und demselben Sachverhalt (bzw. seinem entsprechenden Urteil) in ein und derselben Hinsicht, also auch zeitlich und logisch zugleich, die Bejahung und die Verneinung ausgesagt werden können. Wäre dem so, hätte das fatale Folgen: Wenn der Widerspruchssatz in irgendeinem logischen Bereich, hier bei I. Kant im Bereich der metaphysischen Aussagen, nicht gilt, dann gilt er, da er seinem Wesen nach zeitlos und universal ist, überhaupt nicht. Wenn er aber überhaupt nicht gelten würde, dann gälte er für überhaupt kein Urteil, weder für ein analytisches noch ein synthetisches Urteil in I. Kants Sinne, und dann dürfte man z. B. sagen, dass I. Kants Urteilslehre, die empirisch sicher nicht validierbar ist, sowohl gilt als auch nicht gilt, dass es analytische Urteile gibt und zugleich nicht gibt usw. Alles wäre mit gleichem Recht erlaubt zu behaupten, sowohl die Thesis als auch die Antithesis – weder gäbe es die logische Konsistenz noch die logische Inkonsistenz. Stimmte dies, wären ersichtlich alle Wissenschaft und alles Denken am Ende. Denn der logische Satz vom Widerspruch ist, wie gezeigt, nur die logisch-erkenntnistheoretische bzw. negative Fassung des sachpositiven Identitätssatzes, der besagt, dass etwas in ein und derselben Hinsicht und zeitlich zugleich nicht sein und nicht nicht sein, nicht gelten und nicht nicht gelten kann. Dass der Satz vom 127 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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Widerspruch bzw. der Identitätssatz nur in einem logischen Teilbereich, etwa im Bereich der empirischen Urteile, zutreffe, in anderen Bereichen nicht, ist ob seiner fundamentalen Universalität ausgeschlossen. Ohne Selbstwiderspruch kann man nicht sagen, hier gilt er, dort gilt er nicht. Was I. Kant in seiner Antinomienlehre vorführt, ist daher die Selbstaufhebung des Denkens, nicht nur des metaphysischen, sondern allen Denkens. Obgleich dies nicht seine Absicht war, so hat er diesen Prozess, der bald nach ihm eine Eigendynamik gewann, die der klaren Denklogik Schaden zufügte – so vor allem bei J. G. Fichte und G. W. F. Hegel –, doch ausgelöst und grundgelegt. Darin liegt eine unverkennbare Tragik, da I. Kant nur die Grenzen der menschlichen Vernunft aufzeigen, nicht ihre grundsätzliche Geltungskraft aufheben wollte. Wo aber die theoretische Vernunft so grundsätzlich wie bei I. Kant geschwächt wird, dauert es nicht lange, bis auch die anderen, etwa praktischen und sittlichen Vernunftkräfte – durch geistige Abenteurer – untergraben werden. 155 Hier an dieser Stelle soll es nur darum gehen, die Beweise I. Kants sachphilosophisch und methodisch zu hinterfragen, und dann zeigt sich m. E., dass die Beweispaare, die I. Kant als Thesis und Antithesis gegenüberstellt, alles andere als gleichwertig und stichhaltig sind. Von den vier Antinomien beschränke ich mich auf die erste (und da wieder nur auf die Zeitproblematik), da sie grundlegend für alle anderen ist und I. Kants Beweislogik ausreichend zur Darstellung bringt. Er sagt also: »Thesis: Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen. Beweis: Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkte eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, dass sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins, welches zuerst zu beweisen war. 155 Zumindest scheint die seit R. Descartes sich einschleichende Seins- und Weltentfremdung des Denkens Symptom und Ausdruck der zunehmenden Selbstermächtigung des abendländischen Menschen zu sein, der auch Herr über die Wahrheit sein will. Folgen sind Willkür und Haltlosigkeit im Denken und bald im Handeln. Vgl. die entsprechende Kritik von M. Heidegger (1947) und (1962).
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Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre
Antithesis: Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit als des Raumes unendlich. Beweis: Denn man setze: sie habe einen Anfang. Da der Anfang ein Dasein ist, wovor eine Zeit vorhergeht, darin das Ding nicht ist, so muss eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt nicht war, d. i. eine leere Zeit. Nun ist aber in einer leeren Zeit kein Entstehen irgend eines Dinges möglich, weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Daseins, für die des Nichtseins an sich hat (man mag annehmen, dass sie von sich selbst oder durch eine andere Ursache entstehe). Also kann zwar in der Welt manche Reihe der Dinge anfangen, die Welt selber aber kann keinen Anfang haben, und ist also in Ansehung der vergangenen Zeit unendlich.« 156
Was ist hierauf zu sagen? Zweierlei. Zum Ersten gibt I. Kant hier das treffliche Beispiel einer logischen Argumentation aus dem Gegenteil (argumentatio ex contrario): Von einer Thesis bzw. der Welterfahrung der Veränderlichkeit ausgehend, setzt er zunächst deren Gegenteil und versucht dieses, indem er es durchkämpft, zu bestätigen. Im weiteren Argumentationsgange stößt er dann auf einen Widerspruch bzw. eine negative Evidenz und sieht sich genötigt, seine erste Annahme – bei der Thesis die Annahme, die Zeit habe keinen Anfang – aufzugeben und deren Gegenteil – die Zeit müsse einen ersten Anfang haben – zuzulassen. Dieselbe Beweislogik wendet er im nächsten Schritt auf die Antithesis an und kommt zu einem analogen Ergebnis und damit zu einem logischen Selbstwiderspruch in Ansehung der Frage nach dem Anfang der Zeit: Rein logisch betrachtet, ist es darum nach I. Kant genauso wahr zu sagen, die Zeit habe begonnen, wie zu sagen, sie habe nicht begonnen. Zweitens muss angemerkt werden, dass die beiden Beweise in der inhaltlich sachlogischen Struktur auffällig differieren. Während die Thesis weitgehend schlüssig ist, arbeitet die Antithesis mit einem unbegründeten, in der Sache aufweisbar konstruierten, erweisbar falschen Begriff, nämlich mit dem der »leeren Zeit«. Denn Zeit als Veränderung, Wechsel, Wandel oder Sukzession ist nur an oder mit etwas, das wechselt und sich ändert, erfahrbar, und nicht an nichts oder an einer Leere, wo sich niemals etwas ändern kann. 157 Siehe I. Kant (Werke, II, 2011, 412 ff.). Vgl. übereinstimmend Platon, Aristoteles, O. Willmann und B. v. Brandenstein. Platon (10. Kap., 37 c6 – 38 b5) lehrt im Altersdialog »Timaios«: »Die Zeit entstand also mit dem Himmel«, dass die Zeit eine Eigenschaft der Welt ist und mit der Welt begonnen habe; Aristoteles lehrt in seiner »Physik« (Kap. 10–14), dass die Zeit die 156 157
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Darüber hinaus ist im Rahmen der Thesis der folgende Gedanke entscheidend: Wenn die Zeit anfangslos ist und als Wechsel- bzw. Veränderungsreihe verstanden wird, was bei I. Kant der Fall ist, dann müssen dem Heute real unendlich viele Wechselzustände der Welt vorausgegangen sein. Gilt dies, bedeutet das, dass es zumindest einen Zustand in der Vergangenheit gegeben haben muss, der vom Heute durch unendlich viele Zustände getrennt ist. Gäbe es solch einen Zustand nicht, wären also alle vergangenen Zustände vom Heute H endlich weit entfernt, hätte die gesamte Wechselreihe, mithin die gesamte Zeit einmal begonnen. Gab es aber wenigstens einen solchen Zustand X, der vom Heute H durch real oder voll unendlich viele Zeitglieder getrennt ist, konnte die Zeit von jenem Zustand X zum Zustand H, wie I. Kant richtig sagt, durch bloße Sukzession nicht hindurchgelangen, da sukzessiv, d. h. durch Abfolge, immer nur endlich viele Glieder durchschritten werden können. Wenn aber die Zeit von X nicht zum H hatte gelangen können, dann dürfte es das H nicht geben. Da es aber das H unleugbar als gegenwärtigen Zeitzustand gibt, kann die Anzahl der zwischen X und H sukzessiv durchschrittenen Glieder nur endlich groß sein, mithin muss die gesamte Zeitreihe, insofern sie dem H vorausging, endlich sein und einen ersten Anfang haben. 158 Mit dieser Präzisierung und Vervollständigung erweist sich I. Kants Thesis von der sukzessiven Undurchschreitbarkeit des Unendlichen als logisch konsistent und sogar notwendig. Wie aber steht es mit der Antithesis? I. Kant behauptet, vor dem Anfang der Zeit müsse eine leere Zeit vorangegangen sein. Was will er damit sagen? Zeit erfahren die Subjekte dadurch, dass etwas dauert und vor allem dadurch, dass sich etwas ändert: Etwas ist, dauert eine begrenzte Zeit und ändert sich oder verschwindet, z. B. ein Licht, das angeht und wieder ausgeht. Wo nichts ist, das dauern oder sich ändern kann, machen die Subjekte keine Erfahrung von Zeit und können keine Zeit denken. Denn wo »Maßzahl von Bewegung« ist; und B. v. Brandenstein (1966) fasst in seiner Metaphysik (1966, Abschnitt F., 414 ff.) die Zeit als Gestaltungsseite aller veränderlichen Realität. 158 Diese Argumentation gegen die Anfangslosigkeit der Welt findet man schon, allerdings unvollständig, bei Thomas v. Aquin (1970, S.c.g. II 38). In der Summa theologiae sagt Thomas v. Aquin (1985, S.th. I 46, 2), dass die Anfänglichkeit der Welt nicht bewiesen, sondern nur geglaubt werden kann; vgl. dagegen B. v. Brandenstein (1966, 37–63), der den Beweis reinigt und vervollständigt.
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Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre
nichts ist, rein nichts, kann nichts entstehen, dauern, sich verändern und vergehen. Dagegen trifft es zu, wenn I. Kant sagt, dass es in einer leeren Zeit kein Moment der Auszeichnung für die Entstehung irgendeines Dinges gibt, weil eine leere Zeit eben leer ist. Somit ist klar, was schon Aristoteles und G. W. Leibniz betonten, dass sowohl eine objektiv leere Zeit als auch ein objektiv leerer Raum unmöglich sind: 159 Es muss etwas da sein, das dauert und sich ändert bzw. das ausgedehnt ist. Das Nichts dauert nicht und ist nicht ausgedehnt. Zeit an sich, »leere Zeit«, ist eine unstatthafte Hypostasierung bzw. Substanzialisierung der Zeit, die in Wahrheit nur ein Aspekt bzw. Moment, nämlich derjenige der Sukzessionsdauergestaltung einer wandelbaren Wirklichkeit ist. Wo keine wandelbare Wirklichkeit ist, gleichgültig ob nur in oder auch außer den Subjekten, da kann sich Zeit nicht ausgestalten: Nichts wandelt sich nicht. Vor dem Anfang aller wandelbaren Wirklichkeit war demnach nichts, jedenfalls keine wandelbare Wirklichkeit und damit konsequenterweise auch keine Zeit. Wie sich von selbst versteht, kann solche wandelbar-entstehende Wirklichkeit weder von sich selbst noch von nichts kommen, aber das ist ein anderes Problem und führt zur notwendigen Annahme einer zeitlos-überzeitlich-wandellosen Wirklichkeit als des notwendigen und zureichenden Seinsgrundes einer wandelbaren Wirklichkeit. Hier genügt, dass selbst I. Kant beweist, dass eine leere Zeit als Seinsvoraussetzung einer veränderlichen Welt unmöglich ist, weil aus einer solchen Zeit heraus nichts entstehen kann. Nun ist aber die Welt als veränderliche, entstehend-vergehende da, und also kann sie, so der Rückschluss auch nach I. Kant, nicht aus einer leeren Zeit, mithin muss sie aus einer gefüllten Zeit gekommen sein, welche ihrerseits entweder endlich oder unendlich ist. Da sie aber, wie I. Kant richtig sieht, als unendliche sukzessiv nicht durchschritten werden kann, der Weltprozess aber von der Vergangenheit bis heute sukzessiv vonstattengegangen ist, muss das bisherige Weltgeschehen mit seiner Zeitgestaltung endlich gewesen sein, mithin notwendig einen ersten Anfang gehabt haben, vor dem zeitlich nichts war, auch keine, weil in sich unmögliche leere Zeit. 159 Insofern die subjektive Zeit- und Raumanschauung mindestens im Sinne I. Kants ein »Ich denke« oder »Ich erlebe« hinzudenken muss, kann sie nicht leer sein; denn mindestens an sich selbst als einem auch geistig veränderlichen lebendigen Wesen erfährt das Subjekt unmittelbar die Zeitlichkeit.
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Wie aber, so fragt sich, kommt es, dass I. Kant auf den so offensichtlich widersinnigen Begriff einer leeren Zeit verfällt? Hierfür sind zwei Gründe zu nennen. Der erste ist in seinem Konzept von der apriorischen Zeitanschauung zu suchen. I. Kant meint, dass die menschlichen Subjekte innerlich Zeit unabhängig von sinnlicher Erfahrung anschauen können. Das ist zweifellos wahr – aber ist diese Zeitanschauung leer, absolut leer? Nein, denn sie ist zumindest mit dem Erfahrungssubjekt, mit dem Anschauenden, mit seinem Bewusstsein, mit der Gestimmtheit seines Erlebens, in der Regel auch mit allerlei Bewusstseinsobjekten, obschon nicht notwendig, wie z. B. Phantasien, Erinnerungen etc., letztlich mit dem Bewusstseinsstrom ausgefüllt. Selbst in der total gegenstandslosen Meditation, die es wohl gibt, ist das Bewusstsein, zeitlich gesehen, nicht leer, sondern dauert als Bewusstsein, z. B. als durchaus real erlebbare Ruhe, Gelassenheit, Heiterkeit, Freude, Frieden oder auch als Unruhe usw. Leer ist diese Zeitanschauung nur relativ in Bezug auf die Sinneswahrnehmung, nicht absolut. Der zweite Grund für das Konstrukt der leeren Zeit ist möglicherweise darin zu suchen, dass der Mensch geistig fähig ist, sich hinter einen gesetzten Zeitanfang immer weitere Zeitanfänge, also immer weiter zurückversetzt, denken zu können. Wenn man jemandem sagt, die Zeit habe einen ersten Anfang, dann lautet sofort die Frage: Und was war davor? Diese zurückdenkende Zeitvorstellung besagt jedoch nichts über die objektive Zeitstruktur, im Gegenteil, sie beweist, dass die Zeit nicht unendlich, sondern nur immer weiter endlich zurückgedacht werden kann. Vor allem ist aber zu bedenken, dass die Zeit in Ansehung der Vergangenheit abgeschlossen ist, also nicht vermehrt werden kann. Denkt man sich den Zeitanfang in der Vergangenheit immer weiter zurückversetzt, wird ein Zukunftsgeschehen nach hinten projiziert, was nicht angeht, da die Zukunft wesenhaft offen, die Vergangenheit (nach hinten) wesenhaft geschlossen ist. Die Vergangenheit kann entweder nur unendlich (aktualunendlich, aU) oder endlich (E), aber nicht real nach hinten vermehrbar (also nicht potentialunendlich, pU) sein. Die Antwort kann gemäß I. Kants richtiger Thesis daher nur lauten: Vor aller Zeit war keine Zeit, nichts, genauer, keine wandelbar-zeitliche Wirklichkeit, vielmehr muss man, da nichts von nichts entstehen kann, voraussetzen, dass alle wandelbar-zeitliche und damit kontingente Wirklichkeit ihren Seinsermöglichungsgrund in einer absoluten, wandellos-anfangslos-ewigen, damit wesenhaft zeitlosen Wirklichkeit hat. 132 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Anwendung der revidierten Urteilslehre auf I. Kants Antinomienlehre
Man kann gegen I. Kants Antithesis auch umgekehrt, gleichsam mit seinen eigenen Waffen argumentieren: Wenn der wirklichen, real gefüllten Zeit eine leere Zeit vorausgegangen wäre, dann hätte in dieser nie etwas entstehen können, also auch die spätere gefüllte Zeit nicht, und also ist eine real sich wandelnde Welt mit einer leeren Zeit unvereinbar. Da es nun aber jene gibt, kann diese nicht bestehen, eine leere Zeit ist unmöglich, ohne Sinn, und also hat alle zeitliche Wirklichkeit einen real ersten Beginn. Wann dieser war, genauer: vor wie vielen Veränderungszuständen (z. B. Quarzatomschwingungen), das lässt sich weder philosophisch noch physikalisch mit Sicherheit bestimmen. Letztlich liegt dies daran, dass die zeitliche Wirklichkeit kontingent ist, hätte also auch nicht oder anders sein können, so dass ihre zeitliche Erstreckung keine notwendige Größe darstellt. Man kann nur sagen, dass sie insgesamt endlich sein muss bzw. in die Zukunft endlos weitergehen kann, vielleicht noch, dass aus gewissen Überlegungen ihr erster Beginn der Urknall gewesen sein könnte. Aber auch dann wäre denkbar, dass dem letzten Urknall schon viele andere vorausgegangen sind, nur nicht unendlich, sondern endlich viele, welche endliche Anzahl wieder kontingent wäre. Gerade die Erkenntnis, dass die Welt als zeitliches Geschehen von heute her nicht eindeutig bestimmbar ist, beweist ihre Nichtnotwendigkeit, während sie im Falle einer real unendlichen Anfangslosigkeit nur als notwendig gedacht werden könnte, also nicht nicht sein könnte, sondern sein müsste. Wäre dem so, müsste das vom Menschen insofern erkannt werden, als in diesem Falle seine Vernunft selbst eine notwendige Komponente des Weltseins wäre. Da dies nicht der Fall ist, der Mensch offensichtlich keine notwendige Einsicht in die als unendliche dann auch notwendige Existenz der Welt besitzt, spricht alles gegen die anfangslose Unendlichkeit der Welt, mithin gegen eine anfangslose Zeit. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass sich die Antinomie I. Kants bezüglich der Zeit zugunsten der Thesis auflöst, womit zweierlei geleistet wird: Erstens wird der Satz des Widerspruchs wieder als unbedingte und universale Wahrheitsbedingung in Geltung gesetzt, und zweitens erweisen sich, ausgehend von ohne Selbstwiderspruch nicht zu leugnenden Erfahrungen, metaphysische Begriffe, Urteile und Schlussfolgerungen als möglich. Damit ist die Urteilslehre I. Kants anhand eines konkreten Beweisbeispiels widerlegt. Wie man sieht, sind, um metaphysische Erkenntnisse zu gewinnen, keine – sowieso unmöglichen – synthetischen Urteile nötig, 133 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
sondern es genügen analytische Urteile und Schlüsse, wie sie auch I. Kant in seinen Beweisen anzuwenden sucht, die zwei Bedingungen erfüllen müssen: Sie müssen von einer unleugbaren Erfahrungsbasis ausgehen, hier von der unleugbaren Zeitlichkeit, genauer, von etwas veränderlich Seiendem, und sie müssen mittels korrekten reduktivregressiven Rückschlüssen vom Bedingten, das bekannt ist, zum Bedingenden, das unbekannt ist, im Rahmen einer indirekten argumentatio ex contrario anhand des Aufweises der negativen Evidenz zurückführen und so die positive, als solche nicht direkt einsehbare Evidenz »umwegig« aufdecken und mittels des Satzes vom Widerspruch als unwiderlegbar gültig beweisen. 160 Eine direkte Erfahrung einer transzendenten Realität ist philosophisch niemals vermittelbar, wie etwa die nachkantischen Idealisten meinten, Stichwort »intellektuelle Anschauung des Göttlichen« bei J. G. Fichte und F. W. J. Schelling, doch hat dies ernsthafte Philosophie nie beansprucht, daher der Vorwurf I. Kants, die alte Metaphysik habe aus Begriffen Begriffe gezaubert, was für C. Wolff zutreffen mag, aber nicht für Platon, Aristoteles, Boethius, Thomas v. Aquin, R. Descartes und G. W. Leibniz. Wo eine transzendente Realität direkt erfahren wird, findet eine mystische Begegnung oder Offenbarung statt, die der Mensch nicht leisten kann, sondern die ihm gewährt und geschenkt wird. Es ist klar, dass solche Erfahrung wissenschaftlich nicht begründbar und verallgemeinerbar ist, vielmehr ein einzigartiges individuales Ereignis darstellt, das sich der philosophischen und wissenschaftlichen Vermittlung entzieht.
1.15. Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik: Platon, Buddha, A. Schopenhauer, S. Kierkegaard, Thomas v. Aquin, Hiob, Genesis, »Epikur« Wie in der Einleitung meiner philosophischen Dissertation angedeutet, wird die gesamte Geistes-, Philosophie- und Religionsgeschichte tiefgreifend von der Frage nach dem Sinn von Übel und Leid in der Welt durchzogen. Einerseits geben alle großen Denker Antworten auf 160 Entgegen W. Stegmüller gibt es also keine Urteile frei von jeglichem Wirklichkeits- oder Sachgehalt. Wie I. Kant betont, haben jeder Begriff und jedes Urteil einen Inhalt, eben etwas Begriffenes bzw. Beurteiltes, nur muss dieser Inhalt nicht sinnlichempirisch, er kann nach I. Kant auch rein intellektual sein.
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Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik
diese Problematik, andererseits aber fehlt eine kritisch-systematische Durchklärung, die in umfassender Weise nur von der Philosophie geleistet werden kann. Ihre Aufgabe besteht darin zu klären, was Leiden überhaupt ist bzw. welche Grundstruktur ihm eignet und was die ontologischen und epistemologischen Bedingungen seines Auftretens sind. Oder anders: Wie ein Wesen in dieser Welt beschaffen sein muss, damit Leiden möglich ist und verstanden werden kann. Was frühere Denker im Grundsatz dazu gedacht haben, soll im Folgenden an einer exemplarischen Auswahl, allerdings nur skizzenhaft, erläutert werden. Platon 161 (427–347) erblickt in allem Weltsein das schattenhafte Halbsein der allein vollseienden göttlichen Ideen- und Geisteswelt. Da der Mensch als Geistwesen wesenhaft auf die Welt der Ideen bezogen ist, die er in seinem vorgeburtlichen Leben direkt geschaut hat, faktisch aber – sowohl aufgrund eines Vergehens als auch einer göttlichen Sendung – in die Welt der Materie, und damit des Wandelhaften und Vergänglichen verbannt ist, ist er, unfähig, sich seiner geistigen Herkunft spontan zu erinnern, in seiner »Gott- und Selbstentfremdung« vielen Übeln ausgesetzt und muss leiden. In diesem Leiden, das durch mühsame Rückerinnerung an die geistige Welt (»Anamnesis«) kaum gemildert werden kann, drückt sich nichts anderes als die schmerzliche Sehnsucht des »Eros« und, solange der Mensch in seinem Leibe lebt, das mehr oder weniger vergebliche, weil nie voll gelingende bzw. immer wieder von Rückschlägen heimgesuchte Zurückstreben nach der Heimat des Menschengeistes aus, die, wie es Sokrates in seinem selbstgewählten Tode vorgelebt hat, erst nach dem Tode erreicht wird, deren Erreichung aber schon hiesig auf der Erde eingeübt werden soll. Diese Sicht, die Platon vor allem während seiner mittleren Periode in den Dialogen »Phaidon«, »Phaidros« und »Staat« gewinnt, wird in seinen Alterswerken »Timaios«, »Theaitet« und »Nomoi« weiterentwickelt, teilweise umgewandelt und vertieft. Die materiell-leibliche Welt erscheint dort nicht nur als Anlass zum Bösen, zu Unvernunft und Unbesonnenheit, sondern, da von einer bösen Weltseele bewegt, selbst als übel und böse. 162 Dieser Weltseele steht eine persönliche Gottheit gegenüber, die als ihr Schöpfer frei von allem Übel ist, aber das Übel in der »ewigen MateAusführlich zu Platons Theodizee und Übellehre vgl. F. Billicsich (1955, 27–60). Eine ausführliche und differenzierte Darstellung der platonischen Theodizee liefert F. Billicsich (1955, 27–60). 161 162
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
rie« nicht vollständig aufheben kann. Der Mensch als typisches Zwischenwesen kann frei zwischen dem Guten und Bösen wählen und soll sich in dem von Bedrängnissen und Verführungen übervollen Erdendasein bewähren, aber auch die Zeit in der Höhle des Daseins nutzen, das All zu beleben und zu verschönern. Das Ziel allen Seienden ist hier und drüben die Gottverähnlichung, die nur die (Selbst-) Verdammten verfehlen. Dass Platon hier eine der umfassendsten, reichsten und tiefsten Antworten auf die Frage nach Wesen, Sinn und Zweck des Übels gibt, steht außer Frage und wird wohl erst von Plotin und Augustinus, seinen gelehrigen Schülern, wieder erreicht und von Augustinus, der nicht mehr in der Materie, sondern in der endlichen Freiheit die letzte Wurzel des Bösen erkennt, überboten. Diese »Theo- und Pathodizee« ist keineswegs antiquiert, folgen doch sogar manche Denker der Moderne wie H. Bergson, H. Driesch, J. Volkelt u. a. diesem Dualismus, der in der Materie, einem FastNichts (me on), die Wurzel allen Übels verortet. Im Falle Gautama Buddhas 163 (etwa 560–480 v. Chr.) wird die lebenswendende Entscheidung durch eine existenzielle Erfahrung und die durch sie ausgelöste Krise gefällt: Nachdem er als Fürstensohn fern von der leidvollen Welt sorgenfrei gelebt hatte, wurde er eines Tages mit dem Unglück des Lebens, mit Krankheit, Tod, Armut und Elend in einer Weise konfrontiert, die ihn so sehr erschütterte, dass er seine bisherige »Glückswelt« verlässt und zunächst den Weg des Asketen, dann aber, weil dieser zur Selbstzerstörung führt, den Weg der Selbstversenkung beschreitet. Für Buddha ist alles Leid-Übel erstens grundsätzlich negativ und muss gemieden werden, und zweitens sieht er es wenigstens am Anfang seiner Lebensbahn überwiegend »objektivistisch« an. So sagt er z. B. (1998, 32–33), »Geburt ist leidvoll, Alter ist leidvoll, Krankheit ist leidvoll, der Tod ist leidvoll, mit Unlieben vereint, von Lieben getrennt sein ist leidvoll, nicht erlangen, was man begehrt, ist leidvoll […]«, was so nicht zutrifft, da ein objektives Ereignis als solches noch kein Übel bzw. Leid bedeutet, sondern erst dadurch leidhaft wird, dass jemand daran leidet, d. h. solche Ereignisse wie Geburt, Krankheit, Verlust, Schmerz, Tod etc. als etwas Negatives affektiv bewertet, sich dagegen auflehnt, es vergeblich aufzuheben sucht und erst so zu Übeln macht. Da dem Betroffenen die Leidüberwindung nicht oder nicht sofort gelingt, muss er leiden. Leiden ist also ohne die affektiv wertende und zunächst 163
Vgl. »Reden des Buddha« (1998).
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Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik
vergeblich aufbegehrende Aktivität eines Subjektes bzw. als rein objektives Geschehen nicht möglich. Man könnte auch überspitzt sagen, dass der Leidende sein Leiden letztlich »selbst macht«. Später erkannte Buddha genau dies, so dass er alles Leiden als von subjektiven Wertungen abhängige Illusionsbildung und als Projektion des seinsdurstig-gierigen, dadurch anhaftend-habenwollenden Menschen betrachtete. Wer aber anhaftet, ist zwangsläufig den Übeln der Welt ausgeliefert. Wieder anders verhält es sich bei A. Schopenhauer (1788–1860), dem wohl größten abendländischen Leidensphilosophen. Zwar interpretiert er das Dasein in Anlehnung an Buddha und die Upanischaden als unaufhebbares Leiden, doch gibt er dafür eine andere metaphysische Erklärung. 164 Nach seiner Überzeugung ist das ganze Weltsein nichts anderes als die Selbstverwirklichung des unendlichen, aber blinden Lebenswillens in immer wieder neuen Daseinsformen. 165 Da diese Formen jedoch endlich sind, kann sich der unendliche Weltwille nicht adäquat realisieren und muss in seinen immer zu engen Realisationen leiden. Um seiner Unendlichkeit neue Freiheit zu verschaffen, ist er daher genötigt, das Leben in seinen begrenzten Gestalten aufzubrechen, was das bewegende Moment des Weltgeschehens ausmacht. Dieser Prozess erfolgt nach A. Schopenhauers »romantischer« Anschauung deterministisch-fatal, blind und tragisch: Er kann aus innerer Notwendigkeit nicht zum Ende kommen und ist im Letzten – sich selbst verzehrend – sinnlos. 166 Im Menschen, in dem dieses 164 Es kann A. Schopenhauer wohl darin zugestimmt werden, dass im menschlichen Dasein, wenn man die große Zahl der Menschen, das überall drohende Leid, die endlosen Konflikte und das unausweichliche Sterben in Betracht zieht, das Last-, Unlustund Leidmoment quantitativ das Lust- und Glücksmoment überwiegt, zumal in den immer komplexer, rasanter, verwirrender werdenden und abhängig machenden Zivilisationsprozessen. Neben dem Problem der stets subjektiv-individuellen Bewertung dieser Quantität ist aber die Frage, ob in Lust, Glück und Wohlleben das entscheidende Kriterium für ein gelungenes Leben zu sehen ist oder nicht vielmehr in etwas anderem, etwa in »Sinn« (V. Frankl), »Schaffen und Werk« (F. Nietzsche), »zwischenmenschlicher Verbundenheit« oder in der »Vereinigung mit dem höchsten Gut« (Platon, Plotin, Christentum, G. W. F. Hegel etc.). Zur »Bewusstseinslast der Vergänglichkeit« vgl. B. v. Brandenstein (1975, 55–58). 165 Zur metaphysischen Erklärung vgl. A. Schopenhauer (1949, IV. Buch, 319 ff.). 166 Siehe A. Schopenhauer (1949, W I, § 28, 206): »Im Grunde entspringt dies daraus, dass der Wille an sich selbst zehren muß, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden.« Wie zu sehen, gleicht das Konzept des Lebenswillens A. Schopenhauers weitgehend dem Konzept der Lebensgier Buddhas. Eine gute und kritische Zusammenfassung der Lehre A. Schopen-
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Geschehen zu Bewusstsein gelangt, gibt es jedoch – im Rahmen von A. Schopenhauers Weltbild nicht konsequent – die Macht, sich aus diesem Folter- und Tollhaus zu befreien, nämlich durch reine Kontemplation, so in Kunst, Musik und Spiritualität, und durch ethische Entsagung und Askese. Es liegt auf der Hand, dass diese Konzeption von der »schlechtestmöglichen Welt« mit der Idee des blind-gierigunendlichen, aber in endliche Daseinsgestalten gebannten Lebenswillens steht und fällt. Die folgenden Kapitel werden zeigen, dass dieser Weltwille wie ähnlich der weltbildend-weltleidende Weltgeist G. W. F. Hegels, hier allerdings ins Optimistische gewendet, das typisch unfertig-unausschöpfliche Werdewesen des Menschen ins Kosmisch-Metaphysische projiziert und zu einem werdenden, darum leidenden Gott macht. Bei einem anderen großen Denker des 19. Jahrhunderts erhält das Leiden erst in der religiösen Sphäre seinen wahren Sinn, wobei allerdings schon auf der ersten sinnlich-ästhetizistischen und der zweiten, der ethischen Stufe gelitten werden muss, weil beide Existenzweisen hinter dem Vollsein des Menschen zurückbleiben. Für S. Kierkegaard (1813–1855) offenbart sich im Leiden die Tatsache, dass der Mensch von Gott und damit von der Fülle, der Ganzheit und Seligkeit des Lebens so radikal getrennt ist, dass er in einer metaphysischen Grundentfremdung gefangen ist und daran bewusst und öfters unbewusst, sprich in verdeckten, »verblendeten« Formen verzweifelt. Damit stellt sich das »ganze irdische Dasein (als) eine Art Übelsein« dar, das menschlich nicht zu beheben ist. 167 Nichtsdestotrotz drängt das Leiden gerade dadurch, dass es alles Dasein verleidet, dazu, alles Endliche und Allzuirdische durch einen Läuterungsprozess vom höheren Selbst des Menschen, seinem göttlichen Seelenfunken, wie M. Eckhart 168 sagt, abzuscheiden und so der Gottebenbildlichkeit (wieder) bewusst zu werden: »Wie der Glaube der hauers, die auch die inneren und äußeren Widersprüche klar herausstellt, findet sich bei F. Billicsich (1959, 11–39). 167 Siehe S. Kierkegaard (1982,159). 168 Unter »Seelenfunken« oder »Seelengrund« versteht Meister Eckhart eine ungeschaffene, dennoch immanent im geschaffenen Geschöpf naturhaft, wesenhaft bestehende göttliche Schicht des Menschen und nicht nur wie z. B. Augustin das zwar ewige, aber nur in Gott, also transzendent existierende Vor- oder Urbild des Menschenselbst, seine platonische Idee. Zu Meister Eckhart (1996, 49 ff.) vgl. »Von der wahren Armut« und »Ich und der Vater sind eins.« Vgl. auch meinen Aufsatz zu Meister Eckharts »Panentheismus« (2018, 319–358).
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Unmittelbarkeit der an das Glück ist, so ist der Glaube des Religiösen der, dass gerade im Leiden das Leben liegt […] Denn religiös gesehen, sind alle Menschen leidend und es kommt gerade darauf an, in das Leiden hineinzukommen (nicht dadurch, dass man sich darein stürzt, sondern dass man entdeckt, dass man darin ist), nicht darauf, dem Unglück zu entkommen.« 169 Erst im Sprung des sich vertrauend hingebenden Glaubens an Gott kann der Mensch dieses Leid wahrnehmen, ertragen und ins Positive, in Läuterung, Entwicklung und Reifung wenden. Auf den ersten Blick mutet die Stellungnahme von Thomas v. Aquin zum Leiden und zum Verhältnis von Gott und Leiden, die Boethius und Augustinus folgt, paradox an. Kurz und bündig sagt er nämlich: »Si malum est, Deus est«, »Wo ein Übel ist, ist (notwendig) Gott.« 170 Dies bedeutet, tief und genial von Thomas v. Aquin gesehen, dass ohne Gott (und die von ihm garantierte Weltordnung) das Übel letztlich nicht möglich, dass das vollkommene Sein die notwendige Bedingung des unvollkommenen Seins ist. 171 Auf diesem Hintergrund wird verständlich, dass Thomas v. Aquin wie das ganze Mittelalter das Leiden bzw. »Kreuz« als Königsweg zu Gott auffasst, was durch die Aufhellung der Wesensstruktur des Übels bestätigt werden kann. 172 Wegen ihrer großen geistesgeschichtlichen Wirkung kommt der impliziten Pathodizee und Theologie des alttestamentarischen Buches »Hiob« eine besondere Bedeutung zu. Hier wird ein gottesfürchtiger und gerechter Mensch in einem so ungeheuerlichen Ausmaß von Unglück und Leid getroffen, dass er an seiner Gottesvorstellung irrewird und mit Gott zu hadern beginnt. Alles bis auf sein Leben verliert er: Frau (die sich von ihm abwendet), Kinder, Hof, Vieh, Haus, Ansehen und Gesundheit. Einen Grund dafür kann er nicht finden, auch bis zur wundersamen Aufhebung seines Unglückes am Ende des Buches nicht. Seine Freunde dagegen, die ihn besuchen und ihm beistehen wollen, meinen, das Unglück müsse die Strafe für seine Sünden sein. Da sich Hiob seiner Unbescholtenheit sicher ist, entsteht das Bild eines Gottes, dem Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nichts be169 Siehe S. Kierkegaard (1982, 143 ff.). Vergleiche hier besonders seine Werke: »Die Krankheit zum Tode« (EA 1849), »Der Begriff Angst« (EA 1844) und »Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken« (EA 1846). 170 Siehe Thomas v. Aquin (1970, III. Buch, Kap. 71: »Summa contra Gentiles«). 171 Vgl. B. Welte (1959). 172 Vgl. Kap. III. 3.5.
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
deuten. Nach A. Deissler 173 sei diese Verunsicherung gegenüber der Frage »Wer ist Gott?« für einige spätjüdische Texte charakteristisch und erstrebe eine Vertiefung des Glaubens. Wie das Kapitel 23 des Buches Hiob zeigt, erlebt sich der Unglückliche in totaler Gottesferne (Verse 3–4), fühlt sich einem undurchschaubaren und schreckenerregenden Gott der Willkür und Prädestination ausgesetzt (Verse 13–16), will aber nichtsdestotrotz sein Schicksal verstehen und rechtfertigt sein bisheriges Leben im Dialog mit Gott, der Hiob offen gegenübertritt. Im Unterschied zu Hiob darf der Leser des Buches, dem die Rahmenhandlung bekannt ist, das Geschehen als Prüfung der Gottestreue verstehen, deren Sinn es ist zu klären, ob Hiob irgendein weltimmanentes Gut – Wohlstand und Ansehen, Kinder und Gesundheit – (ganz analog zur Prüfung, die Abraham am Berge Morija erfährt) seinem weltüberlegenen Gott, dem »Summum bonum« allen Daseins, vorzieht oder nicht. Für Hiob, der von der Rahmenhandlung bis zum Schluss nichts erfährt, bleibt sein leidvolles Unglück allerdings dunkel, ja – auf dem Hintergrund seiner Gerechtigkeitsvorstellung – ungerecht und kann nur durch bedingungslose Unterwerfung im Sinne des »credo quia absurdum« gemeistert werden. Im Verlauf dieser Arbeit soll mit dieser Leidtheologie am Ende eines jeden Abschnitts eine Auseinandersetzung stattfinden. Am tiefsten dringt die Deutung des Leids im alttestamentarischen Buch Genesis, der viele Denker – so neben Paulus u. v. a. – auch F. W. J. Schelling und der tiefsinnige russische Kultur- und Religionsphilosoph N. Berdjajew 174 (1874–1948) folgen. Vom Menschen wird hier gesagt, dass er seinem innersten Wesensgrund nach zu Gott gehört, dass er nur dort bei Gott als dem Urquell des Seins voll Mensch sein kann und seine Heimat findet. Da der Mensch aufgrund eines Vergehens sich von Gott frei ab- und irgendeinem endlichen Gut (letztlich seinem Ego) zuwendet, fällt er aus dieser Heimat der vollkommenen Geborgenheit und Fülle heraus und gerät in eine ihm letztlich wesensfremde Welt. Da diese Welt die der Kontingenz, des Nichtswerdenkönnens, nach N. Berdjajew der »Materieversunkenheit« ist, 175 gibt es keine Alternative zu Leiden, Daseinsangst, quälenVgl. A. Deissler (1973, 101–110). Vgl. besonders sein Buch: »Der Sinn der Geschichte«, in dem N. Berdjajew (1950) die gesamte Weltgeschichte als Mysterienspiel und spirituelle Tragödie, mehr noch als Gottesdrama deutet. 175 Vgl. N. Berdjajew (1950). Nicht ganz unähnlich meint der indische Philosoph Sri Aurobindo (1991), dass das Leiden die Reaktion des Ganzen, des Totalen auf den ir173 174
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Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik
der Seinsgier und zu in der Welt unerfüllbarer, daher tragischer Sehnsucht. 176 Immer ist der Mensch von seiner innersten Seinsmöglichkeit und Seinsberufung her, die das Bei- und In-Gott-Sein ist, wo alle Kontingenz endet und das Dasein unzufällig wird, entfremdet; 177 immer ist er unterwegs zu sich, und nie kann er, solange er in der Welt lebt, ankommen. Das Schicksal des jüdischen Volkes, seine Versklavung, sein Exodus, seine Diaspora, sein nie endendes messianisches Unterwegssein und die immer wieder über es hereinbrechenden Vernichtungsversuche durch irdisch-widergöttliche Geschichtsmächte sind auf diesem religiösen Hintergrund nichts anderes als der Ausdruck für das Herausgefallensein aus Gott und für das ImNichts-Hängen, das zu überwinden zwar die Ursehnsucht und Urberufung dieses Volkes, das stellvertretend für die Menschheit steht, ist, doch kann diese »Gottlosigkeit« menschlich nie ganz überwunden werden, also Leid pur: Mangel, Zerrissenheit, Bedrohung, Angst, Vergeblichkeit, Scheitern, Schuld total. Der letzte Sinn des Leidens aus dieser Sicht, die neben N. Berdjajew (1950) auch E. Drewermann (1984 und 1988), obschon im Rahmen einer »naturalistischen Metaphysik«, und die bedeutende jüdische G. Simmel-Schülerin Margarete Susman (1872–1966) 178 teilen, lautet darum: Außerhalb Gottes ist alles Leben Leiden, totales Leiden, weshalb alles daranzusetzen ist, in Gott zurückzukehren bzw. – in jüdischer Sicht – Gottes Reich der Gerechtigkeit in der Welt aufzurichten. An dieser Stelle ist es angebracht, die erste explizite Formulierung der Theodizeeproblematik, die auf rational-philosophischem Niveau stattfindet, anzuführen. Es handelt sich dabei um ein logirigen Versuch des Ich sei, das Universelle zu beschränken und der bloßen Möglichkeit individueller Freude unterzuordnen. Das ist eine typisch hinduistische Deutung. Auch für G. W. F. Hegel und M. Scheler (1923 a) ist Leiden das Zeichen für das Aufbegehren eines Teiles gegen das Ganze. 176 E. Drewermann (1984 und 1988) sieht hier sehr tief, wenn er sagt, dass die Angst vor der Kontingenz, vor dem Wissen also, nicht notwendig zu sein, sondern nicht sein zu können, die Urquelle allen Leidens und aller Sünde der Selbstanmaßung ist. Allerdings erklärt dieser Ansatz nicht, warum und wie der im Kern überendliche Menschengeist in die totale Kontingenz und Seinskorruptibilität der vergänglichen materiellen Welt geraten ist. 177 Siehe Angelus Silesius (2006, EA 1675, 1. Buch, 42, 102. Aphorismus): »Dann wird das Blei zu Gold, dann fällt der Zufall hin/Wann ich mit Gott durch Gott in Gott verwandelt bin.« 178 So besonders in »Das Hiob-Problem bei Franz Kafka«, »Hiob und unsere Zeit« sowie »Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes.«
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Propädeutik: Metaphysik als Wissenschaft
sches Kalkül, das interessanterweise in aporetischer Ausweglosigkeit endet und daher das Denken entweder lahmlegt oder herausfordert. Der Kalkül, in dessen Gestalt sich das Theodizeeproblem kundgibt, stammt nach Laktanz von Epikur (341–271 v. Chr.) und lautet, wie folgt: 179 – – – – –
Kann Gott nicht oder will er nicht? Entweder will Gott die Leiden aufheben und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er will es weder, noch kann er es, oder er will es und kann es.
–
1. Wenn er will und nicht kann, ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. 2. Wenn er kann und nicht will, ist er missgünstig, was Gott ebenso fremd ist. 3. Wenn er weder will noch kann, ist er missgünstig und schwach und deshalb auch kein Gott. 4. Wenn er sowohl will als auch kann, woher kommen dann die Übel?
– – –
Der erste und der dritte der vier Fälle sind in Hinsicht auf Gott als auf ein allmächtiges und allgütiges Wesen direkt selbstwidersprüchlich und daher hinfällig; der zweite Fall bleibt dunkel und ist daher zunächst unverständlich, möglicherweise aber richtig. Der letzte Fall schließlich scheint sich nicht mit dem tatsächlichen Vorhandensein des Übels zu vertragen. Es ist klar, dass, wenn überhaupt, nur der zweite und der vierte Fall für die Lösung der Theodizeeproblematik in Frage kommen, so dass sich die Aufgabe stellt zu klären, warum Gott das Übel zeitweise (!) zulässt oder anders: Warum er das Gute, Heile und Vollkommene zeitweise nicht will bzw. das Übel duldet und die Ganz- und Heilwerdung gleichsam aufschiebt. Während sich die epikureische Position allein auf Vernunft- und
Vgl. Epicurea (Hrsg. H. Usener, 1887, Fragment 374), das aus der Schrift »De ira die«, 13, 9 von Laktanz entnommen ist. Die heutige Forschung schreibt das Fragment nicht Epikur zu, sondern einem skeptischen Philosophen, vielleicht Arkesilaos oder Karneades. Darüber hinaus betont H.-G. Janßen (1989, 4), dass der Theodizeegedanke im Allgemeinen der Antike fremd gewesen sei, letztlich weil für sie der Kosmos identisch mit der Gottheit war und darum das Übel darin keinen Platz einnehmen konnte. Das ändert jedoch nichts an der formallogischen Bedeutung und am philosophischsachlichen Ernst des epikuräischen Kalküls. 179
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Historisch bedeutsame Entwürfe einer Leidensmetaphysik
Argumentationsgründe stützt, lassen sich bei den meisten Philosophien und Religionen unthematisierte metaphysische Voraussetzungen, in die das Leiden interpretativ hineingestellt wird, aufzeigen. So wertvoll sie im Einzelnen sind, so fragwürdig sind sie zumeist, da sie auf weltanschaulichen Vorentscheidungen aufbauen, die nicht ohne Weiteres übernommen werden können und von Späteren meist verworfen werden, so etwa die fragwürdige Deutung des Leids als gottgeschickte Strafe oder als karmische »Rache«. Um hier auf festeren Boden zu bauen, gilt es, das Fundament empirisch, methodisch, systematisch und analytisch-metaphysisch tiefer zu legen.
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II. Das Fundament: Leiden und Freiheit
2.1. Freiheit und Gebundenheit im Leiden: Nur ein partiell freies, partiell unfreies Wesen kann leiden; die Unmöglichkeit unmittelbarer Leidzufügung Nachdem die theoretisch-methodische Vorarbeit geleistet ist und die Möglichkeit einer Metaphysik des Leidens als Wissenschaft aufgewiesen wurde, einer Wissenschaft, die zwar von empirischen Tatsachen ausgeht und ausgehen muss, darüber hinaus aber auf methodisch sicherem Wege zu den transzendenten, der direkten Erfahrung sich entziehenden, doch durchaus erschließbaren Wirklichkeitsvoraussetzungen des Leidens vorzudringen vermag, kann das Leiden als Realität im gesamten Ordnungsgefüge der Wirklichkeit zu verorten gesucht werden. Auszugehen ist dabei von dem, was die »Phänomenologie des Leidens« aufgedeckt und ermittelt hat. 1 Das Leiden ist zwar eine unmittelbare Erfahrungstatsache, doch ist es keineswegs nur einfach gegeben, kein »Ding«, kein Faktum brutum, sondern konstituiert sich erst durch Widerfahrnis, Betroffenheit, Erleben, implizite Bewertung und widerstrebenden Selbstvollzug. Das bedeutet, dass Leiden nicht nur passives Erleiden ist, sondern erlebt werden muss, um zu sein. Erleben ist aber inneres Leben, Innesein, Selbstsein in Selbstvollzug, ist demnach eine eigenständige Aktivität und Selbsttätigkeit, also ein Seiendes mit Spontaneität und Kreativität. Dieser Selbsttätigkeitscharakter im Leiden offenbart sich deutlicher, wenn das Leiden bewusst wird: »Ich leide«, »Du erträgst dein Leiden«, »Er will sich von einem Übel befreien, kann es aber nicht, und gerade darin besteht sein Leiden.« Erkennt man gar, dass eine widerfahrene Realität erst dadurch zum Übel wird, dass jemand daran leidet, dass ein Subjekt sie als etwas bewertet, das
1
Vgl. B. Wandruszka (2009).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
ihm zuwider, jedoch nicht loszuwerden ist, obwohl es dies erstrebt, wird das Aktivitätsmoment im Leiden überdeutlich. Ein Wesen, das im Leiden nur fremdbestimmt wäre und nicht einmal von seinem Leid wissen, dieses nicht selbst spüren könnte, ein solches Wesen könnte unmöglich leiden. Zum Leiden gehört demnach wesenhaft ein Selbstverhältnis, und da ein jedes Selbstverhältnis nur dadurch eines ist, dass ein Wesen sich von und aus sich her zu sich selbst hin verhält, walten im Leiden, wenn auch meist unreflektiert, Selbsttätigkeit und Selbstbezüglichkeit. Das bedeutet, dass im Leiden nicht nur ein Fremd-, sondern wesentlich ein Selbstbestimmen (mit-)wirkt, was wiederum nichts anderes ist als der Kern und das Wesen der Freiheit. »Ich leide« heißt demnach: »Ich vollziehe mich als Leidenden«, heißt: »Ich bestimme mich, ich »will« mich als Leidenden.« Würde der Mensch gänzlich von einem Anderen oder von etwas Anderem in seinem Leiden vollzogen, »würde ich total gelitten« und litte nicht selbst, dann litte bestenfalls der Andere in mir, aber niemals »als ich«. Reine Passivität ist mit dem Leiden unvereinbar. Leiden ist, wie die Phänomenologie klar gezeigt hat, »selbstgemacht«, selbstvollzogen, wenn auch nicht nur. Die Akte des Leidens als Selbstvollzug umfassen, detaillierter betrachtet, die Wahrnehmung einer widerfahrend-widerständigen Realität, die meist intuitiv-emotionale Bewertung dieser Realität als Störung und Übel, das Aufbegehren dagegen und die Ohnmacht gegenüber dieser erlittenen Realität. All das zusammen konstituiert das Leiden als Mangelerleben, Zwiespalt, Spannung, als Ohnmacht und innere Diskrepanz. Wäre kein Widerfahrnis, würde nichts wahrgenommen, würde nichts als Übel bewertet, würde sich nichts dagegen auflehnen, wäre da keine sich erhebende Macht, die an ihre Grenzen gelangte und Ohnmacht erlitte, wäre kein Leiden in dieser Welt. Leiden ist demnach an Leben, Eigenleben, selbsttätige Wahrnehmung, an selbsttätige Bewertung, selbsttätige Auflehnung und an durch andere Daseinsmächte begrenzte und im Leiden bedrohte und ohnmächtige Eigenmacht gebunden, andernfalls wäre es nicht. Bezogen auf die Theodizeeproblematik bedeutet dies: Endliche Freiheit und Leiden sind untrennbar verbunden, derart, dass Leiden Freiheit, allerdings begrenzte, beschränkte, damit fehlbare und verletzliche Freiheit notwendig voraussetzt. Selbsttätigkeit und Selbstaktivität verdienen aber nur diesen Namen, wenn da ein Wesen ist, das sich selbst ergreifen und sich selbst 146 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Freiheit und Gebundenheit im Leiden
erleben, kurz: das sich selbst bestimmen kann. Wo Selbstbestimmung ist, da ist an diesem Punkt kein Fremdbestimmen. Wenn Leiden die Fähigkeit zur Selbstbestimmung impliziert, dann ist Leiden ohne ein Mindestmaß an Freiheit unmöglich. Wesen, die ihre Freiheit nicht vollziehen können, etwa ein Stein, ein Kunstwerk, ein Leichnam oder ein komatöser Mensch können zwar erleiden bzw. affiziert und affligiert werden, aber sie können nicht leiden. Es ist andererseits ebenso klar, dass ein Wesen, das in seinem Selbstsein und Selbstbestimmen unbegrenzt und in keiner Hinsicht fremdbestimmbar wäre, ebenfalls nicht leiden könnte. Leiden heißt zwar gewiss Lebenwollen, aber genauer, etwas leben wollen, was sich nicht leben lässt und was eine Hinderung, eine Hemmung erfährt. Im Leiden ist, wie A. Schopenhauer 2 erkannte, ein Wille behindert, aber nicht von sich, sondern von irgendetwas Anderem her: Im Leiden muss der Mensch etwas erfahren, das er nicht erfahren will und, solange er leidet, vergeblich abzuschütteln trachtet. Ein leidensfähiges Wesen ist demgemäß nicht nur ein partiell freies, zum Selbstvollzug und zur Selbstbestimmung fähiges, sondern ein auch zur Fremdbestimmung, zur Hemmung und Behinderung fähiges, sprich ein ausgesetztes und von allerlei Außenbedingungen abhängiges Wesen. Denn im Leiden erfährt ein Subjekt etwas, was es nicht erfahren will, aber muss. Ausgesetzt ist jedoch nur ein solches Wesen, das in einem Daseinsrahmen steht, den es sich nicht selbst gesetzt hat und von dem es in seiner Existenz abhängt. So atme ich zwar selbst, aber die Luft muss bereitgestellt sein, von ihr hänge ich ab. Noch fundamentaler bin ich ein fühlendes, wahrnehmendes, phantasierendes, erinnerndes, denkendes, wollendes Wesen, doch habe ich mir alle diese Fähigkeiten nicht selbst gegeben, sondern wurde mit ihnen »betraut«. Entsprechend bin ich im konkreten Lebensvollzug und damit auch in meinen freien Entscheidungen von diesen Fähigkeiten abhängig. Diese Einsicht erweist, dass das menschliche Ich, sofern es leidet bzw. leiden kann, unmöglich ein absolut selbstsetzendes Ich ist. 3 Zwar trifft zu, dass sich das menschliche Ich – in der Sprache J. G. Fichtes – selbst setzt, aber nicht absolut, sondern nachdem es gesetzt wurde: Das menschliche Selbst ist nach S. Kierkegaard ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und dabei erkennt, dass
2 3
Vgl. A. Schopenhauer (1949, Bd. 1, Paragraph 56, 363 ff.). Vgl. anders J. G. Fichte (1979, 11 ff., EA 1794).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
es sich auch zu etwas Anderem verhält, durch das es ins Sein kam und überhaupt ein Verhältnis sein kann. 4 Weder ein total passives Wesen noch ein total freies Wesen, weder Stein noch Gott können leiden, wiewohl viele Schwerleidende sich wünschen, stumpf wie ein Stein zu sein: »Leidlose Steine, wie beneid’ ich euch!« 5 Leiden kann nur ein Zwischenwesen, ein Wesen, das sein Dasein primär und ursprünglich nicht sich selbst verdankt, weil es sonst absolut, ewig und unendlich wäre, sondern sich als gegeben erfährt und zugleich und sofort sich selbst zu wollen, sich zu bestimmen, sich und sein Leben zu gestalten aufgerufen ist. Philosophisch gesprochen: Nur ein Objekt-Subjekt kann leiden, weder ein reines Objekt noch ein reines totales Subjekt können leiden. Eine Welt könnte demnach nur dann ohne Leiden sein, wenn sie entweder nur aus einem absoluten Subjekt oder nur aus einem bloßen Objekt oder nur aus beidem bestünde, sprich nur göttliches Bewusstsein oder nur reines, ruhendes, parmenideisch-statisches Sein wäre. Doch fehlte ihm dann etwas Einzigartiges und wohl auch unvertretbar Wertvolles: nämlich ein selbstwerdendes, sich im Suchen, Experimentieren und Finden selbstgestaltendes Sein. Ist eine Welt aber, so fragt sich schon hier, nicht vollkommener, in der solche selbstkreativen, selbstwerdenden, dann allerdings auch dem Irrtum und Leid ausgesetzten Wesen vorkommen als entweder keine Welt oder nur eine statisch-leblose Welt? Diese jetzt noch offene Frage soll im Verlauf der Arbeit geklärt werden. Wenn Leiden nicht nur passives Erleiden ist, sondern durch selbsttätige Akte mitkonstituiert wird, durch Wahrnehmen von etwas störend Widerfahrendem, durch Bewertung dieses Widerfahrenden als Übel, durch vergebliche Auflehnung gegen dieses Übel und durch die darin erlebte Ohnmacht, dann kann es keine direkte und unmittelbare Leidzufügung geben. Niemand und nichts kann mich unmittelbar leiden machen, weder ein anderer Mensch noch Gott. Sie können mir wohl allerlei zufügen, auch Schaden zufügen – aber dass diese Zufügungen, diese Widerfahrnisse, diese Schädigungen zum Übel, zum Leid, genauer, zu meinem Übel, meinem Leid, zum Übel an mir werden, das kommt allein durch mich, durch meine stets aktive Wahrnehmung, Bewertung und Stellungnahme zustande. Somit ist die Rede von einem Gott, der Leiden »macht«, falsch oder doch 4 5
S. Kierkegaard (1976, 32). Siehe »Il Pensieroso«, Gedicht von C. F. Meyer.
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Das Wesen der Freiheit
ungenau: Er schafft Wesen, die leiden können, aber leiden tun diese selbst durch sich selbst – und, wie die Erfahrung bezeugt, ist kein Leiden notwendig. Das ist so, weil zum einen die dem Leiden zugrundeliegenden Widerfahrnisse als solche nicht notwendig sind (niemand muss krank werden), zum anderen, und das ist entscheidender, weil Wahrnehmung und Bewertung eines Widerfahrnisses als Übel vom Betroffenen abhängen und im Extremfall, wie Epikur auf dem Sterbebett, Epiktet in seinem Sklavenleben, Buddha in der Meditation und Paulus in seinem Glaubenskampf bezeugen, etwa durch völlige Ergebung oder Nichtwertung unterlassen werden können. Selbst schwerste Schmerzen, größte Verluste und gemeinste Demütigungen können leidfrei erlebt werden, wiewohl dies die Ausreifung einer beinahe übermenschlichen inneren Freiheit verlangt, die nicht unmöglich ist und immer wieder von Menschen realisiert wird.
2.2. Das Wesen der Freiheit: Bestimmungsoffenheit, Selbstbestimmungsfähigkeit und Selbstannahme Wenn Leiden ohne Freiheit nicht möglich ist, stellt sich die Frage nach dem Wesen der Freiheit. Weithin bekannt, handelt es sich hierbei um eines der größten Rätsel der Menschheit, und bis zum heutigen Tag streiten ihre besten Köpfe um seine Lösung: Gibt es überhaupt Freiheit, und wenn ja, was ist sie und wodurch wurde sie möglich? Die meisten Lösungsangebote gehen von der unmittelbaren Selbstwahrnehmung aus, und da erlebt der Mensch in der Tat, dass er sich trotz vielfältiger Fremdbestimmungen in gewissen Grenzen selbst bestimmen kann. 6 Vor allem erlebt er intuitiv sein Freisein in der Wahl bzw. im Wählenkönnen, weiter im Handeln, Widerstehen und Nachgeben, da er meint, er könne sich so oder so, zumindest für oder gegen etwas entscheiden. Dieses Erlebnis kann ihm durch keine noch so kluge deterministische Sophistik genommen werden und doch ist klar, dass es zur Fundierung eines wissenschaftlich begründeten Erweises nicht genügt. Da auch die philosophische Phänomenologie dieses unmittelbar evidente Freiheitserlebnis zur wichtigsten Grundlage in der Verteidigung der Freiheit des Menschen nimmt, 6
Vgl. J. Nida-Rümelin (2005).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
steht sie auf unsicheren Füßen, deren Untergrund von ihren Gegnern, den Naturalisten, die meist Deterministen sind, hinterfragt und leicht erschüttert wird. Was führen diese für Argumente ins Feld? Die Naturalisten führen alles ins Feld, was zeigt, dass der Mensch in seinem Verhalten, Denken, Fühlen, Wollen und überhaupt Erleben von physisch-leiblichen, psychischen, sozialen, ökologischen und geistig-kulturellen Faktoren abhängt. Und gewiss lässt sich daran nicht zweifeln. Wenn jemand, wie z. B. der frühe J.-P. Sartre, 7 behaupten wollte, der Mensch sei total frei, der allerdings würde sich in den Augen der Naturalisten (und der gewöhnlichen Menschen) in ein lächerliches Licht setzen. Folgt aber aus der vielfältigen Gebundenheit des Menschen seine totale Unfreiheit, seine totale Determiniertheit, seine Unselbständigkeit in jeder Hinsicht? Das wäre ein Kurzschluss. Ein Reiter, der auf sein Pferd gebunden ist, kann dieses trotzdem lenken. 8 Noch bedenklicher ist der methodisch-epistemologische Fehler, der dem naturalistischen Determinismus unterläuft, da er nicht sieht, dass er nicht die methodisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten besitzt, um überhaupt das Freiheits-Unfreiheits-Problem anzugehen. Warum ist das so? Freiheit, wenn es sie gibt, konstituiert sich nur da, wo sich ein Wesen selbst bestimmt, das heißt eigenaktiv ist, sich selbst vollzieht und einen unmittelbaren Rückbezug auf sich konstituieren kann. Dieser Selbstvollzug ist nur in der Erste-Person-Perspektive und nur in der Selbstreflexion erfahrbar, die Naturwissenschaftler dagegen betrachten ihre Gegenstände grundsätzlich von außen, als Objekte, was heißt, dass sie so etwas wie Selbstvollzug und Erleben grundsätzlich nicht zu Gesicht bekommen. Wenn sie etwa versuchen, im Gehirn nach dem Ich, nach einem freien (oder unfreien) Subjekt zu fahnden, dann begreifen sie nicht, dass sie mit ihren Mitteln und in diesem Medium nur auf Objekte, niemals auf ein Wesen stoßen können, das sich selbst erlebt. Das Freiheits-Unfreiheits-Problem liegt darum prinzipiell außerhalb der Reichweite aller objektivierenden Naturwissenschaft, es ist darin nicht einmal formulierbar. Zwar können sie allerlei Interdependenzen zwischen objektiven Wirklichkeiten beschreiben, unmöglich jedoch kann ein
Vgl. J.-P. Sartre (1997, 49 ff.). Vgl. N. Hartmann (1964, 67 ff. und 98 ff.), der wiederholt betont, dass Abhängigkeit Selbständigkeit nicht ausschließt.
7 8
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Das Wesen der Freiheit
Physiker oder Neurobiologe die Modalität dieser Interdependenz bestimmen, also klären, ob diese frei oder notwendig, ob sie zufällig oder nichtzufällig ist. Somit ist offenkundig, dass weder durch bloße Intuition noch durch objektivierende Analyse das Freiheitsproblem wissenschaftlich geklärt werden kann. Ist es dann überhaupt klärbar? Gegen die Unlösbarkeit werden Einwände erhoben, vor allem von Philosophen, die seit I. Kant die Freiheit moralisch bzw. intersubjektiv begründen. 9 Paraphrasiert lautet die Argumentation: »Es ist gewiss, dass ich ein Wertbewusstsein habe und dass ich mich für meine Entscheidungen und Taten verantwortlich fühle; und auch ist gewiss, dass ich aufgrund dieses Wert- bzw. Unwertbewusstseins soll und sollen kann. Wäre ich aber völlig unfrei, dann wäre ein jedes Sollen, das die Befolgung und die Widersetzung als Möglichkeit impliziert, widersinnig. Weil ich soll, kann ich auch.« Obschon diese Argumentation zutrifft, ersetzt sie eine Intuition, nämlich die der Wahlfreiheit durch eine andere, die des Wert- bzw. Verantwortungsbewusstseins. Damit ist nicht viel gewonnen, besonders dann nicht, wenn der ernst zu nehmende Widerspruch laut wird, dass das Wert-Unwertbewusstsein, wie S. Freud 10 und viele Soziologen behaupten, nichts anderes sei als die unbewusste, mehr oder weniger zwangsweise Internalisierung elterlicher bzw. überhaupt kultureller Gebote und Verbote. Schon I. Kant hat betont, dass das empirische Gewissen zum Freiheitsbeweis nicht tauge, da die Freiheit kein Erfahrungsbegriff sei, sondern nur gedacht bzw. erschlossen werden könne. 11 Gibt es also keinen Ausweg aus dem Dilemma? Kann der Mensch in Hinblick auf den vielleicht wichtigsten Wesenszug seiner Existenz, wie schon I. Kant glaubte bewiesen zu haben, keine Klarheit bekommen? Sind Sein und Erkenntnis im Menschen so hoffnungslos auseinander gerissen, dass er sich in seinem Sosein nicht erkennen kann? 12
Für J. Nida-Rümelin (2005) ist entscheidend, dass der Denkende für seine Wahlakte Vernunftgründe angeben kann, was bei unterstellter Unfreiheit unmöglich und widersinnig wäre. 10 Vgl. S. Freud (1970 a, 9 ff.). 11 Vgl. I. Kant (Werke, IV, 2011: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 3. Abschnitt: »Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie«, 91–102). 12 Was dann wohl als das Urübel des Menschen bezeichnet werden müsste, da es der Ausdruck einer anthropologischen Grundspaltung wäre. 9
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
Um hierin weiterzukommen, gilt es zu umreißen, was überhaupt unter Freiheit verstanden werden kann, um dann zu prüfen, ob es sie gibt und was die Bedingung ihrer Möglichkeit ist. Geht man vom Gegenteil, von der Unfreiheit, aus, sind sich wohl alle Menschen darin einig, dass ein Wesen nicht frei genannt werden kann, das in jeder Hinsicht fremdbestimmt ist und in keiner Hinsicht über sich selbst verfügt. Ein solches Wesen trägt keine Verantwortung, da alles, was es tut, mit ihm getan wird, wodurch die Verantwortung auf jene Realität übergeht, die solch ein Wesen, das nicht mehr als eine Marionette darstellt, agieren lässt. Damit wird offenkundig, dass Freiheit ein Mindestmaß an Selbstbestimmung und damit an Aktivität, Eigenkraft und Selbstverfügung beinhaltet. 13 Wenn dies der Fall ist, dann setzt das mindestens dreierlei voraus: Erstens muss solch ein freies Wesen bestimmbar sein, zweitens sich selbst ergreifen und sich in dieser Selbstergreifung selbst erreichen, »treffen«, begegnen und letztlich sich selbst bestimmen und annehmen können. Ergreifen aber kann sich nur etwas, das sich »sehen«, sich erleben kann, andernfalls würde es, wenn es für sich blind wäre, an sich vorbeigreifen. Zum Wesen der Freiheit gehören demnach Offenheit (Bestimmbarkeit), Eigenaktivität (Spontaneität), ein Mindestmaß an SelbstDa T. Nagel (2008, Kap. 6, 50 ff.: »Willensfreiheit«) Kausalität/Wirkgeschehen nur als physikalisch-mechanische Wirkkraft denken kann, steht er ratlos vor der Frage, wie ein freier Wille – er sagt auch Ich, Person, Mensch – soll frei sein können, wenn er doch nicht wirkfähig ist, und gerät konsequent in das Dilemma, entweder eine völlig determinierte Kausalität ohne alle Freiheit oder eine Freiheit ohne alle Kausalität, eine Freiheit ohne Kraft, Wirkfähigkeit und Inhalt denken zu müssen. »Es ist mir nicht klar, was man damit sagt, dass ich meine Entscheidung bestimme, wenn sie durch nichts an oder in mir bestimmt wird.« (61) Wieso »durch nichts an oder in mir«? Ist das Ich mit seinem Wollen, Wissen und Fühlen nichts? Und hat es keine Bestimmungen wie z. B. Neigungen, Wünsche, Erwartungen, Vorstellungen, Ziele, Konzepte, Werte usw., die der Mensch ergreifen, ablehnen, hemmen oder aufschieben kann und also aktiv Stellung zu ihnen bezieht? Wenn das Ich allerdings als völlig passiv und leer gedacht wird, dann freilich ist Freiheit unmöglich. Das Ich ist aber weder passiv noch leer, sondern voller Möglichkeiten, Potenzen und sozialen Prägungen, von denen es sich bestimmen, leiten und raten lassen kann. Sowohl diese Möglichkeiten der Selbstrealisation als auch die willentliche Stellungnahme zu ihnen kann das Ich (als Wille etc.) vollziehen, und also gibt es eine personale, seelisch-geistige Kausalität, die keineswegs willkürlich sein muss, sondern durchaus konsequent, vernünftig und erwartbar sein kann. Gelingende Kommunikation und gelingendes soziales Zusammenleben wären anders unmöglich. Auch T. Nagel bleibt also in der Chimäre der neuzeitlichen Kausalvorstellungen gefangen.
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Das Wesen der Freiheit
erleben und Selbsterfahrung, also Selbstbezüglichkeit im fundamentalen, etwa auch nur präreflexiven Sinne, und ein Minimum an Selbstannahme. Eigenaktivität und Selbsterleben sind nicht-intentional aber unmöglich. Jedes Erleben ist gerichtet bzw. richtet sich aus, entweder auf Anderes oder auf sich selbst oder auf beides. Wäre es dazu nicht in der Lage, könnte sich also nicht ausrichten, wäre es entweder ein völlig passives oder ein völlig blindes Wesen oder ein passiv-blindes Wesen. All das ist mit Erleben, damit auch mit Leiden unvereinbar. Zur Freiheit gehört, worauf die erste Bedingung hinweist, noch mehr: die Bestimmbarkeit. Was meint sie? Nichts anderes als Bestimmungsoffenheit. 14 Wäre ein Wesen, das sich selbst zu ergreifen und darin sich selbst anzunehmen, zu bestimmen, zu formen und zu gestalten suchte, schon im Vorhinein in jeder Hinsicht bestimmt, festgelegt, »ausbestimmt«, fehlte der Raum für jede Selbstbestimmung. Freiheit umfasst demnach passive Offenheit – Bestimmbarkeit – und aktive Offenheit – Bestimmungskraft –, die erste ist rezeptiv-intentional, die zweite initiativ-intentional. Weder ein rein passives noch ein in jeder Hinsicht bestimmtes Wesen kann frei sein bzw. frei agieren. Zur Freiheit gehören die auf das Selbstsein bezogene partielle Unbestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit und die aktive Bestimmungsfähigkeit. Selbstbestimmbar wiederum kann nur ein Wesen sein, das sich aus eigener Kraft auf sich selbst zurückbeziehen, sich in diesem Rückbezug selbst erleben, inne sein, sprich selbst erfahren und erleben und darin sich selbst annehmen und ergreifen kann. Selbsterleben, Selbstgewahrsein, Selbstannahme und Selbstergreifung sind korrelate Begriffe, und das heißt, dass jedes Selbsterleben schon eine Art Selbstergreifung darstellt. Umgekehrt wird in jeder Selbstergreifung ein Selbstwissen mitvollzogen. Damit ist klar, dass ein freies Wesen notwendig ein geistiges, ein bewusstes, ein Wesen sein muss, das in und für sich selbstgewahrend ist. 15 Könnte es sich zwar »sehen« (nicht sinnlich gemeint), aber nicht ergreifen bzw. könnte zwar nach sich greifen, aber sich nicht sehen, bliebe ein solches Wesen radikal von sich getrennt, wäre hoffnungslos zerrissen, es wäre als echtes Subjekt Das Moment der Bestimmungsoffenheit lehnt N. Hartmann (1964, 98 ff.) in der Formulierung seines Freiheitsbegriffes ab. 15 In Anlehnung an J. G. Fichte könnte man von einer empirisch-zeitlichen Form der intellektuellen Anschauung sprechen. 14
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
und Selbst unmöglich. Denn Sehen und Nichtergreifen heißt soviel wie Sehen und Nichtsehen; und Ergreifen ohne zu Sehen heißt soviel wie Nichtergreifen. 16 Wo sich schließlich ein Wesen, sich selbst wahrnehmend, selbst ergreift, da nimmt es sich auch selbst an, »lässt sich sein«, akzeptiert und schätzt sich. Dies ist der dritte Grundzug der Freiheit, und man kann sehen, welche klassisch-psychologischen Kräfte sich hier ankündigen: In der Selbstergreifung agiert der Wille, das Sichselbsthaben- bzw. Selbstseinwollen, das Selbstsetzen; in der Selbstgewahrung die reflexiv-intuitive Vernunft; und im Sichannehmen und Sichschätzen das anerkennende oder gar liebende Gefühl. Alle drei Akte der Freiheit – Sichergreifen, Sichgewahren, Sichannehmen – bestehen ineinander und zugleich, doch in dieser unzeitlichen Reihenfolge. Erst indem sich der Mensch ergreift, weiß er sich; und erst indem er sich, sich gewahrend, ergriffen hat, kann er sich annehmen, schätzen und lieben. Im Kern erweist sich Freiheit als Selbstbestimmung und Selbstbestimmung umfasst intentionale, rezeptiv-initiative Eigenaktivität und Rückbezug auf sich als einem bestimmungsoffenen und bestimmungsfähigen Sein. Wenn ich z. B. sage: »Ich will mich gelassener verhalten« und dies gelingt, dann bestimme ich reflexiv mein offenformbares Sein als gelassen, dann mache ich mich zu einem gelassenen Ich, indem ich mich als bestimmungsoffenem Sein rezeptiv annehme und initiativ gestalte. Wenn dieses Bestimmen von mir – und nicht von einer anderen verborgenen Macht, den Genen, Neuronen, von Gott oder sonst etwas – ausgeht, und wenn dieses Bestimmen wieder bei mir ankommt, dann ist Freiheit da, echte, wirkmächtige, Bekanntlich bestreitet dies I. Kant, wenn er die transzendentale Freiheit in der KdrV und in seinen anderen Schriften als unerfahrbar behauptet. Für ihn ist auch das empirische Ich bzw. das Selbsterleben nur Phänomen (Vorstellung), nicht »Ding an sich selbst« und unterliegt daher den deterministischen Kausalgesetzen. In welche Widersprüche dies führt, liegt auf der Hand. Es ist aber auch phänomenologisch widersprüchlich, das Ich als Vorstellung zu fassen – ein Erbe, das von D. Hume auf I. Kant überging –, da es als Vollzug der Aktkern und Ursprung von Vorstellungen und Handlungen ist, aber nicht selbst Vorstellung sein kann. Selbstverständlich könnte ein rein phänomenales, total unter dem deterministischen Kausalprinzip stehendes Ich nicht über die »Bedingungen seiner Möglichkeit« nachdenken und ein freies, aber verborgenes (transzendentales) Ich seiner selbst als Voraussetzung erschließen. Auch das phänomenale Ich muss, soll es dies leisten können, partiell frei und darin erfahrbar sein. Vgl. meine Arbeit (2019, »Selbststruktur, Selbst und Narzissmus. Versuch einer Fundamentalanalyse«, Alber, Freiburg i. Br.).
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Der Beweis der Freiheit über die Unmöglichkeit des infiniten Regresses
inhaltsreiche und lebendige Freiheit. Wäre dies nur eine Illusion, wie heute allenthalben behauptet wird, fragt sich, wer diese Illusion wem macht und wie es kommen kann, dass der Mensch sie als Illusion – angeblich völlig unfrei! – durchschaut? Hier tummeln sich Selbstwidersprüche in großer Zahl. Nach diesem Bestimmungsversuch der Freiheit steht die Frage an, ob diese vorläufig und hypothetisch bestimmte Freiheit wirklich besteht. Und wenn ja, wie dies erwiesen werden kann.
2.3. Der metaphysische Beweis der Freiheit über die Unmöglichkeit des infiniten Regresses Dass die bloße phänomenologische Intuition, die objektivierende Analyse und die sittliche Werterfahrung nicht ausreichen, um das Bestehen der Freiheit zu erweisen, steht fest. Gibt es noch einen anderen Weg? Das müsste ein diskursiv-argumentierender Weg sein, der über die bloß objektivierende Analyse hinausgeht. Ist das möglich? Durchaus, es handelt sich um die argumentatio ex contrario. Man setze also: Es gibt in dieser werdenden Welt keine Freiheit, kein freies Wesen. Was impliziert dies? Wenn sich ein Vorgang wie dieses Schreiben hier in seiner Entstehung nicht einem freien (psychophysischen) Wirken verdankt, dann geht er notwendig auf ein anderes Wirken zurück. Da er weder von nichts noch von sich selbst entstanden sein kann, da etwas, das nicht ist, sich nicht erzeugen kann bzw. etwas, das schon ist, sich nicht erzeugen muss, muss er von Anderem entstanden und hervorgebracht worden sein. So lautet das grundlegende Kausalprinzip. Wenn man gemäß der Annahme das Wirken aus Freiheit ausschließt, dann kann dieses Andere wieder nur die Wirkungsfolge eines anderen Wirkens sein – und so entsteht unvermeidbar ein infiniter Regress, der nötigt, die Möglichkeit einer anfangslosen Wechsel- und Werdereihe anzunehmen. Nur eine solche vermag das Werden der Welt bei Ausschluss von Freiheit zu fundieren, sachlich und logisch notwendig. Der Grund liegt zu Tage: Würde man an irgendeiner Stelle dieser Wechselreihe im Wirkungsgeschehen Halt machen, würde man entweder annehmen, etwas entstünde von und aus nichts oder man würde annehmen, am Anfang der Wechselreihe stünde ein Wirken aus Freiheit. Das eine kann man nicht denken, und das Zweite wurde ausgeschlossen, und so bleibt nur eines: eine 155 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Fundament: Leiden und Freiheit
anfangslose, unendliche, und zwar – weil vergangen – abgeschlossen bzw. durchlaufen unendliche und dabei notwendig-determiniert aufeinander folgende Kette von Wechselzuständen, Wechselgliedern, Werdeteilen. Was ist davon zu halten? Die Antwort wurde schon bei der Auseinandersetzung mit I. Kants Antinomienlehre und in Anlehnung an die Metaphysik B. v. Brandensteins 17 gegeben: Eine anfangslos-unendliche und notwendig verknüpfte Wechselreihe ist sachlich und logisch unmöglich. Der Grund ist bündig formuliert dieser: Wenn ein Werdeprozess real unendlich ist und aus dem echt oder durchlaufen Unendlichen kommt, dann kann er nicht auf dem Wege der Sukzession im Hier und Jetzt angekommen sein. Da er aber im Hier und Jetzt erfahrungsgemäß angekommen ist, kann er nicht aus dem Unendlichen gekommen und kann nicht notwendig abgelaufen sein. 18 Da es sich bei dieser Argumentation um den entscheidenden Gedanken handelt, sei dies genauer begründet. Unter der Annahme, dass jedes Glied das notwendige Folgeglied eines vorangegangenen Gliedes einer Wechselreihe ist, gilt, dass dem heutigen letzten Glied dieser Wechselreihe notwendig unendlich viele Glieder vorausgegangen sind. Denn wären es nur endlich viele, gäbe es zumindest ein Glied, eben das erste, das sein Dasein nicht der Notwendigkeit, weil nicht einem notwendig vorausgegangenen Wechselglied verdankte. Damit wäre diese Wechselreihe erstens endlich und zweitens an diesem ersten Beginn ursachlos. Wäre dieses erste ursachlos entstandene Glied trotzdem entstanden, wäre es aus Vgl. B. v. Brandenstein (1966, 37 ff.). Von der Seite mancher Physiker – z. B. C. F. v. Weizsäckers (1954, 4. und 5. Kapitel), nicht aber S. Hawkings – wird heute ebenfalls angenommen, dass der Kosmos zeitlich, räumlich und energetisch endlich sei. Dabei stützt man sich vor allem auf den zweiten thermodynamischen Hauptsatz, der eine regressio in infinitum deswegen unmöglich macht, weil andernfalls die Temperatur in der unendlichen Vergangenheit hätte unendlich hoch sein müssen, was zu Sinnwidrigkeiten führt. Im Übrigen wäre dann auch die Geschwindigkeit der kosmischen Expansion unendlich und höbe damit das einsteinsche Gesetz der speziellen Relativitätstheorie, wonach die Lichtgeschwindigkeit die höchstmögliche ist, auf. Eine unendliche Geschwindigkeit ist aber keine Bewegung mehr, sondern eine Art totales, unendlich ausgebreitetes, völlig statisches Leuchten, wie dies noch Aristoteles dachte. Die Annahme einer anfangslos-unendlichen Expansion des Kosmos bzw. einer anfänglichen Expansion aus einem energetisch unendlichen Ruhezustand heraus (S. Hawking) zerstört schließlich die Möglichkeit der Quantentheorie. Kurzum: Die These eines anfangslos-unendlichen Kosmos höbe die moderne Physik auf.
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Der Beweis der Freiheit über die Unmöglichkeit des infiniten Regresses
und von nichts entstanden, was offensichtlich falsch ist. Also könnte es nur ein nichtentstandenes Glied sein. Als solches wäre es nicht von Anderem verursacht und wäre frei, absolut frei. Will man dies gemäß der Annahme vermeiden, bleibt nichts anderes als die Annahme einer anfangslosen, dann total unfreien und mit Notwendigkeit verknüpften und ablaufenden Wechselreihe. Insoweit diese Wechselreihe anfangslos ist, ist sie unendlich, und insofern sie unendlich ist, muss es in dieser Reihe mindestens ein Glied geben, das vom Heute aus, rückwärts betrachtet, unendlich weit entfernt und demgemäß durch unendlich viele Glieder vom Heute getrennt ist. Von einem solchen Glied X ausgehend, muss der Wechselprozess auf dem Wege der Sukzession, also der gliedweisen Aktualisierung auf das Heute H zugeschritten sein. Was gilt in diesem Fall? Da die gliedweise Sukzession immer nur endlich viele Glieder aneinanderreihen kann, bestenfalls endlos endlich oder potentialunendlich viele, zwischen X und H gemäß der Annahme jedoch unendlich viele Glieder liegen, hat der Prozess der Wechselreihe nie im H, im Heute ankommen können, mithin kann es das H als heute letzten Zustand der Wechselreihe nicht geben. Nun gibt es ihn aber, und also hat er möglich sein müssen. Möglich kann er aber nur sein, wenn zwischen X und H endlich, sprich endlich-durchschreitbar viele Glieder liegen. Das aber impliziert, dass jedes mögliche Glied der vergangenen Wechselreihe nur endlich weit vom H entfernt liegen kann, was wiederum heißt, dass die Wechselreihe einen ersten Anfang gehabt haben muss. Gilt dies, dann gilt, dass ein Wechselreihenglied nicht die notwendige Wirkungsfolge eines vorangegangenen Ursachegliedes ist, da sonst wieder die als unmöglich erkannte Möglichkeit einer anfangslosen Wechselreihe heraufbeschworen wird. Wenn aber die Wechselreihe einen ersten Anfang gehabt haben muss, wie erkannt, dann kann sie keine notwendige Verkettung von notwendigen Ursache-Wirkungsfolgen sein, dann muss, und das ist jetzt die überraschende, aber zwingende Erkenntnis, dann muss sie an jedem Punkt frei – wenn auch etwa mehr oder weniger streng regelhaft – bewirkt und hervorgebracht worden sein. Damit würde jeder Werdeprozess, sowohl der rein psychische als auch das Werden der Natur auf Freiheit, eventuell auf mehr oder weniger geregelter Freiheit beruhen. Noch einmal: Die Annahme einer anfangslosen, real und damit durchlaufen unendlichen Weltzeit ist dann unvermeidbar, wenn angenommen wird, dass ein Wechselglied in der Ursachen-Wirkungs157 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Fundament: Leiden und Freiheit
kette notwendig von einer vorangegangenen Ursache, die wieder die Wirkung einer vorangegangenen Ursache und dies ad infinitum ist, hervorgebracht wurde. Notwendige Ursachenverknüpfung und anfangslose Unendlichkeit bedingen sich gegenseitig. Ist aber die eine, nämlich die anfangslose Unendlichkeit in sich unmöglich, muss es die andere auch sein. Und so folgt mit streng logischer Notwendigkeit: Wenn es ein Werden, eine Wechselreihe, also zeitverbundenes Entstehen und Vergehen gibt, was ohne Selbstwiderspruch nicht geleugnet werden kann, da schon diese Leugnung einen Werdevorgang darstellt, dann muss dieses Werden endlich sein bzw. einen allerersten Anfang haben, dem kein anderes Werden vorhergegangen sein kann, was wiederum notwendig impliziert, dass dieses Werden nicht notwendig erfolgte, weil es sonst anfangslos wäre, und also nicht anders als durch ein freies Kausalwirken, und zwar an jedem Punkt zustande gekommen ist. 19 Mit diesem Beweis ist aller deterministische Naturalismus widerlegt: Die Welt ist ein Geschehen aus Freiheit, und es gilt, dass Kausalität aus Notwendigkeit, wie dies die neuzeitliche Wissenschaft generell fasst, ein selbstwidersprüchliches Konstrukt ist, das mit der Erfahrung des zeitlichen Werdens und dem Durchdenken von dessen wesentlichen Seinsvoraussetzungen unvereinbar ist. Kausalität ist nur in und aus Freiheit möglich, was allerdings Regelhaftigkeit bzw. Gesetzlichkeit nicht ausschließt, sondern im Falle bewusster und gereifter Freiheit sogar einschließt. An diesem Punkt helfen die früheren Erkenntnisse weiter: Freiheit, so hatte sich gezeigt, ist – diesseits der Unterscheidungen Freiheit von/Freiheit zu und innere Freiheit/äußere Freiheit – als offenes Selbstbestimmen mit sehender Selbstergreifung und Selbstannahme identisch und darum wesenhaft mit Selbstbewusstsein verbunden. Freiheit ohne Bewusstsein ist unmöglich. Daraus folgt, dass das WeltKausalitätswirken aus Freiheit ist demnach keineswegs identisch mit Zufallswirken. Die Kausalität wird mit der Einsicht in ihr Freiheitswesen keineswegs aufgehoben, wie viele Philosophen und Wissenschaftler meinen; sie wird auch nicht willkürlich, da sie frei geregelt, sogar gesetzlich geregelt sein kann. Gesetz und Freiheit schließen sich ebenfalls nicht, wie I. Kant meinte, gegenseitig aus. Das metaphysische Kausalprinzip, wonach etwas, das entsteht, nicht von nichts kommen kann, bleibt voll erhalten, nur seine Gleichsetzung mit dem transitiven Kausalgedanken, wonach der frühere, zeitlich vorangehende Weltzustand den folgenden nicht nur bedinge und gesetzlich mitgestalte, sondern vollständig hervorbringe, wird abgewiesen und als inkonsistent erkannt.
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Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden
werden das Werk bewusster Freiheit ist. Wie aber genau? Mindestens so, dass darin Leiden möglich ist. Das aber ist nur der Fall, wenn diese Freiheit nicht unendlich, sondern endlich, begrenzt und verletzbar ist, woraus folgt, dass all jene Wirkfaktoren, Wirkgründe und dynamischen Ursachen, die das Weltgeschehen bewirken, nicht göttlicher, sondern geschöpflicher Natur sind und sein müssen, d. h. zwar geistige Wirkkräfte darstellen, die frei wirken, aber wesenhaft zeitlich agieren und damit beschränkt sind. Ungeklärt ist nach all dem die Frage, wie die als nur endlich mögliche Weltwechselreihe begonnen hat. Soviel ist sicher: Von rein nichts kann sie nicht kommen, da sonst das Nichts ein Sein wäre, sogar ein weltschöpferisches, dauernd die Welt tragendes und nährendes Sein. Wovon dann? Von sich selbst kann das als Ganzes anfängliche Weltsein nicht gekommen sein, da etwas, das nicht ist, sich nicht erzeugen kann. Woher dann?
2.4. Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden Der Seinsgrund der anfänglich-werdenden Welt kann aus logischen Gründen erstens nur ein Sein und kein Nichts sein und darf zweitens kein Sein sein, das dem Werden unterworfen ist, da sonst der infinite Regress der anfangslosen Wechselreihe droht. Ein werdeloses Sein ist aber notwendig ein anfangsloses, zumindest in Hinsicht der Dauer ein unendliches Wesen, das keinen Anfang, damit auch kein Ende hat, da nur ein werdendes Wesen zu einem Ende gelangen kann. Diese Einsicht zwingt zur definitiven Abweisung einer temporalistischen Ewigkeit, wie sie etwa A. Kreiner 20 vertritt, d. h. eines anfangslosendlos sich entwickelnden Urseins und damit generell zur Ausschließung eines veränderlichen Urseins. 21 Daraus wie A. Kreiner den Siehe A. Kreiner (2005, 166 ff.). Ähnlich lehrt dies Aristoteles in Bezug auf den Kosmos – und entgegen Platon – in seiner »Physik«, Buch VIII, Proömium. 21 Der Beweis lässt sich auch folgendermaßen führen: Wenn das Absolute anfangsloszeitlich ist, dann hat es sich bis zum Heute durch real-unendlich viel Zeit hindurch vollzogen. Etwas Real-Unendliches, ob als Zeit oder sonst etwas, ist aber weder endlich-finit, andernfalls hätte es einen ersten Anfang, noch potentialunendlich, sprich endlich-endlos, sondern hat ein Unendliches aktualisiert. Damit ist es in dieser Hinsicht nicht erweiterbar, vermehrbar, vergrößerbar, weil es andernfalls nicht real-unendlich wäre. Da auf das Heute ein Morgen bzw. auf das Gestern das Heute folgt, ist 20
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
Schluss zu ziehen, ein unveränderliches Sein könne nicht wirken, sich und anderes nicht bestimmen, etwa auch nicht denken, wollen, fühlen usw., ist voreilig. Im Gegenteil lässt sich zeigen, dass nur ein zeitlos-unveränderliches Sein urfrei und unbegrenzt agieren kann, sprich in seinem Seinsrang alles zugleich, allerdings gemäß einer inneren sinnorientierten Seinsordnung bestimmt, so dass sich seine Wirkungen, das Insgesamt der Welt, im endlichen Seinsrang zeitlich-nacheinander entfalten. 22 Doch bevor dies geklärt wird, fragt sich, ob dieses zeitlos-ewig dauernde Ursein auch seinem Seinsgehalt nach unendlich ist. Denkbar wäre immerhin ein wandelloses, rein zeitlos dauerndes, aber endliches Sein. Von solch einem Sein wäre gewiss, dass es undynamisch, unaktiv und unkreativ wäre, da es als dynamisches über seine endlichen Grenzen müsste hinauswirken können. Da die zeitliche Welt als zeitliche wesenhaft dynamisch ist und von echter Aktivität zeugt und da dieselbe Welt, wie gesehen, in jenem zeitlos-anfangslos-ewigen Sein gründet und von diesem letztlich bzw. in seinen Grundlagen erzeugt wurde, folgt notwendig, dass dieses Ursein eben-
die zeitlich werdende Welt bzw. die angenommen zeitliche Gottheit doch erweiterbar, vermehrbar und kann nicht real-unendlich sein. Ist sie aber nicht real-unendlich, hat sie keine unendliche Zeit durchschritten, sondern hat mit einem ersten Anfang, vor dem nichts Zeitliches war, begonnen. Entweder ist also die werdende Gottheit zeitlich, dann auch begonnen oder sie ist unzeitlich, dann auch unbegonnen und damit unveränderlich. Hat sie aber begonnen, kann sie nicht göttlich sein, sondern bedarf eines weiteren Seinsgrundes, der sie ermöglicht. Eine werdend-anfangslose Welt ist also so unmöglich wie eine werdend-anfangslose Gottheit. Alles Anfangslose ist notwendig ganz, total, in jeder Hinsicht aktual, schon allein deswegen, weil an das Anfangslose nichts angesetzt und angestückelt werden kann. Als werdende ist damit die Welt notwendig nicht-ganz, unfertig, wesenhaft nicht real-unendlich, a-total, also notwendig anfänglich. Das Anfangende kann nicht total und rein aktual sein, sondern beginnt und muss von Anderem ermöglicht worden sein. Was aber von Anderem ermöglicht wird, kann nicht von selbst bestehen und kann nicht absolut bzw. Gott sein, sondern ist kontingent. Vgl. dazu ähnlich Thomas v. Aquin (1985, 3./7./9./10. Untersuchung: »Summe der Theologie«). 22 Da die zeitlich-sukzessive Welt in ihrer Totalität im Bewusstsein des frei Absoluten, also der Gottheit repräsentiert sein muss, diese Repräsentation jedoch nicht zeitlich erfolgen kann, muss die Sukzessivität der Welt bzw. die Aufeinanderfolge ihrer Ereignisse anders im Absoluten dargestellt sein. Dies geschieht dadurch, dass jedes Ereignis der Welt in ihm (Gott) eine Art Index erhält, aus dem hervorgeht, wo es steht, welches sein Vorgängerereignis und welches sein Nachfolgeereignis in der Welt ist. Das gelingt am adäquatesten durch die natürlichen Zahlen, die unendlich viele sind und die Stelle eines Ereignisses eindeutig angeben.
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Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden
falls dynamisch, aktiv, wirkend und schaffend ist, nur nicht in werdender Weise. Gleichzeitig wurde erkannt, dass es frei, nämlich urfrei ist, da es als anfangsloses Sein von nichts anderem bedingt sein kann, und dass es als freies, das sich selbst ergreift und selbst bestimmt, wesenhaft bewusst ist. Aus all dem folgt, dass das Ursein zeitlos-ewig und in dieser Dauer frei, bewusst und, weil es wenigstens die Grundlagen der Welt erschafft, wirkmächtig ist. Ein wirkmächtiges Wesen kann jedoch unmöglich endlich sein, mindestens ist es potentialunendlich, insofern jedes dynamische Wirken über ein endlich Gegebenes hinauswirken können muss, da es sonst nicht wirkfähig wäre. Im Falle des anfangslosen Urseins zeigte sich aber, dass diese Wirkmächtigkeit nicht zeitgebunden ist, also nicht potentialunendlich ist, sondern eine ewige Dauer muss füllen können. So liegt auf der Hand, dass nur ein unendlicher Inhalt, eine unendliche Wirkkraft diese ewige Dauer füllen kann, und so folgt, dass dieses Ursein urreich und an Seinsgehalt realunendlich ist. Da dieser Gehalt, wie erkannt, in nichts anderem besteht als in bewusster Freiheit, also in einer anfangslosen, von nichts anderem bestimmten Selbstbestimmungsfähigkeit, folgt, dass der Seinsgehalt dieses Urseins Geist, reiner Geist, sprich freies Selbstbewusstsein und damit wesenhaft Person ist. 23 Hier setzt eine moderne Kritik an, die behauptet, dass eine Person unmöglich zeitlos-unendlich sein könne, da sie nicht in der Lage wäre, »eine Beziehung zu zeitlich existierenden Dingen und Personen herzustellen. Sie wäre demzufolge auch nicht in der Lage dazu, andere Personen zu lieben oder auf irgendeine Weise auf deren Handlungen zu reagieren.« 24 Das ist zu menschlich gedacht und verkennt, dass der unendliche Seinsrang des personalen Urseins alle Zeit umfasst, trägt, ermöglicht und in ihren Grundlagen bewirkt. 25 Das Umgekehrte gilt: Ein unendliches und zugleich aktives Sein kann nur Person sein, da es ausschließlich als frei-bewusstes gedacht werden kann, und außerdem kann nur ein aktualunendliches Geist- und BewusstVgl. ähnlich Thomas v. Aquin (1985: »Summe der Theologie«, 14. und 19. Untersuchung). 24 Siehe A. Kreiner (2005, 169); ähnlich D. A. Pailin (1989) und P. Davies (1986). Schon Plotin und J. G. Fichte verwarfen einen persönlichen Gott zugunsten einer überpersönlichen Gottheit. 25 Über die Repräsentation zeitlichen Geschehens im zeitlosen Bewusstsein Gottes siehe Fußnote 22. 23
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
seinswesen die potentialunendliche Welt umfassen, erkennen und lieben. Im Übrigen gibt es im menschlichen Bereich diesbezügliche Analogien, so etwa im Falle, in dem Wolfgang Amadeus Mozart berichtet, dass er eine ganze Symphonie gleichzeitig hören könne, obwohl sie sich in der Zeit sukzessiv abspielt. 26 Wenn all dies gilt und wenn, wie erkannt, außerdem gilt, dass alles freie Selbstbestimmen eine bestimmbare Seinsoffenheit impliziert, weil sonst ein Selbstbestimmen unmöglich wäre, das Ursein sich aber mindestens zum Erschaffen der werdenden Welt selbst bestimmt hat, dann gilt notwendig, dass das Ursein alle seine Bestimmungen sich selbst gegeben hat, mithin in seinem innersten Kern reine bestimmungsoffene Unbestimmtheit ist. Das aber ist nicht nur Freiheit, sondern absolute Freiheit. Im Ursein und allein in ihm besteht ein solches Sein, das – durch nichts anderes bestimmt – sich selbst alle seinsmöglichen Bestimmungen gibt und darum urfrei im Sinne von uroffen, von absolut unbestimmt, aber absolut selbstbestimmbar ist und sich in einem zeitlosen, absolut aktualen Selbstergreifungsakt selbst total bestimmt, »festlegt«, durchgestaltet und vollendet. 27 Damit ist klar geworden, dass das anfangslose Ursein als der notwendig anzunehmende Grund, sprich als tätige Ursache des werdenden Weltseins erstens in seinem Seinsgehalt nur unendlich, zweitens in seinem Seinsgehalt Geist, genauer: selbstbewusster, freier Geist, also Person und drittens als Person nur uraktiv, urdynamisch, Zur Kritik an der Unveränderlichkeit und Ewigkeit und zum Erweis der Personalität des Urseins vergleiche B. v. Brandenstein (1966, VI., 427–525: »Gott«). Im Übrigen verstricken sich die Vertreter einer »temporalistischen Ewigkeit« (C. Th. Fechner, A. Kreiner, H. Jonas) in einen selten gesehenen Selbstwiderspruch: Da sie einerseits davon ausgehen, dass das vergängliche Weltsein kontingent ist, also prinzipiell nicht oder anders sein könnte, sie andererseits von der Anfangslosigkeit, also der zeitlichen Unendlichkeit des Weltseins bzw. der zeitlichen Gottheit ausgehen, welche Anfangslosigkeit die Kontingenz ausschließt und mit der Notwendigkeit der Existenz und des Soseins einer ewigen Welt-Gottheit einhergeht – denn das Anfangslose hätte nicht anders beginnen können, da es nie begann –, geraten sie in eine Aporie, die eine der beiden Aussagen als unhaltbar abstempelt. 27 Es ist interessant, dass J.-P. Sartre (1973, 11 ff.) die menschliche Freiheit genauso bestimmt, nämlich als reine wesenlose Freiheit, die sich ihr Sosein (Wesen, Essenz) selbst gibt, ohne jede Vorgabe und damit an die Stelle der Gottheit tritt. Diese Gefahr der Vergöttlichung bzw. Selbstvergottung des Menschen ist typisch für das neuzeitliche Subjektdenken, das im Werk G. W. F. Hegels seinen unüberbietbaren Höhepunkt erreicht und bei Sartre seinen Niedergang erfährt. M. Heidegger versucht dann, vom Subjektdenken völlig wegzukommen. 26
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Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden
urschöpferisch, also unendlich reiche, grenzenlos schöpferische Person sein kann. 28 Kann solch ein Wesen leiden? Und wo ist die Stelle des Leidens auf dem Hintergrund dieser Ontologie? Würde nur dieses Ursein existieren, könnte kein Leiden sein, denn Leiden, das zeigte seine Wesensanalyse, ist notwendig an Zeit gebunden. Außerdem impliziert ein jegliches Leiden ein Betroffensein, ein Erleiden, also die Möglichkeit, Objekt eines Widerfahrnisses zu sein. Das ist im Falle des Urseins, das, wie gesehen, nur selbstbestimmbar ist, unmöglich. Schließlich wurde aufgezeigt, dass Leiden ohne Mangel, Zwiespalt, Beschränkung und Ohnmacht nicht bestehen kann, sondern durch diese innere Strukturvielfalt bestimmt ist. Alle diese Momente können im zeitlos-unbeschränkten und seinsvollkommenen Ursein nicht vorkommen und so gibt es dort kein Leiden. Damit erübrigen sich an dieser Stelle alle jene Lehren, die das absolut-göttliche Sein an ein Werden, an Endliches oder an irgendetwas Unfertiges, Unvollendetes, Dunkles oder Mangelhaftes binden, also z. B. gewisse gnostische Lehren, die Weltanschauung der Manichäer (mit ihrem absoluten Gegengott »Ahriman«) oder auch die Philosophien F. W. J. Schellings, 29 G. W. F. Hegels, C. Th. Fechners, Ed. Hartmanns und H. Bergsons, des Prozesstheologen A. N. Whitehead (1979), die Religionsphilosophie N. Berdjajews (1950), die GottesIn Nachfolge von J. Böhme bezeichnet N. Berdjajew (1949, 150 ff.) den göttlichen Urgrund als Ungrund, was besagen soll, dass die Gottheit kein Sein hat, sondern reine »vorseiende« Freiheit, Urfreiheit ist. Es ist klar, dass »Sein« hier nur im weltlichen, abkünftigen und statischen Sinne gemeint sein kann, da die Freiheit als Modus eines geistigen Vollzuges nicht vollständig seinslos sein kann, sondern ein vollzughaftes Sein, hier als Ursein voraussetzt, das sich frei ergreift und so sich und evtl. Weiteres bestimmt, also durchaus dynamisch, allerdings zeitlos dynamisch ist. Freiheit ist nur als Modus eines Seins möglich, nicht als Modus von nichts. Immerhin aber sieht N. Berdjajew, dass dieses Ursein nicht vor der freien Selbstbestimmung Gottes bestimmt gewesen sein kann, daher unbestimmt sein muss. Mir scheint, dass er das unter »Ungrund« versteht. Da Gott in sich diesen Ungrund sogleich selbst vollständig bestimmt, verbleibt in ihm nicht, wie bei J. Böhme, F. W. J. Schelling und Ed. Hartmann, etwas Dunkles, Unfertig-Werdendes, »Naturhaftes« oder gar ein »Finstergrund.« 29 »In uns sind zwei Prinzipe, ein bewusstloses, dunkles, und ein bewusstes. Der Prozess unsrer Selbstbildung … besteht darin, das in uns bewusstlos Vorhandene zum Bewusstsein zu erheben, das angeborne Dunkel in uns in das Licht zu erheben, mit einem Wort zur Klarheit zu gelangen. Dasselbe in Gott. Das Dunkel geht vor ihm her, die Klarheit bricht erst aus der Nacht seines Wesens hervor« (1811, VII, 431–433: »Stuttgarter Privatvorlesungen«). Eine ausführliche und konzise Darstellung der schellingschen Übellehre und Theodizee bietet F. Billicsich (1952, 294–332). 28
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
lehre von H. Jonas (1994) 30 und vieler Theosophen (J. Böhme, R. Steiner?). 31 In analoger Weise wäre Leiden unmöglich, wenn es zwar über das göttliche Sein hinaus noch ein Weltsein geben würde, dieses aber entweder völlig statisch, endlich, fertig oder, wenn auch prozesshaftwerdend, so doch in jeder Hinsicht und jedem Detail direkt von Gott bewirkt wäre. Im ersten Fall könnte kein Leiden sein, weil dasselbe ohne einen dynamischen Mangel, der dadurch dynamisch ist, dass er nicht sein soll, sprich durch ein werdendes Streben transzendiert wird, unmöglich ist; im zweiten Fall wäre Leiden unmöglich, weil eine direkt und in jeder Hinsicht von Gott bewirkte Welt mangellos sein müsste. Beiden Fällen fehlt schließlich das entscheidende Prinzip H. Jonas (1994) vertritt einen solchen Gottesbegriff in seinem, von ihm selbst so genannten »kosmogonischen Mythos«: Gott sei einerseits allgütig und allwissend, andererseits ohnmächtig und erleide insofern seine Schöpfung, als er sich ihr ausliefere und in sie so übergehe, dass der Mensch für ihn und die Schöpfung verantwortlich werde. Nicht mehr Gott sorgt sich um seine Geschöpfe, sondern diese sorgen sich um ihn. Diese Idee, die man schon in der Philosophie C. Th. Fechners finden kann, hat er nachweislich aus seinen Studien (2008) über die Gnosis, d. h. die nichtchristliche Gnosis im Sinne des Gnostizismus, gewonnen, die einen guten überweltlichen Gott lehrt – den Gott des Neuen Testamentes –, der dem in der Welt wirkenden bösen Schöpfergott des Alten Testamentes, dem Demiurgen, ausgeliefert ist. Vgl. die diesbezügliche Kritik von F. Wetz (2001, 135–147): »Abschied von Gott, Anmerkungen zu Hans Jonas und Hans Blumenberg«. Umgekehrt hält es dagegen N. Hoerster (2017, 119–124), der meint, dass Gott, wenn es ihn denn gäbe, zwar allmächtig und allwissend, aber nicht allgütig sein könne, sondern, wie er sagt, sogar »allböse« (!). Beide Standpunkte lassen sich mit der Analyse des Wesens Gottes und seines Planes in Bezug auf seine Schöpfung nicht vereinbaren. 31 Religionsgeschichtlich betrachtet, knüpfen alle theogonischen Philosophien an der altorientalisch-nichtisraelitischen, z. B. babylonischen Vorstellung einer werdenden Götterwelt an, die einer ewig-ungeschaffenen Naturmaterie, mit der sich der Hochgott verbindet, entspringt. Was J. Böhme betrifft, kommt seine Lehre, die systematisch allerdings nicht durchgebildet ist, am ehesten einem Panentheismus gleich, der sich, wenn auch anders, bei Meister Eckhart, B. de Spinoza, K. C. F. Krause und vielen anderen findet. Vgl. dazu F. Billicsich (1952, 52). Im Übrigen lehrt auch die nichtchristliche Gnosis, hier dem Meister Eckhart gleich, dass im Menschen ein überweltlich-göttlicher Funke, das »pneuma«, wenn auch verborgen und verdeckt, lebt, das erweckt werden kann und muss. Das Ziel liegt daher nicht wie im Falle des Manichäismus in einem ewigen dualistischen Kampf zweier Hochgötter, sondern in der Wiedervereinigung mit dem welttranszendenten guten Gott. So birgt diese Lehre, die vom Christentum einseitig herabgesetzt wurde, neben manchen Abwegigkeiten ihrer überbordenden Phantastik zweifellos eine Fülle tiefer spiritueller Weisheiten, die mit dem wahren Christentum vereinbar sind und nicht verloren gegeben werden dürfen (zur positiven Würdigung der Gnosis vgl. A. Grube, 2006). 30
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Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden
des Leidens, nämlich ein Wesen, das beschränkt und angreifbar und doch selbstaktiv, also partiell frei ist. Ein allmächtiger Gott, der entweder eine endlich-fertige Welt erzeugt oder eine werdende Welt schafft, in der kein eigenständig-freihandelndes Wirkprinzip vorkommt, weil er alles selbst wirkt und nur zu seinem unfreien Spielzeug hat, ein solcher Gott schließt die Möglichkeit des Leidens definitiv aus. Daraus folgt zwingend, dass nur dann in einer Welt Leiden möglich ist, wenn darin ein eigenständiges, allerdings nicht-göttliches Wirkprinzip, also endliche, genauer, potentialunendliche Freiheit existiert. 32
Wer das Leiden als Tatsache nicht leugnet, anerkennt die Existenz von endlicher Freiheit und damit die innerweltliche Existenz eines über Gott hinausgehenden eigenständigen, frei und selbständig handelnden Wirkprinzips. Diesen Fall meinen die Menschen für gewöhnlich für sich in Anspruch nehmen zu dürfen: Denn zumindest sich selbst erleben sie als eigenständig wirkfähige Wesen, doch oft erahnen sie solche Geistprinzipien auch in oder »hinter« der Natur, wo sie auf naiver Kulturstufe als Götter, Dämonen, Geister und Ahnen gefasst werden. Wer also fragt, warum es im Angesicht eines vollkommenen Gottes überhaupt Leiden gibt, der muss sich fragen, warum Gott eine Welt mit Freiheit und Selbstwirksamkeit einer Welt ohne Freiheit vorzieht.
Die Antwort liegt auf der Hand: Eine Welt, in der Wesen agieren, die selbst entscheiden, handeln und eigenschöpferisch wirken, obschon beschränkt und verletzbar, ist unvergleichlich reicher, lebendiger und wertvoller als eine Welt, die entweder völlig statisch-fertig, also tot ist oder die zwar bewegt, aber nur wie eine passiv-bewegte, dann ebenfalls tote, weil in keiner Weise selbstaktiv-innerliche Marionette funktioniert. Auch die keineswegs seltene Behauptung, ein Gott, der ein selbstmächtiges Wesen schaffe, sei nicht allmächtig, löst sich auf diesem Hintergrund auf: Denn worin bekundet sich eine größere Wirksamkeit und Leistungskraft – im Erschaffen einer passiven, leblosen Marionette oder im Erschaffen eines selbständigen, selbstbewussten, sich und seine Welt beschränkt-frei gestaltenden Lebewesens? Recht betrachtet, hat man es hier mit einem unauslotbaren Wunder zu tun: 32
Analoges gilt für das Böse. Vgl. R. Safranski (2008).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
mit der Erscheinung eines Geistwesens, eines zur Freiheit und Selbstbewusstheit, zur Verantwortung und Liebe begabten und berufenen Wesens. Wie gewaltig muss der Wirkgrund, der solches vermag, gedacht werden? Und welch unabsehbar freie, gelassene und große Souveränität beweist dieses Ursein, dass es sich nicht scheut, einem Weltwesen in solchem Maße Eigenständigkeit, Freiheit und Selbstwirksamkeit zu überlassen? Nur ein ängstlich-kleinlicher Tyrann, ein dostojewskijscher Großinquisitor, der um seine Machtfülle bangt, würde davor zurückschrecken und sich aus Sicherheitsgründen auf solch ein Unternehmen nicht einlassen. Da erkannt wurde, dass das Ursein unendliches, freies Selbstbestimmen ist, hat sich auch schon seine Allmacht erwiesen. Allmacht bedeutet nun aber keineswegs, wie oft, z. B. von Augustinus (?), J. Calvin, N. Malebranche, B. de Spinoza, manchen islamischen Theologen und auch von H. Zahrnt 33 irrtümlich behauptet wird, Allwirksamkeit bzw. Allursächlichkeit, die per se eine jede geschöpfliche, also auch eine jede menschliche Freiheit ausschließt. Das Leiden beweist das Gegenteil: Wo ein Wesen leiden kann, kann es auch wirken, zumindest dadurch, dass es sich als Leidendes vollzieht, und damit ist es wenigstens partiell frei, partiell eigenständig und selbstmächtig wirksam. Gott tritt hierbei keine Macht ab, wie man zunächst meinen könnte, sondern er verleiht Macht, wenn auch beschränkt. Allerdings tritt sein Wille in den Hintergrund und
Vgl. H. Zahrnt (1985, 75 ff.). Wie nicht wenige große Denker meint auch H. Zahrnt in seiner »Hiobschrift«, dass Gott die unmittelbare Ursache von Leid, Not und Grausamkeit sei, und dennoch will er am allgütigen Gott festhalten, der »gegen alles, was den Menschen kaputt macht, sei« (1985, 76). Ein eklatanter Selbstwiderspruch, der das gute Gottesbild – wie G. Streminger richtig sieht (siehe die Einleitung dieser Arbeit) – zerstören und verdüstern muss. Zudem übergeht H. Zahrnt, dass der Gott Hiobs eben gerade nicht direkt das lebensfeindliche und ungerechte Übel bewirkt, sondern dies Satan überlässt, der zur Prüfung von Hiobs Gottestreue in den Dienst der göttlichen Planung genommen wird. In Wahrheit entsteht kein Widerspruch, wenn Gott in seiner Allmacht Macht abgibt, also nicht allwirksam ist. Indirekt bleibt er zwar mitverantwortlich für das Übel und Böse in der Welt, doch kann es eine sinnhafte bzw. sinnvolle Funktion erhalten, die es nicht haben würde, wenn Gott seine unmittelbare Ursache wäre. Bei J. Calvin ergibt sich das Allwirksamkeitsproblem im Rahmen seiner freiheitsausschließenden Prädestinationslehre, bei manchen islamischen Theologen im Rahmen der Kismet- bzw. Schicksalslehre, bei B. de Spinoza in seiner Ein-Substanzlehre. Zu den islamischen Theologen gehören die so genannten Kalamisten (Mutakallimun) im 10. und 11. Jahrhundert. Vgl. Windelband-Heimsoeth (1957, 266).
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Die Freiheit als Urgrund des Seins und sein Bezug zum Leiden
nimmt indirekte, freilassende und anderweitig bestimmende, z. B. tragende, belebende, unterstützende, weitreichend fügende, wohl auch warnende, mahnende und hemmende Formen an. Seine Macht bleibt unbeschränkt, sie wird nur geheimnisvoller, verhüllt sich und wirkt eher gewährend als diktatorisch. Das aber ist nicht Ausdruck von Schwäche, sondern von Liebe, Güte und unendlicher Souveränität – Zeichen einer unendlichen Verinnerlichung von Macht, die die Welt nicht von außen zwingen, sondern von innen überzeugen und so zu sich hinziehen will. Wie wichtig der Unterschied zwischen Allmacht und Allwirksamkeit ist, beweist die geistesgeschichtliche Reaktion, die A. Camus 34 als »metaphysische Revolte der Söhne Kains« bezeichnet. Zwar tritt sie zu allen Zeiten in Erscheinung, häuft sich aber besonders, was gewiss kein Zufall ist, im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Bei diesen »Verdammten« handelt es sich um Gotteslästerer, die sich gegen einen Gott auflehnen, der anscheinend nicht genug kriegt, seine Schöpfung mit Abscheulichkeiten zu überhäufen. Da das Theorem der Allwirksamkeit impliziert, dass Gott für die Fehlerhaftigkeit der Schöpfung und die Bosheit der Menschen direkt verantwortlich ist, muss er selbst schlecht, böse, grausam und abscheulich sein, was verständlicherweise Empörung und Ablehnung provoziert. Am grellsten kommt diese Rebellion in den Dichtungen der »poètes maudits« zum Ausdruck, angefangen mit dem Marquis de Sade, weitergeführt von der »schwarzen Romantik«, von Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, Friedrich Nietzsche, Iwan Karamasow, Emile Cioran, um schließlich in Lautréamonts gewaltigen »Chants de Maldoror« (1869) ihren Höhepunkt zu erreichen. Statt diese im Grunde hochherzigen, von Mitleid und Gerechtigkeit gepeinigten Aufrührer zu bekämpfen und als »verflucht« zu disqualifizieren, ist es angebracht, das Gottesbild zu korrigieren und die Idee der – Gott meist naiverweise zugesprochenen – Totalwirksamkeit aufzugeben. Das kann nur durch die Vertiefung in Gottes Wesen und in die dynamisch-polare Struktur der Schöpfung gelingen.
Vgl. A. Camus (1974 b, 22–83): »Wer voll wahren Mitleids ist, für den ist kein Heil möglich« (49).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
2.5. Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem Da als fundamentale, allerdings nicht zureichende Bedingung der Möglichkeit des Leidens die Freiheit in zweierlei Gestalt, im ersten Seinsrang der Gottheit als unbeschränkte Urfreiheit und im zweiten Seinsrang des geschöpflichen Geistes als beschränkte Freiheit erkannt wurde, und da die Freiheit zu den bedeutungsvollsten und schwierigsten Problemen der theoretischen Vernunft gehört, ist es ratsam, sich mit ihr weiter zu beschäftigen. Zuerst ist zu fragen, ob die Freiheit auf anderen als den bisher beschrittenen Wegen erwiesen werden kann, etwa indem andere Urtatsachen als die Veränderung bzw. die Zeit ins Auge gefasst werden. Fast noch fundamentaler als die Zeiterfahrung bzw. als Wechsel und Wandel der Wirklichkeit ist das Selbsterleben: Mir ist unleugbar gewiss, dass ich als Erlebender bin. Das ist der berühmte Satz des Selbstbewusstseins, der dem »Cogito« des R. Descartes 35 zugrunde liegt. Negativ formuliert lautet er: »Ich kann mich nicht als Nichterlebenden denken« bzw. »Ich kann erlebend nicht über mein Erleben hinauskommen.« 36 Hier liegt eine durch keine Leugnung aufhebbare Erfahrungsgrundlage vor, von der aus das Freiheitsproblem erörtert werden kann. Die Frage lautet: Was impliziert Erleben als Erleben, Bewusstsein als Bewusstsein? Die Antwort heißt: Erleben ist nur als aktives, eigentätiges und intentionales möglich, denn würde ein erlebendes Wesen in seinem Erleben vollständig fremdvollzogen, würde es nicht sich selbst erleben können, die Meinhaftigkeit könnte sich nicht konstituieren; und wäre es nicht intentional, hätte es keinen Inhalt. Nichts erleben ist aber identisch mit nicht erleben. Sicherfahren, Sichspüren, Sichannehmen und Sichwissen implizieren daher notwendig einen selbstgetätigten und auf sich selbst gerichteten Selbstbezug, ein Sichselbstberühren, Sichselbstergreifen, Sichselbstfassen (»self-affection«). Das ist wiederum nur möglich, wenn mein Sein derart beschaffen ist, dass es erstens anzielbar (intentionabel), zweitens berührbar und drittens aus eigener Initiative erreichbar ist. Das heißt, ein erlebendes Wesen ist wesenhaft sowohl bestimmungsoffen Vgl. R. Descartes (1960: »2. Meditation«). Wie man dennoch praktisch und theoretisch über das eigene Erleben hinauskommt, zeigt B. v. Brandenstein (1965 a, 174–180) in seinem Aufsatz »Über die Transzendierbarkeit des Bewusstseins«.
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Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem
und damit wenigstens partiell unbestimmt als auch zugleich bestimmungsfähig, und zwar nicht nur passiv von Anderem, sondern durch sich selbst. Das ist, wie erkannt, das Wesen der Freiheit, ihr Kern. Ergo: Wer anerkennt, dass in diesem Universum Wesen existieren, die erleben, d. h. etwas – nämlich anderes oder sich selbst – gewahren und bewusst haben können, der anerkennt notwendig die Existenz von Freiheit. Eine andere Ausgangstatsache für den Freiheitserweis bietet das Werden, genauer, das spontane und eigentätige Werden in der Welt, das den Pflanzen, Tieren und Menschen unterstellt wird, das sich aber auch in spontanen physikalischen Ereignissen, z. B. den Quantenvorgängen, dem Kommen und Gehen von Gluonen, im »Zufall« von radioaktiven Zerfallsprozessen usw. findet. Die Freiheit ließe sich in diesen Geschehnissen nur dadurch abstreiten, dass ihnen das eigentätige Werden, sprich die Autopoiesis abgestritten wird. Prozessualität, die sich im Zeitverlauf selbst autopoietisch formt, steuert und gestalthaft zusammenfasst, wie das heute die meisten Wissenschaftler annehmen, so z. B. in einem Organismus, die muss partiell frei sein, andernfalls ist sie nicht autopoietisch, selbstgestaltend, selbstwerdend. Nimmt man ihr diese Freiheit, nimmt man ihr auch die Autopoiesis und müsste sie, wenn man nicht in einen infiniten Regress geraten will, als das alleinige und direkte Werk der zeitlosen Freiheit des Urseins, also Gottes zuschreiben. 37 Dagegen sprechen viele Erfahrungstatsachen, z. B. die Zeitlichkeit, Unvollkommenheit, Störbarkeit, Konfliktuosität, Versuch und Irrtum, Krankheit, Degeneration, Fehlanpassung u. v. a. m. in der kosmischen Evolution. Wie im Abschnitt über das Leiden in der Natur gezeigt wird, spricht vieles Gerade in den modernen Naturwissenschaften gehört die Idee der Selbstorganisation der kosmischen, physikalischen und biologischen Prozesse zum theoretischen Grundbestand, der sowohl im Falle der Annahme eines anfangslosen Weltalls, das den infiniten Regress impliziert, als auch im Falle der Annahme einer Selbstverursachung zu wissenschaftlichen Inkonsistenzen führt. Den meisten Wissenschaftlern ist nicht bewusst, dass die Autopoiesis wesenhaft Freiheit, sprich aktive Selbstbestimmung impliziert. Vgl. zum Thema »Selbstorganisation« E. Jantsch (1982, 25 ff.), der am Ende seines Buches (411) die auf allen Seinsebenen aufgedeckte Selbstorganisationsdynamik mit »Sinn und Geist« gleichsetzt, und also damit doch wohl Freiheit unterstellt. Darüber hinaus sieht er im Stufenbau der Wirklichkeit eine Zunahme der Freiheit bzw. des freien Gestaltungsspielraums des Weltgeschehens. Hierin stimmt er mit der Wirklichkeitssicht von G. W. F. Hegel, N. Hartmann, H. Jonas, B. v. Brandenstein, R. L. Fetz, aber auch mit vielen Evolutionstheoretikern wie F. A. Kipp, P. Overhage usw. überein.
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dafür, dass das kosmische Werden nicht das unmittelbare Werk des Urseins Gottes ist, sondern das Werk ermächtigter endlicher, eben geschöpflicher Freiheit. In jedem Fall gilt: Wer im Kosmos, gleich auf welcher Differenzierungsstufe, ein eigenständiges Wirken am Werk sieht, das nicht nur bzw. nicht direkt auf das Ursein zurückgeht, der setzt endliche Freiheit voraus. Im Hinblick auf die Freiheitsproblematik ist das Phänomen des Gedächtnisses, das vielen Lebewesen zugeschrieben wird, interessant und aufschlussreich. Denn hier gelingt es einem Wesen, sich von dem unmittelbaren physischen Zeitgeschehen zu distanzieren, sich darüber zu erheben und es in seinem eigenen Erleben zeitübergreifend zusammenzufassen: Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges bestehen in gewisser Hinsicht zugleich, aus dem Fluss der Zeit herausgehoben. Das ist nicht anders möglich als durch eine Herauslösung, also eine »Freiheit von« im Sinne der Emanzipation vom physischen In-der-Welt-Sein bzw. ein Nein-Sagen und Nein-Tun, wie das M. Scheler 38 und J.-P. Sartre 39 herausgearbeitet haben. Eine solche »Freiheit von« impliziert aber, wenn sie von dem betroffenen Wesen selbst ausgeht, eine »Freiheit zu«, also aktives Selbstbestimmen und damit eine »Freiheit in sich«. Diese Freiheit ist zwar, da zeitverbunden, keine totale, aber doch eine relative, beschränkte Freiheit. Darüber hinaus zeigt diese Fähigkeit zur erinnernden Zeitzusammenfassung an, dass solche Wesen ihr Sein noch aus einer anderen als der welthaft-natürlichen, rein sukzessiven Dimension speisen, nämlich aus einer geistigen Welt, die synthetisch zeitlich Disparates zusammenzufassen vermag. Denn indem sie in ihrem inneren Tun die Welt präsentieren und repräsentieren, geben sie ihr eine zweite Heimstatt, einen »Weltinnenraum«, wie R. M. Rilke 40 sagt. Von diesen Freiheitsbeweisen sind die Freiheitshinweise zu unterscheiden: Sie beziehen sich auf die bekannten moralischen PhänoVgl. M. Scheler (1947, 51 ff.). Vgl. J.-P. Sartre (1994). 40 Siehe R. M. Rilke, August 1914, München, Das Inselschiff 8 (1927): Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. – Ins kosmisch Spirituelle gewendet, findet sich dieser Gedanke z. B. bei Angelus Silesius (»Mensch! Alles liebet dich; um dich ist sehr Gedrange/Es läuft dir alles zu, dass es zu Gott gelange«) und bei Meister Eckhart (»So soll der gute Mensch alle Dinge hinauftragen zu Gott, in ihren ersten Ursprung«). 38 39
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Weitere Freiheitsbeweise und das Kausalproblem
mene des Wertbewusstseins, der Wertdifferenzerfassung von Gut und Böse, des sittlichen Entscheidungs- und Wahlerlebnisses, des Rechtsbewusstseins, der Zurechnungsfähigkeit und des Verantwortungsbewusstseins für die Folgen der eigenen Handlung. Wer die Freiheit für nicht existent hält, muss diese Phänomene für Illusionen erklären und hat dann nachzuweisen, was diese Illusionen bedeuten und warum sie zustande kommen. Wissenschaftstheoretisch ist es immer fragwürdig, eine hartnäckige und konstante Realität wie etwa das Verantwortungs- und Schuldbewusstsein rein auf Täuschung zurückzuführen. Über allen diesen Einsichten darf das wichtigste Ergebnis dieser Kapitel nicht aus den Augen verloren werden: – –
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Erstens ist die Freiheit die Modalität des Seinsurgrundes, das heißt, das Sein ist im Urstand in sich selbst frei; und zweitens begründet die Freiheit das erste Kausalverhältnis, nämlich das zwischen dem Seinsurgrund der Gottheit und der Welt. Darüber hinaus hat drittens der Beweis der Unmöglichkeit der anfangslosen Wechselreihe gezeigt, dass auch innerweltlich nur eine Kausalität, die Kausalität aus Freiheit, möglich ist. Denn jedes andere Kausalitätsmodell, sowohl die naturalistisch-physikalische, transitiv von Ursache zu Wirkung zwangsläufig hindurchgehende Kausalität als auch die immanente Kausalität, bei der die Ursache notwendig in der Wirkung lebt, laufen auf die Annahme einer anfangslosen, als seinsunmöglich erwiesenen Wechselreihe hinaus. 41
Aus all dem folgt, dass das gesamte Weltgeschehen bzw. die kosmische Evolution das Werk frei wirkender Kräfte ist, die als freie nur geistig gedacht werden können. Das klingt für moderne Ohren befremdlich, ist aber das streng logisch ermittelte, mit rational gegebenen Gründen belegte Ergebnis einer philosophisch zu den fundamentalen Voraussetzungen der Wirklichkeit vorgedrungenen Analyse und keineswegs bloße Mythologie, obwohl die alten Mythen, Von den bekannten vier Ursachenformen des Aristoteles in »Physik«, Buch II, 3 ist, sachlich gesehen, nur die causa effizienz wirkmächtig bzw. hervorbringend im echten und vollen Sinne, während die Materialursache, die Form- und die Zweckursache die Bedingungen und Instrumente eines Wirkens sind, aber nicht selber unmittelbar wirken. Das gilt nicht für Aristoteles und seine Anhänger, die in der Forma (Eidos) eine echt wirkende Kraft und in der causa effizienz nur eine »Anstoßursache« sehen.
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
wenn auch auf naive und meist bizarre Weise, diesen Kausalzusammenhang aus Freiheit erahnten. 42
2.6. I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung Wie im Fall der Zeitproblematik muss im Falle der Freiheitsfrage die Position I. Kants zur Prüfung werden, da er in seiner dritten Antinomie in der »Kritik der reinen Vernunft« (1781) meint, beweisen zu können, dass die Freiheitsfrage rational unlösbar sei. 43 Den Hauptgrund sieht I. Kant darin, dass das Denken hier in ein intellektuelles Dilemma gerate, das sowohl die Notwendigkeit der Freiheit als auch ihre Unmöglichkeit zu beweisen vermöge. Er sagt dort: 44 »Thesis: Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig. Beweis: Man nehme an: es gebe keine andere Kausalität, als nach Gesetzen der Natur, so setzt alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt. Nun muss aber der vorige Zustand selbst etwas sein, was geschehen ist (in der Zeit geworden, da es vorher nicht war), weil, wenn es jederzeit gewesen wäre, seine Folge auch nicht allererst entstanden, sondern immer gewesen sein würde. Also ist die Kausalität der Ursache, durch welche etwas geschieht, selbst etwas Geschehenes, welches nach dem Gesetze der Natur wiederum einen vorigen Zustand und dessen Kausalität, dieser aber ebenso einen noch älteren voraussetzt usw. Wenn also alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es jederzeit nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen. Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: dass ohne hinreichende apriori bestimmte Ursache nichts geschehe. Also widerspricht der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Naturgesetzen möglich sei, sich selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit, und diese kann also nicht als die einzige angenommen werden. Diesemnach muss eine Kausalität angenommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne dass die Ursache davon noch weiter durch eine andere vorhergehende Ursache nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d. i. eine absolute SponVgl. B. v. Brandenstein (1966, Bd. 3, 67–85: »Das Problem der Kausalität«; 107– 128: »Die Kraft«; 143–153: »Das Problem der Willensfreiheit«). 43 Steckt nicht schon in der Aussage, dass etwas rational hergeleitet bzw. bewiesen werden soll, was rational unlösbar ist, eine Ungereimtheit? 44 Siehe I. Kant (Werke, II, 2011, 426 ff.). 42
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I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung
taneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist.«
Die Argumentation scheint trotz ihrer sprachlichen Umständlichkeit stichhaltig zu sein. Vereinfacht lautet sie: Wenn ein Naturzustand entstanden ist – und das sind alle Naturzustände, insofern sie zeitlich sind –, und seine einzige und zureichende Ursache ein gesetzlich vorangegangener Naturzustand ist, dann bildet sich auf diese Weise notwendig eine unendliche, weil anfangslose Kette von Ursache-Wirkungen. Eine solche wäre in Hinsicht ihrer Ursächlichkeit unvollständig, wie I. Kant sagt, da eine erste Ursache fehlte bzw. überhaupt keine echte, d. h. aus sich selbst wirkende, Ursache in dieser Reihe vorhanden wäre. Ohne eine solche »hinreichend apriori bestimmte Ursache« kann jedoch nichts geschehen, und also ist die Annahme reiner Gesetzesursächlichkeit, in der das Weltwirken von einer Wirkung zur nächsten transitiv-notwendig bzw. magisch wie von selbst übergeht, selbstwidersprüchlich. Ergänzen lässt sich diese Argumentation für den Fall, dass die anfangslose, unendliche Ursache-Wirkungskette ohne inneren Gesetzeszusammenhang, also etwa nur »zufällig« oder probabilistisch abrollt, da auch in diesem »ordnungslosen« Fall die »hinreichend apriori bestimmte Ursache« fehlt. Wie lautet demgegenüber die Antithese? »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur. Beweis: Es gebe eine Freiheit im transzendentalen Verstande, als eine besondere Art von Kausalität, nach welcher die Begebenheit der Welt erfolgen könnte, nämlich ein Vermögen, einen Zustand, mithin, auch eine Reihe von Folgen desselben schlechthin anzufangen, so wird nicht allein eine Reihe durch diese Spontaneität, sondern die Bestimmung dieser Spontaneität selbst zur Hervorbringung der Reihe, d. i. die Kausalität wird schlechthin anfangen, so dass nichts vorhergeht, wodurch diese geschehende Handlung nach beständigen Gesetzen bestimmt sei. Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch erster Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d. i. auf keine Weise daraus erfolgt. Also ist die transzendentale Freiheit dem Kausalgesetze entgegen und eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender Ursachen, nach welcher keine Einheit der Erfahrung möglich ist, die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird, mithin ein leeres Gedankending. Wir haben also nichts als Natur, in welcher
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
wir den Zusammenhang und die Ordnung der Weltbegebenheiten suchen müssen. Die Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln. Denn man kann nicht sagen: dass, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese nach Gesetzen bestimmt wäre, so wäre sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anderes als Natur. Natur also und transzendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit, davon jene zwar den Verstand mit der Schwierigkeit belästigt, die Abstammung der Begebenheiten in der Reihe der Ursachen immer höher hinauf zu suchen, weil die Kausalität an ihnen jederzeit bedingt ist, aber zur Schadloshaltung durchgängige und gesetzmäßige Einheit der Erfahrung verspricht, dahingegen das Blendwerk von Freiheit zwar dem forschenden Verstande in der Kette der Ursachen Ruhe verheißt, indem sie ihn zu einer unbedingten Kausalität führet, die von selbst zu handeln anhebt, die aber, da sie selbst blind ist, den Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist.« 45
Das Erste, was auffällt, ist, dass diese Antithese (wie die erste Antithese) komplizierter als ihre Thesis ist und konstruiert anmutet. Das liegt daran, dass sich darin zwei voneinander unabhängige Argumentationsketten verflechten. Der eine Diskurs reicht bis »wodurch diese geschehende Handlung nach beständigen Gesetzen bestimmt sei«, wird dann von einem neuen Diskurs unterbrochen und setzt dann wieder ein mit dem Satz »Die Freiheit (Unabhängigkeit), von den Gesetzen […]« Im zweiten Argumentationsgang arbeitet I. Kant mit dem Argument der »beständigen Gesetze«, den »Gesetzen der Natur«, die er offensichtlich deterministisch verstanden haben will und mit Freiheit unvereinbar hält. Im ersten Argumentationsgang arbeitet I. Kant dagegen mit dem Problem des Zusammenhangs von Handlung und noch nicht handelnder, dann handelnder Ursache und behauptet – ohne Begründung! –, dass zwischen beiden »gar kein Zusammenhang der Kausalität« bestehen könne. Mit der Analyse des zweiten, für I. Kant wohl wichtigeren Argumentationsganges soll der Anfang gemacht werden – was ist darauf zu sagen? Zunächst ist zu fragen, ob sich »Gesetze der Natur« und »Freiheit« apriori voneinander ausschließen? »Reißt der Leitfaden der Regeln« notwendig ab, wenn Freiheit ins Spiel kommt, wie
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Siehe I. Kant (Werke, II, 2011, 427 ff.).
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I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung
I. Kant behauptet? Und ist Freiheit, wie er ebenfalls hinstellt, »selbst blind«? Das sind die Fragen, die I. Kants Text dem Leser aufdrängt. Aus der biografischen, vielleicht etwas legendenhaften Sicht war I. Kant selbst die schlagendste Widerlegung dieser Antithesis. Im Zentrum seines Lebens und seiner vorwiegend ethisch-praktischen Philosophie stand die bestimmte Selbstgesetzgebung des freien Willens, der zwar soll und nicht muss, dabei aber trotzdem gesetzmäßig handeln kann. Wenn I. Kant aus frei-konsequenter Lebensführung heraus seinen Spaziergang so pünktlich absolvierte, dass – der Anekdote nach – die Königsberger ihre Uhren nach seinem Vorbeikommen stellen konnten, dann lief dieser Vorgang, etwa vom Mars aus betrachtet, äußerlich genauso ab wie ein periodisch wiederkehrender Naturprozess: Ein x langer, y breiter, z hoher Körper durchmisst in t Zeiten eine bestimmte s Strecke mit v Geschwindigkeit, jeweils nach 24 Stunden wiederkehrend, wobei die mit Buchstaben angegebenen Größen annähernd gleich bleiben. Wenn also ein freier Akt von den früheren freien Akten und Zuständen der freien Ursache auch nicht in der Weise abhängt, dass er notwendig und ursächlich aus ihnen folgt, sondern jeder von derselben freien Ursache, einem Ich, einem persönlichen Subjekt frei gesetzt wird, so kann diese den Akten gemeinsame freie, persönliche Ursache die Reihe ihrer aufeinander folgenden, nacheinander gesetzten Akte dennoch in einer regelhaften, gesetzmäßigen Ordnung setzen und diese Ordnung frei-konsequent einhalten: Hierauf gründet sich jede ethisch-psychische Selbsterziehung. Die positiv handlungsfähige Freiheit muss sich daher keineswegs vom Leitfaden aller Regeln entblößen. Und andererseits wird sie durch ihre selbstgesetzten und befolgten Regeln mitnichten zur unfreien Natur. Schließlich ist die Freiheit nicht blind, sondern der freie Vollzug einer bewusst wollenden, urteilenden und handelnden Ursache. Dass eine solche in der vormenschlichen Natur als transzendente Ursache der Naturerscheinungen unmöglich wäre, ist nicht nur nicht von I. Kant bewiesen worden, sondern im Gegenteil: Im Beweis der Thesis der Antinomie hat I. Kant die Notwendigkeit ihrer Annahme dargelegt und diese im »Beweis« der Antithesis keineswegs widerlegt. Wo liegt der Fehler? Einerseits unterstellt I. Kant apriori und ohne allen Beweis, dass »Gesetze der Natur« notwendig deterministische, eindeutig-zwangsmäßig festgesetzte Regeln seien, was folgerichtig Freiheit ausschlösse; andererseits interpretiert er Freiheit apriori und ohne allen Erweis als notwendig gesetzlos bzw. regellos, setzt sie also mit Willkür 175 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Fundament: Leiden und Freiheit
gleich. Das gilt aber keineswegs notwendig, kann doch Freiheit, wie I. Kant mit seinem Leben und Werk selbst bewies, sehr wohl gesetzmäßig bzw. frei regelhaft sein (bis zur Altersstarrheit), ohne jemals deterministisch zu werden. Dass Freiheit blind sei, ist auf dem Hintergrund der Intelligibilitätslehre von I. Kants Freiheitsphilosophie vollends widersprüchlich, hat er doch selbst stets betont, dass nur ein freies Wesen »sehender«, geistiger Natur ist. 46 Schließlich zeigt die heutige Physik, so vor allem im Felde der Quantenmechanik, dass die Gesetze der Natur nicht deterministisch festgelegt gedacht werden müssen, sondern als mehr oder weniger schwankende, um eine Idealgröße oszillierende Regeln aufgefasst werden können. Das aber verträgt sich bestens mit geistigen Naturursachen, die die Naturgebilde – Felder, Atome, Moleküle, Organismen – schaffen und formen. Richtig an I. Kants Kausalitätstheorie ist (und das gilt gegen D. Hume), dass jedes entstehende Ding unmöglich von nichts oder von sich selbst verursacht ins Sein kommt und daher notwendig eine Wirkursache als realen Seinsgrund voraussetzt. Diese Notwendigkeit ist aber nicht logisch umkehrbar, so dass die Ursache, wie I. Kant mit der Naturwissenschaft der Neuzeit denkt, notwendig ihre Wirkung hervorbringen müsse und in ihre Wirkung notwendig übergehe. Das ist erweisbar falsch und kann nicht ungeprüft vorausgesetzt werden. Da ein notwendiger Kausalnexus im Sinne I. Kants zur Annahme einer anfangslosen Wechselreihe führt, die bereits als unmöglich erkannt wurde, ist jener Nexus sachlich widersprüchlich und damit denk- und seinsunmöglich: Der Kausalnexus kann nur ein freier, wenn auch etwa mehr oder weniger frei-geregelter Wirkungszusammenhang sein. Wie steht es zum Schluss mit dem ersten Argumentationsgang in I. Kants Antithesis? I. Kant sagt: »Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch handelnder erster Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d. i. auf keine Weise daraus erfolgt. Also ist die transzendentale Freiheit dem Kausalgesetze entgegen, und eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender Ur-
Siehe I. Kant (Werke, IV, 2011, 82 ff.): »Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden.«
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I. Kants Freiheitsantinomie und ihre Aufhebung
sachen, nach welcher keine Einheit der Erfahrung möglich ist, die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird, mithin ein leeres Gedankending.« 47
Was ist hierzu zu sagen? Zunächst fragt man sich, warum der Zustand einer noch nicht handelnden Ursache mit der aus ihr folgenden Handlung »keinen Zusammenhang der Kausalität« haben solle? Auch wenn der Zusammenhang bei Voraussetzung der freien Bewirktheit der Handlung seitens der intelligiblen Ursache nicht deterministischer Natur ist, und eine Handlung nicht, wie I. Kant richtig sieht, naturnotwendig aus einer vorangegangenen Handlung bzw. einem vorangegangenen Zustand des Subjektes folgt, so liegt dennoch ein Zusammenhang vor und kann in der inneren Anschauung erfahren werden. Man denke sich den Fall, dass sich ein Mensch energiegeladen fühlt, sich entscheidet, einen Waldlauf zu machen, weil die Sonne so herrlich scheint, und dann losläuft. Steht dieses Laufen in keinem »kausalen Zusammenhang« mit seinem Anfangszustand? Gewiss doch. Der Mensch selbst ist die Causa, er selbst mit seiner Befindlichkeit, Vitalität und Lust, im Wald zu laufen. Kausaler Zusammenhang also allemal, nur nicht zwangsläufig, blind und deterministisch, sondern seelisch-motiviert und auf freier Entscheidung basierend. Solche Freiheit ist nicht der Kausalität überhaupt, wie I. Kant behauptet, sondern nur der deterministisch-transitiven Kausalität entgegen, diese allerdings ist ausgeschlossen, aber die Kausalität aufgrund von Motivation, freiem Entschluss und Tat, die einen inneren Zusammenhang konstituiert, keineswegs. Nicht anders verhält es sich mit I. Kants Behauptung, dass die Einheit der Erfahrung nur durch das deterministische Kausalgesetz garantiert werden könne. Selbst- und Fremderfahrung beweisen das Gegenteil: Selbst das relativ regellose Verhalten der Menschen statuiert Einheit der Erfahrung, weil die Verhaltungen eines Menschen aus ein und derselben Person kommen und weil ihre Verhaltungen in der Regel sinnhaft mit ihrem Charakter, ihren Absichten, ihrer Lebensgeschichte, ihren Aufgaben, ihren Möglichkeiten und mit dem Kontext der realen Umgebung verbunden sind. Nicht nur Notwendigkeit konstituiert Einheit der Erfahrung, sondern auch mehr oder weniger motivierte, beanspruchte, selbst- und fremdgeregelte Freiheit, klassisch etwa im Straßenverkehr oder bei einem Spiel. Die
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Siehe I. Kant (Werke, I, 2011, 429).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
Folgerung I. Kants, »wir haben also nichts als Natur«, womit er blinde, deterministische Naturabläufe meint, wird in der Antithesis nicht von ihm bewiesen, im Gegenteil nur dogmatisch gesetzt und ist sachlich unhaltbar. Ergo: Die Kausalität der Natur kann nur Ausdruck des Wirkens freier Ursachen sein, die ihre Wirkungen frei-geregelt zu nie ganz starr festgelegten, sondern um Idealwerte schwingenden, »probabilistischen« Naturgesetzen verbinden.
2.7. Das Verhältnis von endlichem und unendlichem Sein: die Unmöglichkeit des metaphysischen Finitismus Die Wissenschaftlichkeit des hier entwickelten Ansatzes gebietet es, das bisher gewonnene Ergebnis anderen Seinsentwürfen von Bedeutung gegenüberzustellen. Am Anfang möge jene Metaphysik stehen, die das Sein radikal endlich bzw. finit denkt, eine Anschauung, die erst im 19. und 20. Jahrhundert dominant wurde und etwa von Denkern wie K. Marx, 48 M. Heidegger 49 und J.-P. Sartre vertreten wurde. Wie steht es damit? Ist sie haltbar? Schon allein die Tatsache, dass das dem Menschen zugängliche kosmische Sein im Werden begriffen ist, widerlegt den ontologischen Finitismus, da ein rein endliches Sein endlich, also fertig, mithin nicht entwicklungsfähig, nicht werdefähig ist, strebt doch Werdendes über den je erreichten letzten endlichen, also finiten Zustand hinaus. Immerhin kann behauptet werden, dass solch ein werdendes Sein nicht nur von nichts kommt, sondern in nichts vergeht, womit es sich dann als endgültig finit erwiese. Wäh-
Vgl. K. Marx (1974, Bd. 1, 201 ff.). Vgl. M. Heidegger (1979). Der »späte« M. Heidegger entwickelt seit den 30er Jahren des 20sten Jahrhunderts eine Ontologie, die nicht mehr rein finit, nicht rein »todesgezeichnet« ist, sondern mit dem Begriff des »Unerschöpflichen« zu einer transfiniten Ontologie übergeht. Zwar anerkennt er nicht die Möglichkeit eines unzeitlichewigen, also eines aktualunendlichen Seins (aU), aber doch ein unerschöpfliches, also potentialunendliches Sein (pU) an. Allerdings behauptet er es nur und erweist es nicht, zeigt also nicht die »Bedingungen der Möglichkeit« seiner Wirklichkeit auf. Auch stellt er sich nicht dem Problem, wie ein pU-Wesen, das er dem Menschen zuspricht, sterben kann und muss. Bald soll erwiesen werden, dass ein pU-Sein nur durch ein aU-Sein ermöglicht werden kann und in seinem Kern unvergänglich ist. Denn alles echt Unerschöpfliche verfügt notwendig über einen überendlichen Seinsinhalt und ist daher wesenhaft unvergänglich.
48 49
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Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos
rend J.-P. Sartre 50 in dieser Hinsicht eindeutig ist, bleibt M. Heidegger in diesem Punkt unklar und mehrdeutig (vgl. Fußnote 49). Was diese Ontologie scheitern lässt, sind folgende Implikate: Sie muss erstens das Nichts zu einem Seinsquell erklären; zweitens kann sie die dynamische und damit »bewegende«, »schaffende« Werdeund Wandelpotenz des angeblich so nichtigen Seins nicht erklären; und drittens kann sie nicht aufweisen, dass wirklich alles Sein im Nichts endet – sie behauptet das nur. Da ein radikal endliches Sein, das nicht seit Ewigkeiten wandellos da war, sondern das entstand und dem Wandel unterworfen ist, weder von sich noch von nichts stammen kann, muss es von etwas herkommen bzw. erzeugt worden sein, das nicht nichts und selbst nicht radikal endlich ist. Wäre die Ursache des finiten Seins wieder nur endlich, müsste wieder ein endliches Sein als Ursache angenommen werden und das so ins Unendliche fort. Dies aber bewiese, dass auch die finite Ontologie ohne die Annahme eines Unendlichen, hier als unendliche Reihe von Endlichem, nicht auskommt, dass also jedes endliche Sein notwendig und unausweichlich in ein unendliches Sein eingebettet ist. Da erkannt wurde, dass eine unendlich-anfangslose Wechselreihe unmöglich ist, bleibt kein anderer Ausweg als die Annahme eines nichtwandelbaren Unendlichen, also eines echt Unendlichen. Damit ist der ontologische Finitismus widerlegt, und es lässt sich festhalten, dass er logisch wie sachlich unmöglich ist. Auch der Nihilismus erweist sich damit als ontologisch-logische Unmöglichkeit.
2.8. Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos: die Unmöglichkeit sowohl des metaphysischen Monismus als auch des metaphysischen Dualismus Ein Ansatz, der das unendliche Sein nicht leugnet, aber das endlichwandelbare Sein als realen Teil des unendlichen Seins erklärt, liegt bei allen monistischen Philosophien vor. Er tritt in verschiedenen Varianten auf, angefangen beim radikalen Monismus, der wie im Falle des Parmenides das endlich-werdende Sein zum Schein degradiert, über den gemäßigten Monismus, der im Sinne des Pantheismus bzw. Panentheismus das endlich-werdende Sein als realen Bestandteil des unendlichen Seins deutet – so bei Averroes, M. Eckhart, 50
Vgl. J.-P. Sartre (1997, 1055 ff.).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
K. C. F. Krause, 51 F. W. J. Schelling, G. W. F. Hegel, M. Scheler, W. Hellpach, H. Küng, W. Thiede, A. Grabner-Haider, E. Jantsch –, bis zu jenem Monismus, der das werdende Sein als Ausströmung bzw. Emanation des Urseins, das sich bis zum Fastnichts der toten Materie hinab entäußert (Gnosis, Neuplatonismus, Kabbala), versteht. 52 Diese Vgl. B. P. Göcke (2012), der die aktuellste Übersicht und Zusammenfassung zu Leben und Werk von K. C. F. Krause gibt und belegen kann, dass A. Schopenhauer viele seiner Ideen übernommen hat. 52 Mit dem Endlich-Werdenden wird auch das Mangelhafte, Disparate, Dunkle, Suchende, Triebhaft-Unfreie, evtl. sogar das Böse bzw. dessen Ermöglichung zum echten Bestandteil des Göttlichen gemacht, so etwa bei J. Böhme, K. C. F. Krause, A. Schopenhauer, F. W. J. Schelling, Ed. Hartmann, N. Berdjajew (1950, 80) und C. G. Jung. Bei F. W. J. Schelling ist das Böse zwar nicht direkt in Gott aktuiert, aber durch das »Reale«, die »Natur« oder den »Ungrund« in Gott, d. h. durch seinen dunkel-sehnsüchtigen, triebhaft-zwielichtigen oder, wie er sagt, »wilden« Ungrund, angelegt. Dieses »Real-Naturhafte« wird als das kontraktive Prinzip in Gott durch das »Ideal-Geistige«, das als expansives Prinzip mit Vernunft und Liebe identisch ist, »gezähmt«, gelichtet und dadurch unschädlich gehalten. Das wirklich Böse deutet F. W. J. Schelling (1995, 64 ff.) als bewusste Abkehr des menschlichen Geistes bzw. seiner »Natur« oder »Selbstheit« vom Urgrund bzw. als die Kontraktion des menschlichen Willens im Sinne seines eigensüchtigen Egos auf Kosten des Liebesprinzips. Richtig an dieser Sicht F. W. J. Schellings ist, dass der göttliche Urgrund nicht nur Vernunft oder Ratio, sondern auch Wille ist, womit F. W. J. Schelling – nach der Bemerkung M. Heideggers – die intellektualistische Einseitigkeit des abendländisch-griechischen Denkens überwindet. Doch erstens ist dieser Wille nicht, wie F. W. J. Schelling meint, mit der unbewussten, »schlummernden« Natur identisch; zweitens ist er keineswegs irrational, sondern nur arational, aber wesenhaft mit Vernunft verbunden; und drittens ist er nicht werdend, suchend, wild und »sehnsüchtig«, wie F. W. J. Schelling meint, sondern unendliche, durch den Logos völlig erhellte Kraft, gute Kraft und reine allmächtige Güte, nicht im Geringsten potential oder potentialer Ungrund des Bösen. Hier projiziert F. W. J. Schelling – in exzeptionell-originaler Weise – das tief und wahr gesehene Wesen des potentialunendlichen Menschen – der wirklich und immer einen unausschöpfbaren dunkel-zwielichtig-unabschließbar-sehnsüchtigen, noch unbestimmten und wild-ungezähmten »Ungrund« hat – in die Gottheit hinein. Immerhin sieht F. W. J. Schelling wieder tief, dass im Menschen wohl weniger der Intellekt die Sünde, d. h. die (willenskräftige) Abkehr von Gott, bewirkt, sondern der Wille, die Kraft zur Selbstbestimmung und »Kontraktion«. Im Gegensatz zu all dem verlegt C. G. Jung tatsächlich das Böse, das echt Böse, also das Gemeine und Sadistische in Gott, zumal in den Gott des Alten Testamentes, wobei nie ganz klar wird, ob er mit »Gott« nur den innerseelischen Archetyp oder die Realität »Gott« meint bzw. ob der psychische Archetyp eine transzendentale, vorkulturell-allgemeine Vernunftstruktur oder ein kulturelles, zeitbedingtes Gebilde ist (vgl. dazu seine Schrift »Antwort auf Hiob«). Eine beeindruckende künstlerische Manifestation der Schellingschen Theo- und Anthroposophie findet man, wohl unbeabsichtigt, in dem Grimmschen Märchen »Der Mond«, besonders in der musikalischen Umsetzung von Carl Orff, und in absichtsvoll-bewusster Weise im dramatisch-lyri51
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Das Ursein als Grund und Quell des Kosmos
Monismen können sich entweder idealistisch wie bei F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel oder materialistisch wie bei K. Marx und bei den modernen Evolutionisten ausformen, monistisch sind sie beide, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Während der materialistische Monismus allerdings eher zur finitistischen Ontologie neigt, geht der idealistische eher von einem infiniten Sein aus, das sich irgendwie verendlicht. Wie man sich zu diesen Ontologien zu stellen habe, ist bereits durch den Wechselreihenbeweis entschieden: Erstens ist das zeitliche Seinsgeschehen nicht nur Schein, sondern aufgrund seines Dynamismus und seiner Wirkmächtigkeit sehr real, genauer, unerschöpflich seinsvoll; 53 und zweitens verdankt es sich im letzten Grund einem zeitlos-ewigen und gehaltlich unendlichen Sein, das zugleich anfangs- und werdelos in sich besteht und vollendet ist. Als solches kann es nicht in ein Werden übergehen, kann, wie Parmenides 54 sah, weder zunehmen noch abnehmen, und also kann es sich nicht verzeitlichen und verendlichen. Insofern das endliche Sein nicht als realer Teil aus dem Unendlichen hervorgeht, wird es demnach von diesem in einem zeitlos-unendlichen und wesentlich willentlichgeistigen Akt sich als ein echt Anderes und nicht als unendlicher Teil von sich gegenübergesetzt. Im menschlichen Leben kann man etwas Ähnlichem begegnen: Wenn sich mein Ich Gedanken, Phantasien, Erinnerungen, Vorstellungen, Bilder, Wünsche und Entschlüsse bildet, dann handelt es sich hier nicht um reale Ichteile, sondern um gegenständlich-dinghafte Wirkungen, die sich das ungegenständliche Ich in ungegenständlichen Akten gegenübersetzt, eben als echt Anderes, das wesentlich passiv, dinglich, gegenständlich, bewusstlos, also im Seinsrang wesenhaft tiefer steht als das aktive, selbstbewusste Ich. Analog verhält es sich bei Gott: Er setzt nicht Teile aus sich heraus, sondern Wirkungen, die im Seinsrang unendlich unter ihm stehen, eben Realitäten sind, die nicht ewig bestehen, sondern entstehen und zeitlich verfasst schen Gesamtwerk Friedrich Hebbels, der die Philosophie F. W. J. Schellings, aber auch L. Feuerbachs und G. H. Schuberts zur geistigen Folie seines Schaffens nahm. Vgl. dazu W. Liepe (1963, 139–382). Ausführlich zu F. W. J. Schelling siehe die tief schürfenden Studien von H. Fuhrmans (1965, 9 ff.), L. van Bladel (1965) und W. R. Corti (1965) – alle drei in »Schelling-Studien« (1965). 53 Was nichts erklären würde, da ein zeitlich sich vollziehender Schein nicht nichts, sondern etwas ist. 54 Vgl. Parmenides (1981, 11 f.).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
sind. Nur so ist ein Wirken möglich, das nicht den Wechselreihenbeweis verletzt. Damit sind alle Monismen, die das endliche im unendlichen Sein aufheben bzw. direkt aus dem unendlichen Sein als dessen realen Teil hervorgehen lassen, widerlegt. Nicht anders ergeht es allen Formen des radikalen Dualismus, der zwei ursprünglich gleichhohe Seinsprinzipien wie etwa im Manichäismus – den guten Gott Ormuzd und den bösen Gott Ahriman – annimmt. Wenn das Ursein unendlich und zeitlos ist, dann kann es nur ein höchstes Seinsprinzip geben, und was es kausal hervorbringt, kann unmöglich im selben Seinsrang, gleichursprünglich und gleichmächtig sein, sondern muss eine Wirkung darstellen und damit rangtiefer stehen. Entweder ist diese Wirkung selbst ein Subjekt, ein wirkfähiges Prinzip, dann allerdings begonnen, zeitverbunden und beschränkt, oder es ist nur Objekt, ein Ding, das weder geistig noch physisch wirken kann, sondern nur von Anderem – nämlich von einem Subjekt – bewirkt und gehalten wird. 55 Mit dieser Kritik wird eine fundamentale metaphysische Wahrheit sichtbar, der man immer wieder begegnet: Es gibt drei und nur drei mögliche Seinsränge: das rein aktive, in keiner Hinsicht fremdbestimmte Ur- und Nursubjekt (Gott), das fremd- und selbstbestimmte Objekt-Subjekt (den Menschen und alle Zweitursachen) und das rein fremdbestimmte Nur-Objekt. Schon Platon und das Mittelalter kannten diese drei Seinsränge, die später in der Neuzeit vergessen oder verwischt wurden. 56 Noch bei I. Kant lassen sie sich als Gottes Ursein, als die transzendentalen Dinge an sich und als die Phänomene nachweisen; und in Überresten tauchen sie sogar bei M. Heidegger auf, der in »Sein und Zeit« (1927) das reine Sein vom seinsverstehenden Dasein (des Menschen) und von den nur vorhandenen und zuhandenen Dingen unterscheidet. Könnte es physisch wirken, wie das naturwissenschaftliche Kausalmodell annimmt, entstünde ein infiniter Regress, mithin die als unmöglich erwiesene anfangslose Wechselreihe. Folglich gibt es kein rein mechanisches Wirken bloßer Objekte oder Dinge aufeinander, etwa der Dinge mittels Wellen, Druck und Lichtstrahlen auf die Sinnesorgane. Auch hier wird »im Hintergrund« das Wechselwirken wie bei allem Wirken durch geistige, in der Natur wirkfähige Kräfte vermittelt und geführt. 56 Vgl. etwa Thomas v. Aquin in seiner »Summa theologiae« und H. Schell. Letzterer (1896, 402) erkennt, dass das Theodizeeproblem nur dann einer Lösung zugeführt werden kann, wenn Gott nicht Allursächlichkeit zugesprochen und »eine Geisterwelt von beschränkter Weisheit, Macht und Güte« eingeführt wird. Bei der Behandlung der Kausalitätsproblematik werden wir sehen, dass sich nur diese Sicht mit der ontologischen Klärung von Kausalität überhaupt verträgt. 55
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»Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel
Die Einsicht in die dreirangige Wirklichkeit gibt über die Stellung des Leidens in der Welt entscheidenden Aufschluss. Zum einen gilt, dass Leiden nur im zweiten, im geschöpflichen Seinsrang möglich ist, zum anderen muss man feststellen, dass mit dem Menschen eine einzigartige Lebens- und Leidensgestalt in die Welt tritt, weil nur in seinem Fall ein Wesen gegeben ist, das zugleich in den zweiten und dritten Seinsrang gehört und als personalisiertes Leibwesen die innigste Einheit beider Seinsränge darstellt. Vor allem ist zu bemerken, dass ein personaler Geist, der in einem Leib lebt, nicht nur dieses Stück Materie in einzigartiger Weise belebt und durchgeistigt, sondern dadurch auch tiefgreifend eingeschränkt, nämlich echt verendlicht, gewissermaßen »eingesperrt« wird, wie es Platon in seinem Dialog Phaidon und nach ihm viele Denker lehren, und damit allen Unbilden des Weltgeschehens direkt ausgesetzt ist. Nur weil er als Leib und im Leib lebt, kann der Mensch verletzt, krank und verstümmelt werden, er kann sterben, hungern, dürsten, frieren, er muss die leiblichen Triebe ertragen, er kann gemieden, verfolgt, gefoltert, getötet werden – er kann, ja er muss fast leiden. Der Preis für die einzigartige Personalisierung und Vergeistigung eines Stückes der kosmischen Materie ist demnach das Leiden in allen seinen Formen, beginnend bei den einfachsten Lebewesen, endend beim Gottmenschen. Man könnte sagen, jede lebendige Kreatur, vor allem aber die menschliche Geistseele ist auf ihren Leib und somit auf die Welt gekreuzigt mit dem metaphysischen Sinn, auf diese Weise die an sich nicht-innerliche, gleichsam »hohle« und ihrer selbst nicht mächtige Materie unendlich zu verinnerlichen: durch Innerlichkeit, Selbsthabe, Reflexion, Phantasie, Kommunikation und Kulturbildung.
2.9. »Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel An dieser Stelle soll ein »Zwischenspiel« eingeschoben werden, in dem es um einen Gottesbeweis geht, von dem R. Spaemann, 57 der ihn führt, behauptet, er sei »der letzte«. Damit meint er, ohne dies allerdings explizit zu sagen, dass es sich um den einzig noch möglichen Beweis von der Existenz Gottes, der logische Stringenz beanspruchen darf, handelt. Näher betrachtet, schränkt R. Spaemann den Titel seines Buches aber schon im Vorwort erheblich ein und sagt 57
Siehe R. Spaemann (2007).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
»Genau genommen ist ein rationales Argument dafür, etwas zu glauben, nicht dasselbe wie ein Beweis.« (2007, 7).
Dem ist zweifellos beizustimmen. Auf Seite 32 bestätigt er diese Aussage, indem er sagt, bei seinem »Beweis« handele es sich nur um ein Postulat. Mit »Postulat« kann allerdings Verschiedenes gemeint sein. I. Kant, der diesen Begriff an zentraler Stelle seiner Philosophie einführt, versteht darunter einen hypothetischen Rückschluss von einer praktisch-sittlichen Tatsache auf deren transzendental-logische bzw. metaphysische Voraussetzung, ohne deren Annahme jene sittliche Tatsache rätselhaft bleibt und sinnlos wird. Bei jener »Tatsache« handelt es sich um die innere Aufforderung des »kategorischen Imperativs«, das Gute zu tun und die Wahrheit zu achten, worin sich das Sittengesetz und sein Anspruch, ihm unbedingt Folge zu leisten, kundgibt. Voraussetzungen solcher Art nennt I. Kant 58 Postulate der praktischen Vernunft oder »regulative Ideen«. Unter sie zählt er die Freiheit des Menschen, seine Unsterblichkeit und die Existenz Gottes, da erst durch diese drei Bedingungen dem unbedingten Sittengesetz die Stütze im realen Leben gegeben wird. Hypothetisch nennt I. Kant diesen Rückschluss, weil er auf der bloß praktischen, jedoch theoretisch nicht beweisbaren Evidenz des sittlichen Verpflichtungserlebnisses beruht, an das nach I. Kant letztlich nur geglaubt werden kann, während der Rückschluss selbst logisch zwingenden Charakter besitzt. So wäre, wie I. Kant betont, ein Sollen sinnlos, wenn ihm keinerlei Können, also ein freies und wirkfähiges Wollen entsprechen würde. Freiheit wird so zu einem unverzichtbaren Bestandteil des sittlichen Bewusstseins, den man nur bestreiten kann, wenn die sittlichen Wert- und Sollenserfahrungen überhaupt negiert werden. Von solchen praktischen Postulaten müssen die echten, d. h. theoretischen, Postulate unterschieden werden, die deswegen nicht hypothetisch sind, weil erstens ihre Erfahrungsbasis unmittelbar evident ist, weil sie zweitens ohne Selbstwiderspruch nicht geleugnet werden können und weil drittens die Art des Rückschlusses von logisch notwendiger Natur ist. In solchem Falle erhält ein Postulat echt theoretische, eben logisch zwingende Beweiskraft. Die Beweise, die
58
Vgl. I. Kant (Werke, IV, 2011, 252 ff.).
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»Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel
bisher in dieser Arbeit geliefert wurden, sind von dieser Art und dürfen mit den praktischen Postulaten nicht vermengt werden. Wie verhält es sich im Falle der Argumentation von R. Spaemann? Nach seinem eigenen Bekunden handelt es sich um keinen echt theoretischen Beweis, sondern um ein praktisch-religiöses Postulat. Träfe dies zu, würde im Titel seines Buches allerdings mehr angekündigt als eingelöst werden. Das gilt es zu überprüfen. Bevor diese Prüfung erfolgt, ist noch zu klären, ob R. Spaemanns »Beweis« wirklich der einzige ist, der Stichhaltigkeit beanspruchen darf, und ob er so neu ist, wie R. Spaemann behauptet. Beides trifft nachweislich nicht zu. Zum einen gibt es, wie in den Kapiteln 1.13 und 2.1. bis 2.8. gezeigt, andere und konsistentere Beweise, zum anderen geht R. Spaemanns Schlussfigur auf Augustinus zurück, den R. Spaemann m. E. nur variiert. 59 Es verwundert daher, dass Augustinus 60 weder bei R. Spaemann noch im Nachwort von R. Spaemanns Buch beim Mittelalterspezialisten R. Schönberger erwähnt wird. Wie lautet R. Spaemanns Argument? In wenigen Sätzen zusammengefasst, wie folgt: Wenn es Wahrheitsfähigkeit gibt, muss – soll sich diese Wahrheitsfähigkeit realisieren können – Wahrheitserkenntnis möglich sein. Ist diese möglich, gibt es etwas, das unbedingt gilt, eben Wahrheit. Solche Unbedingtheit ermöglicht aber nur ein unbedingtes, kein bedingtes Wesen, also Gott. Oder umgekehrt: Wenn es Gott nicht gibt, dann kann es, da Gott die notwendige Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit ist, keine Wahrheit und damit auch keine Wahrheitsfähigkeit geben. Diesen Schluss zieht R. Spaemann aus der unleugbaren Tatsache, dass der Mensch Person und als Person wesenhaft frei und wahrheitsfähig ist. 61 Die Argumentationskette lautet also, wie folgt: 1.
2.
Der Mensch erlebt sich als Person. Diese empirische Tatsache ist ohne Selbstwiderspruch unbestreitbar, da auch der Versuch der Bestreitung das Personsein impliziert. Als Person hat der Mensch die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen, wenigstens insofern, als er als bewusstes Wesen sich selbst aktiv und gewollt wahrnehmen kann und damit sich als Wahr-
Vgl. J. Hessen (1920). Augustinus führt seinen Beweis in der Schrift »Über die wahre Religion«. 61 Als dritte fundamentale Kennzeichnung des personalen Seins sei neben den beiden genannten die Liebesfähigkeit genannt. Diese trinitarische Struktur, die der Dreieinigkeit Gottes analog ist, bestimmt den Menschen als Ebenbild der Gottheit. 59 60
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
3.
4.
5.
nehmend-Wahrgenommener selbst bestimmt. Selbstbestimmung ist aber nichts anderes als aktiver Vollzug von Freiheit. Als Person hat der Mensch zweitens die Fähigkeit, etwas – wenigstens sich selbst – zu gewahren, also in unmittelbarer Weise wahrzunehmen. Etwas wahrnehmen und erfassen, impliziert Wahrheitsfähigkeit, und Wahrheitsfähigkeit, die sich vollzieht und damit real einen Zusammenhang erkennt, etwa den, dass sich das Erkenntnissubjekt selbst als Wahrnehmend-Wahrgenommenes bestimmt, impliziert notwendig Wahrheit bzw. genauer, Erkenntniswahrheit. Damit aber Wahrheitsfähigkeit möglich ist, muss Wahrheit erkannt werden können, und also ist Wahrheit eine notwendige Voraussetzung von (realisierbarer) Wahrheitsfähigkeit. Da die Wahrheit nur dadurch wahr ist, dass sie gilt, und das heißt, absolut gilt, bedarf es eines absoluten Bewusstseins, das die unbedingt-absolute Geltung der Wahrheit ermöglicht und trägt. Ein solches Bewusstsein nennt man Gott. So R. Spaemann.
Es war Augustinus, 62 der aus dem Wesen der Wahrheit und ihres absoluten Geltungsanspruches die Notwendigkeit eines absoluten Bewusstseins oder Denkens erschloss. Da R. Spaemanns Beweis genau darauf hinausläuft, obgleich mit einem Umweg über die subjektive Wahrheitsfähigkeit, ist er mit dem von Augustinus im Kern identisch. Der Zusatz, den R. Spaemann macht, ist dennoch nicht unbedeutend, da eine unerkennbare Wahrheit (für uns) sinnlos wäre. So betrachtet, ist die Wahrheitsfähigkeit des Menschen tatsächlich eine Bedingung für die absolute Geltungskraft der Wahrheit, aber selbstverständlich nicht an sich, sondern nur insoweit, als sie sich im Menschen manifestiert. Das Grundproblem, ob Wahrheit wirklich besteht und unbedingt gültig ist oder ob sie nur eine Fiktion darstellt, bleibt davon unberührt und muss eigens durchdacht werden. R. Spaemann versucht dies auf zwei Wegen, negativ und positiv. Wer eine Wahrheit oder die Wahrheit überhaupt leugnet, setzt sie voraus und muss sie, um seine Aussage machen zu können, in Anspruch nehmen. Wahrheit kann demnach nie total, sondern höchstens partiell oder lokal negiert werden. Wer z. B. behauptet, dass die Shoah nicht stattgefunden habe, setzt erstens voraus, dass er weiß, Vgl. dazu die Schriften von Augustinus: De Vera Religione, Contra Academicos, Soliloquia und besonders De Libero Arbitrio.
62
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»Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel
was unter Shoah zu verstehen ist, behauptet zweitens, dass sie an der historischen Stelle, wo sie geschehen sein soll, nicht stattgefunden hat, womit drittens vorausgesetzt ist, dass an dieser Stelle etwas anderes stattgefunden haben muss – und also dies historisch »wahr« ist. Noch radikaler formulierte der Sophist Gorgias 63 im Altertum seine Skepsis und leugnete jede Wahrheitsmöglichkeit. Da die Behauptung, es gebe keine Wahrheit, selbst Wahrheitsgeltung beansprucht, hebt sie sich jedoch selbst auf. Gorgias müsste darum, wollte er konsequent sein, schweigen. Der Aufweis der Wahrheitsmöglichkeit ist aber nicht nur durch die Unmöglichkeit ihrer totalen Negation führbar, sondern auch positiv; darauf verweist R. Spaemann mit dem »Futurum exactum« (2007, 31). Hier liegt eine positive Bestätigung der Wahrheit vor: Etwas, was jetzt wahr ist, z. B. dass ich dies hier schreibe, muss auch in der Zukunft, mehr noch: immer und überzeitlich wahr sein, da es sich um ein Faktum handelt. Denn es ergibt keinen nachvollziehbaren Sinn zu behaupten, irgendwann in der Zukunft gelte die Wahrheit, dass ich dies hier jetzt schreibe, nicht bzw. nicht mehr. Was in diesem Fall deutlich wird, ist der Umstand, dass der unbedingte Geltungsanspruch der Wahrheit unzeitlicher bzw. überzeitlicher Natur ist, was nicht nur »ideale Vernunftwahrheiten« (G. W. Leibniz), also mathematische und logische Wahrheiten, sondern auch »Tatsachenwahrheiten« (historische, psychologische und politische Wahrheiten) betrifft. Noch entschiedener drängt sich der überzeitliche Wahrheitsanspruch bei den »idealen«, den logischen, mathematischen und metaphysischen Wahrheiten auf, letztlich weil diese Wahrheiten auf zwingenden Beweisen und auf unmittelbarer Evidenz beruhen. 64 Wer behauptet, die Aussagen »5 + 7 ist gleich 12« oder »Alles, was entsteht, verdankt sich einer hervorbringenden Ursache« seien an das Jahr 2011 oder an seinen Verstand gebunden, verknüpft etwas Unverknüpfbares. Gebunden an 2011 und an seinen Verstand ist nur seine Wahrheitsfähigkeit, die die notwendige Voraussetzung für seine Erkenntnisfähigkeit ist. Persönlich zu erkennen, dass 5 + 7 = 12 ist und
Vgl. Gorgias von Leontinoi in seiner als Fragment überlieferten Schrift »Über das Nichtseiende oder Über die Natur (Perì tou mē´ óntos ē´ Perì phýseōs)«, zitiert bei »Die Vorsokratiker« von W. Capelle (1968, 343 ff.). 64 Mittels der argumentatio ex contrario, der reductio ad absurdum und dem Aufweis der negativen Evidenz. Siehe Propädeutik. 63
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
dass von nichts nichts wird, das ist allerdings vom Erkennenden abhängig. Gäbe es also keine Wahrheit, wäre in der Tat alle echte und damit realisierbare Wahrheitsfähigkeit unmöglich. Gäbe es aber keine Wahrheitsfähigkeit, wäre Erkenntnis unmöglich. Wo jedoch keine Erkenntnis möglich ist, ist Bewusstsein unmöglich, denn Bewusstsein konstituiert sich nur als »Bewusstsein von etwas«, was notwendig Erkenntnis von diesem etwas impliziert. Ohne alles Bewusstsein ist aber Personalität unmöglich. Oder umgekehrt: Wenn sich der Mensch unleugbar als Person erlebt, dann muss er auch prinzipiell erkennen können, wenigstens partiell etwas von sich selbst, und dann gilt alles andere. So R. Spaemann. Wenn einer Wahrheitserkenntnis überzeitlicher Geltungsanspruch zukommt, dann fragt sich im nächsten Schritt, wer diesen Geltungsanspruch garantiert? Da weder die Welt noch die Menschen als Subjekte zeitlos, sondern veränderliche Wesen sind, können weder die Welt noch die Menschen die tragfähige Basis für diese Geltung abgeben. Genau dies war es, was Augustinus 65 (im Anschluss an Platon) erkannt hatte, und genau das betont R. Spaemann und zu Recht. Der Rückschluss kann dann – so diese drei Denker – nur einer sein: Es muss eine zeitlose, genauer, eine ewige Wirklichkeit geben, die den unbestreitbar unbedingten und zeitlosen Geltungsanspruch der Wahrheit ontologisch, sprich seinsmäßig ermöglicht und trägt. Da es bei einer Wahrheit, einer »Geltung« wesenhaft um einen geistigen Zusammenhang geht, muss diese Wirklichkeit »des Geistes« sein, also nicht nur zeitlos, absolut und unbedingt, sondern auch »noetisch«. Diese m. E. unwiderlegliche Einsicht genügt R. Spaemann (und vorher schon Augustin), um daraus die Personalität des Absoluten zu erschließen. Zu Recht? Ich meine nicht. Denn es ist nicht undenkbar, dass diese geistige Wirklichkeit, zumal sie in diesem Zusammenhang aller Dynamik entbehrt, apersonaler Natur ist. Platons und E. Husserls Ideenlehre sind dafür Beispiele. Darum bedarf dieser Beweis der Ergänzung, die darin besteht, aus dem (dynamischen) Werden der
»Hätte ich die Wahrheit erschaffen, dann dürfte ich sagen: meine Wahrheit. Aber die Wahrheit ist nicht meine Wahrheit und ist nicht deine Wahrheit noch die Wahrheit eines Dritten, sie ist unser aller Wahrheit« (»Bekenntnisse«, XII, 25). So folgert Augustinus, dass diese Wahrheiten von einem ewigen, höchsten, unwandelbaren und notwendigen Wesen stammen müssen, von Gott. »Denn Gott ist die Wahrheit.«
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»Der letzte Gottesbeweis«: ein Zwischenspiel
empirischen Welt (inklusive des empirischen Selbsterlebens) den wesenhaften Dynamismus der absoluten Wirklichkeit zu ermitteln. 66 Denn dieser Dynamismus impliziert die Wirkfähigkeit dieser Wirklichkeit, was nichts weniger bedeutet, als dass sie aktiv, selbsttätig, selbstbestimmend und damit frei ist. Sich selbst kann ein Wesen nur dann aktiv bestimmen, wenn es von sich weiß, und also ist ein dynamisches, wirkfähiges Wesen notwendig frei und bewusst, als unbedingtes Wesen notwendig nur selbstbedingt, urfrei und urbewusst. Das sind die Grundbestimmungen von dem, was man Person heißt, die im Falle, dass sie von nichts anderem abhängt, mit Gott identisch ist. Mit dieser Ergänzung wird erreicht, was R. Spaemann vertritt: Ohne Gott keine Wahrheit, ohne Wahrheit keine Wahrheitsfähigkeit, ohne Wahrheits- und damit eingeschlossen Erkenntnisfähigkeit keine Person, ohne Person kein Mensch – ergo existiere ich nicht. Da ich aber zweifellos existiere und wenigstens von mir mit absoluter Gewissheit weiß, also wahrheitsfähig bin, ist es unmöglich, dass es keine Wahrheit und nichts absolut Gültiges gibt. Erkennt man, dass dieses statisch-strukturelle oder »formale« Absolutum auch dynamisch ist, folgt mit Notwendigkeit seine Personalität – und also ist Gott. Oder umgekehrt nach der ursprünglichen erkenntnislogischen Ordnung: Ich bin. Ich bin Mensch. Ich bin veränderliche Person. Ich weiß um mich selbst und bin daher, wie minimal auch immer, erkenntnisfähig. Wenn ich aber wirklich erkenne, dann erkenne ich Wahres, und also bin ich wahrheitsfähig. Bin ich aber wahrheitsfähig und erkenne Wahres, muss es Wahrheit geben, die, weil in sich zeitlos gültig, nicht von mir, sondern nur von Anderem, einem wenigstens geistähnlichen Absolutum ermöglicht und getragen ist. 67 Als solches ist es nicht sofort als Gott zu erkennen, doch kann ein zusätzlicher Diskurs, wie gesehen, diesen Mangel ausgleichen und die Personalität dieses Absolutums mit Gewissheit erweisen. 68 Hier ist an die Gottesbeweise des Thomas v. Aquin zu denken, die von der bewegten, werdenden Welt ausgehen und auf ihre notwendigen dynamischen Seinsvoraussetzungen zurückschließen. So in seiner »Summa theologiae«. 67 Genau dies, die (Teil-)Identität von menschlichem (transzendentalem) Ich und Gottheit, sollten die deutschen Idealisten J. G. Fichte, F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel behaupten. 68 In »De Libero Arbitrio« argumentiert Augustinus, dass das Absolute, weil vollkommen, Person sein müsse. Leuchtet das auf Anhieb ohne alle Begründung ein? 66
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
Welches Erkenntnisverfahren von R. Spaemann hier angewendet wird, macht der Rückblick deutlich: Ausgehend von einer unleugbaren Erfahrungstatsache, hier des Selbstbewusstseins, das mit seinem Selbstwissen seine Wahrheitsfähigkeit realisiert und damit die zeitlose Geltung einer Wahrheit offenbar macht, fragt er nach den Voraussetzungen dieser empirischen Tatsache und schließt auf die notwendigen, ohne Selbstwiderspruch nicht leugbaren Vorbedingungen dieser Erfahrungstatsache bis zu jenem Punkt zurück, der nur noch sich selbst bedingt und so sein eigener Grund ist, eben jener, der sich bewusst selbst bestimmt und daher absolute Person ist, Gott. Das ist der Weg der reduktiv-regressiven Analytik, der als klassischer Erkenntnisweg der Philosophie erkannt wurde. Zusammengefasst: Wenn R. Spaemanns »Beweis« durch zwei Zusätze ergänzt wird, erhält man nicht nur einen theoretisch-postulatorischen, sondern einen durchaus vollständigen Gottesbeweis. Dazu muss die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, auf die sich R. Spaemann als ein Primum stützt, von ihrer bloß potentiellen in eine aktualisierte Form überführt werden. Das ist dann der Fall, wenn sie sich an einer ohne Selbstwiderspruch nicht leugbaren Erkenntnis, genauer, einer Erkenntniswahrheit bewährt. Dies trifft zu, wenn sich das Erleben des Menschen selbst gewahrt und z. B. in seiner Bewusstheit, seiner Selbsttätigkeit, seiner Zeitlichkeit und seiner Geistigkeit erfährt. Denn das Bewusstsein ist von der Art, dass es sich nicht nicht erfahren kann, sondern erfahren muss. Hier wird die bloß potentielle Wahrheitsfähigkeit zu einer aktualisierten und damit bewährten Wahrheitserkenntnis, womit es unmöglich wird, Wahrheit kategorisch zu leugnen. In einem zweiten Schritt führt dieser Veritas-Aufweis auf reduktiv-analytischem Wege zur Einsicht in das Wesen von Wahrheit überhaupt und zur Erkenntnis seiner Unbedingtheit bzw. apriorischen Geltungsmacht und seiner Allgemeingültigkeit. So wird der Veritas-Aufweis zum – schon von Augustin formulierten – Veritas-Beweis. An dieser Stelle angekommen, postulieren Augustin und R. Spaemann die Existenz Gottes, indem sie – ohne eigenen Beweis – die absolute Veritas mit einem göttlichen Bewusstsein identifizieren. Hierbei handelt es sich in der Tat um ein nur praktisches oder religiöWäre dem so, könnte es die verbreitete Auffassung nicht geben – so bei J. G. Fichte, A. Kreiner, so in der indischen Philosophie –, dass das Personsein einen Mangel darstelle und deswegen dem Absoluten nicht zukommen könne. Es bedarf demnach eines eigenen Erweises der Personalität Gottes, den ich oben zu geben versuchte.
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Freiheit und Unfreiheit des Menschen als Selbsterfahrung
ses Postulat, keinen Beweis, der eigens entwickelt werden muss und durchaus, wie gesehen, entwickelt werden kann. Erfolgt dies, wird das Argument vollständig und erweist auf analytisch-regressivem Wege die Personalität des Absoluten nicht nur in Form des abstrakten Wahrheitsgrundes, sondern als dynamisch schaffendes, frei wirkendes und selbstbewusstes Prinzip, als Gott.
2.10. Freiheit und Unfreiheit des Menschen als Selbsterfahrung: die menschliche Freiheit als Einheit von Abhängigkeit und Selbständigkeit Die Kehrseite der kreatürlichen Freiheit im Sinne der Emanzipation ist ihre vielfältige Abhängigkeit, positiv formuliert, ihr ökologischsoziales und fundamental metaphysisches Eingebunden- und Geborgensein. Der Mensch trägt und hält sich primär nicht selbst, sondern wird ontologisch, biologisch und sozial getragen, angeregt und gefördert, wenigstens solange, bis er sein Leben selbst führen kann. Dieser Impuls zur Selbstbestimmung, der sich ein Leben lang zur Selbstführung und Selbstdisziplin erziehen muss, erwacht früh im Leben des Menschen, in der Regel im ersten Lebensjahr, und lässt dann bald alle Bindungen nicht nur als schützend, tragend, bergend und förderlich, sondern auch als beengend und bevormundend erfahren. Das zeigt sich schon bei Kleinkindern, die das Laufen lernen. Hieraus entstehen zahllose Dilemmata und nie ganz auflösbare Konflikte, die nämlich zwischen Autonomie und Heteronomie, Autarkie und Versorgung, Alleinsein und Zusammensein, Selbstkompetenz und Angewiesensein und zwischen Macht und Ohnmacht. Umso mehr ist hervorzuheben, dass der Mensch innerhalb seiner unumgehbaren biologischen, ökologischen und soziokulturellen Gebundenheiten seine Selbständigkeit erlebt und ergreift, Abhängigkeit und Selbständigkeit sich also nicht per se ausschließen, allerdings gegenseitig begrenzen. Der Mensch ist gegeben, genauer, sich vorgegeben, aber auch sich aufgegeben, und diese Spannung zwischen Objekt- und Subjektsein, zwischen Nehmen und Geben, Bedürfen und Selbsttun macht nicht nur seinen prinzipiell metaphysischen Seinsstatus aus, sondern bedingt eine nie aufhebbare Grundspannung zwischen Selbstbehauptung und Selbsthingabe, Selbstabgrenzung und Verschmelzung, die selbst in der Vereinigung mit der Gottheit nie ganz aufgehoben wird. 191 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Fundament: Leiden und Freiheit
Das zeigt, dass der Mensch nicht urfrei ist, sondern dass seine Freiheit vielfach beschränkt, beeinflussbar, verwirrbar, verführbar und verletzbar ist. Die Bestreiter der Willensfreiheit haben daher Recht, wenn sie herausheben, dass der Wille des Menschen durch allerlei Prägungen, Neigungen, Motive, Wünsche und Ängste beeinflussbar ist, doch begehen sie den fundamentalen Fehler, Einflussnahme und Verursachung gleichzusetzen. So behauptet etwa G. Streminger 69 in Anlehnung an D. Hume und A. Schopenhauer, dass der Mensch zwar über eine Handlungsfreiheit, aber über keine Willensoder Entscheidungsfreiheit verfüge, weil sein Wille bzw. seine Willensentscheidung eindeutig von unbewussten oder halbbewussten Motiven verursacht werde. Richtig daran ist, dass solche Motive – Gefühle, Neigungen, Stimmungen etc. – immer da sind, aber falsch ist, dass sie die Willensentscheidung direkt und eindeutig bestimmen. Im Gegenteil kann sich der Mensch (in Grenzen) seine Motive bewusst machen und, was A. Schopenhauer verkennt, (in Grenzen) frei zu ihnen Stellung beziehen, selbst dann, wenn diese Motivkräfte einen großen Druck auf ihn ausüben. 70 Weiter kann er nicht nur zwischen verschiedenen Motiven wählen, etwa gemäß sittlichen oder anderen Vernunftgründen, sondern sich überhaupt einer Wahl verweigern. Wünsche, Ängste und Motive wirken keineswegs, wie G. Streminger mit D. Hume und A. Schopenhauer meint, wie mechanische Kräfte, was sie übrigens nur behaupten und nirgendwo erweisen. All das bedeutet andererseits nicht, dass, wie diese Autoren behaupten, die Willensentscheidung »ursachlos« und völlig willkürlich
Vgl. G. Streminger (1992, 117 ff.). Siehe G. W. Leibniz (1710, § 288) in seiner »Theodizee«: »Die freie Substanz entscheidet sich durch sich selbst, und zwar gemäß dem Motiv des vom Verstand erkannten Guten, das sie anreizt, ohne sie zu zwingen.« Diese richtige Sicht auf die menschliche Freiheit schränkt G. W. Leibniz allerdings dadurch bedenklich ein, dass er betont, dass sich immer und unausweichlich das stärkste Motiv im Seelenhaushalt durchsetze, wobei ungeklärt bleibt, was unter »stark« zu verstehen ist. Es scheint, als verstehe G. W. Leibniz darunter eine quantitative, fast energetisch-mechanische Größe. Nicht von ungefähr spricht er in seiner Theodizee B. 52 vom Menschen als einem »geistigen Automaten«, in dem eine »Vorstellung« die nächste quasinotwendig nach sich ziehe: »Alles ist also im Menschen wie überall im voraus sicher und bestimmt und die menschliche Seele ist somit eine Art geistiger Automat.« Diese Lehre wird der Realität des Psychischen nicht gerecht. Ähnlich argumentiert A. Schopenhauer, der meint, dass »aus dem Motiv unausbleiblich die Tat« folge (s. Zitat bei F. Billicsich, 1959, 24).
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Freiheit und Unfreiheit als fundamentale Leidensquellen
bzw. zufällig wäre. Im Gegenteil ist die Ursache der Entscheidung der Wille selbst, allerdings meist im Zusammenhang mit einer sinnhaft, vom Entscheidenden beurteilten und gewerteten inneren und äußeren Situation. Wäre dem nicht so, und wäre der Wille bzw. der Mensch überhaupt keine eigenständige Ursache, gälte es, weiter zu fragen und zu versuchen, die Ursache der motivationalen Ursachen für die Willensentscheidung zu ermitteln. Wäre diese ermittelt, hörte das Fragen keineswegs auf, sondern müsste ins Endlose fortgesetzt werden. In diesem regressus ad infinitum, der schon aus anderen Gründen als selbstwidersprüchlich erkannt wurde, würde man nicht zu einem Ende bzw. ersten Anfang gelangen, und also gäbe es überhaupt keine Ursache für die ganze Wirkungskette des Seins, was direkt selbstwidersprüchlich ist. Weiter gilt, dass die Handlungsfreiheit, von der jene Autoren sprechen, unter den von ihnen gemachten Voraussetzungen nur scheinbar besteht und nicht wirklich frei vollzogen wird, da sie total von ihren Vorbedingungen wie Reizen, Neigungen, Wünschen etc. bestimmt wird. Auf diesem deterministischen Hintergrund wirkt es befremdlich, mit welcher Betonung diese Autoren an der Verantwortlichkeit des Menschen festhalten. Wie aber sollen ein Wille und das ihm folgende Handeln zurechnungsfähig sein, wenn sie von Naturgesetzen und unbewussten Naturprozessen streng determiniert sind? So wird der Mensch zum vollendeten Automaten, der gemäß der hier vorgelegten Analyse nicht leiden – und auch nicht fragen und erkennen – können dürfte. Nach der Klärung der Kausalverhältnisse kann jedoch nur das eine gelten: Der Wille des Menschen ist frei, allerdings in beschränkter Weise, und so ist er auch abhängig, vielfach beeinflussbar und verletzbar, Letzteres vor allem aufgrund seiner Leibabhängigkeit, Intersubjektivität und Weltausgesetztheit.
2.11. Freiheit und Unfreiheit als fundamentale Leidensquellen: Sehnsucht nach absoluter Autonomie und das Faktum der Nichtsverfallenheit Mit den letzten Ausführungen wird einer der empfindlichsten Punkte der menschlichen Existenz berührt. Schaut man sich in der Geistesgeschichte um, trifft man wiederholt auf eine bestimmte existenzielle Grundfigur: Der Mensch – aufgeschreckt von seiner Preisgegebenheit, Vergänglichkeit und Abhängigkeit – erwacht zu seiner inneren 193 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Fundament: Leiden und Freiheit
Freiheit, bäumt sich heroisch auf und erstrebt die totale Autonomie. 71 Dieser Impuls kann sich zur radikalen Askese aufschwingen, so etwa beim jungen Buddha, in der ein Mensch die völlige Selbstbefreiung erstrebt und erkennen muss, dass er sich damit zu zerstören droht. F. Nietzsche (1844–1900) ist eine andere Figur, die im Konzept des Übermenschen die absolute Autonomisierung des Selbstseins erstrebte, und selbst I. Kant (1724–1804) huldigte diesem Ziel, obschon ins Innerlich-Moralische gewendet, wo er die Möglichkeit der unbeschränkten sittlichen Autonomie des Menschen im Sinne der »Selbstgesetzgebung der Vernunft« lehrte. 72 Vor allem die neuzeitliche Philosophie wird durch die wachsende Neigung charakterisiert, das menschliche Subjekt zu verabsolutieren und damit in die unumschränkte Freiheit zu erheben. 73 Dass dies gescheitert ist, steht heute außer Frage: Der Mensch ist weder physisch noch sozial noch sittlich total autonom und kann dies auch nicht werden, im Gegenteil überspannt er sein Wesen, wenn er sein physisches, metaphysisches und sittlich grundlegendes Angebundensein verkennt. 74 Schließlich ist, wie die Existenzphilosophie betont, seine Nichtsverfallenheit durch keine geistige oder technische Operation zu überwinden und beweist mit dem Tod die radikalste Heteronomie, die dem Menschen auferlegt ist. Da hilft kein »Vorlaufen in den Tod«, wie M. Heidegger meint, weil der eigene Tod nicht antizipiert oder probeweise durchlebt werden kann. 75 Vom Tod werden die Menschen letztlich überwältigt. Das Beste, was sie tun können, ist, sich ihm völlig hinzugeben. Und trotzdem: Allein die Tatsache, dass sich der Mensch gegen die vielen Heteronomien seines Lebens auflehnt, beweist eine tiefste Befreiungs-, Emanzipations- und Freiheitssehnsucht, die der Erklärung bedarf. Kein Tier zeigt diesen transnaturalen Zug; kein Tier will ganz frei sein und sich aus seiner Umweltnische lösen. So ist der Mensch mehr, als ihm gemäß zu sein scheint, gebunden. Wie ist das Vgl. besonders das Alte Testament, Buch Kohelet. Siehe I. Kant (Werke, IV, 2011, 74 ff.). 73 Der Höhepunkt wird mit J. G. Fichte, F. W. J. Schelling, G. W. F. Hegel, dann mit M. Stirner und F. Nietzsche erreicht. Pervertierungen dieser Tendenz haben sich in der Geschichte wiederholt ausgewirkt, nicht zuletzt bei A. Hitler. 74 Damit wird partielle, eingeschränkte Autonomie nicht geleugnet, sondern vorausgesetzt. 75 Siehe M. Heidegger (1979, 235 ff.). 71 72
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Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit
zu verstehen? Und woher rührt dieses Gefangenheitsgefühl, das so viele Mythen, Religionen und Philosophien beschreiben? Wenn es sich um keinen Trug handelt, was unwahrscheinlich ist, dann handelt es sich um eine Grundquelle des Leidens, die nie ganz zur Ruhe kommen kann, weil diese Sehnsucht nach vollkommener Freiheit im Hiesig-Endlichen (E) nicht gestillt werden kann. Wenn sie aber im Hiesigen nicht erfüllt werden kann, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass sie überhaupt nicht aus dem Hiesigen stammt. Im Abschnitt IV. soll gezeigt werden, dass jedes Wesen, das selbsttätig-wirkfähig ist, sich im zweiten Seinsrang befindet und damit über begrenzte Freiheit und Autonomie verfügt, ein wesenhaft kreatives, damit unerschöpfliches, also potentialunendliches (pU) Wesen ist, dessen natürlichübernatürliches Wesensziel das Aktualunendliche (aU) und damit das Allleben der Gottheit ist. Trifft dies zu, wird die ungeheure Spannung sichtbar, in der der Mensch steht: als pU-Wesen im E der Welt auf das aU der Gottheit hingeordnet. So erweist er sich als das pathische Wesen par excellence.
2.12. Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit; Reinigung des Gottesbegriffs von Anthropomorphismen und die Unmöglichkeit der unmittelbaren Leidzufügung durch Gott Wie dargestellt, existiert ein schlechthinniges Sein, ein voraussetzungsloses Ursein, und zwar als unendlich-zeitloses, seiner selbst bewusstes, darum personales Ur-Ich, das sich regressiv-analytisch aus der Zeit als der notwendige Ursprung der werdenden Welt erschließen lässt. Da dieses Ursein nur sich selbst bestimmt und durch nichts anderes (direkt) bestimmt werden kann, ist es aktiv und frei, mehr noch schlechthin frei: Jede Bestimmung, die es hat, hat es von und aus sich selbst. 76 Da es sich frei auf sich selbst zurückzubeziehen vermag, ist es notwendig bewusst, also geistig; und da es sich selbst total annimmt, schätzt, sich ganz und ohne Vorbehalt rezeptiv aufnimmt, durchdringt und umfasst, und dies schließlich mit reiner Positivität (»Freude«) im Ursein selbst tut, ist es Liebe. Die reine absolute Fülle bedingt die Mangellosigkeit im Absoluten, die Zeit- und Werdelosigkeit dagegen die Unmöglichkeit zu leiSiehe Thomas v. Aquin (1985, 22 ff.), vor allem dort den Kontingenzbeweis mit dem klassischen Ausdruck für das Absolute: »ens a se«.
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
den und die absolute innere Harmonie die Unmöglichkeit von Zwiespalt, Hemmung und Zwietracht. Dadurch, dass es sich ganz und damit unendlich bestimmt und ganz und damit unendlich hat, ist es seiner vollkommen mächtig, also allmächtig; dadurch, dass es sich, ganz und damit unendlich schauend, durchdringt, weiß es sich vollständig, ohne Rest und Dunkel, ist also allwissend; und dadurch, dass es alles, was ist, unendlich ermöglicht, trägt, belebt, erkennt und zur Vollendung führt, ist es Güte und Liebe. Damit liegen die Kriterien vor, die herkömmlichen Gottesbilder kritisch zu überprüfen und von eventuellen menschlichen Wunschoder Angstprojektionen zu reinigen. Und da muss zunächst gesagt werden, dass alle bekannten Gottesvorstellungen, selbst die von Paulus, Augustinus 77 und M. Luther, in Teilen problematisch und allzumenschlich sind. Die oben gegebene Wesensbestimmung der Gottheit zeigt, dass Gott unmöglich kränkbar, zornig, rachsüchtig, ängstlich, neidisch und grausam sein kann; auch als traurig, mitleidig, hilflos, suchend und wünschend kann er nicht gedacht werden, da mit allen diesen Zuständen notwendig Mangel, Leid, Unzufriedenheit, Unglückseligkeit, Beschränktheit und vor allem Zeitlichkeit verbunden sind. 78 Heißt das aber, Gott sei gefühllos? Das wäre ein Kurzschluss, der nicht selten Mitgefühl und Leiden voreilig gleichsetzt. 79 Wenn Gott Siehe P. Ricoeur (2006, 32). Er spricht im Falle von Augustin von einer »antignostischen Gnosis«, in der – versteckt im Erbsündekonzept – die Entwertung des Leibes und das Vergeltungsprinzip zum Austrag kommen. Diesem Eindruck kann man sich insofern bei Augustin (1948, 80 ff.) nicht erwehren, als er aus seiner Erbsündenlehre – in seinem System konsequent – folgert, dass alle Menschen schon mit der Geburt gerechterweise verdammt sind und nur deswegen erlöst werden, weil Gottes Erbarmen das Urteil der Gerechtigkeit aufhebt und – aus rätselhaften Gründen – eine kleine Menge Menschen von der Verdammnis losspricht. Wenn Gott, so Augustinus, ein Neugeborenes verdammt, dann ist das trotz seiner persönlichen Sündlosigkeit deswegen gerecht, weil es der Erbsünde unterliegt und daher die Verdammnis verdient. 78 Hier ist die reine Gottheit in sich, nicht im Menschen Jesus gemeint, in dem Gott in gewissem Sinne mitzuleiden vermag, auf jeden Fall mitfühlt. Dass Jesus als Gottmensch leidet, steht außer Frage. Vgl. zum leidenden und werdenden Gott A. Kreiner (2005, 173 ff.); ähnlich P. S. Fiddes, J. Moltmann, A. N. Whitehead, aber auch K. Rahner (1967, Bd. 1, 169–222, hier 202, Anm. 2), der fast »hegelisch« davon spricht, dass Gott zwar nicht an und in sich, aber am Menschen bzw. an der Welt zum werdenden Gott wird, was allerdings mit logischen Inkonsistenzen erkauft wird. 79 A. Kreiner (2005, 174) behauptet ohne sachliche Begründung: »Liebesfähigkeit impliziert offenkundig Leidensfähigkeit.« Hier wird weder durchdacht, was Leiden noch was Liebe ist. Liebe als Mitgefühl und Erbarmen sieht und nimmt das Leiden an, aber 77
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Gott als Ort der reinen leidfreien Freiheit
reine Liebe ist, dann können auch Mitgefühl und Barmherzigkeit in ihm bestehen, sind diese beiden Haltungen doch positive, in keiner Weise defizitäre, sondern zum Geschöpf hin überquellende Formen der Liebe: Gefühle sind keineswegs, wie die rationalistische Tradition – so etwa bei den Stoikern und I. Kant – 80 meinte, bloß weil sie Gefühle sind, leidvoll, mangelhaft, irrational oder gar pathologisch. Im Gegenteil sind sie Leben, gefühltes Leben, inneres Leben, gelebte Fülle. Manche Gefühle, die das endliche Sein des Menschen spiegeln, sind dagegen wohl mit Mangel und Leid verknüpft, so der Zorn, die Traurigkeit, die Angst, die Schuld, die Sehnsucht, die Niedergeschlagenheit, die Verzweiflung, erst recht Neid, Hass, Rache, Missgunst und Depression, nur impliziert dies keineswegs »Pathologie«, sondern spiegelt den Werdestatus des Menschen wider. Gott kann sich nicht sehnen, sich ängstigen, erzürnen oder leidend bedrückt sein, das lässt seine Seinsfülle nicht zu. Doch Mitgefühl hat er, und zwar ohne Mangel, Beschränktheit, Ohnmacht, Aufbegehren und Sehnsucht nach Heil, ohne die das Leiden in der Tat unmöglich ist. Solches Mitgefühl übt Gott unentwegt, wenn auch oft nur leise und am tiefsten Punkt der Seele, wo sie sich selbst kaum spürt. Warum das so ist, soll im Abschnitt VI. erörtert werden. Zusammengefasst: Leid und Übel sind weder durch einen zornigen, rachsüchtigen und im menschlichen Sinne strafenden noch durch einen hilflosen Gott, der dem Leid machtlos gegenüberstünde, verstehbar und erklärbar. 81 leidet nicht selbst, sondern überbietet das Leiden durch ihren Seinsüberfluss und »deckt« es gleichsam zu, füllt seinen Mangel aus, tröstet, gleicht aus, erhebt und erfüllt. Schon im menschlichen Leben begegnet die Situation, dass eine Trostspende zwar mit Mitgefühl, aber nicht notwendig mit Leiden und oft mit Freude, helfen zu können, einhergeht. Für den endlichen Menschen, der viele Leiden nicht beheben kann und ohnmächtig davor steht, ist es charakteristisch, dass er nicht nur mitfühlt, sich erbarmt, tröstet und »die Tränen wegwischt«, sondern selbst leidet, ohnmächtig, ratlos und in seinem Helfenkönnen beschränkt ist. Das Leiden im menschlichen Mitfühlen ist also gerade der Ausdruck dafür, die Übel nicht beheben zu können. Dies trifft für Gott nicht zu, der alle Übel beheben kann, auch wenn er dies nicht sofort tut. Warum das so ist, wird später dargelegt (Abschnitt VI.). 80 Vgl. I. Kant (1983, 3. Buch). 81 Im göttlichen Sinne »straft« auch Gott. Doch indem er dem Geschöpf etwas »Negatives« zufügt, sei es direkt oder, wie meist, indirekt, hat er ein größeres Positivum im Blick, letztlich das Heil aller Geschöpfe und ihren Platz in Gott. Denn da in Gott wesenhaft nichts Negatives sein und von ihm nichts Negatives kommen kann, ist er die Urpositivität und Letztpositivität schlechthin. Die Menschen dagegen strafen zumeist, auch heute in den modernen Rechtsstaaten, um ein Negativum durch ein an-
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
Damit stellt sich die Frage, ob Gott als Gott überhaupt Leid zufügen und Schaden anrichten kann. Dass er Leid und Schädigung in seiner Schöpfung zulässt, ist empirisch gewiss; und dass er sie nutzt, um andere Sinnmöglichkeiten damit zu befördern, ist sehr wahrscheinlich und mit seinem urpositiven Schöpfergeist notwendig verknüpft. Denn Gott kann das Schlechte und Böse selbst nicht wollen, das widerspricht seinem Wesen, aber er kann es, wenn es seine Geschöpfe tun, zulassen, lenken und zur Ermöglichung eines umfassenderen Gutes nutzen. Dabei übersteigen seine Pläne, die stets aufs Ganze der Schöpfung dem Inhalt, dem Raume und der Zeit nach gehen, die Vorstellungskräfte des Menschen, weswegen die Menschen den möglichen Letztsinn des Leidens im Einzelnen meist nicht erkennen können. Im Allgemeinen lässt sich aber manches wissen, wie der Fortgang der Arbeit zeigen wird, doch apriori ist klar, dass Gott Leid und Schaden unmöglich direkt und nur um ihrer selbst zufügen kann (wie das im menschlichen Strafsystem verbreitet ist), weil dies seine wertmäßige Urpositivität und wertmäßige Urfülle beeinträchtigen würde. 82 Daher ist er als strafender oder sich rächender Gott im Sinne des »Auge um Auge, Zahn um Zahn« wesenhaft nicht denkbar – das sind menschliche Projektionen, die dem bloßen Ausgleichs- und Rachebedürfnis des Menschen, man könnte auch sagen, einem allzu menschlichen Gerechtigkeitsgefühl entspringen.
deres Negativum auszugleichen, um »zu vergelten«, nicht um zu bessern oder das Bewusstsein zu wecken oder Wiedergutmachung zu ermöglichen. Dadurch wird das Negative vermehrt, nicht gemindert oder in Positives überführt. Statt »strafen« wäre es im Falle Gottes bzw. im Falle einer humanen Ethik angemessener von »richten« im doppelten Sinne von »urteilen« und »recht machen, wiedergutmachen, zurechtrücken« zu sprechen. Gott rückt alles zurecht, in und vor allem am Ende der Zeiten. 82 Auch N. Hoerster (2017, 19), der das Theodizeeproblem behutsam und differenziert behandelt, geht ohne weiteres Hinterfragen davon aus, dass Gott die Schöpfung mit allen ihren Mängeln direkt und unmittelbar geschaffen habe, womit Gott seines göttlichen Status verlustig geht. Gäbe es keine andere Lösung, die ich später vorstellen werde, wäre der Glaube an Gottes Allmacht und Allgüte widersinnig und müsste aufgegeben werden.
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Das schlechthinnige Sein bei Parmenides und die Theorie des Allbewusstseins
2.13. Das schlechthinnige Sein bei Parmenides und die Theorie des Allbewusstseins in der indischen Spiritualität Von der Warte aus, die mit den letzten Erkenntnissen gewonnen wurde, kann Stellung zu zwei Deutungen des Absoluten bzw. Göttlichen bezogen werden, die geistesgeschichtlich große Wirksamkeit entfaltet haben. Parmenides 83 erfuhr auf seiner geistigen Reise in das Reich der Wahrheit, dass das Sein vollkommen, »rund«, unendlich und vollständig unbewegt ist. Was bewegt und wandelbar ist, schien ihm nichtiger Schein. Das ist tief geschaut, denn in der Tat kann das Sein in seinem Urstand nicht veränderlich sein, vor allem nicht, wenn es unendlich, vollständig und vollkommen ist. Wer seine Intuition schult, kann erfassen, dass der Gedanke, das Sein als solches und ganzes sei einmal entstanden, widersinnig ist. Denn woher soll es entstanden sein? Aus und von Nichts? Wenn aber das Nichts solches vermag, dann ist es ein gewaltiges Sein, ein Übersein, wie Platon sagen würde. Im Fragment 8 begründet dies Parmenides in logisch überzeugender Weise »Also ist es unumgänglich, dass es entweder ganz und gar ist oder überhaupt nicht. Aber auch nicht aus Seiendem: denn die Kraft der Überzeugung wird es nie zulassen, dass etwas darüber hinaus entsteht. Ebendeswegen hat Dike es nicht, die Fesseln lockernd, freigegeben, dass es werde oder untergehe, sondern sie hält es fest […] Denn weder ist es, wenn es entstanden wäre, noch wenn es künftig einmal sein sollte. Also ist Entstehung ausgelöscht und unerfahrbar Zerstörung. Auch teilbar ist es nicht, da es als Ganzheit ein Gleiches ist. Es ist ja nicht irgendwie an dieser Stelle ein Mehr oder an jener ein Weniger, das es daran hindern könnte, ein Geschlossen-Zusammenhängendes zu sein, sondern es ist als Ganzheit von Seiendem innen erfüllt.« 84
Darum ist es nach Parmenides unbeweglich, unveränderlich, anfangslos und ohne Aufhören, also ohne Ende, vollendet, mangellos (»Denn wäre es mangelhaft, so würde ihm an allem mangeln«, 1981, 13). Und all das gilt im Modus der »Unentrinnbarkeit« und »Verlässlichkeit«, womit Parmenides das Nicht-nicht-Sein-können, das Seinmüssen, die schlechthinnige Notwendigkeit des Seins meint. Zweifellos ist dies alles sehr tief gesehen, nur gilt es nicht für das Weltsein, den Kosmos, sondern für das Sein als solches, das Sein schlichthin, das Parmenides allem Anschein nach hier unmittelbar 83 84
Vgl. Parmenides (1981). Siehe Parmenides (1981, 11 f.).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
und intuitiv erschaut. Und dennoch, die Lösung des Parmenides befriedigt nicht: Auch wenn man das flüchtige Weltsein zum bloßen Schein erniedrigt, ist trotzdem die Bedingung der Möglichkeit von Schein überhaupt zu klären. Denn rein nichts ist der Schein offensichtlich nicht, also verlangt er einen zureichenden Grund. Außerdem ist nicht zu leugnen, dass dieser angebliche Schein zum Menschsein gehört, ihm zusetzt, sehr zählebig und schließlich unüberschaubar reich an Vielfalt, Gestalt, Dynamik und Sinn ist. Ins Zentrum des Problems dringt deswegen die Frage, in welchem Zusammenhang das Ursein und das Scheinsein stehen. Diese Frage, die zu den wichtigsten gehört, klärt Parmenides nicht. Und da gilt, dass erstens ein Zusammenhang bestehen muss – sonst wäre das Sein in zwei unüberbrückbare Hälfen getrennt, was widersinnig ist – und dass die Dynamik des Scheinseins zweitens einen aktiven Seinsurgrund voraussetzt. Wäre die vollkommene Ruhe des parmenideischen Seins als absolute Untätigkeit aufzufassen, was Parmenides wahrscheinlich nicht tut, da er es mit dem Denken gleichsetzt, hätte das Scheinsein nicht entstehen können. Da dieses unleugbar da ist, eben als werdende Welt, muss das Sein in seinem letzten Grund aktiv, tätig und dynamisch sein. Ist es aber dies, dann kann es, weil es durch anderes nicht bedingt sein kann, nur selbsttätig, selbstbestimmend, also frei und, weil es sich selbst frei ergreift und vollzieht, bewusst sein. Das Ursein ist rein untätig und damit geistlos nicht denkbar; es ist, mittelalterlich mit Thomas v. Aquin gesprochen, »actus purus«. 85 Das führt zur zweiten Konzeption, die auf dem indischen Subkontinent weite Verbreitung gefunden hat und heute in den spirituellen Kreisen Europas und Amerikas, z. B. bei Ken Wilber und Willigis Jäger, sehr beliebt ist. Sie denkt sich das absolute Sein als reines, vollkommen ruhendes Bewusstsein, als kontemplatives Allbewusstsein, in dem sich die vergängliche Welt wie die Welle im Meer bewegt. Kommt das Meer zur Ruhe, verschwindet die Welt, als wäre sie nie gewesen, im Allbewusstsein. So lehrt es der Benediktiner und Zen-Buddhist Willigis Jäger. 86 Siehe Thomas v. Aquin (1985, 27 f.): »Deus est actus purus, non habens aliquid de potentialitate.« Die Bezeichnung »actus purus« geht auf Aristoteles zurück: »actus« ist das lateinische Wort für ἐνέργεια, energeia. In seiner »Metaphysik«, XI, 7, 1072 b ff. kennzeichnet Aristoteles den unbewegten Beweger als reine energeia, reine totale Wirklichkeit, in der – im Gegensatz zur Auffassung J. Böhmes, F. W. J. Schellings, G. W. F. Hegels, Ed. Hartmanns und A. N. Whiteheads – nichts Potentiales ist. 86 Vgl. W. Jäger (2001). 85
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Das schlechthinnige Sein bei Parmenides und die Theorie des Allbewusstseins
Ist dieses Konzept haltbar? Wohl nicht. Man fragt sich spontan, warum sich das unendliche und vollkommen ruhende Meer überhaupt zu bewegen beginnt? Wie kann die absolute »Leere« plötzlich in Unruhe geraten, in die bunte Vielfalt der endlichen Gestalten zerfallen, zu leiden und zu kämpfen beginnen und schließlich wieder alles in ihre absolute Leere, unbewegt und differenzlos, auflösen? Der Widerspruch reicht noch tiefer: Bewusstsein als Bewusstsein ist weder leer noch untätig. Denn zumindest ist es mit sich selbst erfüllt, und diese Fülle ist im Falle des unendlichen Bewusstseins unendliches Selbstwissen, unendliche Ruhe, Gelassenheit, unendlicher Frieden, wohl auch reine mangellose Freude, reines Glück, unendliche Kraft (nämlich selbst zu sein), und also ist es unendliches Leben. Mitnichten ist hier »Leere« und »nichts«, sondern das pure intensive Gegenteil. Stellt man die Frage, wie sich Bewusstsein qua Bewusstsein konstituiert und vollzieht, erhellt, dass Bewusstsein als untätiges oder bloß kontemplativ-schauendes Sein nicht gedacht werden kann. Bewusstsein ist dadurch Bewusstsein, dass es sich auf sich selbst bezieht, sich ergreift, sich weiß und sich will, also sich bejaht und annimmt. All dies sind aber höchst aktive Vollzüge, echte Tätigkeiten, keineswegs bloß passives Ruhen oder »unwillkürliches Wogen«. Selbst die vorwiegend rezeptive Selbstschauung kommt ohne ein aktives Moment nicht aus, muss doch das Ursein, wenn es Bewusstsein ist, sich auch anschauen wollen, sich auf sich selbst richten und sich selbst, indem es sich schaut, annehmen. Wenn aber dieses Bewusstsein als unendliches die Kraft und Größe besitzt, sich selbst, sprich sich in seiner Unendlichkeit zu umfassen und zu durchdringen, dann ist es auch fähig, Endlich-Vergängliches hervorzubringen, sich also endliches Sein gegenüberzusetzen. Für die Menschen, die in diese Welt gebannt sind, kann das nur heißen, dass der Urgrund des Seins nicht nur ein Allbewusstsein ist, das die – nach W. Jäger angeblich anfangslose – Welt »wie das Meer die Welle« umfasst, sondern ein schöpferisches Wesen, das zwar aus nichts, aber von sich her, und d. h. aus seiner unendlichen Kraft und Fülle, das »Meer der Welt« erschafft, ihm einen ersten Anfang setzt und es mit seinem dramatischen Wogen durch die Zeit trägt.
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
2.14. Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild: die Verkennung der Gebrochenheit der Existenz oder der Mensch in naiver Weltgeborgenheit Bibelfeste Menschen wissen um die Hiobsgeschichte im Alten Testament, und Unbelesenen ist das Sprichwort von der »Hiobsbotschaft«, die von einem großen Unglück berichtet, das über einen Unschuldigen in irrationaler Weise hereinbricht, bekannt. Und in der Tat erlitt der biblische Hiob, nachdem er ein langes gesegnetes Leben führen durfte, eine Folge von entsetzlichen Unglücksschlägen, die ihm alles – Familie, Haus, Hof, Gesinde, Getier und schließlich auch die Gesundheit – raubten, so dass er schließlich, in Sack und Asche sitzend, mit seinem Gott haderte. Warum verhielt sich Hiob in dieser Weise, warum begehrte er auf, warum stellte er bohrende Fragen und versuchte, seinen Gott vor den »Gerichtshof« zu ziehen? War er in seinem langen Leben nie Zeuge von Unglück und Unheil geworden? Traf es nicht täglich Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld, die krank wurden, einen Unfall erlitten, beraubt, geschlagen, verfolgt, verschleppt, verletzt, gedemütigt und ermordet wurden, ohne dass eine Schuld auf der Seite der Betroffenen vorlag? Wenn er solches täglich erfuhr, wieso konnte er glauben, ihn würde solches nicht ereilen? Bloß weil er gottesfürchtig lebte und sich nie hatte etwas Böses zu Schulden kommen lassen? Einmal angenommen, es habe sich so verhalten – kann er wirklich glauben, allein aufgrund seiner Unbescholtenheit könne ihn das Übel der Welt nicht treffen? Traf es also alle anderen »Unschuldigen«, weil sie gesündigt hatten? Und gibt es demnach nur Unglück, wenn es die Antwort auf eine Sünde ist? 87 So denkt Hiob zweifellos, aber unbeNach W. Eichrodt (1974, 336–345), dessen Werk einen selten klaren, tiefen und »herrlichen« Einblick in das religiöse Denken der Israeliten gibt, liefert das Hiobbuch ein Gleichnis für das Zerbrechen der spätjüdisch-rationalistischen Theodizee mit ihrer, von den Freunden Hiobs vertretenen, Vergeltungsmechanik (Unglück folgt Sünde). Dem ist zuzustimmen. Doch erkennt Eichrodt nicht, dass Hiobs Denken von derselben Vergeltungslogik bestimmt ist, nur mit umgekehrten Vorzeichen, da er als Entsprechung seiner Frömmigkeit ein glückliches Leben erwartet und einfordert (Glück folgt Gutsein). Außerdem verkennt Eichrodt, bedingt wohl durch seine protestantisch-voluntaristische Einstellung, dass mit der berechtigten Widerlegung der Vergeltungstheodizee keineswegs alle Theodizee zuschanden wird, zumal die quälenden Zweifel Hiobs nicht, wie Eichrodt unterstellt, durch das drohend-erzürnende Machtgebaren Jahwes im »Wettersturm« (Hiob 38, 1–41) aufhören und einem echten inneren Frieden Platz machen. Fundamentalethisch müsste man hier von einem Ka-
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Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild
fangen betrachtet, mutet dies wie ein naives und weltfremdes, im Angesicht der zahllos vielen schuldlos Leidenden fast wie ein herzloses Verhalten an. Zudem stellt sich aus jüdischer Sicht die Frage, ob der Verfasser des Buches Hiob die Thora nicht kannte? Kaum vorstellbar. Aber dann hätte er wissen müssen, dass laut Genesis 3 die menschliche Existenz auf dieser Erde eine grundsätzlich und unaufhebbar gebrochene Existenz ist, da sie ihren Lebensgrund und Lebensquell – Gott – verloren hatte und von sich selbst abgrundtief entfremdet war. An jener genannten Textstelle ist es Gott selbst, der zur Schlange jenes lastend-schwere Wort von der gegenseitigen existenziellen Feindschaft der Kreaturen spricht (Genesis 3, 15 ff.): »Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse. Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen. Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten habe: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.«
Das ist das Bild, das sich der jüdische Geist von der menschlichen Existenz gebildet hat, ein dramatisch-tragisches Bild, das von Unglück, Schuld, Leid, Verbannung, Mühsal, Feindschaft, Arbeit, Not, Kampf und Tod gezeichnet ist. Der Mensch ist aus der intimen Getegorienfehler der Erzählung sprechen, da sich ein innerer ethischer Konflikt nicht durch eine physische, »schöpfungstheologische« Antwort beheben lässt: Mag die Schöpfung (und damit ihr Schöpfer) noch so gewaltig, groß, herrlich und voller Macht und Weisheit sein, sie kann nicht einmal das kleinste Unrecht, das einem Kind angetan wird und ungesühnt bleibt, wie F. Dostojewskij und vorher schon A. Schopenhauer richtig betonen, aufwiegen. Keine »Ganzheit und Harmonie des Kosmos« kann, wie das zuweilen bei G. W. Leibniz, F. Brentano u. a. anklingt, das kleinste Unrecht rechtfertigen, außer dieses Ganze umfasst die letztgültige Überwindung und Wiedergutmachung von allem Bösen, Unrechten und Üblen. Offensichtlich bleibt das Gottesbild im Falle Hiobs an die »Stufe der Macht« gebunden und erreicht noch nicht die Stufe der höheren Ethik. Man wird daher um den Versuch einer besseren »Patho- und Theodizee« nicht herumkommen. Zur geistlich-symbolischen Ausdeutung der Hioberzählung vgl. K. Hälbig (2011, 195–229).
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
borgenheit Gottes herausgefallen und in eine gottlose, leid- und todverfallene Welt hineingestürzt – eine Sichtweise, die von der modernen Existenzialphilosophie in säkularisierter Form wieder aufgenommen und wohl kaum überboten wird. Hiob aber verhält sich, als lebte er vor seinem Unglück noch im Paradies, und zweifellos wird er da von einer gewissen Logik geleitet: Denn Adam und Eva gerieten in die Verbannung, weil sie gegen Gott gefrevelt hatten. Da er, Hiob, aber nie gefrevelt hatte, musste er im »Schoße Abrahams« geborgen bleiben. Nur, diese Logik übergeht, dass mit der Verbannung der schuldiggewordenen Ureltern auch deren zunächst unschuldige Nachkommen mitbelastet wurden: Seit Adam und Eva lebt niemand mehr primär bei Gott im Paradies, sondern wird mit seiner Geburt sogleich in der »Wüste« der Welt ausgesetzt. 88 Die Existenz des Menschen erhält damit den Stempel der originären Seinsentfremdung, Gebrochenheit und Nichtsverfallenheit, und zwar unabhängig von der Schuldfrage (weswegen, wie noch zu zeigen sein wird, die Rede von Erbsünde fragwürdig, von Erblast angemessen ist). 89 Hinzu In einer klugen kleinen Schrift arbeitet K. Adam (1959) heraus, dass der nachparadiesische Adam kulturgeschichtlich an das Ende der Jungsteinzeit (Steinwerkzeuge, Ackerbau, Viehzucht etc.) gehört, was insofern plausibel wäre, als der Autor des biblischen Genesistextes, der vielleicht in der Bronzezeit lebte, wohl noch Spuren dieser Vergangenheit in seiner Gegenwart antraf, womit die biblische Zeitangabe von 4000 Jahren v. Chr. für das Erscheinen des scheinbar »ersten« Menschen in der physischen Welt nicht so realitätsfern wäre. Das würde bedeuten, dass der paradiesische Adam keine Existenz der irdischen Geschichte ist, sondern anders gedacht werden muss. Vor allem die Leiblichkeit, die aus wissenschaftlich-evolutionstheoretischer Sicht als Ergebnis einer animalischen Geschichte verstanden werden muss, müsste in seiner paradiesischen Phase fundamental anders konzipiert werden. Leider lässt K. Adam den Sinn der biblischen Ursprungserzählung an diesem Punkt im Dunklen. Unter 4.12.– 4.17 behandle ich diese Frage eingehend. 89 Während die Ostkirche die Erbsündenlehre nicht lehrt, spricht die katholische Kirche im Anschluss an Augustinus immer noch von »Erbsünde«, obwohl sie ausdrücklich betont (vgl. J. Neuner/H. Ross 1971, 218), dass eine persönliche Sünde, wie sie Adam beging, nicht vererbt werden kann. Eine nicht-persönliche oder überpersönliche, dazu vererbbare Sünde ist aber ein ontologischer, logischer und sittlicher Selbstwiderspruch, da sie die moralische Freiheit und überhaupt die Freiheit zerstört – aber gleichzeitig daran festhält – und die Möglichkeit einer Teilung oder Spaltung der Seele bzw. des Geistes impliziert und gleichzeitig ausschließt. Die Existenz und Vererbung solch einer »Sünde« scheint die katholische Kirche zu lehren (vgl. J. Neuner/H. Roos, 231 ff.), doch ist die Begrifflichkeit nie ganz scharf. Vgl. kath. Katechismus (1997, Nr. 403 und 404). Der Rückbezug auf Paulus (eph’ hô aus Röm 5,12) genügt nachweislich nicht, da Adam und Christus nur parallelisiert werden, aber nirgends von einer Vererbung die Rede ist. Der Sache nach ist die »Erbsünde« die Folge 88
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Hiobs primäres Menschen- und Gottesbild
kommt, dass Hiob von Gott, wie der Prolog des Hiobbuches bezeugt, auf seine Treue hin geprüft wird, was auf dem Hintergrund der grundsätzlichen Entfremdungssituation und Fallibilität des Menschen, die ihn seine Gottesherkunft immer wieder vergessen und verraten lässt, einen präzisen Sinn ergibt. Wenn die Deutung der menschlichen Existenz durch die jüdische Bibel zutrifft, dann fragt sich, was Gott mit dieser Kollektivverbannung der Menschheit bezweckt und welchen positiven Sinn er damit realisieren will? Denn alles andere wäre sinnlose Grausamkeit und Rache eines narzisstisch gekränkten Gotttyrannen, als der er von ethisch hochstehenden Menschen, z. B. von Marcion (etwa 100–160 v. Chr.), gesehen und verworfen wurde. 90 Unabhängig vom religionsphilosophischen Kontext trifft die Hiobfigur in entwicklungspsychologischer Sicht eine zentrale Wahrheit: Jeder Mensch ist zumindest am Anfang seines Lebens naiv-gutgläubig und rechnet nicht mit der Schlechtigkeit und Bedrohlichkeit der Welt. Es ist, als käme er geradewegs aus dem Paradies und erwarte, dass ihm alles gewährt und gegeben werde, was er braucht. Man könnte sagen, der menschliche Geist ist als solcher nicht von dieser von Adams Sünde und meint erstens die Aufhebung der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott und damit den Verlust der Gnade der direkten Gottesanschauung und meint zweitens die Überantwortung der Menschen an Geburt, Altern, Krankheit, Tod, Mühsal, Begierlichkeit und Schuld, also die Auslieferung an die endliche, lust-, todund leidbestimmte, zudem an die schuldverstrickte Welt (Erbtod, Erbleid). Dadurch wird weder die primär gute Natur des Menschen beschädigt noch die Willensfreiheit aufgehoben, wie anscheinend M. Luther und J. Calvin lehren, sondern es werden Wille und Erkenntnis belastet, getrübt und geschwächt. Von Adam wird auf die Menschen demnach keine Sünde übertragen, sondern ein Gnadeverlust bzw. eine physisch-leibliche (Erb-)Last, was bedeutet, dass das Neugeborene primär gut und sündenfrei (mit der Möglichkeit zur Sünde), aber in eine derart bedrohlich-ungeborgene Welt ausgesetzt ist, dass Verwirrung, Verstrickung und Sünde wahrscheinlicher werden. Es liegt auf der Hand, dass der Verlust der Gnade der unmittelbaren Gottgemeinschaft die Unmöglichkeit beinhaltet, dass der in die Welt entlassene Mensch aus eigener Kraft in jenen Stand der Gnade zurückkehren kann, was vielleicht Pelagius meinte; vielmehr bedarf er, wie alle Konfessionen und Kirchen übereinstimmend lehren, der Hilfe, der Erlösung und der Wiedererhebung zu Gott (durch Christus). Genau dies macht den Inhalt der christlichen Heilsgeschichte aus. Vgl. K. H. Schelkle (1968), der kurz, aber klar das Erbsündeproblem darlegt und neben den historischen auch die sprachlichen Zusammenhänge, Verwicklungen und Verwirrungen aufzeigt. Vgl. dazu auch J. Ratzinger (1971, 179), der Ähnliches lehrt. In den Abschnitten III. und IV. gehe ich auf diese Thematik genauer ein. 90 Und heute, z. B. von T. Moser (1976) in »Gottesvergiftung«, aus den gleichen Gründen verworfen wird.
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
Welt, ist nicht von ihr gezeichnet, sondern muss ihre leidvollen Gesetze erst kennenlernen. Wie schwer er sich damit tut und ein Leben lang damit kämpft zurechtzukommen, ist bekannt. Insofern manifestiert sich in Hiobs Revolte doch eine Wahrheit, nur jetzt eine tiefere: Im Letzten sind die Menschen in dieser Welt, die von Feindschaft, Zerstörung, Leid, Verlorenheit und vom Tod gezeichnet ist, fremd; im Letzten gehören sie woandershin, nicht hierher, sondern nach jüdisch-christlichem Glauben – und nach vielen anderen Kulturen auch! – unmittelbar in den Lebenskreis Gottes. Ob sich das so verhält oder ob das nur ein frommer bzw. unfrommer Mythos ist, wird in den Abschnitten III. und IV. zu klären sein.
2.15. Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität In seinem Buch »Gott im Leid«, einer groß angelegten Studie zur Theodizeeproblematik, zu der schon 1994 ein kleines Büchlein herausgegeben worden war, legt A. Kreiner überzeugend dar, dass keine Theologie bzw. theologische Philosophie an der Aufgabe vorbeikommt, die Verbindung von Gott und Leid widerspruchsfrei zu denken. 91 Darüber hinaus zeigt er, dass nicht nur die klassische Theologie, sondern auch alle ihre modernen Alternativen an Grenzen stoßen, an der sich unüberwindliche Widersprüche auftürmen. Überzeugend arbeitet er die immanenten, rein formal-logischen Inkonsistenzen, Inkohärenzen und Unwahrscheinlichkeiten der verschiedenen Positionen heraus, ohne den Anspruch zu erheben, selbst eine widerspruchsfreie und objektiv gültige Alternative anzubieten. A. Kreiner favorisiert selbst eine Variante der Prozesstheologie, die »Gott« als zeitlich werdendes und a- oder überpersonales Wesen auffasst, das dennoch (in seinem Sinne) allmächtig, »allwissend« und gut sei. Diese Position hält er für widerspruchsfrei. 92 Da A. Kreiner seine rein begriffslogische bzw. formale Kritik ohne sachphilosophische Analyse durchführt, also offen lässt, ob es Gott gibt, ob Gott Person ist, ob er zeitlich oder ewig verfasst ist, ob der Mensch einen freien Willen hat und ob die Evolution einen Sinn hat usw., bleiben alle seine Aussagen nur Hypothesen und Ver91 92
Siehe A. Kreiner (2009). Vgl. A. Kreiner (2009, 392 f.).
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Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität
mutungen, nach seinem eigenen Bekunden sogar unverifizierbar. 93 Damit lässt sich selbstverständlich die Theodizeefrage nicht klären, sondern höchstens »beweisen«, dass der Glaube an Gott nicht unvernünftig ist. Doch auch dies gelingt ihm nicht, da eine unverifizierbare Theorie wissenschaftlich irrelevant ist, und so scheint im Angesicht des grenzenlosen Leidens die Gottverneinung, wie viele Atheisten und Skeptiker an diesem Punkt betonen, letztlich plausibler zu sein als der Glaube an die Existenz eines allgütigen, allmächtigen und allwissenden Wesens. 94 Die bisherige Analyse kommt zu anderen Ergebnissen: Die Existenz eines absoluten Seins ist streng wissenschaftlich erweisbar, letztlich mittels eines notwendigen Rückschlusses von der unleugbaren Tatsache der zeitlich-wandelnden Welt des Kosmos bzw. der Erlebenswelt auf ihre notwendigen Seinsvoraussetzungen. Da dieses Ursein keinen Anfang hat, ist es notwendig zeitlos, ewig, unwandelbar und unendlich. Und da es aktiv und selbsttätig, nämlich als Grund der wandelbaren Welt notwendig dynamisch ist, muss es die Fähigkeit besitzen, zu sich ins Verhältnis zu treten, seiner selbst bewusst und habhaft zu sein, womit das Ursein nur Person sein kann. Damit erweist sich die Behauptung, Personsein und Unendlichkeit schlössen sich gegenseitig aus, als unhaltbar. Im Gegenteil, nur ein personales Sein kann absolut bei und in sich, seiner selbst gewiss und inne, kann tätig und reines nunc stans sein. Als nur sich selbst bestimmendes Sein muss schließlich die Urperson Gottes absolut frei sein, frei in der Selbstbestimmung und frei in der Erschaffung von nichtgöttlichem Sein. Aus der letzten Bemerkung folgt, dass Gott, der die Grundlagen und Grundkräfte der Welt erschafft, diese Welt auch hätte nicht erEinen ähnlichen, rein logisch-formalen Weg nimmt K. Koreck (2019), der das Theodizeeproblem begrifflich noch schärfer fasst als A. Kreiner. 94 A. Kreiner spricht Gott die klassische, die Zukunft der Zeit umfassende Allwissenheit ab, weil sie angeblich selbstwidersprüchlich und mit der menschlichen Willensfreiheit unvereinbar sei, begründet aber nicht, wie das mit seiner Allmacht, urfreien Schöpferkraft und vollkommenen Güte zusammengehen soll, die er ihm lässt. Überhaupt fragt man sich, was eine Theologie, zumal eine christliche, sein soll, die von Gott die Personalität verneint und ihn gleichzeitig für »gut« hält. Ohne personalen Bezug werden Begriffe wie Gerechtigkeit, Sünde, Freiheit, Güte, Liebe, Leid, Weisheit, Macht und Wissen sinnlos. Auf das Problem der auch die Zukunft umfassenden und dennoch die bedingte und partielle Freiheit der Geschöpfe wahrenden Allmacht und Allwissenheit Gottes gehe ich später ein. Seine durchgreifende Lösung findet sich bei B. v. Brandenstein (1966, Bd. 3, 427–618, bes. 459 ff., 465 ff., 487 ff., 536 ff.). 93
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
schaffen können. Sie ist weder ein realer Teil noch eine notwendige Wirkung seines Selbstseins. Damit erweist sich die Welt als kontingent, als nicht-sein-müssend, als »zufällig« und als ein »Aus-Nichts« (aber vom Sein Gottes unendlich rangtiefer gesetzt!), gleichsam nah ans Nichts gebaut. Nur weil Gott sie, die sich selbst nicht tragen kann, trägt und erhält, stürzt sie nicht in den Abgrund der Selbstauflösung. 95 Insofern Gott nicht nur eine statisch-passive Welt erschafft, sondern eine Welt, die das Werk von partiell freien, weil selbständigen Geistpotenzen ist, zu denen das Menschenich zählt, hat Gott der endlichen Freiheit Raum gegeben und sie der Unfreiheit vorgezogen. Offensichtlich erachtete er diese Wahl als die vollkommenere und das, wie die Analyse vertiefen wird, zu Recht. Mit der endlichen, genauer, potentialunendlichen Freiheit öffnete er der Möglichkeit ihres Missbrauches die Tür. Dass es dazu kommt, hätte zwar nicht sein müssen und hätte von Gott verhindert werden können, doch ließ er dies nicht nur zu, sondern ermöglichte den Missbrauch insofern, als er dem Menschen die Macht über sich, die Natur und über seinesgleichen gab. Insofern ist Gott indirekt für die Existenz des Übels mitverantwortlich. Der Sinn der Ermöglichung und Zulassung gründet jedoch nicht in einer Schwäche, Unwissenheit oder Bosheit, sondern in seinem Willen, den Menschen in den Stand zu versetzen, sich selbst um die beste Form seiner endlichen Freiheit zu bemühen und von sich selbst die beste Version seiner größten Vision zu realisieren. Gott will eine kämpfende, wachsende, kreative, vor allem will er eine reifungsmögliche und reifende Freiheit, nicht eine von Anfang an fertig-gute, damit entwicklungsunfähige Freiheit, die, wenn so von Gott erschaffen, ihre Freiheit einbüßen würde. 96 Noch einmal: Wäre die Welt nicht die von Gott frei gesetzte Wirkung, sondern bestünde anfangslos, wie etwa Aristoteles, B. de Spinoza, G. W. F. Hegel und E. Bloch behaupten, könnte sie nicht kontingent sein, dann wäre sie notwendig da, nämlich deswegen, weil sie nie entstanden war. Wenn die existenzialistischen Philosophen die Welt für kontingent halten, aber für unbegonnen, unerschaffen, dann entgeht ihnen diese fundamentale ontologische Inkonsistenz, die im Übrigen mit der radikalen Aufhebung der Möglichkeit von Freiheit bezahlt wird, die von den Existenzphilosophen meist entschieden vertreten wird. 96 In der Theodizeediskussion spricht man im Falle des Reifungsargumentes nach John Hick (1966) vom »Konzept der Seelenbildung« (»soul-making«). In der Tat ist dieses pädagogische Argument unverzichtbar, allerdings nicht hinreichend für die Klärung des Sinns (und Unsinns) des Leidens in Leben und Kosmos. Letztlich steht dahinter der Umstand, dass der Mensch seelisch-geistig ein pU-Wesen ist, das in 95
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Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität
Deshalb rechnet er mit Irrtum, Verirrung, Vergehen, Bosheit und Sünde und bezieht sie in die Dynamik des werdenden Kosmos ein. Darüber hinaus zeigt er sich so souverän und »selbstlos«, dass er Wesen erschafft, von denen er weiß, dass sie sich endgültig und für immer von ihm abwenden werden oder wenigstens dazu in der Lage sind. Ihre Funktion im Schöpfungsganzen ist dennoch da und hat exemplarischen Charakter: Sie dienen als Beispiel für die verheerenden Folgen der Gottverneinung, sie dienen zur Warnung, Läuterung und Abschreckung, weiter zur entschiedeneren Hinwendung zum Guten und zur größeren Strahlkraft alles Wertvollen. Doch obgleich die geschöpfliche, endlich-potentialunendliche Freiheit eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Übel, Irrtum, Schlechtigkeit und Leiden ist, so reicht sie und mit ihr die These des »free will defense« keineswegs, wie A. Kreiner richtig hervorhebt, zur Erklärung für die Existenz von Übel und Leid in der bestmöglichen Welt aus. Es muss weitere Motivgründe geben, die Gott dazu bringen, das Wagnis von Leid und Übel einzugehen. Und sie gibt es, wie in den Abschnitten IV, V, VI und VII gezeigt wird. Soviel sollte klar geworden sein, dass Leid, Übel, Versagen, Irrtum und Sünde, die wesenhaft an Zeit, Mangel, Endlichkeit und schöpferische Eigentätigkeit gebunden sind, in Gott selbst unmöglich sind. Ihr Platz ist allein in der Welt, und auch da nicht notwendig, sondern nur insofern, als sich Gott für eine Welt entschied, die dynamisch, werdend und mit partiell freien, selbsttätigen Geistwesen begabt ist, die zur agonalen Reifung nach Gott hin berufen sind. Warum solch eine Welt besser ist als eine andere, wird mit dem Fortschritt der Untersuchung klarer. Für hier genüge die Einsicht, dass es Gott gibt, dass er frei von Leid und Übel ist und dass er das Übel ermöglicht und zulässt, aber nicht direkt bzw. nur als Übel bewirkt, sondern in einen höheren Sinnzusammenhang hineinstellt, dessen Dynamik, insofern sie auf Gott ausgerichtet ist, die Aufhebung von Mangel, Unfrieden, Leid, Unglück und Schuld beinhaltet. Diese Einsichten erlauben, zu einer philosophischen Kritik Stellung zu beziehen, die behauptet, das Theodizeeproblem sei schon seinem Anfang »wie eine Knospe« unschuldig und verschlossen ist und erst durch den Akt einer Selbstergreifung seine Freiheit aktualisiert und ein echtes personales Selbst konstituiert, in dem die potentialen Möglichkeiten und Fähigkeiten – ein Leben lang – entwickelt werden. Entgegen J. Hick schließt das entelechiale Reifungsargument keineswegs das jüdische Sündenfallargument aus, sondern kann, wie zu zeigen sein wird, damit sinnvoll verbunden werden.
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
logisch mit unaufhebbaren Antinomien belastet. Klassisch wird dies von dem Neukantianer W. Windelband anhand der Grundbegriffe »Substanz« und »Kausalität« formuliert, zweier Begriffe, die nach I. Kant notwendige Formen des menschlichen Denkens und Vorstellens sind und dennoch oder gerade wegen ihrer Denknotwendigkeit in logische Aporien führen, wenn sie auf überempirisch-metaphysische Wirklichkeiten angewandt werden. W. Windelband sagt: »Die Kategorie der Substanz bedeutet in ihrer empirisch berechtigten Anwendung Urteil und Begriff von der konstanten Zusammengehörigkeit endlicher, bestimmter Erfahrungsinhalte, welche als Eigenschaften gemeinsam einem Ding inhärieren. Das absolute Abhängigkeitsgefühl postuliert für seinen Gegenstand ein »Ding aller Dinge«, von dem, wie wir selbst, so auch alles andere empirisch Wirkliche Eigenschaft und Zustand sein soll. Aber dies absolute Ding, die unerfahrbare Substanz, enthält eine unlösbare Antinomie in sich: es ist einerseits das Ding, das durch keine empirische Qualität bestimmt und von anderen unterschieden wird, das qualitätslose Eine, andererseits das Ding, welches alle Wirklichkeit in sich als Qualitäten vereinigt (ens realissimum et perfectissimum).« 97
Die Forderung, dass diese absolute Seinssubstanz alle Qualitäten vereinige, impliziert nach W. Windelband notwendig, dass ihr die Qualitäten des Übels, des Bösen und des Leids zukommen, und zwar absolut, ewig und unveränderlich zukommen. Wenn aber Gott selbst böse, schlecht, mangelhaft, zerrissen und leidend ist, dann kann er nicht vollkommen sein, weder ontisch noch ethisch, und also gerät die Theodizeeproblematik in eine unüberwindliche Sackgasse. So die Argumentation von W. Windelband. Wäre sie konsistent, dann allerdings ließe sich das Theodizeeproblem nicht lösen. Doch fragt sich, ob diese Argumentation logisch tatsächlich so zwingend ist, wie sie zu sein beansprucht? Sie ist es nicht. Der Fehler liegt bei der ungeprüften und damit unkritisch-dogmatischen Voraussetzung, wonach »alles andere empirisch Wirkliche Eigenschaft und Zustand« der einen absoluten Ursubstanz sein soll. So muss eine Antinomie zustande kommen, doch übersieht W. Windelband die Möglichkeit der Existenz von mehreren Substanzen, also mehreren selbständig wirklichen Dingen. Zwar können solche (Zweit-)Substanzen der absoluten und unendlichen Ursubstanz nicht gleichgeordnet sein, da sonst deren Absolutheit aufgehoben würde und damit eine neue Aporie entstünde – mehrere absolute Wirklich97
Siehe W. Windelband (1924, 311 ff.).
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Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität
keiten nebeneinander heben sich in ihrer Absolutheit auf. Doch besteht die Möglichkeit von sekundären Substanzen, also von Wesen, die zwar nicht absolut sind und damit von der absoluten Seinssubstanz einseitig abhängen, die aber dennoch selbständig agieren können und nicht Eigenschaft der absoluten Substanz sind. Das von W. Windelband ins Feld geführte Abhängigkeitsgefühl der Kreatur hat nur Sinn, wenn dieses nicht ein rein passives Ding, sondern ein lebendes, selbstbestimmendes, in dieser Hinsicht also selbständigsubstanziales Wesen ist. Als ein solches ist es ontologisch nicht vollkommen und kann daher auch die Eigenschaften des Unvollkommenen, des Schwachen, Gebrechlichen, Verletzlichen, Schlechten, des Leidens und des Bösen haben. Gesteht man diese Möglichkeit ein – und W. Windelband setzt sie für den Menschen voraus –, müssen diese negativen Eigenschaften nicht der Ursubstanz der Urwirklichkeit zugeschrieben, sondern können bei der Kreatur und ihrer relativen Substanzialität belassen werden. Der Grundfehler, der hier zum Vorschein kommt, ist die unkritisch vorausgesetzte, auch von Aristoteles, 98 B. de Spinoza und I. Kant in problematischer Weise vorausgesetzte Auffassung, Substanz (Eidos, Wesensform, Substrat) bedeute notwendig ein abgeschlossenes, fertiges und unveränderliches Sein. Das ist aber ein Kurzschluss, der die Möglichkeit werdender, unfertiger und dennoch selbsttätiger, relativ freier Substanzen, die z. B. G. W. Leibniz sah und als Monaden bezeichnete, voreilig ausschließt. Berücksichtigt man diese Möglichkeit, die von der Existenz des Menschen nahegelegt wird, hebt sich jene Antinomie auf, in die W. Windelband die Theodizee geraten sieht. Damit aber werden sowohl ein jeglicher substanzialer Seinsmonismus als auch ein jeder Pantheismus, wie er bei W. Windelband vorliegt, die das Theodizeeproblem in der Tat nicht lösen können, hinfällig. Ähnlich wie im Fall der Substanz argumentiert W. Windelband im Fall der Kausalität, also in der Frage nach dem dynamischen Grund Gemäß Aristoteles besteht ein Wirkliches aus der unveränderlichen Substanz – dem Träger, aus seiner Wesensform – und aus der Materie, die Veränderlichkeit ermöglicht. Was sich verändert, nennt er Akzidentien. Die Substanz selbst (als Wesensform) ändert sich nach Aristoteles nicht. N. Hartmann (1964) und B. v. Brandenstein (1965) in seiner »Grundlegung der Philosophie«, Bd. 1, konnten durch ihre neuen Ontologien klären, dass die Hyle-Morphe-(Stoff-Form)-Ontologie des Aristoteles in entscheidenden Hinsichten inkonsistent ist und daher neu gefasst werden muss. Vgl. auch das Kap. 1.3. in dieser Arbeit.
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Das Fundament: Leiden und Freiheit
für all das, was entsteht und darum irgendwie muss hervorgebracht worden sein. Er sagt (S. 316): »Das Böse ist zweifellose Realität, das lehrt gerade das religiöse Bewusstsein selbst am deutlichsten und gewissesten. Wie aber ist diese Realität möglich in einer Welt, deren ganzes Sein, deren einzige Kausalität in der absoluten Persönlichkeit, in dem allmächtigen Normalbewusstsein beruht? Diese Frage ist für menschliche Einsicht völlig unbeantwortbar, das muss sie sich ehrlich eingestehen. In Gott selbst ist des Bösen Wesen und Ursache nicht zu suchen: wo also, wenn er das einzige Wesen, die einzige Ursache ist?«
Wieder setzt W. Windelband – wie viele andere! – unkritisch Gott als den einzigen dynamischen Seinsgrund, als alleinige Ursache im Weltgeschehen voraus. 99 Zwar ist er die einzig absolute Ursache, also jene Ursache, die ewig besteht, unentstanden, unendlich, durch nichts anderes bedingt. Aber schließt dies die Existenz von entstandenen, bedingten, zeitlichen und wandelbaren Zweitursachen aus? Keineswegs. Im Gegenteil, Gott – und nur er! – kann solche erschaffen, muss es allerdings nicht. Doch die menschliche Selbstwahrnehmung lehrt zweifelsfrei, dass es zeitlich-bedingte Wesen gibt, die wirken und hervorbringend tätig sind und also als begrenzte Ursachen tätig sein könSelbst der christliche Religionsphilosoph J. Hessen (1955, Bd. II, 193) sieht – fälschlicherweise – im Wertcharakter des Göttlichen eine Antinomie: »Als ens realissimum ist das Göttliche Urquell alles Seins. Alles endliche Sein hat in ihm seinen letzten metaphysischen Ursprung. Nun ist das endliche Sein gleichsam aus Licht und Schatten gewoben. Werte und Unwerte sind in ihm gemischt. Es geht ein Riss durch die Wirklichkeit: neben den positiven Werten stecken in ihr negative, neben den bona auch mala. So ist das ens perfectissimum zugleich Prinzip des Unvollkommenen, des Übels. Die göttliche Wertwirklichkeit ist zugleich Quelle des Unwertes.« Richtig ist, dass das Göttliche letztendlich (!) der Ursprung von allem ist, aber nicht im Vorletzten: Es gibt auch untergöttliche und damit potentiell widergöttliche Kausalität. Richtig ist ferner, dass alles Endliche unvollkommen ist, doch falsch, dass das Unvollkommene ein Übel und somit Gott, als Ursache des Unvollkommenen, auch Ursache des Übels sei. Gott, der die endliche Welt notwendig nur als »unvollkommene« i. S. von »nicht-göttlich« erschafft, ist daher keineswegs die Quelle des Unwertes bzw. des Übels. Wertwidriges können nur endliche Kausalitäten wirken. Dass diese geschöpflichen Wirkursachen von Gott erschaffen werden, bedeutet außerdem nicht, dass das Wertwidrige, das sie tun, auf ihn zurückfalle, nur, dass er es ermöglicht und, falls von den Zweitursachen realisiert, zugelassen habe. Was der Sinn dieser Ermöglichung und Zulassung ist, bedarf einer eigenen Betrachtung, doch eröffnet allein das ontologische Verhältnis von Erst- und Zweitursachen die Möglichkeit, dass Gott schlussendlich (!) das Wertwidrige richtet und heilt. Im Falle, er würde das Unwerte selbst unmittelbar wirken, wäre eine Heilung, da er dann selbst der absolut Unheile wäre, ausgeschlossen. Wo eine Wertwidrigkeit in diesem Kosmos ist, da kann Gott nicht die einzige Kausalität (und Finalität) sein.
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Theodizee erster Teil: die Antinomien von Substanz und Kausalität
nen, im Falle des Menschen z. B. Gedanken, Vorstellungen, Handlungen, Gesten, Werke, Worte und Sprache verursachen und kreativ hervorbringen. Lässt man dies gelten, gibt es nicht nur eine einzige Causa, und Gott muss nicht die direkte Ursache des Unvollkommenen, Schlechten und Bösen sein. Vielmehr bieten andere Ursachen, die Zweitursachen, die dynamische Grundlage für das unvollkommene Sein und Werden, womit sich ein Weg für die Lösung der Theodizeeproblematik öffnet. Man kann auch so sagen: Gott ist wohl allmächtig, aber nicht allwirksam, da er Wirksamkeit verleiht und, anders als der allwirksam gedachte Allah, aus der Allwirksamkeit zurücktritt. 100
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Vgl. ähnlich zum islamischen Gottesbild H. Stieglecker (1959, 105 f.).
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III. Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit: Die allgemeine Kosmologie des Leidens
3.1. Leiden, Zeit und Zeitlichkeit: Zeitunterworfenheit und doppelte Zeitlichkeit des Menschen Alles Zeitliche dauert, doch ist es in seiner Dauer nicht wandellos, sondern ändert sich, wechselt, wird anders. Zumindest muss alles, was zeitlich dauert, wie erkannt, beginnen. Ob es dann endlos-unverändert andauert, sich verändert oder vergeht, ist prinzipiell offen, doch beweist die Erfahrung, dass keine erfahrbare Wirklichkeit unveränderlich ist, sondern irgendwann vergeht bzw. in Anderes übergeht. 1 Gilt dies, dann hat das Zeitlich-Dauernde nicht nur einen Anfang, sondern auch ein Ende, zwischen denen beiden es dauert, mag es sich auch nur um einen kurzen wandelfreien Augenblick handeln. Die kleinste aktuelle Dauer eines realen Geschehens ist jenes Gegenwartsmoment, das in sich selbst weder unendlich klein noch geteilt, sondern real endlich, aber in sich ungeteilt ist, denn unmöglich kann ein Zeitlich-Dauerndes aus real unendlich vielen Momenten zusammengesetzt sein, da sonst ein Unendliches sukzessiv durchschritten werden würde, was in Kapitel 1.14. und 2.3. als unmöglich erkannt worden war. Damit erhellt, dass alles Zeitliche »pulsiert«, also beginnt, eine Zeitlang unveränderlich dauert, endet, beginnt, dauert, endet – ein ständiges Aufleuchten und Verlöschen und Wiederaufleuchten und Wiedererlöschen. Zeit ist daher mitnichten ein stetig kontinuierlicher Strom, der gleichsam passiv dahinwallt, sondern sie zeugt, sei es in der Natur, sei es im Bewusstsein, von Aktivität, Pulsation und Dynamik.
Auch rein geistige Wirklichkeiten, z. B. geistige Aktvollzüge und deren geistige Inhalte, die, wie z. B. die mathematischen Verhältnisse, in sich unveränderlich sind, vergehen, insofern sie an das veränderliche Leben des Menschen gebunden sind und mit ihm vergehen.
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
In meiner Dissertation zur Phänomenologie des Leidens wurde die vielschichtige Zeitstruktur des Leidens aufgehellt und erkannt, dass sie mit einem erlittenen Widerfahrnis – wozu schon die eigene Existenz gehört – beginnt, im Weiteren als »Leidleiden« oder Durchleiden eines konkreten Leides dauert und meist irgendwann endet, zumindest in das Wegwünschen des Leids und das Erwünschen des Heils übergeht. Hier geschieht Zeit als Sukzession, als Aufeinanderfolge von Verschiedenem, Sichänderndem. Ist die Zeitlichkeit des Leidens aber durch nichts anderes als durch Sukzession bestimmt? Keineswegs. Da das Leiden ein aktives Geschehen und Erleben ist, führt es seine Vergangenheit in die Gegenwart mit und antizipiert in der leidvollen Gegenwart die erwünscht leidfreie oder die leidvoll drohende Zukunft. Leiden ist also, zeitlich betrachtet, eine durchgängige Einheitsgestalt aller drei Zeitekstasen und überwölbt Zeit als bloße Sukzession. Leiden ist nicht nur unstete Zeit, es ist veränderungsüberdauernde, zusammenfassende Zeitlichkeit. Solche Integration ist nur in einem aktiv-erlebenden Wesen möglich; ein bloß passives Ding ist dazu nicht befähigt, was wiederum bedeutet, dass der Leidende stets seine Zeit, d. h. die Dauer seines Leidens, mitkonstituiert und zusammenfasst. Das Widerfahrnis mag rein passiv erlitten worden sein, z. B. eine Verletzung, Demütigung, ein Unrecht, Geburt und Tod, doch das Leiden daran ist schon aktiv und erhebt die bloße Sukzessionszeit zur Simultanzeitlichkeit, in der alle drei Zeitekstasen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ineinsgefasst sind. Andererseits ist hervorzuheben, dass der Mensch seine Zeitlichkeit nie rein leben kann – sie wird immer wieder zwangsweise unterbrochen, etwa durch den Tiefschlaf, das Vergessen, die Konzentrationslosigkeit, durch Krankheit. In diesen Situationen fällt er in die bloße passive Sukzessionszeit zurück, hier kann er die Zeit nicht mehr überbrücken und synthetisch zusammenfassen, seine synthetische Subjektivität bricht ab; sie verliert sich. Umso staunenswerter ist es, dass ihm, etwa aus dem Schlaf heraus, Bewusstsein und Erinnerung, gleichsam wie geschenkt, zurückkommen, und er wieder Anschluss an Unterbrochen-Vergangenes findet. All das beweist, dass der Mensch zwei Zeitordnungen angehört, einmal der immer wieder unterbrochenen Sukzessionszeit des physischen Weltgeschehens, in der die Synthesekraft des Bewusstseins erlischt, ein andermal der Synthesezeitlichkeit, in der Erleben und Bewusstsein die drei Zeitekstasen überwölben. Woher kommt das? 216 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Leiden, Zeit und Zeitlichkeit: Zeitunterworfenheit und doppelte Zeitlichkeit des
Wodurch wird dies verursacht? Die direkte Selbstbeobachtung beweist, dass alles Seiende, das der physischen Welt angehört, also auch der Leib, der Sukzessionszeit unterworfen ist, während nur Bewusstsein und Geist sich erinnern, sprich die Vergangenheit lebendig in die Gegenwart mitführen und in der Gegenwart die Zukunft antizipieren können. Der Leib nur als solcher bzw. die physische Welt sind dazu nicht in der Lage, an ihnen können höchstens Spuren der Vergangenheit abgelesen werden, das muss jedoch wieder ein Bewusstseinswesen tun. Mit dieser doppelten Zeitstruktur, die zu den tiefsten Quellen menschlicher Leiden gehört, erweist sich der Mensch erneut als ein Zwischen- und Diskrepanzwesen. Alle Störungen, die mit Gedächtnisminderung oder Gedächtnisverlust einhergehen, etwa alle Demenzkrankheiten, die auf die Degeneration des Gehirns bzw. das Altern des Leibes zurückgehen, sind solche »Zeitleiden«, in denen ein Mensch seine erlebte Zeit nicht mehr synthetisch zusammenfassen kann und in unsynthetisierte Sukzession zerfällt. Das Materielle setzt sich gegen das Geistige durch. Insofern der Mensch ein Wesen ist, das in seiner hochdynamischen Unruhe zu Ruhe und zu Vollendung kommen will, ist er über alle Zeit hinaus auf eine dritte Dauerdimension bezogen, nämlich jene, in der Zeit überhaupt erlischt und nichts mehr wird und wechselt, damit auch nichts mehr beginnt und endet. In der tiefen Meditation, in der erfüllten Liebe, in der beglückenden ästhetischen Kontemplation und in der Seligkeit kann der Mensch Anteil an dieser Überzeitlichkeit gewinnen, wie er dies zu allen Zeiten als Einbruch der Ewigkeit in sein Dasein erlebt. So betrachtet, ist der Mensch nicht nur in zeitlicher Hinsicht doppelt, sondern dreifach diskrepant, da jene Überzeitlichkeit der erfüllten Ruhe sich nur selten einstellt und nicht machbar ist, sondern ihm gewährt wird, aber auch wieder entzogen werden kann. Das bezeugen die Mystiker aller Zeiten und beteuern, wie qualvoll dieser Rückfall in die Zeit ist. Hier wird die Preisgegebenheit an die Kreatürlichkeit am schmerzhaftesten spürbar, hier ist alle Autonomie und Selbstherrlichkeit am Ende: Wohl ist der Mensch auf die erfüllte Zeit als Ewigkeit angelegt, doch aus eigener Kraft kann er sie höchstens annähern, und also kann er hier nur warten, sich bereiten, ausharren und sich ergeben. 2 Ein Mensch dagegen,
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Siehe Altes Testament, Prediger 3, 11: Ȇberdies hat er die Ewigkeit in alles hinein-
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
der ungeduldig Erfüllung, Glück, Seligkeit und Ruhe erzwingen will, der muss bitter leiden, nämlich in der Form des Scheiterns.
3.2. Das Problem der Entstehung überhaupt und die traditionellen drei Kausalitätskonzepte Wo etwas entsteht, fragt schon das kleine Kind nach dem »Warum?« und damit nach dem »Woher?« oder »Wodurch?«. Ganz naiv ist es dabei auf das gestoßen, was die Philosophen und Wissenschaftstheoretiker das »Kausalproblem« nennen. 3 Die philosophische Logik kann auf die Frage nach dem Wodurch rein formal nur antworten: Das, was entsteht, entsteht nicht von sich selbst her, da es, solange es nicht ist, sich nicht selbst erzeugen kann, wenn es aber ist, sich nicht mehr erzeugen muss, und also entsteht es, da es von und aus rein nichts nicht kommen kann, von Anderem her. Dieses Andere heißt die »Ursache« und meint jene dynamisch-tätige Wirklichkeit, die das entstandene Ereignis hervorbrachte. Als hervor-
gelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte.« 3 Vgl. W. Stegmüller (1970 a, 1–20), besonders Seite 3: »Das allgemeine Kausalprinzip bedeutet hiernach, dass ein Ereignis, also etwas, das entsteht oder wird, nicht von nichts, sondern von etwas herkommt. Dabei bezeichnet man das, was entsteht, also das genannte Ereignis, als Wirkung, dasjenige, wodurch dieses Ereignis entsteht, als Ursache. Der Zusammenhang lautet dann: Die Ursache bewirkt die Wirkung.« W. Stegmüller trennt von diesem Kausalprinzip m. E. zu Recht erstens das Kausalgesetz, d. h. die Regel, nach der eine Ereignisfolge geordnet ist, und zweitens die Antecedenzbedingungen, die dem Ereignis vorausgehen oder gleichzeitig mit ihm gegeben sind, also seine diachrone und synchrone Umgebung. In den Naturwissenschaften sind die Kausalgesetze mit den Naturgesetzen, die Antecedenzbedingungen mit all dem identisch, was das entstehende Ereignis raumzeitlich umgibt und direkt und indirekt bedingt. Während das Kausalprinzip nach dem Wodurch fragt und daher eine Spezialform des »Satzes vom Grunde« ist, fragt das Kausalgesetz nach dem Wie und das Antecedenztheorem nach dem Worin. Schon hier erkennt man, dass weder das Kausalgesetz noch die Antecedenzien das, was entsteht, hervorbringen, sondern nur regeln und begrenzen. W. Stegmüller untersucht nach eigener Angabe (S. 5) nicht das Problem der Ursächlichkeit, sondern nur das Problem der Gesetzlichkeit. Auf diesem Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, dass er ohne Begründung das Kausalprinzip (Wodurch) auf das Antecedenztheorem (Worin) zurückführt. Während er die Fragen nach dem Wie (Gesetzlichkeit) und dem Worin (Bedingungen) genauer betrachtet, lässt er die Frage nach dem Wodurch bzw. Woher fallen, die das eigentliche philosophische Problem darstellt. Unter 4.1.–4.9. werde ich vertieft darauf eingehen.
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Das Problem der Entstehung überhaupt
gebrachte Wirklichkeit heißt man dieses Ereignis die »Wirkung«. Was aber ist das Andere, wo ist es zu suchen und wie muss man seine Wirklichkeit denken? Darauf hat die philosophische Tradition drei prinzipiell mögliche Antworten gegeben: 4 –
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Entweder geht die Ursache ihrer Wirkung zeitlich voraus und geht in diese ihre Wirkung ganz oder teilweise über, dann liegt die vor allem in der Neuzeit dominierende, so genannte transitive oder transeunte, sprich hindurchgehende, zumeist mechanisch-deterministisch gedachte Kausalitätsvorstellung vor; oder die Ursache besteht wesenhaft in ihrer Wirkung, lebt in dieser bzw. lebt als diese und formt ihre Wirkung als ihren direkten wesenhaften Seinsausdruck; dann liegt die so genannte immanente oder einwohnende Kausalitätsvorstellung vor, die für Aristoteles’ Formbegriff und für A. Schopenhauers »Lebenswille« typisch ist und vor allem im Konzept des beseelten Leibes verbreitet ist; oder die Ursache geht überhaupt nicht in ihre Wirkung über, ist von wesenhaft anderer Art und erzeugt dieselbe aus souveräner Machtfülle, nicht von nichts, sondern von sich her, was sachgerecht als transzendente, die Wirkung übersteigende Kausalitätsvorstellung bezeichnet werden kann und die etwa bei Platon, aber auch bei Aristoteles, I. Kant u. v. a. zu finden ist. 5 Für alle drei Fälle gilt grundsätzlich, dass die Ursache erstens, verglichen mit ihrer Wirkung, nicht weniger an Seinsgehalt und Seinskraft haben kann, sondern mindestens gleichviel besitzen muss, weil andernfalls von nichts etwas würde, und dass sie zweitens aktiv und dynamisch ist bzw. Aktivität und Dynamik vermittelt.
Vgl. B. v. Brandenstein (1973, Bd. 3, 779 ff.: Kausalität; 1983, Kap. 36: Kausalität). Vgl. außerdem zum Problem der Kausalität W. Stegmüller (1970 a, 1–20). 5 Jede Ursache vom transzendenten Typus wirkt von sich her und aus eigener Wirkpotenz, womit das Kausalproblem, wie etwas scheinbar von nichts entsteht, abgewehrt ist. Diesem Typus sind zwei Sondertypen untergeordnet: zum einen jene Ursache, die zwar von sich, aber nicht aus oder in nichts, sondern aus und in einem Material wirkt, so in der Regel der Mensch, zum anderen jene Ursache, die von sich und aus bzw. in nichts ihre Wirkung setzt und, gleichsam über dem Nichts haltend, erhält, klassischerweise gedacht in der Gottesidee. 4
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
B. v. Brandenstein 6 zeigt, dass außer den drei genannten Konzepten keine weiteren Varianten möglich sind bzw. gedacht werden können und überprüft in seinem Werk, welches der drei Kausalitätsmodelle widerspruchsfrei und denknotwendig ist. Er kommt dabei zu einem eindeutigen, aber auch überraschenden Ergebnis: Da sowohl die transeunte als auch die immanente Kausalität aufweisbar die reale Möglichkeit der – weiter oben als unmöglich erkannten – anfangslosen Wechselreihe impliziert, scheiden diese beiden als Realbegründung von Entstehen, Werden und Veränderung aus, und es erweist sich die transzendente, auf Freiheit und Kreativität beruhende Kausalität als die einzig widerspruchsfreie und denkmögliche, mehr noch denknotwendige Kausalität. Echte Hervorbringung ist demnach nur selbsttätig, frei und bewusst, und also nur geistig möglich. Es folgt: Die Ursache ist stets seinsmächtiger als ihre Wirkung, weswegen sie von einem höheren Seinsrang her eine Seinsrangdifferenz konstituiert, die von unten, von der Wirkung her, nicht überbrückbar ist. Wäre diese Differenz überbrückbar, wäre wieder die Möglichkeit der anfangslosen Wechselreihe, hier als unendliche Ursache-Wirkungskette, gegeben, was nicht möglich ist. Ergo: Die Ursache bringt ihre Wirkung niemals als realen Teil ihrer selbst hervor, sondern setzt sie sich souverän als seinsrangtiefere Wirkung gegenüber. Pantheismus, Panentheismus und Emanatismus scheiden damit als Theorien des Werdens aus. B. v. Brandenstein zeigt in einem nächsten Schritt, dass nur zwei Kausalitäten innerhalb der drei Seinsränge möglich sind: Die oberste, erste, unbedingte Causa ist das Ursein der Gottheit, deren Wirkungsmacht unendlich und urfrei ist und die die Zweitursachen – die erschaffenen, insofern zeitlich bedingten, aber dennoch geistigen, physisch wirkmächtigen Wirkkräfte – erschafft. Diese Zweitursachen sind ihrerseits zwar in der Lage zu wirken, doch ihre Wirkungen selbst sind nur mehr passive Wirklichkeiten, die selbst nicht mehr aktiv wirken können. Letztere sind keine Ursachen, Causae, sind nur mehr Wirkungen, Objekte, Gegenstände, Werke. Mehr als diese drei Seinsränge und zwei Ursächlichkeiten sind ohne Verletzung des Wechselreihentheorems nicht möglich. Die Inkonsistenz des neuzeitlichen Kausalmodells besteht geneVgl. B. v. Brandenstein (1957, Kap. 11: Das Kausalprinzip und seine metaphysischen Folgen, 75–143; 1966, Bd. 3, 67–85: Das Problem der Kausalität; 1973, 779 ff.; 1983, Kap. 36: Kausalität).
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Das Problem der Entstehung überhaupt
rell darin, dass das Wie der Naturgesetzlichkeit zum Wodurch gemacht wird. 7 Auch der Theologe A. Kreiner 8 folgt in seiner Theodizee dieser positivistischen Auffassung und meint, dass nicht Gott direkt das Naturgeschehen bewirke, sondern dass er die Naturgesetze erschaffe, die als eigenständige Ursachen die Natur hervorbringen und aktiv gestalten. 9 Klassisch formuliert dies z. B. M. Planck (1923) in seinem Vortrag »Kausalgesetz und Willensfreiheit« in »Wege zur physikalischen Erkenntnis« (1944, 112 ff.): »Als Kausalität können wir ganz allgemein den gesetzlichen Zusammenhang im zeitlichen Ablauf der Ereignisse bezeichnen.« Doch schon in dem 1932 gehaltenen Vortrag »Die Kausalität in der Natur« (1944, 223 ff.) widerspricht er und sagt, »dass das Kausalgesetz in seiner bisher üblichen Formulierung unmöglich allgemein durchgeführt werden kann: denn in seiner Anwendung auf die Welt der Atome hat es endgültig versagt.« Folgerichtig fährt er fort: »Daher findet sich ein jeder, der für den Sinn und die Bedeutung naturwissenschaftlicher Forschung Interesse besitzt, vor die dringende Aufgabe gestellt, das eigentliche Wesen der Naturgesetzlichkeit aufs Neue der Prüfung zu unterziehen und vor allem dem Begriff der Kausalität noch tiefer als bisher auf den Grund zu kommen.« Es ist seltsam und bezeichnend, dass die moderne bzw. postmoderne Philosophie hier nicht einmal mehr das Problem, geschweige denn die Aufgabe sieht, obwohl nahezu alles daran hängt, so neben dem Problem der Naturursachen auch das Freiheits- und Handlungsproblem, Probleme, die völlig neu behandelt werden müssen, wenn die Natur nicht vormodern als die direkte und alleinige Wirkung Gottes oder idealistisch, wie bei F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel, als Selbstausfaltung des Absoluten interpretiert werden soll. 8 Vgl. A. Kreiner (2005, 331 ff.). 9 Hierauf beruht auch die Kritik M. Heideggers (1957) am »Satz vom Grund«, lateinisch: »nihil est sine ratione«, den er im Sinne eines Satzes von der Begründung, also wissenschaftstheoretisch auslegt: Um etwas als seiend zu behaupten, muss es begründet oder – wie M. Heidegger sagt – »sichergestellt und berechnet« werden können. Nach M. Heidegger beginnt dieser »rechnende und sicherstellende Zugriff« bei Platon (angeblich schon deswegen, weil er seine Aussagen zu begründen versucht) und findet seine konsequente und radikale Fortführung in der Neuzeit, die mittels mathematischer Berechnung die Natur zu »greifen und letztlich für die praktische Bemächtigung sicherzustellen« versucht. Hält diese Aussage, genauer betrachtet, einer Überprüfung stand? Ja, wenn unter »ratio« im »principium rationis« nur das mathematische Abhängigkeitsverhältnis von durch Naturgesetzen verbundenen Wirkungsketten verstanden wird. Dass Letzteres für die neuzeitliche Wissenschaft bestimmend war, da sie das mathematisch formulierte Naturgesetz als reale Wirkursache des Weltgeschehens betrachtet, kann kaum bestritten werden, aber nachweisbar trifft dies nicht auf Platon und die Antike zu. »ratio« oder gar »aitia« meint hier zum Ersten keineswegs nur ein Begründen seitens des Menschensubjektes, sondern ein objektives Seinsverhältnis, zum Zweiten bedeutet es nicht ein mathematisches Berechnungsgesetz, sondern ein seinslogisches, das heißt logisch-begrifflich erfassbares, Seinsund Wesensverhältnis (z. B. zwischen den Ideen und ihren Abbildern), das gerade nicht berechnet, das vielmehr analytisch aufgedeckt (bzw. bei Platon »erinnert«) und in seinem Wesen geschaut werden muss. So ist bei Platon die Ursache bzw. der wir7
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Ein Naturgesetz bringt aber nichts hervor, es ist zu selbständiger Aktivität nicht fähig, sondern gibt nur das Wie eines Geschehens, die Art und Weise seines spezifischen Verlaufs an. Dass sich zwei Körper in der Weise des newtonschen Gravitationsgesetzes anziehen, beschreibt wohl das Wie dieser Anziehung – aber dass sie sich überhaupt anziehen, lässt sich durch das Naturgesetz nicht erklären, wie es auch naturwissenschaftlich nicht einsichtig zu machen ist, dass überhaupt eine Gravitation wirkt und überhaupt ein Gesetz gilt. Klar jedenfalls ist, dass bei der Annahme, ein Naturereignis habe notwendig ein anderes Naturereignis, das zeitlich vorausgeht, als Ursache zur Voraussetzung, es zwangsläufig folgt, dass diese Ursache-Wirkungskette erstens notwendig und zweitens anfangslos ist und damit Freiheit, Moral, Verantwortung in jeder Hinsicht verunmöglicht. Das wurde bereits widerlegt. Da jedoch etwas, das entsteht, weder von sich noch von nichts kommen kann, andererseits nicht von etwas Gleichartigem, das zeitlich vorausgeht und in das Entstehende übergeht, verursacht worden sein kann, folgt, dass die Ursache von etwas Entstehendem nicht in dieses Entstehende übergeht, sondern dieses als seine Wirkung aus seiner seinsranghöheren Kraftfülle heraus wirkungsmächtig setzt und kreativ hervorbringt. Dabei verliert die Ursache nichts, vielmehr entfaltet sie sich als Wirkungszentrum und vermindert sich nicht. Eine Ursache, die frei wirkt und schöpferisch ist, kann ihr Wirken auch unterlassen, also wählen, sie ist wesenhaft bewusst und damit geistig. Wie für das transitive Kausalmodell kann auch für das immanente Kausalmodell eine Inkonsistenz aufgezeigt werden: Es impliziert, wie B. v. Brandenstein an den vielen angegebenen Stellen beweist und hier ebenfalls dargelegt wurde, die Möglichkeit der anfangslosen Wechselreihe bzw. der anfangslosen Ursache-Wirkende Grund für die werdenden Erscheinungen der Welt gerade nicht etwas Mathematisches, sondern ein wirkmächtiges, geistiges Prinzip, z. B. die Idee des Guten oder ein Demiurg, welches Prinzip die Welt ermöglicht und formt. »Grund« einseitig, wie M. Heidegger tut, auf subjektive Begründung und auf mathematische Bedingungsoder Gesetzesverhältnisse einzuengen, ist sowohl sachlich als auch historisch falsch: Wohl gibt es mathematische Bestimmungsgründe für alles Seiende, aber es gibt darüber hinaus seinslogische, seinsformende Gründe und real wirkende, sprich kausal hervorbringende Gründe (»Kräfte«, »Mächte«), die sich grundsätzlich von den mathematisch-rechnenden Gründen (rationes mathematices) unterscheiden und für die Bemächtigung der Natur nicht oder nur in anderer Weise genutzt werden können.
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Das Problem der Entstehung überhaupt
kungskette und ist damit widerlegt. Die Wirkung einer Ursache kann daher nicht deren »Leib«, »Kleid« bzw. deren wesenhafte materielle Manifestation sein, wie es z. B. G. W. Leibniz 10 im Anschluss an Aristoteles denkt. Da die Kausalität insofern eines der fundamentalsten Probleme der Philosophie darstellt, als es um die zentrale Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Entstehen, Werden, Bewegung und Veränderung überhaupt geht, reicht ihre Art der Lösung bis zu den letzten Seinsgründen zurück. Wenn Kausalität nur als frei-wirkende Hervorbringung möglich ist, dann können sowohl die Ur-Ursache des Seins, also der letzte Quellgrund allen Seins, wie bereits bei der Behandlung der Kantischen Antinomien dargelegt, als auch die zeitverbundenen Wirkkräfte des Kosmos nur als freie und bewusst tätige Faktoren gedacht werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Sicht der Welt im Angesicht der neuzeitlichen, weitgehend mechanistisch-physikalistischen Weltdeutung revolutionär ist und eine radikale Umbildung sowohl der Natursicht als auch des Naturumganges verlangt. Die Natur ist auf dieser Folie weder eine deterministisch ablaufende Maschine noch ein blindes Zufallsprodukt, aber auch kein direktes Produkt des Absoluten, sondern sie ist das Werk, die Schöpfung, das Wirkungsgebilde einer Vielheit von Wirkursachen, sprich prinzipiell intelligenter, sich in ihren Schöpfungen zeigender, ausdrückender und mitteilender Geistwesen, zu denen der Mensch als selbständige Naturkraft in Verwandtschaft steht. Nur die Polykausalität wird dem Kosmos, wie wir ihn kennen, gerecht. Keineswegs lebt der Mensch daher, wie etwa A. Camus im »Der Mythos von Sisyphos« (1974 a) im Anschluss an B. Pascal (1623–62) meint, in einem toten, tauben, absurden Kosmos, der ihm nichts zu sagen hätte, vielmehr kann er dem so reichen und sinnigen Weltall, wie die moderne Bionik überzeugend lehrt, 11 unabsehbar viel Wissen, Erkenntnis und Sinn ablauschen. 12 Darüber hinaus beweist der Umstand, dass der Mensch mit seinen physischen Kulturbildungen konVgl. G. W. Leibniz (1966, 72 und 1966, 451 ff. im Absatz 70): »Aus dem Gesagten ersieht man, dass jeder lebende Körper eine herrschende Entelechie hat […]« 11 Vgl. K. G. Blüchel (2005). 12 Dem Leben in seiner Fülle, Tiefe und Innigkeit näher stehende, native Völker und viele Künstler erfassen dies besser als die meisten Philosophen, so z. B. der deutschfranzösische Künstler Walter Notz und seine »kosmische Kunst der Bewegung, Berührung und Freude.« 10
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
sequent und sinnhaft auf den vormenschlichen Naturgrundlagen aufbaut, dass diese mit jenen kompatibel und somit im weitesten Sinne geistverwandt sind. All das wäre bei völliger Fremdheit zwischen Mensch und Natur, wie sie R. Descartes und I. Kant ansetzen, unmöglich.
3.3. Die Kausalität des Leidens: Getroffenheit, Betroffenheit und Selbstentwurf Da das Leiden entsteht, muss es hervorgebracht, in diesem Sinne verursacht werden. Wie schon in meiner Dissertation gezeigt, verzahnen sich hier zwei Kausalitäten, eine externe und eine interne. Streng genommen, wird ein Zustand erst dadurch zum Leid, dass der Betroffene ein Widerfahrnis als Übel, als Leid, und zwar als sein Leid wahrnimmt, erlebt und bewertet. Das aber tut er, indem er sich subjektiv von einem Widerfahrnis getroffen fühlt und dieses Getroffenwerden – meist intuitiv-präreflexiv – negativ bewertet. Das ist die erste, externe Kausalität. Wo nichts widerfährt, kann an nichts gelitten werden, und sei es das bloße Dasein. Doch dieses Daranleiden ist ein Zweites, bei dem die Aktivität des Betroffenen ins Spiel kommt. Daher ist sie nicht extern, sondern vollzieht sich intern. Und wie das Leben bezeugt, kann der Mensch nicht nur an äußeren Widerfahrnissen, sondern auch an sich selbst leiden, etwa an seiner Komplexität, Vergänglichkeit, Unvollkommenheit, an seiner Selbstundurchsichtigkeit und Verantwortlichkeit, kurz daran, dass er, wie E. Levinas 13 sagt, an das Sein seiner Existenz bzw. an sein Leben als Erduldenmüssen des Lebens (M. Henry) gekettet ist. Das ist die zweite, die interne Kausalität. Sachlich die erste, gewissermaßen noch neutrale Kausalität, die zum Gesamtvorgang des Leidens gehört, ist das Widerfahren des Vgl. E. Levinas (2005, 9). Zu Recht betrachtet M. Henry (2017, 13–26) das Erdulden- und Tragenmüssen des Lebens als ein unumgängliches (Selbst-)Erleiden bzw. als Selbstaffizierung des Lebens – wir können als Erlebende nicht sein, ohne zu leben. Zu weit geht er aber, wenn er meint, Leben bedeute notwendig Leiden. Dazu wird es erst, wenn der Mensch sein Lebenmüssen als bedrückend und als Zwang, den er abschütteln will, erlebt und so sich gegen das Leben – vergeblich – auflehnt, ihn also nicht abschütteln kann. Ohne die Unterscheidung von Erleiden (Affizierung, Widerfahrnis, Affliktion) und Leiden (pathos, Affekt) verwirrt sich eine jede Lebens-, Leidens- und Übelphilosophie, mithin eine jegliche Theodizee.
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Die Kausalität des Leidens: Getroffenheit, Betroffenheit und Selbstentwurf
Widerfahrnisses. Doch erst durch Erleben und Deuten desselben von Seiten des Erleidenden wird dieses Widerfahrnis zum Leid. Das bedeutet alles andere als Willkür und subjektiven Relativismus, sondern offenbart eine fundamentale Selbst-Welt-Beziehung, in der sich eine Sinn- und Wertrelation von objektiver Sachhaltigkeit einstellt. Zwar kann der Betroffene prinzipiell alles, was es gibt und was er erfährt, zum Leid machen, auch das Glück, doch selbst dann drückt sich darin kein Zufall und keine Willkür aus, weil das Glück etwa in seiner Zerbrechlichkeit und Unverfügbarkeit erlebt wird. Letztlich erscheint einem Leidbetroffenen das als Übel, Unheil, Unglück und Leid, was ihm einen echten Seins- und damit elementaren Sinn- und Wertverlust bedeutet, z. B. den Verlust der körperlichen Unversehrtheit, den Ausfall einer intakten Körperfunktion, den Verlust einer Empfindungsfähigkeit oder den Verlust einer seelischen Erlebnisregion, einer seelisch-geistigen Fähigkeit oder den Verlust einer menschlichen Beziehung, aber auch den Verlust von Arbeit, Besitz, Anerkennung, Einfluss, Macht, Ansehen usw. Auch ein Zuviel hat eine Mangelseite, etwa ein chronischer Schmerz oder eine Affektüberflutung, die zu Kontrollverlust und Erlebniseinschränkung führen. Wohl kann sich ein Mensch einen Verlust »einbilden« bzw. sich in einen solchen hineinsteigern, aber dann verlor er eben das Selbstund Lebensvertrauen, die Klarheit des Blicks und das Erduldenkönnen der Unbilden des Lebens, um im Gleichgewicht zu bleiben – und das ist ein Verlust, den der Betroffene nur nicht klar einordnen kann, sondern mit Scheinverlusten vermengt. Da der Mensch grundsätzlich zu sich, zur Natur und zur Mitwelt in einem Seins-, Sinn- und Wertverhältnis steht, darin ihm alles zum Guten wie zum Schlechten gereichen kann, ist er immer einer möglichen Affliktion ausgesetzt und kann Schaden nehmen; daher ist die Wirklichkeit nie neutral. Erkennt man gar, wie im vorigen Kapitel gezeigt, dass alle Wirklichkeit die Wirkung von geistigen Wesen ist, ist auch alle (vormenschliche) Wirklichkeit mit Sinn, Bedeutung und Wert aufgeladen, obgleich nicht mit menschspezifischem Sinn. Wie dem auch sei, im Leiden wird ein Wesen, das wesenhaft sinn- und wertbezogen lebt, von einer sinnstörenden, oft sinnzerstörenden Macht getroffen, worauf es mit Betroffenheit und Leiden antwortet, was wiederum nur auf dem Hintergrund eines meist implizitunbewussten bzw. nur teilbewussten Selbst-Welt-Entwurfes möglich ist. Denn alles Leiden impliziert ein »So soll es nicht sein, sondern 225 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
anders«, also einen Seinsentwurf und damit eine bestimmte SelbstWelt-Beziehung. 14 Hier kommt die Kausalität aus menschlicher Freiheit ins Spiel, da solch ein Selbst-Welt-Entwurf nicht mechanisch oder zufällig oder notwendig sein kann, sondern als Ausdruck einer Selbst-Welt-Gestaltung gedacht werden muss. Damit erhellt, dass Leid nicht allein von außen zugefügt werden kann, sondern von der Seins-, Sinn- und Wertstruktur, also vom Selbst-Welt-Entwurf des Betroffenen wesentlich mitbestimmt wird. Daher kann das, was für den einen ein Unheil ist, dem anderen zum Heil gereichen. Immer müssen der Gesamtkontext und die darin lebendigen Intentionalitäten herangezogen werden, in denen ein Mensch oder eine Menschengruppe stehen, anders lässt sich kein adäquates Verständnis für den Betroffenen gewinnen. Alles Übel vereinigt demnach eine objektive und eine subjektive Seite, und keine der beiden Seiten ist zufällig oder willkürlich bzw. hat selbst da, wo sie zufällig oder willkürlich zu sein scheint, eine tiefere Realitätsbedeutung, die dem Betroffenen oft unverfügbar ist. Auf dieses in der Tat schwierige Problem komme ich später im Kapitel 3.5.–3.7. zurück, hier genüge der Aufweis der Doppelschichtigkeit bzw. Doppelseitigkeit der Leidenskausalität: Widerfahren des Widerfahrnisses als erstes Kausalverhältnis (Affizierung und Affliktion), und autoaffektiver Selbstvollzug im Leiden als zweite Causa auf dem Hintergrund eines Selbst-Welt-Entwurfes, in den wesentlich Empfänglichkeiten, Empfindlichkeiten, Wertungen, Bedürfnisse, Wünsche, Ängste, Sinnbezüge und Intentionalitäten eingehen. Erst diese kausale Zweiseitigkeit erklärt so extreme Leidenseinstellungen wie die Buddhas bzw. der Stoiker auf der einen, der typischen Opferhaltung auf der anderen Seite. Während die ersten lehren, dass letztlich alles Leiden vom Betroffenen selbst abhängt und durch einen geistigen Einstellungsakt verschwindet, bei den Stoikern durch Ataraxie (Gemütsruhe) und Apathie (Leidenschaftslosigkeit), d. h. durch ein Insofern es implizite bzw. unbewusste Unter- und Hintergründe all unserer spontanen Selbst-Welt-Entwürfe gibt, ja ganze Selbst-Welt-Entwürfe unbewusst mit im Spiel sind, so genannte implizite, z. B. zentralnervös, aber auch tiefenbewusst erfolgende Musterbildungen, kann das Leiden ein Mittel sein, diese unbewussten Entwürfe unserer präreflexiven Lebenswelt bewusst zu machen. Nur im Leiden erkennt der Mensch, dass er ein abgründiges, in sich noch dunkles Wesen ist, dessen Aufgabe es ist, in dieses dunkle Potential Licht zu bringen (vgl. den delphischen Spruch: »Erkenne dich selbst«).
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Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«)
inneres Sichnichtbetreffenlassen und eine Art affektiver Unberührbarkeit, bei Buddha durch ein Nichtwerten und Nichturteilen, empfindet sich der – oft anderweitig traumatisierte! – Mensch der Opferrolle als permanent betroffen, bedroht und ungerecht behandelt. Im dritten Teil der Philosophie des Leidens, der Ethik des Leidens, wird sich zeigen, dass beide Einstellungen einseitig sind: Während die eine Position Freiheit und Autonomie des Menschen überspannt, degradiert die andere Freiheit und Würde des Menschen zur Belanglosigkeit. Der Mensch darf und soll sich betreffen lassen, soll sich innerlich beteiligen und engagieren, soll auch werten, aber angemessen und maßvoll, z. B. indem er sich über Versklavung, Kinderarbeit, Sexualmissbrauch und Ausbeutung empört, Unrecht anprangert und Zivilcourage zeigt. Der Mensch ist sinn- und wertorientiert, mehr noch sinn- und wertgebunden und soll dazu stehen und sich nicht künstlich unabhängig machen. Andererseits darf die Einsicht in die Abhängigkeiten des Menschen nicht dazu führen, dass er seine Autonomie und Freiheit in einer Opferhaltung aufgibt, vielmehr gilt es, sich in bedrohlichen und entwürdigenden Situationen zu behaupten, abzugrenzen, sich zu distanzieren oder darüberzustellen und manchmal auch sich zu entfernen. Der Mensch ist beides, auch ethisch: gebunden und frei, geprägt und initiativ, wertgezeichnet und wertschaffend.
3.4. Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«) Leiden ohne Freiheit ist unmöglich, weder im Menschen noch außermenschlich, doch handelt es sich immer um geschöpfliche, also werdende, begonnene, »endliche«, genauer, potentialunendliche Freiheit. 15 Werden, sich entwickeln und entfalten kann sich nur, was nicht fertig, nicht total aktualisiert ist, was darin seinen Grund hat, dass solch einem Wesen ein dynamisch-unfertiger Status und ein Potential eignet, das kreativ-unerschöpflich ist. »Das Psychische ist eine Großmacht, die alle Mächte der Erde um ein Vielfaches übersteigt. Die Aufklärung, welche die Natur und die menschlichen Institutionen entgöttert hat, hat den einen Gott des Schreckens, der in der
Endliche Freiheit im echten, finiten (E) Sinne ist, wie gezeigt (siehe Kap. 2.1.– 2.12.), ein Selbstwiderspruch und sachlich unmöglich.
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Seele wohnt, übersehen. Gottesfurcht ist vor der Übermacht des Psychischen, wenn irgendwo, am Platz.« 16
Solange dieses Potential, sprich diese Seinsentfaltbarkeit nicht aktualisiert ist, lebt sie nur als dynamische Möglichkeit, schläft gleichsam und ist »dunkel«, ungelebt, unerkannt, eingeschlossen. Alles Seiende, das zugleich aktiv und werdend ist, trägt ein ungehobenes, unentfaltetes und dunkles Potential in sich, das noch geboren werden will. Es ist ein reales Noch-Nicht, ein ens abyssum, es liegt in Latenz, wie E. Bloch 17 sagt, doch nicht passiv, sondern spannungsvoll, oft auch drängend. Wie bei einer Schwangerschaft will Geburt sein. Wo diese gehemmt wird und nicht gelingt, da leidet ein solches Wesen an seinem Selbstsein, genauer, an seinem Nicht-Selbstseinkönnen, Nochnicht-Selbstseinkönnen mit allen Folgen der inneren Zerrissenheit, etwa mit Nervosität, Schlafstörung und Verlust der Selbstkontrolle. Da seine innerste Daseinsaufgabe darin besteht, sich zu ergreifen und sich zu aktualisieren – »sich zu gebären« –, scheitert ein Wesen an sich selbst, wo es diese Selbstergreifung, diese Freiheit zu sich nicht wagt oder daran gehindert wird. Es gibt kein geschöpfliches Werden ohne Wagnis: Der werdende Geist muss sich aufs Spiel setzen, nicht selten unter der Gefahr, sich zu vergreifen und sich zu schaden. Das aber bedeutet, er muss wagen, ins Dunkel hineinzugehen und hineinzugreifen, um seinen »Schatz« zu finden. Alle Märchen reden von diesem Wagnis und seinem »Gang zu den Müttern«. 18 Gott muss dies nicht, ein Ding kann es nicht, allein den kreativen Zwischenwesen ist es auferlegt. Der gesamte Kosmos erweist sich, insofern er das Werk von Zweitursachen ist, als Wagnis, als Versuch und Irrtum, als Selbstentfaltung potential-aktiver Geistkraftwesen, als »aventure«. 19 Nicht Gott braucht die Schöpfung, er ist der ImmerSiehe C. G. Jung (1983, 131 f.). Als eines der tiefsten und radikalsten Sprachsymbole bzw. Sprachgleichnisse, das von der Ungeheuerlichkeit des menschlichen Seinsabgrundes zeugt, darf das Shakespeare-Drama »Macbeth« gelten, in dem die entsetzlich-fraglichen und (selbst-)mörderischen Abgründe des Menschseins zum Vorschein kommen. 17 Vgl. E. Bloch (1974, bes. Kap. 15, 17, 18, 20, 54). 18 Vgl. K. Jaspers (1947, 840); P. Wust (1946); J. Herzog-Dürck (1960); P. Tournier (1986). 19 Auch in der Gegenwart gibt es Philosophen wie A. Platinga, die die Existenz von nichtmenschlichen Geistgeschöpfen für möglich oder sogar – im Rahmen einer konsistenten Theodizee – für nötig halten. Da sie jedoch nicht die notwendigen metaphysischen Voruntersuchungen anstellen, bleibt es bei bloß religionsphilosophischen Vermutungen, so etwa bei A. Platinga (1974, S. 192), der den »Sturz der Engel« in 16
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Der potentiale Seinsabgrund geschöpflicher Geistwesen (»ens abyssum«)
schonentfaltete, Totalaktuale, Voll-Lebendige, doch die geistigen Geschöpfe brauchen sie, um zu sich und zueinander zu finden. 20 Die gesamte sichtbare Schöpfung nimmt absurde und bizarre Züge an, wenn sie, wie naiverweise in vielen Religionen, teilweise auch im Christentum, als direktes Werk Gottes betrachtet wird. 21 In diesem Fall wäre er der unmittelbare Verursacher von Übel und Leid, Irrtum und Sackgasse, Versuch und Verwirrung, Kampf und Schmerz, Fressen und Gefressenwerden, Auf-, Ab- und Umbau, von Missbildung, Altern, Krankheit, Krebs, von Mord und Totschlag. Das ist sinnwidrig, zumal er all dessen nicht bedarf. Darum muss die klassische Theodizee solange scheitern, wie sie Gott nicht nur als allmächtig, sondern als allwirksam betrachtet. Erst die Einbeziehung des Entwicklungsgedankens, bereinigt von der unhaltbaren Zufallshypothese des Darwinismus, kann das Theodizeeproblem, die Koexistenz von Gott und Übel, Gott und Leid, Gott und dem Bösen einer Lösung zuführen. Der wesentlichste Baustein dafür ist die Einsicht, dass es Zweitursachen – in Gestalt des Menschen und als verborgene Naturgeistkräfte – gibt und dass sie wesentlich seinspotential, seinsdunkel, wiewohl seinsgebärfähig und damit partiell frei und reifungsberufen sind. 22 Mit den prägnanten Worten Proezas aus P. Claudels »Der seidene Schuh«: »Warum sollte ich das Tiefste in ihm schonen?« Anspruch nimmt, um die Übel in der Natur »zweitursächlich« zu erklären, was doch allzu mythologisch ausfällt. Es widerstreitet dem empirisch erfassbaren Naturgeschehen, seine Unvollkommenheiten und Dysteleologien durchgängig als Folge eines Abfalls nichtmenschlicher Geistgeschöpfe von Gott zu deuten, gibt es doch, wie z. B. E. Becher (1917) anhand der Pflanzengallen zeigte, sogar Fremddienlich-Zweckmäßiges in der Natur, wobei man allerdings nicht so weit gehen muss wie E. Becher, der darin eine Form der »Feindesliebe« sieht. Es ist auch möglich, dass die Pflanze als Wirt von dem Parasiten, was oft in der Natur vorkommt, gewaltsam umprogrammiert wird. Auch darin zeigt sich eine allerdings niemals allweise Intelligenz. 20 Bzw. Gott braucht die Schöpfung insofern, als er sich nur durch sie und damit durch das Mitschöpfen der Zweitursachen als Schöpfer realisiert! So gesehen, darf man überspitzt sogar sagen, dass erst durch die mitschaffenden Zweitursachen Gott als Schöpfer, jedoch selbstverständlich nicht als Gottheit (!) realisiert wird. 21 Auch K. Rahner (1965, 80 f.) betont die metaphysische Regel, dass Gott den Zweitursachen das physische Wirken in der Welt überlässt, nicht nur, weil sonst alles Weltgeschehen ein Wunderwirken wäre, sondern weil damit auch alle geschöpfliche Freiheit aufgehoben würde. Gott bewirkt also, von Wundern abgesehen, nicht die empirisch-sichtbare Schöpfung, sondern deren Grundlagen, die Naturgeistkräfte, die Menschenseelen und die metaphysische Materie. 22 In der existenziellen und spirituellen Notwendigkeit, den Seinsabgrund der geistigen Geschöpfe zur vollen Offenbarung zu bringen – vgl. dazu Jesu Lampengleichnis
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Da der Mensch in seinem geistig-schöpferischen Wesen nicht nur unausschöpflich (potentialunendlich, pU), ein Abgrund (homo abyssus), sondern auf das Unendliche (aU) hingeschaffen ist, aber im Vergänglichen (E) existiert, steigert sich bei ihm die existenzielle Seinsdiskrepanz bis ins Unerträgliche: »Der betrübliche und schmerzliche Widerspruch im Menschen liegt darin, dass er in seinen verborgenen, nicht enthüllten Tiefen ein unendliches Wesen ist, das nach dem Unendlichen strebt, ein Wesen, das nach Ewigkeit dürstet und das für die Ewigkeit geschaffen ist, das sich aber darauf beschränkt sieht, ein endliches und begrenztes, ein zeitliches und sterbliches Dasein zu führen […] Ich sollte in mir die ganze göttliche Welt tragen, und statt dessen trage ich in mir ein Nicht-Ich, eine tötende Objektivität.« 23
3.5. Das Wesen des Übels und seine Ordnung An diesem Punkte angelangt, drängt sich die zentrale Fragestellung im Rahmen einer jeglichen Philosophie des Leidens, des Schlechten und des Bösen auf, die Frage nach der Existenz und dem Wesen des in Markus 4, 21–25 –, liegt der Grund, warum Gott die Bösen oft lange, ja nicht selten bis zum Punkt ihrer Selbstzerstörung gewähren lässt: »Jesus aber sprach: »Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen. Wenn nun der Satan den Satan austreibt, so muss er mit sich selbst uneins sein; wie kann dann sein Reich bestehen?« (Matthäus 12, 22–26). Nur so lässt sich verstehen, warum A. Hitler über 40 Attentate überlebte, da nur auf diesem Wege das letztliche Wesen des Bösen aufzudecken war, nämlich sich – in tiefstem Seins-, Lebens- und Selbsthass – selbst zu vernichten. Dieser Hass als »Wille zum Nichts« (K. Jaspers) entspringt nicht selten, wie I. Kershaw für den Fall Hitlers herausarbeitet, aus der quälend erlebten Erfahrung der bodenlosen Nichtigkeit und »Misslungenheit« (siehe B. v. Brandenstein 1948, 15–18) des eigenen Lebens, verbunden mit einer willensstarren Realitätsverleugnung, mehr noch mit der quasigöttlichen Erhebung des eigenen Willens über alle (!) Wirklichkeit und Werthaftigkeit. Darüber hinaus werden im Falle des Naziregimes Ressentiment, Lüge, Selbstbetrug, Feigheit und Todeskult offenbar, wenn sich etwa die nationalsozialistischen Paladine (Himmler, Göring, Hess, Goebbels usw.), die von Kindern Tapferkeit und Gehorsam bis in den Tod predigen, am Ende der Verantwortung entziehen, untertauchen, verstellen oder um Gnade bitten. Die Bösen sind zwar nie banal, aber am Ende sehr oft jämmerlich. Kurzum: Wäre A. Hitler einem Attentat zum Opfer gefallen, hätte die Gefahr einer neuerlichen Dolchstoßlegende bestanden, durch die A. Hitler zum Märtyrer und zum größten Feldherrn aller Zeiten stilisiert worden wäre. 23 Siehe N. Berdjajew (1951, 68 f.), der mit seiner Materiefeindschaft allerdings zu einem gewissen gnostischen Dualismus neigt. Zum »homo abyssus« vgl. F. Ulrich (1961).
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Das Wesen des Übels und seine Ordnung
Übels. Dass es sich hierbei um etwas handelt, das alles andere als selbstverständlich ist, beweist die Tatsache, dass es Anschauungen gibt, die die Existenz des Übels prinzipiell oder weitgehend leugnen. Denker wie G. Bruno 24, A. Shaftesbury und B. de Spinoza, aber auch die »Christian Science« der M. Eddy Baker, 25 die im Übel nur eine Fehlinterpretation der an sich göttlichen, immer guten Wirklichkeit sehen, vertreten diesen radikalen ontologischen Optimismus. 26 Nicht sehr weit von dieser Position entfernt liegt jene Philosophie, die das Übel, wie z. B. im Fall des Stoikers Epiktet, 27 ausschließlich als subjektivistische Wertung einer an sich neutralen Wirklichkeit deutet, da sie davon ausgeht, dass alle vormenschliche bzw. voranimale Wirklichkeit sinn- und wertneutral sei. Beide Positionen sind erweisbar einseitig und ergänzungsbedürftig, was auf dem Hintergrund der bisherigen metaphysischen Ergebnisse nicht verwundert, da sich die gesamte Weltwirklichkeit als geistiges Schaffenswerk frei-bewusster und wertbezogener Kräfte erwies. Beginnen soll die Analyse des Übels jedoch von einer anderen Seite her. In der Phänomenologie des Leidens war dargelegt worden, dass der Akt des Leidens als subjektiver Vollzug ein Woran braucht, an dem er sich aktualisiert. Wer an nichts leidet, leidet nicht. Dieses Woran des Leidens wurde das Leid oder der Leidensgegenstand genannt, man könnte ihn auch als das subjektive Übel bezeichnen. Seine Konstitution verdankt sich der Intentionalität des Leidens, die sich nur insofern realisieren kann, als sie auf etwas erlebnismäßig-sinnhaft gerichtet ist, das den Betroffenen leiden lässt. Inhaltlich umfasst dieses Leid alles, also keineswegs nur Weltinhalte, Weltgegenstände oder Weltsituationen, sondern auch imagiVgl. die Theodizee G. Brunos in der Zusammenfassung von F. Billicsich (1952, 27– 32). 25 Vgl. M. Eddie Baker (1910). 26 Aus der Perspektive Gottes bzw. aufs Ganze gesehen, das auch die Zukunft umfasst, haben sie durchaus recht, da vom Ende der Zeit aus betrachtet, das Gott in sich vorbildlich und zeitlos weiß und wo sich alles zum endgültig Guten wendet, auch alles Schlechte überwunden wird. Aber auch diese Perspektive macht aus dem Schlechten als solchem, d. h. aus den Übeln von Leid, Schuld und Sünde, nichts in sich bzw. endgültig Gutes, selbst wenn das Schlechte eine Funktion für das gute Ganze hat. Vor allem das sittlich Schlechte, das Böse also, kann und darf niemals als bloße Unvollkommenheit, Stufe oder als neutraler oder positiver Teil im Ganzen betrachtet werden, wie das die genannten Denker, aber auch etwa G. W. F. Hegel u. a. tun. 27 Siehe Epiktet (1925, 27): »Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen über die Dinge.« 24
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
native, imaginäre und subjektive Sachverhalte, ja das eigene Sein und Leben selbst. Die Intentionalität der subjektiven Akte kann reflexiv auf das Subjekt selbst gerichtet sein und z. B. sein Dasein, seine Gestimmtheit, seine Kontingenz oder seine Irrbarkeit meinen, 28 sie kann in die Welt weisen, über die Welt hinausstreben, etwa zu den Quellen der Wirklichkeit, und schließlich ist sie fähig, ins Leere, ins Nichts zu zielen. Im Fall Gottes erreicht der intentionale Akt seinen Gegenstand nur meinend, nicht real, da Gott im Bewusstsein nicht bzw. nur als Vorstellung, die nicht Gott ist, setzbar ist. 29 Das Nichts gar, ein Lieblingsthema der Heideggerschen Ontologie, ist wesenhaft unerreichbar, andernfalls wäre es etwas. So lässt sich sagen, dass irgendeine Wirklichkeit oder Wirklichkeitskomponente, was Phantasien und Wahninhalte miteinbezieht, durch den intentionalen Akt des Leidens zum Leid, Leidensgegenstand oder zum Leid-Übel wird. Was lässt sich nun von diesem selbst sagen? Worin besteht sein Wesen, seine Struktur, sein Gefüge? 30 Das Subjekt ist, wie K. Jaspers (1947, 1. Teil, 2. Kap.: Existenz, 76 ff.) immer wieder in Anlehnung an S. Kierkegaard betont, kein Weltgegenstand. Das genau ist aber die Sichtweise aller Naturalismen. 29 Auf der Gleichsetzung bzw. Verwechslung von subjektimmanenter Gottesidee und subjekttranszendenter Gottesrealität beruht die Unzulänglichkeit des ontologischen Gottesbeweises. 30 Die hier vorgelegten Überlegungen sind unabhängig von Thomas v. Aquin (1985, 214–224) entstanden, stimmen aber mit seiner Analyse in der »Summe der Theologie« weitgehend überein. F. Billicsich (1. Band, 1955, 319–344) fasst die thomasische Übellehre und die ihr entsprechende Theodizee in einem guten Überblick mit wörtlichen Zitaten zusammen. Drei wesentliche Unterschiede zur hier vorgelegten Theodizee seien nichtsdestotrotz genannt: 1. Aufgrund des relativ statischen Weltbildes von Thomas v. Aquin und der zu seiner Zeit fehlenden Kenntnis der evolutionären Dynamik des Kosmos, der Lebewesen und des Menschen mit seiner Kultur, war es ihm nicht möglich, den Läuterungs- und Reifungssinn der Schöpfung in seiner ganzen Tiefe auszuloten; 2. Da Thomas in seiner Kausallehre von der Immanenzkausalität des Aristoteles abhängt, so dass er z. B. Feuer als selbsttätig und damit als Ursache für Wärme betrachtet, konnte er das Wesen der Zweitursachen nicht klären, was, wie gezeigt werden soll, die Theodizee mit unlösbaren Aporien beschwert; 3. Gegen die Auffassung von Thomas, die Schöpfung sei nicht die beste aller möglichen Welten, da Gott unendlich viele bessere Welten denken kann und real auch hätte eine bessere als die bestehende schaffen können, ist erstens einzuwenden, dass jede von Gott nur gedachte Welt schon insofern weniger vollkommen als die bestehende ist, als diese selbständig-eigentätig ist und das Prinzip der Freiheit realisiert, während jene wesenhaft unselbständig-unfrei ist, und zweitens, dass Gott es seiner Vollkommenheit schuldet, die Welt, die er aus den unendlich vielen in seinem Bewusstsein auswählt, mit allen ihren Potenzen, Konflikten, Mängeln, Übeln und Reifungsmöglichkeiten als 28
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Das Wesen des Übels und seine Ordnung
Alles Leid ist eine Wirklichkeit, und zwar jene, von der sich der Betroffene – jedoch vergeblich – zu befreien sucht, und das heißt, er fühlt sich von einem Übel bedrängt, eingeschränkt, manchmal verletzt und beschädigt. Damit eignet einem jeden Leid ein dynamischer Unwert- und Unsinnscharakter: Der Leidende beweist durch sein Leiden an einem bestimmten Leid, dass diese leidvolle Wirklichkeit, obwohl sie ist, nicht sein soll. Das Leid stellt damit eine eigenartige Mischung aus einem bedrängenden Zuviel und einem entziehenden Zuwenig dar, meint also eine Unordnung, einen Mangel, allerdings einen Mangel mit dem Vorzeichen des Nichtseinsollenden, des Unwertes, was man im Allgemeinen Unannehmlichkeit, Beeinträchtigung, Störung oder Schaden nennt. 31 Die Wertwidrigkeit gilt jedoch keineswegs für jeden Mangel, da es natürliche Mängel gibt, z. B. die Unfähigkeit des Menschen, aus eigener Kraft zu fliegen oder alles, was in seinem Leben geschah, zu erinnern. 32 Der Leidmangel ist demnach anderer Natur, er ist gewissermaßen widernatürlich. Was heißt dies genauer? Vor allem, was meint hier »Natur«? Der Begriff »widernatürlich« will anzeigen, dass einem Seienden etwas fehlt bzw. abhandengekommen ist, ohne das es nicht sein kann, was es ist bzw. sein soll. Was aber gehört einem Leidenden zu? Alles das, was sein Leben ermöglicht und seinen Daseinssinn realisiert. Beispiele dazu: Zum leiblichen Sinn eines Menschen gehört die Befriedigung seiner basalen Vitalbedürfnisse wie Atmen, Trinken, Essen, Schlafen, Ausruhen und Bewegung. Zum psychischpsychosozialen Sinn gehören die Bedürfnisse nach Geborgenheit, Sicherheit, Halt, Verständnis, Mitgefühl, Einfühlung, Förderung, Kommunikation, Bestätigung, Lieben, Geliebtwerden, Achtung und Gemeinschaftlichkeit. Und zum geistigen Sinn gehören die Bedürfnisse nach kreativer Betätigung, nach Erkenntnis, Bildung, innerem Wachstum, nach Selbstmacht (Selbstwirksamkeit), Orientierung, Erdie bestmögliche zu erschaffen. Wie das konkret zu denken ist, wird an entsprechender Stelle diskutiert. 31 Siehe Augustinus in »De civitate dei«, XII, 1: »Malum nulla natura, sed contra naturam«. Das »contra« als Kraft und Fehlrichtung ist entscheidend! 32 Diese naturgegebenen Mängel bezeichnet G. W. Leibniz (1967, 194, Kap. 21) in seiner Theodizee nicht ganz glücklich als »metaphysische Übel«. Sie sind aber keine Übel, d. h. nichtseinsollende Mängel, wenigstens zunächst nicht, sondern wesenhafte Konstituenten kreatürlichen Daseins und natürliche Grenzen irdischen Lebens, die positiv Sinn, Grenze, Halt, Orientierung und Befriedigung geben; ähnlich vgl. N. Hoerster (2917, 15–19).
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
kenntnis und nach Liebe. Bei diesen Bedürfnissen handelt es sich um Lebenswirklichkeiten, die mehrere Aspekte umfassen: Jedes Bedürfnis ist 33 – erstens eine das Subjekt objektiv, sprich seinshaft bestimmende Größe, die dadurch Orientierung gibt, dass sie anzeigt, was real gebraucht wird; – zweitens eine Fähigkeit, etwas zu wollen und zu realisieren; – und es ist drittens das Streben nach etwas, das lebenswert und damit wertvoll erscheint, aber noch nicht vorhanden oder erreicht ist. Jedes Bedürfnis erscheint so als eine Wirklichkeit, die mehr Wirklichkeit will bzw. solche Wirklichkeit will, ohne die das Leben an Wert, Sinn, Kraft und Perspektive verliert. Jedes Bedürfnis ist daher die Dreiheit von Potenz, Orientierung und Mangel. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Status des Leids bzw. des Übels besser fassen: Alles Leid bzw. Übel ist das Ergebnis des Zusammenpralls zweier Wirklichkeiten, die sich stören oder zerstören und dadurch einerseits ein Zuviel (an Konfrontation), andererseits ein Zuwenig (an Gleichgewicht und Integration) und drittens eine fehlende Passung nach sich ziehen, die alle drei in einem Sinn-Wert-Bezug als Unwert erscheinen. Dabei kann das Übel einen direkten Mangel bedeuten, so etwa, wenn ein Mensch der Unterstützung, der Nahrung, der Arbeit, der Vitalität, des Lebenssinns usw. entbehrt oder es kann einen indirekten Mangel anzeigen, der durch ein Zuviel bzw. durch eine Unordnung bedingt ist. Ohne Sinn- und Wertbezug kann kein Leid, kein Übel zustande kommen, und also hängt seine Konstitution von der Existenz subjektiv-intentionaler Wirklichkeiten, von lebendigen und lebendig »meinenden« Wesen, die zugleich von objektiven, realen Bedürfnissen bestimmt werden, ab. Da Letztere wiederum ökologisch in eine umfassendere Wirklichkeit eingebunden sind, empfängt auch diese einen durchaus objektiven Wert- bzw. Unwert-, Sinn- bzw. Widersinncharakter, ist also keineswegs nur subjektiv bedeutsam. Während mit dem Leid eine wertwidrige Wirklichkeit mehr von der subjektiven Betroffenheitsseite bezeichnet wird, klingt im Begriff des Übels mehr die objektive Widerfahrnisseite an, im Grunde jedoch sind sie beide identisch. Ein Übel ohne jegliches erlebendes, werten33
Vgl. ausführlich dazu meine philosophische Dissertation (2009, 139 ff.).
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Das Wesen des Übels und seine Ordnung
des und an Bedürfnissen orientiertes Subjekt ist unmöglich, und dennoch stellt es einen wirklichen Seinsmangel, einen Mangel, der nicht sein soll, also eine Beeinträchtigung dar. Damit erweist sich jedes Übel als Mangel, Minderung, Hemmung oder Schädigung von Leben, eine Hemmung, Störung oder Schädigung, die, wenn erlebt, Leid bedeutet. Im Leid wird der subjektive Bezug, der im »bloßen« Übel nur implizit da ist, explizit. Das Übel ist demnach ohne Bezug auf ein Erleben nicht möglich und setzt einen Sinnhorizont voraus. Wie weit dieser reicht, hängt von der Deutung des Seins bzw. des Kosmos überhaupt ab. Ist dieser prinzipiell sinn- und wertbezogen, wie die bisherige Analyse ergab, reicht die Möglichkeit des Übels so weit wie der Kosmos selbst. Wie aber muss der Kosmos gedacht werden, dass das Übel in ihm möglich ist? Ex negativo lässt sich Folgendes sagen. Angenommen, es gäbe kein Sein außer dem göttlich-zeitlosen Ursein, wäre das Übel unmöglich, da alles Übel nur als Ereignis innerhalb von Zeit und Werden auftreten kann. Gäbe es außer dem zeitlosen Ursein zwar eine Welt, aber nur eine rein statische Welt, könnte ebenfalls kein Übel eintreten, da dort, wo weder Affliktion noch Minderung vorkommen, das Übel unmöglich ist. Läge zwar eine dynamisch-werdende Welt vor, wäre diese jedoch nur das passive Spielzeug Gottes, bestünde ebenfalls kein Raum für das Übel, da Gott, wo er direkt wirkt, nicht mangelhaft wirkt und niemand da wäre, der leiden könnte. Daraus ist zu folgern, dass nur ein solches Sein, das erstens nichtgöttlich ist, das zweitens dynamisch ist und das drittens von einerseits sinn- und wertorientierten, andererseits bedürftigen und schließlich fehlbaren bzw. störbaren Subjekten als Welt erlebt wird, für das Übel empfänglich, sozusagen übel- und damit leidfähig ist. Diese Einsicht erlaubt umgekehrt die Schlussfolgerung, dass ein solches Sein, das entweder nur göttlich oder, wenn nichtgöttlich, rein statisch oder, wenn nichtgöttlich-dynamisch, subjektlos wäre, nur übelfrei sein könnte. Eine Welt dagegen, die das dynamisch-dramatische Werk wechselwirkend-gegenstrebiger, bedürftiger, im Prinzip fehl-, stör- und verletzbarer Subjektkräfte (im zweiten Seinsrang) ist, kann nicht ohne Übel und Leid, Mangel und Schaden, Kampf, Widerstreit und Scheitern sein. 34 Damit gilt: Mit »Welt« ist hier alles gemeint, was nicht unmittelbar in oder bei Gott lebt. Weder in »seinem Reich« noch im »Paradies« sind Kampf, Übel und Leid möglich.
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Das Übel ist der Preis des höheren Lebens, des Lebens von geschöpflichen Subjekten, die ihr Zusammenwirken und Zusammenleben in einem oft spielerisch-kreativen, oft agonalen Reifungsprozess erst suchen und in diesem Kampf um die rechte Form ringen müssen, bis es ihnen gelingt, ihr Wesensselbst, wohl erst nach langer Auseinandersetzung, zu finden. 35 Um eine Wertwirklichkeit realisieren zu können, ist in einer pluralagonalen Welt von Subjekten, die sich selbst verwirklichen wollen und sollen, die Möglichkeit der Schadenszufügung, also des Übels und damit des Leids unausweichlich. Wer sich als Wert, als Aufgabe, als zu realisierendes Sein erlebt und diesem in einer »engen« Welt der Zeitknappheit, der Gegensätze und des Verfalls Raum verschaffen will, der wird den Zusammenstoß, die Konfrontation und damit die Störung nicht umgehen können. 36 In Hinsicht der Theodizeeproblematik stellt sich damit nicht die Frage, warum Gott das Übel ermöglicht, zulässt oder mitbewirkt, sondern vielmehr ist zu fragen, warum Gott eine Welt der Nichtwelt, eine dynamische Welt einer statischen Welt, eine plural-agonale Welt einer monistischen Welt, eine Welt, die Seinswerte zu verwirklichen aufgerufen ist, einer solchen Welt, die ohne Seins- und Verwirklichungsanspruch ist, vorzieht. Soviel scheint klar: Nur eine dynamisch-werdende, selbständig agierende, plural-kämpfende und »höheres Sein« zu verwirklichen bestrebte Welt ist eine Welt, die sich auf das göttliche Vollsein beziehen, mehr an Sein aus sich heraus erzeugen und sich mit dem Göttlichen verbinden und vereinigen kann. Alle anderen Welten verharren gegenüber Gott passiv und sind ohne dynamischen Bezug zum Ursinn und Urwert des Seins! Damit aber sind sie weder vervollkommnungs- noch gottsuchens- bzw. gotteinigungsfähig; sie würden in sich »gottlos« bleiben. Dies gilt umso mehr, als ein Wesen desto verletzbarer und leidensfähiger ist, je größer seine Komplexität und je empfindungs- und erlebnisfähiger es ist, was mit seinem späteren Auftritt in der Entwicklungsgeschichte korreliert (siehe Kap. 4.16.– 4.18). 36 Zumal dann, wenn gesehen wird, dass kein Auf- und Umbau ohne Abbau, Hemmung und Zerstörung möglich ist. So kann sich der Säugling nur zur Person hin entwickeln, wenn er seine Instinkte hemmt; und so können nur dann neue Lebewesen entstehen, wenn sie andere verzehren und wenn ältere Lebewesen absterben. Zumal der verleiblichte Geist nur, wie M. Scheler betonte, durch das »Nein!«, das er den leiblichen Trieben und den Erwartungen der Anderen entgegensetzt, zu sich selbst und zu seiner einmaligen Individualität erwacht. 35
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Das Wesen des Übels und seine Ordnung
Ein Kosmos, der übel- und leidfähig, damit vervollkommnungsfähig sein soll, muss von seiner Kausalstruktur mindestens so, wie aufgezeigt, beschaffen sein; und da diese Struktur empirisch mit dem bekannten Kosmos übereinstimmt, lässt sich die Ordnung der möglichen Seinsübel untersuchen. Als Erstes ist zu sagen, dass die Übel keine bloßen Unvollkommenheiten sind, daher »metaphysische Übel«, wie sie G. W. Leibniz 37 in seiner Theodizee angibt und wie sie von Augustinus gegen die Manichäer und von I. Kant abgelehnt werden, unmöglich sind. 38 Vielmehr kann im Falle der Grundstruktur des Kosmos nur von natürlichen Mängeln oder Unvollkommenheiten gesprochen werden, so etwa von seiner Zeitlichkeit, Endlichkeit, seiner Polarität, seiner Konfliktträchtigkeit, seinem Aufbau durch »Versuch und Irrtum« usw. Metaphysisch, d. h. in Hinblick auf seine Grundstruktur, ist der Kosmos als werdende Welt, wie auch Platon und Augustinus betonen, vollkommen, frei von Übeln, mangellos. Das heißt anders gewendet, dass zur Vollkommenheit des Kosmos auch Werden, Suchen und Ringen gehören, was erst dadurch zum Übel wird, dass ein Subjekt entweder gegen die Grundordnung der Welt verstößt oder einen Wesenszug des Kosmos als abträglich bewertet und darunter leidet. Außerdem zeigte sich in den letzten Kapiteln, dass ein selbsttätig agierender, dynamisch-plural-agonaler, höheres Sein umkämpfender und zu erringen bestrebter Kosmos seinsmäßig höher steht, reicher Siehe G. W. Leibniz (1967, EA 1710, 194 ff., Kap. 21.). G. W. Leibniz geht in seiner Theodizee noch weiter, indem er aus den metaphysischen Übeln als den natürlichen Grenzen der Geschöpfe das psychisch-moralische Übel, die Sünde, und aus diesem die physischen Übel als Strafe Gottes für eben diese Sünden ableitet, welchen als »Pönalismus« bezeichneten Standpunkt F. M. Voltaire am Beispiel der Zerstörung Lissabons durch ein Erdbeben 1756 als absurd und empörend entlarvt (vgl. F. Billicsich 1952, 193–205). Aus folgenden Gründen ist die Anschauung von Leibniz nicht haltbar: Erstens sind die metaphysischen Grenzen, wie schon Augustinus betont, keine Übel, sondern geben den Seinsrahmen für kreatürliche Wesen ab und bezeugen so die Vollkommenheit der durch Gott geschaffenen Grundlagen der Schöpfung. Zweitens sind diese Grenzen zwar die notwendigen Bedingungen für die Sünde und die physischen Übel, reichen aber keineswegs zu, ihre Existenz zu begründen, was heißt, dass hierfür weitere Bedingungen erfüllt sein müssen. Und drittens lassen sich aus der Sünde weder die physischen Übel ableiten, noch ist die Sünde die zureichende Vorbedingung für das physische Übel, da es physische Übel gibt, die ohne schuldhaftes Zutun und dennoch aus guten Gründen geschehen, so bereits in der vormoralischen Tierwelt. Auch der Versuch, das physische Übel, wie das Augustinus, I. Kant u. a. tun, grundsätzlich als direkte Strafwirkung Gottes zu deuten (»Pönalismus«), ist erweisbar nicht haltbar. Davon im VII. Abschnitt mehr.
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
und lebendiger ist als eine passiv-statische oder dynamische, aber unselbständige, subjektlose Welt. Die natürlichen Mängel des Kosmos, sind darum keine Übel, sondern schlimmstenfalls natürliche Unvollkommenheiten, die in anderer Hinsicht relative, eben weltseinsnatürliche Vollkommenheiten darstellen. Soweit der Kosmos von Gott kommt, und zwar direkt von ihm, kann er nur vollkommen (nicht unbedingt vollständig) und frei von Übel sein. Das Übel findet erst Eingang, wenn endliche Subjekte darin zu wirken und zu leiden beginnen. Welche Formen von Übel sind hier denkbar? Das hängt davon ab, wie die Ordnung der Welt metaphysisch und empirisch beschaffen ist. In dem, was bisher an »ordo mundi« erkannt wurde, sind solche Übel denkbar, bei denen es zu materiellen, leiblichen, psychischen, sozialen, geistigen, moralischen und spirituellen Störungen oder Beeinträchtigungen kommt. Es ist ein Übel, wenn ein zum Wohnen bestimmtes Haus abbrennt; es ist ein Übel, wenn ein Mensch, der gesund leben will, an Krebs erkrankt; es ist ein Übel, wenn eine Person unglücklich, ohne Lebenssinn, lebensüberdrüssig und verbittert ist; es ist ein Übel, wenn sich Völker bekriegen; es ist ein Übel, wenn ein Gemälde zerstört wird, ein wissenschaftliches Problem unbefriedigend gelöst wird, die Philosophie ihren Daseinssinn verliert; es ist ein Übel, wenn jemand lügt, stiehlt, betrügt, andere manipuliert, ausbeutet, mobbt oder auch nur gleichgültig die Welt an sich vorüberziehen lässt; es ist ein Übel, wenn Menschen auf kein höchstes Lebensgut bezogen sind und ein endliches Gut verehren und damit verabsolutieren. Bei allen diesen Übeln werden z. T. reparable, z. T. irreparable Schäden im leiblich-seelischen, sozialen, geistigen und spirituellen Leben gesetzt, die nicht von selbst, sondern durch menschliche oder nichtmenschliche, gezielte oder unbeabsichtigte, freie oder schicksalhafte Aktionen entstehen. Kein Übel erfolgt zwar notwendig, doch sind viele Übel unvermeidlich, so etwa die durch Naturveränderungen bedingten Katastrophen. Es könnte scheinen, dass mit dieser Analyse die realen Bedingungen der Möglichkeit des Übels in der Welt zureichend aufgedeckt sind. Dem ist nicht so. In der Hauptsache deshalb nicht, weil Existenz und Stellung der endlich-geschöpflichen Subjektivität, also der Zweitursachen im Kosmos, noch nicht klar genug bestimmt worden sind. Wenn die Welt das intentionale, damit sinnhaft-geistige Werk solcher wirkfähigen und fehlbaren Geistwesen ist und diese ihrem Schaffens238 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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werk transzendent gegenüberstehen, dann wären sie im Falle der Widerfahrnisse eines Übels nicht unmittelbar (in ihrer Subjektivität), sondern direkt nur in ihren physischen Werken betroffen, so wie das Werk eines menschlichen Künstlers Schaden leiden kann, ohne dass dieser selbst direkt das Übel erleidet. 39 Somit fragt es sich, ob der Fall denkbar ist, dass ein Subjekt in seinem Subjektsein, in seiner Innerlichkeit direkt affiziert und affligiert werden kann. Um dies zu klären, muss noch einmal das Problem der Kausalität und ihrer drei Seinsränge bedacht werden. Vorher jedoch sei die klassische Definition des Übels untersucht und ins Verhältnis zum bisher Erkannten gesetzt: Es handelt sich um das privatio-boni-Theorem.
3.6. Das Problem der »privatio boni« Wie schwer das Wesen des Übels zu fassen ist, beweist der lange geistige, bis in den modernen Thomismus reichende Kampf um sein Verhältnis zum Guten. Unter dem Namen »privatio boni,« wörtlich übersetzt mit »Beraubung des Guten«, versuchten Denker wie Plotin, Aristoteles, Boethius, Augustinus, Dionysius Areopagita, Thomas v. Aquin und G. W. Leibniz das Wesen des Übels zu bestimmen und damit das Theodizeeproblem zu lösen. 40 Bei diesem Unternehmen zeigte sich, dass das Wesen des Übels auf diesem Wege nicht zureichend bestimmt werden kann, da die formale Wesensbestimmung des Übels als Beraubung des Guten keine Aussage darüber beinhaltet, warum, wie und wozu das Übel überhaupt entstand und im Weltgeschehen einen so großen Raum einnimmt. Nicht von ungefähr finden sich daher bei allen genannten Denkern Zusatzhypothesen zur Lösung der Theodizeeproblematik. Entscheidend bei der »privatio-boni-These« ist ihr ontologischer Ansatz: Sie setzt – so schon in der Antike und erst recht im MittelTranszendent heißt, dass sie als solche nicht in der physischen Welt bzw. in ihren Werken anwesen, sondern durch diese hindurchscheinen und zum Ausdruck kommen. Die Frage, wo sie existieren, ist daher ähnlich sinnlos wie die Frage, wo die Seele im Gehirn ist, oder die Frage, wo Gott existiert. 40 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei A. Kreiner (1995, 125 ff.). R. Schönberger (1998) stellt in seinem Aufsatz die Geschichte der Privatio-boni-Problematik dar. Der Begriff »privatio« (griechisch: sterêsis) geht auf Aristoteles zurück, der damit das Fehlen einer Eigenschaft, die einem Dinge von Natur aus zukommt, bezeichnet. So bezeichnet er z. B. Blindheit in Met., V, 22 und X 4, 1055 b als eine sterêsis opseôs. 39
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
alter – das Gute und das Sein gleich: Ens et bonum convertuntur. Alles Seiende ist, allein darum, weil es ist, gut und hat am Werthaften Anteil. 41 Daraus folgt zwingend, dass das Übel nur als ein Mangel an Sein, als Abbruch, Beraubung, Störung oder Beschädigung des Seins bestehen und begriffen werden kann. Daraus folgerten jene Denker, dass das Übel »nichts« ist. Widerspricht dem aber nicht die Erfahrung? Haben die Übel der Welt nicht, wie A. Schopenhauer betont, eine ungeheure Macht und Wirksamkeit? Erdrücken sie nicht das Leben und zerstören es, mehr als anschaulich, Tag für Tag? Das Erste, was entgegnet werden muss, ist, dass das Übel in der Tat als ein Mangel, als ein »Schlechtes«, und zwar zugleich als ein Seins- und Wertmangel erlebt wird. 42 Das Übel wird gerade nicht als Fülle, Harmonie, Zuwachs, Gewinn und Entfaltung erlebt, sondern als Mangel, Hemmung und Beeinträchtigung. Ein Mangel an Lebensfreude, etwa in einer Depression, eine Unterernährung, eine soziale Isolierung, eine Arbeitslosigkeit, eine Krankheit, eine politische Unterdrückung, ein Missverständnis und eine Demütigung – bei ihnen allen ermangelt ein konkret angebbares Seiendes, das zugleich als Wert erlebt wird, der sein soll: die Lebensfreude, die gute Ernährung, der soziale Kontakt, die Arbeit, die Gesundheit, der Respekt usw. Doch darf nicht übersehen werden, dass es sich nur um einen Mangel, nur um Privation, nicht um eine totale Privation handelt, sondern stets ist da ein Seiendes, dem etwas abgeht, was ihm zukommen sollte: der depressive Mensch, der unterernährte Mensch, der isolierte Mensch ist positiv ein Mensch (und nicht nichts), und er bleibt es bei allen Übelschäden. Die totale Privation wäre das Nichts, und das wird von jenen Denkern nicht als Übel bezeichnet; das betont auch Augustinus. 43 Im Gegensatz zum bloß Negativen ist das Übel demnach nicht rein nichts, sondern ein Seiendes, aber kein volles, erfülltes, vollständiges Seiendes, sondern ein solches Seiendes, das beeinträchtigt ist, das einen Schaden, d. h. einen Mangel, der nicht sein soll, erfahren hat. Damit wird die nächste Sinndimension des Übels berührt, die Vgl. ähnlich Augustinus (1948, 17–26, »Bekenntnisse«, Buch VII); ähnlich Thomas v. Aquin (1985, 5. Untersuchung, 49 f.). 42 Im Gegensatz zum Übel und zum Bösen, in deren Wesen neben dem Mangel ein positives Moment besteht, wie bald gezeigt, meint das »Schlechte« im Sinne des NurNegativen einen bloßen Mangel, eine bloße Abwesenheit des Guten. Die Gegensätze gut-böse, gut-übel und gut-schlecht sind demnach nicht völlig identisch. 43 Vgl. Augustinus (1948, 17 ff.). 41
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Das Problem der »privatio boni«
selten thematisiert wird: Das Übel muss entstehen, es muss durch den Vorgang der Beraubung (Beeinträchtigung, Schädigung) zum Schaden werden, und solche Schädigung ist ein dynamisch-kausaler Vorgang, der nicht von nichts, sondern von einem Seienden aktiv ins Spiel gebracht wird. Das Übel wird demnach nicht nur einem positiv Seienden angetan, es wird auch von einem positiv Seienden initiiert und vollzogen. Wenn ein Mensch einen anderen beleidigt, missversteht, quält, verletzt, dann ist die Beleidigung, das Missverständnis etc. zwar das Übel, aber dieses Übel ist eingebettet in einen Ereigniszusammenhang, der das Seiende, das beeinträchtigt, und das Seiende, das geschädigt wird, umfasst. Wo kein verursachendes Sein und wo kein erleidendes Sein ist, da ist auch kein Übel möglich. Die Ursache eines Übels kann sehr verschiedener Natur sein, sie kann ein Mensch oder ein Naturereignis wie ein Erdbeben sein, doch wurde schon gezeigt, dass die Wertung eines Geschehens als Beeinträchtigung von der Seins- und Sinnstruktur, mehr noch von der wertenden Perspektive des Betroffenen abhängt: Objektiv mag die Unterernährung eines Menschen an seinem körperlichen Zustand abgelesen werden, was die Bestimmung einer leiblichen Seins- und Sinn- oder kurz Normstruktur voraussetzt, an der gemessen man zum Urteil »Unterernährung« gelangt. Ob dieser Mensch an diesem Übel leidet, ist damit nicht gesagt – kann er sich darein doch leidfrei ergeben haben. Ohne Bezug auf eine Normstruktur, die, logisch zwingend, eine Wertungsinstanz impliziert, die nicht notwendig der Betroffene sein muss, sind Urteile über Übel und Leiden in jedem Fall unmöglich. Damit offenbart sich eine komplexe Seins- und Sinnstruktur, die das Übel als Übel überhaupt möglich macht: Seiendes als Schadensursache, Seiendes als Schadensempfänger, Seiendes als Wertungsinstanz und fehlendes Seiendes, das sein soll. Besonders bei zwischenmenschlich-sittlichen Übeln zeigt sich die große Seinsmacht, die hier wirkt: Es ist nicht das Übel, das wirkt, sondern der Schadensverursacher, der Schadensempfänger und der Schadensbewerter sind es, die wirken. Vor allem der Schadensverursacher, also derjenige, der verletzt, täuscht, lügt, betrügt, quält, übervorteilt, intrigiert usw., ist eine wahre und damit positive Kraft, die mit ihrem Wirken allerdings intentional auf Negatives, Destruktives und Nichtseiendes bezogen ist, also auf Mangel und Schaden. Die Intentionalität im Übel ist nicht nichts, auch keine Privation, sie ist vielmehr eine wahre Kraft und Macht, doch ihr Ziel, ihre Richtung und ihr Ergebnis sind ein Mangel, ein Schaden, ein Schlechtes, 241 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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ein Böses – kurz ein Nichtiges. 44 Man kann auch sagen: Im Übeltun wirken Kraft und Intelligenz, aber in verkehrte Richtung. Und da geschieht nun das Entscheidende: Das Schadenswirken fällt auf den Schädiger zurück, wenigstens auf Dauer. Denn wer zerstört, kann nichts aufbauen; und wer Übel tut, wird gemieden, isoliert, gebrandmarkt; er verliert, wenn er z. B. lügt und betrügt, das Vertrauen, also muss er es heimlich tun. Dann aber muss er sich verstellen, und schon gerät er in das Übel einer Selbstspaltung, die wiederum schwächt und ängstlich, misstrauisch und letztlich unglücklich macht. Außerdem plagt ihn das Gewissen, er wird innerlich zerrissen, nämlich von seinem besseren Selbst, das er zudem meistens zu unterdrücken versucht. Die größte »Strafe« eines Übelwollens, eines Vergehens und einer Sünde ist daher nicht die negative Folgewirkung, sondern dieses Übelwollen selbst. Denn es untergräbt den, der sich ihm verschreibt, höhlt ihn aus, zerrüttet ihn – zerrüttet also sein Sein, das zunächst und an sich gut ist, durch das Misstun aber reflexiv Schaden erleidet und eine tiefere Glückseligkeit verunmöglicht. Darum betont Platon im »Phaidon« mit Sokrates, dass es schlimmer ist, Übles zu tun als Übles zu erleiden. 45 Man sieht: Alles Übel ist auf ein Sein bezogen, und zwar in vielfältiger Weise. 46 Ein seinsloses Übel gibt es nicht, es ist immer ein Seiendes, das Übel schafft, ein Seiendes, das Übel erfährt, ein SeienSo bezeichnet K. Barth (1987, 172 ff.) alles, was von Gott weggerichtet oder gegen ihn gerichtet ist, was also, wie K. Barth sagt, von »Gott verworfen« wird: »Das Nichtige ist das, was Gott nicht will. Nur davon lebt es, dass es das ist, was Gott nicht will … Die reale Entsprechung des göttlichen Nichtwollens ist das Nichtige.« Oder anders: Die reale Entsprechung des göttlichen Nichtwollens ist jener (geschöpfliche) Wille, der dem Nichtwollen Gottes entspricht. Insofern ist das »Nichtige« nicht rein nichts, sondern seiend, der Wille des Geschöpfes, aber ein Wille, der sich von Gott weg oder gegen ihn richtet. Da Gott aber das Sein schlechthin ist, ist jeder Wille, der sich von Gott abwendet, ein Wille, der sich dem totalen Nichts zuwendet, ohne allerdings das totale Nichts erreichen zu können. Dies wiederum zieht rückwirkend die »Nichtigung« des geschöpflichen Willens durch seine Ausrichtung auf das »Nichtige« nach sich: Indem sich das Geschöpf wirkmächtig von Gott abwendet und dem Bösen und Schlechten, also dem, was Gott nicht will, was er aber zulässt, zuwendet, schwächt und schädigt es sich selbst. Das ist das unvermeidliche Selbstgericht, dem sich niemand entziehen kann. 45 Siehe ähnlich Dionysios Areopagita in »De Divinis Nominibus«, 4.: »Gestraft zu werden ist nicht das Übel, sondern der Strafe wert zu werden.« 46 Und damit ist es, wie Thomas v. Aquin in der 48. Untersuchung der »Summe der Theologie« sagt, stets auf ein Gut bezogen. 44
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des, das das Übel als Übel, d. h. als nichtseinsollenden Seinsmangel, als Seinsschaden, wertet und ein Seiendes, das sein soll. Damit ist klar, dass es weder ein wertfreies Sein noch einen seinslosen Wert gibt. Jedes Seiende ist rein seinsmäßig zu etwas in der Lage, »leistet« etwas, ist zu etwas gut (!) und hat damit einen seinshaften Wert: die Farben zum Gesehenwerden, die Töne zum Gehörtwerden, die mathematischen Formen zum Gemessen- und Errechnetwerden, die Energie zum Bewegtwerden, die Materie zum Trägersein, die Gefühle zur seelischen Belebung und intuitiven Orientierung, die Entscheidungen und Entschlüsse zur Durchsetzung von Vorhaben und die Gedanken zur Klärung und Festigung von Zusammenhängen. Umgekehrt kann nur Etwas wertvoll sein, einen Wert haben, nichts ist nicht werthaft. Die Freude, die Stärke, die Vitalität, die Kreativität, der Austausch, das Verständnis, das Mitgefühl, die Intelligenz, das Erdöl, das Holz, das Wasser usw. – alles das ist wertvoll, und es ist dies, indem es ist und einen bestimmten Seinsgehalt, eine bestimmte Seinsart und damit eine bestimmte Seinstauglichkeit besitzt. Die neuzeitliche Aufspaltung von Sein und Wert, die allerdings bis ins Mittelalter zurückreicht, erweist sich auf diesem Hintergrund als fataler Irrtum, dem auch A. Kreiner 47 trotz seiner sonst so klaren und vernünftigen Argumentation unterliegt. Denn er behauptet, dass mit gleichem Recht wie das Übel als privatio boni, so das Gute als privatio mali definiert werden könne, und also die privato-boni-These nur ein »semantisches Manöver« (1995, 132) sei. 48 So wird seine Auffassung verständlich, wonach es für die Theodizeeproblematik irrelevant sei, ob das Übel privativer Natur sei oder nicht. Eine solche Aussage zeigt, dass er das Wesen des Übels verkennt. Wie soll es gehen, dass Menschen Übel und Beeinträchtigung als Verlust, Entbehrung und Störung erleben, wenn das Übel »nichts nimmt« und damit nicht-privativer Natur ist? Das ergibt keinen Sinn. Zwar hat A. Kreiner Recht, wenn er betont, dass mit dieser These Ursprung und Sinn des Übels nicht geklärt sind, doch dass das Übel ein Mangel ist, der nicht sein soll, also eine Beeinträchtigung darstellt, das aufzugeben würde bedeuten, alle Leiden der Welt für illusionär zu erklären. Ich
Vgl. A. Kreiner (1995, 133). Nimmt man die Aussage des Guten als privatio mali rein formallogisch, stimmt sie wieder, nämlich als doppelte Verneinung: Das Gute ist dann eine Negation der Negation, also eine Aufhebung des wertwidrigen Mangels, des Schadens. Doch auch dann wird der Schadensmangel nicht zu etwas Gutem, Seinshaftem, Wertvollem.
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weiß nicht, was A. Kreiner sagen würde, wenn ein Mensch willkürlich die Folter, das Vergasen der Juden, die Lüge, den Betrug usw. als nicht-privativ, und das heißt, als etwas Neutrales oder Gutes umdeuten würde. Das aber liegt in der Konsequenz seiner Interpretation der privatio-boni-These als eines semantischen Manövers und bloß sprachlichen Willkürverhaltens. In Wahrheit haben die großen Denker sehr schlicht und doch sehr tief in das Wesen des Seins hineingeschaut, wenn sie das Übel als eine ontologische Wertwidrigkeit auffassten. 49 Außerdem haben sie die Wirklichkeit immer differenziert nach ihren Seinsrängen und Seinsgraden beurteilt, wenn sie von einer Ordnung der Übel sprachen. So kann der göttliche Seinsrang überhaupt kein Übel erleiden und tun, und der dritte Seinsrang der bloßen Dinge kann zwar Schaden erleiden und schlecht sein, aber er kann weder selbst direkt einen Schaden setzen, darum auch nicht böse sein, noch selbst leiden. Wirklich Übel leiden und Übel tun – und damit böse sein – kann nur der zweite Seinsrang der seelisch-geistigen Geschöpfe. Und sie sind es auch, die die bloß dinglichen Schäden als Übel bewerten: Ein von einem Erdbeben beschädigtes Haus kann nicht leiden und von seinem Übel wissen, das leisten die den Schaden erlebenden Subjekte. Ohne das Wissen von der Seinsrangordnung kann die Natur des Übels nicht verstanden werden. Erst diese Zusammenhänge machen klar, dass Gott zwar für die Erschaffung einer Schöpfung, in der übelwollende und leidensfähige Geschöpfe vorkommen, verantwortlich ist, doch wirkt er nicht direkt irgendwelche Übel, sondern ermöglicht sie nur und »arbeitet« mit ihnen auf dem Hintergrund seiner Allwissenheit. 50 Für hier und jetzt möge die Erkenntnis genügen, dass das Übel als privatio boni den Aufruf beinhaltet, seinsorientiert zu leben und zu agieren, und zwar deshalb, weil jedes Seiende, einschließlich jenes Seienden, das SchäSiehe K. Barth (1987, 180): »Eben in diesem Sinne ist das Nichtige wirklich Privation: Raub an Gottes Ehre und Recht und zugleich Raub am Heil und am Recht des Geschöpfes.« Ein Raub aber ist nicht nichts, keine bloße Privation, sondern ist Tat, gerichtet, gewollt, durchgesetzt, also durch sich selbst beschädigt, durch sich selbst gerichtet, durch sich selbst dem Nichtigen überantwortet, also Sein mit Mangel, mit Schaden, selbst bewirkt und sich selbst zugefügt, nicht von Gott, der nur ermöglicht, trägt und zulässt, aber nicht für immer. 50 Siehe K. Barth (1987, 174): »Es bleibt aber vor allem und noch viel mehr bei der Verantwortung, die Gott selbst damit übernommen hat, dass er den Menschen geschaffen und seinen Sündenfall nicht verhindert hat.« 49
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Qualität und Quantität des Übels
den wirkt, Übles oder Böses tut, einen (beschränkten und einseitigen) Wert befasst. 51 Darum darf einem Straftäter, etwa einem Mörder, nicht die Achtung seines nie ganz vergehenden Wertes als Geschöpf, d. h. seiner Würde, vorenthalten werden, da sie durch bewusstes Vergehen zwar beschädigt, aber durch kein noch so grausames Verhalten völlig aufgehoben wird. Und so darf auch in einem noch so beschädigten Ding nicht das »Restsein« mit seinem unaufhebbaren Wert verworfen werden. Daraus folgt, dass in der privatio boni zwar ein Seins- und Wertmangel, der nicht sein soll, besteht, doch darf er das noch bestehende Seiende nicht so verdecken, dass dieses missachtet oder verworfen wird. Im Gegenteil soll es, falls das möglich ist, von jenem Makel gereinigt und wiederhergestellt werden. 52
3.7. Qualität und Quantität des Übels In Übereinstimmung mit klassischen Philosophen wie Platon, Aristoteles, Boethius, Augustin und Thomas v. Aquin lässt sich zusammenfassend sagen: Obschon alles Schlechte, Böse und Leidvolle dieser Welt mit Mangel, Entbehrung, Entfremdung und Missklang verbunden ist und damit eine »privatio boni« darstellt, so ist es niemals nur Mangel im Sinne der Abwesenheit des Guten, Rechten, Schönen und Angenehmen. Dies gilt umso mehr, als erstens nicht nichts, sondern etwas mangelt, sich zweitens der Mangel an etwas konstituiert und nicht an nichts, drittens jeder Mangel, insofern er entsteht, durch etwas erzeugt wird, und viertens in jedem nichtseinsollenden Mangel ein Streben nach (gutem, rechtem) Sein waltet. Reiner Mangel wäre totaler Mangel, wäre nichts; das totale Nichts ist aber, wie gesehen, keine privatio und an sich unmöglich. Wohl gibt es verschiedene Ausprägungen der Negativität des Siehe ähnlich Thomas v. Aquin (1985, 216): »Übel kann Gut nicht völlig aufzehren.«; ähnlich Boethius, Augustinus, Dionysios Areopagita u. a. 52 In diesem Sinne spricht das berühmte Jesus-Wort, Math. 13, 24–43: »Da gingen die Knechte zum Gutsherrn und sagten: Herr, hast du nicht guten Weizen auf deinen Acker gesät? Woher kommt dann das Unkraut? Er antwortete: Das hat ein Feind von mir getan. Da sagten die Knechte zu ihm: Sollen wir gehen und es ausreißen? Er entgegnete: Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Lasst beides wachsen bis zur Ernte. Wenn dann die Zeit der Ernte da ist, werde ich zu den Arbeitern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündeln, um es zu verbrennen; den Weizen aber bringt in meine Scheune.« 51
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Mangels, aber stets treten sie im Rahmen einer Seinskonstellation auf. So mag es wie ein »reiner« Mangel anmuten, wenn jemand zu einem verabredeten Termin nicht kommt, er ist eben nicht da, aber dieses Nichtdasein ist in ein Seinsfeld eingebettet. Wenn darüber hinaus jemand an diesem Mangel leidet – und auch ein solches Leiden ist ein Übel oder besitzt ein Übelmoment –, so nimmt der Seinsgehalt erheblich insofern zu, als das »Leiden an« einen seelischen Akt, ein lebendiges, fühlbares Geschehen impliziert und z. B. als Trauer, Ärger, Schmerz oder Wut qualitativ-emotional gefüllt, sprich seinsgefüllt ist. 53 Leid kann nicht nur »privatio boni« sein, wiewohl andererseits kein Leid ohne Mangel möglich ist, was bedeutet, dass die »privatioboni-These« zwar nicht unsinnig oder falsch ist, aber ergänzt und vertieft werden muss. 54 Eine andere Problematik eröffnet die Frage nach Umfang, Menge und Quantität von Leid und Übel. Wie gesehen, gibt es zwei extreme Positionen: Die eine besagt, dass es überhaupt kein Leid gebe bzw. dass dies nur die Folge einer subjektiv-illusionären Bewertung sei, die sich verflüchtige, sobald man das Ganze in Betracht ziehe und vom göttlichen Standpunkt aus betrachte. 55 Die andere besagt, alles sei Leid, sei des Übels und sei »wert, dass es zugrunde gehe«, 56 eine
Das hebt vor allem A. Schopenhauer hervor (»Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt«, § 149, Sämtliche Werke, 6. Bd., 1947), wenn auch einseitig übertreibend: »Ich kenne demnach keine größere Absurdität, als die der meisten metaphysischen Systeme, welche das Übel für etwas Negatives erklären; während es gerade das Positive, das sich selbst fühlbar machende ist; hingegen das Gute, d. h. alles Glück und alle Befriedigung, ist das Negative, nämlich das bloße Aufheben des Wunsches und Endigen der Pein.« In Wahrheit ist das Übel immer beides, Positives und Negatives, und zweifellos ist auch eine Befriedigung, z. B. ein Sättigungsgefühl positiv fühlbar. Darüber hinaus beweist das Zitat, dass A. Schopenhauers Ethik an diesem Punkt hedonistisch und subjektivistisch ist, da er das Gute in Glück und Befriedigung aufgehen lässt, die objektive Schadhaftigkeit des Übels aber unterschlägt. 54 Vgl. G. Streminger (1992, 179 ff.). 55 So etwa G. Bruno, B. de Spinoza und M. Eddie Baker, aber wohl auch G. W. Leibniz, der in seiner »Theodizee« dazu neigt, im Bösen – gemäß seinem »loi de continuité« – nur ein quantitativ minder Gutes zu sehen, womit er sich z. B. Augustinus entgegenstellt, der im Bösen eine Kraft erkennt, die sich bewusst Gott bzw. dem Guten widersetzt. Vgl. zu G. W. Leibnizens Lehre die ausgewogen-kritische Übersicht von F. Billicsich (1952, 111–171). 56 Siehe Mephisto im »Faust« (V. 1338–1344) von J. W. v. Goethe: »Ich bin der Geist der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles was entsteht, / Ist werth, daß es zu Grunde geht; / Drum besser wär’s, daß nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element.« 53
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Qualität und Quantität des Übels
Position, der A. Schopenhauer, der behauptet, dass das Übel das Gute wesentlich überwiege, sehr nahe kommt. 57 Was ist dazu zu sagen? Zum Ersten muss bemerkt werden, dass die Quantität sowohl des objektiven Übels als auch des subjektiven Leidens kaum real gemessen werden kann, weder des vergangenen noch des aktuellen und erst recht nicht des künftigen Übels. Ob am Ende der Zeiten das Negative oder das Positive überwiegt, kann bestenfalls vermutet werden. Andererseits gibt es gute Gründe, die gegen das Überwiegen des Schlechten und Bösen bzw. gegen den universal-kosmischen Sieg des Schlechten über das Gute sprechen, denn dies lässt sich aus der dargestellten Grundordnung des Kosmos erschließen. Hier möge folgende »empiristische« Argumentation genügen. Einmal angenommen, zu jeder Zeit und an jedem Ort überwöge das Schlechte, Üble, Dysfunktionale, Zweckwidrige und Böse, kurz das Negative das Gute, Angenehme, Nützliche, Passende und Funktionierende, kurz das Positive – was müsste erwartet werden? Wenn man als Beispiele den Straßenverkehr, die mediale Kommunikation (z. B. der Post, des Internets, der elementaren Sprache), die leiblichen Funktionen und die Naturgesetze nimmt, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass etwa der Straßenverkehr in Kürze zusammenbrechen würde. Zwar geschehen jeden Tag viele Unfälle mit zahlreichen Folgeschäden – aber gegenüber dem, was täglich, stündlich, minütlich trotz der enormen Komplexität und Rasanz der Prozesse – hier des Verkehrs und seiner Regelung – »klappt«, also positiv funktioniert, macht das Negative nur einen kleinen Prozentteil aus. Das Gute, Nützliche und Zweckhaft-Funktionierende übersteigt bei weitem das Schlechte. Und Analoges gilt für den Leib, die Sprache, die Kommunikation und das Naturgeschehen. Wäre dem nicht so, wäre die Existenz der Warn- und Reparatursysteme, beginnend mit der DNS-Reparatur in der Zelle bis hin zum Rechtsstaatssystem, unverständlich. Gerade sie beweisen, dass es zwar viele Gefahren, StörunIn seinem »Cholera-Buch«, das sich in A. Schopenhauers Nachlass fand, zitiert er die eigenen, schon früh gewonnenen Überzeugungen: »In meinem 17ten Jahre … wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, … war, dass diese Welt kein Werk eines alleingültigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Quaal sich zu weiden.« Spricht aus diesen Worten nicht der psychische Schatten von Enttäuschung und Verbitterung, der A. Schopenhauer sein Leben lang verfolgte und hier gnostizistische Dimensionen annimmt?
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gen und Schäden gibt, sie beweisen aber auch, dass diese wenigstens partiell verhinderbar und reparabel sind – und also das Gute überwiegt bzw. kraftvoll zu überwiegen strebt. Analoges gilt für das Angenehme und Lustvolle. Wo diese Qualitäten in einem Leben total fehlen, wird es unerträglich und auf Dauer inakzeptabel. Gewiss gibt es solche Fälle, auch nicht wenige, und solche Menschen müssen unvorstellbares Leid ertragen, so etwa chronisch Schmerzkranke oder Kranke, die kaum schlafen, aber sie bilden ebenso gewiss nicht die Mehrheit. Wäre dem so, würde sich die Menschheit auf Dauer wohl suizidieren. Schon aus dieser einfachen Erwägung heraus scheint es ganz unmöglich, dass das Schlechte und Dysfunktionale das Gute und Funktionale global und dauerhaft überwiegt. Zumindest die Welt des Lebendigen wäre bereits in ihrem Anfang gescheitert und untergegangen, in Wahrheit aber auch die vorbiologische Welt, die ohne die Zuverlässigkeit ihres naturgesetzlich so fein abgestimmten Regelwerkes nicht bestehen könnte. Metaphysisch betrachtet, bedeutet dies, dass jene Kräfte, die am »guten Bau und Fortkommen« des Kosmos beteiligt sind – und das sind, wie erkannt, im Letzten die nur-gute Gottheit und die sich zum Guten durchringenden Naturgeistwesen (einschließlich der Menschen) –, überwiegen müssen bzw., geleitet durch die Ideale der Menschen- und Völkerrechte, das Gute oder Bessere durchsetzen und mit einiger Wahrscheinlichkeit zum Sieg führen. Bedenkt man zudem, dass die Gottheit die Grundlagen des Kosmos so anlegte, dass sie nicht beschädigt werden können, sondern selbst das Schlechteste, Übelste und konsequent Böse mittragen, erweist sich der metaphysische Pessimismus als inkonsistente bzw. als theoretisch höchst unwahrscheinliche und praktisch unmögliche Weltanschauung.
3.8. Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen als eines Zwischen-, Konflikt-, Mängel- und Universalwesens Wenn es Entstehung und Werden gibt, dann gibt es dynamische Realursachen, d. h. solche Wirklichkeiten, die auf dynamisch-selbsttätige Weise reale Wirkungsgebilde setzen. Diese können nicht nur, wie bereits erkannt, die einem Weltzustand zeitlich vorausgehenden und in ihre Wirkungen übergehenden Ursachen sein, da man sonst in die 248 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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Aporie der als unmöglich erkannten anfangslos-unendlichen Wechselreihe gerät. Die Ursache geht weder ganz noch teilweise in ihre Wirkung über, sondern steht souverän »über« ihr und bringt sie kraft ihrer Wirkungsmacht bzw. kraft ihrer frei setzenden, seinsintensiven, räumlich nicht ausgedehnten Wirkungsfülle hervor. Von dieser freien und bewussten, insofern notwendig geistigen Wirkursache muss mindestens gelten, dass sie selbst zwar wieder zeitlich-begonnen ist, wobei ausgeschlossen bleibt, dass sie nur endlich ist, also vergeht, da sie sonst in ihre Wirkung müsste übergehen können, was wieder die Möglichkeit der anfangslosen Wechselreihe heraufbeschwören würde. Also ist sie der Dauer nach zwar begonnen, aber, weil prinzipiell wirkfähig, an Seinsgehalt unerschöpflich und damit endlos, potentialunendlich, also »unsterblich«. Die Unvergänglichkeit der geistigen Substanz der Zweitursachen erweist sich damit als notwendig inhärierendes Moment aller echten Ursachen, sprich aller echt tätigen, aus sich spontan wirkenden Wesen, was schon Platon erkannte und I. Kant wusste. Wäre solch eine Wirkursache wieder nur die Wirkung einer entsprechenden pU Wirkursache, diese wieder die Wirkung einer solchen, entstünde erneut die anfangslose Wechselreihe, was nicht angeht. Also folgt, dass die Ursache der pU-Wirkursache, die ebenfalls nicht in ihre Wirkung (die pU-Wirkursache) übergehen darf, der Dauer nach keinen Anfang hat und damit zeitlos und ewig besteht. Damit erweist sie sich als identisch mit dem Seinsurgrund, mit Gott, der selbst keine Ursache mehr über bzw. außer sich hat; er allein gründet ganz in sich selbst, ist ein ens a se. Damit schließt sich das Kausalverhältnis ab, und man erkennt, dass nur zwei Arten von Wirkursachen möglich sind, die zeitlose, aktualunendliche (aU) Ur-Ursache der Gottheit und die begonnenen, auch als Vielheit möglichen pU Zweitursachen der geistigen Geschöpfe, der Objekt-Subjekte, von denen als kosmischen Naturbildnern anzunehmen ist, dass sie und nicht direkt Gott das Weltgeschehen hervorbringen. 58 Die Wirkungen der Zweitursachen können nur mehr passiv sein und selbst nicht mehr direkt wirken, schaffen und handeln, bestenfalls im äußerlich-empirischen Sinne »wechselwirken«, da sonst, eben wenn sie selbsttätig wären, die Möglichkeit einer anfangslosen Wechselreihe impliziert wäre. Sowohl nach oben als auch nach unten 58
Dazu ausführlich in diesem Abschnitt und in Abschnitt IV.
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besitzt die Kausalordnung metaphysisch eine Grenze, einen Abschluss und damit einen klaren, festen und unerschütterlich-unverletzbaren Bau. Die Welt, der Kosmos, die Schöpfung, insofern sie empirisch »erscheint«, kann nur das im dritten Seinsrang stehende, geschaffene, aufgebaute und bewegte Werk entweder der Zweitursachen oder der Erstursache sein. Zwischen diesen drei Seinsrängen sind andere nicht möglich. Ihre jeweilige Seinsdifferenz ist von unten nicht überbrückbar, dagegen von oben immer schon überbrückt, insofern der tiefere Seinsrang die geschaffene und erhaltene Wirkung des oberen Seinsrangs bzw. der oberen Seinsränge ist, die sich in ihren Wirkungen lebendig und geistig ausdrücken. Aus der Summe endlos vieler passiver Dinge lässt sich keine Geistkraft im zweiten Seinsrang, kein Ich, kein Geist, kein Subjekt aufbauen; und ebenso ist es unmöglich, aus der Summe endlos vieler Zweitursachen die Gottheit, die Erstursache des Seienden, »aufzuaddieren«. 59 Der natürlichen Ordnung nach bewirkt der obere Seinsrang nur den direkt ihm unterstehenden nächsten Seinsrang, also der erste den zweiten, der zweite den dritten. Gott schafft in der Regel nicht den dritten Seinsrang, die physische Welt, hat er doch gerade deswegen den zweiten Seinsrang der geistig-geschöpflichen Wirkkräfte erschaffen, um diese im dritten Seinsrang, wo sie allein und frei wirken können, wirken zu lassen. Würde Gott die physische Welt direkt bewirken, würde er die Zweitursachen lahmlegen und in ihrer Existenz überflüssig machen. 60 Das ergibt keinen Sinn. Vielmehr erschafft er geistige Wirkursachen, damit diese sich in ihrem Wirken entfalten Von vielen Denkern wurden die drei Seinsränge grundsätzlich gesehen, meist aber nicht durchdringend geklärt. Ein treffendes und schönes Beispiel ist dagegen R. Eucken (1980, 342), der schreibt: »Über der äußeren Notwendigkeit und der Nützlichkeit der natürlichen und gesellschaftlichen Selbsterhaltung erhebt sich weltbauendes geistiges Schaffen und entwickelt Wahrheit, Schönheit und Recht, über ihm aber wölbt sich als letzter Abschluss ein Reich weltüberlegener Innerlichkeit und weltüberwindender Liebe; zum Gelingen des ganzen Lebens müssen diese verschiedenen Stufen in steter Beziehung bleiben und wechselwirkend einander ergänzen, müssen die niederen zu den höheren weiterstreben und diese sich auf sie zurückbeziehen, muss jede einzelne sowohl ihr Recht behaupten als ihre Schranke erkennen. Bei solchem Zusammenwirken gewinnt das Leben eine fortlaufende innere Bewegung und einen überquellenden Reichtum.« 60 Außerdem wäre in diesem Fall die ganze Natur ein ständiges »Wundergeschehen«. Die deistische Idee dagegen, Gott habe nur die Naturgesetze geschaffen, denen gemäß dann sich die Natur »selbst« entwickelt, ohne weiteres Wirken von Ursachen, ist unmöglich, da Naturgesetze selbst nicht wirken und da andernfalls die als unmöglich erkannte anfangslose Wechselreihe heraufbeschworen wird. 59
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Die drei Seinsränge und das besondere Leiden des Menschen
und realisieren können. Der Kosmos ist daher deren direkter Schaffensausdruck und zeugt nicht unmittelbar von Gott selbst, das ist ein klassischer Kurzschluss fast aller, in dieser Hinsicht noch naiven Religionen und entsprechender Philosophien, die in die bekannten Aporien der gängigen Theodizeen führen. Auf unmittelbare Weise zeugen von Gott nur seine »Ebenbilder«, die freien, selbstbewussten und wirkmächtigen Zweitursachen, wozu der Mensch als reale Natur- und Kulturwirkungsmacht zählt. Die empirische Betrachtung des umgebenden Kosmos, die im nächsten Abschnitt vorgenommen wird, beweist, dass im Weltgeschehen eine Vielheit von dynamischen, gegensätzlichen, suchenden und probierenden, kämpfenden, sich fördernden und störenden Kräften am Werk ist und nicht eine einzige, zeitlos-vollkommene Kraft. Wirkte Gott unmittelbar die Schöpfung, würde er sie mit einem Schlag erschaffen, er bedürfte der Zeit, des Kampfes und des Versuchens nicht, während sich die Zweitursachen nur in der Zeit entfalten und nur in der Zeit ihr entstehendes, zeitlich dramatisch verfasstes Werk schaffen können. Hier waltet eine tiefe metaphysische Sinnentsprechung zwischen Kraft, Zeit und Aufgabe. So und nur so ergibt die räumliche Ausdehnung der Welt ihren Sinn, bietet sie doch das extensive Raumfeld, in dem sich eine Vielheit von Wirkkräften begegnen, austauschen, miteinander schaffen und ringen kann. Gott braucht für sein Da- und Sosein weder Zeit noch Raum. Demgemäß entspricht es der Seinshöhe und Souveränität Gottes nicht, dass er den Zweitursachen in die Parade fährt, sondern sie ihrem Wesen gemäß frei wirken und schaffen lässt und sich auf seine ureigenste und einzig nur ihm zukommende Macht beschränkt, freibewusstseinsfähige, sprich personale Geschöpfe zu erschaffen und in Zeit und Raum sinnvoll zusammenzustellen. 61 Da die Naturgesetze, Diese Selbstbeschränkung bedeutet keineswegs eine Einschränkung von Gottes Allmacht, einen »Verzicht«, wie H. Jonas und W. Thiede (2007, 125 ff.) in Anlehnung an die kabbalistische Idee der raumschaffenden »Gotteskontraktion« (»Tzimtzum« des Isaak Luria) meinen, sondern nur die Delegation von Wirksamkeit und Macht an die Zweitursachen, ohne deren Mitwirkung die Theodizeeproblematik unlösbar bleibt. Wenn Gott begrenzt vielen Zweitursachen Freiheit und Macht in der Welt verleiht, dann ist er zwar nicht allwirksam, aber nach wie vor allmächtig, im Gegenteil seine Allmacht erscheint umso größer und souveräner, als er nicht nur freie Wesen erschafft, sondern die damit delegierte und evtl. missbrauchte Macht in seinem Gesamtplan (erfolgreich) mitberücksichtigt. Es braucht also keine Selbstbegrenzung im Sinne einer sachlich unmöglichen Verendlichung bzw. »Kontraktion« Gottes, um die Theodizeeproblematik zu lösen. Von solcher Verendlichung muss die Vereinigung
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wie erkannt, nichts anderes sind als die frei von den Zweitursachen gefundenen und befolgten Regeln ihres Weltverkehrs, stört Gott diese nicht, sondern achtet sie, obwohl er prinzipiell in der Lage ist, in die drittrangige Welt einzugreifen und die Naturgesetze aufzuheben oder zu modifizieren. Solches kommt nur ausnahmsweise vor und stellt ein echtes Wunder, eine direkte göttliche Welteinwirkung dar. Auf diesem Hintergrund erscheinen Übel und Leid in einem neuen Licht. Da die geistig-geschöpflichen Wirkkräfte nicht direkt aufeinander, sondern über das Medium der räumlichen Weltmaterie miteinander kommunizieren, weil andernfalls das Kausalprinzip verletzt würde, und da sie nicht in ihre drittrangigen Wirkungsgebilde übergehen, sondern souverän »über« diesen stehen, allerdings nicht räumlich, sondern ontologisch, können sie sich nicht direkt, sondern nur indirekt über ihre Wirkungen und Werke in der Welt beeinflussen. Wenn diese transzendenten Naturgeistkräfte überhaupt leiden, dann nur so, wie ein Künstler leidet, dessen Werk beschädigt wird; direkt können sie kein Leid erfahren. Diese direkte Einwirkung auf ein geistiges Wesen wäre nur durch Gott möglich, der aber keine Übel wirkt und nichts und niemanden direkt – um bloßen Leidens willen – leiden lässt. Das bedeutet aber keineswegs, dass die leibfrei-transzendenten Naturgeistkräfte nicht leiden könnten. Im Gegenteil! Da auch sie ihr Wesen, ihre Stellung und ihre Aufgabe im Kosmos finden und ihre Wirkungen und Werke im Materiefeld durch Kreativität, Versuch, Kampf und Irrtum erst schaffen müssen, sind auch sie prinziGottes mit einem Menschen unterschieden werden. In ihr wird nicht Gott verendlicht, sondern der Kern eines Geschöpfes durchgöttlicht, also in gewisser Weise verunendlicht, verklärt. Dieser durchgöttlichte Subjektkern bleibt nicht verborgen, sondern durchstrahlt die gesamte Person, also auch den »bloßen« Menschen mit seiner Leiblichkeit und wird sichtbar. In diesem Sinne kann man von einer »Verendlichung des Göttlichen« sprechen, vielleicht auch von einer »Selbsterniedrigung Gottes«, einer Kenosis ins Geschöpfliche. Doch wesentlicher ist nach Paulus in Phil. 2,7, wo das Wort ekenosen (seiner selbst ledig werden) steht, das »Leerwerden des menschlichen Willens« und seine freie Hingabe an den göttlichen Willen, urbildlich von Jesus Christus im Garten Gethsemane durchlitten und vorgelebt. Diese Kenosis ist die Voraussetzung dafür, dass das Geschöpfliche im Sinne der Theosis ins Göttliche erhoben wird. W. Thiede betont mehr die Verendlichung und Selbsterniedrigung Gottes und sieht weniger die Hingabe des geschöpflichen Willens und seine Erhöhung in Gottes Wille. Die Kenosis in Sinne von W. Thiede lehnen Augustinus (1948, 37) und die katholische Lehre ab, die betonen, dass Gott zwar im »Fleisch«, also in Leib, Seele und Geist des Menschen Jesus einwohnt, sich aber nicht zu »Fleisch« verwandelt, also unmittelbar verendlicht wird, was unmöglich ist, da das anfangslos Unendliche sich keinen endlichen Anfang setzen kann.
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piell dem Zweifel und Irrtum, dem Fehlgriff und der Abirrung ausgesetzt. Verfehlen sie sich gar selbst oder lehnen sich gegen ihren Herrn, den Schöpfergott, und seine Schöpfungsordnung auf, ist echtes seelisch-geistiges Leiden unvermeidlich. Im letzten Fall ist das Leid allerdings selbstverursacht und damit ein Schuldleid, eine Sünde. Im anderen Falle ist es dagegen der geistigen Geschöpflichkeit der Naturgeistkräfte, ihres Suchens und Experimentierens geschuldet. In keinem Falle aber leiden sie, die nicht inkarniert sind, direkt leiblich. Nicht so beim Menschen. Zwar lehrt die Selbsterfahrung, dass auch er im Kern eine Ursache, eine Wirkmacht, mehr noch eine Natur- und Kulturkraft im zweiten Seinsrang ist, die heute den gesamten Erdball physisch umgestaltet, doch steht er mit seinem Wirken nicht transzendent über der Welt, sondern lebt unmittelbar immanent in ihr, nämlich als leiblich-leibhaftiges, »inkarniertes« Wesen. Damit ist er direkt dem Weltwirken anderer Kräfte ausgesetzt, und daher kann er Übel erfahren und kann leiden wie kein anderes Wesen in diesem Kosmos. Während die Wirkungsgebilde der transzendenten Zweitursachen zwar beschädigt werden können (wie ein dingliches Kunstwerk), können sie, da sie passive Wirkungen sind, nicht wirklich, d. h. innerlich und seelisch, leiden. Auch ein beschädigtes menschliches Gemälde leidet nicht innerlich, sondern höchstens indirekt ihr Schöpfer. Anders im Fall des Menschen: Da er in seiner beseelten Leiblichkeit allen Unbilden und Gefahren des Weltgeschehens direkt ausgesetzt ist, kann sein Leib von allen Übeln getroffen werden und dadurch seelisches Leiden nach sich ziehen. Zwar muss er nicht im Sinne echter Notwendigkeit leiden, da der Leidensvollzug von ihm selbst, seiner Wahrnehmung und seiner Bewertung der Lage abhängt und daher unterbleiben kann. So gibt es durchaus Menschen, die schwerste körperliche Verstümmelungen oder Krankheiten erleiden, aber, etwa weil völlig ergeben, nicht daran innerlich leiden. Das ist jedoch die Ausnahme, und zumeist lassen leibliche Versehrung, Schmerz, Verletzung, Krankheit und Unwohlsein im Leib den Menschen nicht ungerührt. Wie der Mensch an sich selbst erfährt, wurzelt diese besondere Leidensfähigkeit des Menschen einzig und allein in seiner besonderen Seinsverfassung, in seiner leiblichen Weltimmanenz, die für den Menschen, seit er existiert und sich seiner bewusst ist, das größte Seinsrätsel darstellt. Alle Völker, besonders die »einfachen«, indigenen, vertreten nicht von ungefähr die Überzeugung, dass ihr Dasein nicht, wie bei den Tieren, naturgewachsen ist, sondern sich einem 253 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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geheimnisvollen Seinsereignis, einer Seinsrevolution verdankt, die auf verhüllte, oft mit einem Vergehen verbundene Weise ein geistigpersonales Wesen in die materiell-organische Welt verschlug. Wie aus der Theorie der drei Seinsränge und der Kausalität hervorgeht, ahnen sie etwas Richtiges, das nur von allzu naiven, mythologischen, animistischen und anthropomorphistischen Zutaten gereinigt werden muss. Denn in der Tat ist der Mensch nicht nur ein physisches Mängelwesen, wie A. Gehlen 62 betont, sondern, wie K. Lorenz 63 und viele andere herausstellen, ein potential universales, für die Meisterung aller Lebenslagen geeignetes Lebewesen, das mittels seiner leiblichen Flexibilität, seiner ingeniösen Phantasie und seines analytischen Geistes schöpferisch wirken und alle physischen Mängel überkompensieren kann. Im Menschen – und, wie es scheint, einzig in ihm – als dem metaphysischen Zwischenwesen schlechthin bilden der zweite und dritte Seinsrang eine reale, unauflösliche Synthese, die eine Zweiheit in Einheit darstellt und die vielen Spannungen, Imbalancen und Konflikte verständlich macht, die das menschliche Leben kennzeichnen und die Quelle zahlloser Leiden und der Sehnsucht ist, diese Zweieinheit von zweitem und drittem Seinsrang im ersten Seinsrang der Gottheit aufzuheben. Somit erweist sich der Mensch in einem noch viel tieferen Sinne, als die Tradition dachte, als mikrokosmische Zusammenfassung des Makrokosmos. Dass dies zu leben einer Überforderung nahe kommt, verwundert nicht und lässt das Versagen, Scheitern und Leiden fast als ein natürliches Anrecht des Menschen erscheinen. 64
3.9. Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden Da die Differenz zwischen zwei Seinsrängen vom unteren Seinsrang her nicht überbrückbar ist, kann sich der Mensch keine adäquate Vorstellung vom zeitlosen und absolut intensiven Ursein, dem er sein Dasein verdankt, machen. Begrifflich lassen sich jedoch einige Ver-
Vgl. A. Gehlen (1944, 31). Vgl. K. Lorenz (1943, 105–127). K. Lorenz spricht vom Menschen als einem »Spezialisten für das Unspezialisiertsein«; I. Eibl-Eibesfeldt von ihm (1997, 821) als einem »Generalisten«; ähnlich M. Landmann (1982, 148 ff.); B. v. Brandenstein (1947). 64 Vgl. zum »überforderten Menschen« T. Fuchs, S. Micali, L. Iwer (2018). 62 63
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Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden
hältnisbeziehungen zwischen dem ersten und zweiten Seinsrang nachzeichnen, so dass ein gewisses Verständnis im Horizont menschlichen Denkens möglich ist. Einerseits steht dem Menschen das Ursein insofern nahe, als es ihn hervorgebracht hat, trägt und ihn mit bestimmten Daseinsaufgaben in eine bestimmte Zeit an einen bestimmten Ort stellt. 65 Andererseits ist die Gottheit dem Geschöpf ob ihrer gewaltigen Größe und Intensität unerreichbar fern. Um dennoch die Vorstellung an diesen Abstand heranzuführen, soll ein Vergleich versucht werden, der auf einer Analogie beruht und dadurch die relative Differenz abbildet. Dabei soll nicht die Kraft- und Machtintensität zwischen Schöpfer und Geschöpf verglichen werden, sondern deren Bewusstseinsraum. Im Falle Gottes ist dieser unendlich reich und unendlich weit, umfasst er doch z. B. alle mathematischen Dimensionen, Größen und Mengen, die unendlich sind, worin alle möglichen Universen, ebenfalls unendlich viele, als gegenständliche »Ideenkomplexe« enthalten sind. Demgegenüber ist der Bewusstseinsraum des Menschengeistes potentialunendlich, kann also prinzipiell endlos erweitert werden, was allerdings aufgrund der Leibabhängigkeit des Bewusstseins und seines Todes limitiert ist, und hat als übernatürliche Grenzgröße einen unendlichen Ausschnitt von Gottes Bewusstsein und seinem gegenständlichen Inhalt, der aUaU ist. Stellt man das reale physikalische Universum und den Bewusstseinsraum Gottes einander gegenüber und identifiziert Letzteren mit einer endlich großen Fläche, etwa von Fenstergröße – wie groß ist dann das reale Universum darin? Es ist kein endlicher Ausschnitt jener Fläche, z. B. ein Quadratzentimeter, sondern unendlich kleiner, nämlich so groß wie ein reiner mathematischer Punk (oder wenige Punkte). Das bedeutet, dass das bekannte gigantisch große Universum in jener Fläche, die den Bewusstseinsraum Gottes repräsentiert, Da die Menschen seinsmäßig einen Anfang haben, also aus Nichts, aber vom Ursein gesetzt wurden und selbst endlich sind, ist der Abstand zu diesem »Nichts« immer endlich bzw. potentialunendlich. Dagegen ist der Abstand zur Gottheit unendlich, woraus folgt, dass alles zeitliche Sein, bildlich gesprochen, am Rand des Nichts hängt, vom Absoluten gehalten und getragen. Wohl sind die Menschen zum Leben im Göttlich-Unendlichen berufen, aber für sich betrachtet, sind sie »fast nichts« (Augustinus). Wollte man eine Veranschaulichung dafür geben, so eignete sich vielleicht das Gemälde von Leonardo da Vinci, »Salvator mundi«, dafür, das Christus-Gott zeigt, wie er das Universum als Kristallkugel mit den darin leuchtenden Fixsternen in seiner Linken hält. Um die Relation Gott-Universum allerdings genau anzugeben, müsste die Kugel unendlich klein sein – dann aber wäre sie unsichtbar.
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nicht vorkommt, also gewissermaßen ein Nichts ist. Selbst wenn man dieses Punktuniversum endlos mit weiteren Punkten vermehren und vergrößern würde, tauchte es nicht in jener Fläche als realer Flächenausschnitt auf, so unendlich viel kleiner ist es. Erst unendlich viele (aU) Punkte (1/aU) zusammen – also aU � 1/aU – würden eine endliche Strecke, nämlich 1 ergeben. Der Geist Gottes umfasst jedoch viel mehr, genauer, unendlich viele und unendlich große Universen. B. v. Brandenstein 66 kann in seiner philosophischen Mathematik die genaue Anzahl der Bewusstseinsobjekte Gottes angeben: Es sind unendlich viele in unendlich vielen Dimensionen, also aU hoch aU bzw. aU in seiner eigenen Potenz. Da das reale Universum keine einzige dieser unendlich vielen Dimensionen – auch keinen endlichen Teil davon – füllt, macht es nur einen unendlich kleinen Teil davon aus und erweist sich so als verschwindend gering, als »nichtshaft«. 67 Wenn man sich diese ungeheure Differenz deutlich zu Bewusstsein bringt, dann stellen sich viele Fragen anders dar, und es wird klar, dass Gott erstens dieses Universum in keiner Weise braucht, etwa um in seiner angeblichen Einsamkeit mit jemandem kommunizieren zu können, und zweitens durch das All in seiner Fülle nicht das Mindeste gewinnt. 68 Das ist deswegen so, weil das Unendliche nicht vergrößerbar ist, das Universum dagegen wohl. Im Ganzen ist das Universum darum dem Nichts »unendlich« näher als Gott, sowohl was seine Größe als auch was seine intensive Seinskraft betrifft. Gott hat es nicht schaffen müssen, es ist total kontingent und daher gleichsam »nichtsdurchsetzt«. Wer dies erfasst, der versteht, warum eine Welt, in der Gott keinen vom Menschen bewusst eingeräumten Platz hat, unweigerlich dem Nichts in allen seinen Formen, vor allem in der Vgl. B. v. Brandenstein (1970, Kap. 295, 298 ff.). Das reale Universum ist E3 bzw., da in alle drei Raumrichtungen expandierend, pU3. Das ist ein endlich sich ins Endlose ausdehnender Raum, der das Endliche immer nur um Endliches erweitert, daher nie aU wird. Der dreidimensionale Raum in Gottes Bewusstsein ist dagegen aU3, sprich ein unendlicher Teil seines aUaU, also unendlichdimensionalen Bewusstseinsfeldes. Dieser aU3-Raum ist aktualunendlich in die drei Raumdimensionen erstreckt und passt als Bruchteil des aUaU Bewusstseinsfeldes, gemäß (aUaU)/(aU3) = x, aUaU-3mal in dieses Bewusstseinsfeld hinein. 68 In der Hinsicht, dass Gott erst durch die Schöpfung zum Schöpfer wird, »braucht« er auch die Schöpfung. Denn ohne die Schöpfung könnte er kein Schöpfer sein. Daher »braucht« er auch die Menschen bzw. alle Geistgeschöpfe, weil sein Schöpfertum erst durch unser Mitschaffen manifest wird. Insofern »schaffen« wir durch unser Mittun und Mitwirken Gott selbst zwar nicht als Gott, aber als Schöpfer von wirkfähigen Geschöpfen mit. 66 67
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Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden
Form der Selbstzerstörung zutreibt. Dass die Menschheitsgeschichte zum bluttriefenden Schlachthaus und zur himmelschreienden Folterbank geworden ist, kann nur denjenigen verwundern, der naiverweise meint, der Mensch oder überhaupt die sekundären Geistgeschöpfe könnten ohne oder außerhalb Gottes wirklich Gutes schaffen. Das Gegenteil ist der Fall, sie müssen sich bekriegen und mit aller Grausamkeit traktieren, sie müssen sich belügen und betrügen, müssen sich rücksichtslos gegenseitig ausstechen und einander zur endlosen Qual werden. Dafür mag Auschwitz als Realsymbol stehen, dessen Realisierung nicht von ungefähr von gottlosen, gotthassenden oder gottvergessenden Menschen durchgeführt wurde. Die Tragik ist, dass das Nichts, das an sich nichts vermag, insofern zum »aktiven Nichts« wird und dämonische Gestalt annimmt, als es in die Verfügung geistiger Wesen gerät. 69 Dieses Nichts stellt sich sofort da ein, wo das göttliche Leben hinausgedrängt und verleugnet wird, als ein Zeichen jenes tiefsten Sinnzusammenhanges, dass sich Leben grausam quälen und zerstören muss, wo es den Kontakt zum Urquell des Lebens verliert. Leben gegen Leben ist eben Selbstzerfleischung und Todessucht, ja Todeslust pur. Indirekt wird dadurch die Wahrheit bestätigt, dass die beste aller möglichen Welten die gotterfüllte Welt, die schlechteste aller Welten die gottlose, darum sich selbst zerstörende Welt ist. Sollte Letzteres im kosmischen Ausmaße eintreten, hätte sich trotzdem insofern das Bestmögliche, sprich die Wahrheit eingestellt, als Leben außerhalb Gottes nichts, in ihm alles ist. Da aber Gott nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort spricht, kann er jederzeit die radikale Selbstzerstörung der Schöpfung wenden und das »alte Jerusalem«, das den endlichen Subjekten als jenes Experiment und jener Selbstversuch gewährt wurde, autonom zu sein, in ein »Neues Jerusalem« verwandeln, allerdings nicht gegen die Freiheit, sondern nur mit der Freiheit der Geschöpfe. Und in Wahrheit hat sich bereits die Mehrheit der geistigen Geschöpfe, vormenschlich wie menschlich, für das »Leben Gottes« entschieden: Am »Neuen Jerusalem« wird schon längst, schon seit vormenschlichen Urzeiten gebaut. Der unendliche Abstand zwischen Kosmos und Schöpfer eröffnet in Hinsicht der Theodizeeproblematik die Erkenntnis, dass zum Dieses »Nichts« ist nicht mit dem Nichts in Hegels Ontologie zu verwechseln, das dort dem Sein schlechthin als ein Quasi-Etwas gegenübersteht (vgl. erstes Kapitel der »Wissenschaft der Logik«).
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einen die Welt, weil sie fast ein Nichts ist, im Angesicht Gottes (fast) nicht ins Gewicht fällt, selbst mit ihren vielen Schlechtigkeiten nicht, so auch der Mensch, 70 zum anderen, was noch bedeutsamer ist, dass Gott noch »unendlich viel Spielraum«, genauer, aUaU Weltenmöglichkeiten besitzt, um die zeitliche Schöpfung zu vervollkommnen und aus ihrer Vergänglichkeit und sittlichen Gebrochenheit »in sein Reich«, sprich in die Vollendung seines inneren Lebens zu heben, was mit allen gutwilligen und umkehrbereiten Geschöpfen (und ihren Werken), da Gott nicht unter seinen vollkommensten Möglichkeiten bleiben kann, geschehen wird. Schließlich muss bedacht werden, dass der unendliche Abstand zwischen Gott und Kosmos ein unendliches Bewusstsein von Seiten Gottes erfordert, damit der Kosmos überhaupt gesehen wird. Ohne den unendlichen Tiefen- bzw. Höhenblick Gottes und seine unendlich sich erbarmende Liebe würde Gott aus seiner Unendlichkeit nicht bis zum endlichen Kosmos vordringen, so dass dieser mit seinen Zweitursachen ungesehen und ungeliebt bliebe. Wer Gott nur endlich (E) oder potentialunendlich (pU) denkt, stürzt Gott und mit ihm die Welt ins Nichts; wer ihm Allmacht und Allwissen abspricht, aber die Unendlichkeit lässt, trennt ihn unüberbrückbar von einer hoffnungslos verlorenen Welt. Die Rolle des Leidens besteht an diesem Punkt darin, sowohl den Abstand des Geschöpfes zu Gott als auch seine Abhängigkeit von ihm bewusst zu machen: Die Menschen sind, was ihr letztgültiges Glück betrifft, radikal und unumgänglich auf ihn angewiesen. Alles Leiden ist zugleich Ferne von Gott und Hindrang zu Gott, denn jeder dynamische Mangel sucht die Fülle. Die Selbständigkeit der Subjekte ist, wenn verabsolutiert, nichts, aber alles, wenn sie ihre Abhängigkeit vom Ursein frei annimmt und daraus Halt, Bezogenheit und Geborgenheit schöpft. Warum Gott allerdings diesen »Umweg des Leidens« für seine Schöpfung wählt, ist damit noch nicht geklärt. Der hier vorgelegte Vergleich beruht auf einer quasi-räumlichen Verhältnisbeziehung zwischen Schöpfer und Welt. Ein anderer Vergleich könnte sich auf die Dauer- bzw. Zeitstruktur stützen, also auf
Das ist die »Lösung« der Theodizee im Buch Hiob 38, 4 des Alten Testamentes: »Wo warst du, als ich die Erde gründete? Haben sich dir des Todes Tore aufgetan oder hast du gesehen die Tore der Finsternis?«, »Kannst du die Bande der sieben Sterne zusammenbinden oder das Band des Orion lösen?« Gott überzeugt hier nicht mit Einsicht und Liebe, sondern mit purer Übermacht, die nichts als Unterwerfung fordert.
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Der Gott-Mensch-Abstand und seine Bedeutung für das Leiden
das Verhältnis der zeitlosen Ewigkeitsdauer Gottes und der E- bzw. pU-Zeitdauer der Welt. Dieser Vergleich ist weniger leicht zu veranschaulichen, da die Zeitlosigkeit der Gottheit in jeder Hinsicht unvorstellbar und nicht zu vergegenwärtigen ist. 71 Gott ist so fundamental und radikal bei sich, dass ein Werden, ein Herausgehen aus sich unmöglich ist (daher keine Emanation!). Die Welt dagegen entfaltet und findet sich nur, indem sie sich von ihren Anfängen entfernt – Selbstentfernung und Selbstentfremdung sind ein Grundkonstituens der Selbstfindung der Schöpfung. Darum kann die Schöpfung dem Ursein der Gottheit nichts hinzugeben – sie ist »überflüssig« und könnte nicht sein. Ihre Zeitgebundenheit entfernt sie so unendlich von Gott, dass es einem Wunder gleichkommt, dass sie überhaupt bestehen kann. Nur in ekstatischen Augenblicken der erfüllten Liebe, der glückhaften Vollendung eines Werkes, der mystischen Ekstase und der inneren Realisierung und Anteilnahme an den Urmächten der lauteren Wahrheit, der lichten Güte und der reinen, heiligen Schönheit, wo rein geistig das Zeitliche aufgehoben wird und das Ewige in das zerstreute Dasein hineinleuchtet, da erfährt das Geschöpf etwas von jener göttlichen Dauer, dem nunc stans, jener Dauer, die Unheil und Ungeheuerlichkeit des Zeitseins begreifen lässt und nicht wenige Denker wie die indischen Theosophen, Parmenides, B. de Spinoza und A. Einstein dazu brachten, Zeit überhaupt als Illusion zu denken. Und doch lehrt die Zeitlichkeit der Schöpfung in anderer Hinsicht eine neue Perspektive: Da die Welt gestern und heute nicht die beste aller möglichen Welten sein kann, sonst hätte sie sich nicht weiter entwickeln können und müssen, kann sie ihre Vollendung ausschließlich in der Zukunft erreichen und nur dort zur besten aller möglichen Welten werden. Das gelingt wiederum nicht in der Zeit, da sonst eine noch bessere Welt möglich wäre, sondern allein dadurch, dass sie von Gott zu einem bestimmten, aber verborgenen geschichtlichen Kairos in die Ewigkeit erhoben und gleichsam aus der Zeit herausgenommen wird. Findet dies statt, erhält die Theodizeeproblematik eine tiefgreifende Wendung. Im Vergleich des gesamten zeitlichen und darin leid- und übelvollen Schöpfungsverlaufes mit seiner Vollendung in der »endlosen« Ewigkeit wird die ganze, weG. Mahler (1860–1911) versucht dies am Ende des symphonischen Zyklus »Das Lied von der Erde« (1907–1908) in ergreifender Weise. Doch auch da handelt es sich nur um ein Analogon der Zeitlosigkeit in der Zeit, nicht um die Zeitlosigkeit selbst.
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sentlich endliche Zeitdauer der Schöpfung – immerhin wahrscheinlich um die 13–15 Milliarden Jahre – gleichsam zu nichts, zu einem Vorspiel, zu einer »blassen Erinnerung«, die von der »am Ende der Zeiten« erreichten Fülle des Seins nahezu ausgelöscht wird und erlebnismäßig allen Last- und Dunkelcharakter verliert. Ihre Funktion besteht dann »nur noch« darin, jenen dunklen Hintergrund abzugeben, von dem sich das Leben im reinen Sein unendlich strahlend und beseligend abhebt.
3.10. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: Weltveräußerung und Weltausgesetztheit des Menschen Nicht erst das Leib-Seele-Problem, schon die Leiblichkeit des Menschen weist zwei Gesichter auf: Sie ist zugleich größte Selbstverständlichkeit und größtes Rätsel. Was ist das, der Leib? Was heißt das, leiblich sein, was, einen Leib haben? Wie kann es sein, dass dieser Leib, anscheinend »nur« ein ausgedehnter physikalischer Körper, lebt, mehr noch, dem individualen Bewusstsein vorweg lebt, sinnhaft lebt, manchmal auch gegen es lebt, und schließlich sich im Selbstsein der menschlichen Person erlebt, spürt und weiß, sich an sich selbst freut und leidet, sich erinnert und vorausschaut? Und wie kann sich der Mensch von diesem Leib, mit dem er doch »identisch« zu sein scheint, distanzieren, ihn führen, lenken, benutzen, ja knechten und mit ihm in die Welt hineinwirken? Immer wieder taucht die Leiblichkeit in der Philosophiegeschichte als Problem auf, doch nie trat sie so in den Vordergrund wie im 18., 19. und 20. Jahrhundert, beginnend mit G. Hamann, K. C. F. Krause, A. Schopenhauer und F. Nietzsche. Diese Wende hat mit dem Ende der Vorherrschaft der idealistisch-intellektualistischen Grundorientierung der abendländischen Philosophie, die ein Erbe der antiken Griechen war, und ihrer Ablösung durch die naturalistischen, am Organischen und Materiellen orientierten Menschenwissenschaften im 19. Jahrhundert zu tun. Trotzdem blieb der Leib ein Rätsel, 72 das durch die philosophische Metaphysik und Phänomenologie zwar differenzierter und umfassender beschrieben, aber in seinen Seinsgründen nicht aufgeklärt wurde. 73 Man wurde sich nicht einmal darin 72 73
Vgl. B. Waldenfels (2000, 14). Vgl. von phänomenologischer Seite her T. Fuchs (2000).
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Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens
einig, inwieweit das, was der Mensch als Leib erlebt und empfindet, mit dem identisch ist, was der Leib »an sich« bzw. verglichen mit dem physikalisch-organischen »Leib-Körper« ist. Innerhalb der Phänomenologie etwa geht die Schule M. Schelers hier von Identität aus, während die Schule N. Hartmanns und mit ihm die Wissenschaftstheoretiker im Allgemeinen (und in der Nachfolge I. Kants) eine Differenz ansetzen, die zwischen dem erlebten Phänomen »Leib« (Erscheinung) und der »Realität« Leib (Ding an sich) unterscheidet. Was ist dazu zu sagen? Zunächst ist erkenntnistheoretisch festzuhalten, dass der Mensch nur dadurch von seinem Leib weiß, dass er ihn erlebt bzw. ihn in Bezug auf die Leiblichkeit im Modus des Empfindens spürt. Man könnte auch sagen: Der Leib erscheint als empfunden-empfindender, qualitativ-lebendiger Raumkörper. Erleben bzw. empfindendes Erleben ist aber eine Art Bewusstsein, Bewusstseinsvollzug, dessen Inhalt die leiblich-qualitativen Empfindungen wie Wärme, Kälte, Spannung, Druck, Düfte, Geräusche, Klänge, Farben, Jucken, Schmerzen, Hunger, Durst, Unlust- und Lustempfindungen sind. Damit ist der Leib wie alle Erfahrung erkenntnistheoretisch ein »Phänomen«, ein »Bewusstseinsinhalt«, Erlebtes, kein an sich seiendes Ding und keine unmittelbar materiell-objektive Wirklichkeit. 74 Von dieser phänomenalen Seite her teilt er alle Eigenheiten psychischer Gegenstandsbildung: Er wird vom Erlebenden gemäß dessen innerer Struktur, sprich gemäß den Erlebens-, Wahrnehmungs- und Denkkategorien aktiv erfasst und »konstruiert« bzw. besser »rekonstruiert«, nachgestaltet, zunächst praktisch ergriffen, aisthetisch mittels der Zeit- und Raumanschauung intuitiv mitgestaltet und schließlich kognitiv mittels der logischen Begriffskategorien des Subjektes diskursiv begriffen. Hierin liegt die unvermeidliche Perspektivik der Leibwahrnehmung: Auch den Leib sieht das Subjekt immer aus der Ichperspektive, sprich aus einer Zentrierung heraus, so dass etwa seine Räumlichkeit nicht euklidisch-allseitig, sondern perspektivischeinseitig »verzerrt« gestaltet und gesehen wird. Es ist klar, dass der Leib, wenn er nicht nur als Phantasieobjekt gelten soll, so nicht in der physischen Wirklichkeit besteht: Hier Praktisch ist der Leib ein direktes Verhalten-Sein zur Welt (être-au-monde gemäß M. Merleau-Ponty, 1945), und eben damit schon als Phänomen ein reales, auf die Welt bezogenes und nicht nur phänomenales Medium zwischen dem Subjekt und der Welt; er ist selbst auch ein Weltseiendes, materiell und immateriell zugleich.
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muss er gleichwertig in alle Raumdimensionen ohne Vorzug einer Perspektive gedacht werden, und zwar nicht nur als bloß physikalischer Körper, sondern auch als biologisch organisierter und biologisch empfindender Leib. Das aber bedeutet, dass der erlebte Leib unmöglich mit dem (praktisch) »gelebten« Leib voll identisch ist, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Leib nicht nur intrapsychisch, etwa als bloße Phantasie – wie etwa im Traum –, sondern auch physisch real, an sich, heißt als physikalisch-chemisch-organismisches Ding besteht. Diese Annahme wird durch viele Wahrnehmungstäuschungen und Experimente bestätigt: Der subjektive Leib ist nur partiell mit dem objektiven Leib identisch. Denn wie ein Anderer meinen Leib – nicht nur meinen physikalischen Körper! – 75 sieht, riecht, hört und tastet, weicht u. U. erheblich von meiner leiblichen Selbstwahrnehmung ab. Hierbei spielt eine entscheidende Rolle, dass der Leib nicht nur durch objektiv-intersubjektive Qualitäten wie die Hautfarbe und die Hautwärme, sondern auch durch unvermittelbar-subjektive Qualitäten bestimmt ist. Niemand kann meinen Schmerz, meinen Hunger, meine Müdigkeit empfinden, das ist nicht kommunikabel, obschon sich diese Qualia durchaus im Leib ausdrücken und indirekt wahrgenommen und durch Resonanz und Empathie nachempfunden werden können. 76 Das leitet zur Frage über, was der Leib überhaupt ist, wenigstens insoweit er dem Menschen erscheint? In meiner Leidensphänomenologie habe ich folgende Seinskomponenten des Leibes unterschieden: Als erstes erscheint er in seinen Sinnesqualitäten, sprich mit seiner gesamten Empfindungswelt, was E. Husserl »Empfindnisse« nennt. Schon diese »Welt« ist weitläufig und sinnreich geordnet, und zwar weitgehend wirklichkeitsverbun-
Die recht künstlich anmutende Unterscheidung von Leib als nur interozeptiv empfundenem Körper und Körper als nur von außen gesehenem »Leib«, die H. Schmitz (Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990, 132) vornimmt und die etwa von B. Waldenfels (2000, 280 ff.) abgelehnt wird, halte ich für wenig plausibel und folge ihr daher nicht. Sowohl der gesehene, gehörte, gerochene, getastete eigene Leib als auch der gesehene, gehörte, getastete, gerochene menschliche Körper eines Anderen ist nicht nur Körper, sondern Leib. Ein nur-Körper ist der Leib für den Physiker und Chemiker, aber auch das nicht ganz, da selbst die molekulare Struktur des Organismus gleichsam sinnlich-empfindungshaft durchflutet ist und von dem leiblich Empfindungshaften mitgestaltet wird. 76 Vgl. zur verkörperten Empathie und Intersubjektivität die differenzierte und umfassende Arbeit von T. Breyer (2015). 75
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den. 77 So gibt es zum einen exterozeptiv-weltbezogene, phänomenal an den Dingen »hängende« Sinnesempfindungen wie die Farben, die Töne und die Düfte, zum anderen interozeptiv-leibinnenbezogene Sinnesempfindungen ohne außerleibliches Korrelat wie Schmerz, Jucken, Hunger, Durst, Müdigkeit, Wollust, Wärme-Kälte, und drittens intermediäre, die Grenze zwischen Leib und Umwelt angebende Sinnesqualitäten, so die intersubjektiv-miterlebbaren Tast- und Temperaturempfindungen. Schon das bildet viel von der objektiven Realität ab. Unter den interozeptiv-leibständigen Qualitätsempfindungen lassen sich die »allgemeinen«, leibglobalen, über den gesamten Leib ausgedehnten Vitalempfindungen wie die Frische, die Kraft, die Erschöpfung und die Müdigkeit von den Lokalempfindungen, etwa einem Jucken oder Stechen unterscheiden. Schließlich gibt es eine Gruppe von Empfindungen, die das triebhaft-bedürftige Streben im Leib erfahrbar machen: die an die Instinkte gebundenen Drang- oder Triebempfindungen, so die Atem-, Durst-, Hunger-, Ausscheidungs-, Schlaf- und Wollustempfindungen, in denen sich ein leibliches Bedürfen kundgibt. Auch dies spiegelt wichtige, auf die Natur und auf die Intersubjektivität bezogene Realitätsverhältnisse wider. Eine weitere, interessante Differenz betrifft die Nähe und Ferne im Raum: Farb- und Tonempfindungen können die Tiefe des Raums vermitteln, Duft, Geschmack und Getast die Nähe der Dinge. Und schließlich zeigen die Farbqualitäten eher die Zweidimensionalität, die Duft-, Geschmacks- und Getastqualitäten eher die Dreidimensionalität des Raumes an, während die Töne in sich raumlos sind und die Zeitlichkeit wiedergeben, was für Sprache und Musik wichtig ist. Das sind längst nicht alle Leistungen, die die Sinnesempfindungen erfüllen – es gibt noch solche, die eher von der Oberfläche, andere die eher vom Inneren der Dinge Kunde geben u. a. m. –, doch soll dies genügen, um die Lehre von der bloßen Subjektivität der Empfin-
Aus dieser Sicht erweist sich die These I. Kants vom Chaos bzw. der primär ungeordneten Vielheit der Empfindungswelt als nicht belegbare Hypothese, mit der I. Kant die Transzendentalität von Raum und Zeit, allerdings völlig hypothetisch, zu begründen sucht. In Wahrheit weist das Empfindungsleben schon primär einen hohen, durchaus objektiven Grad an Ordnung auf. Sowohl die klare und sinnige Zuordnung der Qualia zu bestimmten objektiven Sinnesorganen (Auge-Farbe, OhrKlang) als auch die intrinsische Ordnung der Qualia (Farbenkreis, Obertonreihe etc.) belegen dies.
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dungswelt, wie sie in der Neuzeit seit Galilei zur Vormacht kam, infrage zu stellen. 78 Ohne diese Sinnesqualitäten wüsste der Mensch weder etwas vom Leib noch etwas von der Welt, wie alle jene Kranken beweisen, denen ein Sinneskanal verschlossen ist, vor allem wenn dies seit der Geburt der Fall ist. An diesen Sinnesqualitäten oder Empfindnissen hängen weitere, nicht-sinnliche, nicht empfundene, sondern anschauliche Eigenschaften, so vor allem die quantitativ-gestaltlichen Eigenschaften der Räumlichkeit, Zeitlichkeit, der Rhythmik und der zahlen- und mengenhaften Gliederung. Sie, die nicht primär empfunden, sondern primär erschaut und angeschaut werden, sind zur Orientierung in Leib und Welt unentbehrlich, von ihnen bekommt der Mensch die Ordnungen und Gesetze der Natur vermittelt, ohne die er nichts handhaben, abschätzen, gewichten, bemessen und berechnen könnte. Darüber hinaus gestalten sie die »Plastizität« der Dinge mit und zeigen deren Harmonie, Einheitlichkeit und Eleganz, letztlich ihre gestaltliche Schönheit und ihren gestaltlichen Reiz. Doch schon die Qualitäten – die Farben, Töne, Düfte usw. – empfindet der Mensch als schön, als seelisch gehalt- und ausdrucksvoll. Und in der Tat müssen sie, wenn der Kosmos, wie oben ermittelt, als das Werk von geistigen Potenzen erkannt ist, als Ausdruck seelisch-geistiger Wesen verstanden werden. Während die sinnlich-empfundenen und die quantitativ-gestaltlich-angeschauten Eigenschaften noch qualitativ gefüllt bzw. quantitativ anschaulich sind, sind die begrifflich zu erfassenden Eigenschaften der Gegenstandswelt (einschließlich des Leibes) unsinnlichunanschaulich, »abstrakt«, »formal«, »geistig« und gehören dennoch zur Seinsstruktur des Leibes und zur sinnlichen Welt: Das sind die sachlogisch-zusammenhangsartigen Bestimmungen, die »Formen«, logischen Beziehungsfiguren und Zusammenhangsnetze in den Din-
Welche Behauptung umso irriger ist, als der Mensch erweisbar die Sinnesqualitäten originär-subjekthaft nicht erzeugen kann: Ein blind Geborener kann sich nicht aus eigener Kraft Farben erschaffen, und also können Farben nicht seine rein subjektivbewusstseinsmäßigen Erzeugnisse sein. Entweder werden sie in der optisch gesunden Wahrnehmung von den wahrgenommenen Dingen oder vom Leib oder von beiden (in einer komplizierten Gestaltungssynthese) gegeben. Dinge und Leib sind beide nicht nur subjektiv beliebige Schaffungen des Geistes, sondern werden rezeptiv wahrgenommen.
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gen, die der Mensch begrifflich zu erfassen sucht. Alles, was in logische Urteile gesetzt werden kann, gehört hierher, etwa, wenn man sagt: Der menschliche Leib ist ein Wirbeltier-, Säuger- und Primatenorganismus; er ist abhängig von diesen und jenen Umweltbedingungen; seine inneren Funktionen sind so und so aufeinander bezogen usw. Ohne diese formale Seite könnten der Leib und über ihn die Welt nicht verstanden, ihre logische Wechselwirkung und Einheit nicht erfasst werden, so dass die funktionalen Bezüge im Leib selbst und zur Umwelt dunkel blieben. Mit ihnen ordnet sich das Leben und erhält durch allen Wandel hindurch Festigkeit, Klarheit und Bestand. Diese drei Eigenschaftsgruppen reichen aber nicht aus, um den realen Leib zu bestimmen, was dadurch bewiesen wird, dass auch der geträumte oder phantasierte Leib damit vollauf beschrieben werden kann. Zum echten, realen Leib kommt seine Selbständigkeit, sein physisches An-sich-Sein, seine relative Unabhängigkeit vom Erleben, seine partielle Autonomie gegenüber dem Bewusstsein und damit seine Erfahrbarkeit durch Andere, also seine Intersubjektivität hinzu, und das beinhaltet drei weitere Momente: Jeder reale Leib –
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ist organisierte, physikalisch-chemisch-biologische Materie, was bedeutet, dass auch der Körper einer Amöbe ein empfindsamer Leib ist; wird energetisch »betrieben«, »aufgeladen«, bewegt, oft sogar relativ autonom und unabhängig vom Wollen und Wünschen des Subjekts; und jeder Leib wird als ganzer in der realen Raumzeit erweisbar durch ein nicht direkt wahrnehmbares, das Weltwirken und die Intersubjektivität ermöglichendes, daher eigenständiges, »substanziales« Medium, die »metaphysische Materie«, gestützt und getragen. 79
Der geträumte Leib, der vom subjektiv erlebten realen Leib in keiner Weise unterschieden sein muss, besitzt die drei letztgenannten Seinsaspekte nicht: Er ist weder physikalisch-chemisch-biologisch organisiert noch durch echte physische Energie aufgeladen, noch wird er durch die metaphysische Materie gestützt. Im Gegenteil, das MediSiehe B. v. Brandenstein (1966, 261 ff.), der die logisch-ontologische Notwendigkeit der Materie als substanziales Medium für das Weltwirken und die Intersubjektivität erweist. Im Kapitel 1.4. wurde das Problem der Materie als selbständigen Trägers dynamischer Weltgestaltungen erörtert und an die »Amme« Platons erinnert.
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um, das den geträumten Leib trägt und sogar erzeugt, ist das Traumbewusstsein. Allein die Existenz des geträumten Leibes widerlegt die Schelersche Position der Identität von phänomenalem und physisch-an-sich bestehendem Leib. Das Kriterium der Widerständigkeit reicht entgegen M. Schelers Position nicht aus, den geträumten vom realen Leib zu differenzieren, da auch der geträumte Leib im Zusammenhang mit Widerständen, Hemmungen, Verletzungen und Schmerzen erlebt werden kann. An diese Grundstruktur der Leiblichkeit lässt sich die Frage richten, woher sie kommt und wie sie wodurch aufgebaut wird. Eines ist klar: Es ist nicht das Erleben, das Bewusstsein, der »Geist« des Menschen, der die erlebte Leiblichkeit originär konstruiert, »macht« oder erzeugt, wie das beim geträumten Leib der Fall ist und wie das idealistische Philosophien unterstellen. Das wird dadurch bewiesen, dass ein Blindgeborener nicht in der Lage ist, Farben zu erzeugen, ein Taubgeborener nicht in der Lage, Töne zu hören usw. Zweifellos wird die Leiblichkeit mit all ihren Eigenschaften dem Wahrnehmenden, der sie rezeptiv entgegennimmt, gegeben – aber von wem und wie? Obschon der Erlebende sie aktiv – und keineswegs, wie der Sensualismus meint, rein passiv wie in Wachs – aufnimmt und in diesem Sinne »rekonstruiert« (mit- und nachbildet), so konstruiert er sie keineswegs originär. Damit drängt sich erneut die Frage auf, wer oder was die Farben, Töne, Gerüche, die Hunger-, Durst- und Wollustempfindungem erzeugt? Es ist klar, dass diese Kausalfrage phänomenologisch und naturwissenschaftlich-neurobiologisch nicht beantwortet werden kann, und sie wird auch meistens umgangen oder ganz unzureichend beantwortet. Zwar sind das Nervensystem, das Gehirn, der Leib und das »Unbewusste« an der »Phänomenalisierung des Leibes« beteiligt, aber reicht dies zur Erklärung aus? Erweisbar nicht. Das erste Problem, das sich stellt, ist die Frage, was der erlebte Leib und der Leib, der physisch auch dann besteht, wenn er nicht erlebt wird, so im Tiefschlaf, was diese beiden Leiber gemeinsam haben? Sind sie beide zeiträumlich bestimmt oder nicht? Finden sich an beiden die Empfindungsqualitäten oder nicht? Bekanntlich hat die philosophische Tradition das Erste bejaht, das Letzte verneint, so in der Lockeschen Unterscheidung der primären oder objektiven mathematischen und der sekundären, angeblich rein subjektiven sinnlichen Gegenstandsqualitäten, doch war diese Unterscheidung keineswegs genügend durchdacht. Wenn der reale Leib nicht nur, wie die Gegen266 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens
überstellung zum geträumten Leib beweist, ein Produkt des Bewusstseins und überhaupt des Erlebens ist, und zwar mit allen seine Eigenschaften, auch mit seinen sinnesqualitativen, dann müssen auch diese aus der realen Welt stammen. Darauf wird erwidert, dass dies wohl stimme, aber nur auf den Leib zutreffe: Nicht die realen Weltdinge seien farbig, schwer, duften so und so, sondern das erzeuge der reale Leib, vor allem das Zentralnervensystem. Nun hat allerdings noch niemand zeigen können, wie ein Nervennetzwerk Farben, Töne, Gerüche etc. erzeugt. Wenn zugegeben wird, dass physische Realitäten wie Nerven, Moleküle etc. Sinnesqualitäten hervorbringen können, dann besteht keine prinzipielle Schwierigkeit, sie vorher schon der realen Welt zuzuschreiben. Auch wäre es rätselhaft, wie eine farblose, tonlose, qualitativ leere und rein energetisch-zeiträumliche Welt von der ebenfalls qualitativ leeren biologischen Materie des Nervensystems in erlebte Sinnesqualitäten soll umgesetzt werden können. Schließlich ist es wenig konsequent, der realen Welt die subjektiv wahrnehmbaren Eigenschaften von Zeit und Raum zuzugestehen, also hier einen Transfer von Objektivität in Subjektivität zuzulassen, während dies im Falle der Sinnesqualitäten, die durchaus als weltständig erlebt werden, verneint wird. 80 Das ist umso widersinniger, als die Raumzeiteigenschaften der Welt an und mit den Sinnesqualitäten vermittelt werden. Sinnestäuschungen, die oft ins Feld geführt werden, gibt es nicht nur bei den Sinnesqualitäten, sondern ebenso bei geometrischen und logischen Gegenstandsbestimmungen. Es besteht daher kein zureichender Grund, die einen Eigenschaften – die Sinnesqualitäten – für nur-subjektiv, die anderen, die raum-zeitlichen, für objektiv-subjektiv zu halten. 81 Und in der Tat gibt es Philosophen wie I. Kant und Neurobiologen wie G. Roth, die dazu tendieren, die gesamte Erscheinungsgestalt von Leib und Welt als subjektiv und rein konstruiert anzusehen, allerdings im Falle G. Roths nicht vom Ich, sondern vom Gehirn, was zu einem Selbstwiderspruch führt, so dass der objektiven Welt, den Dingen an sich, die sie nicht leugnen, keine der bekannten Eigenschaften, also auch die Räumlichkeit und Zeitlichkeit nicht zukommen. Wie diese Denker in solchem Falle überhaupt von einer objektiven Welt reden können, bleibt dann allerdings rätselhaft. Die erkenntnistheoretische Konsequenz ist ein radikaler Solipsismus, die eigenartigerweise von den Konstruktivisten (Maturana, Roth etc.) nicht gesehen wird. 81 Da verhielt sich I. Kant konsequenter, der dem objektiven Gegenstand bzw. Ding an sich alle Eigenschaften, also auch die zeiträumlichen absprach und sie für nur subjektiv erklärte. Das führt in andere Aporien, die vor allem die Kommunikation und die praktische Weltgestaltung betreffen, die ohne »adäquatio rei et intellectus« unmöglich werden. 80
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Fragt man sich nach der Bedingung der Möglichkeit der Sinnesqualitäten, ist eine Aufklärung der Sachlage möglich, wenn gemäß dem recht gefassten Kausalprinzip erkannt wird, dass die Sinnesempfindungen schöpferisch gesetzte Gehaltsqualitäten sind, die ihr Dasein ranghöheren, setzungsfähigen Wirkkräften verdanken, die gemäß dem oben dargelegten Kausalprinzip nur geistige, physisch wirkfähige Realitäten sein können. Würde man annehmen, dass Farb-, Ton-, überhaupt qualitative Gehalte von anderen gleichrangigen Gehalten, also wieder von Farben, sonstigen Empfindungen usw. oder gar von Nervenzellen, Leibesfunktionen, Sinnesreizen, physikalischen Energien etc. verursacht würden, geriete man in einen infiniten Regress, also in eine anfangslos-unendliche Ursache-Wirkungskette. Da diese, wie erkannt, sachlich unmöglich ist, können weder der Leib als ganzer noch das Gehirn noch irgendwelche Reize die zureichenden Ursachen, sondern höchstens Bedingungen bzw. Konditionalursachen der Sinnesqualitäten sein, vielmehr jene Wirkkräfte, die überhaupt das Universum organisch-sinnhaft aufbauen, »schmücken« es gleichsam mit den Sinnesqualitäten aus. Der Kosmos ist keine nur abstrakte, graue, tote, farb- und tonlose Energie- und Gesetzeswüste, sondern ein anschaulich lebendiges, »buntes« Werk geistiger Wirkwesen, die sich darin ausdrücken und ihre kreativen Möglichkeiten realisieren. Damit kommt der Mensch in den Blick, der nicht nur einen Leib hat, den er gleichsam von außen führt, sondern der sein Leib ist, ihm unauflösbar einwohnt und ihn »von innen«, aus seinem seelischgeistigen Zentrum heraus erlebt, erleidet, lenkt und gestaltet, umfasst und umhüllt. Diese Einwohnung ist alles andere als selbstverständlich. Schon auf einfacher, etwa magisch-mythischer Bewusstseinsstufe kommt der Mensch auf die Idee, das personale Seelenprinzip sei durch göttliche Wirkung in den Leib eingepflanzt oder eingehaucht worden. 82 Wäre die »Seele« tatsächlich rein natural dem Leib entwachsen, hätte sich solch eine Vorstellung kaum ausbilden können. Irgendwie scheint schon der frühe Mensch zu fühlen, dass er »Bürger zweier Welten« (I. Kant) ist bzw. ein Prinzip in ihm lebt, das nicht (nur) von dieser Welt ist (Platon, Aristoteles, Christentum, G. W. Leibniz, I. Kant). Das wird dadurch unterstrichen, dass er sich Auf einem sehr schönen Dokument der Aztekenkultur, dem Codex FejervaryMayer, Merseyside Country Museum, Liverpool, sieht man, wie zwei Götter einem Totenschädel eine sonnenähnliche Seele einpflanzen. Vgl. G. Lanczkowski (1989, 39).
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Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens
zunehmend in seinem individuellen und kollektiven Leben vom rein Leiblichen, Stofflichen und Biologischen zu emanzipieren sucht. Schließlich gestaltet er seinen Leib wie ein Kunstwerk und tut ihm regelrecht Gewalt an, um ihn seinen Vorstellungen gemäß umzubilden. Heute geht das so weit, dass man die natürlichen Alters- und Verfallsprozesse aufhalten, gar aufheben will – ein deutlicher Hinweis auf die »Nicht- oder Übernatürlichkeit« des Menschen. Dieses im Menschen erwachende Freiheits- und Emanzipationsprinzip tritt sehr früh in der Menschheitsgeschichte bzw. im individuellen Leben auf und offenbart sich z. B. darin, dass die tierischen Instinkthandlungen zurückgedrängt und in einigen Fällen aufgehoben werden. Der Mensch will nicht nur von der Natur geführt werden, er will sich selbst führen, und zwar schon das Kleinkind, etwa das Einjährige. Im Augenblick, wo der Mensch in seinem Leib erwacht, will und soll das Bewusstsein, das nicht nur intellektuell, sondern auch praktisch und emotional verstanden werden muss, zur Vorherrschaft über die Triebe und Instinkte gelangen – wie sollte das möglich sein, wenn das Bewusstsein, wie die Neurobiologen behaupten, nur die passive Spiegelung der Gehirntätigkeit wäre? In Wahrheit ist das Bewusstsein eine Kraft ohnegleichen und beherbergt einen Willen, der vor allem sich selbst will und dieses »Selbst« in der Welt auszudrücken und durchzusetzen sucht. Darin liegt zwar auch die Quelle des Egoismus, vieler Neurosen und Krankheiten, Konflikte und Kriege, doch ohne dieses Selbst könnte der Mensch nicht Mensch sein. Der Mensch erwacht im Leib, und zwar gemäß einer gewissen Ordnung. Zuerst spürt er sich unmittelbar im Sinne der lebendigen Autoaffektion und lebt ganz naiv auf die Welt zu, und da vornehmlich auf seinesgleichen, auf den wichtigen Anderen. 83 Erst sekundär kommt die Dingwelt in seinen Blick. Das ist die bekannte SelbstWelt-Matrix, die zwar nicht völlig unterschiedslos, aber recht »symbiotisch« strukturiert ist. Nach und nach beginnt sich der Mensch differenzierter zu spüren, sich zu erkunden und zu erproben, und weiß schließlich um sich, wenn auch erst unmittelbar emotional,
Dieses Spüren ist zwar kein hochstufiges Reflektieren, impliziert aber wie das Selbstgewahren ein Selbstverhältnis, einen Selbstbezug und damit etwas unmittelbar Rückbezügliches. Vgl. den Begriff der Autoaffektion bei M. Henry (1992). Vgl. auch meine Arbeit »Selbststruktur, Selbst und Narzissmus. Versuch einer Fundamentalanalyse« (Veröffentlichung voraussichtlich bei Alber, Freiburg, 2019).
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
nämlich im präreflexiven Selbstgewahrsein, dann praktisch im Selbstführen und erst später kognitiv im konzeptuell-reflexiven Selbstbegreifen. Sein Selbst mit seiner einmaligen Identität wird mehr und mehr bewusst und will sich selbst gestalten. Offenbar eignet dem Bewusstsein des Menschen ein mächtiger Drang zum Selbstbewusstsein. Woher kommt das? Aus den Instinkten? Aus dem Leib? Wenn man zugibt, dass das Bewusstsein eine echte Causa, eine Wirkkraft, ein Handlungszentrum und nicht nur ein kontemplativer Spiegel ist, was kaum geleugnet werden kann, da es Gedanken, Phantasien, Erinnerungen, Wünsche, Entschlüsse, Entscheidungen, Handlungen, Begriffe, Konzepte, Ideen und Utopien hervorbringt, dann scheint es unmöglich, es aus der physischen Welt abzuleiten. Keine Wirkungspotenz kann aus bloßen Wirkungen, d. h. aus Wirklichkeiten im dritten Seinsrang, hervorgehen. Wohl ist der Leib der Ort des Erwachens, auch das Medium zur Welt, das Antlitz und die beste Maske (F. Nietzsche), die den Menschen zugleich enthüllt und verhüllt, gewiss auch die unmittelbarste Wohnung des Selbstseins, aber er ist nicht der originäre Akteur bzw. ist dies nur in beschränkter Weise, nur in Hinsicht der Trieb- und Instinktwelt. Die gesamte Welt der Phantasien, des Gefühls, des Geistes und der Kultur ist ein Werk des Bewusstseins (mit seinen unbewussten Tiefengründen), nicht der Physis, die »nur« als Wohnung, Medium, Anreiz und Werkzeug in ihren Grenzen mitwirkt. So ist es z. B. unmöglich, die Welt der idealen mathematischen und logischen Größen und die Welt der idealen ethischen, ästhetischen und praktischen Werte – wie die Naturalisten wollen – aus der Leiblichkeit abzuleiten bzw. zu erklären, auch wenn der – in sich schon so geistreich gebaute und schön gestaltete – Leib zu diesen Werten zweifellos Bedeutendes beisteuert. 84 Damit eröffnen sich zwei neue Aspekte der menschlichen Existenz: Dadurch, dass das menschliche Erleben unmittelbar dem Leib einwohnt, ist es radikal ins Physische entäußert, wodurch der Mensch erlebnismäßig allen Gefahren der Welt ausgesetzt ist. 85 Dadurch aber, dass er als personales, seelisch-geistiges Prinzip im Leib, geweckt durch die wichtigen Mitmenschen, erwacht, ist er andererseits aufVgl. die ähnliche Kritik von P. Wust (1925, 25 ff.). Diese Ver- oder Entäußerung setzt das menschliche Erleben bzw. Ich an die äußerste Außenheit oder Oberflächenhaftigkeit des Seins und verlangt einerseits deren seelisch-geistige Durchdringung, so vor allem im seelischen, der Kommunikation dienenden Ausdrucksgebaren und provoziert andererseits die Suche nach der eigenen Innerlichkeit und Tiefe des Menschenwesens.
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Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens
gerufen, den bloß tierischen Leib zu vermenschlichen, seelisch und geistig zu durchdringen und zu gestalten, zunächst in Ausdruck, Bewegung und Gestik, dann durch Spiel, Kleidung, Bemalung und Schmuck, schließlich durch tiefgreifende Verformungen des Leibes. Allein durch den Menschen kommt das personale, sprich individualpsychische Prinzip in die Welt, obschon die Welt bereits vormenschlich, vor allem in den Lebewesen Seelisches und Geistiges ausdrückt, aber doch nur aspektiv und nie total. Vormenschlich erfährt man in der Natur nur »Gattungsgeistiges«, nichts individuell Personales, aber Seelisch-Geistiges durchaus. 86 Da das Prinzip Freiheit wesenhaft an das geistige Individuum geknüpft ist, denn nur ein solches kann wirklich »selbst« handeln, bleibt ein Kollektiv wie eine Tierart wesenhaft gebunden, gebunden an seine Instinkte und an seine Umweltnische, in die es passt. Der Mensch dagegen sprengt allen Umweltbezug und beginnt, die Welt zu erobern, zu formen, auszubeuten und nach seinem Willen und seiner Vorstellung umzubauen. Darin liegt eine große Gefahr, die sich zur Selbstgefährdung auswachsen kann, doch muss man sie verstehen, um ihr recht begegnen zu können. Wer den Menschen nur als »Natur« begreift, versteht ihn erstens nicht – denn wie sollte Natur sich selbst zerstören können? – und kann ihm zweitens nicht gerecht werden, und das heißt, sein wahres Anliegen verstehen und dadurch sinn- und maßvoll lenken. Metaphysisch betrachtet, stellt sich der Mensch als ein eigenartiges Doppelrangwesen dar, in dem der zweite und der dritte Seinsrang, personales Seelenprinzip, gattungspsychische Leiblichkeit und physikalische Körperlichkeit zu einer engsten, obschon nicht unproblematischen und gewiss nicht einsinnigen Einheit verschmolzen sind. Wie es dazu kam, und wer oder was dies bewirkte, liegt im Dunkel und schlägt sich als der endlose Streit um das Körper-Leib-SeeleGeist-Problem nieder. Gemäß dem Kausalprinzip lässt sich sagen: Diese Einheit kann nicht das Werk rein naturaler bzw. drittrangiger Prozesse sein; und auch ein Wesen im zweiten Seinsrang, also ein geistiges Geschöpf, ist zu solch einer rangübergreifenden Syntheseleistung nicht in der Lage. Wohl kann es im dritten Seinsrang wirken, Vgl. ähnlich P. Wust (1925, 28); H. André (1931); F. Buytendijk (1958); H. Plessner (1981); B. v. Brandenstein (1947, 579). Schon Aristoteles und G. W. F. Hegel erkannten, dass das Lebensprinzip in der vormenschlichen Natur nicht individual-personal ist, sondern auf eine »Artseele« verweist. Ähnlich auch E. Becher (1949).
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
kann Gedanken, Ideen, Phantasien, Entschlüsse, Wünsche, Handlungen und Werke hervorbringen und sich in der Welt sichtbar damit ausdrücken, aber es kann sich nicht mit ihnen rangübergreifend vereinigen und sich selbst echt drittrangig machen. Wie B. v. Brandenstein 87 erweist, ist dazu nur die Urkraft im ersten Seinsrang, die Gottheit, in der Lage, und daher ist sie es, die zwar nicht den Leib (direkt) erschafft, aber das personale Prinzip mit dem Leib innigst vereinigt und so die beiden unteren Ränge übergreift und gleichsam »verschweißt«. Warum Gott dies tut, wird im nächsten Abschnitt bei der Betrachtung des Naturaufbaues ersichtlich: Erst mit dem Menschen und seiner radikalen Entäußerung im Weltsein wird das kosmische Sein personalisiert, d. h. geistig individualisiert und transparent, womit die biologisch organisierte Materie ein intim-persönliches und innerliches Gepräge erhält. Vor allem erscheint mit dem Menschen das Prinzip der Freiheit in der Welt, das wiederum die Grundlage für die Prinzipien Selbstbestimmung, Selbstgestaltung, Würde, Verantwortung, Achtung, Austausch, Gespräch und Liebe enthält, allerdings deren Schattenseiten wie Willkür, Rücksichtslosigkeit, Egoismus, Verantwortungslosigkeit, Würdelosigkeit, Isolation, Missachtung und Hass miteinkauft. Wer die echte Freiheit in der Welt will, und die ist nur im zweiten geschöpflichen Seinsrang möglich, der kann sie nur um den Preis ihrer dunklen Möglichkeiten haben. So gesehen, muss ein Großteil von Übel und Leid als »Nebenwirkung« und Folge des Wunders der Freiheit, der Kreativität, der grenzenlosen Phantasie, auch der leiblich fast grenzenlosen physischen Ausdrucks- und Wirkungsmacht gesehen werden. Wohl hätte Gott eine Welt frei von eigenständigen Geschöpfen oder nur mit solchen freien Geschöpfen erschaffen können, von denen er wusste, dass sie ihre Freiheit nicht irrtümlich, willkürlich, fehlerhaft oder missbräuchlich gebrauchen würden. Da aber eine jegliche geschöpfliche Freiheit prinzipiell endlich, also nicht allwissend und allmächtig ist, hätte er diese Freiheit vor sich selbst schützen, sie also kontrollieren, einschränken und bewahren müssen und wäre so zum Tyrannen des innersten Selbstlebens geworden. Von echter Freiheit, die sich um den Preis des Irrtums und des Missbrauchs erprobt und die sich zeitlich entwickelt und reift, könnte keine Rede sein: Sie wäre von Gott nicht freigelassen worden. Schon im Paradies der jüdischen Genesiserzählung treten geisti87
Vgl. B. v. Brandenstein (1966, 427 ff.).
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Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch
ge Geschöpfe auf, die echt frei und für ihr Handeln verantwortlich sind. Wohl sind ihnen explizit Grenzen gesetzt, aber sie sind soweit freigelassen, dass sie diese Grenzen überschreiten können, allerdings nicht folgenlos. Je mehr Freiheit Gott seinem Geschöpf zutraut, ein desto größeres Risiko geht er zwar ein, dass diese Freiheit fehlgeht, aber eine umso größere Möglichkeit erwächst, dass Schöpfer und Geschöpf einander (fast) auf Augenhöhe begegnen. Der urfreie Gott will als Gegenüber – um es überspitzt zu sagen – ein so frei wie möglich agierendes Geschöpf und riskiert dabei die Verirrung, den Aufstand, die Rebellion, mehr noch den Abfall. 88 Dass es wiederholt zu solchen Abfallbewegungen kommt, beweist, dass die geschöpfliche Freiheit nicht urfrei, also urgut ist und, um urfrei zu werden, in Gott eingehen muss. Dieser will die Menschen so frei wie möglich, doch kann es der labile Mensch nur mit seiner Hilfe werden.
3.11. Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch Da die Leiblichkeit für die Reinkarnationstheorie und ihre Deutung des Leidens eine entscheidende Rolle spielt, soll das Verhältnis beider im Anschluss an das Leibkapitel kritisch geprüft werden. 89 Religionspsychologisch steht außer Frage, dass die Hauptmotive für das Aufkommen der Wiederverkörperungs- bzw. Seelenwanderungslehre, die nicht nur im Hinduismus und Buddhismus, sondern auch bei den Orphikern, den Pythagoreern, Platon und Plotin, G. E. Lessing und R. Steiner zu finden ist, erstens die Angst des geistigen Individuums vor der radikalen Vernichtung durch den Tod und zweitens die irritierende Tatsache der ungleichen Verteilung von Leid und Glück, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der Welt sind, wohinter letztlich das Bedürfnis nach einer vollständigen Rechts- und Glücksherstellung steht. 90 Warum muss, so fragen viele, ein Kind, Zum Menschen als dem »Rebell Gottes« vgl. E. Brunner (1958). Vgl. die zusammenfassende Kritik bei A. Kreiner (2005, 155 ff.). Hinweisen möchte ich außerdem auf M. v. Brueck (2007, 283 ff.), der einige schwerwiegende Argumente gegen die Reinkarnation anführt, durch die ihre inneren Widersprüche offenbar werden. Ich stimme darin überein und füge im Folgenden weitere wichtige Überlegungen hinzu. 90 Vgl. H. Zander (1999). Die beiden genannten Motive charakterisieren, was die Reinkarnation betrifft, in typischer Weise die pessimistische Denkweise auf dem indischen Subkontinent, während seit der Aufklärungszeit in Europa der Reinkarna88 89
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
kaum geboren, schweres Unglück, eine Behinderung, eine Krankheit, herzlose oder gewalttätige Eltern, gar einen frühen tragischen Tod erleiden? Solches Leid erklärt die Reinkarnationslehre, indem sie voraussetzt, dass die Menschen schon ein- oder vielemal in vorigen Leben gelebt haben, dass sie für ihre Taten, Unterlassungen und ihre Folgen verantwortlich sind und dass diese Taten und Unterlassungen als »Karma« auf ihren Verursacher im Sinne der Vergeltung zurückfallen. Letzteres bedeutet, dass die Summe aller Handlungen und Unterlassungen eines Individuums die nächste Existenzform, die der sittlichen Qualität dieser Summe entspricht, fixiert und gleichsam »auswählt«. Diese »Auswahl« nimmt weder das betroffene Subjekt noch eine übergeordnete geistige Macht vor, etwa ein Gott, sondern sie stellt sich »automatisch« ein, gesetzmäßig, und zwar so bestimmt, dass das betroffene Subjekt dazu nicht selbst Stellung beziehen kann. Man hat es hier, wie zu sehen, mit einer Vergeltungslogik und Vergeltungsethik zu tun, die eine einfache Zuordnung impliziert: So genannte gute Taten und Unterlassungen werden im nächsten Leben durch eine wertvollere Inkarnation bzw. durch glücklichere Lebensumstände – letztlich ein entsprechendes Leib-Umwelt-Verhältnis – belohnt, 91 so genannte schlechte Taten und Unterlassungen werden im nächsten Leben dagegen durch eine schlechtere Inkarnation und unglücklichere Lebensumstände bestraft. Die Vergeltung arbeitet demnach mit hedonistischen bzw. eudämonistischen Mitteln, nicht mit einer geistigen Läuterung. Was dahinter steht, sind Konzepte der Bewusstmachung, der Abschreckung, der Korrektur und der Reinigung. Denn derjenige, der weiß, was ihm »blüht«, wenn er sich vergeht, der wird sein Handeln – so die Annahme – vorzeitig bedenken bzw. sein Handeln, wenn er sich vergangen hat, bereuen, korrigieren und wiedergutmachen, allerdings nicht, weil die Handlung an sich unrecht ist, sondern weil ihm Strafe droht, also Schmerz, Nachteil, Leid, kurz Verlust an Lust und Glück. Hier liegt die Form einer eudämonistischen »Folgen-Vermeidungs-Ethik« vor, die – im abendländischen Raum – etwa von Epikur vertreten wird, während tionsgedanke mit dem Fortschrittsgedanken verknüpft und optimistisch ausgelegt wurde, so z. B. bei G. E. Lessing (1780) in seiner Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechtes«. 91 Schon hier fragt sich, warum z. B. die Inkarnation als Mensch besser und glücklicher sein soll als die Inkarnation in einem Tier? Oder die in einen Waran als die schlimmste Form der Inkarnation bewertet wird? Hier spielen offensichtlich spezifisch kulturelle Einflüsse eine große Rolle.
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Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch
die Stoa (und ähnlich B. de Spinoza) das Gegenteil lehrt und hervorhebt, dass sich Gesinnung und Handlung durch ihren inneren Wert bzw. Unwert selbst richten. Welche Grundsätze impliziert die Karma-Theorie genauer? 1. Erstens ist der Mensch ein Handlungswesen, das frei von sich her ein Geschehen initiieren kann und daher für sein Handeln verantwortlich ist. Diese Freiheit geht aber nicht so weit, dass sich der Mensch zu seinem bisherigen Gesamtkarma stellen und sich von einer eventuellen (Fehl-)Richtung im Sinne einer echten Metanoia abwenden könnte. Darin deutet sich eine fundamentale Inkonsistenz der Reinkarnationslehre an. 92 2. Zweitens werden die guten und schlechten Taten und Unterlassungen nach dem Tode von einem außerleiblich-immateriellen Träger, einer selbständig-substanzialen Wirklichkeit weiter getragen, die man »Seele« (atman) nennt. Darin liegt, dass Seele und Leib trennbar und zwei fundamental verschiedene Wirklichkeiten sind, deren Verhältnis nicht nur allgemein kontingent ist, sondern so vage, dass einer menschlichen Seele z. B. auch ein niederer Tierleib zufallen kann. 3. Drittens gibt es real gültige und wirklichkeitswirksame Werte, Normen, Tugenden bzw. Unwerte und Untugenden, die sich im Rahmen des karmischen Vergeltungsgesetzes auswirken. Diese Auswirkung geschieht unerbittlich, unausweichlich, gleichsam wie ein Naturgesetz. In diesen Auswirkungsmechanismus kann der Träger, das betroffene Subjekt, nicht eingreifen; hier ist er bloßes Objekt. 4. Das »Subjekt« dieses Mechanismus ist das Karmagesetz, eine Art sittliche Abrechnungskausalität, die blindautomatisch und doch absolut genau und unerbittlich »sehend« wirkt. Woher diese Kausalität kommt, wo sie besteht und wie sie in die lebendigen Subjekte einwirkt, bleibt dunkel. Sie ist gleichsam ein übergeordnetes, universal sittliches Seinsgesetz, analog etwa der griechischen Ananke oder Moira. 5. Und schließlich kehrt der Verursacher seiner Handlungen und Unterlassungen nach dem Tod gemäß seinem Verhalten in einem »entsprechenden« neuen Leib und Leben, zu anderer Zeit und an anderem Ort wieder, ohne dass er darauf Einfluss neh92
Meta-Noia meint eine geistig-sittliche Umwendung oder Umkehr.
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
men oder davon wissen kann. Was allerdings »entsprechend« ist und sein soll, wird sich als höchst problematisch erweisen. Hier fragt sich zweierlei: Leistet diese Theorie, was sie verspricht, nämlich eine Erklärung für die großenteils unverständliche Verteilung von Glück und Unglück, Recht und Unrecht bzw. die künftige Durchsetzung einer umfassenden Gerechtigkeit? Und zweitens: Ist diese Theorie in sich – also logisch, weiter gegenüber den Tatsachen, also empirisch – konsistent oder verstößt sie gegen die bisher erkannten metaphysischen Grundsätze? Am Anfang mögen folgende, mehr praktisch-ethische Überlegungen stehen: Kann jedes Leid, z. B. eine entsetzliche Folter, die Vergasung der Juden oder die Vergewaltigung eines Kindes, durch irgendein angeblich vorangegangenes Vergehen der Opfer, also der Juden, der Kinder und der Gefolterten gerechtfertigt werden? Ist Strafe überhaupt eine ethisch akzeptable Antwort auf eine Untat? Man nehme an, A. Hitler würde heute wiedergeboren – wie sollten sich seine Vergehen »ausgleichen«, durch welches Karma »wiedergutmachen« lassen? Dadurch, dass er selbst vergast oder zu einem Unberührbaren oder einem Waran würde? Lässt sich überhaupt durch ein auferlegtes Leid sühnen, was er getan hat? Und wem hilft es, wenn nun er leidet, etwa gefoltert oder vergast würde, wenn er als Unberührbarer inkarniert wäre? Offensichtlich liegt hier eine Vergeltungs- und Rachelogik vor, die im Grunde unplausibel und ethisch höchst anfechtbar ist. 93 Denn ein Unrecht wird nicht dadurch gesühnt, dass mit Schadenszufügung – und nichts anderes ist Strafe zunächst – geantwortet wird. Der einzig ethisch sinnvolle »Ausgleich« wäre im aufrichtigen Versuch einer Wiedergutmachung zu sehen, die zum mindesten eine Entschuldigung bzw. Bitte um Vergebung beinhaltete. Eine Vergeltung durch Jede Moral, die auf Strafe nur im Sinne einer Ausgleichung durch Leid- und Schadenszufügung, sprich auf Vergeltung beruht, ist im Grunde, da sie Schlechtes nicht vermindert, sondern vermehrt, unethisch. »Strafe« darf nur erfolgen, wenn sie nicht einem Rache- bzw. Vergeltungsmotiv entspringt und wenn sie als Sicherungsmaßnahme bei Selbst- und Fremdgefährdung, zur Besinnung und therapeutischen Selbstberichtigung und im Sinne echter Reue und Wiedergutmachung eingesetzt wird, z. B. als Entschädigung. Selbst für heutige Rechtsstaaten ist das noch Utopie. Im Alten Testsament mischen sich beide »Strafkonzepte«, doch es scheint der »Vergeltungsgedanke« noch zu überwiegen, der erst im Neuen Testament weitgehend, doch auch da nicht völlig überwunden wird.
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Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch
Schadenszufügung begeht ihrerseits wieder nur ein Unrecht, das bekanntlich eher zur Verbitterung als zur Verbesserung des Täters führt. Letzteres trifft umso mehr zu, als der Täter im Rahmen der Karmatheorie von seinem früheren Leben nichts weiß und sich entweder nicht oder nur vage berichtigen kann. Wie soll A. Hitler, heute wiedergeboren, seine Untaten bereuen können, wenn er keine Erinnerung daran hat? Und warum hat er keine Erinnerung, da er doch irgendwie »derselbe« ist? Müsste aus seinem Unterbewusstsein, in dem als Karma alle bisherigen Leben gespeichert sind, nicht sein früheres Leben in Träumen, Neurosen, Gewissensbissen und Störungen auftauchen? Müsste A. Hitler, wenn man streng nach der Vergeltungslogik ginge, heute nicht erleiden, was er vielen Tausenden seiner Opfer zugefügt hat? Geht das aber überhaupt und ergibt es irgendeinen Sinn? Umgekehrt folgt aus dieser Logik, dass auch A. Hitlers Opfer ihr entsetzliches Leid nur deswegen erfahren haben, weil sie in ihren früheren Leben übel gehandelt haben! Was für eine Vorstellung! Wo führt das hin? Doch wohl ins Bodenlose, philosophisch in einen unendlichen Regress, der im Kapitel 2.3. als inkonsistent erkannt wurde. Nein, die ethisch adäquate Antwort auf ein Vergehen ist seine bewusste Sühnung durch möglichst angemessene Wiedergutmachung, und genau das leistet die Reinkarnationstheorie nicht. Damit nicht genug, steht sie vor zwei unlösbaren Missverhältnissen: Zum einen gibt es Vergehen, die so monströs sind, dass eine »sinnvolle Strafe« dafür kaum vorstellbar ist; und zum anderen gibt es Leiden, so ungeheuerlich, dass entsprechende Missetaten schwerlich vorauszusetzen sind. Überhaupt müssten schwerste Vergehen mit schwersten Leiden, also Folter mindestens mit Folter, Vergewaltigung mit Vergewaltigung usw. karmisch beantwortet werden, was ethisch unerträglich ist, zu Absurditäten führt und die Leidensspirale nur antreibt, statt sie zu beenden. Letztlich stehen hinter dieser Vergeltungsethik nicht die Kräfte der Liebe, des Erbarmens, der Versöhnung und Verzeihung, sondern die Mächte der Angst, des Neids, des Ressentiments, der Rache und des Hasses, denn alle Vergeltung ist (sittlich fromm verpackte) Schädigung und Zerstörung. Das zweite Problem stellt sich mit der Wertfrage: Wer bestimmt überhaupt, was ein Vergehen ist und was nicht, was gute, was schlechte Handlungen sind? Ist das immer so eindeutig und zu allen Zeiten gleich? Aus der Sicht des Vorgesetzten macht sich ein An277 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
gestellter, der sich im Rahmen einer patriarchalischen Gesellschaft gegen unfaire Bevormundung auflehnt, strafbar, während derselbe Angestellte in einer demokratischen Gesellschaft Achtung verdient. Im Falle der Reinkarnationslehre liegt aber eine Theorie vor, die die historische Bedingtheit von Gesellschaftsstrukturen ausklammert, was vielleicht eine ihrer Funktionen ist, und so »über einen Kamm schert«. Kann jedoch ein Mensch, der unter den Römern ein »Unrecht« beging, das heute vielleicht sogar als Zivilcourage angesehen würde, für dasselbe, nun unter ganz anderen Zeit- und Kulturverhältnissen wiedergeboren, zur Rechenschaft gezogen werden? Dies scheint höchst fragwürdig und eine nichtannehmbare Abstraktion von der zeitbedingten Moral einer Gesellschaft zu sein, zumal von der sehr kulturbedingten Moral des indischen Kastensystems. Noch tiefer reichen die Probleme der Identität und der Freiheit. 94 Wenn man z. B. in der Anthroposophie, die die Reinkarnation lehrt, hört, dass J. W. v. Goethe Moses gewesen sein soll oder Annie Besant Giordano Bruno oder R. Steiner Johannes der Täufer, dann wird damit die leib-seelische, geistig-kulturale und soziale Einmaligkeit des Menschen tiefgreifend verletzt. Die genannten Menschen sind so grundverschiedene Wesen, dass ihre angebliche Identität mehr als konstruiert erscheint. Dies gilt umso mehr, als es Zusatzhypothesen braucht, um erstens die Identität dieser Wesen über Zeit, Kultur und Epochen hinweg zu erhalten, um zweitens ihre Verschiedenheit zu begründen und um drittens zu erklären, wieso sie ihre frühere Existenz nicht erinnern bzw. nicht wenigstens unbewusst auf ihre früheren Fähigkeiten zurückgreifen können. Wer in das reine Gesichtchen eines Neugeborenen schaut, kann schwerlich akzeptieren, dass dieses »Seelchen« durch zahllose, vielleicht sogar unendlich viele Vorleben (regressio ad infinitum!) belastet und beschwert sein soll. In den Tiefenschichten dieses Menschen müsste dies ein psychologisches und sittliches Chaos erzeugen, das jeden Neubeginn lähmt. Damit wird das Problem des menschlichen Seelenaufbaues berührt. Die Reinkarnationslehre vertritt hier eine im Letzten unklare, Das Problem der Identität lässt sich nur einer Lösung annähern, wenn geklärt ist, ob die Psyche überhaupt eine eigenständige, sich selbst bestimmende, damit freie und substanziale Realität ist. Wenn sie das nicht ist, wie der Buddhismus lehrt, dann wird der Reinkarnationslehre der Boden entzogen. Entsprechend muss der Buddhismus Zusatzhypothesen konstruieren, um einen »Stoff« zu haben, der sich irgendwie über die Inkarnationen hinweg erhält und das Karmagesetz trägt. Damit hebt er im Wesen seine anatta-Lehre auf.
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ambivalente und widersprüchliche Auffassung: Zum einen beginnt jedes Leben neu, zum anderen ist jedes Leben gemäß der Reinkarnationslehre uralt, bei Annahme der Anfangslosigkeit der Welt unendlich alt. Dem widerspricht das Faktum sowohl der individuellen als auch der kollektiven Bewusstwerdung und ihrer inneren Entfaltungsordnung. Die zeitlich sich entwickelnde Psyche stellt nämlich einen zunehmenden Erwachungs- und Differenzierungsprozess dar, der zum einen irreversibel ist, zum anderen nach bestimmten psychischen Gesetzmäßigkeiten verläuft. So durchlebt jeder Mensch als Kind eine archaische, dann eine magisch-mythische Bewusstseinsepoche, die von der mental-rationalen Bewusstseinsstufe abgelöst wird. 95 Die Reinkarnationstheorie setzt sich über diese Verhältnisse hinweg und unterstellt, eine Seele könnte ihre schon erreichten Stufen wieder verlieren. Das ist psychologisch höchst unwahrscheinlich: Hätte meine Seele z. B. im vorigen Leben schon die rationale Bewusstseinsstufe erreicht, könnte ich jetzt, als Kleinkind, nur durch eine massive Gewalteinwirkung wieder auf die magische Bewusstseinsstufe zurückgeschlagen werden. Die bloße Verkörperung wäre dazu nicht in der Lage, da sich das Seelenprinzip als Ganzes im Leib realisiert. Geistontologisch zeigt sich hier eine tiefe Unausgeglichenheit der Reinkarnationslehre. Ein anderes Problem bildet die individuelle Freiheit. Wie bereits gesehen, wird sie von der Reinkarnationslehre vorausgesetzt; ohne Freiheit verlöre sie jeden Sinn. Andererseits ist diese Freiheit nicht absolut, sondern durch das Karmagesetz gebunden, sogar so sehr gebunden, dass sie nicht dazu eigens Stellung beziehen kann. Schon dies ist problematisch, mag aber noch hingehen, auch wenn letztlich unklar bleibt, woher das Karmagesetz rührt und wie es in den Seelen wirkt. Im Hinduismus scheint es göttlichen Ursprungs zu sein, im Buddhismus, der ursprünglich alles Göttliche ausklammert, fehlt eine Ursprungsrealität für das Karmagesetz, was seine Konsistenz erheblich schwächt. 96 Weitaus heikler ist die mit der Reinkarnationslehre verknüpfte Annahme, dass die Seele gemäß ihrem bisher angehäuften Karma in einen entsprechenden Leib versenkt wird bzw. sich sogar selbst, wie
Vgl. J. Gebsers Bewusstseinsstufen (1992). Vgl. G. Hierzenberger (2003); M. Eliade (1995); H. v. Glasenapp (1963, 53 ff.); H. P. Hasenfratz (1994, 19 f., 78 f.); Bhagavad-Gita (1961, 102 ff.).
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die Anthroposophen lehren, einen solchen Leib auswählt. 97 Im letzten Fall entsteht ein direkter Widerspruch: Wenn die Seele freiwillig einen Leib wählt und sich mit ihm aus freien Stücken verbindet, dann kann sie logischerweise nicht von diesem Leib zwangsmäßig gebunden werden. Genau diese willkürlich nicht aufhebbare Leibgebundenheit lehrt aber die Erfahrung. Es ist also unmöglich, dass die Seele sich selbst einen Leib aussucht und sich mit ihm vereinigt. Hier braucht es eine höhere Macht, die die Einheit erzwingt. Aber wer oder was? Das Karmagesetz ist an sich blind, ist nur ein Gesetz, gemäß dem, aber nicht durch das etwas geschieht. Wer oder was zwingt also die Seele in ein genau ihren sittlichen Taten entsprechendes leibliches Schicksal? Und was heißt hier überhaupt »entsprechend«? Wie kann einem bestimmten sittlichen Bewusstseinsstand ein leiblich-geschichtlichsoziales oder gar ein vormenschliches Dasein entsprechen? Werden hier nicht Äpfel mit Birnen verglichen? Welchem Maß an Sünde, z. B. Lüge, Betrug, Rücksichtslosigkeit entspricht welches Maß an Krankheit, Armut, Leid bzw. welche physikalische oder biologische Seinsweise? Das mutet willkürlich an und lässt sich, da es sich um zwei verschiedene Kategorialdimensionen handelt, sachlich nicht bestimmen. Die Reinkarnationslehre begeht hier einen Kategorienfehler und verwirrt dadurch mehr, als dass sie aufklärt. Vor allem lässt sie die Frage offen, wer oder was die Seele mit dem Leib (immer wieder) vereinigt. Aus den in dieser Arbeit durchgeführten metaphysischen Untersuchungen wurde bereits klar, dass dazu weder der Leib noch die Seele selbst in der Lage sind – nur Gott könnte das, aber macht er dies immer wieder, ohne Anfang und Ende und auf so willkürliche Weise? Hiermit wird der metaphysisch wundeste Punkt der Reinkarnationslehre, der von ihren Vertretern nicht gesehen wird, berührt: die Frage nach dem Anfang. Wenn das Karmagesetz im Sinne einer deterministischen Kausalität verstanden wird, impliziert es, da eine Verkörperung notwendig eine andere voraussetzt, die Annahme einer anfangslosen Kausalkette, also eine anfangslos-unendliche Anzahl von Wiederverkörperungen. Dadurch wird das ursprünglich zu lösende Problem, die ungerechte Verteilung von Glück und Leid, nur in eine unendliche Vergangenheit verschoben und nicht geklärt. Andererseits wurde gezeigt, dass eine solche Kausalkette in sich unmöglich ist – die Reihe der kosmischen Gebilde muss in der Zeit einen 97
Vgl. R. Steiner (2003).
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Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch
ersten Anfang gehabt haben. Die Reinkarnationslehre impliziert also, wenn auch versteckt, eine unbehebbare Inkonsistenz, durch die sie aufgehoben wird. Damit im engen Zusammenhang steht die Frage, woher die sittlichen Unterschiede zwischen den Seelen kommen. Hat die Reihe der Reinkarnationen keinen Anfang, bleiben die sittlichen Differenzen im Dunkeln. Hat dagegen irgendeine transzendente göttliche Macht die Seelen ursprünglich geschaffen, ergeben sich zwei denkbare Möglichkeiten: Wenn alle Seelen anfänglich sittlich neutral geschaffen wurden, was die göttliche Gerechtigkeit verlangt, dann müssten die späteren sittlichen Unterschiede allein durch äußere Umstände erklärt werden, für die die Betroffenen nicht, sondern wieder die Gottheit verantwortlich wäre, wodurch das Problem nicht behoben, sondern nur durch ein anderes ersetzt wird. Wurden die Seelen im Uranfang sittlich ungleich geschaffen, wären sie dafür nicht, sondern Gott wäre dafür verantwortlich zu machen. Wie man es wendet, die Reinkarnationslehre leistet nicht, was sie verspricht, im Gegenteil verschleiert sie durch komplizierte Konstruktionen die Sachlage. Die entscheidende Klippe liegt jedoch beim Karma-Freiheitsproblem. Wenn die Seele wirklich frei und vom Karmagesetz nicht total determiniert ist, dann ist sie auch frei, sich einen Leib zu wählen oder nicht. Wenn sie aber frei ist, wieso sollte sie sich dann, vor allem, wenn sie sittlich verroht ist, einen »schlechten« Leib, etwa eine tierische Existenz bzw. eine schlechte Lebenslage wählen? Ist sie aber in dieser Hinsicht nicht frei und wird durch das Karmagesetz gezwungen, impliziert dies, wie gesehen, die unvermeidliche Annahme einer anfangslosen Kausal- bzw. Wiederverkörperungsreihe, die die Freiheit aufhebt. Damit wird nicht nur das Problem verschoben, sondern der ganze Ansatz gerät in eine metaphysische Unmöglichkeit, eben die Anfangslosigkeit einer sukzessiven Wechsel- und Kausalreihe. Darüber hinaus impliziert eine anfangslose, damit real unendliche Wiederverkörperungsreihe ein real unendliches Maß an Leiden, das wesenhaft nie aufgehoben und ausgeglichen werden kann. Damit führt sich das Karmagesetz selbst ad absurdum. Von den vielen Unausgeglichenheiten und Widersprüchen, in die sich die Reinkarnationslehre verstrickt, müssen wenigstens drei weitere genannt werden. Erstens: Wenn gemäß dem Karmagesetz gute Taten gute Lebensbedingungen nach sich ziehen, schlechte Taten dagegen schlechte, dann sollte man erwarten, dass die guten Lebensbedingungen auf längere Sicht eher wieder zu guten Taten führen, 281 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
schlechte Lebensbedingungen eher zu schlechten. Wäre dem nicht so, verlöre das Karmagesetz seinen Sinn. Wenn also jene Zuordnung zutrifft, dann entstünde im einen Fall zwangsläufig eine Aufwärts-, im anderen Fall zwangsläufig eine Abwärtsdynamik, und beide Prozesse liefen endlos auseinander, so dass (nach endloser Zeit) zwei Extreme dastünden: ganz gute und ganz schlechte Menschen. Da diese Verteilung in der Erfahrung nicht angetroffen wird, leistet das Karmagesetz nicht, was es verspricht, und muss in Zweifel gezogen werden. Das andere Problem stellt sich, wenn man das Bevölkerungswachstum der Menschheit in den Blick nimmt. Seit Beginn der industriellen Revolution steigt die Zahl der Menschen fast exponentiell an. Auf dem Hintergrund der Reinkarnationslehre fragt sich, woher alle diese Seelen kommen. Logischerweise kann ihre Herkunft nicht allein mit der Wiederverkörperung früherer Seelen erklärt werden. Also wurden sie entweder neu geschaffen oder »parkten« seit Urzeiten im Jenseits. Beides schwächt die Reinkarnationstheorie erheblich und setzt sie der Beliebigkeit aus. Auch fragt sich, wer oder was so viele neue Seelen in so kurzer Zeit erschafft? Das aber bedeutete, dass heute z. B. Menschen leben, die Wiederverkörperungen darstellen, und andere leben, die keine sind. Im ersten Fall würde das Karmagesetz gelten, im zweiten wirkte dagegen ein Schöpfer. Diese metaphysische Zweideutigkeit ist kaum akzeptabel. 98 Schließlich und endlich ist eine Frage aufzuwerfen, die gewissermaßen ins Herz des Karmagesetzes trifft. Wenn es stimmt, dass alles Übel im Letzten die »gerechte« und unumgängliche Folge von Fehlhandlungen ist, dann stünden auch die Schadenswirkungen aller Fehlhandlungen, also das Übel und Leid, das jemand durch das Fehlverhalten eines Anderen erleidet, unter dem Karmagesetz, was heißt, dass derjenige, der scheinbar ungerechterweise ein Übel erfährt, in Wahrheit dies Übel verdient, nämlich als Ausgleichswirkung früheren eigenen Vergehens. Daraus folgt, dass es erstens überhaupt kein ungerechtes und unverdientes Leid gibt – was schon für sich skandalös, aber logisch nicht selbstwidersprüchlich ist – und dass zweitens Auch der Versuch, dieses Quantitätsproblem durch den Rückgriff auf die Tiere zu lösen, also auf die Annahme, manche Menschenseelen seien in Tierkörpern gebunden, mutet nicht nur phantastisch an, sondern verschiebt das Problem auf ein anderes Feld. Im Übrigen lassen sich keine Grenzen angeben, wo Tieren Seelen zugesprochen werden, und entsprechend müssten die Einzeller und niederen Tiere Seelen haben, die dem Karmagesetz unterstehen. In welche Unstimmigkeiten das führt, muss nicht dargelegt werden.
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Die Reinkarnationstheorie als Pathodizeeversuch
überhaupt kein Leid als Ausgleich für irgendein Vergehen fungieren kann. Warum? Weil jedes, irgendein Unrecht ausgleichende Leid Zeichen und Folge eines bisher noch unbekannten Vergehens wäre. Was Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Sühnung sein soll, wäre im Gegenteil Aufforderung, nach neuen Vergehen zu fahnden, womit das Karmagesetz nicht zur Ruhe, zum Ende, zur wahren Gerechtigkeit gelangen kann, sondern Quelle endlosen Leidens wäre und die Situation einer metaphysischen Paranoia, eines unüberwindlichen Urmisstrauens erzeugte. Kurzum: Wenn Leid und Unglück laut Karmagesetz der Ausgleich für Unrecht und Vergehen ist, dann setzt jedes neue Ausgleichsleid logisch notwendig ein neues Vergehen voraus, womit dieses ins Unendliche geht, und ein echter Ausgleich unmöglich wird. Das aber bedeutet das intellektuelle Todesurteil für das Karmagesetz: Es sind die eigenen logischen Voraussetzungen des Karmagedankens, die ihn ad absurdum führen. Wie zu sehen, verstrickt sich die gesamte Reinkarnationslehre in zahllose Ungereimtheiten und Widersprüche, die mehr Unheil anrichten als aufklären und beheben helfen. Da sie mit Angst, Vergeltung, Rache, Aufrechnung, Ressentiment, Hass und Neid arbeitet, fördert sie eher die schlechten als die guten Kräfte im Menschen. Das ist kein Trost für all das ungerechte Leid in dieser Welt, im Gegenteil wird das Leid unnötigerweise vermehrt (ja sogar verunendlicht), und es wäre besser, von dieser Weltanschauung zu lassen und theorielos das Rätsel des Leides hinzunehmen. Dann gälte es, das Nichtwissen und die scheinbare Ungerechtigkeit der Welteinrichtung zu ertragen bzw., so gut es geht, praktisch zu korrigieren, statt sich einer illusionären Theorie zu verschreiben, die offensichtlich dazu da ist, die bohrenden Fragen, die das Weltübel aufdrängt, zum Schweigen zu bringen und die Angst vor Schuld und Strafe zu betäuben. Und trotzdem: Zwei Motive, von denen die Reinkarnations-Karma-Lehre getragen und bewegt wird, haben Bestand: Erstens die Erkenntnis, dass diese Welt so nicht in Ordnung ist und einer fundamentalen Revision, vor allem in sittlicher Hinsicht bedarf; und zweitens die Einsicht, dass eine schlechte Gesinnung bzw. ein schlechtes Verhalten »gerichtet« – das heißt: »berichtigt« – werden muss. Wie schon Sokrates, die Stoa, Augustinus, B. de Spinoza und viele andere, jedoch nicht I. Kant erkannten, richtet sich ein Vergehen durch sich selbst als wertwidrig, seinsmangelhaft, »unwahr« und »hässlich« und bedarf im Kern keiner äußeren Bestrafung. Und weiter gilt, dass jedes Vergehen bzw. überhaupt jedes Verhalten in seinen 283 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Folgen – wenn auch nicht notwendig – auf sich zurückwirkt, etwa dadurch, dass ein z. B. missmutig-böswilliger Mensch von seinen Mitmenschen gemieden wird. Im Letzten steht hinter der Karmalehre die brennende Sehnsucht, dass die Welt im Ganzen gut sei bzw. gut werde, was aber nur durch eine entsprechende »letzte«, heißt »höchste«, also allmächtige, allgütige und allweise Instanz, die auch Macht über die Vergangenheit hat, in einer letztgültigen »Zurechtrückung« und Wieder-Gut-Machung – gemeinhin »Endgericht« genannt – geleistet werden kann. 99
3.12. Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste Die Leiblichkeit trägt ein Janusgesicht: Sie setzt die Menschen nicht nur direkt der Welt und ihren Wirkungen, ob angenehm oder unangenehm, förderlich oder schädlich, aus, sie ist auch an der Schaffung einer »inneren Tiefe«, eines »inneren Auslandes«, des so genannten Unbewussten beteiligt. Hierfür ist der Grund darin zu suchen, dass der Mensch nur das erleben und bewusst haben kann, was der Leib ermöglicht und mitträgt. Dies aber hat nicht nur Grenzen, sondern unterliegt erheblichen Schwankungen, man denke etwa an die Müdigkeit, die ein leibliches Phänomen ist (und letztlich auf einen physischen Energiemangel zurückgeht) und das Wahrnehmen, Denken, Wollen und Fühlen beeinflusst. Im Grenzfall erlischt das Bewusstsein wie etwa in Ohnmacht, Koma und Tod, wenn der Leib ein bestimmtes Erleben nicht mehr mittragen kann. Von großer praktischer Bedeutung ist die Erkenntnis, dass die »Initiative« eines solchen Grenzerlebens sowohl vom Leib als auch vom Erleben ausgehen kann. Das will besagen, dass die Grenzerfahrung eines seelisch-geistigen Nicht-Könnens primär leiblich oder primär seelisch bedingt sein kann. Wenn z. B. eine Gehirnentzündung vorliegt, die das Denken beeinträchtigt, dann wird hier die Grenze des Bewusstseinslebens primär leiblich gezogen; wenn sich ein Mensch dagegen geistig überanstrengt oder von einer psychischen An diesem Punkt versagen alle utopistischen Philosophien, z. B. die von K. Marx und E. Bloch, da sie das »Reich des ewigen Friedens« bestenfalls für die letzten Generationen erwarten können, während alle Menschen, die zuvor im Unrecht leben und sterben mussten, die Betrogenen bleiben. Sollte auch die letzte Generation sterben müssen, wäre auch für sie jene Utopie reine Illusion und mehr »Opium fürs Volk« als jede Religion.
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Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste
Störung an die Grenze des Erlebbaren getrieben wird wie im Falle einer Zwangserkrankung oder einer Angststörung, dann geht der primäre Impuls von der psychischen Sphäre des Subjekts aus und erzeugt eine Grenz-, Leid- und Notsituation. In diesem Fall will der Mensch etwas, was psychisch und leiblich nicht möglich ist. Kurzum: Der Leib ist ein vermittelndes Medium zwischen der sinnlich vermittelten, »hellen« Außenwelt und einer »dunklen«, unmittelbar nicht einsehbaren Innenwelt, ein Medium, das sowohl gegenüber der Vermittlung der Außenwelt als auch gegenüber der Vermittlung der psychischen Tiefenwelt seine Schranken hat, darum überfordert werden und versagen kann. Die Tatsache, dass der Leib ein inner-psychisches Geschehen nicht mittragen und damit erlebnismäßig verhindern kann, bedeutet aber keineswegs, dass es jenes innere Geschehen nicht gibt. Hier tut sich eines der größten seelischen Rätsel auf: das so genannte Unbewusste. Die alltägliche Erfahrung lehrt, dass vieles ins Bewusstsein eintritt, was nicht primär in diesem entstanden, sondern bloß in dieses »eingegeben« worden ist: Gedanken, Gefühle, ganze Sprach- und Bildsequenzen, Erinnerungsketten, Handlungsfolgen, ja ganze »Dramen«, Musikstücke, mathematische Formeln, kompliziert und sinnhaft gebaute Träume, unbewusst-intentionale Fehlleistungen, Gewohnheiten, schöpferische Einfälle und Intuitionen können »aus dem Unbewussten« spontan und ohne bewusstes Zutun aufsteigen und beweisen damit, dass dieses Unbewusste nicht leer, sondern belebt, nicht passiv, sondern aktiv, nicht nur rezeptiv, sondern kreativ, nicht nur chaotisch, sondern strukturiert, nicht nur blind, sondern – klassisch wie bei sinnvollen Fehlleistungen – intentional-sehend, nicht nur solipsistisch, sondern kommunikativ ist. 100 Des Weiteren verfügt das Unbewusste, wie etwa die Tableaubzw. Panoramaerlebnisse bezeugen, über ein anscheinend das gesamte bisherige Leben umfassendes »Lebensgedächtnis« und offenbart manchmal die Fähigkeit, zukünftige Entwicklungen, Chancen und
100 Während S. Freud (1970 a) das Wirken des Unbewussten »ungeistig« deutet, sehen andere Psychologen und Philosophen wie E. Fromm, C. G. Jung (1965), V. Frankl (1988) und B. v. Brandenstein (1975, 75 ff.) darin neben der biologischen Schicht geistige Aktivitäten am Werk. Vgl. meine Arbeit »Der Traum und sein Ursprung. Eine neue Anthropologie des Unbewussten« (2008), die die komplexe Verschränkung von biologischen, sozialen und geistig-personalen Faktoren im Unbewussten nachzuweisen versucht.
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Gefahren vorauszuahnen und zu antizipieren. 101 All dies zeigt, dass es ein echtes, selbständig-eigentätiges seelisch-geistiges Leben »unterhalb« der Schwelle des Normalbewusstseins gibt, und zeigt außerdem, dass das Unbewusste sinnhaft und intentional auf den Betroffenen, seine Lebensgeschichte und seine Umwelt bezogen, also keineswegs, wie S. Freud meint, blind, chaotisch und bloß triebhaft ist. Die oft anzutreffende innere Ordnung und lebensgeschichtliche Sinngerichtetheit etwa von Träumen (vgl. Wandruszka 2008), aber auch von psychopathologischen Phänomenen wie Fehlleistungen, unbewusstem Abwehrverhalten, Halluzinationen und Wahngebilden widerlegen die Chaos- und Triebtheorie des Unbewussten. Viel eher weisen sie darauf hin, dass das Unbewusste erstens in sich orientiert, zweitens intentional auf das Individuum, seine Lebensgeschichte und seine aktuelle Lebenssituation bezogen ist, drittens relativ autonom agiert, also nicht nur passiv etwas widerspiegelt, sondern aktiv gestaltet, und viertens eher von psychischen bzw. psychosozialen Motiven als von bloß leiblichen Reizen und Triebspannungen beeinflusst wird, also eher psychisch-personaler als körperlich-leiblicher Natur ist, obschon physiologisch-biologische Faktoren stets mitwirken und manchmal auch vorherrschen. Wenn dem so ist, dann heißt dies in der Konsequenz, dass es ein seelisches Leben gibt, mit dem das menschliche »Oberbewusstsein« zwar innigst verbunden ist, das aber sowohl das Normalbewusstsein als auch die Leibsphäre transzendiert und daher die Quelle von Irritationen und Verwerfungen ist, die sich letztlich als Störungen der Kohärenz der Erlebenseinheit und der Identität des Subjektes manifestieren. Die Einheit des Menschen als Subjektwesen muss daher wegen der ungeheuren Fülle an Eindrücken, Irritationen und Reizen ständig erneuert, vertieft, differenziert und erweitert werden, sie ist kein Selbstläufer und nichts Statisches. Da diese Einheit ständig »unter Beschuss steht«, und zwar sowohl von außen als auch von innen, ist der Mensch ein hochproblematisches, konfliktuöses, prekäres und labiles Wesen. Und so kann das »Unbewusste« als relativ autonome Wirkgröße sowohl Leiden erzeugen, indem es das Normalbewusstsein überflutet wie in Affektentgleisungen, Panikattacken, bei 101 Diese Panoramaerlebnisse treten meist in lebensgefährlichen Situationen auf und präsentieren dem Bewusstsein eines Menschen in Sekunden große Teile seines Lebens, weitgehend ohne sein Zutun. Ähnliches bestätigen die Ergebnisse tiefer Hypnose. Vgl. H. Driesch (1926, 158–197).
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Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste
Zwangsimpulsen, Halluzinationen und Wahnideen, als auch Leiden erzeugen, indem es sich entzieht und den Erlebensstrom unterbricht. Viele Künstler berichten von solchen schöpferischen Stillständen, die sehr quälend sein können, man denke an die Jahre R. M. Rilkes vor der Abfassung seiner Duineser Elegien, aber auch psychisch Kranke wie im Fall der Borderlinestörung oder der Depression beschreiben solche leidvollen Leere- und Lähmungszustände, wo das, was sonst selbstverständlich da ist und einfach »kommt«, nämlich die »Eigenströmung des psychischen Lebens«, erliegt. Das keineswegs krankhafte »Black-out-Phänomen« gehört ebenfalls hierher. All dies unterstreicht, dass der Mensch in seiner kleinen psychischen Welt vom ständigen Zustrom aus dem Unbewussten abhängt und darauf nur bedingten Einfluss hat. Schon die Tatsache, dass er morgens in sein Bewusstsein hinein erwacht, ist keine Leistung des Normalbewusstseins, das sich nicht selbst erzeugen kann, sondern eine Synthese des bewusstseinskonstitutiven »Unbewussten«, besser Tiefenbewusstseins. Das sollte hellhörig machen und die Frage aufwerfen, was »unbewusst« hier überhaupt meinen kann. Und da wird klar, dass dieses Unbewusste unmöglich in sich unbewusst ist – denn etwas radikal Bewusstloses kann nicht sinnhaft, kreativ und intentional wirken –, sondern dass es nur mir, meinem psychophysischen Normalbewusstsein unbewusst im Sinne von unbekannt und direkt nicht anschaulich ist. Das Unbewusste ist demnach ein Relationsbegriff, kein Substanzbegriff, als solcher wäre er direkt selbstwidersprüchlich. All dies zeigt weiter, dass das menschliche Bewusstsein »von Gnaden des Unbewussten« lebt, was in der Regel so reibungslos vonstattengeht, dass der Mensch es für selbstverständlich hält und nicht weiter reflektiert. Wie von selbst werden Normal- und Tiefenbewusstsein aktiv koordiniert und sinnhaft aufeinander bezogen. Unstrittig ist daran das phänomenale Bewusstsein beteiligt, etwa indem der Betreffende aus dem Strom der Bewusstseinsinhalte auswählt, manches unterdrückt, anderes herbeizieht, des Weiteren feinfühlig in sich hineinspürt und leiseste Botschaften aus dem Unbewussten wahrnimmt oder umgekehrt – wie in der Hypnose – Botschaften »hinabsendet« oder im Rahmen einer Tiefenentspannung eine imaginative Reise unternimmt und die »Antwort aus der Tiefe« abwartet. Indirekt kann man durchaus mit seinem Unbewussten kommunizieren, sogar bestimmte Träume anregen, um Hilfe bitten usw. 287 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Aus all dem und vielem anderem (vgl. B. Wandruszka 2008) erhellt, dass das Unbewusste – –
erstens eine dynamische, zweitens eine gedächtnisbildende, sinnhaft bezogene, z. T. sinnhaft, manchmal aber auch sinnverzerrend agierende und drittens eine schöpferische Potenz ist.
–
Diese Wirklichkeit ist jedoch nicht abstrakt-allgemeiner oder unpersonaler Art, sondern weist die Züge der Meinhaftigkeit, des jeweiligen Menschenich auf. Wohl gibt es im Unbewussten Strukturen und Prozesse, die allen Menschen gemein sind, worauf C. G. Jungs Archetypenlehre aufbaut, doch ist jedes Unbewusste einzigartig individuell bis in seine Pathologie hinein. Aus diesen und anderen Gründen kann daher B. v. Brandenstein 102 zeigen, dass dieses Unbewusste eine spezifisch menschliche Größe ist, die bei den Tieren nicht vorkommt und mit der Verleiblichung des Bewusstseins zu tun hat. Denn da das Bewusstsein eine wesenhaft pU-überendliche (weder E noch aU) Seinsgestalt ist, kann es sich mit seiner potentialunendlichen Unerschöpflichkeit im wesenhaft endlichen Leib nicht total, sondern nur partiell bzw. fragmentarisch manifestieren. Das wiederum impliziert notwendig, dass ein großer, genauer, der weitaus größere Teil des Bewusstseins nicht verleiblicht ist, sondern über den Leib hinausreicht, also eine metaphysische Region sui generis konstituiert: Hier deutet sich eine ontologische Selbstgeschiedenheit an, die unüberwindbar ist und die Menschen nicht zur vollen Selbsteinheit und Selbstfindung kommen lässt. B. v. Brandenstein spricht in seiner »Anthropologie« (1947, 389–413) daher von der »anthropologischen Ichspaltung«. Da jene Tiefenregion des Bewusstseins nicht an den Leib gebunden ist, muss sie dessen Grenzen, Schwankungen und Störungen nicht erleiden, im Gegenteil ist sie ganz bei sich selbst und ganz ihrer selbst habhaft, weshalb B. v. Brandenstein sie »Vollbewusstsein« nennt. 103 Zwar ist auch dieses zeitgebunden und entwickelt sich, aber es schläft nicht und geht sich nicht verloren. Außerdem kennt es keine Vergangenheit wie das psychophysische Menschenbewusstsein, sondern trägt alles jemals Erlebte in wachsender Gegenwart mit in seine Zukunft hinein. Es integriert seine Lebenszeit in einer ständigen Gegenwartssynthese, worauf die Tatsache hinweist, dass selbst 102 103
Vgl. B. v. Brandenstein (1966, G. Das Vollbewusstsein, 153–161). Siehe B. v. Brandenstein (1966, G., 153 ff.).
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Die Leiblichkeit als Quelle des Leidens: das Unbewusste
die frühesten Kindheitserfahrungen in der Psyche bewahrt werden und lebendig am Selbst mitwirken, also nicht vergehen. 104 Der Mensch bleibt immer jung; das »göttliche Kind« – seine ursprünglichste seelische Schicht – geht nicht verloren und kann immer wieder eine Quelle tiefster Seinsfühlung werden. Damit erhellt, dass der Mensch in seinem Erdenleben sich selbst wesenhaft Aufgabe ist, zu Leistendes, nie fertig. Die anthropologische Ich-Spaltung zwingt ihn zur fortgesetzten Selbstsuche, Selbstauseinandersetzung und Selbstgestaltung und treibt ihn an, das ganze Selbst, ohne ein endgültiges Ziel erreichen zu können, in die Welt zu bringen. So »soll« und will der Mensch, soweit dies geht, ganz im Leib erwachen und dadurch den Leib vergeistigen, beseelen und personalisieren. 105 Metaphysisch gesprochen, heißt dies, den zweiten Seinsrang in den dritten Seinsrang einführen, diesen, der wesentlich extensiv, äußerlich, disparat ist, durch jenen verinnerlichen, bündeln und gleichsam »verdichten«, also auch im Leib einen seiner selbst bewussten Ichkern ausbilden. 106 Bis zum Tode bleibt diese Aufgabe bestehen, und in dieser Zeit ist sie nicht zu vollenden, da der persönliche Geist überendlich-pU ist und nicht ganz im Leib aufgehen kann, zumal der Leib mit dem Altern immer ungeeigneter für diese Aufgabe wird und schließlich zerfällt. Wirklich erwachen tun die Menschen erst mit dem Tode, denn dann erwachen sie in ihren pU-Seinskern, in ihr Vollbewusstsein hinein, wo sie ihres gesamten Lebens in einer intuitiven Überschau angesichtig werden und vor das erste »Gericht«, das Selbstgericht, zu stehen kommen. Das Leiden erhält in diesem Gefüge seinen genauen Platz. Als pU-Wesen ist der Mensch in seinem innersten Seinsbestand unfertig und kann nicht zuende kommen. Da alles Potentialunendliche wesenhaft auf das Aktualunendliche hingeordnet ist, kann der Mensch seine Vollendung aus eigener Kraft nicht erreichen. Das macht das Urleid, aber auch die Urhoffnung des Menschen (und überhaupt aller Geistgeschöpfe) aus, und darin liegt die Quelle seiner »natürlichen Religiosität«. Darüber hinaus stellt der Mensch die einzigartige Synthese eines extensiven Gebilde, des Leibes, mit einem intensiven DynamisDas sieht auch E. Rothacker (1969) gut. »Soll« im Sinne des »Eigenanrufs«, wie ihn M. Heidegger (1927, § 56) für das »Gewissen« konzipiert. 106 Diesen Prozess nennt B. v. Brandenstein (1954, 102–120) »Kernigung«. 104 105
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
mus, der »Seele«, des persönlichen Geistes dar, eine Synthese, der fast der Charakter des »Unmöglichen«, des »Wundersamen«, des »Unvordenklichen« eignet und die den zutiefst polar-gespannten, prekären und labilen Seinsstand des Menschen bedingt. Der Mensch ist zum Leiden, mehr noch zum Scheitern geboren und in gewissem Sinne sogar berufen. Leiden meint hier allerdings immer auch: Ringen, nicht-Aufgeben, Sichaufraffen, neuen Anlauf wagen und so beweisen, dass es etwas »Unzerstörbares« im Menschen gibt, etwas, das gegen die totale Nichtigung aufbegehrt und für eine »andere Dimension des Seins« Zeugnis ablegt. 107 Konkreter fordert die anthropologische Ich-Spaltung zur ständigen Neubesinnung und Neuintegration auf: Wo Es war, soll Ich werden, sagt S. Freud, 108 und das heißt, dass der Mensch sein Bewusstsein vertiefen und erweitern soll, also alles, was im Unbewussten schlummert, nur potential-unentfaltet da oder, wenn aktualisiert, verdrängt ist, ins Bewusstsein zu heben und persönlich anzueignen aufgerufen ist. Alles Ungelebte, Unfertige, Ungelöste, Konfliktuöse, Unversöhnte, Abgespaltene und Ängstlich-Verdrängte strebt zur Annahme, Bearbeitung, Lösung und Integration und lässt daher den Menschen nicht in Ruhe. Solange dies nicht gelungen ist, bleiben Symptome, Zeichen des Unerlösten und ungelebten Lebens, das leben will. Psychotherapie baut auf diesem Urgegensatz zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, das ein »Vollbewusstsein« ist, auf und sucht die Vermittlung, Verbindung und Versöhnung zwischen beiden. Wohl wäre eine Welt ohne ein solches E-pU Zwischenwesen leidfreier und im Grunde völlig leidfrei, da reine E-Wesen nicht leiden können, aber auch weniger lebendig, nicht innig, geistig, kreativ, nicht suchend, kämpfend, schaffend, Lösungen findend, und vor allem wäre sie ohne Zug zum Unendlichen. Nur ein pU-Wesen kann Sinn und Gott suchen. Das Leiden ist hier der Preis des höheren und höchsten Lebens. Wie die Not, so macht auch das Leiden nicht nur erfinderisch, sondern vor allem »finderisch«.
107 Siehe F. Kafka bei K. Dietzfelbinger (1987, 132): »Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott.« 108 Vgl. S. Freud (1933 a, »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, GW 15, 86).
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Das Weltwechselwirken und das Leiden
Ohne den Leib gäbe es also das »Unbewusste« nicht, darum ist er die Scheide- und Verbindungswand sowohl zur Außenwelt als auch zur inneren Tiefenwelt. Da er die Reize von außen wie von innen nur selektiv durchlässt, stellt er einen physiologisch durchaus nachweisbaren Filter dar, der schützt und dessen Beschädigung – wie beim ADHS oder bei der Schizophrenie, aber auch bei der posttraumatischen Belastungsstörung und der schweren Schlafstörung – Leiden nach sich zieht, die mit dem Leben oft kaum vereinbar sind und der therapeutischen Hilfe bedürfen. Der Mensch lebt mit seinem Bewusstsein auf schmalem Grat (wie auf einer »Rasierklinge«), und jederzeit kann er nach der einen oder anderen Seite abrutschen und sich sowohl im Außen als auch im Innen verlieren. Der Leib muss viel ertragen, von außen wie von innen her, und letztlich wird er von der Härte des Lebens zerrieben. In der begrenzten Zeit, in der er das persönlich-geistige Leben des Menschen trägt, ermöglicht er es dem Menschen, sein Eigensein in die Welt zu gebären. Wo dies misslingt, erleidet der Mensch einen Selbstverlust, der zu den schwersten Leiden gehört, die bekannt sind. Erst der »Glanz dieser Perle«, die gleichsam der innere Genius des Menschen ist, gibt dem Leben seinen Sinn, seine Schönheit und seine Würde, die auch die Nacht des Todes überstrahlt. 109
3.13. Das Weltwechselwirken und das Leiden: Pluralität, Antagonismus und Dissonanz der metaphysischen Grundkräfte des Kosmos und die »Kraftspezialisierungstheorie« 110 Die Welt bietet sich gemäß dem heute gültigen physikalischen Weltbild als ein Ganzes dar, in dem alles mit allem zusammenhängt und zeitlich gemeinsam voranschreitet. Aber ihre Einheit ist nur eine Verbundeinheit, keine innere bzw. einsinnig-monistische Einheit. Die Behauptung, die Welt bestehe im Letzten nur aus Stoff oder aus Geist oder werde nur von einem Gesetz regiert, widerspricht der Empirie und ist eine Wunschprojektion des Menschen, der es nur schwer er109 Vgl. das »Perlenlied« im Thomas-Evangelium, das ich in ein Drama umgesetzt habe. 110 Vgl. zur Kraftspezialisierungstheorie im Folgenden und bei B. v. Brandenstein (1966, 288–377).
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
trägt, dass sich ihm das Ganze entzieht. Sowohl räumlich und zeitlich als auch strukturell zeigt die Welt extensiven und pluralen Charakter, und rein physikalisch strebt sie im Rahmen des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes, der die universelle Entropiezunahme besagt, die totale Expansion bzw. Zerstreuung und damit den Abbau aller höheren Ordnungsstrukturen an. Eine Weltgeist- oder Gaiatheorie scheitert an diesen Tatsachen. Zumindest was die Lebewesenwelt betrifft, und da im Besonderen die Menschen, ist die Pluralität von eigenständig wirkfähigen Subjekten sinnvoll nicht abstreitbar, doch genau betrachtet, reicht das Agonale und Polare bis zu den einfachsten physikalischen Phänomenen hinab. 111 So ist der Kosmos in seiner physikalischen Totalität das Ergebnis des Urgegensatzes von zentripetaler Gravitation und zentrifugaler Wärmekraft. 112 Daher war der Versuch A. Einsteins, alle physikalischen Erscheinungen, so auch die »dunkle Energie«, auf die Gravitation zurückzuführen, von vorneherein fragwürdig und lässt sich sachlich nicht halten. Polare Gegensatzpaare finden sich auf allen Ebenen des Kosmos bis hinauf zum Menschen mit den Gegensätzen Mensch-Tier, Individuum-Gemeinschaft, Mann-Frau, Person-Ding, Geschöpf-Schöpfer. Es scheint, dass der Polarität im Sinne des positiven Gegensatzes eine entscheidende Rolle im Weltgeschehen zukommt. Denn alle Polarität bedeutet, wie auch F. Brentano hervorhebt, Spannung, Konkurrenz, Rivalität, aber auch Ergänzung und stellt einen fundamentalen Bewegungs- und Entwicklungsanreiz dar. 113 Gäbe es keine Polarität, gäbe es z. B. nur die Gravitation oder nur die Fugitation, hätten sich keine
111 Was manche Autoren dazu bewegt, das antinomische bzw. tragisch selbstzerstörerische Moment im gesamten Weltlauf zu verorten, so z. B. J. Bernhart (1917) in seinem tiefsinnigen Buch »Die Tragik des Weltlaufs«. 112 Ich werde diese teilchenfreie physikalische Kraft, die innerhalb der modernen Physik – von wenigen Ausnahmen abgesehen wie I. Prigogine (1990, 111) – nicht als Grundkraft gesehen wird, »Fugitation« nennen. Sie ist mit der Wärme-, Energie- und Expansionskraft identisch und sorgt für die permanente und wohl auch rotierende Ausweitung des Weltalls. Vieles spricht dafür, dass sie der »dunklen Energie« zugrunde liegt. 113 Siehe F. Brentano (1929, 246) in seinem Buch »Vom Dasein Gottes«: »Und der Prozess des Kampfes selbst […] ist eine der vornehmsten Vollkommenheiten des Ganzen. Das gegenseitige Wirken und Leiden aller Dinge macht ja erst die Welt zur Welt und gibt ihr wie Einheit, so Entwicklung. Und diese wird umso grossartiger, je tiefer die umwandelnde Kraft bis in das innerste Wesen der Dinge greift.«
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komplexeren Systeme wie Galaxien, Sonnensysteme, Planeten, Ökosysteme und Lebewesen entwickeln können. Zum kontinuierlichen Aufbau von Strukturen, wie sie die biologische Evolution am eindrücklichsten aufweist, bedarf es der Moderierung, z. B. in Form der Abkühlung heißer Stoffe, der Hemmung und Begrenzung der physikalisch-chemischen Kräfte und der Lenkung ihrer Energien. In der Photosynthese der Pflanzen etwa gelingt es einem Lebewesen, atomare – hier sogar elektronische – Energien in kleinsten Portionen zu dirigieren und für die Stoffwechselabläufe zu nutzen; 114 eine höhere Seinsstufe greift hier steuernd und gestaltend in eine niedrigere ein. 115 Gleichzeitig sind alle kosmischen Prozesse äußeren Störeinflüssen ausgesetzt. Da alle, auch die vorbiologischen Gebilde, zur Expansion, zur möglichst großen Raumgewinnung neigen, muss es zwangsläufig zu Kollisionen kommen, so schon zwischen Galaxien, Sternen und Planeten, erst recht auf so engem Raum wie der Erde, wo Milliarden von Lebewesen ihr Lebensrecht durchzusetzen versuchen. Hier kommt es zu regelrechten Verdrängungs- und Vernichtungskämpfen. Dies zeitigt auf der Erde nicht nur polare Gegensätzlichkeit, sondern Antagonismen, die sich bedrängen, stören und zerstören, die um die Ressourcen der Welt, Raum und Zeit eingeschlossen, konkurrieren und rivalisieren. 116 Wenn dem so ist, fragt sich, welches die dynamischen Quellen, die realen und real-wirksamen Ermöglichungsgründe dieser Antagonismen sind? Die philosophische Tradition neigt bis ins 20ste Jahrhundert dazu, aus der unleugbaren Vielfalt der Welt und ihrer ebenso wenig leugbaren immanenten logischen und mathematischen Ordnung, also ihrer »immanenten Vernunft« direkt auf nur einen Weltgrund zu schließen, der sowohl die Einheit des Ganzen als auch seine
Man spricht von Elektronentransport, vgl. H. W. Heldt/B. Piechulla (2008). Eine Tatsache, die die Schichtenlehre N. Hartmanns (1964), die den »Eingriff« einer höheren Schicht in eine tiefere nicht, sondern nur den Aufbau auf der tieferen zulässt, fragwürdig macht. 116 Je weiter die Evolution fortschreitet und je komplexere Gebilde sie zeitigt, desto größer wird das Problem des zunehmenden Ressourcenverbrauches und damit die Notwendigkeit, Ressourcen zu schonen und zu recyclen. Schon die niedersten Lebewesen (Bakterien) bemühen sich um die Beseitigung von »Abfall« und zersetzen organisches Material in anorganische Stoffe, um den Neuaufbau von Organismen zu ermöglichen. Man kann von einer Tendenz in der Welt der Lebewesen sprechen, die Natur von Fäulnisstoffen zu reinigen. 114 115
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Geordnetheit fundiert, also selbst Vernunft, letzlich absolute Vernunft ist. 117 Dieser Schluss ist, auch wenn er im Letzten, wie gesehen, richtig ist, voreilig, übergeht er doch wesentliche Weltphänomene und führt in Inkonsistenzen hinein. Das bisherige Scheitern der Lösungsversuche für das Theodizeeproblem wurzelt in der selten hinterfragten Annahme, der absolute Weltgrund bewirke und gestalte den gegebenen Kosmos unmittelbar an jedem Punkt und sei daher, was dann richtig wäre, für alle Unzulänglichkeiten, Fehler, Missbildungen, Sackgassen, für Schmerz, Leid, Kampf, Versuch und Irrtum, Scheitern, Not, Grausamkeit, Missverständnis, Gemeinheit, Hass und Unsinn in der Welt verantwortlich. 118 Da dies mit dem Wesen Gottes unvereinbar ist, muss dieser Schluss als voreilig zurückgewiesen werden. Hat man dagegen die drei Seinsränge im Blick, wird die Fragwürdigkeit des direkten Überganges vom ersten zum dritten Seinsrang und damit das Überspringen des zweiten Seinsranges der Zweitursachen deutlich. 119 Da Gott für seine Selbstkonstitution nichts Zeitliches benötigt, ist er in seiner ewigen Dauer wesenhaft vollendet, und entsprechend stellte ein bloß dinglich-passiver Kosmos, frei von Geistwesen, eine überflüssige Spielerei dar, die Gott nicht braucht. 120 117 Vgl. zum direkten Schluss von der Welt auf eine absolute Vernunft H. Lotze (1923, 32); ähnlich J. Hessen (1962, 259 ff.). Andere Denker wie Jesaja (»Heerscharen«, Himmel im Plural), Platon, Aristoteles, Philon, Paulus, Plotin, G. W. Leibniz, I. Kant, W. James, B. v. Brandenstein und A. Platinga folgen diesem Weg nicht und setzen zwischen das Ursein Gottes und den dritten Rang der Weltdinge noch eine geistig-intelligible Zwischenschicht, deren Natur allerdings oft dunkel bleibt. Was W. James (1914) betrifft, sieht er klar die Pluralität aktiver Prinzipien im Kosmos, schließt aber seltsamerweise von ihr auf eine Gottheit, die endlich und begrenzt ist. 118 Auch in manchen theologischen Versuchen, das Theodizeeproblem zu meistern, z. B. bei W. Thiede (2007), begegnet man diesem Dilemma. Mit Konstruktionen wie der »Selbstbeschränkung Gottes«, der »Zeitlichkeit Gottes«, dem »leidenden Gott«, dem »ohnmächtigen Gott«, »dem werdenden Gott«, dem sich als Anderes, etwa als Natur entgegensetzenden Gott (Hegel) usw. soll dann gelöst werden, was so nicht lösbar ist. Dagegen zeigen diese Versuche der »Verendlichung Gottes«, wo die Lösung liegt: bei der Einführung nichtmenschlicher, endlicher Subjekte ins Naturgeschehen. 119 Vgl. die »Kraftspezialisierungstheorie« von B. v. Brandenstein (1966, 288–377) in seinem 3. Band der »Grundlegung der Philosophie«, die ich weiter unten konkret ausführen werde. 120 Andeutungen von schöpferischen Zweitursachen, die zwischen Gottheit und Welt stehen, gibt es bei Jesaja (»Heerscharen«), Platon, Aristoteles, Philon, Paulus, dann im Rahmen der problematischen Emanationslehre bei Plotin, Proklos, vor allem aber bei Avicenna, später auch bei I. Kant, E. Becher u. a. Vgl. etwa Avicenna (1977/1980, IX 2, 49–87).
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Erkennt man dagegen, dass Gott in der Lage ist, Geistgeschöpfe zu erschaffen, die wesenhaft in der Zeist stehen, also veränderliche, trotzdem endlos entfaltbare, demnach unvergängliche »Substanzen« sind und den vormenschlichen Naturaufbau in einem Zeithorizont bewirken, wird die Zeit zu einer wesentlichen Komponente des Weltgeschehens, da nur in einem solchen »Werderaum« zeitliche Wesen zu sich selbst finden, sich sukzessiv entfalten und miteinander mit ihren Werk- bzw. Naturbildungen um ihre Verwirklichung ringen können. 121 Im Menschen erscheint schließlich ein Vertreter dieses zweiten Seinsranges selbst auf dem empirischen Plan und wird seiner leibhaften Geschöpflichkeit in der Selbstreflexion unmittelbar bewusst. Allerdings wäre es höchst seltsam, wenn die Menschen die einzigen Exemplare von Zweitursachen im Kosmos wären. Wäre dem so, hätte Gott über Jahrmilliarden einen geistlosen Kosmos bewirkt, um dann sehr spät den Menschen zu erschaffen und als Mitspieler mitten hinein in den an sich blind-passiven Kosmos zu setzen. Viel natürlicher ist entsprechend dem oben dargelegten Kausalprinzip die Annahme, dass der Mensch, wie das von naturnahen und polytheistischen Kulturen immer geahnt wurde, zu einer »geistigen Familie« gehört und, in den Worten I. Kants, ein Bürger zweier Welten ist. Das aber bedeutet, dass der phänomenale Kosmos das Werk vieler, aufeinander aufbauender und miteinander interagierender Schöpferkräfte darstellt. 122 Im Unterschied zum Menschen bleiben diese aber in ihrem zweiten Seinsrang und erscheinen nicht im materiell-physischen Sein, sind also nicht verleiblicht, sondern stehen ontologisch »über« ihren Wirkungen und Werken und drücken sich darin sinnträchtig, leben-
121 Unter »Substanz« wird hier nicht wie in der Tradition von Aristoteles, B. de Spinoza bis I. Kant eine unveränderliche Substanz verstanden, die es nur einmal als das Absolute, als Gott geben kann, sondern solche Wesen, die aus sich selbst, also selbständig wirken können, aber nicht unbedingt ewig-unveränderlich, sondern zeitlichzeitbildend-zeitsammelnd konstituiert sind. Diese Selbständigkeit ist insofern relativ, als sie Abhängigkeit von der absoluten Substanz impliziert. Abhängigkeit und (relative) Selbständigkeit schließen sich demnach keineswegs absolut aus (vgl. G. W. Leibniz, N. Hartmann, B. v. Brandenstein). 122 Auch hochdifferenzierte Philosophien und Religionen wissen, wenn auch meist noch nicht genügend geklärt, um solche »Naturgeistkräfte«, z. B. Jesaja, Platon, Aristoteles, Philon, aber auch I. Kant und das Christentum (Paulus), C. F. v. Weizsäcker und A. Platinga.
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dig und konstant aus, was zur Täuschung einer »immanenten Kausalität« verführt. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Betrachtung der Kosmos ein ganz anderes Gesicht erhält, und die Leid- bzw. Theodizeefrage von vielen metaphysischen Widersprüchen befreit wird. Auch die »schöpferische Ökologie« erhält erst in diesem Rahmen eine trägfähige ontologische Grundlage und könnte die Menschen auf ein neues kosmisches Bewusstsein heben. Schließlich und endlich erlaubt die Metaphysik der Zweitursachen die Reformulierung des Problems der »Konstanz der Arten«: Nicht die empirischen Naturbildungen, zumal die Lebewesen, sind, wie die moderne Biologie zu Recht betont, konstant, sondern diejenigen Wirkursachen, durch die sie geschaffen und ineinander umgebildet werden. Zu all dem passt die Tatsache, dass im Kosmos Bewegung und Konfrontation, Konkurrenz und Verdrängung, Kampf und Zerstörung, Ressourcenerschöpfung und Platzmangel herrschen. Vor uns ersteht das Bild eines dramatischen, den ganzen Kosmos durchwaltenden Lebenskampfes, in dem es primär nicht um Ausgleich und Frieden, sondern um Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung geht. Wo aber viele sind, und vor allem viele verschiedene Potenzen aufeinandertreffen, da können Konflikte nicht ausbleiben. Positiv gewendet, sind es gerade Konflikte, Grenzerfahrungen, Leid und Not, die die Rekrutierung ungehobener und unentfalteter Ressourcen und Fähigkeiten provozieren, so dass der Grundsatz aufgestellt werden kann, dass in einer leidfreien Welt ein geringer, in einer leidfähigen Welt dagegen ein großer Anreiz und Antrieb zum Lernen besteht. 123 Aufgabe, Ungenügen, Kampf, Leid, Unglück und Not drängen alle Geistkräfte, zumal den Menschen, das Beste aus sich herauszuholen, gemäß der Sentenz von Meister Eckhart: »Das schnellste Tier, das euch zur Vollkommenheit trägt, ist das Leiden.« 124
123 Vgl. Aischylos im Drama »Agamemnon«, Vers 177: »Durch Leiden lernen«; »Denn zur Weisheit leitet uns Zeus und heiligt als Gesetz, dass in Leiden Lehre wohne.« 124 Siehe Meister Eckhart (1996, 27).
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3.14. Leiden als unvermeidbare Folge der Unfertigkeit, Unreife, Prozessualität, Pluralität und Agonalität der Wirklichkeit; die Widerlegung der stoischen Theodizee So sei an dieser Stelle zusammengefasst, was sich von der Welt und ihrem Aufbau bisher erschließen ließ: Da sie im Werden begriffen ist, muss sie einen ersten Anfang haben. Weder besteht die Zeit – wie I. Kant meint, als leere – vor dem entstehend-werdenden Sein noch besteht sie daneben, und also darf sie nicht substantialisiert werden. Vielmehr bezeichnet sie den gestaltlichen Sukzessions- und Daueraspekt alles wandelbar-veränderlichen Seins. Analog gibt es keine räumliche Ausdehnung ohne ein Seiendes, das ausgedehnt ist. Während der Raum jedoch die simultane Extension anzeigt, spiegelt die Zeit die sukzessive Extension wider. Beides sind spezifische Quantitätsaspekte des veränderlichen Seins, daher lassen sie sich auch messen und berechnen, weiter abstrahieren und für sich – unabhängig von der Empirie nach inneren, apriorisch-geometrischen Gesetzmäßigkeiten – weiterbehandeln und -entwickeln. Die Anfänglichkeit der Welt setzt, wie streng logisch ermittelt werden konnte, notwendig einen Seinsgrund voraus, der selbst nicht wandelbar ist. Dieser muss, da die Welt dynamisch ist, selbst aktiv, dynamisch und tätig sein, was bedeutet, dass er fähig ist, Anderes zu setzen. Insofern er anfangslos und tätig ist, kann er nur sich selbst bestimmen und durch Anderes nicht (direkt) bestimmt werden. 125 Das wiederum impliziert ein aktiv-selbstbezügliches und damit bewusstes Verhältnis, also Selbstbewusstsein. Das Ursein ist nur als Geist, als Person denkbar, und als solches will es die Welt, denkt sie, hält sie und belebt sie, vor allem dadurch, dass sie aus ihrer Ewigkeit und unendlichen Seinsfülle heraus die Zukunft mit ihren Aspekten der Offenheit, Ungewissheit und Unsicherheit ermöglicht. Für das hier in Betracht kommende Anliegen ist die Erkenntnis entscheidend, dass zwischen dem ersten Seinsrang des Urseins und dem dritten Seinsrang der bloßen Dinge in der raumzeitlichen Welt ein zweiter Seinsrang möglich ist, der nämlich von Objekt-Subjekten, von Zweitursachen, also von Geschöpfen, die zwar erschaffen wurden, aber selbst agieren können. Sie sind ihrer Seinsfülle und Seins125 Unmittelbar oder direkt kann kein endliches Seiendes das Sein der Gottheit bestimmen, aber mittelbar durchaus, zumal sie die »Anfrage« (z. B. in Form einer Bitte) voraussieht.
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dauer nach weder aU noch E, sondern pU, potentialunendlich, also unerschöpflich und unvergänglich, dennoch in ihrer Selbstrealisation an die Zeit gebunden. Ohne diese ontologische Zwischenschicht bliebe das gesamte Universum rätselhaft, absurd und bloß ein sinnloses Spielzeug Gottes; und ohne diese Zwischenschicht lässt sich weder die Leid- noch die Theodizeefrage lösen. 126 Zumindest im Menschen erfährt sich das Ich als ein solches Objekt-Subjekt, und entsprechend ist es nicht nur möglich, sondern auch wirklich. Wenn man zudem erkennt, dass die empirische Wirklichkeit nicht nur zeitlich und prozessual verfasst ist, sondern alle Anzeichen von Auf-, Um- und Abbau, von einer Schichtenstruktur, von Polaritäten, von pluralen Sinn- und Wirkquellen, von Unreife, Konkurrenz, Rivalität, Kampf, Abgrenzung, Durchsetzung, Konflikt, Selbstbehauptung, Verdrängung, Ressourcenverbrauch, Zerstörung und Recycling bietet (wenigstens in der Lebewesenwelt), dann lässt sich ernstlich kein metaphysischer Monismus vertreten, wie man ihn etwa bei B. de Spinoza vorfindet, jedoch auch kein Dualismus, etwa zwischen nur guten und nur bösen Mächten, sondern vielmehr ist ein metaphysischer Pluralismus von Wirkkräften gefordert, die diesen Kosmos hervorbringen und in komplexer Weise aufbauen. Da sich zeigte, dass die neuzeitliche Kausalvorstellung nur eine Bedingungs- und Gesetzeskausalität (causa conditionalis et regularis) darstellt, die zwar das Wie und das Worin eines Geschehens beschreibt, aber nicht das Dass und Wodurch, und da weiter erkannt wurde, dass alle echte Wirk- und Hervorbringungskausalität (causa effizienz) nur von der Art sein kann, dass die Ursache nicht in ihre Wirkung übergeht, weil sonst die als unmöglich erkannte anfangslose Wechselreihe bestehen können müsste, sondern sich aus bewusster Kraftfülle rangtiefer ein echt Anderes als ihr geistig gestaltetes, seelisch ausdrucksvolles Werk gegenübersetzt, ist gesichert, dass der Kosmos nicht das sinnlose Gebilde blinder mechanischer oder sonstiger physikalischer, aber auch nicht halbpsychoider, zwitterhaft-vitalistischer »Kräfte« ist, sondern von materiell wirkfähigen geistigen Potenzen bewirkt wird. 127 Diese Potenzen können, obschon sie un126 Bei vielen »Theodizeeautoren« wird sie nicht einmal erwogen, so bei G. Streminger, A. Kreiner, O. Marquard, R. Swinburne u. a. 127 Jede Wirkkausalität muss, um zu wirken, etwas hervorbringen können. Eine unkreative Wirkursächlichkeit ist ein »hölzernes Eisen«. Wenn Aristoteles die Effizienzkausalität nur als äußerliche Anstoß- bzw. Bewegungskausalität fasst, dann verfehlt er ihr Wesen und verbleibt in rein empiristischer Deutung. Dagegen gilt: Wer oder
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geheuer mächtige Wesen sind, ihr Wirk- und Gestaltungspotential nur in der Zeit realisieren und tun dies auch in einem äonenlangen Weltprozess. Nicht Gott wirkt unmittelbar die Welt, sondern er ermächtigt schöpferische Wesen zum Bau des Kosmos. Das übersteigt zwar bei weitem das menschliche Vorstellungsvermögen, ist aber das einzig akzeptable Denkergebnis im recht gefassten Kausalbegriff. Gott ist also allmächtig, aber nicht allwirksam, weil er Macht delegiert. Und die über der Natur stehenden Geistwesen, einschließlich des in die Natur eingesenkten Menschengeistes, sind zeitlich beginnende Schöpferkräfte, die in Potentialität und Unreife beginnen, um aus diesem »Rohzustand« heraus in einem zumeist mühsamen, konfliktreichen und leidvollen, aber auch spielerischen, souveränen und genussvollen Prozess zur Reife zu gelangen. 128 Wie später noch differenzierter dargelegt wird, treten diese »Naturgeistkräfte« in einer bestimmten Ordnung im Weltverlauf auf, keineswegs ist ihr Wirken beliebig, launisch und chaotisch, wie dies von esoterischen Weltanschauungen, so etwa von der Anthroposophie, imaginiert wird. 129 Der wichtigste Befund besteht in der Einsicht, dass diese Objekt-Subjekte bzw. geistigen Geschöpfe wesenhaft unfertig sind und mit ihrer Schöpfertätigkeit allein aus sich heraus nicht zum Ende kommen – sie sind wesentlich unerschöpflich. Das bedeutet, dass ihnen das endlose »Gebären ihrer selbst« auferlegt ist. Immer ist da ein unausschöpfliches Dunkel, ein Noch-Nicht, ein einwas wirkt, bringt hervor. Im Übrigen muss auch ein Bewegungsanstoß einen Impuls hervorbringen oder wenigstens übertragen, was ohne Schaffenskraft nicht denkbar ist. 128 Es ist auffällig und bezeichnend, dass viele Theodizeekritiker wie P. Bayle, D. Hume und G. Streminger den so fundamental wichtigen Aspekt des Reifungscharakters von Welt, Geist und Freiheit unterschlagen und dann Gott vorhalten, dass er nicht sogleich rein gute und doch freie Geschöpfe geschaffen habe. Gewiss hätte er das tun können, aber der Übergang von der Unreife zur Reife, zumal in die Hände der Betroffenen selbst gelegt, scheint einem eigenständigen und seinen Fortschritt integrierenden Weltprozess angemessener zu sein als einer Welt, die der Entwicklung nicht bedarf. In jedem Falle bildet sich darin eine größere Weltfülle ab. Zeit wird so zu einem Medium subjektiver Reifung und Selbstzerstörung. 129 Der Kraftbegriff in der Physik erweist sich als uneigentlicher, da die Physik kein echtes Kraftwirken feststellen kann, sondern nur Bedingungs- und Gestaltungszusammenhänge, Randbedingungen und Gesetzmäßigkeiten in einem dynamischen, das heißt bewegten, Geschehen beschreibt. Echte Kräfte sind wegen ihres Kraft- und Wirkwesens empirisch nicht direkt zugänglich, wiewohl sie sich empirisch ausdrücken, sondern können nur indirekt über die regressive Analyse erschlossen werden.
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gehüllter Seinsabgrund, der nur durch entschiedene und unaufhörliche Selbstverwirklichung erhellt werden kann. Was in diesem inneren Abgrund alles verborgen ist, an Gutem wie Fragwürdigem, ist apriori nicht auszumachen und stellt eine unaufhebbare Quelle von Unwissenheit, Unsicherheit, Angst, Fragen, Zweifel, Suchen, aber auch Überraschung, Staunen, Experiment und Selbsterziehung dar. 130 Daraus erhellt, dass die unmittelbar empirisch nicht zugänglichen schöpferischen Quellen des kosmischen Seins, zu denen auch der menschliche Geist zählt, selbst die tiefsten Leidensquellen sind. Das ist das Erste. Zum Zweiten können sich diese Potenzen nur im Weltwechselwirken entfalten, ihr Potential und ihre spezifische Begabung in echter Interaktion realisieren und so ihre einmaligen Wirkgebilde wie Felder, Atome, Moleküle, Organismen und Kulturwerke schaffen. Dieses Wechselwirken ist ohne ein Aufeinanderwirken, ohne Konfrontation, wohl auch ohne Konkurrenz, Rivalität, Verdrängung, Störung, Hemmung und Verwirrung nicht möglich. So sehr die kosmischen Prozesse aufeinander abgestimmt sind, und das haben nicht von ungefähr viele großen Geister in der Menschheitsgeschichte und heute die moderne Physik mit ihrem »Feinabstimmungstheorem« festgestellt, so zeigt das Weltall doch auch Unvollkommenheiten, Verwerfungen, Inkompatibilitäten, Zweckwidrigkeiten und Verirrungen. Den größten Bruch stellt der Mensch zwischen der vormenschlichen und der menschlichen Welt fest: Wenn B. Pascal und A. Camus vom Schweigen des Weltalls sprechen, von seiner kalten absurden Gleichgültigkeit gegenüber allem Menschlichen, so sehen sie zwar das Ganze allzu einseitig, doch nicht völlig falsch. Die leidvolle Tatsache der Naturkatastrophen, die Tausende von Menschen hinwegraffen, beweist zur Genüge, dass der Kosmos und die menschliche Lebenswelt nicht aufeinander abgestimmt sind – so weit geht die prästabilierte Harmonie von G. W. Leibniz offensichtlich nicht. Und schon in der vormenschlichen Vergangenheit wurde das Leben auf der Erde mehrmals fast ganz durch extraterrestrische Katastrophen ausgelöscht, was sich in der Zukunft wiederholen kann. 130 Ein historisches Beispiel bietet das deutsche Volk, das schon kurz nach der Katastrophe von »Drittem Reich« und Zweitem Weltkrieg seine physische, politische und moralische Erschöpfung überwand und – zwar mit Hilfe, aber doch aus eigenem Lebenswillen – seinen staatlich-wirtschaftlichen Wiederaufbau schaffte und eine neue kulturelle Blüte heraufführte. Aus rein endlichen Kraftquellen heraus wäre das kaum möglich gewesen.
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Noch tiefer betrachtet, gibt es schon in der vorbiologischen Natur Anzeichen von gewaltigen Kämpfen, die darauf hinweisen, dass die Natur keineswegs immer so stabil war, wie sie heute erscheint, sondern dass sich wohl auch die Naturgesetze erst »einpendeln« und stabilisieren mussten. Wie dem auch sei, in jedem Fall müssen die Lebewesen und besonders die Menschen die Sicherheit ihrer Existenz unter außerordentlichen Mühen und mit größtem Erfindungsgeist den physischen Naturgewalten abringen, und letztlich bleiben diese doch unüberwindlich und lassen sich nur durch Anpassung einigermaßen kontrollieren gemäß dem berühmten Satz des Francis Bacon: »Natura enim non nisi parendo vincitur« (Die Natur lässt sich nur durch Unterwerfung beherrschen). 131 Kurzum: Der Kosmos ist die prekäre, »dramatisch-wogende« Einheitsgestalt einer teils agonistischen, teils antagonistischen Pluralität von erst unreifen, dann immer mehr reifenden, im Materiellen wirkenden, im Wesen geistigen und sich geistig ausdrückenden Kraftfaktoren, die nicht immer harmonisch zusammenwirken und daher viele Diskrepanzen, Brüche, Verwerfungen, Zweckwidrigkeiten und bei den Lebewesen Verletzung, Krankheit und Missbildung, Leid, Schmerz und Not erzeugen. 132 Viele Denker haben den dynamisch-pluralen und agonistischantagonistischen Charakter der Weltwirklichkeit gesehen, so etwa Heraklit, Platon, Aristoteles, Augustinus, R. Descartes, G. W. Leibniz, I. Kant, G. W. F. Hegel, A. N. Whitehead u. v. a. Manche, so vor allem die mittelalterlichen Philosophen, waren sich auch der drei Seinsränge im Wirklichkeitsaufbau klar bewusst und haben das deutlich formuliert (z. B. Scotus Eriugena), 133 doch lässt sich diese Über131 Siehe F. Bacon (1620, »Novum Organon«. Buch 1, Aphorismus 3). In deutscher Übersetzung: F. Bacon (1962, 41), »Das neue Organon/Novum Organon«, Manfred Buhr (Hrsg.), Berlin [Akademie Verlag]. 132 Auch K. Koreck (2019, 68–73) erkennt die Pluralität in der Natur und macht sie an der Eigenwertigkeit der Naturgebilde, besonders der vormenschlichen Lebewesen fest. 133 In seinem Werk »De Divisione Naturae« (1865, 439–1022) unterscheidet Johannes Scotus Eriugena im 9. Jahrhundert die ungeschaffen-schaffende Natur bzw. Gott (natura naturans, non naturata), die geschaffen-nichtschaffende Natur der physischen Einzeldinge (natura naturata, non-naturans) und dazwischen die geschaffen-schaffenden Intelligenzen (natura naturata, naturans), die identisch mit Platons »Ideen« und mit Aristoteles’ Sterngeistern sind. In einem Egressus gehen die Seinsstufungen von oben nach unten auseinander hervor im Sinne von Plotins Emanation und kehren als Regressus in die Gottheit der totalen Ruhe und Unterschiedslosigkeit zurück
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zeugung schon bei Platon und Aristoteles, später bei R. Descartes, G. W. Leibniz, I. Kant, M. Scheler u. a. finden. Oft handelte es sich allerdings mehr um eine Ahnung oder Vermutung als um eine klar ermittelte Einsicht. Diese wird dadurch erschwert, dass die Wirkkräfte des Universums (außer im Fall des Menschen) nicht unmittelbar erfahrbar sind: Nur ihre komplex miteinander verflochtenen Wirkungen und Werke, deren Ausdruckswert wahrnehmbar ist, sind bekannt und müssen durch ein geschultes »goetheanisches« Schauen, in dem Beschreibung, Intuition, Analyse und Einfühlung zusammengehen, erfasst werden. 134 Da die neuzeitliche Wissenschaft ausschließlich auf die logischmathematischen Zusammenhänge der Natur konzentriert war und außerdem den folgenschweren Fehler beging, die mathematischen Verhältnisse der Naturgesetze für real wirkende Naturursachen zu halten, schließlich und endlich jedes Organ für die seelisch-geistige Sinnbestimmtheit des kosmischen Naturgeschehens verlor, daher alle entsprechenden Einstellungen, die allerdings oft sehr naiv und phantastisch waren, diffamierte, musste es zu einer fundamentalen Verkennung und »Entzauberung« der kosmischen Wirklichkeit kommen, so dass sie am Ende entweder als blinde Maschine oder als sinnloser Zufall erschien. 135 Dass ein so sinnbezogenes Wesen, wie es der Mensch ist, in einer solchen Welt auftritt und auftreten kann, wurde zu einem Seinsrätsel und zwang die Wissenschaft, auch den Menschen, so weit wie möglich, reduktionistisch zu betrachten. Freiheit, Würde, Kreativität, Phantasie, Geist und Kultur wurden nur als nützliche, nicht eigenwertige Überlebensstrategien im Kampf ums (dann natura non-naturata, non-naturans). Die Anleihen an Plotin bedingen den Panentheismus Eriugenas. 134 In vorbildlicher Weise tun dies innerhalb der Naturwissenschaft A. Portmann und E.-M. Kranich (1929–2007). 135 Gerechterweise muss man darauf hinweisen, dass Judentum und Christentum aufgrund ihrer (Über-)Betonung des einen einzigen Gottes der Dämonisierung der Natur und ihrer Wirkkräfte Vorschub leisteten. Um den Polytheismus vollständig zu überwinden und damit aller Götzenanbetung den Garaus zu machen, schüttete man das »Kind mit dem Bade aus« und neigte dazu, alle nicht-göttlichen Naturgeistkräfte zu verteufeln. Richtig daran ist der unerbittliche Wille, keine geschöpfliche Kraft auf die Stufe Gottes zu stellen, wie das der moderne Polytheismus wieder versucht. Vgl. H. Dreyfus, S. D. Kelly (»Alles, was leuchtet«, 2014); falsch daran ist, die Natur zu dämonisieren oder eine jede geschöpfliche Geistigkeit in oder über dem Naturgeschehen abzuleugnen. Letztlich wurde dadurch die »entseelte und entgeistete« Natur dem neuzeitlichen Gewaltzugriff der Technik preisgegeben.
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Dasein gedeutet. Warum aber Lebewesen überhaupt überleben und ihre spezifische Eigenart im Lebenskampf durchsetzen und erhalten wollen, das können die Naturwissenschaften bis heute nicht erklären, sondern rekurrieren auf »egoistische Gene« und ähnlich phantastische Konzepte. Eine genauere Betrachtung der Naturwirklichkeit kommt zu einem anderen Ergebnis. Dabei können die reichen Erträge der Naturwissenschaft, insbesondere der Evolutionstheorie, vollauf gewürdigt werden, ja es wird sich zeigen, dass das Theodizeeproblem ohne sie nicht gelöst werden kann. Da der philosophischen Vergangenheit die evolutionäre Sicht des Kosmos fehlte, fehlte ein entscheidendes Glied in der Kette der Argumente. Nur bedarf die darwinistische Theorie der Erklärungsgründe der Evolution – nicht der empirischen Gestaltenfolge! – einer tiefgreifenden Umbildung, da zufällige Mutation und umweltbedingte Selektion nur sehr beschränkt gewisse Anpassungsleistungen, aber keine neuen schöpferischen Gestaltbildungen erklären können. Im Abschnitt IV soll das konkret ausgeführt werden. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, Stellung zur stoischen Theodizee zu beziehen, die aufgrund ihrer großen geistesgeschichtlichen Bedeutung paradigmatisch für alle Formen der monistischen Metaphysik stehen mag. Wie W. Windelband 136 zu Recht betont, befinden sich alle monistischen Welterklärungsversuche im Angesicht von Übel, Leid und Bösem in einer weitaus schwierigeren Lage als nichtmonistische Lehren, zu denen etwa die platonische und die aristotelische Philosophie zählt. Wohl sieht die Stoa das Problem, doch findet sie nur zwei Wege, mit dem Übel in der angeblich »göttlich vollkommenen Welt« zurechtzukommen: Entweder leugnet sie die dysteleologischen Tatsachen oder sie rechtfertigt sie als unerlässliche Mittel bzw. Nebenerfolge im Zweckzusammenhang des Ganzen. 137 Siehe W. Windelband (1957, 166 ff.). Wie viele Autoren, so etwa F. Billicsich (1955), W. Sparn (1980), W. Schmidt-Biggemann (1988), C.-F. Geyer (1992) und H.-G. Janßen (1989) zu Recht betonen, besteht die Eigenart der Antike und damit ihre spezifische Differenz zum Christentum gerade darin, dass sie den Kosmos für vollkommen und für göttlich hält, was J. Assmann (2003, 164) »Kosmotheismus« nennt. Genau dadurch gerät sie in den Zugzwang, das Übel in der Welt für nicht-seiend, für scheinhaft oder als bloße Privation wegzuerklären. Im Besondern gilt dies für die Stoa, aber nicht nur, sondern auch für den letzten großen Vertreter antiken Denkens, für Plotin und seine »Kosmodizee«. Vgl. J. Halfwassen (2004, 98 ff.) und F. Billicsich (1955, 98–186). 136 137
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W. Windelband fasst zusammen (S. 167): »Ihre psychologischen und ethischen Theorien erlaubten die Behauptung, dass, was ein physisches Übel genannt wird, an sich gar nicht ein solches sei, sondern erst durch die Zustimmung des Menschen dazu werde; wenn daher Krankheiten und ähnliches durch die Notwendigkeit des Naturverlaufs herbeigeführt werden, so sei es nur die Schuld der Menschen, die daraus ein Übel mache; wie denn auch vielfach nur der falsche Gebrauch, den der törichte Mensch von allen Dingen macht, diese schädlich werden lässt (Seneca, qu. nat., V, 18,4), während sie an sich entweder gleichgültig oder gar förderlich sind.«
Ersichtlich kann dieses Argument bei aller begrenzten Richtigkeit keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, da sich die Frage stellt, wie in einer angeblich vollkommenen und übelfreien Welt ein Wesen möglich sein soll, das einerseits zu dieser Welt als realer Teil gehört, andererseits erstens die Neigung hat, ein Weltgeschehen als schädlich zu bewerten, und zweitens zum falschen Gebrauch der Lebensumstände in der Lage ist, was beides zweifelsohne zutrifft. Offensichtlich wäre hier zumindest der Mensch bzw. seine »Torheit« ein objektives Übel und damit eine objektive Unvollkommenheit des Kosmos. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob z. B. eine Erkrankung, die das menschliche Denk- oder Sprachvermögen beschädigt, eine Enzephalitis etwa, wirklich nur eine neutrale oder sogar förderliche Weltgegebenheit und also kein physisches Übel ist, über die sich der Weise erhebt. Wie zu sehen, überspannt die stoische Philosophie hier ihren Autonomie- und Souveränitätsanspruch und verkennt die Ausgeliefertheit des Menschen an die Welt. Wenn der Mensch ein Teil des Kosmos ist und ein Recht hat, sich darin mit seinen Eigenheiten und Fähigkeiten zu entfalten, dann kann man nicht daran vorbeisehen, dass der Kosmos wenig Rücksicht auf den Menschen nimmt und ständig seine besondere Seinsweise bedroht. Nichtsdestotrotz betont die Stoa zu Recht, dass im Menschen die Potenz vorliegt, Weltereignisse, die an sich unbedenklich sind, mit Negativität aufzuladen oder zu dämonisieren oder gute, förderliche Verhältnisse in üble Verhältnisse, die schädlich sind, zu verkehren. Das beweist aber erneut, dass der Kosmos störanfällig und kontingent, jedenfalls nicht absolut vollkommen ist. Die Stoa gerät mit ihrer Auffassung, dass im Kosmos alle Vorgänge mit Notwendigkeit und perfekt ablaufen, in einen Selbstwiderspruch, an dem sie scheitert. Von einer anderen Seite lassen sich die physischen Übel damit 304 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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verteidigen, »dass sie, wie dies z. B. Chrysipp von den Krankheiten zu zeigen suchte (Gell., N.A., VII, 1, 7 ff.), die unerlässlichen Folgen an sich zweckmäßiger Natureinrichtungen sind, die im Übrigen ihre Absicht nicht verfehlen. In Sonderheit aber wohnt ihnen die moralische Bedeutung inne, dass sie zum Teil als bessernde Strafe der Vorsehung (Plut., Stoic. rep., 35, 1), zum Teil auch als nützlicher Anlass zur Übung sittlicher Kräfte (Marc. Aurel, VIII, 35) dienen.« 138 Dass physische Übel die Sittlichkeit herausfordern und zur Veredelung anspornen können, ist gewiss richtig; sie können aber auch die Sittlichkeit verletzen und untergraben. Problematisch ist die auch von G. W. Leibniz und I. Kant vorgenommene Instrumentalisierung der Übel als bessernde Strafe der Vorsehung, was bestenfalls als hypothetische Deutung durchgelassen werden kann. In den Abschnitten VI und VII wird eingehend die Unmöglichkeit behandelt, dass Gott direkt Übel um ihrer selbst willen zufügt. Dagegen ist es sicherlich richtig, dass viele »Übel« die unerlässlichen Folgen an sich zweckmäßiger Natureinrichtungen sind, so z. B. Wachstumsschmerzen, Alterserscheinungen, Geburtsrisiken, Zahnwechsel, pubertäre Nöte, die Menopause usw. Doch auch dadurch wird ihr Übelcharakter in Bezug auf Lebewesen und Menschen nicht aufgehoben, sondern vielmehr unterstrichen, dass auf der Erde als einem realen Ausschnitt des Kosmos nicht alles harmonisch und ideal gefügt ist, sondern prekär, labil, brüchig und konfliktuös, trotzdem in Grenzen harmonisierbar ist. So mag z. B. der Abort eines lebensunfähigen Embryos das konsequente und insofern »richtige« Ergebnis einer radioaktiven Strahlenbelastung sein, und man mag so weit gehen und behaupten, dass das »Leben« hier in weisem Bedacht früh fallen lässt, was, wenn es überlebte, nur sich selbst und Anderen eine Last wäre. Dennoch bleibt der Misston unauslöschbar, dass hier etwas zerstört wurde, was von seiner Anlage und Dynamik her hatte leben und sich entfalten wollen. Und unterstellt man dem Kosmos, wie die Stoa tut, eine göttliche Vernunft, müsste man erwarten, dass die Kräfte vorhanden sind, einen solchen beschädigten Embryo zu heilen, zumal es in der Natur sehr potente Regenerations- und Restitutionsvorgänge gibt. Genau dies offenbart, dass sowohl die Heilungskraft als auch die Heilungsintelligenz der Natur nicht unendlich, sondern begrenzt, nicht unbedingt, sondern bedingt und also weder göttlich noch vollkommen ist. Damit
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Siehe W. Windelband (1957, 167).
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fällt das stoische Axiom, wonach Gott und Natur identisch sind und der Kosmos vollkommen ist. »Wenn so die äußeren Übel hauptsächlich durch den Hinweis auf ihre ethische Zweckmäßigkeit gerechtfertigt wurden, so erschien es für die Stoiker umso dringender, erwies sich aber auch umso schwieriger, das moralische Übel, die Sünde begreiflich zu machen. Hier war die negative Ausflucht ganz unmöglich; denn die Realität der Schlechtigkeit bei der großen Mehrzahl der Menschen war der Gegenstand der beliebtesten Deklamationen in der stoischen Moralpredikt selbst. Hier war also der Kernpunkt der ganzen Theodicee: zu zeigen, wie in der Welt, welche das Erzeugnis einer göttlichen Vernunft ist, das Vernunftwidrige in den Trieben, Gesinnungen und Handlungen der vernunftbegabten Wesen möglich sei. Hier griffen die Stoiker deshalb zu ganz allgemeinen Wendungen: sie wiesen darauf hin, wie die Vollkommenheit des Ganzen diejenige aller einzelnen Teile nicht nur einschließe, sondern ausschließe (Plut. Stoic., rep., 44, 6) und begründeten in dieser Weise, dass Gott notwendig auch die Unvollkommenheit und Schlechtigkeit des Menschen habe zulassen müssen. Insbesondere aber betonten sie, dass erst durch den Gegensatz zum Bösen das Gute als solches zustande komme: gäbe es keine Sünde und Torheit, so gäbe es auch keine Tugend und Weisheit (ibid., 36, 1).« 139
Auch diese Argumente können nicht zufrieden stellen, zumal in voreiliger Weise Unvollkommenheit und Schlechtigkeit gleichgesetzt werden. Gewiss ist der Mensch, wie alles Kosmische, unvollkommen, aber damit nicht notwendig schlecht. Niemand kann alles gleich gut, doch er kann sich der Schlechtigkeit enthalten und soll dies auch. Zwar stimmt es, dass Gott keine absolut vollkommene Welt schaffen kann, eben weil die Welt notwendig endlich ist und – gemessen an der Unendlichkeit Gottes – nur einen kleinen Ausschnitt des möglichen Seins darstellt. 140 Daraus folgt aber nicht, dass Gott die Schlechtigkeit des Menschen habe zulassen müssen, im Gegenteil hätte er durchaus eine Welt schaffen können, in der nur gute und trotzdem endlicheinseitige Menschen auftreten. Warum er die Schlechtigkeit zulässt, muss daher einen anderen Grund haben, den es noch aufzudecken gilt. Dass aber die Welt als ganze vollkommen sei, kann schon deswegen nicht sein, weil sie sich bewegt, entwickelt, umwandelt, zerstört, wieder aufbaut – jedenfalls Siehe W. Windelband (1957, 167). Das betont später G. W. Leibniz wieder und nennt dies unglücklicherweise ein »metaphysisches Übel«, obwohl es, rein sachlich gesehen, weder ein Übel noch ein Leid ist, sondern eine natürliche Endlichkeit, an der der Mensch zwar oft leidet, aber nicht leiden muss. 139 140
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nicht fertig ist, was sie sein müsste, wenn sie vollkommen wäre. Und schließlich das Letzte: Wohl mag es stimmen, dass das Gute leuchtender hervortritt, wenn es sich gegen den dunklen Hintergrund des Bösen abhebt, aber daraus zu folgern, dass ohne das Böse das Gute nicht möglich sei, ist voreilig und insofern selbstwidersprüchlich, als alle Ethik und Religion, auch die der Stoa, davon ausgeht, dass das Böse abnehmen und überwunden werden kann und also das Gute einstens triumphiert. Doch schon vor diesem endgültigen Triumph gibt es zahllose gute Taten, die ohne jeglichen Bezug zu Schlechtigkeit und Bosheit zustande kommen und für sich, ohne Zusammenhang mit Bösem und Leid, geschätzt werden. Indirekt bestätigen die Stoiker diese Wahrheit, wenn sie zu bedenken geben, »dass die ewige Vorsehung schließlich auch das Böse zum Guten wende und in ihm nur ein scheinbar widerstrebendes Mittel zur Erfüllung ihrer höchsten Zwecke habe.« 141 Das Böse könnte nicht zum Guten gewendet werden, wenn es notwendige Bedingung des Guten wäre, woraus folgt, dass das Böse im Letzten kontingent ist. Dass es aber nur scheinbar widerstrebe, widerlegen alltägliche Praxis und Erfahrung schon damit, dass es viel Mühe kostet, Schlechtes und Böses bei sich und in der Welt zum Guten zu wenden, mehr noch belegen sie, dass das Böse eine »positive«, sprich seinshaltige Macht ist, die wirklich und nicht nur scheinbar widerstrebt, und daher mit viel Einsatz, Geduld und Seinsvertrauen zur Umkehr bewegt werden muss. In der Überschau erhält man das Fazit, dass eine monistische Welttheorie, zumal in optimistisch-harmonistischer Form, unvereinbar mit den Tatsachen des Leides, des Bösen, des Zweckwidrigen und des Schlechten ist. Vollends inkonsistent wird sie, wenn sie, wie z. B. I. Kant, einerseits den empirischen Weltlauf deterministisch auslegt, andererseits dem Menschen zur Begründung des Bösen die Freiheit zuspricht. 142
Siehe W. Windelband (1957, 168). Allerdings spricht I. Kant dem Menschen die Freiheit nur in »transzendentaler Hinsicht«, nicht als einem empirischen Wesen zu. Als leibhaftes Wesen sei er unfrei. Nur ist die Frage, wie ein empirisch vollständig determiniertes Wesen von einer transempirischen, nicht erfahrbaren Freiheit überhaupt wissen kann? Und weiter: Wie ein empirisch völlig determiniertes Wesen in der empirischen Welt soll »frei« und verantwortlich handeln können? Bei I. Kant ist der Mensch unheilbar in zwei Hälften zerrissen. 141 142
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3.15. Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt, eine werdende einer fertigen Welt, eine werdend-selbsttätige einer werdend-passiven, eine personale einer nicht-personalen Welt vorzieht Da durch die bisherige Analyse einige Fundamente für ein metaphysisches Weltbild gelegt worden sind, kann ein erster Versuch gewagt werden, das Theodizeeproblem anzugehen. Am Anfang steht die Erkenntnis, dass ein ens a se, ein schlechthinniges Sein als die notwendige und streng ermittelbare Seinsvoraussetzung allen zeitlichen Seins, mithin des Kosmos überhaupt existiert. Dieses anfangslose Ursein ist erweisbar unzeitlich, ungeworden, ewig, ist absolute Kraft, unendliche Seinsfülle, reines Bewusstsein, ist also Person und damit Gott. Als solcher umfasst er den größtmöglichen gegenständlichen Bewusstseinsinhalt. 143 Der reale, in der Zeit sich dynamisch entfaltende und selbständig agierende Kosmos, der wesentlich E, bestenfalls pU ist, ist daher kein realer Teil von Gottes Urwirklichkeit, im Gegenteil ist er gewissermaßen ein »Fast-Nichts« und steht im Seinsrang unendlich unter ihr. Das Grundverhältnis zwischen Gott und Universum basiert dabei auf Freiheit: Gott hat die Welt nicht erschaffen müssen, sie ist weder an sich nötig noch für ihn nötig, demnach radikal kontingent, vielmehr ist sie reine Gabe, Ausdruck der voraussetzungslosen und »selbstlosen« Gebefreudigkeit Gottes. Wenn man überhaupt von einem Motiv sprechen will, das Gott bei der Erschaffung der Welt geleitet haben mag, dann ist es seine Seins-, Kraft-, Weisheits- und Liebesfülle selbst und sonst nichts: Er ist so unendlich reich, und er kann so unendlich leicht alles geben, dass er es eben tut. Solch eine Gabe ergibt unendlich viel mehr Sinn, wenn es einen Empfänger gibt, der lebendiges Geschöpf und nicht totes Ding ist, als wenn dieser fehlte. Da sich Gott nicht selbst erschaffen kann (und muss), erschafft er Geschöpfe, die, obschon ihm nicht ebenbürtig, schaffenden Willen, erkennenden Verstand und liebendes Gefühl haben und deswegen sein Ebenbild als personale Geistwesen sind. Es leuchtet ein, dass Vermutungen wie die, Gott habe die Welt geschaffen, um nicht allein zu sein, um sich anbeten zu lassen, um seine Allmacht zu beweisen usw.,
143 Weiter oben wurde dieser Bewusstseinsinhalt quantitativ als aUaU bestimmt. Vgl. dazu B. v. Brandenstein (1970, Bd. 2, Kapitel 289 und 295) und (1966, Bd. 3, 466–477).
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Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt … vorzieht
in das Reich anthropomorpher Projektionen gehören; sie haben mit der Erhabenheit und Souveränität Gottes nichts zu tun. 144 Somit gilt, dass Gott die Welt nicht hat erschaffen müssen, sondern frei darin war: Die Welt ist das Werk reiner Freiheit, durchdringender Weisheit und unumschränkter Liebe. Wenn dem so ist, und Gott ein selbstbewusstes unendlich mächtiges Wesen ist, dann darf man davon ausgehen, dass er über eine unendlich große und tiefe Intelligenz verfügt. Es kann nicht sein, dass er sich bei der Welterschaffung »nichts gedacht« habe. Im Gegenteil, sein unendlicher Geist hat alle Möglichkeiten bis ins Unendliche bereits vorbedacht und berücksichtigt. Darin müssen auch Leid, Übel und Böses ihren Grund, ihre Stellung, ihren Sinn und ihre Überwindungsmöglichkeit erhalten. Dass der Mensch dies nicht voll erfassen kann, ist Ausdruck der Begrenztheit der menschlichen Intelligenz. Wohl gilt es, alles daranzusetzen, Leid, Unrecht und Not, so gut und rasch es geht, praktisch zu minimieren. Dem sind aber Grenzen gesetzt, wie die Naturkatastrophen zu allen Zeiten beweisen. Keine Hilfepraxis der Welt kann ein erschlagenes Kind oder einen Ermordeten zum Leben erwecken, kein therapeutischer Einsatz eine schwer traumatisierende Vergewaltigung ungeschehen machen oder vollständig heilen. Rein praktisch ist die Frage nach dem Leid nicht zu bewältigen, da es in dieser Welt immer Unschuldige geben wird, die furchtbares Leid erfahren. Eine adäquate Bewältigung des Leidens muss daher über das Praktische hinausgehen und spirituelle Wege beschreiten. 144 Auch die Deutung J. Hessens (1962, 350) geht trotz all ihrer Tiefe und ihrem Anliegen, den Evolutionspantheismus G. W. F. Hegels, M. Schelers u. a. abzuwehren, fehl: »Gott braucht die Welt nicht zur Vollendung, wohl aber zur Offenbarung seines Wesens.« In Wahrheit braucht Gott die Welt in überhaupt keiner Hinsicht, auch nicht zu seiner Offenbarung. Denn er ist sich selbst durch und durch offenbar und wird sich seines Wesens nicht erst im Spiegel seiner Geschöpfe bekannt, was ein klassisch idealistischer Gedanke ist. Sobald man von »Brauchen« spricht, trägt man unweigerlich ein Bedürfnis, einen Mangel, eine Sehnsucht, ein Verlangen und damit Zeit, Werden, Unvollkommenheit, Unruhe, Leid und Kampf in Gott hinein, wo dies alles nicht existiert. Selbst bei J. Hessen meint man, Hegelsches Erbe nachklingen zu hören, das lehrt, dass Gott erst im Anderen der Natur und schließlich im Menschen seiner selbst gewahr wird. Das Motiv für Gottes Handeln kann nur innertrinitarischen Ursprungs sein und der Fülle der Liebe entspringen. Nur insofern Gott Schöpfer sein will, »braucht« er die Schöpfung und vor allem die schöpferischen Potenzen, durch deren Wirken und Schaffen Gott als Schöpfer, nicht jedoch als Gott überhaupt (mit-)realisiert und manifestiert wird.
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Wenn Gott die Welt aus überquellender Liebe erschaffen hat und die Erschaffung der Welt hätte unterlassen können, warum schuf er sie dann überhaupt? Hat das Dasein der Welt einen Vorzug gegenüber ihrem Nichtsein, zumal Gott auf sie in keiner Weise angewiesen ist? Die natürlichste Antwort kann nur die sein, dass die Erschaffung des Kosmos der beste Ausdruck seiner Kreativität, Kraft, Intelligenz und Liebe ist, und dass es Gott daran liegt, seine unendlichen Möglichkeiten in allen Seinsrängen und auf allen Stufen und Graden der Wirklichkeit zu realisieren. Zwar hat er schon in seinem Bewusstsein alle möglichen Welten erschaffen, und das sind unendlich viele, doch handelt es sich bei diesen nur um unselbständige Produkte seines Geistes, um rein ideelle Gegenstände, um »Ideenkosmen«, nicht um selbständig-dynamische Wirklichkeiten. Genau das aber ist der Sinn: eine Welt zu erschaffen, die aus eigener Seinskraft zu bestehen vermag und selbst zu agieren befähigt ist, wiewohl nicht unabhängig von ihm. Es liegt auf der Hand, dass nur im Rahmen einer solchen selbständigen Wirklichkeit die Polarität von Gut- und Bösewollen, ja überhaupt der »Kosmos der Sündhaftigkeit«, wie er etwa von F. Dostojewskij ausgefaltet wird, manifest werden kann. Somit kann im nächsten Schritt gefragt werden, warum Gott eine unfertig-werdende Welt für besser hält als eine fertig-endliche Welt? Beide lassen sich als real und selbständig denken, doch während diese mit ihrem Beginn endet und bestenfalls endlos-unverändert weiterbesteht, ist jene entwicklungs- und wandlungsfähig. Soviel ist klar: Eine fertig-endliche Welt ist eine wesenhaft passiv-untätige Welt, während eine unfertig-werdende Welt selbsttätig sein könnte. Letzteres gilt wiederum nur, wenn Gott nicht selbst jegliche Veränderung der werdenden Welt bewirkt. Andernfalls wäre solch eine prozessuale Welt wesentlich passiv. Wären beide Welttypen tatsächlich ohne eigene Wirkprinzipien, wären beide also nur das passive Werk Gottes, dann müsste Gott die fertige der unfertig-werdenden vorziehen. Denn als unendliches Wesen bedarf er nicht der zeitlichen Erstreckung, um etwas zum Abschluss und zur Vollendung zu bringen – dies könnte er mit einer einzigen Setzung erreichen. Eine unfertigwerdende, rein passive Welt ergäbe also überhaupt keinen Sinn, sie wäre geradezu sinn- und gottwidrig. Doch auch eine fertig-werdelose, zwar sogleich vollendete, aber in sich rein passive Welt stellt eine sinnlose Verdoppelung dar: Denn Gott hat sie in seinem ewigen unendlichen Bewusstsein schon von Ewigkeit her (zusammen mit allen anderen, unendlich vielen Welten) gedacht, so dass ihre Realisierung 310 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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als selbständige, aber passive Welt gegenüber einer bloß gedachten keinen Zugewinn brächte. Ihre Erschaffung muss man daher fallen lassen, sie ergibt keinen Sinn. Wenn Gott überhaupt eine Welt erschafft (und das muss, wie gesagt, nicht sein), dann ergibt nur eine solche Welt einen metaphysisch akzeptablen Sinn, die erstens nicht endlich-fertig und zweitens nicht passiv ist, sondern eigene weltimmanente Wirkprinzipien, Ursachen und Schöpferkräfte aufweist. Besitzt sie solche, ist sie eo ipso unfertig und im Werden begriffen, da erschaffene Wirkkräfte wesenhaft anfänglich, »gebürtlich« sind und nur zeitlich wirken und sich entfalten können. Eine solche Welt ist aber notwendigerweise selbständig, da ein echtes kausales Wirken, wie gesehen, Selbstsein, Selbstbestimmen und Selbstwirksamkeit, also Freiheit und mit der Freiheit Selbständigkeit, also Können und Macht impliziert. Eine dynamisch-selbsttätige Welt ist darum substanzial; sie besitzt wesenhaft selbständige und selbstwirksame Wirkzentren. Auf der anderen Seite wird diese »Größe« eines selbständigen Weltseins mit gewissen Schattenseiten erkauft: Eine zeitlich gebundene Wirkkraft birgt einen potenzialen Seinsgrund, der erstens dunkel ist und nie ganz aus eigener Kraft erhellt werden kann, der zweitens unerschöpflich ist, also nie zur Ruhe und Erfüllung gelangt, der drittens nur durch mühsame, oft leidvolle Selbstgeburt nach und nach zu sich selbst findet, und der viertens wesenhaft einseitig ist und daher unabdingbar der Ergänzung bedarf, also anderer pU Kräfte, die das haben, was jene nicht hat und umgekehrt. Das aber führt, wenn es zu Begegnung, Beziehung und Interaktion dieser Zweitursachen kommt, zu Auseinandersetzungen, Missverständnissen, Selbstbehauptungskämpfen, Abgrenzungen, Verweigerungen, Rückzügen, kurzum zu allerlei Leiden. Hierauf ließe sich entgegnen, dass Gott eine solche Welt hätte schaffen können, in der die selbsttätigen Prinzipien, also die über oder hinter der Natur stehenden Geistwesen einschließlich des Menschen, jeden Kampf vermeiden, sich durchgehend achten, aufeinander Rücksicht nehmen und nur in Güte und Frieden miteinander leben. Gewiss, das könnte Gott, durchaus. Aber wäre das die in jeder Hinsicht bessere Welt? Insofern wäre sie besser, als sie frei von allem Bösem, Schlechten und allem Übel wäre. Aber sie wäre schon in der Hinsicht weniger vollkommen, als in ihr die vielen Seinsabstufungen und Seinsgrade bis hinunter zum Nichts fehlen würden. Eine solche Welt erschiene recht blass und »leichtgewichtig«, in ihr müsste um kein 311 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
Gut gekämpft werden; irgendwelche Opfer für höhere Ziele würden nicht gefordert; echte Treue zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte müsste, da nie geprüft, nicht entwickelt werden; Mut und Tapferkeit wären überflüssig; Vertrauen würde keiner Belastung ausgesetzt und würde in seiner Redlichkeit bzw. Unredlichkeit nicht offenbar. Auf der Bühne des Lebens spielte sich kein Drama ab, sondern ein »braver Spaziergang«, eine »ewige Siesta«. Vor allem würde der pU-überendliche Seinsabgrund der geschöpflichen Geister nicht gefordert, sich zu zeigen, dieser bliebe dunkel, unerhellt, ein ewiges Seinsvergessen. Und schließlich gilt als Wichtigstes: Nur werdende, suchende Geister erstreben die Gottheit, wollen dorthin zurück, woher sie entstanden sind; fertige Wesen genügen sich selbst und würden niemals die Sehnsucht nach Gott fühlen und die Notwendigkeit der Vereinigung mit ihm zur Behebung ihrer metaphysischen Bedürftigkeit erfahren. Kurzum: Erst Konfrontation, Kampf, Entbehrung, Herausforderung, Entfremdung, Not und Leid zwingen die schöpferischen Wesen, alles nur Mögliche an Phantasie, Inventionskraft, Intelligenz, Wagemut, Opferkraft und Vertrauensbereitschaft aus sich herauszuholen. Und erst der Friedens- und Versöhnungswille – wie sollte der erstarken in einem spannungslos und konfliktfrei dahinwallenden »Kosmos von Lemuren«? Um mit einem Bild zu reden: Welcher Dramatiker wird mehr geschätzt: Sophokles oder Aristophanes, Shakespeare oder Goldoni, Schiller oder Kotzebue, Dostojewskij oder Ostrowskij? Die Frage scheint töricht, und doch borden nicht zufällig die Dramen der erstgenannten nur so von Leid, Grausamkeit, Torheit, Missverständnis und Bosheit über, während die zweitgenannten eine komische oder brave Welt darstellen. Wo jedoch zeigt sich mehr von der Tiefe des Geistes, von Intensität, Genialität, wo mehr an Reinheit des Gefühls, Lauterkeit des Gedankens, wo beweist sich die Größe der Tat, der Opferbereitschaft, der Leiderduldung, der Hingabe und Ergebung? Wohl kaum in den Dramen und Romanen der Zweitgenannten. Gott aber ist der größte Dramatiker, und die Welt das größtmögliche, vielschichtigste, umkämpfteste, tiefste, schauerlichste und ergreifendste Drama, das sich denken lässt, zumal es längst nicht abgeschlossen ist und seinen Abschluss, der frei von allen Scheußlichkeiten sein wird, verhüllt. Wie aber, wenn in diesem Drama nicht nur die gewaltigsten Energien und Stoffballungen aufeinander prallen und zu kosmischen Explosionen führen, sondern Geistwesen wie im Falle der menschlichen Epiphanie selbst erscheinen, leibhaftig, wirkund leidmächtig? 312 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Warum Gott eine Welt einer Nicht-Welt … vorzieht
Im Angesicht der Existenz des Menschen stellt sich somit die Frage, warum Gott eine in gewissen Weltgebilden – den Primatenleibern – personalisierte Welt einer apersonalen, sonst durchaus dynamisch-selbsttätigen Welt vorzieht? Die Antwort liegt auf der Hand und wurde oft gegeben: Ein Organismus, der Selbstbewusstsein hat, steht im Rang essenziell höher als ein solcher ohne Selbstbewusstsein, ohne »Innesein«, ohne individuell-geistige Freiheit, ohne kreativen Intellekt und ohne Liebesfähigkeit. Noch tiefer reicht die Erkenntnis, dass im Menschen genau jenes Seinsprinzip manifest wird, das hinter allem gegenständlichen Weltsein steht und sich, genauer besehen, darin zu offenbaren trachtet: das ungegenständlich-inständliche Prinzip des subjektiven Geistes, des geschöpflichen Wesens im zweiten Seinsrang, das Objekt-Subjekt. Da die letzten Seinsquellen der Welt personaler Natur sind und zuhöchst in der Urperson Gottes gründen, strebt alle noch so dunkel-materielle Welt der Offenbarung dieser Seinsquellen zu, deren bisher letzte und höchste Stufe im Falle des Menschen die Beseelung eines artspezifischen tierischen Leiborganismus mit einem individualen Geistgeschöpf ist. Noch höher stünde nur jenes »Weltding«, in dem die Urperson Gottes selbst manifest würde, ein Gedanke, den fast alle Hochkulturen ausgebildet haben, etwa in der Vergöttlichung ihrer Heroen und Gottkönige und in der Idee des Mystikers. Hier findet die tiefsinnige Konzeption der deutschen Idealisten, wonach die Natur erst im Menschen zu sich selbst komme, ihre Bestätigung. Die Welt ohne den Menschen ist ein »Nur-Objekt«, im Menschen dagegen erklimmt sie den Gipfel der obschon nicht, wie die Idealisten meinten, aktualunendlichen, so doch endlich-potentialunendlichen Subjektivität. Wenn Gott dies geplant und gefügt haben sollte, dann hat er sich für die Realisierung höherrangigen Seins entschieden, und man versteht, warum er eine personalisierte Welt einer apersonalen vorzieht. Diesem höchstmöglichen Realisierungszweck des Weltgeschehens entspricht ein zu zahlender Preis, der kaum überbietbar ist: Um ein Stück lebendig organisierter Materie zu personalisieren, muss der »Nachteil« hingenommen werden, dass dieses personale Sein an diese Materie gebunden, von ihr abhängig und von ihr eingeschränkt ist, mit ihr verletzt und krank werden, an ihr in Leid und Not geraten kann und schließlich mit ihr altert, verfällt und stirbt. Der Preis für die – hiesig nur zeitweise erreichbare – Verinnerlichung und Vergeistigung des physischen Seins sind Leid und Sterben des Geistes, nicht des Geistes überhaupt, sondern des verleiblichten, inkarnierten Geis313 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
tes, der »Seele«, des psychophysischen Menschenbewusstseins. Anders lässt sich der Höhengrat des Weltgebäudes nicht erreichen. Wenn die innere Sinnstruktur und Sinndynamik der kosmischen Evolution im nächsten Abschnitt konkret aufgehellt ist, dann wird sich dieser Zusammenhang klarer vor Augen stellen. Mithin offen ist schließlich die Frage, wie und warum es zum »Abstieg« des personalen Prinzips in die apersonale Materie gekommen ist. Im Abschnitt IV und V wird diese Frage untersucht.
3.16. Hiobs Theodizee und ihr Ungenügen Wie so viele große Kunstwerke – das Gilgamesch-Epos, die Odyssee, der Ödipus Rex, die göttliche Komödie, Don Quijote, Faust u. v. a. m. –, wird auch das Buch Hiob von einer bestimmten Theodizee getragen. Das erste ihrer Elemente wurde bereits kritisch beleuchtet, die Erwartung Hiobs, dass ein gerechtes, gottfrommes und menschenfreundliches Leben leidfrei sein müsse. Diese Einstellung muss – auch für damalige jüdische Begriffe! – als naiv und weltfremd bezeichnet werden, da sie die existenziell fundamentale Gebrochenheit des menschlichen Daseins, um die das jüdische Denken sehr wohl weiß, verkennt. Das zweite Element besteht in einer Art Gleichsetzung von irdischer und göttlicher Welt, da der Dichter des Hiobbuches davon ausgeht, dass Gott Jahwe der direkte Schöpfer und Bewirker der Natur ist und seine Souveränität und Hoheit vorzüglich in ihren Gewalten ausdrückt. 145 Zusammen mit dem ersten Element seiner Theodizee folgt konsequent, dass Gott die Naturgewalten nur so einsetzt bzw. einsetzen kann, wie es dem sittlichen Rechtsempfinden entspricht. Da Hiob mit dieser Erwartung scheitert, wird er an seinem Gottesbild irre und rechtet mit Gott. Trotz der eindeutigen Entnaturalisierung des israelitischen Gottesbildes, das Jahwe als souveränen Schöpfer über alles Naturhaftzeitlich-Geschöpfliche stellt und scharf von den altorientalischen Na-
145 Vgl. O. Eißfeldt (»Vom Werden der biblischen Gottesanschauung und ihrem Ringen mit dem Gottesgedanken der griechischen Philosophie«, 1931, 8–9), worin dieser Aspekt bestätigt und um die geschichtliche Dimension des hebräischen Gottes Jahwe, mit der sich diese Religion immer deutlicher von den altorientalischen Naturgottheiten absetzt, erweitert wird.
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Hiobs Theodizee und ihr Ungenügen
turgottheiten absetzt, wirkt hier noch mythisches Erbe nach, das Gott und Naturgewalt mehr oder weniger gleichgesetzt bzw. noch nicht genügend differenziert. Diese Vermutung wird durch den späteren Auftritt Gottes im Buch Hiob bestätigt: Dort überwältigt Jahwe seinen Knecht Hiob mit den Schrecken der Naturgewalten, mit Donner, Blitz und Sturm und weist ihn herrscherlich, fast despotisch, auf jeden Fall autoritär zurecht. 146 Hier unterscheidet sich der Gott der Juden wenig von Zeus oder Wotan, von Marduk oder vom kananäischen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott Baal, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass auch der israelitische Glaube altorientalisch-semitischen Ursprunges ist und sich in ständiger Auseinandersetzung mit seinen mythischen Wurzeln und seinem mythischen Umfeld herausgebildet hat. 147 Da aber die Natur keine Rücksicht auf das sittliche Verhalten nimmt, sondern Gute wie Schlechte mal begünstigt, mal ins Unglück schleudert, muss ein Gottesbild Risse bekommen, das den Kosmos zum Wesen Gottes rechnet, sei es als seinen verlängerten Arm, sein Kleid, seinen »Leib« oder wie bei G. W. F. Hegel als von Trümmern und Leichen gepflasterten Weg, auf dem der Weltgeist zu sich selbst kommt. Die Gleichsetzung von Gott und Natur hat zudem zur Folge, dass sowohl die schreckenerregende Undurchschaubarkeit bzw. Willkür als auch der eisern-gnadenlose Schicksalsablauf der Natur auf Gott übertragen wird und dieser selbst, wie das Kapitel 23 des Hiobbuches beweist, undurchschaubar, willkürlich, angsterregend und deterministisch erscheint. Es mutet daher heroisch, verwegen und fast absurd an, dass Hiob sich trotzdem verteidigen und gegenüber einem scheinbar vernunftlosen Gott gute Gründe (!) für seine Lebensführung und sein Recht auf ein glückliches Leben vorbringen will. Die Analysen dieser Arbeit zeigen dagegen, dass die Gleichsetzung Gottes mit der Natur bzw. ihre direkte Kausalität verabschiedet werden muss. Hält man daran fest, ist das Theodizeeproblem unlösbar, und man verfängt sich in heillose Widersprüche. Wie gesehen, ermöglicht ein vernünftiger Gott den Kosmos, genauer, schafft seine Grundlagen und Grundkräfte, vor allem die metaphysische Materie
146 Tiefer betrachtet, kündigt sich hier die Ahnung an, dass der Gott-Mensch-Abstand über alle Maßen ist, so dass nicht nur das Hadern mit Gott, sondern bereits die Existenz des Menschen im unmittelbaren Angesicht des Unendlichen nahezu nichts ist (vgl. oben III.8). 147 Vgl. W. Eichrodt (1968, 111).
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
als das vermittelnde Medium des Weltwechselwirkens und die geistigen Wirkursachen, die geschöpflichen Schöpfer des Naturgeschehens, zu denen auch der Mensch zählt. Denn es ist nicht Gott, sondern es sind jene Zweitursachen (»Naturgeistkräfte«) und diese Menschen, die am Medium der räumlich-extensiven Materie den Kosmos mit allen seinen Unvollkommenheiten, Brüchen und Tragödien aufbauen. Erst auf diesem Hintergrund findet das physisch und sittlich Unvollkommene, finden aleatorisch-statistische Prozesse, 148 Naturkatastrophen, Zweckwidrig-Unnützes, Degenerativ-Pathologisches, Unglück, Kampf, »trial and error«, Entwicklungsumwege, wenig lebenstaugliche Überspezialisierungen, über- und unteroptimale Lösungen, Rudimente, Missbildungen, Atavismen und das Böse Eingang in das Weltgeschehen. 149 Wären Gott und Natur identisch bzw. in direkter Kausalität, wäre der Mensch darin fehl am Platz, mehr noch, er wäre als selbständige Realität unmöglich. Denn als das Stück Natur, das er auch ist, wäre er dann selbst unmittelbar gotthaft, göttlich, und es könnte keine Differenz zur Natur und damit kein wirkliches Leid geben. Aber auch Gott wäre, wenn er mit der Natur identisch wäre bzw. eine kausale Einheit bildete, unvollkommen, unfertig und fehleranfällig. Da beides, wie erwiesen, unhaltbar ist, können Gott, Natur und Mensch nicht identisch sein, nicht einmal partiell identisch. 148 Zum Beispiel die unvorhersehbar-unberechenbare Fluchtbewegung der ThomsonGazelle oder die Schwarmformationen von Fischen und Vögeln, aber auch Proteinsynthesen in der Zelle u. v. m. Vgl. P. M. Driver (1988). 149 Vgl. P. Overhage (1964, 172–191); vgl. B. v. Brandenstein (1947, 15–57). Besonders interessant sind die Phänomene des Atavismus oder »Rückschlages« und des Rudiments, also des geschichtlichen Überbleibsels oder Restes früherer, jetzt nicht mehr funktionsgebundener, daher nutzloser, desorganisierter oder steckengebliebener Organe, z. B. der verkümmerten Augen der Höhlenfische, der Flügel des Straußes, der Hinterbeine der Wale, noch mehr der embryonalen Rudimente, die nie ins volle Funktionsstadium treten oder nur kurzzeitig funktionieren, dann aber wieder aufgelöst werden, z. B. die embryonal angelegten, dann wieder vergehenden Zähne der Bartenwale, Schildkröten usw. Zur Belegung der evolutionären Geschichtlichkeit organischer Strukturen verweist A. Portmann (2008) auf das interessante Phänomen des nur zwischenzeitlichen, an sich funktionslosen Verschlusses von Augen und Ohren bei höheren Säugetieren in der Embryonalphase, der als »mitgeschlepptes« Überbleibsel früherer und damals zweckhafter Organisationsformen von primitiveren Säugern seinen vollen Sinn erhält. Metaphysisch sind dies Indizien sowohl der Pluralität von sinngerichteten Organisationsfaktoren als auch Hinweise, dass nicht Gott selbst dies alles, was offensichtlich besser gemacht werden könnte, direkt wirkt. Vgl. P. Overhage (1963, 29–30).
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Theodizee zweiter Teil
Was den Hiob-Mythos selbst betrifft, legt sich kulturpsychologisch die Vermutung nahe, dass in diesem Dokument einige Züge des patriarchalischen Vaterbildes jener Zeit auf Gott projiziert werden. 150 Wie der Anfang des Buches, die berühmte Wette zwischen Gott und Satan, beweist, hätte die Möglichkeit zur Zeichnung eines verständnisvolleren und kommunikativeren Gottesbildes bestanden. Da Gott durch seinen Engel Satan die Treue Hiobs prüft, hätte er konsequenterweise am Ende des Buches seinen Knecht Hiob über den Hintergrund der vielen Leiden aufklären müssen und ihn dafür loben können, dass er (z. B. im Gegensatz zu seiner Frau) Gott in der Drangsal treu geblieben ist. Doch nicht ein Gott des Verständnisses, der Weisheit, des Mitgefühls und der Intelligenz, sondern ein Gott des puren Herrschaftsanspruches und Machtwillens verlangt hier vom Menschen blinde und kleinmütige Unterwerfung. Entsprechend gibt Hiob, von Schrecken gelähmt, seinen Wunsch nach Aufklärung, Verständnis und Gerechtigkeit auf. Der Mensch soll nicht denken, fragen und verstehen, sondern gehorchen, hinnehmen, »schlucken«. Diese Gottesvorstellung erdrückt den Menschen, wird seiner geistigen Würde nicht gerecht und bleibt weit hinter dem wahren Gott zurück, der durch Liebe, Sanftmut und Einsicht, auch durch Konsequenz und Strenge, nicht jedoch durch Angst und Schrecken überzeugen will. So bleibt der tiefere Sinn von Hiobs Prüfung ungenutzt.
3.17. Theodizee zweiter Teil Mit den Ergebnissen des letzten Abschnittes kommt diese Arbeit in der Theodizeefrage ein großes Stück weiter. Zum ersten wurde erkannt, dass eine Welt vollkommener ist, die nicht nur das passive »Puppenspiel« Gottes ist, sondern von eigenständigen, damit partiell freien und bewussten, aber auch der Zeit, Entwicklung und Reifung unterworfenen Wesen, also Geistkräften im zweiten, geschöpflichkreatürlichen Seinsrang aufgebaut wird, die teils miteinander und teils gegeneinander wirken und somit allerlei Kämpfe und Konflikte in das Weltgeschehen hineintragen. Zweitens wurde ermittelt, dass jene Welt vollkommener ist, in der der personale Geist, das Ich, selbst 150 Nicht von ungefähr bedeutet der Gottesname »El«, der oft in der jüdischen Bibel verwendet wird, unter anderem »Gott der Väter«, »Gott meines Vaters«; vgl. W. Eichrodt (1968, 111 f.).
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Das Leiden und die Ordnung der Wirklichkeit
erscheint, um von ihm immer mehr durchseelt und durchgeistigt zu werden, auch wenn »in der Tiefe«, »im Unbewussten« ein nie voll aktualisierbarer Rest an Geistentfaltung bestehen bleibt. In eminenter Weise eignet diese Aufgabe dem Menschen. Für dieses gewaltige Ziel ist ein hoher Preis zu zahlen und als frei zu übernehmendes Opfer zu erbringen: das »In-der-Welt-Sein« unter Hinnahme von Gottferne und Weltpreisgegebenheit, von Selbstverlust und Todverfallenheit und damit unter Hinnahme von zahllosen Übeln und Leiden. Gott hat die Welt nicht erschaffen müssen; auch hätte er eine tote, geistlose Welt hervorbringen können; und gewiss hätte er den Menschengeist nicht in die Welt hineinschicken müssen. So hätte er zwar das Leid vermieden, aber mehr noch hätte er dadurch die Möglichkeit der seelischen Verlebendigung und Durchgeistigung, mehr noch die Möglichkeit der inneren Durchgöttlichung und Vergöttlichung der Welt, wie sie im gottähnlich werdenden Menschen erstrebt und erreicht wird, verhindert. Da alles Leid vorläufig und übergänglich ist, jene Vergöttlichung aber, wenn sie gelingt, ewig nicht vergeht, sollte auf der Hand liegen, welche Welt die vollkommenere und welche die unvollkommenere ist.
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IV. Natur und Leiden: Die Verinnerlichung der Natur durch das Leiden im veräußerten Geist
4.1. Naturgeschehen und Kausalität; Zuständigkeit und Grenzen der Naturwissenschaft Alles tiefere Verstehen der Wirklichkeit hängt am Problem der Kausalität, denn so, wie der Mensch das Phänomen des Entstehens, Werdens und Vergehens deutet, so deutet er die letzten Quellen von Sein und Leben. Obwohl in den vorangegangenen Abschnitten diese Frage eingehend behandelt wurde, muss im Zusammenhang der Naturphilosophie des Leidens, der Frage also, wie das Leiden in das Naturganze zu stellen ist, auf die Kausalproblematik noch einmal rekurriert werden. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Voraussetzung, dass nicht nur menschliches Erleben, sondern auch die »objektive«, von der Wahrnehmung unabhängige Welt zeitlich verfasst ist. Wo dies geleugnet wird, da stellt sich in Bezug auf die Natur die Kausalfrage nicht, allerdings um den Preis, dass der Mensch außerhalb der Natur zu stehen kommt. Im anderen Fall bleibt das Problem, wie etwas, das erst nicht ist, dann ist, das also entsteht, den Übergang vom Nichts ins Sein leisten soll. Schon das Kleinkind wundert sich darüber und will hartnäckig wissen, woher und warum die Dinge entstehen. Die Frage ist nicht nur berechtigt, sie drängt sich geradezu auf und beweist auf diese Weise ein intuitives Wissen von der Nichtnotwendigkeit und »Zufälligkeit« (Kontingenz) allen werdenden Seins. Entstünde nämlich alles, was wird, notwendig, könnte demnach nicht nicht oder nicht anders sein und würde vom Menschen in diesem Nichtandersseinkönnen erfühlt oder erkannt, würden die Fragen »Woher?«, »Warum?«, »Wodurch?« und »Wozu?« nicht spontan aufkommen können, mithin wäre das Fragen selbst nicht-kontingent, sondern notwendig, nicht frei und verlöre sein Fragewesen. An diesem Punkt drängen sich zwei philosophische Grundgedanken auf, von denen der eine so alt ist wie das Denken des Menschen, der andere von D. Hume (1711–1776) in die Diskussion ge319 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
worfen wurde. Der erste Gedanke, gewissermaßen die »urkausale Einsicht«, besagt: Das, was entsteht, kann nicht von nichts kommen, sondern bedarf, um zu sein, eines zureichenden Grundes bzw. überhaupt eines anderen Seins, von dem her es entstehen kann. Oder anders: Das, was entsteht, kann sich nicht selbst erzeugen und damit sich »dem Sein nach« nicht selbst begründen, womit es über sich hinaus auf Anderes, durch das es ins Sein gesetzt wird, verweist. Würde es sich nämlich selbst erzeugen, müsste es da sein, bevor es überhaupt ist, was widersinnig ist; wäre es aber schon da, müsste es sich nicht mehr erzeugen – eine Selbstverursachung im Sinne der Selbsthervorbringung ist demnach selbstwidersprüchlich und damit sachlich unmöglich. 1 Entgegen D. Hume, 2 der meint, bei diesem Denkgesetz handele es sich um eine durch Gewohnheit entstandene und daher nur wahrscheinlich gültige Regel, besteht I. Kant 3 zu Recht darauf, dass es sich um ein notwendiges Vernunftgesetz handelt. Demgegenüber täuscht sich seinerseits I. Kant, wenn er dieses Kausalgesetz für apriorisch erkennbar hält und es zudem mit einer naturgesetzlich geregelten Aufeinanderfolge von Zuständen gleichsetzt. 4 Hier steht das Recht wieder auf der Seite von D. Hume, der erkannte, dass die bloße Sukzession – und geschehe sie auch nach einer Regel – noch kein Kausalverhältnis, sondern nur ein probabilistisches Konditionalverhältnis begründet. 5
Daher kann sich das Konzept der Autopoiesis nur auf die Selbstgestaltung und nicht auf die unmögliche Selbsthervorbringung beziehen, was zur Konsequenz hat, dass alle Selbstorganisationstheorien das Entscheidende im Naturgeschehen nicht erklären, die Tatsache nämlich, dass etwas entsteht. Vgl. E. Jantsch (1982). Die Theoreme, die das zu erklären versuchen, etwa die »Fulguration« (K. Lorenz) und die »Emergenz«, beschreiben nur, erklären aber nichts. 2 Vgl. D. Hume (1748, 7. Kap.). 3 Vgl. I. Kant (Werke, II, 2011, 23). 4 Selbstverständlich liegt dieses Denkgesetz als Struktur im Denken vor aller Erfahrung vor und gilt deswegen unabhängig von einer konkreten Erfahrung, doch kann es nur in oder nach der Erfahrung erkannt werden, eben dann, wenn die Erfahrung von etwas, das entsteht, gemacht wird. Ontologisch besteht und gilt es apriori, epistemologisch ist es nur aposteriori zugänglich und gilt dann empirisch und transempirisch. 5 Präziser gesagt, wird in einem Sukzessionsverhältnis der spätere Zustand durch den vorangehenden zwar bedingt (man könnte also von Konditionalkausalität sprechen), aber nicht im Sinne einer Effizienzkausalität durch ihn hervorgebracht, jedenfalls wäre das bestenfalls eine Hypothese und ließe sich rein naturwissenschaftlich nicht verifizieren. Philosophisch wurde oben in Abschnitt I. und II. gezeigt, dass es sich 1
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Naturgeschehen und Kausalität
Kurzum: Wie D. Hume richtig sieht, ist aus der Tatsache, dass eine Sache einer anderen, ein Zustand einem anderen folgt, nur die Sukzession abzulesen, etwa auch, dass die vorangehende Sache die folgende (partiell) bedingt und regelhaft mit ihr verbunden ist, aber nicht, dass die vorangehende die folgende (notwendig) verursache und hervorbringe. So behält D. Hume gegenüber I. Kant Recht, der diesen Gedanken ablehnt und an der Sukzessionskausalität oder transitiven Kausalität festhält, die meint, der zeitlich vorangehende Zustand (der ganzen materiellen Welt) sei die vollständige, also auch hervorbringende Ursache für den nachfolgenden Zustand (der ganzen materiellen Welt). Dass I. Kant hierin irrt, beweist schon die Tatsache, dass Kausalität ganz anders gedacht werden kann und historisch auch gedacht wurde, dass also die transitive Kausalität keineswegs – wie er meint – apriori evident ist, sondern bewiesen werden muss. Das unterlässt er und hält dies, weil es sich um ein metaphysisches Problem handelt, für unmöglich. Andererseits behält er gegenüber D. Hume insofern Recht, als die Kausalfrage keineswegs nur ein psychologisches Bedürfnis bzw. eine psychologische Gewohnheit zum Ausdruck bringt, sondern in der Sache selbst liegt: Wo etwas entsteht, da sagt die Vernunft nicht nur aus Gewohnheit, dass es dafür einen zureichenden Seinsgrund geben müsse, sondern aus der Notwendigkeit der Sachlage heraus. Die Frage ist nur, ob der zureichende, also hervorbringende Seinsgrund im zeitlich vorangehenden Zustand – evtl. auch in der gesamten vorangehenden empirischen Welt – liegt, wie I. Kant und wie die gesamte neuzeitliche Naturwissenschaft meinen, oder nicht. Wer kann diese Frage aufklären? Die Naturwissenschaft meinte, sie sei dafür zuständig. Genau das ist der entscheidende epistemologische Irrtum. Da alle empirische Wissenschaft auf Beobachtung, Deskription und Analyse beruht, kann sie nur konditionale und gesetzmäßige Zusammenhänge analysieren und erfassen. 6 So kann sie anders verhält: Das Frühere kann das Folgende nicht hervorbringen, nur bedingen und mit ihm in gesetzlichen Verhältnissen stehen. 6 Diese Einsicht, dass die Naturwissenschaft nur konditional-gesetzliche Verhältnisse, nicht aber Ursache-Wirkungszusammenhänge erfasst, drückt sich im HempelOppenheim-Modell aus. Schon G. Berkeley, D. Hume und E. Mach, später B. Russell u. a. erkannten diesen Fehlschluss der Naturwissenschaft, der bei vielen Philosophen zu finden ist, die den transeunten Kausalbegriff ungeprüft voraussetzen. Vgl. dazu die differenzierte Kritik H. Schnädelbachs (2013, 143 ff.).
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Natur und Leiden
z. B. feststellen, dass ein Apfel vom Baum fällt, dass es dafür gewisse Vorbedingungen gab, etwa die Reifung der Frucht, die Jahreszeit, den Windeinfluss usw., und dass der Bewegungsablauf in bestimmter, konstanter und wiederholbarer Weise, also gesetzmäßig erfolgt. Keineswegs kann die Naturwissenschaft die Fragen beantworten, warum überhaupt der Apfel fällt und warum das Gesetz, das sich als Gravitationsgesetz beschreiben lässt, überhaupt gilt und so gilt, wie es gilt. Mehr noch, sie kann nicht einmal erweisen, dass das Gesetz notwendig und allgemein gilt, sondern kann nur hypothetisch annehmen, dass es überall im Universum anzutreffen ist. Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, heißt das keineswegs, das müsse notwendig so sein. I. Kant glaubte dies, führte es allerdings auf die menschlichen Denkformen zurück, meinte also, die Vernunft müsse das notwendig so denken, gleichgültig wie es sich in der objektiven Realität verhalte. Das ist keineswegs der Fall, denn man kann sehr wohl denken, dass die Naturgesetze nur frei gewählte oder willkürlich oder zufällig entstandene Regeln sind, die nicht gelten oder ganz anders beschaffen sein könnten. Damit ist klar, dass die Naturwissenschaft wesenhaft nicht in der Lage ist, die Kausalfrage zu klären: Wer oder was dasjenige, was entsteht, hervorbringt, kann sie naturgemäß nicht feststellen, sie kann nur beschreiben, worin dies geschieht, das heißt unter welchen empirischen Bedingungen (causa conditionalis), und wie, das heißt nach welchen empirischen Gesetzmäßigkeiten (causa regularis). 7 Um das noch klarer zu machen, sei dies an einem Beispiel veranschaulicht: Man nehme an, zwei Kugeln lägen auf einem Billardtisch, von denen die eine so in Bewegung gesetzt wird, dass sie auf die andere, ruhende zuläuft und diese schließlich in einer Weise trifft, dass Letztere in Bewegung gerät. Die Physik kann beschreiben, was hier vorgegangen ist: Sowohl die empirischen Bedingungen als auch die Gesetzmäßigkeit, also das Worin und das Wie des Vorgangs kann sie aufzeigen. Aber kann sie die Frage beantworten, woher der beIn entsprechender Weise definiert C. F. v. Weizsäcker (1954, 55) konsequent: »Kausale Erklärung ist Verknüpfung der Vorgänge durch mathematische Naturgesetze […] Als Naturgesetz bezeichnen wir eine Struktur des Geschehens, die unter gegebenen Bedingungen immer und überall auftritt.« Damit ist klar, dass die Kausalität der Physiker nur die konditionale und die naturgesetzliche Kausalität meint, also das Worin und Wie eines Geschehens angibt und nicht das wirkende Warum aufklärt. Das kann sie auch nicht, da die wirkende, echt hervorbringende Ursache nicht im Felde der empirischen Beobachtung liegt.
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wegende Impuls letztlich kam und wie der Übergang des Bewegungsimpulses von der einen auf die andere Kugel erfolgte? Kann sie entscheiden, ob die erste Kugel ihren Impuls auf die zweite übertrug oder die zweite den Impuls von der ersten übernahm oder ob beides zugleich stattfand oder nichts davon, sondern eine andere, bislang nicht feststellbare Instanz den Impulsübertrag bewerkstelligte? Sie kann hier offensichtlich keine Entscheidung fällen, da die Art und Weise des Impulsübertrages empirisch nicht darstellbar ist. Sie kann nur sagen: Wenn die eine Kugel die andere anstößt, bewegt sich Letztere so und so weiter – das ist aber nur ein Konditional-, kein Kausalzusammenhang! Dass überhaupt ein Impuls entsteht, dass er übertragen wird und letztlich wie, kann sie nicht aufklären, das bleibt dunkel und ist empirisch nicht entscheidbar. Damit ist klar, dass sie über die »wahre Ursache«, also über den impulshervorbringenden und -übertragenden Grund nichts sagen kann. Die Naturwissenschaft ist dafür nicht geeignet und hat sich hier unwissenderweise eine Kompetenz angemaßt, die ihr nicht zusteht. 8 Aus der bisherigen philosophischen Kausalanalyse erhellt, dass die hervorbringende oder generative Ursache von etwas, das entsteht, unmöglich die zeitlich frühere Wirklichkeitskonstellation sein kann. Der Grund war, dass bei entsprechender Annahme die Möglichkeit einer anfangslosen Wechselreihe (regressio in infinitum) impliziert ist. Da eine solche als denk- und seinsunmöglich festgestellt wurde, kann die Kausalität transitiv-sukzessiv nicht erfolgen oder anders: Die Ursache kann weder ganz noch teilweise in ihre Wirkung übergehen, sondern befindet sich gegenüber ihrer Wirkung in einem prinzipiell anderen Seinsrang. Danach ist die Ursache niemals nur endlich möglich, sondern entweder mindestens potentialunendlich, also zwar zeitlich wirkend, aber unerschöpflich, überendlich, jedoch nicht aktualunendlich oder sie ist aktualunendlich-zeitlos. Andere als diese zwei Klassen von Ursachen, »Kräften« bzw. Wirkgründen sind nicht möglich, woraus folgt, dass die realen Wirkgründe der Natur nicht endliche Energien oder Konstellationen, erst recht nicht bloße Bedingungen und Gesetze, sondern als schaffende Kräfte schöpferische, freie, geistige und damit empirisch verborgene und unzugängliche Wesenheiten sind. Nur im Falle des eigenen Ichs ist der menschSiehe N. Hartmann (1933, 310): »Denn hier liegt die Grenze des Mathematischen. Keine Naturwissenschaft kann sagen, was Raum oder Zeit ist, was Energie, was Wirken und Bewirktwerden ist.«
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Natur und Leiden
lichen Wahrnehmung eine real wirkende, schaffende und echt hervorbringende Ursache direkt – nämlich im Selbsterleben – zugänglich, im Falle der Natur sind die entsprechenden Wirkkräfte aus dem empirischen Wirkungszusammenhang entweder ausdruckshaft zu »erschauen« oder nur logisch zu erschließen. 9 Und da wurde deutlich, dass diese Wirkkräfte naturwirksame, durchsetzungsfähige und machtvolle Wesenheiten, sprich geistig-kraftvoller Art sein müssen, die den Kosmos als ihr Werk sukzessive aufbauen, umbauen und abbauen. Wie sie das tun, mit welchem Sinn und zu welchem Zweck, kann nur mehr empirisch aus dem realen Naturaufbau erkannt werden – darauf soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden.
4.2. Das gebrochene Weltbild der Neuzeit 10 Wenn man die europäische Neuzeit den Epochen des Mittelalters und des Altertums gegenüberstellt, dann fällt als bezeichnendes Charakteristikum die fundamentale Verschiedenheit ihrer Weltanschauungen auf: Während das Weltbild von Mittelalter und Altertum insgesamt einheitlich ist, zerfällt das Weltbild der Neuzeit in zwei anscheinend unvereinbare Teile. Auf der einen Seite steht das zwar naive, aber nicht auszulöschende Weltbild des Alltagsmenschen, das selbst der kritische Wissenschaftler, wenn er mit seiner sinnlichen Lebenswelt praktisch umgeht, als gegeben hinnimmt. Diese Welt ist bewegt, bunt, farbig, tönt, duftet, schmeckt, ist leicht und schwer, hart und weich, hell und dunkel, hat lebendige, ausdrucksvolle Gestalten, wird von sinnreichen Zusammenhängen durchzogen und offenbart immer neues Leben, scheint endlos schöpferisch zu sein und lebt aus dem leib-seelischen und geistigen Austausch. Auf der anderen Seite hat sich die neuzeitliche Wissenschaft ein Bild von der Welt Was da vom Menschen erlebt wird, eben sein Kraft- und Wirkwesen, kann nur als selbständig, d. h. substanzial, gedacht werden. Insofern wird hier und einzig hier ein »Ding an sich« im Kantischen Sinne erfahrbar. Oder anders: Phänomen und Ding an sich sind in diesem Falle identisch. 10 Zum Thema vgl. die bedeutsamen Aufsätze von A. Portmann (1964, 7–47: »Welterleben und Weltwissen«), sowie ders. (1964, 51–66: »Naturauffassung und Menschenbild«); vgl. B. v. Brandenstein (1957, 127–132: »Die zwei Bilder der Außenwelt und ihre sachliche Wohlverbundenheit«. In: »Vom Sinn der Philosophie und ihrer Geschichte«), sowie ders. (1976, 92–96: »Das Problem der Sinnesqualitäten«. In: »Logik und Ontologie«). 9
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Das gebrochene Weltbild der Neuzeit
gemacht, in dem alles farblos und grau, stumm und tonlos, ohne Sinn und Zweck, ein fast gespenstisch anmutender gigantischer Energiestrom ist, der durch Naturgesetze, die mathematisch fassbar und formulierbar sind – angeblich wie ein Uhrwerk, wie eine Maschine oder/ und wie ein Zufallsgenerator –, in eherne Bahnen gezwungen wird, die keine Rücksicht auf den Menschen nehmen und ihm das Gefühl der Verlorenheit und unheimlichen Fremdheit in einem kalten, wüsten und sinnlosen All vermitteln. Neuzeitliche Denker von B. Pascal über die französischen Materialisten, F. Nietzsche, B. Russell, A. Camus, J. Monod, J.-P. Sartre, M. Heidegger, H. Blumenberg und H. Jonas bringen dieses »nihilistische« Lebensgefühl beredt zum Ausdruck. 11 Das Aufkommen dieses Dualismus zweier anscheinend disparater Weltbilder war kultur- und wissenschaftsgeschichtlich unvermeidlich und verdankt sich der Energetisierung und Mathematisierung, also der Verwissenschaftlichung der neuzeitlichen Weltauffassung. Möglich wurde dies, weil einerseits die Welt ein dynamisches und zugleich mathematisch hochstrukturiertes, keineswegs ein – wie noch Antike und Mittelalter dachten – statisches Gebilde ist, zum anderen, weil der menschliche Geist im Unterschied zum tierischen Bewusstsein abstrahieren, verallgemeinern, induzieren und deduzieren kann und damit in der Lage ist, mathematische Strukturen aus der Welt herauszusehen, von der Welt zu trennen und für sich selbst, also unabhängig von weiterer Erfahrung zu behandeln. 12 Die praktische Anwendbarkeit der so gewonnenen abstrakten Erkenntnisse erwies sich als so erfolgreich, dass erstens die Idee aufkam, der Mensch könne die Natur vollständig beherrschen, und zweitens der Drang entstand, das alltäglich-lebensweltliche Weltbild der »bunten, gestalten- und sinnreichen Sinne« als bloß subjektive und wissenschaftlich belanglose Erscheinung in den Hintergrund zu schieben. Da aber die sinnliche Welt nie ganz auszuschalten ist, denn niemand lebt in einer rein mathematischen Welt, standen Naturwissenschaft und Philosophie vor einem Problem, das sie bis heute nicht zu lösen vermochten H. Blumenberg (1988) und H. Jonas (1997, 345–372) arbeiten die kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergründe dieser Epochenwende, einerseits die kosmisch-religiösen Verlusterfahrungen an antiker und mittelalterlicher Geborgenheit und (autoritäter) Sinnstiftung, andererseits den Leib-Seele- und Geist-Welt-Dualismus des mechanistischen Weltbildes der Neuzeit heraus. 12 Im erkenntnistheoretischen Abschnitt sprach ich unter 1.12.5 vom »sekundären Apriori«. 11
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und das ein geistiges Skandalon darstellt, das ein peinliches intellektuelles Unvermögen des neuzeitlichen Menschen offenbart und ein tief wühlendes Unbehagen erzeugt. 13 Betrachtet man die klassischen modernen Lösungsversuche, etwa die von J. Locke und I. Kant, so imponiert eine große Hilflosigkeit und Künstlichkeit gegenüber dem Problem. J. Locke führte die in der Renaissance einsetzende Spaltung der Weltbilder weiter und fixierte sie, indem er die mathematische Seite der Wirklichkeit als primäre Welteigenschaften bezeichnete und der objektiven Naturwirklichkeit zusprach und die sinnliche Seite der Naturerfahrung als sekundäre Qualitäten bezeichnete und dem Subjekt und seiner »inneren Subjektivität« zuschob. 14 Noch weiter ging I. Kant, der auch die primären Qualitäten, also die mathematischen und logischen Seiten der Wirklichkeit – in seiner Begrifflichkeit die Formen der Anschauung, Raum und Zeit, außerdem die Kategorien des Verstandes (vor allem Substanzialität und Kausalität) – ganz von der Naturwirklichkeit trennte, allein dem »transzendentalen« Subjekt zuordnete und die »Außenwelt«, also die reale Naturwirklichkeit für unerkennbar erklärte. Hier war alles, was von der Natur gewusst werden kann, »subjektive Konstruktion« geworden, ein Prozess, der von J. G. Fichte (1762–1814) konsequent zu Ende geführt wurde, indem er sagte: Wenn das »Ding an sich« und damit die reale Welt, wie I. Kant meint, unerkennbar ist, dann kann man auch nicht wissen, dass es existiert – und also lässt man dieses »Ding an sich selbst« am besten fallen. 15 Und in der Tat ist I. Kants Position selbstwidersprüchlich, lehrt er doch, dass das Ding an sich die Sinne affiziere und die Sinnesqualitäten, allerdings auf rätselhafte Weise, verursache – und also lehrt er, dass das Ding an sich immerhin in seiner prinzipiellen Existenz und des Weiteren in seiner Affizierungskausalität erkennbar sei. Dann dürfte er es aber nicht für unerkennbar erklären. So aber wurden Natur und Welt zu gespenstisch-unheimlichen, im Menschen eine psychotische Weltangst auslösenden Schemen. Warum I. Kant den Weg J. G. Fichtes nicht mitging, liegt auf der Hand: Als Realist war er zu nüchtern, um einen so radikal idealistiVgl. »Das Unbehagen in der Modernität« von L. B. Berger (1987) und das berühmte Buch S. Freuds (1970: »Das Unbehagen in der Kultur«). 14 Die Ebene dieser »inneren Subjektivität« ist bei J. Locke wohl das Bewusstsein. Es ist aber auch möglich, die Sinnesqualitäten, wie das T. Fuchs (2017, 50–59) tut, als Produkt des Leibes zu deuten. 15 Vgl. J. G. Fichte (1979, 198). 13
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Das gebrochene Weltbild der Neuzeit
schen, letztendlich solipsistischen Weg zu beschreiten. Wenn es nämlich wirklich zuträfe, dass mein Ich – allerdings nicht das empirische, sondern das transzendental-unbewusste – die ganze sinnliche Welt in mente erzeugen würde, dann gäbe es außer mir nichts, ich wäre in mir eingeschlossen und mit mir selbst allein. Kommunikation mit Anderen wäre nicht nur nicht möglich, sondern überflüssig. Ich wäre der Schöpfer der ganzen, so ungeheuer reichen und tief geordneten, aber auch rätselhaften und undurchschaubaren Welt. Wenn heutige Neurobiologen wieder solch einen radikalen Konstruktivismus predigen, merken sie nicht, in welches Dilemma sie geraten: in den Widersinn des ontologischen Idealismus bzw. des erkenntnistheoretischen Solipsismus (solus ipse = das Selbst allein), der zugleich Intersubjektivität ausschließt und beansprucht. Wer aber hat nun Recht: J. Locke oder I. Kant oder keiner von beiden? Das erste, was festzuhalten ist, ist das sinnliche Wahrnehmungszeugnis in seiner unmittelbaren, sich aufdrängenden Phänomenalität selbst: Dieses spricht von einer selbständigen, »objektiven« bzw. intersubjektiven Welt mit objektiven, an den Dingen selbst bestehenden Eigenschaften, etwa den Sinnesqualitäten, den räumlich-zeitlichmengenhaften Gestaltaspekten, den Bewegungsenergien und den sachlogischen Zusammenhangsstrukturen. Diesem Zeugnis gemäß erlebt der Mensch die physische Welt als farbig, duftig, schwer, leicht, tönend, schmeckend, als bewegt und geordnet, auch sinnesqualitativ hochgeordnet, weiter als zeiträumlich strukturiert und von begrifflich erfassbaren, formhaften Wesenszusammenhängen durchzogen, so dass sie technisch und praktisch erfolgreich behandelt und bewältigt werden kann. Damit zusammenhängend, ist zweitens anzumerken: So autonom die Mathematisierung der Welt sein mag, sie geht stets von der sinnlichen Welt aus, setzt diese voraus und bezieht sich, wenn sie praktisch wird, wie etwa in Experiment und Technik, auf diese sinnlich-sinnreiche Welt zurück. Niemals kann sie sich davon lösen, und jeder Versuch, das zu tun, muss scheitern. 16 Drittens ist zu sagen, dass der Mensch die mathematischen Ausgangsdaten, vor allem die Naturgesetze mittels der Sinneswahrnehmung aus der sinnlich-realen Welt und keineswegs rein apriorisch gewinnt. I. Kants Behauptung, die Naturgesetze seien letztlich aprioSo lautet die Hauptargumentation bei E. Husserl (1977, EA 1935) in seiner späten »Krisis-Schrift«.
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Natur und Leiden
rische Produkte des Geistes, ist schon rein empirisch nicht zu halten. Wohl kann der Forscher, wenn er die mathematisch-quantitative Seite von der sinnlichen Seite der Wirklichkeit abgelesen hat, selbige Seite unabhängig von der Empirie weiter behandeln und gleichsam sekundär-apriorisch nach rein mathematisch immanenten Regeln kombinieren und konstruieren, doch zum einen kann er das nicht primär, zum anderen muss er die von der Naturwirklichkeit abgenommenen und dann unabhängig konstruierten Mathematisierungen, um ihren Wahrheitsgehalt bezüglich der physikalischen Gegebenheiten zu bestimmen, wieder an die sinnlich-reale Welt zurückbinden und dort überprüfen. Ein primäres Erkenntnis-Apriori der Naturgesetze, wie es I. Kant für möglich hielt, ist eine Fiktion. Viertens beweist eine unvoreingenommene Phänomenologie der sinnlichen Erfahrung, dass die mathematisch-logisch-energetischen Seiten der Naturwirklichkeit keineswegs, wie J. Locke meint, primär sind, sondern mit und an den sinnlichen Qualitäten erscheinen. Primär sind also, wenigstens phänomenologisch, die Sinnesqualitäten, sie geben der Wahrnehmung z. B. die geometrischen und zeitlichen Aspekte der empirischen Wirklichkeit: Verschwinden die Sinnesqualitäten bzw. sind nicht verfügbar wie etwa bei einem blind Geborenen die Farben, so verschwinden auch alle daran »hängenden« mathematisch-logischen Zusammenhänge. Es sind demnach die Sinnesqualitäten, die der Wahrnehmung die mathematisch-quantitative Seite der Wirklichkeit vermitteln; sie sind »primär«. Damit fällt fünftens die Theorie, wonach im Wahrnehmungsprozess die »primären Qualitäten« der quantitativen Naturbestimmungen angeblich durch irgendeinen rätselhaften, bisher nicht gefundenen Apparat, etwa im Nervensystem, in die sekundären Qualitäten der Sinne (Farben, Töne, Düfte etc.) transformiert würden. Es ist unverständlich, wie das gehen soll, da jener rätselhafte Apparat gemäß der Voraussetzung selbst ein Gebilde der Natur und damit ausschließlich mathematisch-energetisch strukturiert wäre. Wie aber soll rein Mathematisch-Energetisches all die vielen Farben, Töne etc. hervorbringen? Und wie soll jener Apparat in unglaublich feiner und stabiler Weise Mathematisches und Sinnesqualitatives einander zuordnen, so streng und zuverlässig, dass der Mensch praktisch erfolgreich in die Welt eingreift und sie gestalten kann, z. B. dadurch, dass eine Rakete auf den Mond geschossen wird? Da dieser Apparat nur als Teil des Zentralnervensystems gedacht werden kann, wäre er außerdem dem Alterungsprozess unterworfen und müsste Instabilitäten in 328 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das gebrochene Weltbild der Neuzeit
jener Zuordnung von Quantität und Qualität aufweisen. Das ist aber nicht der Fall. Zur wissenschaftstheoretischen Infragestellung dieses Theorems genügt es, dass dieser Transformationsapparat bisher nie gefunden wurde und Qualität und Quantität immer zusammen und ineins auftreten. Kurzum: Die mathematische Welt wird durch den Leib nicht in die sinnliche Welt transformiert, sondern sie wird mit dieser mitgegeben, beide Welten bilden demnach eine innigste Einheit, so dass man sagen darf: Es gibt keine sinnlichen Qualitäten ohne Raumzeitstrukturen, und es gibt keine Raumzeitstrukturen ohne sinnliche Qualitäten. Eine Farbe ist mindestens zweidimensional ausgedehnt, ein Ton zeitlich-eindimensional, eine Druckempfindung zugleich dynamisch-zeitlich und dreidimensional bestimmt. Umgekehrt gibt es keine unsinnliche Räumlichkeit oder Zeitlichkeit, jedenfalls primär nicht, sondern zuerst sind auch sie sinnlich »durchtränkt«, sind etwa farbig ausgedehnt und klingen in der Zeit. Sechstens wird behauptet, die sinnlichen Qualitäten seien rein subjektiv und unterlägen der Irrtumsmöglichkeit, während die mathematischen Qualitäten wie Bewegung, Energie, Raum, Zeit, Zahlenmäßigkeit objektiv und irrtumsfrei seien. Das ist nachweislich falsch. Sinnestäuschungen gibt es in beiden Bereichen, und objektiv sind beide insofern, als sie als Eigenschaften der realen Welt erscheinen, wie sie beide insofern subjektiv sind, als sie vom wahrnehmenden Subjekt aktiv aufgenommen und nachgestaltet werden. Die Lockesche Trennung erweist sich, da sie auf ungenauer Beobachtung und inkonsequenter Schlussfolgerung beruht, als künstlich und unhaltbar. Entweder man macht es wie I. Kant und J. G. Fichte und reduziert die gesamte Weltwahrnehmung mit allen ihren sinnlichen, energetischen, logischen und mathematischen Aspekten auf die spontane Produktivität des Subjektes (mit der Folge des ontologischen Idealismus und erkenntnistheoretischen Solipsismus), so dass von der Welt nichts mehr übrig bleibt, auch kein unerkennbares Ding an sich, oder man vertraut der lebensweltlichen Weltwahrnehmung und gibt zu, dass sie realitätsverbunden, damit auch praxisrelevant ist und wenigstens in Annäherung ein ganzheitliches und differenziertes Bild von der Natur widerspiegelt, ein Bild, zu dem die Sinnesqualitäten, die Energiequanten, die logischen Beziehungsgefüge und die mathematischen, also geometrisch-räumlichen, arithmetischen und zeitlich-rhythmischen Aspekte gehören. Tut man dies – wie neuerdings M. Gabriel mit seinem »neuen 329 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
Realismus« –, fällt siebtens das lebensspaltende, bei R. Descartes klassisch formulierte Diktum, wonach die sinnliche Erscheinungswelt subjektiv, innerlich (seelisch) und sinnhaft, die reale Welt objektiv, äußerlich und sinnlos (mechanisch) sei. Diese Behauptung ist unbegründet und scheitert an der Einsicht, dass die Welt, selbst wenn sie nur aus Energien und mathematischen Strukturen bestünde, im höchsten Grade geordnet, also geistig und damit sinnhaft gestaltet ist. Gehören doch gerade die mathematischen Bestimmungen der Wirklichkeit, wie Pythagoras und Platon sahen, zu den sinntiefsten und sinnreichsten Strukturen des Seins. Man bedenke in dieser Hinsicht nur den ungeheuer intelligenten, komplexen, sinnvollen und elegantschönen Aufbau des Atomkerns mit seinen Quarks und Gluonen, um zu begreifen, wie absurd es ist, diesen Aufbau als sinn- und geistlos zu bezeichnen. Wäre all dies sinnlos, fragte sich, wie das offensichtlich sinnverbundene Wahrnehmen und Denken des Menschen solche Strukturen und Zusammenhänge überhaupt erkennen und darauf die eigene Wissenschafts- und Kulturwelt aufbauen kann? Dass der Mensch von der Welt wissen kann, vor allem, dass er in der Welt handeln und sich mittels der Weltdinge wie über ein Medium kommunikativ austauschen kann, setzt logisch notwendig voraus, dass das Wahrnehmen und Denken, vor allem in Form des Ausdrucksverhaltens und der Sprache mit der Weltstruktur kompatibel ist, also philosophisch gesprochen, wie etwa N. Hartmann und B. v. Brandenstein betonen, unter denselben logisch-ontologischen Grundkategorien steht. Weder richtet sich das Denken nur nach den Dingen, wie die Sensualisten und Positivisten meinen, noch richten sich die Dinge nur nach dem Denken, wie I. Kant, alle Konstruktivisten und Idealisten meinen, sondern beide – Wahrnehmen, Denken und Welt – teilen dieselben Grundstrukturen des Seins, seine qualitative Bestimmtheit und Fülle, seine Zeitlichkeit und Räumlichkeit, seine Quantifizierbarkeit, die logische Kohärenz und Konsistenz und seine dynamische, auf agierende Kräfte weisende, von Energien ermöglichte Bewegtheit. Anders wäre eine Begegnung von Denken und Welt und wäre damit Kommunikation von Denken zu Denken unmöglich. Hier liegt denn auch die große Berechtigung des Pragmatismus. Die Spaltung der Welt in eine subjektiv-sinnliche und in eine objektiv-räumlich-zeitlich-energetische Halbwelt geht demnach nicht an. So wie die subjektive Erscheinungswelt raum-zeitlich strukturiert ist, so ist anzunehmen, dass auch die objektiv-reale Welt qualitativ bestimmt ist. Wenn man, wie heute üblich, die Kausierung der 330 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das gebrochene Weltbild der Neuzeit
Sinnesqualitäten dem Leib bzw. dem Gehirn zuordnet, gewinnt man nichts gegenüber dem Wahrnehmungserlebnis, das besagt, dass die objektive Welt auch qualitativ, also etwa farbig etc. mitbestimmt ist. 17 Im Gegenteil, die Sachlage kompliziert sich bis zum Widersinn, da man gezwungen ist, einen letztlich physischen und damit nur quantitativ-energetisch bestimmten Apparat anzunehmen, der auf geheimnisvolle Weise Qualia hervorbringt. Hat man durch eine ontologische Analyse – vor allem des qualitativen Seins – erkannt, dass alle Wirklichkeit aus qualitativen, formal-logischen und mathematischen Aspekten komponiert ist, erhellt, dass die objektiv physische Realität nicht qualitätslos sein kann. Denn wo nichts ist, was räumlich und zeitlich ausgedehnt ist, da sind auch kein Raum und keine Zeit. Man braucht also einen Gehalt, eine Qualität, die Raum und Zeit füllt. Was eignet sich dazu besser als das Qualitative, das in der Sinneswahrnehmung an den Dingen als Qualia erlebt wird, verbunden mit den qualitativen Energien des Weltalls, die durch reale physische Wechselwirkung, sei es im Welthandeln, sei es im Experiment, erfahren werden? Dies bedeutet jedoch nicht, dass in der Sinneswahrnehmung die Welt nur passiv und 1 zu 1 abgebildet wird. Zweifellos gestalten Organismus und Psyche die Wahrnehmung aktiv mit, und zweifellos greifen sie zuweilen »plastizierend« ein, etwa, wenn der optische Wahrnehmungsapparat in einer Zimmerecke eine schattige Kante produziert, die physikalisch erweisbar dort nicht besteht, oder zwei parallele Eisenbahnlinien aufeinanderzulaufen sieht oder die Angst eines Kindes im Wald bedrohliche Gestalten wahrnimmt. Aber gerade die scheinbar willkürlich-subjektive Aktivität des ersten Beispiels beweist die Existenz einer selbständigen und qualitativ bestimmten Welt. Denn diese »Sinnestäuschung«, die der optische Apparat produziert, hat insofern einen tieferen Sinn, als sie die bessere OrientieWäre der Leib die Primärursache der weltbezogenen Sinnesqualitäten (Farben, Töne, Düfte etc.), würde das Wahrnehmungserlebnis erstens »ganz unphänomenologisch« und ohne Grund als Täuschung abgestempelt, eben weil dies von der »Weltständigkeit« bzw. der Objektivität der Sinnesqualitäten spricht; zweitens würde eine sinnliche Realität, die der Leib in sich als Empfindniseinheit ist, zur Ursache von Sinnesqualitäten, was in einen selbstwidersprüchlichen Regressus in infinitum führt; und drittens müsste angenommen werden, dass der Leib, der selbst auch ein »physisches Ding der Welt« ist, die unterstelltermaßen völlig qualitätslose Realität in nicht nur leibliche, sondern auch bewusstseinsmäßig erlebbare Qualitäten wie Farben etc. umsetzt, was einer »Zauberei« gleichkommt und nur ein Rätsel durch ein anderes ersetzt.
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Natur und Leiden
rung des Organismus im Raum ermöglicht bzw., wie im zweiten Beispiel, Raumerfahrung überhaupt möglich macht. Wie sollte das aber gelingen, wenn es entweder keine selbständige physische Wirklichkeit gäbe oder eine physische Wirklichkeit ohne Raum- und Zeitbestimmung oder eine Realität, die nur aus reiner Geometrie bestünde und weder Kanten noch Farben noch Schatten aufwiese? Wäre dem so und hätte J. Locke mit seinem Subjektivismus der Sinnesqualitäten Recht, fiele dieses Diktum auch auf den Leib zurück, der doch wohl ein »Weltding« ist, und machte aus ihm ein qualitätsloses, also farbloses, tonloses, letztlich »fleischloses« mathematisches Raumgebilde. Die Menschen befänden sich dann in einer qualitativen Scheinwelt und kommunizierten, was direkt selbstwidersprüchlich ist, über eine rein quantitative, qualitätslos-sinnlose Raumzeitwirklichkeit ihre qualitativen und sinnbestimmten Innenwelten, von denen man gleichzeitig annimmt, sie seien die sinnreichen Produkte der sinnlosen Energien und Naturgesetze. Das mutet nicht sehr konsistent und kohärent an und muss vor dem Gerichtshof der Vernunft als »theoretische Chimäre« verworfen werden. Die Neuzeit hat das Weltbild außerordentlich bereichert, präzisiert und vertieft; sie hat sich von autoritären Sinnvorgaben befreit und hat vor allem die Menschenwürde entdeckt. Sie hat das Weltbild aber auch gespalten, und bis zum heutigen Tag gelingt ihr nicht die heilsame Synthese. Recht betrachtet, lässt sich das Sein der Welt nicht als fundamental gespalten, disparat und inkompatibel denken, eine solche Philosophie, die im Rahmen der Naturwissenschaft einen Wahrheitsanspruch hegt, hebt sich selbst auf. Die Welt ist eine Einheit, umfänglich wie strukturell, und der Mensch fällt aus ihr nicht prinzipiell heraus, auch nicht mit seinem Selbstbewusstsein, seinem Denken und seinem Leib. Im Gegenteil entwickelt er sowohl seine leiblichen als auch seine geistigen Fähigkeiten in der Welt und bildet sie in Wechselwirkung und Auseinandersetzung mit der Welt aus. Dieser Gedanke, den heute mit Nachdruck die Naturalisten der biologischen Erkenntnistheorie vertreten, ergibt nur Sinn, wenn eine »Berührung« zwischen Erleben und Welt, Denken und Natur möglich ist, eine Berührung, die impliziert, dass die Grundstrukturen beider Bereiche kompatibel sind und »ausgetauscht« werden können, und zwar nicht nur die mathematischen Eigenschaften, sondern auch die qualitativen, logischen und dynamisch-energetischen. 18 Mehr 18
Vgl. etwa R. Riedl (1987).
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Das Problem des Seelisch-Geistigen
noch: Wie eine neue realistische Metaphysik zeigen kann, befinden sich Mensch und Welt in einem gemeinsamen Sinnhorizont, der die Fremdheiten, Bedrohungen und Brüche zwar nicht zum Verschwinden bringt, aber auf eine höhere Sinnebene hebt, wo sie fruchtbar gemacht werden können. Wären beide Welten ontologisch bzw. seinsstrukturell völlig disparat, wie R. Descartes, J. Locke und I. Kant meinen, hätten sie sich nicht mit- und aneinander entwickeln und nicht aufeinander so fein – bei allen sonstigen Diskrepanzen – abstimmen können, wie sie es tun, und der Mensch wäre ein sehender Blindgänger in einer Welt, die diesen Sehenden blind hervorbrachte.
4.3. Das Problem des Seelisch-Geistigen und das Leiden in der vormenschlichen Natur »Es wäre denkbar, dass die Natur das Erzeugnis eines unbegreiflichen Einverständnisses unendlich verschiedener Wesen ist, das wunderbare Band der Geisterwelt, der Vereinigungs- und Berührungspunkt unzähliger Wesen.« (Novalis 1983, 40)
Die moderne Naturwissenschaft, einschließlich der Biologie, betrachtet das Naturgeschehen wesentlich von außen und führt die reiche Gestaltenbildung anorganischer und organischer Prozesse auf Zufall und Gesetz, im Fall der Organismen auf Mutation und Selektion zurück. 19 Innere gestaltbildende oder geistige Faktoren lehnt sie als unund vorwissenschaftlich ab. Dagegen spricht jedoch nicht nur der Augenschein, dagegen spricht auch eine tiefere Besinnung auf die Frage,
Eine Ausnahme bildet der Biologe A. Weber (2007), der in seinem Buch »Alles fühlt« den Seelenausdruck, das Empfinden und die Gegenseitigkeit alles Lebendigen in der direkten intuitiven Begegnung mit dem Lebendigen, aber auch wissenschaftlich diskursiv zu begründen sucht. Er stützt sich dabei u. a. auf das von L. Margulis entdeckte, in der Natur weit verbreitete Phänomen der Lebenssymbiose verschiedener Arten. Metaphysisch betrachtet, vertritt er eine Art modernen Aristotelismus, der den Grund bzw. die Ursache eines Lebewesens nicht in äußerem Zufall und starrer Mechanik, sondern in einem immanenten schöpferischen Prinzip sieht, das den Organismus – ja alle Naturgebilde – von innen heraus belebt und entfaltet: »Ökosysteme sind Liebesprozesse«. G. W. Leibniz und F. W. J. Schelling hatten eine ähnliche Naturphilosophie vertreten.
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Natur und Leiden
was Zufall und Gesetz ihrem Wesen nach sind und was sie zu leisten vermögen. Die Klärung der Kausalitätsproblematik zeigte, dass Gesetze zur Erklärung der Seinsdynamik und Seinsordnung nicht hinreichen; und dass am Ende der Zufall all dies leisten soll, mutet auf den ersten Blick unglaubwürdig an. Darauf komme ich in den nächsten Kapiteln zurück. Gegen das moderne, letztlich mechanistische Bild von der Natur sprechen die luzide Ordnung, der Phantasiereichtum, der seelische Ausdruck, die mentalen Vorgänge und die intersubjektive Kommunikation, die schon bei vormenschlichen Lebewesen beobachtet werden können, nicht zuletzt der Ausdruck von Affekten und Gefühlen – von Schmerz und Lust, Angst und Mut, Trauer und Freude, Qual, Sehnsucht, Ärger, Neid, Hilflosigkeit, Scham und Verzweiflung. Die gesamte Bandbreite des Leidens deutet sich hier an. 20 Wenn die Wesensanalyse des Leidens, wie bisher entwickelt, zutrifft, dann impliziert das vormenschliche Ausdrucksgeschehen notwendig die volle Existenz eines Subjektes, also eines selbsttätigen Prinzips im zweiten Seinsrang. Da sich im Tier die Subjektivität nicht bis zur Selbstreflexion erhebt bzw. – etwa bei Schimpansen und Rabenvögeln – nur andeutet, wird den Lebewesen von der Wissenschaft das Subjektsein im vollen Sinne eher abgesprochen. Man hält sie für unreflektierte und unfreie Exemplare ihrer Gattung. Wie aber soll man sich ein subjektives, d. h. selbsttätiges, Prinzip denken, das unfrei und ohne Selbstbezug ist? Das ist erweisbar inkonsistent, weswegen sich die Frage, wie das Seelische im Tier zu denken sei, erneut aufdrängt und eine andere als die klassische Lösung verlangt. Die Psyche des Tieres nur als »halbe oder bewusstlose Subjektivität«, »Psychoid« oder als mehr oder weniger geglückte Vorstufe des Menschen zu fassen, befriedigt nicht und widerspricht dem Wesen von Subjektivität und Psychizität überhaupt. Betrachtet man Kunstwerke, Puppenspiele oder, noch zeitgemäßer, Kinofilme, wird niemand bestreiten, dass sie echte physischGerade in diesen psychischen Ausdrucksphänomenen liegt ein weiteres Argument gegen den Pantheismus bzw. gegen die These, Gott selbst bewirke unmittelbar und ausschließlich die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten: Wäre dem so, müsste man die Affekte des Schmerzes, der Wut, der Angst, der Trauer, der Scham, der Gier usw., die vormenschlich angetroffen werden, Gott selbst zusprechen, was absurd ist. Da auch G. W. Leibniz (1967, 235, Kap. 134) in seiner Theodizee meinte, die Naturgesetze und die davon bestimmten Naturgebilde seien unmittelbar von Gott verursacht, verstrickt sich seine Theodizee an diesem Punkte in kaum lösbare Schwierigkeiten.
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Das Problem des Seelisch-Geistigen
dingliche Weltgebilde sind und zugleich ein reiches und lebendiges Seelengeschehen zum Ausdruck bringen. Und das tun sie, obwohl sie als solche »tot«, unlebendig, bloße Dinge sind. Niemand käme auf die Idee, einem Gemälde von Picasso, einer theatralischen Puppe oder einem Filmstreifen eine echte eigene Seele, ein Ich oder ein eigenständiges subjektives Prinzip zuzuschreiben. Das Seelische drückt sich in ihnen nur aus, lebt durch sie hindurch, aber lebt nicht als solches in ihnen. So sehr man Picasso in seinen Werken erkennen mag, stellen sie doch nur Medien seiner Ichheit dar. Diese selbst ist nur in seinem Leib inkarniert, nicht in den Werken. Doch auch im Leib ist der Mensch, wie bereits gezeigt, nie total inkarniert, das beweisen die Gedächtnisforschungen, die zeigen, dass zwar im »Unbewussten« des Menschen alles jemals Erlebte aufbewahrt und ständig – zumeist realitätsgerecht – umgestaltet wird, aber dem bewussten Ich nicht voll verfügbar ist, sondern unwillkürlich und in begrenztem, dadurch sinnvollem Ausmaße »zufließt«. Wäre alles jemals Erlebte simultan im Bewusstsein präsent, würde der Organismus überfordert und desintegrieren. In manchen Psychosen manifestieren sich solche Überflutungszustände des Unbewussten und stürzen den Betroffenen in Selbst- und Weltverlust. Es gibt demnach ein lebensdienliches Vergessen und Verdrängen, was beweist, dass die totale Inkarnation des seelisch-geistigen Lebens mit der leiblichen Existenz nicht vereinbar ist. Diesem empirischen Tatbestand entspricht die metaphysische Analyse der Subjektivität: Da sich zeigte, dass die Psyche im zweiten, wesentlich unerschöpflichen Seinsrang steht, kann sie im wesenhaft endlichen Leib niemals ganz zur Darstellung kommen. Will man den Lebewesen ein psychisches Prinzip zusprechen, dann gilt jener Zusammenhang auch von ihnen: Das Seelische kann sich nur partiell in den Organismen offenbaren. Da nun aber den Tieren die letzte subjektive Individualität, eben in Form der freien und selbstbewussten Selbstbestimmung abgeht, kann nur ein vernünftiger Schluss gezogen werden: Das psychische Prinzip ist in den Tieren nicht wie beim Menschen selbst anwesend, sondern drückt sich in ihnen nur aus. Oder anders: In ihren Leibern ist das seelische Prinzip, das subjektive Innesein nicht unmittelbar selbst anwesend, sondern steht gleichsam dahinter und zeigt sich darin nur mittelbar. Wo und wie ist dann das tierische Seelenprinzip zu denken? Das Kausalprinzip hat darauf die Antwort gegeben: Jenes dynamisch-schöpferische Prinzip, das ein Lebewesen gestaltet, führt und 335 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
belebt, steht ontologisch »über« dem Organismus und ist diesem gegenüber wesenhaft transzendent. Trifft dies zu, lösen sich die Schwierigkeiten, und man ist nicht genötigt, den hybriden, logisch unmöglichen Begriff einer selbsttätig-unfreien und halbbewusst-reflexionsunfähigen Subjektivität zu bilden, sondern erkennt, dass die Subjektivität zwar durch die Lebewesen – wie ein Künstler durch sein Werk – hindurchwirkt, doch nicht in ihnen selbst anwesend ist und daher nicht voll zum Ausdruck kommt. Damit ist erstens die Subjektivität in ihrem Wesen erwiesen und gesichert und bleibt an ihr selbst als tätig-bewusstes Prinzip erhalten; und zweitens erhält man eine stimmige Erklärung für alle Formen unvollständiger Subjektivität im Leben der Pflanzen, Tiere und Menschen: Da sich die Subjektivität grundsätzlich nie vollständig in den Grenzen des Leibes manifestieren kann, auch beim Menschen nicht, sind alle Formen der Offenbarung des Subjektiven bis hin zur Auslöschung des subjektiven Erlebens im Koma möglich. Im Falle der vormenschlichen Lebewesen offenbart sich also nicht das subjektive Prinzip selbst, sondern zeigen sich nur seine »Funktionen«, etwa das Wahrnehmen, Erinnern, Aufmerken, Wünschen, Wollen, Sichfreuen usw. in leibhaftiger Gestalt – das in sich freie und vollbewusste Subjekt bleibt verhüllt und verborgen im transzendenten Hintergrund. Dieser Zusammenhang wird durch die Empirie bestätigt: Die Tiere erscheinen eher als unfreie, instinktgeführte, wenn auch nicht völlig instinktfixierte, sondern oft lernfähige und findige Exemplare ihrer Art bzw. Gattung, deren ganzes Sein apersonal ist und dem Ganzen der Gattung unterworfen ist. Das aber bedeutet, dass die Individuation beim Tier nicht bis zur Aktualisierung der Subjektivität, also der individualen Person gelangt, sondern »gattungsmäßig« bleibt. Dies geht soweit, dass sich ein Lebewesen wie der Wurm, obwohl in zwei Teile zertrennt, sich zu zwei neuen Organismen ergänzt und weiterlebt. Hier anzunehmen, dass ein volles Seelen- bzw. Subjektivitätsprinzip real zweigeteilt würde, verkennt das Wesen desselben. Echte selbständige Eigenaktivität hat ein Zentrum, das wesentlich unteilbar ist. Und ein solches Zentrum besitzt das Tier nicht bzw. drückt es bestenfalls aus. Der Mensch dagegen kann dieses Zentrum in sich erleben, als Ich, als Person, als selbsttätiges, selbstbewusstes und prinzipiell unteilbares Selbst. 21 Betrachtet man das Problem des Seelisch-Geistigen in der Natur 21
So genannte »Persönlichkeitsspaltungen« können psychologisch und neurobiolo-
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Das Problem des Seelisch-Geistigen
auf diesem Hintergrund, erscheint die gesamte kosmische Evolution als nichts anderes denn als der sich intensivierende Selbstausdruck subjektiver Geistkräfte in immer komplexer organisierten Weltkörpern, den organismischen Leibern. Dabei kommt in natürlicher Weise jenes Gesetz zum Tragen, wonach in höher organisierten, sprich differenzierteren und straffer zusammengefassten Körpern das Prinzip der »Selbstheit«, der Subjektivität immer klarer und reiner durchdringt. Da dieses Prinzip erst im Menschen voll manifest wird und da das Leiden in seiner eigensten Struktur streng an das Wesen der vollen Subjektivität gebunden ist, wird auch erst im Menschen Leiden im echten und vollen, sprich innerlich-selbsthaften Sinne möglich. Tiere drücken Leiden zwar aus, doch sie leiden nicht bzw. leiden nicht direkt, eben weil das Prinzip des Leidens – die selbsthafte Subjektivität – in ihren Leibern nicht anwesend, nicht inkarniert ist. Die wahre creatio patiens, das echte leidende Geschöpf ist der Mensch, er allein. In dieser Sicht wird der Darwinismus einerseits voll bestätigt, andererseits entschieden überwunden. Er hat Recht, wenn er die Reihe der Lebewesen als eine genealogisch sich auseinander entwickelnde Historie betrachtet: Die komplexeren Wesen bauen auf den einfacheren Wesen auf, transformieren und integrieren sie in einem zeitlichen Entwicklungsgang. Doch seine Erklärungsprinzipien, zumal die zufällige Mutation und der umweltbedingte Selektionsdruck, die so genannte »natürliche Zuchtwahl«, können nicht befriedigen. Zwar wirken beide Prinzipien, doch sie reichen nicht hin, den konsequenten, nie abbrechenden, Jahrmillionen überdauernden Aufbauund Umbauprozess des Lebens (und der vororganischen Welt) verständlich zu machen. Nicht von ungefähr sieht sich der moderne Darwinismus gezwungen, seine Zufallstheorie durch allerlei Zusatzhypothesen einzuschränken, was den Zufall immer »unzufälliger« werden lässt. Doch gerade moderne Genetik und Epigenetik beweisen immer entschiedener, dass die Veränderungen am Erbgut hochselektiv und organismusspezifisch sind. 22 Wenn Bakterien von Antibiotika gisch erklärt und müssen nicht ontologisiert, d. h. als Vielheit verschiedener Personen gedeutet, werden. 22 Vgl. B. Kegel (2009). Der Autor zeigt, dass das Wirken der Gene wesentlich vom Gesamtorganismus und seinem Umweltbezug abhängt, also letztlich von systemischen, sei es biologischen, sei es sozialen Sinnbestimmungen »epigenetisch« bzw. durch Verhalten und Symbole »postgenetisch« gestaltet wird. Phänomene wie Parallelmutationen und die so genannte »Pleiotropie« – Kontrolle mehrerer phänotypi-
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Natur und Leiden
bedroht werden, dann nimmt ihre genetische Mutationsrate zu, doch interessanterweise nur an solchen Teilen des Genoms, die nicht im Zusammenhang mit der Struktur, dem Bau und den Lebensfunktionen dieses Einzellers stehen. Offensichtlich versucht dieses Lebewesen, die Wahrscheinlichkeit, ein Antidot gegen das Gift zu finden, zu steigern, ohne seine Gesamtgestalt zu gefährden. Zudem tauschen manche Bakterien das angefertigte Antidot – oft ein Enzym, das die Antibiotika zersetzt – untereinander als so genannte Plasmide gezielt aus. Ist das Zufall? Experimente dagegen, die die Fruchtfliegen einer Strahlung aussetzen, die mit einer hohen Rate von genetischen Veränderungen einhergeht, erzeugen zwar viele »Mutanten«, doch handelt es sich in allen Fällen um »Krüppel«, Chimären bzw. verstümmelte, unfruchtbare Wesen, die keine wirklich neuen Gestalt- und Funktionseigenschaften im Sinne einer neuen Lebewesenart aufweisen. 23 Schließlich sei an das ungeheuer komplexe und präzise funktionierende Reparatursystem erinnert, das Abweichungen im Genom sofort ausmerzt und daher sehr konservativ und veränderungsresistent agiert. 24 Hier kommt zweifellos eine »innere Kraft« bzw. ein scher Merkmale durch ein Gen – belegen dies schon auf der untersten molekularen Ebene. Die Trennung von Materie und Geist, Leib und Seele, Erklären und Verstehen wird damit hinfällig. Schon die Materie, zumal die biologisch organisierte, ist von seelisch-geistigen Sinnbestimmungen durchsetzt und wird von ihnen geregelt. Vgl. ähnlich E. Jablonka/M. J. Lamb (2017) und P. Spork (2009). 23 Hier wird das Zufallsprinzip, das auf der Gleichwahrscheinlichkeit, damit letztlich auf dem Seinsurprinzip der Gleichheit, also des Fehlens eines Vorzugs beruht, in seinem Wesen offenbar: Die Bestrahlung des Genoms kann unmöglich aufbauend wirken, da sie jeden Fortschritt mit gleicher Wahrscheinlichkeit wieder zerstört, zumal die Weltraumstrahlung unaufhörlich in dichter Weise einwirkt. Da ein Organismus, je komplexer er ist, desto störanfälliger wird, steigt mit seiner Komplexität notwendig die Unzufälligkeit seiner Entstehung, Erhaltung und Weiterentwicklung. Dies bedeutet, dass mit der Evolution das Zufallsprinzip immer unwahrscheinlicher, man muss sagen, unmöglicher wird. Eine blinde und ungezielte Bombardierung des Genoms, das ungeheuer komplex strukturiert ist, kann nur destruktiv wirken – das wäre, als schösse man mit der Pistole in einen Computer mit der Erwartung, dass er dadurch ein neues Programm entwickelte. Bedenkt man schließlich, dass, wie heute klar ist, genetische Veränderungen, die physiognomisch relevant werden, nicht oder nur sehr selten singulär, sondern komplex sind, dass also mehrere Gene zugleich und aufeinander abgestimmt mutieren müssen, damit z. B. ein neues Organ entsteht oder ein altes verbessert wird, wird die Zufallstheorie vollends absurd und sachlich hinfällig. 24 Der Konservativismus des genetischen Reparatursystems widerstreitet der Mutationstheorie darwinscher Provinienz insofern, als dieses System nicht vorauswissen kann, ob eine Mutation auf der phänotypischen Ebene einen Vorteil, einen Nachteil
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Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit
sinnvoll gestaltender Lebenswille zum Vorschein, ohne den das Leben kaum überleben würde. Abgesehen von diesen empirischen Daten, genügt die philosophische Besinnung auf das Wesen des Zufalls, um die Kausalität des Darwinismus zu widerlegen. 25 Aus anderen Blickwinkeln werden auch die folgenden Kapitel die Zufallshypothese der darwinistischen Biologie infrage stellen und eine Alternative anbieten.
4.4. Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit Die Hauptstütze für die Vorherrschaft des neuzeitlichen Kausalitätsmodells und seiner Vorstellung von der transitiv-deterministischen Ursache-Wirkungskette ist die revolutionäre Entdeckung der Naturgesetzlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert. Die Erkenntnis ihrer Rolle im Naturgeschehen war so überwältigend, dass sie fast als göttlich betrachtet wurde und die Frage nach ihrem wirklichen Wesen weitgehend verstellte. 26 Um diese Selbstverständlichkeit aufzubrechen, soll die provokante Frage gestellt werden, ob es Naturgesetze überhaupt gibt? Diese Frage klingt lächerlich, doch ist sie es mitnichten. Wenn man z. B. das Gravitationsgesetz betrachtet, wie es I. Newton als maoder eine Indifferenz nach sich zieht. Stimmt dies, dann wird es auf der genetischen Ebene unterschiedslos jede angeblich zufällige Mutation rückgängig zu machen versuchen, was eine Weiterentwicklung der Lebewesen verunmöglicht. Oder umgekehrt: Nur wenn es eine Zusatzinformation oder Zusatzregelung im Zellkern gibt, die im Falle einer prospektiv günstigen Mutation die Reparatur hemmt bzw. selegiert, nur dann kann es zur Nutzung des Vorteils auf phänotypischer Ebene kommen. Man kann hier auch vom »Problem der Anlage« sprechen, die bei ihrer Entstehung noch funktionslos ist und erst im Phänotyp ihre Funktion erhalten kann, die dann – also viel später! – unter den Selektionsdruck gerät. 25 Vgl. B. v. Brandenstein (1965 a, 98–100: »Über den Grund der Zufallswahrscheinlichkeit«); ders. (1965 a, 264–270: »Kausalität oder Akausalität im naturwissenschaftlichen Weltbild«). 26 In der Tat schlossen die meisten Philosophen im Rahmen des so genannten physikotheologischen Gottesbeweises aus der Ordnung der Natur auf Gott, verkannten allerdings, dass dieser Schluss, wie I. Kant zu Recht kritisiert, voreilig ist, weil schon ein nichtgöttlicher, obschon ungeheuer mächtiger Weltbaumeister oder Demiurg für das kreative und intelligente Zustandekommen der Naturordnung ausreichen würde. D. Hume (1779, Teil X-XII) sieht die Mängel im Kosmos und vermeidet daher jenen Kurzschluss.
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Natur und Leiden
thematische Gleichung (F = g (m1 � m2)/r2) gefasst hat, dann steht außer Frage, dass es so, wie es da formuliert ist, in der Natur nicht vorzufinden ist. Alles, was beobachtet und gemessen werden kann, sind nur schwankende Annäherungen an dieses Gesetz; in seiner Reinheit bzw. mathematischen Absolutheit wird es nirgends angetroffen. Das wusste man zwar immer schon, hat es aber entweder auf die Ungenauigkeit der Messapparate bzw. der Sinnesorgane zurückgeführt oder später als »Randbedingung« ein- oder besser ausgeklammert. Dies geht jedoch an den Tatsachen vorbei, die eine klare und folgenreiche Sprache sprechen: Messwerte, die man in Bezug auf ein Naturgesetz erhebt, streuen, wenn die Messung fein genug ist, um die Idealität eines rein mathematisch formulierten Naturgesetzes, und keineswegs haben sie immer ein und denselben konstant absoluten Wert. Wer daher die »Randbedingungen« und die Tatsache des »streuenden Gesetzes« ausklammert, löscht die gesamte Problematik aus. Dem Phänomen der Streuung begegnet man bei allen Naturgesetzen, gleich auf welcher Ebene. Nicht nur physikalische, sondern auch chemische, biologische, psychologische und soziologische Gesetze bzw. Gesetzmäßigkeiten streuen und schwanken um einen idealen Wert, der sich zwar als rein mathematische Gleichung formulieren lässt, der aber in der Realität höchstens durchgangsmäßig realisiert wird. So schwanken z. B. die Geschwindigkeit des Lidreflexes oder die Größe eines Leberenzymwertes oder ein radioaktiver Zerfall innerhalb gewisser Breiten, entsprechend sind sie nicht absolut konstant. Dennoch ist die Streuungsbreite keineswegs beliebig oder subjektiv, sondern bleibt objektiv auf den Idealwert als auf eine unsichtbare, dennoch »irgendwie« wirksame Richtgröße bezogen. 27 Alle konkreten Werte eines Naturgeschehens oszillieren um das Naturgesetz als seine ideale, aber keineswegs nur menschlich erfundene »innere« Größe, gleich wie groß die Streubreite ist. Dabei gilt die übergeordnete Regel, dass die Streubreite bzw. die Variabilität mit der »Höhe« des Naturgesetzes zunimmt, will heißen: Je fundamentaler ein Naturgesetz ist, desto eindeutiger, starrer, stabiler, unvariabler ist es bzw. umgekehrt: Je später eine Naturgesetzlichkeit in der kosmischen Evolution auftritt, und das gilt vor allem für die biologischen, psychologischen und soziologischen Gesetzmäßigkeiten, desto »freier«, variabler, instabiler und flexibler wird sie. 27
Sie ist also nicht, wie D. Hume meinte, nur eine Folge menschlicher Gewohnheit.
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Die Oszillationstheorie als objektiver Idealrealismus der Naturgesetzlichkeit
Darin offenbart sich ein tiefer Sinn, der schon angedeutet wurde und der sich wiederholt bestätigen wird: Die gesamte Evolution realisiert, wie F. A. Kipp 28 herausgearbeitet hat, eine zunehmende Emanzipation ihrer jeweils jüngsten Gebilde von ihrer Umweltabhängigkeit und fördert damit einen Individuations- und Verinnerlichungsprozess, der im Selbstbesitz der geistigen Person seinen Gipfelpunkt erreicht. Hier möge jedoch vorerst die Erkenntnis genügen, dass es das Naturgesetz als absolut festgelegte mathematische Größe in der Natur nicht gibt, sondern dass es sich um eine idealisierte Abstraktion handelt, die der menschliche Geist aus dem oszillierenden Naturgeschehen erschließt. Dass sich die Oszillationen auf dieses Idealgesetz beziehen, beweist dessen Objektivität, nur fragt sich, wodurch und wie diese Objektivität verbürgt wird, wenn sie weder im Menschengeist noch im konkreten Naturgeschehen fundiert ist? Die Antwort gibt das recht gefasste Kausalprinzip: Die Naturgesetze stellen, wie schon mehrfach dargelegt, nichts anderes dar als die frei durch die geistigen Naturkräfte gesetzten Regelungen, deren konkrete Realisierung im Naturgeschehen das Naturgesetz immer nur annähern. In seiner idealen Reinform existiert es weder im Naturgeschehen noch ursprünglich im Menschengeist, sondern im Geist der Naturgeistwesen – sie sind also, wie G. W. Leibniz als einer der wenigen klar erkannte – geistiger Natur. Da der Mensch in durchaus analoger Weise »Gesetze« und Regelungen seines konkreten biopsychosozialen Lebens mental entwirft, die in ihrer Umsetzung in der Realität, etwa bei der Verkehrsregelung, nie ideal gelten, sondern bloß angenähert werden und trotzdem die physische Realität gestalten, fällt er aus der Natur keineswegs heraus, sondern fügt sich in sie konsequent und stimmig ein. Dieser Sachverhalt wird auch von der modernen Physik bestätigt, vor allem von der Quantenmechanik W. Heisenbergs und anderer Physiker (N. Bohr, L. de Broglie, E. Schrödinger, W. Pauli, P. Dirac, C. F. v. Weizsäcker), die den Oszillations- und Wahrscheinlichkeitscharakter der Naturprozesse und ihrer Gesetze klar herausstellen. 29 Viele Phänomene wie z. B. das Tunnelphänomen von QuanVgl. F. A. Kipp (1948) und (1991). Man spricht hier von der »Kopenhagener Deutung« der Natur, die von M. Planck und A. Einstein, die in Bezug auf die Natur noch klassisch deterministisch eingestellt waren, abgelehnt, jedoch von John Stewart Bell 1964 mathematisch bewiesen wurde.
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Natur und Leiden
ten, die Wellenfunktion aller Materie (ihr Oszillieren um Wahrscheinlichkeitswerte), überhaupt der »Unbestimmtheitscharakter« der Natur, verlieren damit ihre Rätselhaftigkeit und werden durchsichtig. Im Raum »verschmierte« Elektronen stellen, so betrachtet, nichts anderes dar als bestimmte Energiefelder, deren Ort und Geschwindigkeit schwankt, aber nicht völlig beliebig, sondern »probabilistisch« um gewisse Werte (»Quantenzahlen«) oszilliert, was letztlich im Indeterminismus des regelhaften Wirkens der freien Naturgeistkräfte fundiert ist. Mit diesen Klärungen enthüllt das Naturgesetz sein Gesicht: Es ist nur idealrealistisch zu verstehen, sprich als eine Größe, die geistigen Ursprungs ist und in die physische Natur, vermittelt durch das aktive Wirken der Naturgeistkräfte, regelnd eingreift, ohne sich darin mathematisch genau zu manifestieren. Wie ein Magnet »bindet« es die Naturprozesse und lässt sie um seine ideale Größe oszillieren. Ideal aber ist es nur dadurch, dass es das Produkt einer Geistigkeit ist, die »hinter« der Natur steht und diese schafft, bildet und gestaltet. Leugnet man diese Geistigkeit, bleibt das Naturgesetz – sein idealer Charakter und die näherungsweise Oszillation der realen Vorgänge um seine jeweilige Wertgröße – rätselhaft. So aber wird es verständlich und verliert allen blinden und angeblich zwangsläufig-deterministischen, etwa mechanistischen oder zufälligen Charakter. Im Gegenteil offenbart sich darin eine tiefe, ästhetisch faszinierende Sinnhaftigkeit, die dem neuzeitlichen Geist selten, so etwa in dem großen Astronomen Johannes Kepler aufgegangen ist. Bei aller Tiefe und Größe dieser Sinnhaftigkeit beweist die Theorie der Oszillation, dass ihre Quelle nicht, wie noch I. Newton, G. W. Leibniz und I. Kant meinten, direkt die Gottheit ist, die die Naturgesetze, wenn sie deren Ursache wäre, mit absolut genauer Bestimmtheit und ohne alles probabilistische Schwanken realisieren könnte, sondern dass hier eine zwar hohe, aber doch nur »endliche«, besser potentialunendliche Geistigkeit, und zwar in plural-agonaler Weise am Werk ist.
Die Substanzontologie des Aristoteles ist daher, was das Naturgeschehen betrifft, hinfällig geworden. Substanziell bzw. »an-und-für-sich« sind die Geistkräfte im 2. Seinsrang, einschließlich des Menschen-Ich, jedoch nicht die Naturprozesse; diese sind die unselbständigen Wirkungen von jenen an der selbständigen metaphysischen Materie und können beliebig transformiert werden.
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Die Oszillationstheorie und das Leiden
4.5. Die Oszillationstheorie und das Leiden Die veränderte Sicht der modernen Naturwissenschaft auf die Naturgesetzlichkeit eröffnet ein neues Verständnis für die Weltwirklichkeit und die Stellung des Leidübels darin. Hier sind mehrere Aspekte zu unterscheiden. Die Streuung der konkreten Realitätsprozesse um idealreale Gesetzesgrößen zieht als erstes eine »natürliche Ungenauigkeit« und damit eine gewisse natürliche Chaotik im Naturgeschehen nach sich. Obgleich diese Chaotik, die von der modernen Chaosforschung festgestellt wurde und mit der Wahrscheinlichkeitsmathematik bewältigt werden kann, nur in gewissen Grenzen auftritt und gewiss nicht total strukturlos ist, so ermöglicht sie doch eine gewisse Unsicherheit und Ungewissheit, damit eine gewisse Unberechenbarkeit und Unbeherrschbarkeit von Naturvorgängen. Vor allem schafft sie die Möglichkeit von solchen Abweichungen, die, wenn sie sich, etwa im Rahmen positiver Rückkopplungen, akkumulieren, zu Entgleisungen und Kollisionen und damit in der Folge zu Katastrophen, Unglücksfällen, Störungen, Krankheiten, Schädigungen und also zu Übel und Leid führen. Dieser Umstand gilt für die höheren biochemischen, biologischen, psychologischen und soziologischen Gesetzmäßigkeiten mehr als für die niedrigen, fundamentalen Gesetze der Physik und Chemie. Denn die Streuung ist bei jenen größer und variabler und damit sind die von ihnen geregelten Prozesse labiler. Das findet man vielfach bestätigt, so z. B. im Falle des Altwerdens von Organismen: Hier werden mit den Jahren die Regelungsprozesse langsamer, schwerfälliger und ungenauer und führen z. B. zu Krebs, Diabetes und Bluthochdruck. Aber schon das Wachstum von Kristallen erfolgt selten ungestört und makellos, vielmehr kommt es zu allerlei Abweichungen, die durch die ständige äußere Einflussnahme bedingt ist. Analog schwanken die Umlaufbahnen und -zeiten von Planeten, so dass es zu Kollisionen kommen kann. Vor allem in der Welt der Lebewesen wird die Naturgesetzlichkeit immer offener, heißt freier, variabler, kreativer, damit schwankender, unberechenbarer, vielfältiger, antagonistischer und »gesetzloser«. Kollisionen, Unfälle, Entgleisungen, Störungen und Krankheiten sind die unvermeidliche Folge. Leidfrei könnte eine solche Schöpfung nur sein, wenn sie gesetzlich strenger geregelt würde – dann aber wäre sie nicht lernfähig, wäre unkreativ, festgelegt, zeigte keine Entwicklung und Variabilität. Leben wäre unmöglich. Das ist der erste Aspekt der Oszillation, der oberflächlich als 343 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
Unvollkommenheit betrachtet werden kann, doch keineswegs betrachtet werden muss. Tiefer gesehen, ermöglicht sie die Vielfalt, die Variabilität, Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit, die Entwicklung und Erneuerung aller kosmischen Gestaltungen. Besonders deutlich lehren dies die Organismen. Würden sie nicht altern und sterben, wären Veränderung, Anpassung, Entwicklung, Verjüngung und Erneuerung unmöglich, und das Leben stürbe aus, indem es sich selbst in seinen alterslos-unsterblichen, aber starren Formen erdrückte und aufzehrte. Erst dadurch, dass die Alten sterben, wird Platz frei für neue Schöpfungen, für Experimente und noch nicht gehobene Möglichkeiten, aber auch für Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen. Was demnach als Unvollkommenheit imponiert, eben die keineswegs eindeutige Einhaltung der Naturgesetze, erweist sich, tiefer gesehen, als neue Vollkommenheit, als kosmische Weisheit, die dem All die Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln, zu entfalten, seine Möglichkeiten auszuprobieren und sich immer wieder neu zu erfinden. Auf dem Hintergrund der metaphysischen Erkenntnis der drei Seinsränge erhellt, dass nur ein solches »schwankes Universum« das adäquate Betätigungs- und Selbstrealisierungsfeld für die Geistgeschöpfe im zweiten Seinsrang bietet. Eine absolut streng festgelegte Naturgesetzlichkeit ließe der Kreativität keinen Raum und hätte das organische Leben und die Freiheit des Menschengeistes verhindert. Damit wird die Spaltung der Welt in zwei Reiche, wie sie I. Kant durchgeführt hatte, hinfällig: Hätte I. Kant wirklich damit Recht, dass die Natur kausal total determiniert, der Mensch als Geistwesen aber frei ist, dann könnte der Mensch sich niemals in seinem Leib und in seiner natürlichen Umwelt realisieren. Da der Mensch leibhaft ist und durch den Leib hindurch seine Umwelt gestaltet, impliziert die Annahme seiner (begrenzten) Freiheit notwendig die Annahme der Bestimmbarkeit, also der nicht totalen Determiniertheit der Natur und der Leiblichkeit. Die Erkenntnis, dass die Natur das Werk freier Geistgeschöpfe ist, bestätigt und untermauert diesen Zusammenhang und hebt die inkonsistente Zwei-Reiche-Lehre, die das Sein in ein Reich der Freiheit (leibfreie, transzendenal-unerkennbare Subjektivität) und in ein Reich der Notwendigkeit (Natur, Leib) spaltet, auf.
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Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte
4.6. Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte Ohne die Lehre von den Zweitursachen lassen sich Aufbau und Dynamik des kosmischen Geschehens nicht verstehen. Wie bereits ermittelt, sind unter den drei möglichen Seinsrängen nur die Zweitursachen leidensfähig und so folgt, dass das Leiden sowohl in der Natur als auch in der Menschenwelt keinen ontologisch bestimmbaren Platz besäße, wenn es keine Zweitursachen, keine geschöpflichen Schöpfer bzw. keine naturbildenden Geistkräfte im zweiten Seinsrang gäbe. Denn weder kann Gott noch können die bloßen Dinge leiden, sondern nur entstandene selbstbestimmungsfähige Objekt-Subjekte sind in der Lage, ihr eigenes Sein als Mangel, Grenze, Ohnmacht, Not, als Unterwegsseins, Entwicklungsaufgabe, als Verirrung und Täuschung, als Schuld und Sühne zu erleben. Der ontologisch-metaphysische Ort des Leidens ist demnach der zweite Seinsrang. Diese Erkenntnis ist so zentral, dass ohne sie die Möglichkeit jeglicher Patho- und Theodizee (und damit dieser Arbeit) zusammenbrechen würde. Wer die Zweitursachen verneint, verneint die Möglichkeit von Leid und Übel in diesem Kosmos; das eine setzt das andere notwendig voraus. Viele Denker, so etwa Jesaja, der Autor von »Weisheit« 13, 1–9, Platon, Aristoteles, Philon, Paulus, G. W. Leibniz, I. Kant, E. Becher, A. Wenzl, C. F. v. Weizsäcker 30 und B. v. Brandenstein haben dies erkannt, und auch die katholische Kirche besitzt eine Lehre von den Zweitursachen, doch ist diese Problematik kaum jemals bis auf den Grund durchdacht worden, weswegen sie heute in Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie keine Rolle spielt. 31 C. F. v. Weizsäcker (1995, 342–366) sieht in der vor allem mathematischen Strukturiertheit/Geformtheit und damit geistigen Erfassbarkeit der Materie zu Recht ein Indiz für ihre Geistabkünftigkeit und deutet in seinem aufschlussreichen Aufsatz »Materie, Energie, Information« die platonischen Ideen nicht als bloß formale Begriffe, sondern – ganz im Sinne Platons – als Kräfte oder Mächte, die sich selbst wissen und aktiv die Welt formen, prägen und in Gesetzen regeln. Diese Vorstellung entspräche in etwa dem Begriff der Zweitursachen und könnte als wissenschaftlich tragfähige Grundlage für eine »Lehre vom Geistigen in der Natur« (so ein nicht veröffentlichter, aber öffentlich gehaltener Aufsatz von mir), also für eine philosophische Daimonologie im guten und sachlichen Sinne dienen. 31 In der Bibel wird oft von »Göttern« gesprochen, die Gott regiert, obschon die israelitische Religion, um sich von anderen altorientalischen Religionen abzugrenzen, eine jegliche »Theogonie« und jeden Götterkampf ablehnt. Vgl. dazu W. Eichrodt (1974, Teil 2/3, 60–74). Sachlich ist eine Synthese zwischen Monotheismus und »Polytheis30
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Natur und Leiden
Das ist fatal, letztlich deswegen, weil dadurch auch das menschliche Leben, das wesentlich »zweitursächlich« ist, in diesem Kosmos ortund sinnlos wird. Gegen den Ausschluss der Zweitursächlichkeit spricht, dass ein »Seinsaufbau von unten« mit dem recht gefassten Kausalprinzip kollidiert: Nicht aus einfacheren Gebilden und Organismen entstehen durch Zufall oder Notwendigkeit komplexere Wesen, erst recht nicht die menschliche Person, sondern das komplexere Gebilde wird zwar auf den einfacheren aufgebaut, aber von geistigen Naturkräften, in diesem Sinne von oben her, analog dem Bau eines Hauses durch Architekten, Ingenieure und Handwerker. 32 Wie alles andere im Kosmos ist auch der menschliche Leib als Primatenleib das Aufbauergebnis dieses Wirkens über Jahrmillionen hinweg, während der menschliche Personenkern, das Ich, das Selbst, der freie und vernünftige Wille direkt von Gott stammt, da nur er fähig ist, Zweitursachen zu erschaffen. Damit wird der Punkt erreicht, wo der konkrete Aufbau des physischen Kosmos und seine Grundprinzipien ermittelt werden können. B. v. Brandenstein hat diesen Teil der Naturphilosophie in seiner Metaphysik 33 als »Kraftspezialisierungstheorie«, N. Hartmann als nicht-metaphysische »Schichtentheorie« 34 bezeichnet. Der Ausdruck »Kraftspezialisierung« meint, dass geistige Kräfte ihre Wirkungen (und selbstverständlich nicht sich selbst) in immer spezifischerer Weise so aufund ineinander bauen, dass der Existenzraum dieser Wirkungsgebilde, je komplexer sie werden, desto enger, kleiner, dafür jedoch immer freier, individueller, umweltunabhängiger, kommunikativer und an Ausdruck reicher wird. 35 mus« durchaus möglich, ja geboten, wenn unter den »Göttern« von Gott frei erschaffene Geistgeschöpfe, die am Aufbau der Natur mitwirken, verstanden werden. 32 Der naturalistische, etwa darwinistische Evolutionismus und die Ontologie von N. Hartmann (1964) lassen die Kausalfrage im Dunkeln und sehen daher den Seinsaufbau nur von unten, weswegen sie die Herkunft des Komplexeren aus dem Einfacheren bzw., bei N. Hartmann, des Novum der höheren Seinsstufe gegenüber der früheren niedrigeren nicht erklären können. Vgl. kritisch zum »Aufbau des Seins von unten« B. v. Brandenstein (1983, 47–53). 33 Siehe B. v. Brandenstein (1966, 288 ff.; 1955, 104–148). 34 Siehe N. Hartmann (1964). 35 In der Regel geht mit der Einengung des Wirkungsfeldes eine zunehmende Spezialisierung einher, die vor allem bei den Lebewesen dadurch charakterisiert ist, dass zwar der Grundbauplan weitgehend und über Jahrmillionen (!) bewahrt wird, was die Zufallstheorie empfindlich infrage stellt, die äußere Gestaltung dagegen vielfälti-
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Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte
Von Aristoteles über F. W. J. Schelling bis N. Hartmann, E. Becher, B. v. Brandenstein, E. Rothacker, H. Jonas und P. Overhage zieht sich die naturphilosophische Überzeugung hindurch, dass die gesamte Wirklichkeit nicht monolithisch, sondern in Schichten geordnet ist. Klassischerweise wird die anorganische Sphäre von der pflanzlichen, tierischen und menschlichen Sphäre unterschieden, wobei die zeitlich spätere auf der zeitlich früheren aufbaut. Auf diese Weise erweist sich einerseits die frühere Schicht als die grundlegendere, die spätere als die abhängige, andererseits zeigt sich die frühere als die einfachere, die spätere als die komplexere. Mit wachsender Komplexität bzw. Komplexierung nimmt jedoch nicht nur die Abhängigkeit, sondern auch die Beweglichkeit und Selbständigkeit der Gebilde zu, und mit dieser Beweglichkeit der innere und äußere Freiheitsgrad. 36 Während Atome kaum spontane Eigentätigkeit offenbaren (immerhin ist die innere Organisation des Atoms, vor allem der Quarks und Gluonen intrinsisch und spontan, also nicht mechanisch von außen gesteuert), erhebt sich die Pflanze über die Erde und entwickelt über das Anorganische hinausgehende Stoffumsätze, Gestalten, Funktionen und Zwecke. Andererseits bleibt sie direkt an das Anorganische gebunden, anschaulich in ihrem Wurzelwerk, das Mineralien und Wasser assimiliert, damit sich die Pflanze davon ernähren kann. Von dieser Erdgebundenheit emanzipiert sich der tierische Organismus in langer Reihe in zunehmender Weise: Er schließt sich von der anorganischen Umwelt ab, zentriert und zenger, reicher, anpassungsfreudiger, individueller und ausdrucksstärker wird. Dieser Tatsache wird das Ordnungssystem der Lebewesen gerecht, indem es die Rassen in die Arten, die Arten in die Gattungen, die Gattungen in die Familien, die Familien in die Ordnungen, die Ordnungen in die Klassen und die Klassen in die Stämme eingliedert. Dieses dem angeblichen Zufall der Mutationen entgegenstehende Gesetz, das die grundlegenden Baupläne des Lebens bewahrt, nennt W. Troll (1951, 385) »Enkapsis«/Einschachtelung. Ähnliches meint K. Beurlen (1949, 76), wenn er von der »progressiven Reduktion der Evolutionsbreite«, E. D. Cope (1904), wenn er vom »Gesetz des Nichtspezialisierens«, das alles Leben charakterisiere, spricht. Innerhalb der fundamentalen Baupläne dagegen zeigt sich eine grenzenlose Diversifikation und Variation der Organe, Funktionen und Proportionen, so dass W. Troll vom »Gesetz der variablen Proportionen« spricht, mit denen das Leben experimentiere und spiele, ohne die Grundlagen anzugreifen. 36 Vgl. P. Overhage (1964, 192–219). Diesen »biologischen Aufstieg«, der bis heute selbstverständlich nur in der Richtung zum Menschen geschieht, sehen ähnlich viele andere Biologen, z. B. F. A. Kipp, L. v. Bertalanffy, K. Beurlen, H. Conrad-Martius, V. Franz, C. v. Economo, F. Schuh, H. Quiring, M. Jenken, A. Portmann, P. Teilhard de Chardin, H. Jonas u. v. a.
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Natur und Leiden
tralisiert sich (besonders mit dem Nervensystem) und entwickelt einerseits eigenständige Sinnesorgane, andererseits ein Muskelsystem, mit dem er sich weitgehend frei bewegen kann. Seine Gliedmaßen geraten zusehends unter den Leib und erheben denselben über die Erde. Am Ende richtet sich der gesamte Organismus bei den Menschenaffen und Affenmenschen auf. Der Freiheitsgrad im Organismus selbst und gegenüber der Umwelt nimmt zu und mit ihm die Individuation. Das wiederum beinhaltet eine wachsende Innerlichkeit, die sich mit entsprechend gestalteten Ausdrucksorganen – A. Portmann spricht vom »Darstellungswert« der tierischen Körperoberfläche – darlebt, mitteilt und, recht besehen, bereits mit den einfachsten Organismen beginnt. 37 Seelisches Innenleben und soziale Kommunikation weiten sich ins Grenzenlose aus und erreichen im Menschen mit seiner Selbstbewusstwerdung, inneren Selbsthabe und seiner schier explodierenden Kommunikation einen neuartigen Höhepunkt. 38 Diese Aufbauordnung wurde in der Geschichte der Philosophie früh gesehen, nicht nur in Griechenland, sondern auch in Indien und Palästina (vgl. Thora, Genesis!), und zweifellos eignet ihr ein hohes In Anlehnung an Thomas v. Aquin (1225–1274) und sein philosophisches Hauptwerk »Summa contra Gentiles« entwickeln der Biologe H. André (1956) und der Philosoph R. L. Fetz (1975) eine beeindruckende Seinslehre der Innerlichkeit bzw. der zunehmenden kosmischen Verinnerlichung. Die Grenze dieser Theorie liegt in der aristotelischen Form-Materie- bzw. Substanz-Akzidenz-Auffassung, deren Inkonsistenz z. B. J. Hessen (1955 b, 82–140), N. Hartmann (1964) und B. v. Brandenstein (1966, 103–128) deutlich aufzeigen. Durchgreifend kann erst eine geklärte Kausaltheorie das Problem lösen, die sich fragt, ob sich die Ursache sukzessiv-transeunt vor ihrer Wirkung, immanent in ihrer Wirkung – so bei Aristoteles, Thomas v. Aquin, H. André und R. L. Fetz – oder transzendent über ihrer Wirkung befindet und ob sie geistiger oder materieller Natur oder irgendwie beides ist. Vgl. dazu passend A. Portmann (1953, 187–197: »Die Selbstdarstellung der Tiere«. In: Wort und Wahrheit 8). Vgl. anders N. Hartmann (1964, 35 ff.), der das Organische vom Seelischen deshalb so radikal absetzt, weil er den seelischen Ausdrucksgehalt des organischen Lebens übersieht. Wie die Erfahrung beweist, zeigen schon einfachste Organismen Such-, Fluchtund Kommunikationsbewegungen, die ohne psychische Kategorien nicht beschrieben werden können. An dieser Stelle eignet seinem Schichtenmodell ein Mangel. 38 Vgl. J. Bauer (2005, 165 ff.), der betont, dass die »kommunikative Spiegelung«, also das intersubjektive Mit- und Nacherleben bis zu Empathie und gestischer Nachahmung für die Weitergestaltung der Evolution wohl schon früh einen entscheidenden Faktor darstellt, der die darwinistische, extrem egoistische und nur auf Kampf und Vernichtung gestützte Deutung relativiert. Bedenkt man, wie weit die zwischenartliche Zusammenarbeit gehen kann, lässt sich der Darwinismus in seiner Extremform nicht halten. Vgl. ähnlich L. Margulis (1999) und E. Jablonka/M. J. Lamb (2017). 37
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Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte
Maß an Realitätsverbundenheit. Andererseits mutet sie relativ primitiv an und muss korrigiert, verfeinert, präzisiert und vertieft werden. So stellt etwa die Pflanzenwelt keine Schicht dar, auf der das tierische Leben einfach aufbauen würde, im Gegenteil entwickeln sich beide Sphären von Anbeginn parallel und in vielfältiger inniger Wechselwirkung, man denke an die Bestäubung von Blütenpflanzen durch Insekten. Immerhin jedoch können die Tiere nicht ohne Pflanzen leben, während ein Großteil der Pflanzen auf Tiere nicht angewiesen ist. Wieder anders erfolgt der Aufbau des menschlichen Lebens, insbesondere seiner Kulturwelt auf der organischen Welt, ein Aufbau, der im Wesentlichen durch technische Erfindungen vermittelt wird. Was die Beschreibung der Aufbauordnung der Natur betrifft, sind also naturwissenschaftliche Fortschritte gefordert, und genau zu diesen kam es im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte, explosionsartig seit Beginn der Neuzeit in Europa. 39 Diesen »furor realis« nennt P. Sloterdijk (2016, 101–114) die »Apokalypse des Realen« und meint damit nichts anderes als den antimetaphysischen Naturalismus bzw. Positivismus, der »alles Obere vom Unteren her« erklärt und im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht, im 20. Jahrhundert in die Krise gerät und im 21. Jahrhundert einer Überwindung zusteuert. Auf einem anderen Blatt steht die Frage nach den Wirk- und Erklärungsprinzipien des Naturaufbaus. Die Wissenschaft befindet sich hier in den Kinderschuhen, und, wie oben nachgewiesen, kann sie das Problem, das sich vor allem mit der Kausalfrage stellt, nicht lösen. Obgleich sich die Philosophie heute nicht viel zutraut, ist sie an diesem Punkt gefordert, in die Tiefe der Wirklichkeitsbildung vorzudringen. Und sie kann mehr leisten, als sie selbst vermutet. 40 Betrachtet man das kosmische Geschehen im Ganzen, fallen gewisse universale Symmetrien, Polaritäten und ebenso gewisse universale Asymmetrien ins Auge. 41 Die größte Asymmetrie wird durch die Eine reiche und tiefe Schichtenontologie liefert N. Hartmann (1964, 35 ff.), die hier nicht im Einzelnen dargelegt werden kann. So unterscheidet er zutreffend zwischen Überformungs- und Überbauungsverhältnissen. Während das organische Leben die anorganischen Stoffe real in sich inkorporiert, das heißt »überformt«, integriert das psychische Leben die organischen Stoffe nicht als solche, sondern repräsentiert sie als »geistiges Bild«, womit der Organismus psychisch nur »überbaut« wird. 40 Bezüglich der Kausalproblematik legt D. v. Wachter (2009) einen neuen, vielversprechenden Versuch vor. 41 Viele Wissenschaftler, vor allem unter den Physikern neigen dazu, die kosmischen 39
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Natur und Leiden
Zeit gesetzt: Der Kosmos hat begonnen und entfaltet sich in der Zeit, und zwar so, dass an die Stelle eines vergehenden Zustandes ein neuer, ein entstehender Zustand tritt, also sukzessiv und unstetig wie eine Art Pulsation. Das bedeutet, dass der vergehende Zustand völlig verschwindet bzw. im entstehenden aufgeht. Damit erweist sich eine zirkuläre Auffassung vom Kosmos als genauso unhaltbar wie die Auffassung von einem »Zeitpfeil« im Sinne einer simultanen Erhaltung aller vergangenen Weltzustände. Vor allem aber eine (ewige) Wiederkehr der Welt ist unmöglich, zumal ihre Idee auf einer unangemessenen Übertragung räumlicher Vorstellungen, so des Kreises, auf zeitliche Verhältnisse beruht. Während im Falle der Kreisziehung der Anfang erhalten bleibt, so dass das Ende wieder in ihn einmünden kann, existiert der zeitliche Anfang des Kosmos nicht mehr, und also ist der Wiedereintritt eines möglichen Endes des Kosmos in seinen Anfang unmöglich. Zudem ist fraglich, ob der Kosmos ein Ende hat und gar ein solches, das dem Anfang gleicht. 42 Dagegen spricht vieles, z. B. das Entropiegesetz. Doch selbst wenn der Anfang des Kosmos irgendwie erhalten bliebe und sein Ende wieder daran ansetzen könnte, würde es sich um einen Neuanfang handeln und keineswegs um ein echtes Zurücksinken in die Vergangenheit. Etwas Späteres kann nicht zum Früheren werden, das ist ein Selbstwiderspruch, der den Begriff des Späteren bzw. der Sukzession direkt zerstört. Es gibt kein zeitliches Kreisen, sondern nur ein zeitliches Weitergehen, das höchstens ähnliche Gestaltungen in zyklischer Weise, etwa analog den Jahreszeiten wiederholt. Diese Asymmetrie gilt unaufhebbar. Daran knüpfen sich weitreichende metaphysische Folgerungen an. Doch nicht nur innerhalb der Zeit besteht eine Asymmetrie, sondern auch gegenüber einer anderen kosmischen Grundgröße: gegenüber dem Raum. Denn während die Zeit durch Aufeinanderfolge und Nacheinander bestimmt ist, gehört zum Wesen des Raums die Simultaneität extensiver Raumstellen. Bewegung ist dann die innige
Symmetrien zu verabsolutieren und die vielen Asymmetrien zu unterschätzen. Dies führt nicht selten zu voreiligen – physikalisch, mathematisch und logisch inkonsistenten – Deduktionen, etwa der, es müsse wegen der Antimaterie ein zweites Universum neben dem unsrigen geben. So z. B. H. Schmitt (1966). 42 Volle Identität ist, wie sie F. Nietzsche in seinem »Also sprach Zarathustra« mit der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« dachte, unmöglich, da schon rein mathematisch das Zweite immer anders ist als das Erste bzw. jenes von diesem bedingt ist.
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Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte
und dennoch gespannte Einheit von Raum und Zeit, von Zeit im Raum und Raum in der Zeit. Während das Räumliche eher die Aspekte Ruhe, Statik, Struktur, Gleichzeitigkeit, Einheit, Getragenheit und Umfassung vertritt, steht das Zeitliche für Ungleichzeitigkeit, Werden, Unruhe, Dynamik, Aufbruch, Bewegung, Zielorientierung, Auflösung, Vergänglichkeit, Veränderung und Verlust. Die konkrete Dynamik des Kosmos bringt über seine Räumlichkeit eine neue und fundamentale Symmetrie hervor, nämlich in Form seiner relativ gleichmäßigen Expansion. Es scheint so, als dehne sich das All von einem Punkt in alle drei räumlichen Richtungen allmählich aus (und kreist dabei vielleicht als ganzes noch, analog den Galaxien). Sowohl zeitlich als auch räumlich strebt das Universum nach Vergrößerung, und tendenziell ist sein Fluchtpunkt das Unendliche, das es allerdings weder als Raum- noch als Zeitgeschehen erreicht. Diese »innere Intention« offenbart ein Kraft- und Sinngeschehen, das auf die Aktivität von überendlichen Wirkfaktoren schließen lässt, die das All bewegen und aufbauen. Und so verhält es sich auch, wie die philosophische Ermittlung der Kausalität in den vorigen Kapiteln ergab. Die kosmische Evolution zeigt aber nicht nur Aufbau, sondern auch vielfältigen Um- und Abbau. 43 Mehr noch beweist die genaue Betrachtung, dass neuartige Aufbauordnungen bzw. neue Schichtungen nur dadurch realisiert werden, dass ein stabiler Abbau stattfindet. So ist das organische Leben erst dadurch möglich geworden, dass das Sonnensystem bzw. der Planet Erde abkühlte, und so kann sich ein Tier nur dadurch erhalten, dass es Pflanzen oder andere Tiere zerstört. 44 Und selbst der Mensch kann nur überleben, wenn er sich die Ressourcen der Natur zu Nutzen macht und letztlich vernichtet bzw. nur teilweise verbraucht, teilweise bewahrt und wiederherstellt. Dieses Prinzip lässt sich als das symmetrische Prinzip des ständigen Gebens und Nehmens, des fortgesetzten Stoffaustausches und Stoffersatzes bestimmen. Was von vielen in der organischen Welt allzu anthropomorph als grausames Fressen- und Gefressenwerden gedeutet wird, offenbart sich für einen tieferen Blick als ständiges
H. Kessler (Hrsg., 2000). Vgl. D. S. Peters (2000, 27–37). Als ein Abbauphänomen kann auch die Tatsache gedeutet werden, dass in der wohl anfänglichen Polarität von Materie und Antimaterie das Bestehen der Antimaterie massiv eingeschränkt bzw. aufgehoben wurde, und der Kosmos sich überwiegend im Sinne der »positiven Materie« entfaltet.
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Natur und Leiden
Geben und Nehmen, letztlich sogar als Tausch- und Austausch-, ja – noch tiefer erkannt – als wahres Opferungs- und Liebesgeschehen. 45 Mit der zeitlichen Asymmetrie hängt eine doppelte materiale Asymmetrie eng zusammen, die zu einer besonderen Zeitstruktur des Kosmos führt und die sich im zweiten thermodynamischen Hauptsatz niederschlägt. Nach diesem so genannten Entropiegesetz nimmt diejenige Energie, die zu Energiefluss, Arbeit und Aufbau komplexerer Systeme verwendet werden kann, mit der Zeit im gesamten Kosmos konstant und konsequent ab, so dass sich ein Endzustand abzeichnet, in dem alle Energie so gleichmäßig verteilt ist, dass kein Spannungszustand mehr aufgebaut werden und damit kein Energiefluss mehr zustande kommen kann; Arbeit kann dann nicht mehr geleistet werden. 46 Mit diesem Wärmetod schwindet alle »Wärme« im Tod der Kälte, die aber nie den Nullpunkt nach Kelvin erreicht, was bedeutet, dass sich stets etwas bewegt. Während das All an seinem Anfang den heißestmöglichen Zustand aufweist, weist es an seinem Ende den kältestmöglichen Zustand auf. Diese fundamentale Asymmetrie bedingt das für alles Leben entscheidende Naturgesetz, dass komplexere Systeme, die schon mit den einfachsten Molekülen anheben, nur in einem gemäßigt-mittleren Entropiebereich entstehen und erhalten werden können. Weder das All am Anfang noch das All am Ende ist mit höherkomplexen Gebilden vereinbar. Diesem Grundsatz entspricht die Stellung der Lebewesen, insbesondere des Menschen, die sich in etwa gleich weit von den kleinsten kosmischen Gebilden (Photonen, Elektronen, Quarks, Gluonen) und den größten kosmischen Körpern (Sonnen, Sonnensystemen, Galaxien, Galaxienhaufen) befinden. Alles andere als ein Zufall zeigt sich hier eine weitere kosmische Asymmetrie: Würde sich der Kosmos ausschließlich gemäß dem En-
Auch in der Ontogenese, also der Individualentwicklung finden ständig Auf-, Abund Umbauprozesse statt, so z. B. im redundant angelegten Säuglingsgehirn, das schon früh viele neuronalen Verknüpfungen abbaut, die nicht gebraucht werden. In der Pubertät findet schließlich ein tiefgreifender Umbau des Gehirns und überhaupt des ganzen Körpers statt. Vgl. G. Hüther (2009). 46 Indem C. F. v. Weizsäcker (1954, 31 ff.) den Zusammenhang von Zeit, Entropie und Wahrscheinlichkeit erläutert, zeigt er auf, dass das Universum einen Anfang haben muss und auf den finalen Zustand des Wärmetodes zugeht, einen Zustand, der mit Entstehen, Werden und Vergehen, mit Kampf und Leben unvereinbar ist. Hier ist alles Ruhe, gleichsam als Ausdruck eines »Nirwana«, eines endgültigen Angekommenseins und Friedens. Am Ende verabschiedet sich das Leben aus diesem Kosmos. 45
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tropiegesetz verhalten, würde also nur dieses Gesetz bis ins Kleinste gelten, wäre der Aufbau komplexer Systeme, vor allem, wenn dieser Aufbau konsequent und über lange Zeit erfolgen soll, unmöglich. Entsprechend der Einschränkung dieser Asymmetrie hat sich jedoch sowohl die anorganische Welt der Moleküle als auch die organische der Organismen über Milliarden Jahre in jenem mittleren Zeitraum des Kosmos entwickelt, den man den temperierten Zustand des Kosmos nennen kann, was Wirkfaktoren voraussetzt, die zwar das Entropiegesetz nicht im Ganzen aufheben, aber im lokalen Bereich konterkarieren können. 47 Diese Asymmetrie ist grundlegend und beweist, dass der Kosmos nicht nur durch physikalische Wirkkräfte erbaut wird: Schon die chemischen, erst recht die biologischen Erscheinungen als »neue Ereignisse« fern vom entropischen Gleichgewichtszustand können nur durch »Zusatzfaktoren« erklärt werden, eben solche, die einem System Energie zuführen und damit die innere Energie (Enthalpie) erhöhen, diese innere Energie binden und, solange der Organismus besteht, erhalten können, um daraus neue Strukturen zu erbauen. Rein physikalisch wäre das nicht zu verstehen.
Gemäß I. Prigogine (1998) tritt die anti-entropische Anomalie bereits auf der Stufe von chemischen Prozessen auf. Ohne sie wären inhomogen-organische Prozesse unmöglich, die offene Systeme mit ständigem Energieumsatz zur Aufrechterhaltung von Ungleichgewichten darstellen. Ordnung und stabile Strukturen werden hier fern vom (entropischen) Gleichgewichtszustand aktiv und gegen den Entropiedruck durch einen Energiefluss aufrechterhalten, weswegen I. Prigogine sie inhomogen bzw. »dissipativ«/zerstreut nennt, welche Bezeichnung nicht ganz glücklich ist, wenn man bedenkt, dass durch den gesteuerten Energiefluss (!) höhere Ordnung erst aufgebaut und erhalten wird. Ständig aufrechterhaltene »Unordnung«, gewissermaßen »fließende Unordnung« bzw. fließende Zerstreuung (»dissipatives Chaos«) ermöglichen und kennzeichnen auf diese Weise organische Systeme und ermöglichen Leben. Daher kann I. Prigogine (1998, 23) so weit gehen und behaupten: »Im Gleichgewicht ist die Materie blind, in gleichgewichtsfernen Zuständen beginnt sie wahrzunehmen.« Als einen Hauptgrund für die Dissipation sieht I. Prigogine die Unumkehrbarkeit der Zeit an, ohne die die Selbstorganisation von Lebewesen unmöglich wäre. Das meint aber nichts anderes als Geschichtlichkeit mit der grundlegenden Möglichkeit des Auftauchens von »Ereignissen«, die nicht durch Gesetze, sondern nur »narrativ« erfasst werden können und spontane Neuerungen im Weltgeschehen darstellen. Damit erhält schon die Physik ein übergesetzlich-geschichtliches Moment: Anorganische, organische und menschliche Natur rücken so näher zusammen. Philosophisch kritisch muss darauf hingewiesen werden, dass gerade die spontane Neuerung durch die Wahrscheinlichkeits- und Chaostheorie nicht genügend erklärt werden kann; hier bedarf es kreativer und sinnhaft aufbauender Potenzen.
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Damit wird der Kern der »Kraftspezialisierungstheorie«, wie sie B. v. Brandenstein 48 in seiner Metaphysik entwickelt, berührt: Sie besagt, dass im Verlauf der kosmischen Evolution immer neue zweitursächliche, also geistige Kraftarten auftauchen, die ihre Wirkungen in harmonisch-passender Weise auf den vorangehenden Gebilden aufbauen, wodurch erstens komplexere Einheiten und zweitens neue Qualitäten, Gesetzmäßigkeiten und Verhaltensweisen entstehen. Ein Atom hat ganz andere Eigenschaften als ein Photon; ein Molekül ganz andere als ein Atom; eine Zelle ganz andere Eigenschaften als ein Molekülkomplex; ein Organismus ganz andere als eine Zelle; ein Schwarm ganz andere als ein Organismus. In diesem Grundsatz gründet die so genannte Emergenztheorie, die allerdings nur das Dass, Wie, Wo und Wielange der neu »auftauchenden« Naturgebilde und Naturqualitäten beschreibt, nicht jedoch ihr Wodurch und Woher zu erklären vermag. Das gelingt erst dem geklärten und bis auf seine Gründe durchdachten Kausalprinzip. Im Zusammenhang mit diesem Komplexierungsprozess, der nicht überall im Kosmos gleich abläuft, sondern nach heutiger Kenntnis nur auf der Erde bis zum Leben und da wieder nur bis zum menschlichen Dasein geführt hat, treten bestimmte Gesetzmäßigkeiten in Kraft, die von großer Bedeutung sind. 49 Die erste Regel wurde schon genannt: Je fundamentaler und damit älter ein physisches Gebilde ist, desto einfacher ist es strukturiert bzw. umgekehrt: Je abkünftiger und jünger es ist, desto komplexer kann es gebaut sein. 50 Die zweite Regel bindet sich streng an die erste und besagt: Je fundamentaler eine kosmische Erscheinung, desto universaler ist sie. Oder umgekehrt: Je abkünftiger ein kosmisches Gebilde ist, desto lokaler, desto stärker ist es in der Regel räumlich und zeitlich eingegrenzt. Während die Gravitationskraft nach heutigem Wissen im gesamten Universum wirkt, wirkt die Photosynthese nur so weit, wie die Pflanzen reichen. Die Größe des Wirkungs- und Geltungskreises eines kosmischen Gebildes ist eine direkte Funktion seiner Stellung Siehe B. v. Brandenstein (1966, Bd. 3, 288 ff.). So gibt es viele Entwicklunsglinien der Organismen, die sich eher langsam entwickeln und dann bis heute auf einem Niveau stehen bleiben, z. B. solche bradytelische Formen wie der Quastenflosser, andere, die aussterben, andere, die sich anscheinend zurückentwickeln. Vgl. P. Overhage (1964, 161 ff.). 50 Vgl. zu den kosmischen Regeln B. v. Brandenstein (1979 a, 94–98) und (1979 b, 185–253). 48 49
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im Schichtenbau der Welt. Im Falle der menschlichen Seele wirkt nur noch ein geistiger Kraftfaktor auf ein einziges physisches Gebilde, auf den Leib. Die dritte Regel schließlich vermittelt zwischen der ersten und zweiten: Nur da, wo die fundamentaleren Kraftwirkungen gemäßigt auftreten, können komplexere Kraftwirkungen ansetzen und aufgebaut werden: Ein Molekül zerfällt, wenn es beliebig erhitzt wird; ein Organismus wird zerstört, wenn alle möglichen Substanzen in ihn eindringen. Mäßigung und Abgrenzung werden hier bedeutsam. Das bringt eine neue Asymmetrie ins Spiel, die als vierte Regel angesprochen werden kann: Je weiter die kosmische Evolution fortschreitet, desto verdichteter, feinteiliger, innerlich differenzierter ist die Struktur eines Gebildes, was, wenn man dies extrapoliert, bedeutete, dass die Evolution einem Organismus zustrebt, der an Intensität oder Innerlichkeit nicht mehr zu überbieten ist. Unüberbietbar wäre aber nur solch ein Wesen, das keine weitere räumliche und strukturelle Verdichtung mehr zuließe. Mit dem im Kern unräumlichen menschlichen Geist ist diese Grenze, die nicht überschritten werden kann, erreicht. Dagegen sind in ihm strukturelle »Verdichtungen« durchaus noch möglich, die sich etwa als zunehmend geistig-kulturelle Differenzierungs-, Integrations-, Verinnerlichungsund Bewusstwerdungsprozesse manifestieren. Hier an diesem Punkt werden Potential und Sinn des kosmischen Komplexierungsgeschehens sichtbar: Je dichter, intensiver, differenzierter, komplexer und integrierter ein Gebilde wird, desto intrinsisch reicher wird es, damit umso innerlicher, selbsthafter, »seelischer« und »geistiger«. Schon ein Amöbeneinzeller, der von Trieben, Bedürfnissen und Instinkten gelenkt wird, weist eine Innerlichkeit auf, die auf der Molekülebene nicht angetroffen wird. 51 Und doch sind weder Molekül noch Atom und voratomare Physis ganz ohne Intensivität, ganz ohne innerlichen Ausdruck. Nur darf nicht die anthropomorphe Elle angelegt, vielmehr muss die vormenschliche Natur aus ihrem Eigensein heraus betrachtet werden. Mit der Zunahme der Komplexität verbindet sich Weiteres, nämlich die zunehmende Vulnerabilität der kosmischen Gebilde. Je Nur wenige Philosophen der Neuzeit wie E. Becher, A. Wenzl, H. Jonas (1973) und B. v. Brandenstein besaßen den offenen Blick, auch in einfachen Lebewesen »Innerliches« zu gewahren. »Innerlichkeit« aber impliziert gemäß diesen Denkern sowohl »bedürftige Freiheit« als auch »Sorge um sich selbst«.
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höher ein Wesen steht, desto angreifbarer und verletzbarer, desto weniger resistent ist es, und desto mehr Sicherungs- und Schutzsysteme braucht es, um zu bestehen. Die Bildung von Zellmembran und Zellwand, von Haut, Fell, Panzern, Federkleid, Schuppen usw. belegt dies eindrücklich. An dieser Gesetzmäßigkeit der fünften Regel liegt es, dass komplexere Wesen zeitlich befristet existieren. Während die Gravitation oder die elektromagnetischen Felder »unsterblich« sind, zerfallen Photonen, Elektronen, Atome, Moleküle und Organismen, und zwar umso früher und rascher, je höher sie in der Komplexierungsreihe stehen. Bei den Organismen nimmt dieses Zeitgesetz eine neue und bedeutsame Gestalt an: das Altern und den Tod. Doch erst dieses Altern eröffnet die Möglichkeit (und Notwendigkeit) der Fortpflanzung, der man in der anorganischen Sphäre nicht begegnet. Den Untergang gibt es schon vororganisch, da auch Moleküle vergehen und verschwinden, doch das Altern deutet sich höchstens nur an, so etwa beim radioaktiven Zerfall oder bei der Eintrübung eines Edelsteines. Seine volle Gestalt erreicht der Alterungsprozess erst im geordnet ablaufenden, sinnhaft gesteuerten, keineswegs zufälligen oder nur mechanischen Um- und Abbauprozess des alternden Organismus. Würde der Organismus nicht altern und sterben, wäre neues, kreativ-anpassungsfähiges Leben unmöglich. Allein schon der ökologische Raum wäre so dicht besetzt, dass neues Leben darin keinen Platz fände. Altern und Tod dienen also dem Leben und ermöglichen seinen Weiterbestand, seine Verjüngung, seine Erneuerung und damit wieder sein Überleben. Keineswegs ist der Tod, wie S. Freud, M. Heidegger und andere – allzu positivistisch – behaupten, das Ziel des Lebens, sondern – wie es J. W. v. Goethe sah – sein genialstes Mittel der Selbsterhaltung und der Weiterentwicklung. 52 Dabei ist zu betonen, dass nur das Individuum vom Tod betroffen wird, was beweist, dass in der vormenschlichen Lebewesenwelt die Art bzw. die Gattung über das einzelne Wesen herrscht und es in ihren Dienst nimmt. Erst beim Menschen erhebt sich das Individuum auf die gleiche Stufe wie die Gattung, so dass es nicht mehr ohne Weiteres bereit ist, sich dieser zu opfern. Nicht von ungefähr ist das eine der tiefsten Quellen menschlicher Konflikte, Übel und Leiden. Die Aufgipfelung des Individuums zum nicht relativierten personalen Wert, allgemein Vgl. J. W. v. Goethe (1998, 45 ff.: »Die Natur« (Fragment), veröffentlicht 1783 im Tiefurter Journal. In: Hamburger Werke, Ausgabe in 14 Bänden, dtv, Band 13, Naturwissenschaftliche Schriften I).
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Würde genannt, wird mit dem Preis der interpersonalen Rivalitäten und der innerartlichen Grausamkeiten und Kriege bezahlt. Eine weitere wichtige Grundstruktur benennt die sechste Regel: die Polarität. Sie durchzieht das gesamte All, sowohl zeitlich als auch räumlich, und manifestiert sich in stärkster Form in der organismischen Geschlechterpolarität. 53 Vielleicht aber dürfen schon vororganische Bildungen wie Gravitation und Fugitation, wie die gegensätzlichen elektrischen Ladungen oder das Säure-Basen-Verhältnis in der Chemie unter dem Gesichtspunkt der Polarität gesehen werden. 54 Hier hilft nur die konkrete empirische Forschung weiter. Entscheidend ist, dass es sich beim polaren Gegensatz weder um einen negativen noch um einen logischen, sondern um einen positiv-materialen Gegensatz handelt. Was heißt dies? Der logische Gegensatz oder die kontradiktorische Kontrarietät ist der Selbstwiderspruch, die contradictio in adjecto: 55 In ihrem Falle wird ein und dasselbe vom selben Sachverhalt in selber Hinsicht im selben Augenblick bejaht und verneint. Zum Beispiel: Etwas existiert jetzt und existiert jetzt nicht. Oder: Das All hat einen Anfang und hat keinen Anfang. Es ist klar, dass dieser logische Gegensatz nur im Denken besteht – im Sein kann er nicht bestehen, da können nur die Bejahung oder die Verneinung gelten, nicht beides zugleich. Er ist also eine reine »Denkgröße«. Der negative Gegensatz oder die negative Kontrarietät stellt dagegen einem Positivum einen Mangel gegenüber: »Er beherrscht die griechische Sprache, sie nicht«, »Sie ist wahrhaftig, er lügt.« Dieser Gegensatz ist zugleich im Sein und im Denken verankert, Letzteres vor allem deshalb, weil er durch einen Vergleich gebildet wird. Im Gegensatz dazu stehen sich im Falle des positiven oder oppositionellen Gegensatzes zwei positive Realitäten gegenüber: Himmel und Erde, Luft und Wasser, Intuition und Diskursivität, Verstand und Gefühl, Wachen und Schlafen, Sprechen und Hören, Geben und
Wie weiter oben beschrieben, stellen bereits Raum und Zeit eine Polarität dar, aber auch Materie und Antimaterie, Entstehen und Vergehen, Expansion und Kontraktion, Wärme und Kälte, Aufbau und Abbau usw. 54 Auch das Raum-Zeit-Verhältnis kann polar beschrieben werden, nämlich als der positive Gegensatz von Simultaneität und Sukzessivität, von Statisch-Beharrendem und Wandelbarem. 55 Zur logischen Problematik des Gegensatzes vgl. A. Arnauld und P. Nicole (1994, 108 ff.). 53
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Nehmen, Einheit und Vielheit, Kreativität und Tradition, Mann und Frau usw. Ergänzen sich die positiv einander entgegengesetzten Realitäten zu einer umfassenderen Einheit bzw. sind dazu in der Lage, spricht man vom polaren Gegensatz. Diese Differenz ist immer ein positiver, nie ein negativer und schon gar kein kontradiktorischer Gegensatz. Der Gegensatz von Mann und Frau gehört hierher. Um eine weitere Nuance ist der agonale oder dialektische Gegensatz bestimmt: Hier stehen sich zwei Kräfte gegenüber, die sich aneinander im konstruktiven Sinne messen und den jeweiligen Gegner zu überwinden trachten. Der griechische Ringkampf und der moderne Sport gehören hierher. Bekommt der agonale Gegensatz ein feindselig-destruktives – im Sport unfaires – Moment, hat man den adversären Gegensatz vor sich: In seinem Fall stehen sich zwar zwei positive, evtl. polare oder auch dialektische Gegensätze einander gegenüber, doch weder in einem neutralen noch in einem ergänzenden, sondern in einem feindselig sich bekämpfenden Verhältnis. Ziel ist die Entmachtung, Verletzung oder Vernichtung des Gegners, der zum Feind gestempelt wird. Im Falle der Vernichtung liegt ein »mörderischer« bzw. extingierender Gegensatz vor. Leider werden diese Gegensatzformen immer wieder vermischt und dadurch verzerrt, so etwa, wenn das Verhältnis von Mann und Frau als negativer Gegensatz (gut-böse, vernünftig-unvernünftig) oder prinzipiell adversärer Gegensatz aufgefasst wird. G. W. F. Hegel ging so weit, den logischen Gegensatz, der mit dem logisch-kontradiktorischen Selbstwiderspruch identisch ist, als positiv-polaren Gegensatz zu behandeln, wodurch seine gesamte Lehre von Sein und Denken in eine Schieflage gerät. Am Anfang des kosmischen Werdens steht ein positiver Gegensatz, der bis heute in entscheidendem Maße formbildend ist und in der modernen Physik nicht als echter Gegensatz zu Bewusstsein kommt: der Gegensatz von zentripetaler Schwerkraft und von zentrifugaler Expansiv- oder Wärmekraft, lateinisch: von Gravitation und – wie ich es positiv nennen möchte – »Fugitation«. 56 Denn nach Die Bezeichnung und Beschreibung der zentrifugalen Wärmekraft als Trägheitskraft ist insofern unglücklich und ungenügend, als dadurch der positive Aspekt dieser Kraft untergeht. Die Trägheit als solche ist überhaupt keine Kraft, sondern die natürliche Folge einer positiv-energetischen Expansionstendenz.
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allgemeiner Auffassung der Wissenschaftsgemeinde bestand das Universum zunächst aus reiner thermischer Energie, noch ohne alle Partikel und Struktur, die sich unter der Einwirkung der Gravitation zunehmend so zusammenballte, dass ein kritischer Punkt erreicht wurde, an dem sich die Energie so sehr erhitzte, dass sie schließlich explodieren und auseinanderstieben musste. Diese Expansionskraft (Fugitation) ist mit der Wärmekraft identisch und steht hinter den Phänomenen der Brownschen Molekularbewegung, der kosmischen Hintergrundstrahlung und der zahllosen entropiebildenden Prozesse. Daher sind alle Versuche, das gesamte kosmische Werden auf eine einzige Kraft zurückzuführen, wie es A. Einstein wollte, nämlich nur auf die Gravitation, zum Scheitern verurteilt. 57 Wäre Letzteres der Fall gewesen, wäre es nicht zur Expansion des Weltalls gekommen, weil die zentripetale Gravitation alle Materie zusammenhält und konzentriert. Andererseits hätte sich ohne die Gravitation die Energie nicht so zusammengeballt, dass sie explodiert, und zumindest die späteren Strukturbildungen der Materie im Kleinen wie im Großen, bei den Atomen wie bei den Galaxien, wären ohne die Einwirkung der Gravitation nicht möglich gewesen. Dagegen erklärt sich sowohl die expansive Dynamik als auch die Strukturbildung des Kosmos zwanglos, wenn man das gespannte, wechselvoll-dynamische und gleichsam dramatische Zusammenspiel der zwei Grundkräfte Gravitation und Wärmekraft in Anschlag nimmt. Während die eine Kraft für Struktur, Dichte, Festigkeit, Konstanz und Zusammenhang steht, steht die andere für Dynamik, Veränderung, Expansion, Auflösung und Energiefortpflanzung. Wird die Wärmekraft nicht als eigenständige und fundamentale Naturkraft gesehen, was heute der Fall ist, bleibt das kosmische Geschehen unverständlich. 58 Daran leidet die heutige PhyAuch C. F. v. Weizsäcker (1954, 61) spricht von zwei kosmischen Hauptkräften, der Gravitation und der Zentrifugalkraft, und er meint, die Zentrifugalkraft sei eine Folge der unvermeidlichen Rotation des kosmischen Urnebels. Darauf ist zu sagen, dass zwar eine jegliche Rotation zentrifugale Kräfte erzeugt, doch ist anzunehmen, dass die allererste Zentrifugalbewegung die Folge der Urwärme des Kosmos ist, da jede Form der Energie gemäß den thermodynamischen Hauptsätzen zu expandieren strebt und schon bei geringsten quantenphysikalischen Abweichungen von den radialen Vektoren sich zu drehen beginnt. Die Rotation scheint daher eher eine Folge der Fugitation zu sein. 58 Mit der expansiven Fugitation als real physikalischer, allerdings teilchenfreier Kraft in einem entsprechenden Energiefeld (»Inflatron«) wird das »Hubblesche Gesetz« verständlich, wonach sich die Galaxien mit zunehmender Entfernung immer schneller bewegen und voneinander entfernen. Man könnte dies so deuten, dass mit 57
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sik, die sich in mathematische Spekulationen, manchmal schlimmer als jede Metaphysik versteigt und den Kontakt zur physikalischen Wirklichkeit verliert. Die Schwierigkeiten und Inkonsistenzen der Relativitätstheorie, die Probleme der dunklen Energie und Materie, die Beschleunigung der kosmischen Expansion u. a. m. kann sie auf diesem Weg, der eine Sackgasse ist, nicht lösen. Wenn entsprechend dem neu ermittelten transzendenten Kausalmodell klargestellt ist, dass alle empirischen Wirkungen und Gebilde auf geistige Wesen zurückgehen, fragt sich, was sich in den physikalischen Tatsachen der Gravitation und Fugitation ausdrückt. Da mit der Zentripetalität der Gravitation Festigkeit, Ballung und Kraft einhergehen, und da in der Expansivität der Wärmekraft Dynamik, Bewegung und Zerstreuung dominieren, darf man unter der erwiesenen Annahme der Geistigkeit der dynamischen Naturursachen den hermeneutischen Schluss wagen, dass in der Gravitation eher das Willens- und Baumoment des Geistes, in der Expansitivät eher das Gefühls- und Vermittlungsmoment der geistigen Wesenheiten zum Ausdruck kommt. Auf Wärmekraft und Gravitation bauen die nächsten physikalischen Kräfte auf, so vor allem die elektromagnetischen Feldkräfte, wozu auch das Licht, die Gamma- und die Radarstrahlung zählen,
dem zunehmenden Abstand vom heute bloß virtuellen Zentrum des Universums die Gravitation relativ schwächer, die Fugitation relativ stärker wird oder einfach zu dominieren beginnt. Anscheinend begann die Dominanz der »dunklen Energie«, also der Fugitation über die Gravitation, vor acht Milliarden Jahren. Anerkennt man dies, ist man nicht mehr auf die Annahme einer teilchengebundenen »dunklen Energie« angewiesen, die auf geheimnisvolle Weise die zunehmend geschwindere Expansion verursacht und gleichsam – von außerhalb des Universums bzw. um das Universum herumgelegen – das All auseinanderzieht. Zusammen mit der Gravitation der neuentdeckten schwarzen Löcher, besonders in den Spiralnebeln, könnte dies zusätzlich das Problem der »dunklen Materie«, etwa die »zu große« Rotationsgeschwindigkeit der Spiralnebel einer einfachen Lösung zuführen. Denkt man das »fugitative Szenario« sachlogisch weiter, ist zu erwarten, dass die Wirkung der Gravitation mit der Expansion des Weltalls gegen Null geht, so dass die Fugitation völlig frei zur Auswirkung kommt und sich dann nicht mehr weiter wie zur Zeit beschleunigt, sondern ein konstantes Geschwindigkeitsniveau erreicht. Da die metaphysische Materie nicht aktualunendlich sein kann, sondern höchstwahrscheinlich endlich ist, also auch nicht pU endlos erweiterbar, müsste das Weltall irgendwann eine Grenze erreichen, die es nicht mehr überschreitet. Ob es dort zum Stillstand kommt oder gleichsam »zurückprallt« und sich wieder kontrahiert, ist bei der jetzigen Kenntnis der Verhältnisse schwer zu entscheiden.
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und die atomaren Kräfte, also die schwache und die starke Wechselwirkung im Atomkern. Die starke besorgt den Zusammenhalt des Atomkerns, die schwache steuert den radioaktiven Zerfall. Über die Elektronenschalen vermittelt die schwache elektromagnetische Kraft die chemischen Molekülbindungen, doch gibt es sie als reine Feldkraft bereits vor und außerhalb der Atome und Moleküle, eben als reines Energiefeld, was beweist, dass die atomaren Kräfte auf den elektromagnetischen aufbauen. Gemäß der Weinberg-Salam-Theorie lassen sich die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkungskraft als elektroschwache Wechselwirkung zusammenfassen. Da Wärmekraft und Gravitation keine gegensätzlichen Ladungszustände aufweisen, können sie unmöglich mit den elektromagnetischen, immer ladungspolaren, anziehend-abstoßenden Kräften vereinigt werden. Hier bleiben Wesensunterschiede, denen ein tiefer Ordnungssinn entspricht: Während die Wärmekraft keine Anziehung, sondern nur Dissipation und die Gravitation nur Anziehung bewirkt, stehen die elektromagnetischen Kräfte als anziehend-abstoßende Kräfte dazwischen und vermitteln und verfeinern auf diese Weise die kosmischen Prozesse und Gestaltbildungen. Ohne sie, die im mittleren Größenbereich angesiedelt sind, wäre die gesamte Welt der Moleküle und Organismen, die zwischen der teilchenfreien Wärmekraft, die am unteren Ende des Kosmos wirkt, und der teilchenfreien Gravitation, die am oberen Ende des Kosmos, auf der Ebene der Sterne und Galaxien wirkt, unmöglich. Die elektrisch-polaren Kräfte sind demnach sinnvoll zwischen zwei in sich apolare, doch gegeneinander polare Grundkräfte der Natur eingespannt und vermitteln vom Atom bis zur modernen Informationstechnik eine reiche, feine und lichtgeschwindigkeitsschnelle Welt des Energie-, Signal- und Zeichenaustausches. In Hinsicht der Informationsvermittlung erweisen sich dagegen die Wärme- und die Gravitationskraft als zu träge und zu schwach. Dafür weitgehend ungeeignet, liegt ihre kosmische Funktion im »Nähren« (thermische Energie) und »Tragen« (Gravitation). Geistig-hermeneutisch betrachtet, könnte in der Wärmekraft eher die Gefühlsseite, in der Gravitation die Willensseite und in den elektromagnetischen Kräften die Verstandesseite des Geistes (Vermittlung von Information) zum Ausdruck kommen. Während ohne die Letztere die heutige Informationskultur unmöglich wäre, wären ohne die beiden anderen das anorganische Sein und das organische Leben unmöglich. Wer offen für die hermeneutische Dimension der vormenschlichen Welt ist, der kann hier eine große und tiefe Weisheit 361 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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und eine Art – nicht leibnizisch verstandener, vielmehr offener – »prästabilierter Harmonie« erahnen. Auf den voratomar-physikalischen Kraftwirkungen – der Thermoenergie (Fugitation), der Gravitation und den elektromagnetischen Feldkräften – bauen die atomar-molekularen Gebilde auf, die im chemischen Periodensystem eine grandiose Grundordnung der Stoffe und Substanzen entfalten. Der Ort, wo sie entstehen, sind die kosmischen Nebel und vor allem die Sterne und Planeten, während sie im interstellaren Raum – im Gegensatz zu den voratomaren Kraftwirkungen – nicht vorkommen. Mit ihnen hat sich das All von seiner reinen Energie- und Strahlungsstufe entkoppelt und sich so die Möglichkeit der Stoffkombination und Stoffumwandlung eröffnet. Die Individualität der Stofflichkeit und damit die schier endlose Vielfalt des materiellen Seins zeichnet jetzt das Gesicht des Alls. Der ursprünglich reine Energiezustand des Kosmos hat sich dagegen als sehr schwache Hintergrundstrahlung erhalten. Es mutet wie eine glückliche Fügung an, dass auf dem Planeten Erde nahezu alle chemischen Stoffe, meist sogar in reichlichem Maße vorkommen. Die gesamte moderne Technik, etwa in Form der Kunststoffchemie und Materialtechnik, wäre unmöglich ohne diese Fülle und Bandbreite der Materialität – man denke an die »seltenen Erden«. An dieser Stelle ist es unmöglich, die komplexe Ordnungsstruktur der chemischen Welt, an deren unterer Grenze das Wasserstoffatom, an deren oberer Grenze das DNS-Molekül steht, nachzuzeichnen. Offensichtlich aber vermittelt die Welt der Chemie zwischen den voratomaren und den biologischen Gebilden und imponiert überhaupt durch ihren ungeheuren Stoffwechsel-, d. h. Auf-, Ab- und Umbaucharakter. Es ist geradezu eine Lust der Verwandlung, der Metamorphose, die hier zum Vorschein kommt und – hermeneutisch betrachtet – als Ausdruck einer großartigen Phantasiekraft gedeutet werden darf. Innerhalb dieser chemischen Welt treibt die Kraftspezialisierung ihr Werk immer weiter voran, sie bildet aus einfachsten nach und nach die komplexesten Moleküle, so dass es möglich wird, elementar-tragende und sehr stabile von komplexen und instabilen Gebilden zu unterscheiden. Auch das Gesetz der Polarität wirkt sich vielfach aus, etwa in Form metallischer und nichtmetallischer, saurer und basischer, gasförmiger und fester Elemente. Überhaupt wird für den Aufbau der höheren Strukturen des Kosmos das Phänomen des Aggregatzustandes bedeutsam: Gasförmige, flüssige und feste Zustände 362 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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mit ihren Zwischenzuständen der Superfluidität, der Plastizität und Elastizität geben der Materie ein lebendiges Antlitz und machen das höhere, zunächst biologische, dann noetische Leben möglich. 59 Schließlich und endlich erweist sich die chemische Welt als so variabel, dass sie von den Lebewesen und vom Menschen, der das Periodensystem der Elemente künstlich weiterbaut, in nahezu endlosen Variationen von Stoffen erweitert werden kann. An dieser Stelle muss auf ein Phänomen hingewiesen werden, das selten bemerkt wird und eine siebte Regel aufzustellen erlaubt. Es scheint nämlich die Möglichkeit zu bestehen, dass eine höhere Strukturschicht eine tiefere in ihren Dienst nimmt und partiell umbildet. So tritt auf der chemischen Stufe der Atome und Moleküle die voratomar-elektromagnetische Kraft in neuer und an die Atome gebundener Gestalt, nämlich als schwache Wechselwirkung und als chemische Molekülbindungskraft wieder auf und wird zur Bildung der Atome und Moleküle in Dienst genommen. Analoges trifft man auf der biologischen Seinsstufe an: Zellen und Organismen nehmen physikalische und chemische Kraftwirkungen in Dienst und nutzen sie zu biologischen Zwecken, so z. B. beim Aufbau der DNS, bei der Photosynthese und der ATP-(Adenotriphosphat)-Bildung, also der spezifisch biologischen Energiegewinnung. Hier werden von den Organismen Elektronen von ihren Atomkernen getrennt und energetisch ausgenutzt! Auch der Mensch führt diese Gesetzmäßigkeit weiter und stellt ältere Kraftwirkungen und Organismen in seinen Dienst, mit der nicht seltenen Folge, dass diese Wesen eine tiefgreifende Umbildung wie im Falle der Züchtung erfahren. Aus all dem erhellt, dass die Schichten und Stufen der Natur grundsätzlich durchlässig und nicht »substantiell« hart voneinander getrennt sind, woraus folgt, dass sie in ihrer Seinsmodalität nicht grundsätzlich verschieden sein können. I. Kant und N. Hartmann beEine Sonderform bilden die Phänomene »Nebel« (Dunst, Dampf) und »Rauch«. Der Nebel ist ein gasartiges Gebilde, das aus Flüssigkeitstropfen, der Rauch ein gasartiges Gebilde, das aus festen Teilchen zusammengesetzt ist. Eine Ausnahmeerscheinung ist das Feuer, das nur als Transformationsgebilde fassbar ist: Unter hoher Energiebildung gehen feste oder flüssige Stoffe in einen gasförmig-leuchtenden Zustand, die »Flamme«, über. Bleibt das Feuer auf den festen bzw. flüssigen Zustand beschränkt, heißt es Glut, im gasförmigen Zustand heißt es Flamme. Insofern hier eine Energie- und Stoffströmung stattfindet, realisiert sich auch der flüssige Aggregatzustand. Die leuchtend-flammende Gasbildung kann direkt aus dem erhitzten festen Körper oder über eine Art Verflüssigungszustand erfolgen.
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haupteten genau dies und ordneten der physikalischen Welt die Modalität der Notwendigkeit, der menschlichen Welt die Freiheit zu. Wäre dem so, könnten die Lebewesen und der Mensch nicht auf der anorganischen Welt aufbauen, diese nicht durchdringen und für sich nutzen. Wie erkannt, herrscht in der Natur jedoch weder reine Notwendigkeit noch reine Willkür, sondern hoch geregelte, schichtenspezifische Freiheit. Was gestuft ist, ist die Freiheit, vom Urknall bis heute, und zwar in der Weise, dass ihr Regelungsgrad mit der Zeit bzw. Komplexität abnimmt und mehr Offenheit, Beweglichkeit und Freiheitsgrade zulässt. Doch auch das Wasserstoffatom ist ein frei geschaffenes und gestaltetes Werk von geistigen Naturkräften, in dem sich Kraft, Sinn, Intelligenz und Phantasie auswirken. Da nichts in der Natur ohne Gestalt, ohne Funktion, ohne Bewegungsdynamik und ohne Zusammenhang ist, kann es nicht ohne gestaltenden Grund, also ohne Sinn und tätige Sinnquelle sein. Auf der Welt der Atome und Moleküle, die schon für sich neue und höhere Komplexeinheiten darstellen, bauen in einem neuen Schritt weitere Einheitsbildungen auf: die lebendigen Zellen. 60 Ihr Hauptmerkmal ist die Abgrenzung nach außen, wodurch zwangsläufig eine Innenwelt und eine Außenwelt, damit aber auch die Gegensätze von »selbst« und »anders«, »eigen« und »fremd«, »Freund« und »Feind« und schließlich die Phänomene »Grenze«, »Schwelle«, »Durchlässigkeit«, »Übergang«, »Abwehr« und »Austausch« entstehen. Da die Zelle als Innenwelt nur dann einen Sinn ergibt, wenn sie sich als Ganzes und in ihrer »Innenwelt« (milieu interne) zu erhalten sucht, verknüpft sich mit ihrem Dasein fundamental so etwas wie »Lebenswille«, »Seinsbedürfnis« und Selbsterhaltungstrieb (conatus), also eine wesentlich seelische Größe, ohne die die Zelle weder Bestand hat noch gedacht werden kann. 61 Ob es bereits vor den Zellen Vgl. zum Thema der klassisch-darwinistisch bzw. neodarwinistisch gedeuteten Evolution: E. Mayr (1967, »Artbegriff und Evolution«); D. J. Futuyama (1990, »Evolutionsbiologie«); H. Meier (1992, »Die Herausforderung der Evolutionsbiologie«); E. Mayr (2005, »Das ist Evolution«); S. P. Thoms (2005, »Ursprung des Lebens«); V. Storch, U. Welsch, M. Wink (2007, »Evolutionsbiologie«); U. Kutschera (2008, »Evolutionsbiologie«); A. Lange (2012, »Darwins Erbe im Umbau. Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie«); von nicht-darwinistischer Seite vgl. P. Osterhage (1964) und neuerdings vor allem E. Jablonka/M. J. Lamb (2017, 119– 124), die empirisch die Nichtzufälligkeit vieler Mutationen und epigenetischer Prozesse nachweisen. 61 Und in der Tat muss der Zellorganismus sein »milieu interne«, wie C. Bernard 1865 hervorhob, gegen eine aus seiner Perspektive chaotisch-tosende und höchst ge60
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»Leben« im organischen Sinne, also »lebendige Großmoleküle« gab, ist nicht bekannt. Dass die zellenlosen Viren vor den Zellen bestanden, ist insofern unwahrscheinlich, als ihre Vermehrung vom Befall und von der Indienstnahme zellulärer Organismen abhängt. Aber es wäre denkbar, dass virenähnliche Organisationen schon vorher da waren und ihre Vermehrung auf anderen Wegen erreichten. Damit ist ein entscheidendes Kriterium genannt, das organisches Leben von anorganischer Organisation unterscheidet: die Vermehrung. Wachstum, das ebenfalls typisch für Lebewesen ist, gibt es auch auf vororganischer Stufe: Kristalle wachsen, gewisse Moleküle können wachsen. Aber die Vermehrung im Sinne der Selbstvermehrung, die wiederum zunächst nur als Selbstteilung möglich ist, scheint an die neue Organisationsform der Zelle geknüpft zu sein: Sie in der Tat kann sich in zwei Zellen zerteilen, die dann zu ursprünglicher Größe – allerdings nicht immer – anwachsen. In der Verbindung von Selbstteilung und Selbstwachstum, die als Autopoiesis bezeichnet werden kann, hat man die einfachste Form der Selbstbewegung vor sich, die für alles organische Leben charakteristisch ist und ein deutliches Zeichen für den Freiheitszuwachs ist, der hier fast wie mit einem Sprung stattfindet. Entscheidend für diese Selbstbewegung ist, dass sie gelenkt, geordnet und zielhaft ist. Die Zielhaftigkeit wiederum steht in einem offensichtlichen Zweckzusammenhang, in dessen Rahmen gewisse Stoffe, Lagen und Verhältnisse für die Befriedigung bestimmter Interessen und Bedürfnisse genutzt werden. Dabei kommt es zum Austausch spezifischer Stoffe, die aufgenommen, assimiliert, transformiert und ausgeschieden werden, was man Stoffwechsel nennt. Organisches Leben will vor allem sich erhalten, sich vermehren und sich ausbreiten, und um diese Ziele zu erreichen, muss es seinen Stoffwechsel mit Energie, also mit Nahrung und Flüssigkeit versorfährliche Umwelt in einem stabilen inneren Gleichgewicht halten, das »Homöostase« (W. B. Cannon), »offen-dynamisches Fließgleichgewicht« (L. v. Bertalanffy) oder »Homöodynamik« genannt wird. Darin spiegelt sich ein Aufwand an Kraft und kybernetisch regelnder Intelligenz wider, der in seiner außerordentlichen Hartnäckigkeit, Zuverlässigkeit und Durchsetzungsfähigkeit nur unzufällig als Ausdruck eines »vernünftigen Willens« gedacht werden kann. So wirkt die Grenzbildung identitätsstiftend, angefangen beim allereinfachsten Einzeller, der bar aller Intentionalität und damit bar allen Erlebens bzw. Bewusstseins nicht gedacht werden kann. Dieser empirische und hermeneutisch gedeutete Befund entspricht dem in den vorigen Kapiteln ermittelten Kausalprinzip.
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gen, muss also »rauben«, muss gewisse Lebensräume erobern, muss Gefahren abwehren und Feinde besiegen. In all dem offenbart sich ein enormer Zuwachs an Aktivität, Kampfbereitschaft und an Aggressivität. Und in der Tat ist alles Leben auf der Erde, auch das höhere und höchste, seinem Wesen nach »gierig«, räuberisch und schmarotzend. Das ist nichts »Schlimmes« bzw. »Böses«, sondern das ist seine Natur, die anders nicht realisiert werden kann. Damit sich die Selbstbewegung der Lebewesen sinnvoll aktualisieren kann, bedarf es zweier Instrumente: einerseits eines Systems von Bewegungsorganen, andererseits eines Systems von Wahrnehmungs- oder Sinnesorganen. Beides entwickelt das Leben sehr früh, schon auf der Stufe der Einzeller, und sucht es hier bis zur äußersten Differenzierung, so etwa bei dem mit einem Sinnesfleck und einer Fortbewegungsgeißel ausgerüsteten Augentierchen Euglena viridis – einer einzelligen Grünalge – auszugestalten. Das aber heißt, dass schon das Leben auf der Einzellerstufe durch Bewegung etwas erreichen und durch Rezeptionsorgane seine Umwelt erkennen will. Nimmt man hinzu, dass jeder Einzeller Feinde oder feindliche Umstände flieht und sich von günstigen und förderlichen Situationen anziehen lässt, also auf der Verhaltensebene so etwas wie attraktive und aversive Affektkorrelate, nämlich die der Angst und des Wunsches zeigt, kann wenig Zweifel bestehen, dass die Natur hier nicht nur eine neue Organisationsstufe erklimmt, sondern dass hier eine neue Geistigkeit zum Ausdruck kommt, nämlich jene, der es angelegen ist, die seelisch-geistigen Funktionen des geschöpflichen Geistes selbst sichtbar werden zu lassen, Funktionen wie Willensstrebung, Wunsch, Angst und Wahrnehmung, sogar, wenn man die Funktion des Erbgutes hinzunimmt, Gedächtnis und Identitätswahrung über die veränderliche Zeit hinweg. Es ist sehr aufschlussreich, dass das Leben auf der Stufe der Einzeller zu seiner Entwicklung viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als der gesamte übrige Evolutionsprozess benötigt. Die ersten Einzeller, die kernlosen Blaualgen (Prokaryonten), erscheinen im Archaikum und sind 3500 Millionen Jahre alt, während die ersten Vielzeller (Metazoen) erst im Jungpräkambrium um 600 Millionen v. Chr. auftauchen. Warum ist das so? Hier lässt sich ein neues, weiteres kosmisches Grundgesetz, die achte Regel, herauslesen, die wie folgt formuliert werden kann: 62 62
Diese Regel habe ich eigenständig entdeckt und will sie hier benennen; zumindest
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Die Aufbauordnung der kosmischen Evolution und ihre dynamischen Bildekräfte
Im Verlauf der kosmischen Evolution wird immer wieder besondere Sorgfalt auf die Schaffung der Fundamente gelegt, weil sie alles Weitere, was noch kommt, treu und zuverlässig tragen. Man denke sich den Fall, die Wesensstruktur des Einzellers (oder gewisser Moleküle) würde plötzlich instabil und beliebig. Dann bräche mit einem Mal die gesamte Welt der Organismen zusammen und zerfiele. In allen Phasen des kosmischen Prozesses haben die Zeiten, während derer die physikalischen, chemischen und schließlich biologischen Fundamente gelegt wurden, die meiste Zeit in Anspruch genommen. Sogar im Falle der Menschwerdung begegnet man diesem Gesetz. Keine Phase dauerte so lange wie die Steinzeit, insbesondere die Altsteinzeit, während die folgenden Stadien der Kulturentwicklung immer rascher aufeinander folgen, obwohl sie weitaus komplexer sind. Analoges fand in der vormenschlichen Welt der Lebewesen statt und bewirkt, dass sich die Evolution des Kosmos, je weiter sie voranschreitet, desto mehr beschleunigt, eine Tatsache, die heute zu einem schwerwiegenden Problem geworden ist, das die Menschen nicht mehr zu beherrschen vermögen. Doch wichtiger ist die Erkenntnis, dass alles Sein in diesem Kosmos zum Tragen anderen Seins berufen ist: Nichts und niemand ist nur für sich selbst da, sondern auch für Anderes – »Ein jeder trage des Anderen Last«, so lautet die verallgemeinerte Form der achten Regel. 63 Betrachtet man die Baustruktur eines höher entwickelten, etwa eukaryotischen Einzellers genauer, können weitere Korrelate von seelisch-geistigen Funktionen festgestellt werden. Mit am interessantesten ist die Erbsubstanz, die im Genom niedergelegt ist und bald in eine eigene Raumstruktur – in die des Nukleolus – eingefasst wird. Diese Eingrenzung geht einesteils auf die ausgeprägte Gliederungsoder Differenzierungstendenz des Lebendigen zurück, andererseits stellt sie einen Schutz vor biochemischen Interferenzen mit anderen Stoffen innerhalb der Zelle dar. Von ihrem inneren Sinn her leistet ist mir bisher kein anderer Autor begegnet, der sie erwähnt. Leicht ersichtlich ist sie mit dem »Gesetz der zunehmenden Beschleunigung« des Lebens verbunden, das schon lange bekannt ist. 63 Von dieser kosmischen Fundierungszeit kann vielleicht eine Art Inkubationszeit unterschieden werden, die in der biologischen Evolution bedeutsam ist und das Phänomen bezeichnet, dass für die Erstellung der grundlegenden Baupläne der Lebewesen eine meist in Latenz befindliche Vorbereitungszeit beansprucht wird, auf die hin dann die oft explosionsartige Manifestation der Neuerungen erfolgt, die wiederum von einer langsameren Ausdifferenzierungsepoche abgelöst wird.
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die Erbsubstanz zweierlei: Sie ist das Gedächtnis und die Identitätsbasis des betreffenden Lebewesens. Von daher wird verständlich, dass das Genom die höchste Steuerungszentrale darstellt, mit der alle Funktionen der Zelle gebündelt, geordnet und vermittelt werden. Bei komplexen Organismen übernimmt später das Nervensystem, insbesondere in Form eines Gehirns diese Aufgabe. Damit nicht genug, umgeben die Einzeller ihre empfindliche Zellhaut bald mit einer Zellwand und stabilisieren durch diese Grenzziehung (Abgrenzung) ihre Gestalt. Hierin unterscheiden sie sich nicht prinzipiell von späteren Schutzhüllen, Schutzpanzern, Federn und Fellen bei Weichtieren, Fischen, Reptilien, Vögeln, Säugetieren – und den Kleidern der Menschen. Erst mit den Wirbeltieren entwickelt sich ein inneres Stützsystem, das Knochengerüst, das äußere Stabilisierungen überflüssig, dafür andere, meist verhaltenstechnische Sicherungssysteme nötig macht. 64 Schließlich gibt es schon auf dieser untersten Lebensstufe vielfältige innere Organsysteme, etwa Assimilierungs- und Verdauungs-, Aufnahme- und Ausscheidungs- und schließlich Speicherungsstrukturen. Äußere Organellen wie Geißeln, Wimpern und Fühler dienen der Orientierung, Fortbewegung und Zielsteuerung im Raum. Überblickt man diesen, an dieser Stelle unvollständigen Bericht, kann man nicht umhin zu sehen, dass im Kleinstformat das Leben schon in Gänze da ist und seine typischen Eigenschaften aufweist. Es ist ein Holon, das sich in sich gliedert, und zwar sinnhaft und zweckvoll gliedert und alle seine Funktionen streng in einem Zentrum zusammenfasst und so ein echtes »Selbst« wird, das sich in seiner wechselvollen freund-feindlichen Umwelt kämpferisch behauptet und erst in der Vermehrung durch Zellteilung verschwindet. 65 Nachdem die Einzeller eukaryotisch wurden und ein Niveau der Funktionsgliederung ausbildeten, das optimale Leistungen ermöglichte und gewissermaßen das Ideal der Einzelligkeit realisierte, wobei
Ein Vorläufer des Knochengerüstes ist die knorpelartige Chorda bei bestimmten Weichtieren. 65 Das eigentliche Selbst drückt sich im Einzeller, genau gesagt, nur aus und ist, wie erkannt, jener Kausalfaktor, der dieses Gebilde hervorbringt, sich darin manifestiert und als geistiges Wesen bzw. Zweitursache identifiziert wurde. Zum Wesen des »Selbst« vgl. B. Wandruszka (2019: »Selbst, Selbststruktur und Narzissmus. Versuch einer Grundlegung«, Alber, Freiburg i. B.). 64
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sich manche mehr in pflanzenähnlicher Weise autotroph, manche in tierähnlicher Weise eher heterotroph zu ernähren begannen, machte die Evolution 600–500 Millionen Jahre v. Chr. einen neuen großen Sprung – den Sprung hin zur Vielzelligkeit. Was hier in relativ kurzer Zeit geschah, kann nur mit dem Begriff der Gestaltenexplosion beschrieben werden, während der in kurzer Zeit die Grundbaupläne der Organismen angelegt wurden. Obwohl die Einzeller bestens angepasst waren – im Übrigen an nahezu alle Klimate dieser Erde, selbst an kochende Quellen in der Tiefsee und an Eis und Schnee in den Polregionen – und bis heute in bunter Vielfalt existieren, so dass die von Ch. Darwin behauptete Notwendigkeit der »Weiterentwicklung« durch Anpassung nicht bestand, trat trotzdem ein neuer Lebens- und Gestaltungsimpuls ins Dasein, unvorhersehbar, kreativ, neu, vital und grenzenlos phantasiereich. Dabei kam es sogleich zu einer fundamentalen Aufspaltung des Lebens, nämlich in das Reich der Pflanzen und das Reich der Tiere, in Lebewesen, die sich autotroph von anorganischem Material, und Lebewesen, die sich nur heterotroph von organischem Material ernähren. 66 Dieser Differenz entspricht in passender Weise die grundlegende Organisationsform beider Reiche: Während die Pflanzen eher stationär am Boden haften, um aus der Erde ihre Nährstoffe zu ziehen, muss sich das Tier bewegen, um an seine lebende Beute heranzukommen. Darin spiegelt sich erneut eine Grundpolarität des Seins, die nämlich von überwiegend aktiver Rezeptivität und von überwiegend aktiver Spontaneität, die sich gegenseitig bedingen und ergänzen. Worin besteht nun aber der Sinn der Vielzelligkeit? Die Antwort liefert die weitere Entwicklung, doch lässt sie sich apriori andeuten. Mit der synthetisch zusammengefassten und flexibel organisierbaren Vielheit von Zellen in lebendiger Einheit liegt ein Material vor, das sich ideal für eine schier grenzenlose Fülle von Gestaltungen, DiffeFrüher unterschied man in der Dimension des Lebendigen fünf Reiche: die Prokaryonten oder Moneren (Einzeller ohne Zellkern), die Protisten oder Eukaryonten (Einzeller mit Zellkern), die Pilze, die Pflanzen und die Tiere. Von besonderem Interesse sind die Parasiten, die Eukaryonten oder Vielzeller sein können und die, wie z. B. der Bandwurm des Stichlings, in der Lage sind, das komplexe Verhalten mehrerer Wirte (»hosts«), hier von Stichlingen und Krebsen, so umzuprogrammieren, dass sie ihnen auf Kosten der Wirte zur Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit dienen. Darin waltet im konkreten Fall soviel Artintelligenz, dass die Möglichkeit bloßen Zufalls in dieser kreisläufigen Wirkkette sehr unwahrscheinlich ist. Vgl. R. Lucius (2008).
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renzierungen und Organisationen, z. B. von Organen und Gliedmaßen bearbeiten lässt. Alle Funktionen, die auf der Protistenstufe entwickelt oder wenigstens angespielt worden waren, erfahren eine deutlichere und reichere Ausformung, nämlich in speziellen Organen und Funktionen, die nun »systemisch« in Wechselwirkung treten. Dies im Einzelnen nachzuzeichnen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, doch seien einige Grundgesetze genannt, die im Laufe der biologischen Evolution wirksam werden. Am Anfang steht die vielfach belegte Tatsache, dass ein neuer Entwicklungsschritt nicht an einem hochspezialisierten, sondern an einem relativ primitiv gebliebenen, wenig vereinseitigten Organismus, an einem Generalisten sozusagen, ansetzt und weitergeführt wird (s. achte Regel in diesem Kapitel). Aus einem hochdifferenzierten, genauestens in eine spezifische Umwelt eingepassten Einzeller, etwa einem Malariaerreger oder einem Cholerabakterium kann kaum ein komplexeres Wesen entwickelt werden. Analoges gilt für spätere Entwicklungen, etwa die vom Weichtier zum Chordatier oder die vom Fisch zum Amphibium und dann zum Reptil oder die vom Primatenstamm zum Menschen. 67 Je besser und genauer ein Lebewesen in eine bestimmte Umweltnische eingepasst ist, desto feiner und einseitiger hat es sich spezialisiert und desto größer ist der Verlust an Anpassungs-, Umwandlungs- und Weiterentwicklungspotenz. Je weniger dagegen ein Wesen angepasst ist, desto unbestimmter, unspezialisierter und desto entwicklungspotenter ist es. Damit wird Entscheidendes sichtbar: Die gesamte biologische Evolution wird von zwei polaren, einander sich ergänzenden, aber auch begrenzenden Faktoren geformt und vorangetrieben. Auf der einen Seite steht die Anpassungstendenz, die gleichbedeutend mit der Bindung an eine bestimmte Umwelt ist (»Anpassungsentwicklung«). Hier wird das Prinzip SiDie moderne Biologie hat, weil sie zu einseitig darwinistisch orientiert ist, das Problem des Primatenhauptstamms nicht in den Blick bekommen. Unmittelbare Vertreter dieses Stammes, von dem alle heutigen Primaten außer dem Menschen abgezweigt sind, scheinen der Halbaffe Ida und der Australopithecus africanus zu sein, die damit vielleicht als Vorläufer des Menschen gelten können. Zu A. africanus vgl. F. Schrenk (2010, 32–56). Somit wäre der Mensch als biologisches Wesen die letzte und ausdrucksstärkste Ausprägung des Primatenhauptstammes, was seinen »Mosaikcharakter«, also seine Mischung von ganz alten und ganz jungen, von sehr undifferenzierten und hochdifferenzierten Merkmalen des Primatenstammes erklärt. Vgl. zu diesem Problem B. v. Brandenstein (1947, 50–57), der diese These wohl zuerst aufstellte.
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cherheit realisiert. Der Preis dieser »konservativen Haltung«, der dafür entrichtet werden muss, ist der Verlust an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit und damit der Verlust an Kreativität und Freiheit. Auf der anderen Seite steht das Emanzipationsprinzip: Ginge es in der Evolution nur um Anpassung, würde sie bald endigen, doch geht es in ihr um mehr und anderes: Die Organismen werden, je komplexer sie sich entwickeln, desto unabhängiger und emanzipierter, womit sie das Prinzip Freiheit zur Geltung bringen. Emanzipierter wovon? Von der Enge der Umwelteinpassung. Je weiter man in der Evolution des Lebens voranschreitet, desto differenzierter, integrierter, freier, beweglicher, unabhängiger, individueller, sozialer und kreativer werden die Organismen (»Höherentwicklung«). Dennoch müssen auch sie sich anpassen bzw. einen Ausgleich mit dem Anpassungsprinzip suchen, um zu überleben. Somit kommt es zu einem dialektisch hinund herwogenden Prozess zwischen den Polen einer in Abhängigkeit von der Umwelt realisierten und so das Überleben sichernden Anpassung und einer in Emanzipation von der Umwelt realisierten kreativen Neuschaffung. Wie wirkt sich diese Dialektik im zeitlichen Geschehen genauer aus? Welche Form nimmt sie an? Die Form der Weiter- und oft auch Höherentwicklung, der zunehmenden und immer wieder neuartigen Komplexierungszunahme der Lebewesen (neunte Regel). 68 In allen Phasen der Evolution lässt sich diese dialektische Rhythmik nachweisen, und man bemerkt sie immer da in besonderer Weise, wo eine neue Organisationsform eingeführt wird, z. B. bei allen Übergängen von einem Aggregatzustand – Wasser, Erde, Luft – in einen anderen. Man kann es auch so beschreiben: Die Evolution setzt wiederholt an relativ primitiven, aber entwicklungspotenten Lebensformen an, um – neben anderen Entwicklungslinien – eine neue und neuartige Stufe der Organisation zu erklimmen: Wenig spezialisierte Einzeller werden zu Mehrzellern integriert; wenig spezialisierte Weichtiere werden zu Chordatieren weitergebildet; wenig spezialisierte Chordatiere zu Wirbeltieren; wenig spezialisierte Wirbeltiere zu Fischen; wenig spezialisierte Fische zu Amphibien; wenig spezialisierte Amphibien zu Reptilien; wenig spezialisierte Reptilien zu Säugetieren; wenig spezialisierte Säugetiere zu Primaten; wenig spezialisierte Primaten zu Australopithecinen; wenig spezialisierte Australopithe-
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Vgl. P. Overhage (1963, 13 und 204–220).
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cinen, wohl vor allem der Australopithecus africanus zum menschlichen Organismus um- und emporgestaltet. 69 Das ist die eine Richtung, in der sich das Leben entwickelt, die kreativ in die Zukunft weisende Richtung. Daneben gibt es eine zweite Richtung, die eher in die Breite geht und nicht eine Höherentwicklung erstrebt, sondern eine möglichst vielgestaltige und meist expansiv-horizontale Ausspezialisierung und Anpassung der Organismen (zehnte Regel). In der ersten Richtung wirkt sich etwas aus, das weder mit dem Kampf ums Dasein noch mit dem Anpassungstheorem erklärt werden kann: die durchgängige und konsequent zunehmende Emanzipation der Organismen von ihren ökologischen und kollektiv-artlichen Bindungen. Es ist, als wollte das Leben immer offensichtlicher das Prinzip Freiheit realisieren. 70 Da dieses Prinzip sowohl an Individualität als auch an Bewusstsein gebunden ist, im Letzten an das Selbstbewusstsein, geht mit der zunehmenden Emanzipation eine zunehmende Individuation und Vergeistigung einher, die im menschlichen Organismus schließlich als Person erscheint. All das wäre unmöglich gewesen, wenn die Evolution nur die Umwelteinfügung durch Spezialisierung verfolgt bzw. nicht hartnäckig an unspezialisierten Formen festgehalten hätte, um sie als Basis komplexer organisierter und emanzipierterer Wesen zu gebrauchen. 71 Überschaut man die gesamte kosmische Evolution unter diesen Gesichtspunkten, offenbart sich ein höherer Sinn, der in den Begriffen Freiheit, Vergeistigung, Kommunikationszunahme und differenzierte Gemeinschaften beschrieben werden muss. Speziellere evolutionäre Gesetzmäßigkeiten, die es gibt und bedeutsam sind, aber nicht mehr universal gelten, arbeiten entsprechende Fachwissenschaften heraus, so z. B. die geobiologischen, oft verschieden schnell ablaufenden Phasen vertikaler Formbildung, horizontal-expansiver Formausdifferenzierung und Formzerfall oder die Phasen von Inkubation, Manifestation und Eklipsis (Verfall) oder Okkultation (Verbergung).
Diese Regel passt präzise zu den Gesetzen dissipativer Prozesse, die I. Prigogine 1998 entdeckt hat. 70 Obwohl in Manchem romantisch verklärt, wurde dieses Prinzip von den deutschen Idealisten J. G. Fichte, F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel, aber auch von I. Kant gesehen. 71 Genauer jene schöpferischen Kräfte (die »Naturgeistkräfte«/Zweitursachen), die die Entwicklung der Organismen bewirken und gestalten. 69
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Da der Darwinismus für diese vielfältigen Zusammenhänge blind ist und das ganze Geschehen auf Zufall und Naturgesetz zurückführt, ohne zu klären, was Zufall und Naturgesetz sind, steht die Aufgabe an, diese Theorie zu hinterfragen und, so weit wie möglich, kritisch zu durchdenken.
4.7. Die Erklärungsprinzipien der modernen Evolutionstheorie: »Zufall und Notwendigkeit« Die auf Ch. Darwin fußende Theorie von der Entwicklung des Lebens bzw. – modern gewendet – aller materiellen, damit auch vorbiologischen Prozesse geht von dem Grundsatz aus, dass jede Veränderung materieller Gegebenheiten »von außen« erfolgt. Ganz im Sinne der antiken Atomisten liegt dieser Vorstellung die Annahme zugrunde, die Bewegung der Materie – irgendwann und irgendwie einmal, also »mysteriös« ausgelöst – unterliege dem Trägheitsgesetz und gerate durch minimale Abweichungen und Schwankungen in Turbulenzen, die zu zufälligen Verdichtungen und Gestaltbildungen der Materie führen, die letztlich auch Leben, Selbstbewusstsein und Kultur hervorbringen. So gehen nach dieser Lehre die Veränderungen an der Lebenssubstanz, vor allem am Genom auf äußere Einwirkungen wie Strahlungen und Chemikalien zurück und werden »Mutationen« genannt. Ihr Auftreten, so heißt es, erfolge rein zufällig, was die Frage aufwirft, was darunter zu verstehen ist. Die Antwort ist klar: Zufällig meint hier keineswegs ursachlos, ganz im Gegenteil geht auch der Darwinismus vom mechanisch-transitiv-deterministischen Kausalbegriff aus, der jede Veränderung auf genau bestimmte, wenn auch nicht genau feststellbare, zeitlich vorausgehende Bedingungen zurückführt. Es handelt sich in dieser Sicht also um ein naturnotwendiges Geschehen, dessen Notwendigkeit der Mensch nur deshalb nicht einsieht, weil er nicht alle Bedingungen erfassen kann. Zufällig meint daher weder ursachlos oder bedingungslos noch aus und von nichts, sondern es meint: absichtslos, ungezielt, ohne inneren Sinnbezug, zweckfrei, letztlich also rein »blind-mechanisch« oder rein naturgesetzlich, ohne »innere Ursache«. Ist das wirklich so und lässt es sich begründen? Der Darwinismus behauptet die Zufälligkeit dogmatisch, er kann sie weder logisch erweisen noch empirisch aufweisen. Das ist nicht 373 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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verwunderlich, da, wie bereits gesehen, die Naturwissenschaft überhaupt nicht in der Lage ist zu entscheiden, ob das Naturgeschehen determiniert oder frei-willkürlich oder frei-gesetzlich oder rein zufällig erfolgt. Sie ist zur Klärung der Modalitätsform der Wirklichkeit wissenschaftstheoretisch nicht befähigt. Die empirischen Zufallsexperimente, z. B. an der Fliege Drosophila (»Fruchtfliege«), ergaben dagegen eindeutig, dass durch ungezielt-zufällige Veränderungen des Genoms, etwa durch Bestrahlung und Gift zwar Mutationen verursacht werden, diese Mutationen aber in keinem Fall zu einer echten, lebensfähigen Neubildung, sondern durchweg zu Missbildungen führen, die entweder nicht lebensfähig waren oder sich nicht fortpflanzen konnten. 72 Der Darwinismus geht jedoch nicht nur von der atomistischen Summation und Ungezieltheit der genetischen Mutationen aus, sondern er unterstellt außerdem, dass sich diese minimalen Veränderungen im Genotyp durch einen komplizierten und keineswegs zufälligungezielten zellulären Transformationsprozess in den Phänotyp umsetzen, der dann unter den Auslesedruck der Umwelt gerät und entweder, weil er angepasster und lebenstüchtiger ist, gegen seine Konkurrenten obsiegt oder, weil er schwächer und weniger angepasst ist, unterliegt und ausgemerzt wird. 73 Auch hier begegnet man dem Prinzip: Alle Gestaltung des Lebens erfolgt von außen. Schon an diesem Punkt drängen sich Fragen auf, die diese Theorie schwer belasten. Wenn es richtig ist, dass die genetische Mutation rein zufällig erfolgt, dann bedeutet dies erstens, dass sie ebenso zuSiehe http://www.0095.info/de/index_thesende3_biologiede_drosophilamelanogas ter.html: »Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster ist seit 1908 als Modellorganismus der Genetik etabliert. Über 3000 Mutationen sind von ihr bis heute beschrieben worden. Mit Röntgenstrahlung lassen sich im Labor künstliche Mutationen erzeugen. Auf diese Weise sind beispielsweise abnormale Flügelformen, farbige Augen etc. entstanden. Allerdings ist noch nie eine Weiterentwicklung zu einem neuen, vorteilhafteren Bauplan festgestellt worden (kursiv von B. W.).« Der Evolutionist P.-P. Grassé (1977, 130 ff.) musste feststellen: »Die Fruchtfliege, das bevorzugte Forschungsobjekt der Genetiker, deren geografische, biotopische, urbane und rurale Typen man von vorne und hinten kennt, scheint seit Urzeiten dieselbe geblieben zu sein.« Vgl. ergänzend E. Jablonka/M. J. Lamb (2017, 121), die hervorheben, dass die Rekombinationsrate der Drosophila-Fliege unter Hitzestress an bestimmten (!) Genabschnitten unzufällig zunimmt. Sie nennen dieses unzufällige Geschehen »lokale Mutabilität« (2017, 123). 73 Vgl. E. Mayr (1995, »… und Darwin hat doch recht«); vgl. J. Monod (1971: »Zufall und Notwendigkeit«). 72
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fällig wieder verschwinden kann. Da sie keine innere Stabilität besitzt, kann die Mutation erst durch die Selektion und Vermehrung des entsprechenden Organismus eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit erhalten. Da dies ein langer und sehr komplizierter intraorganismischer Translationsprozess ist, könnte die Mutation, bevor sie zum Phänotyp transformiert ist, durch neuerliche Mutationen verändert und aufgehoben werden. Dies gilt umso mehr, als das Genom unter dem Veränderungsdruck sowohl einer ununterbrochenen Bestrahlung als auch von ständigen chemischen Einwirkungen steht und bald vernichtet wäre, wenn es sich nicht in einem fort regenerieren würde. Schon hier werden die Zufallsereignisse durch die Zellmechanismen drastisch eingeschränkt. Eine zweite Frage drängt sich bei der Überlegung auf, wie eine genetische Mutation zum Phänotyp wird. Entstünde sie wirklich zufällig, wäre mit Mutationen zu rechnen, die entweder belanglos wären oder sich vorteilhaft oder schädlich auswirkten. Wahrscheinlichkeitstheoretisch heißt dies aber, dass bestenfalls ein Drittel der Mutationen günstig sein könnte und zu einem lebensfähigeren Phänotyp führte, zwei Drittel dagegen indifferent bzw. nachteilig wären. Bedenkt man außerdem, wie komplex das Erbgut, vor allem das Genom bzw. die DNS aufgebaut ist, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass eine zufällige Veränderung sich günstig auswirkt, dramatisch, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schaden gesetzt wird, steigt steil an. 74 Drittens ist schwer nachvollziehbar, wie eine zufällig-ungezielte Mutation durch einen komplizierten, DNA-RNA-Protein-vermittelten Translationsprozess, der offensichtlich lebensdienlich und zweckhaft aufgebaut ist, in eine sinnvolle, sprich lebenstüchtigere Lebensgestalt umgesetzt wird. Kann dieser Transformationsprozess, bevor die Selektion einsetzt, zwischen belanglosen, vorteilhaften und schädlichen Mutationen unterscheiden? Setzt er alle Mutationen blindlings in den Phänotyp um? Oder selektiert er die günstigen aus? 75 Wenn nicht, dann dürfte der Bestand des Lebewesens kurz B. Vollmert (1995), ein Biochemiker und Schüler M. Eigens, der von der Wissenschaftsgemeinde verleugnet wird, hat überzeugend dargelegt, dass die DNS des Erbgutes unmöglich erstens zufällig und zweitens rein physikalisch-chemisch entstanden sein kann. B. Vollmert sieht darüber hinaus, dass einzelne und unverbundene Mutationen unmöglich einen komplexen Organismus aufbauen können. 75 Mittlerweile ist naturwissenschaftlich erwiesen, dass Zellen, Bakterien, Pflanzen und Tiere »Zufälle« bzw. aleatorisch-statistische Prozesse gezielt (!) zu effektiveren Überlebensstrategien einsetzen, so z. B. im Falle des Sehens durch das Komplexauge 74
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sein. Denn »das Leben« kann es sich kaum leisten, zwei Drittel seiner Mutationen, eben die belanglosen und nachteiligen, in phänotypische Strukturen umzusetzen. Wäre dem so, müsste man in der Evolution Myriaden von Missbildungen, Krüppeln und Totgeburten antreffen, was nicht der Fall ist. Dann aber folgt, dass schon auf Zellebene eine nicht-zufällige Selektion der günstigen Mutationen, falls diese zufällig entstanden wären, stattfindet. Eine vierte Frage zielt auf die Tatsache, dass die angeblich zufälligen Mutationen offensichtlich nicht oder nur sehr selten jene genetischen Strukturen betreffen, die für den Grundbauplan und die Grundfunktionen des Organismus zuständig sind und oft Jahrmillionen Jahre gleich bleiben. Von den Bakterien (und ähnlich von Drosophila, siehe Fußnote 72) ist bekannt, dass unter Stress nur bestimmte Abschnitte des Genoms mutieren und andere strikt unberührt bleiben. Es scheint, als würden diese geschützt und von den Mutationen ausgenommen. Damit wird die Zufälligkeit erneut massiv eingeschränkt, und die Formierung des Lebens wird wahrlich unzufällig, gezielt und zweckhaft. Damit hängt fünftens eng die Tatsache zusammen, dass die meisten menschspezifischen Genänderungen »keinerlei funktionelle Konsequenzen haben, da sie entweder in genomische Bereiche fallen, die gar keine Funktion haben oder weil die Änderungen die Funktion des Bereichs, beispielsweise eines Gens, nicht beeinflusst.« 76 Was hier zum Vorschein kommt, ist das wichtige Phänomen der »biologischen Redundanz«, die zwar schwer mit der Zufalls-Selektionshypothese vereinbar ist, eben weil sie unmittelbar biologisch nutzlos, ja ein Ballast ist, aber auf einer höheren Ebene dem Organismus ein unerschöpfliches Reservoir an Möglichkeiten der flexiblen Gestaltbildung und –anpassung vorhält. Mit dem Zufall ist sechstens schwer das Phänomen der »Multifunktionalität« vieler Gene vereinbar, also die Tatsache, dass ein einzelnes Gen völlig verschiedene Funktionen des Organismus mitreguliert, so z. B. das berühmte Gen FOXP2, das für die Sprachentwicklung von zentraler Bedeutung ist. 77
der Obstfliege, der unvorhersehbaren Zickzack-Fluchtbewegungen der ThomsonGazelle, der Samenausstreuung vieler Pflanzen usw. Vgl. dazu L. Grasset (2016, 22– 30). A. Pavé (2011) spricht von einem »biologischen Roulette«. 76 Vgl. W. Enard (2010, 66 f.). 77 Vgl. W. Enard (2010, 67–73).
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An diesem Gen wird siebtens das Phänomen der unzufälligen Mutationsfrequenz offenbar: »Während sich also in den über hundert Millionen Jahren Evolution, die Mäuse von Affen trennt, nur eine einzige Aminosäure im FOXP2-Protein geändert hat, sind in den letzten sechs Millionen Jahren menschlicher Evolution gleich zwei Aminosäureänderungen aufgetreten«, und zwar im engsten Zusammenhang mit der menschlichen Sprachevolution! Achtens fragt sich, ob wirklich eine einzelne und zufällig zustande gekommene genetische Mutation eine wesentliche und meist hochkomplexe Neuerung auf der Ebene des Phänotyps hervorbringen kann. Führt man sich die Komplexität des Organismus vor Augen, leuchtet sofort ein, dass nur solche Mutationen vorteilhaft sein können, die auf den Rest des Erbgutes, den gesamten Organismus und seine vielen Funktionen abgestimmt, miteinander synchronisiert und auf ein Ganzes hin – und wohl auch von einem Ganzen her! – integriert sind. 78 Hier sind zwei Fälle zu bedenken. Zum einen ist eine komplexere Strukturbildung, etwa die Entwicklung eines neuen Organs unmöglich mit nur einer Mutation zu realisieren, sondern nur mit mehreren, aufeinander abgestimmten Mutationen; zum anderen wirkt sich jede Mutation notwendig vielfältig im Organismus aus, muss also, wenn diese Auswirkung nicht fatal sein soll, mit dem Gesamtorganismus kompatibel sein. Da dies rein zufällig nicht zu leisten ist, sprechen E. Jablonka und Marion J. Vgl. C. Koswig (1959, 214), der bei einer Mutation von der Verflechtung jedes einzelnen Gens und damit der von ihm erzeugten phänotypischen Eigenschaft mit seinem genetischen Hintergrund, dem Restgenotyp, spricht. Da sich auch Neodarwinisten zunehmend dieser Problematik bewusst werden bzw. in der Vergangenheit wurden, führen sie, um ihre alte, nicht mehr taugliche Summierungs- und Aggregationshypothese zu überwinden, Begriffe ein wie »morphologic integration« (E. C. Olson 1958), »well integrated and coadapted system« mit einer »internal balance« bzw. »harmony among the genes« (E. Mayr 1955, 2–8), »integration of the genes into supergenes« (Th. Dobzhansky 1959, 26), »oriented mutation« (G. G. Simpson 1951, 164), »konstruktive Gene« und »konstruktive Mutationen« (B. Rensch 1954, 201, 202, 286), »phylogenetisch endogen geleitete Korrelationssysteme« (F. Eggers 1938, 1) und »interpretative Mutationssysteme« (E. Jablonka/M. J. Lamb 2017), in denen – allgemein gesagt – die Einheits-, Ganzheits-, Sinn- bzw. Orthogenese- und Selbststeuerungsperspektive des Organismus, die schon H. Driesch und später A. Portmann sahen, zum Zuge kommt. Nicht-Neodarwinisten wie W. Herre, M. J. Heuts, P. Overhage, W. Count, H. André, A. Portmann, F. J. J. Buytendijk, K. Günther, B. v. Brandenstein u. a. bemühen sich deswegen, wie schon Aristoteles, um die »Einführung eines Ganzheitsfaktors«, einer »Entharmonie« oder »Entelechie«, um der organischen Welt gerechter zu werden.
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Lamb (2017, 120) von »interpretativen Mutationssystemen«! Hier kündigt sich eine epochale Zeitenwende innerhalb der Naturwissenschaft an. Zur Veranschaulichung diene folgendes Beispiel für den synchronisiert-integrierten Umbildungsprozess eines Organsystems: Beim Übergang von den Amphibien zu den Säugetieren, also von den wechselblütigen zu den warmblütigen Lebewesen, kam es zu einem dramatischen Eingriff in das Blutsystem, der, für sich betrachtet, pathologisch erscheint und tödlich enden müsste, wenn er nicht von vorneherein im höchsten Grade durch parallele Veränderungen des Organismus aufgefangen und sinnvoll eingepasst worden wäre. Dieser Eingriff bestand darin, dass die roten Blutkörperchen ihren Zellkern verloren, genauer, regelrecht während ihres Bildungsprozesses ausstießen. Bedenkt man, dass der Zellkern das »Heiligste« des Lebens ist, muss dieser Vorgang als selbstmörderisch, »verrückt«, als pathologisch erscheinen, denn in der Tat wird durch diesen Verlust die Lebensdauer dieser Zellen drastisch verkürzt und muss durch eine komplizierte und raschere Neubildung dieser Zellen kompensiert werden. Wozu soll dieses Kuriosum gut sein? Das kann man erst erkennen, wenn man die parallelen und vor allem die späteren Veränderungen des Organismus miteinbezieht. Die wichtigste Neuerung ist die enorme Steigerung der Verzweigung und Verschmälerung der Blutgefäße (und mit ihnen der Nervenfasern) mit der Folge, dass die Blutversorgung viel weiter in das Gewebe, vor allem in das Muskelgewebe vordringen kann. Das wiederum zieht eine höhere Leistungsfähigkeit dieser Organe nach sich und bedingt, dass die Bewegungen der Säugetiere im Vergleich zu denen der Reptilien geschmeidiger, koordinierter und schneller werden. All das gelingt nur, wenn gleichzeitig das Herz umgestaltet wird und den neuen Bedingungen, vor allem dem höheren peripheren Druck angepasst wird. Doch auch das genügt nicht. Es müssen das gesamte Blutsystem, das Nervensystem und die Sinnesorgane umgestellt werden, weil andernfalls der errungene Vorteil nicht ausgenutzt werden kann. Die Reflexe z. B., die bei den Säugetieren komplexer und reaktionsschneller sind, können ihren muskulären, durch die bessere Blutversorgung erzielten Vorteil nur durch eine entsprechende nervöse Koordinierung und durch entsprechend eingestellte und verfeinerte Sinnesorgane erreichen. Noch tiefer reichen die Veränderungen im Stoffwechsel: Bindung, Transport und Abgabe des Sauerstoffs müssen in den kernlosen Erythrozyten neu geregelt werden, was durch die chemisch ungemein kom378 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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plizierte Einlagerung von Eisen erreicht wird. Schließlich und endlich erfahren auch Herz und Hirn tiefgreifende Metamorphosen, die ihren Sinn nur auf dem Hintergrund der gesamtorganismischen Leistungssteigerung offenbaren. 79 Neuntens muss bedacht werden, dass selbst die angeblich vorteilshafteste Mutation, vor allem bei komplexen Organismen niemals ohne Kosten bzw. Nachteile erkauft wird. Ist dem so, wird die Definition, was eigentlich »vorteilhaft« sein soll, sehr schwierig und kompliziert. Damit öffnet sich die Betrachtungsweise für andere Kriterien als den Vorteil bzw. Nutzen, etwa für solche Aspekte wie »überbordende Schaffenslust«, »Sparsamkeit«, »Ausdrucks- und Darstellungsstärke«, »Eleganz«, »Schönheit«, »Experimentierlust«, »spielerische Freiheit« u. v. a. m. Es liegt auf der Hand, dass alle diese parallelen, orthogenetischsukzessiven und notwendigerweise feinabgestimmten, synchronisierten und integrierten, im Übrigen über Jahrtausende (!) entwickelten Veränderungen unmöglich weder nur von einer einzigen Genmutation noch von einer Vielzahl unverbundener, zueinander zufälliger Mutationen angebahnt werden konnten. 80 Hier mussten viele hochkomplexe genetische Makromuster zielgerecht entwickelt und im Or-
Es gibt zahllose Beispiele solcher unzufälliger Trends oft über Jahrmillionen hinweg (vgl. P. Overhage, 1964, 122–142; 1965, 208–219). Hierzu gehören z. B. die Optimierung des Flugapparates bei den Flugsaurieren, die Größenzunahme der Pferdeartigen, die Differenzierung von Organen, die Wanderung von Teilen des Unterkieferknochens von den Therapsiden über die Reptilien in die Ohrregion der Säugetiere, wo sie zu Hammer und Amboß werden, die Dislokation der Keimdrüsen vom Kopf bei Fischen an das Körperende bei den Reptilien und damit die Polarisierung der Körperstruktur in einen Subjekt- und einen Artpol (A. Portmann) oder die Entwicklungsreihe der Equiden u. v. a. m. W. Count (1959, 66) lieferte den überzeugenden Nachweis, dass der »biologisch-ökologische Komplex« von Viviparie und Laktation sich unmöglich habe additiv und nur exogen durch zufällige Mutationen entwickeln können, da es »keine vergangene oder gegenwärtige physische Umwelt, in der er durch natürliche Selektion entstanden sein könnte«, gegeben habe. Analoges weist P. Overhage (1965, 216) für den Schluckvorgang nach. 80 Die neodarwinistische Schule der Biologen lehnt eine orthograde bzw. orthogenetische Betrachtung evolutionärer Prozesse ab. Dies ist in der Regel dadurch bedingt, dass »Orthogenesis« zu direkt und zu simplifiziert gedacht wird, wo sie doch durchaus mit »trial and error«, Parallelentwicklungen, evolutionären Umwegen, Sackgassen, Stagnationen und Rückschritten verbunden sein kann. Selbst dann, wenn Menschen klare Zielvorstellungen haben und ihre Projekte konsequent zu realisieren versuchen, werden sie um »Versuch und Irrtum«, Umwege, Rückschläge und Teilerfolge nicht herumkommen. 79
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ganismus epigenetisch, d. h. in Abstimmung mit den Umweltverhältnissen, in Stoffwechsel, Organe und Funktionen, umgesetzt werden. Anders wäre solch eine Organisation nicht zustande gekommen oder früh als Missbildung verschwunden. Der Zufall erklärt hier nichts bzw. verstellt als gänzlich undurchdachte »Theorie« die wirklichen Verhältnisse und ihr Kausalgefüge. Diese Argumentation will selbstverständlich nicht besagen, dass es keine Zufälle im Sinne Ch. Darwins und J. Monods gebe, sondern nur, dass auf ihnen allein das Evolutionsgeschehen nicht beruhen kann. Sicherlich treten immer wieder ziellose, zwecklose bzw. unzweckmäßige Mutationen im Genom auf, aber entweder schädigen bzw. zerstören sie das Lebewesen, sind belanglos, werden zielgerecht ausgemerzt oder es wird ihr zufälliger Vorteil unzufällig aufgegriffen und genutzt, so wie das im Menschenleben auch üblich ist, z. B. bei den vielen durch »Zufälle« gemachten Erfindungen. Damit ist der Punkt erreicht, das Zufallsproblem philosophisch anzugehen, und da erhellt, dass es, weil es ein Wirkungsgeschehen darstellt, in den Zusammenhang der Kausalfrage gehört. Denn der Zufall wird von seinen Anhängern geradezu als Kausalfaktor eingeführt, der aus der einen Blickrichtung als absichts- und ziellose, in diesem Sinne »zufällige«, aus der anderen Blickrichtung als gesetzmäßig-notwendige Veränderung gedeutet wird. Während die Mutation nach Ch. Darwin aus der Sicht des Organismus absichts- und ziellos sein soll, ist sie aus der Sicht der physikalisch-chemischen Verursachung gesetzmäßig-notwendig. Wie allerdings aus solch einem Geschehen im Lebewesen Triebe, Instinkte, Bedürfnisse, Interessen und Empfindungen, also im weitesten Sinne Qualia, Intentionen und »Innerlichkeiten« entstehen sollen, ist rätselhaft, um nicht zu sagen: widersinnig. Denn Intentionen sind etwas »Inneres«, »Intrinsisches«, »Selbsthaftes«, »Spontanes«, »Eigenes«, das gerade nicht auf bloß äußere Bedingungen zurückgeführt werden kann. Und genau diese Dimension soll zufällig aus einem rein extrinsisch-mechanischen Wechselwirkungsgeschehen »emergent« wie durch Zauberei herausgesprungen sein? Andererseits ergibt die Darwinsche Anschauung nur Sinn, wenn sie einem nichtzufällig-teleologischen Geschehen gegenübergestellt wird. Gäbe es solches nicht, also weder im tierischen noch im menschlichen Leben, ließe sich kaum von zufällig, absichtslos, ziellos usw. reden. Und schaut man sich unter diesem Gesichtspunkt in der darwinistischen Biologie um, staunt man nicht wenig, wie reichlich von der 380 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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teleologischen Redeweise Gebrauch gemacht wird. Alles wird da über die Elle des survival of the fittest und den Lebensnutzen gezogen, die kühnsten organismischen Errungenschaften hat »die Evolution«, die wie ein Supersubjekt, gar wie die Gottheit auftritt, um des Über- und Weiterlebens willen erfunden. »Um-willen« heißt es da immer und immer wieder – als wäre das keine intentionale bzw. teleologische Beziehungsfigur! Da der Zufall im darwinschen Sinne ein Wirkungsgeschehen in der Natur zum Ausdruck bringt, das vom Organismus her als absichtslos, aus der Sicht der einwirkenden Umwelt als gesetzmäßignotwendig erscheint, stellt sich die Frage nach den Wirkursachen und ihrem Verhältnis zueinander. Die Antwort kann nach der grundsätzlichen Klärung des Kausalproblems nicht mehr fraglich sein: Sowohl die echten Ursachen z. B. einer physikalischen Strahlung als auch die Ursachen eines Organismus sind selbständige Wesen im zweiten Seinsrang, also geschöpfliche Geistkräfte, die ihre Wirkungen frei und mehr oder weniger geregelt, sprich gesetzlich hervorbringen, aber nicht unbedingt aufeinander abgestimmt. So bauen zwar die biologischen Wirkursachen ihre Organismen auf die physikalisch-chemische Wirkungsschicht auf, und darin kommt zweifellos eine tiefe Koordination zum Ausdruck, aber sie können nicht alle Wirkungen der physikalisch-chemischen Schicht unter Kontrolle bekommen und in ihre organismischen Wirkungskomplexe miteinbeziehen. Daher sind sie jenen zu einem erheblichen Teil ausgesetzt und ausgeliefert, so z. B. wenn ein drastischer Klimawandel zu einer mit dem Leben nicht vereinbaren Abkühlung führt. Wäre die Welt eine direkte und alleinige Schöpfung Gottes, wäre diese fehlende Abstimmung völlig unsinnig: ein neues Indiz für die Pluralität zum Teil gegeneinander oder nicht miteinander wirkender Kraftursachen. Mythologisch hatte sich diese durchaus tiefe Einsicht im polytheistischen Pantheon niedergeschlagen, das allerdings allzu anthropomorph und allzu moralisch gezeichnet wurde. Den Zufall gibt es also, und er ist in der hier aufgezeigten Hinsicht nichts anderes als die Auswirkung nicht miteinander koordinierter »endlicher« Freiheit, man könnte sagen: die Auswirkung nicht miteinander harmonisierter, frei nur ihren eigenen Gesetzen folgender Wirkkräfte. In anderer Hinsicht, die etwa von der Quantenphysik gesehen wird, ist der Zufall eine Folge der Ungenauigkeit allen frei geregelten Naturwirkens. Das habe ich mit meiner oben dargestellten Oszillationstheorie versucht einzufangen: Jedes Naturwirken schwingt, 381 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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wenn es gesetzlich geworden ist, um ein ideales Maß, das nicht dauerhaft erreicht und eingehalten wird, sondern bloß wie ein »Gravitationszentrum« wirkt, auf das sich das Naturwirken ständig bezieht. Abweichungen, die nicht beabsichtigte Folgen haben, sind daher grundsätzlich möglich, wenn wahrscheinlich auch nicht im makrophysikalischen Bereich, also wohl auch nicht auf der Ebene des Genoms. Immerhin kennt auch dieses einen Alterungsprozess, der genetische Ablesungsfehler und unterlassene Korrekturen nach sich zieht, die zu Krankheit und Tod führen. Im Ganzen ist dieser Alterungsprozess keineswegs zufällig, sondern absichtsvoll und sehr kompliziert gesteuert. Nur manchmal spielt hier der Zufall eine Rolle. Damit wird die letzte und tiefste Schicht des Zufallsproblems berührt, die Frage nach seinem Wesen. Hier müssen zwei Seiten unterschieden werden, eine kausale und eine mathematische. Die kausal-wirkungstheoretische Problematik ist geklärt: Alles Zufällige geht auf endliche, aber wirkkräftige Freiheit zurück. Da Gott allwissend und allauswählend ist, kann sein Handeln nicht dem Zufall unterliegen, dagegen gibt es den Zufallsaspekt bei den Geistgeschöpfen im zweiten Seinsrang, eben die unumgängliche Ungenauigkeit ihrer Wirkungen. Entweder sind diese, weil noch unreif (wie beim Menschen), willkürlich, beliebig, unverständig, launisch, sprunghaft oder sie sind Ausdruck der unvermeidlichen Oszillation um ein ideales Gesetz, das nicht absolut genau umgesetzt werden kann. Im letzten Fall ist die Freiheit mehr oder weniger reif, damit auch vorhersehbar und berechenbar geworden. Vorhersehbarkeit ist also keineswegs unvereinbar mit Freiheit, wie oft gemeint wird, da auch Freiheit sich gesetzmäßig vollziehen kann, so heute wohl in der gesamten vormenschlichen Natur. Nur die menschliche Freiheit ist noch schwankend, egoistisch, rücksichtslos, unvernünftig und gesetzlos. Der zweite Aspekt der kausalen Problematik betrifft die Interaktion zwischen verschiedenen Wirkungsebenen, z. B. zwischen dem Menschen und den physikalischen Kräften oder zwischen den Menschen untereinander. Da hier zwei verschiedene Freiheiten aufeinandertreffen, besteht immer die Möglichkeit der Gleichgültigkeit, des Missverständnisses, der Diskrepanz und des Konfliktes. Alle Naturkatastrophen, die für sich streng naturgesetzlich ablaufen, aber keinen Bezug auf das Wohl der Menschen haben, gehen auf diese Differenz zurück. Die Naturwirkungen mit ihren dahinter stehenden Naturgeistkräften sind dem Menschen nicht feindlich gesonnen, son382 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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dern folgen nur ihrem eigenen Gesetz. In welches Chaos würden Menschen stürzen, wenn die Naturgesetze heute so, morgen anders wären? Und trotzdem: Die Problematik beweist, dass erstens der Mensch auf dieser Welt nicht wirklich »zuhause« ist und zweitens, dass die Geistgeschöpfe im zweiten Seinsrang nicht voll miteinander harmonieren. Aller Voraussicht nach dürfte dies erst unter der direkten Regie Gottes in »seinem Reich« Wirklichkeit werden, wo jeder auf jeden Rücksicht nimmt und um das Ganze besorgt ist, so dass niemand mehr Schaden erleidet. Doch vorläufig leben die Menschen in einer in vieler Hinsicht fremden und entfremdeten, diskrepanten, nicht voll harmonisierten, sondern in einer konfliktreichen und damit unvermeidlich leidvollen Welt. Der andere, nichtkausale Aspekt betrifft das mathematische Wesen des Zufalls. Worin besteht es? Kurz gesagt in der Gleichwahrscheinlichkeit, die wiederum auf dem Seinsurprinzip der Gleichheit aufbaut. Was heißt das? Nichts anderes als dass ein Geschehen, das von den gleichen oder ähnlichen Grundbedingungen aus startet, bei gleichen Vollzugsregeln mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem ähnlichen oder gleichen Ergebnis führt. Wer mit einem klassischen Würfel spielt, wirft mit 1/6 Wahrscheinlichkeit eine der sechs Würfelseiten. Je öfter er unter ähnlichen Bedingungen würfelt, desto mehr gruppieren sich die Würfe in sechs ähnlich umfangreiche Zahlengruppen. Darin wirkt sich das Gesetz der großen Zahl aus, das nichts anderes wiedergibt als das Gleichheitsprinzip unter irdischen, sprich variierenden Bedingungen. Mit steigender Anzahl der Würfe manifestiert sich dieses Gleichheitsprinzip immer deutlicher. Wie sollte aufgrund des Prinzips der Gleichwahrscheinlichkeit – des Zufalls in mathematischer Hinsicht – ein Organismus aufgebaut werden können? Was ist alles nötig, um eine genetische Mutation in einen phänotypischen Vorteil zu transformieren, so dass sie durch das Gesetz der Selektion vermehrt und damit erhalten wird? Die genetische Mutation für sich allein bringt keinen Vorteil, viel eher einen Nachteil, da sie das bislang bewährte Erbgefüge stört. Zu einem phänotypischen Vorteil wird sie erst durch einen komplizierten und unzufälligen zellulären Transformationsprozess, der viel zu lange dauert, um den möglichen Vorteil der Mutation zu sichern. Auch ist der Vorteil, wenn er überhaupt da ist, (nach Ch. Darwin) so geringfügig, dass ein Selektionsvorteil kaum herausspringt. Erst eine Vielzahl günstig zusammenpassender Mutationen vermag einen Vorteil zu garantieren – aber »günstig zusammenpassen« über Jahrhunderte 383 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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hinweg ist mit dem Zufall, d. h. mit der Gleichwahrscheinlichkeit, unvereinbar. Kurzum: Gemäß dem Prinzip der Gleichwahrscheinlichkeit würden selbst angenommen günstige Mutationen entweder sofort bzw. bald wieder aufgehoben oder könnten sich nicht genügend stark bzw. genügend schnell durchsetzen. Die Wahrscheinlichkeit, nur mit »normalen« Würfen einen Turm aus Würfeln herbeizuwerfen, ist nahezu null. Und selbst wenn die Menschen das Glück besäßen, diese sicher nicht unmögliche Unwahrscheinlichkeit zu erreichen, hätte ein solches Gebilde, ausgesetzt den Unbilden dieses Kosmos, keine große Aussicht auf langen Bestand. Die Evolution des Lebens dauert schon vier Milliarden Jahre und tritt nicht nur auf der Stelle, was überlebenstechnisch nicht weniger lebensstark gewesen wäre, sondern entwickelt sich auf der Linie zum Menschen konsequent zu immer komplexeren, oft sogar lebensschwächeren, zumindest verletzlicheren Organismen weiter. Gleichwahrscheinlichkeit als Prinzip wurde hier konsequent durch stetige Gleichunwahrscheinlichkeit oder Ungleichwahrscheinlichkeit durchbrochen. Physikalisch betrachtet, entfernt sich dieser Prozess ständig weiter vom entropischen Gleichgewicht weg und hebt dieses Gesetz konsequent im lokalen Bereich auf. Das aber ist nur möglich, wenn zusätzliche, nichtphysikalische Faktoren ins Spiel kommen, die nicht allein dem Zufall oder dem Entropiegesetz gemäß agieren.
4.8. Die evolutionären Kausal- und Gestaltungsfaktoren – eine Zusammenfassung Die zunehmende Spezialisierung der Wirkkräfte in der Natur bzw. ihrer Wirkgebilde und Wirkbereiche wurde ahnungsweise schon in der Antike gesehen. Da es sich um ein sehr verwickeltes, methodisch schwer angehbares Problem handelt, wurde es lange Zeit nicht bis in seine Gründe hinein durchschaut. Bis zu Ch. Darwin fehlten dazu entscheidende empirische Kenntnisse. Erst der Synthese von moderner Naturwissenschaft und methodisch neu erschlossener Metaphysik gelingt es, das Aufbau- und Wechselwirken in der Natur aufzuklären und den Menschen lebensgerecht in die Ordnung der Dinge hineinzustellen. 81 81
Vgl. B. v. Brandenstein (1930).
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Die evolutionären Kausal- und Gestaltungsfaktoren – eine Zusammenfassung
Zwei Großprinzipien der organismischen Gestaltung ließen sich in den letzten Kapiteln herausarbeiten: die durch Spezialisierung erreichte, sich von den Umständen abhängig machende Umweltanpassung und die an unspezialisierten Lebensformen ansetzende Emanzipation von der Umwelt. Immer wenn eine neue Emanzipationsstufe erreicht wurde, ging das Leben in die Breite und entwickelte viele spezielle Lebensformen, deren »Umwelttreue« mit der Verhinderung weiterer Höherentwicklungen erkauft wurde, um danach an archaisch-unspezialisierten Formen wieder eine neue Emanzipationsstufe aufzustocken. Aufgrund der besonderen Organisationsstruktur eines neuen Naturgebildes bzw. Organismus darf angenommen werden, dass mit jeder neuen Wirkungsschicht, im Bereich des organischen Lebens mit jeder neuen Lebewesenart, eine neue Naturgeistkraft (bzw. ein entsprechendes Paar) schöpferisch und gestalterisch ins Spiel kam. An alten Formen ansetzend, gestaltet sie ihre neuen Ideen und Entwürfe aus, meist durch Invention, Versuch und Irrtum, Konkurrenz, Kampf und Leiden, bis eine »runde« Form entsteht, die in sich eine gewisse Abgeschlossenheit zeigt und nach einem meist anfänglich stürmischen Entwicklungsgang in eine stabile, nur wenig weitere Anpassungen vornehmende Phase übergeht. So muss man zwischen den echt kreativen, hervorbringenden Wirkursachen, die nicht empirisch feststellbar sind und metaphysisch erschlossen werden müssen, und den empirisch feststellbaren Gestaltungsprinzipien oder umfassenderen Gestaltungsgesetzmäßigkeiten der Evolution, die sich an den empirischen Wirkgebilden (Organismen) ablesen lassen, unterscheiden. Während jene transzendenten Wirkursachen das Wodurch, die Umweltbedingungen das Worin und die Gestaltungsprinzipien das Wie des Entwicklungsprozesses angeben, geben die Wirkgebilde das Woran an. Detaillierter betrachtet, kommen bei der kosmischen Evolution – hier nur als vorläufiger Vorschlag gemeint – mehrere Gestaltungsprinzipien zur Geltung: –
Am Anfang einer Neuerung steht ein kompliziertes Gemisch von Zufall, Glück und Entdeckung, Versuch, Erfindung und Irrtum, Not und Überfluss. Was in der jeweiligen Situation überwiegt, kann nur empirisch und im Einzelfall ermittelt werden. Entscheidend ist, dass die Anfangsbedingungen vorteilhaft und nicht zu schwierig sind. Später erfährt eine Neuerung oft einen geschichtlich bedingten Funktionswandel, was beweist, dass in 385 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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ihr ein Potential liegt, das am Anfang nicht absehbar ist und später bedeutsam wird. Akkumulation (Anreicherung, Sichhäufen) von Material zur Gestaltbildung mit der Gefahr der Unübersichtlichkeit und Überladung. Beispiel: Ein Mehrzeller bedient sich des vielzelligen Materials, um es als neuen Organismus zu gestalten. Auf dieser Basis erfolgt die Organisation/Sichtung/Gliederung des vorgefundenen, immer schon vororganisierten Materials, z. B. vieler Zellen eines Zellverbandes, zum Zwecke der spezialisierten Arbeitsteilung in Organe, Funktionen und Gestaltungen mit der Folge einer Differenzierung, Neuintegration, Verzweigung und Vervielfältigung der Organismen. 82 Diese erste Phase der Akkumulation und ersten Formbildung erfolgt in der Stammesgeschichte oft »stürmisch« in relativ kurzer Zeit und führt zur Ausbildung der grundlegenden Baupläne der Stämme. 83 Differenz, Polarität, Kampf, Konkurrenz und Rivalität der Arten im Akkumulations-, Organisations- und Expansionsprozess (Gefahr der gegenseitigen Ausmerzung). Da sich jedes Lebewesen organisiert und entsprechend seine Umwelt nutzt (ausbeutet), kommt es zu Kämpfen um Ressourcen wie Wasser, Nahrung, Land, Geschlechtspartner usw., die in der Regel mit Expansions- und Verdrängungsprozessen einhergehen. Diese zweite Phase der Stammesgeschichte, in der es um die stetige Ausgestaltung und Ausdifferenzierung, arbeitsteilige Gliederung und genauere Anpassung der Grundbaupläne an die Umwelt bzw. die existenziellen Erfordernisse geht, verläuft im Vergleich zur ersten Phase langsamer und ruhiger. 84 Abbau, Moderierung und »Zähmung« (Begrenzung) von alten Strukturen und Dynamismen für den Aufbau neuer, meist verletzlicherer, weil differenzierterer Strukturen. Um Neues zu schaffen oder zu organisieren, müssen in der Regel alte Strukturen bzw. muss das zugrundeliegende Material begrenzt, gezähmt
Die aristotelische Idee einer reinen, formlos-unorganisierten Materie ist daher unhaltbar. Materie ohne Gestalt, Form und Struktur ist nicht bestandsfähig. Daher gibt es keine geist- und sinnlose Materie, und entsprechend ist sie als Grenzbegriff nicht möglich. Schon dieser Umstand hebt die klassische Form-Materie-Ontologie auf. 83 Vgl. P. Overhage (1963, 38–40). 84 Vgl. P. Overhage (1963, 41–43). 82
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Die evolutionären Kausal- und Gestaltungsfaktoren – eine Zusammenfassung
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und moderiert werden. Ein Vielzeller z. B. muss die Autonomie jeder Einzelzelle begrenzen und hemmen, um als Ganzes funktionieren zu können und bösartiges Wachstum zu verhindern; zur Erreichung höherer kognitiver Verhaltensweisen müssen primitivere, starrere Instinkte ausgeschaltet werden usw. Spezialisierung und gegenseitige Anpassung der Organe und Funktionen zur Perfektionierung der innerorganismischen Arbeitsteilung mit der Gefahr des Spezialistentums bzw. der Überspezialisierung, der Atomisierung, Vereinseitigung und der allzu großen Abhängigkeit von der Umwelt, die wiederum eine Erstarrung nach sich ziehen kann. 85 Integration oder Zusammenfassung bzw. Neubündelung, Neuzentrierung des gegliederten Ganzen in irgendwelchen Zentren, z. B. in Gehirnen. Komplexitätszunahme mit der Gefahr der größeren Verletzlichkeit und der Verkomplizierung. Akzeleration der Prozesse und des Verhaltens mit der Gefahr der Verflachung. 86 Zunehmender Ressourcenverbrauch an Raum, Zeit und Stoff mit der Notwendigkeit, die Ressourcen zu schonen und zu ersetzen bzw. mit der Gefahr der Selbstvernichtung durch maßlose Ressourcenausbeutung. Individualisierung, Verinnerlichung und seelische Vertiefung im Phänotyp, vor allem als Folge der Komplexitätszunahme. Vergeistigung/Entsinnlichung mit der Gefahr der Abstraktivierung und des Verlustes an Realitätsverbundenheit, so vor allem beim Menschen. Universalisierung/Vernetzungszunahme/Vielseitigkeit mit der Gefahr der Beliebigkeit oder der Kollektivierung. Mediatisierung/Kommunikationszunahme (schon durch die Fülle der Sinnesorgane und Medien). Emanzipation oder Zunahme der Freiheitsgrade gegenüber der Umwelt. Globalisierung und Ausbreitung über das ganze Ökosystem.
Vgl. zur Überspezialisierungsfrage und zur Überschreitung des Optimums P. Overhage (1964, 172–180). 86 Zur »Barbarisierung«, Verflachung und Vermengung der Kultur(-en) vgl. A. Baricco (2018). 85
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Manchmal sind anscheinend auch Phänomene der »Alterung«, Degeneration und »Formverwilderung«, schließlich des Aussterbens von Gattungen und Arten zu beobachten. 87
Wie man sieht, sind diese Prinzipien so allgemein und grundlegend, dass sie sowohl auf die vormenschliche Evolution als auch auf die Kulturbildung anwendbar sind. 88 Die Trennung von Natur und Kultur, die etwa auch der Naturphilosoph B. v. Brandenstein, der Evolutionsanthropologe M. Tomasello 89, der Physiker E. Jantsch 90 und der Physikochemiker I. Prigogine ablehnen und zu Recht zu überwinden suchen, ist darum nur relativ und liegt nicht darin begründet, dass die Natur geistlos, die Kultur geistig, die Natur zwecklos, die Kultur zweckhaft, die Natur unfrei und die Kultur frei gestaltet seien. Das entscheidende Unterscheidungskriterium ist die Stellung der Personalität in der Welt: Während das Personale in der Natur nur in Teilfunktionen zum Ausdruck kommt und gleichsam hinter den Naturwerken, wie der Künstler hinter seinem Kunstwerk, verborgen bleibt, aber stets, so etwa in der Manifestation seelisch-geistiger Funktionen durchscheint, tritt es im Organismus des Menschen direkt als solches auf, was wiederum in einem eigenen Entwicklungsgang die Möglichkeit eröffnet, dass sich diese Personalität im Leib ihrer selbst zunehmend (und nie ganz und gar) bewusst und habhaft wird, um dann ein personales Gegenüber anzusprechen bzw. sich von ihm ansprechen zu lassen (Konstitution von Intersubjektivität). 91 Eine solche Betrachtung, die die evolutionären Bildungsfaktoren positiv »von innen« bestimmt, verdeutlicht, dass die Theorie, wonach alle Gestaltbildung von außen, zufällig, ungerichtet und durch Gewalteinwirkung von statten gehe, nicht haltbar ist und durch eine Vgl. P. Overhage (1963, 43–47). Das anerkennt zu Teilen auch der Geschichtsphilosoph H. Heimsoeth (1948, 636– 647), wenn er feststellt, dass alles Höhere, Edlere und Feinere, das in der menschlichen Geschichte auf Primitiverem, Mächtigerem und Gröberen aufbaut und daher immer gefährdet ist, errungen, erprobt und erhalten werden muss. 89 Vgl. M. Tomasello (2006 und 2009). 90 Vgl. E. Jantsch (1982). 91 Was der Grund dafür ist, dass eine scharfe Abgrenzung zwischen Tier und Mensch auf der bloß funktionalen Ebene nicht möglich ist. Sogar die Reflexivität des Bewusstseins und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, werden manchen Menschenaffen und anderen Tieren heute in Ansätzen zugesprochen. 87 88
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Die Evolution als Geburts- und Leidensprozess
»intrinsische Sicht«, die das Wirken schöpferisch-gestaltender und sinngerichteter Mächte gelten lässt, ergänzt werden muss. Das Gewalt- und Manipulationstheorem, typisch für die Neuzeit und den unreifen Menschen überhaupt, muss durch ein intrinsisch-interaktives Achtsamkeits-, Anerkennungs- und Gegenseitigkeitstheorem abgelöst oder doch wenigstens ergänzt werden. 92
4.9. Die Evolution als Geburts- und Leidensprozess mit zunehmender Verselbständigung und Emanzipation ihrer Gebilde vom Umweltbezug Die genauere Kenntnis der Aufbauordnung der kosmischen Evolution mit ihrer zunehmenden Kraftspezialisierung – spätere Kräfte wirken an einem immer komplexeren Gebilde in einem immer engeren Raum- und Zeitfenster – gibt die Möglichkeit an die Hand, den Ort und die Rolle des Leidens darin zu bestimmen. Dass das Leiden im Kosmos vorkommt und spätestens bei den höheren Wirbeltieren erscheint – »Was reicher an Leben, ist näher dem Tode« 93 –, darf als feststehende Tatsache genommen werden, doch ist damit über die Bedingung seiner Möglichkeit nichts gesagt. Wie gesehen, ist Leiden notwendig an erlebende Wesen, genauer, an kreatürlich-geschöpfliche Geistwesen, an Objekt-Subjekte gebunden. Weder ein bloßes Ding noch Gott können leiden. Wo aber treten Objekt-Subjekte in der Evolution auf? Unmittelbar erfahrbar sind sie erst im Dasein des Menschen, genauer, im Selbsterleben des Ich, der reflexiven Person und im Wir. Doch drücken sie sich auch in der Tierwelt, und zwar zunehmend immer deutlicher, je komplexer diese wird, aus. Das auf seinen Grund durchdachte Kausalproblem zeigt, dass der gesamte Kosmos das Werk von geschöpflich-kreatürlichen Geistwesen ist, dass aber nur im Menschen ein persönliches Ichwesen direkt erscheint und entsprechend nur im Menschen echtes, unmittelbares Leiden möglich ist. Denn aufgrund der innigen Leib-Seele-Verbundenheit ist der Mensch seelisch direkt durch physische Einwirkungen
Vgl. das neue wissenschaftliche Paradigma des »Zurück zur beseelten Natur« (A. Weber). 93 Siehe J. Bernhart (1917, 53). Ähnlich G. W. F. Hegel: »Es ist ein Vorrecht höherer Naturen, Schmerz zu empfinden; je höher die Natur ist, desto mehr Unglück empfindet sie« (zit. bei F. Billicsich 1952, 343). 92
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Natur und Leiden
betreffbar, verletzbar und also erleidens- und damit leidensfähig, während die transzendenten Naturgeistkräfte »außerhalb« ihrer Wirkungsgebilde (Felder, Atome, Moleküle, Organismen) stehen und daher nicht direkt betreffbar sind. Im Menschen dagegen wird eine Innerlichkeit in der Äußerlichkeit eines raumzeitlichen Gebildes manifest, die die entscheidende Bedingung der Möglichkeit von Leid und Leiden ist. Es kann kein Zweifel sein, dass sich diese Innerlichkeit in der Evolution allmählich anbahnt und zunehmend vorbereitet. Bei den höheren Primaten steht sie an der Schwelle zur individualen Personalität, wie die Experimente mit der berühmten Schimpansin Washoe beweisen. 94 So gewinnt man den Eindruck, dass die gesamte Evolution in der Linie zum Menschen – also nicht überall im Kosmos – die Offenbarung des seelisch-geistigen Individuums, der Person, erstrebt und einem Geburtsprozess gleicht, dessen Ziel darin besteht, das Prinzip der Evolution selbst, den geschöpflichen Geist, die geistige Wirkkraft, das Ich bzw. das Du und Wir durch die apersonal-extensive Materie hindurch zur direkten Anschauung und mehr noch zur Selbstanschauung zu bringen. Dass dieser Vorgang problematisch, heikel, mühsam, gefährdet und dem Schmerz, der Angst, der Verwirrung, dem Kampf, dem Versagen, der Trägheit und Bequemlichkeit ausgesetzt ist, liegt auf der Hand. 95 Dies trifft umso mehr zu, als diese Geburt nicht vollständig abgeschlossen werden kann, da die wesenhaft potentialunendliche Person als der zwar begonnene, aber nicht ausschöpfbare Geist im wesenhaft endlich-vergänglichen Leib nicht vollständig manifest werden kann, und also in eine unvermeidliche Spaltung gerät, die der Mensch als die polare Zweiheit von Bewusstsein und Unbewusstem erlebt. Diese Zweiheit und Spaltung ist so grundlegend, dass man berechtigterweise von einer »anthropologischen Ich-Spaltung« sprechen kann. 96 Von ihr ist nur der Mensch betroffen, dessen Bewusstseins-Unbewusstseins-Spannung in diesem Leben unaufhebbar ist. Eine totale und nichtentfremdete Selbstkongruenz ist nicht erreichbar, und erst der Tod hebt die Schranke auf, hinter der die volle Selbstidentität möglich wird. Vgl. C. Thies (2004, 46). Daher ist nach J. G. Fichte schon die (gewollte oder festgehaltene) Trägheit und nach G. W. F. Hegel das Stehenbleibenwollen im Naturzustand das Böse oder die Sünde. Vgl. F. Billicsich (1952, zu Fichte 264, zu Hegel 341). 96 Welche die Bedingung der Möglichkeit psychischer Spaltungsphänomene wie der Dissoziation und der Schizophrenie ist. 94 95
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Die Evolution als Geburts- und Leidensprozess
Wie jede Geburt, so ist auch dieser »Werdegang der Geistseele im Leib« ein schmerzhafter Vorgang, mehr noch der denkbar schmerzhafteste, mühsamste und gefährdetste, der denkbar ist. Somit wird das Leid bzw. das Leiden für die menschliche Existenz konstitutiv. Das ist die subjektive Seite, von der her das Verhältnis von Evolution und Leid betrachtet werden kann. Von der objektiven Seite erfährt sie eine bedeutsame Ergänzung und Bestätigung. Je komplexer ein Organismus wird, desto abhängiger wird er von seinen Grundlagen und Voraussetzungen. Während z. B. ein Gravitationsfeld, das auf nichts aufbaut, unzerstörbar ist, kann schon ein Atom prinzipiell, da es auf andere physikalische Wirkungen gebaut ist, »Schaden erleiden«. Erst recht gilt dies von Lebewesen. Zwar geht mit der Höherentwicklung eine Komplexierung des Lebens und damit eine Zunahme des Freiheitsgrades gegenüber der Umwelt einher, doch nehmen parallel dazu Abhängigkeit und Verletzbarkeit zu. Da mit dem Freiheitsgrad wesenhaft eine größere Innerlichkeit verbunden ist, ein Sich-selbst-Fühlen-Können, nimmt die Möglichkeit des Leidens zu. 97 Damit wird das Leiden in der Evolution unumgänglich. Zwar hätte Gott eine andere, prinzipiell leidfreie Welt schaffen können, aber unmöglich konnte er eine Welt ins Leben rufen, in der ihr Wirkprinzip, die Subjektivität, immer manifester wird, ohne sie der Leidmöglichkeit auszusetzen. Da eine Welt zweifellos vollkommener ist, die nicht nur totes Ding, bloßes Werk, sondern selbst lebendiges Subjekt, Person, kreative Wirkkraft ist, hatte Gott, der es seinem Wesen »schuldet«, das Bestmögliche zu erschaffen, »keine andere Wahl«, als eine mit Leid und Schmerz, Unsicherheit und Angst, Trägheit und Gleichgültigkeit, Versagen und Scheitern, Kampf und Erfolg verbundene Welt ins Dasein zu rufen, was umso mehr gilt, als diese lebendigen geschöpflichen Subjekte zugleich befähigt sind, mit dem Leiden umzugehen, es zu verstehen, zu bewältigen und sich daran zu bewähren, zu wachsen und zu reifen, oft durch Verzicht, oft durch Wagnis. Je mehr Innerlichkeit, organismisch betrachtet, je mehr Sinnesorgane die Lebewesen nach außen und nach innen entwickeln, desto mehr erleben und erfahren sie, und desto mehr Welt und Leiden setzen sie sich aus. Im Menschen richtet sich die Wahrnehmung jedoch nicht nur auf die Welt, sondern reflexiv auf sich selbst und nicht In der »radikalen Lebensphänomenologie« spricht man im Falle des Selbstfühlens von »Selbstaffektivität«. Vgl. M. Henry, R. Kühn.
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Natur und Leiden
selten in seine tiefsten seelischen Abgründe und Dunkelheiten hinein, womit es möglich wird, an sich selbst zu leiden. Und das ist das intensivste und tiefste und damit leidvollste Leid. Denn hier erkennt ein Wesen, dass es zugleich kontingent und schöpferisch, abhängig und selbständig, unwissend und wissensfähig, getragen, ungesichert und haltsuchend, verlassen und verloren, sehnsüchtig nach Schutz, Geborgenheit und Heimat, andererseits neugierig und risikofreudig ist. Mehr noch tritt hier ein Wesen in die Welt, das sich manchmal wie eine Gottheit fühlt, da es mit seinem Geist irgendwie das Ganze des Alls denken kann, um dann mit großer Bitterkeit erfahren zu müssen, dass es, wie es B. Pascal so schmerzlich erlebte, ein Nichts ist, in die endlos weiten Wüsten des Kosmos geworfen, irgendwohin, scheinbar ohne Sinn und Zweck und am Ende der totalen Vergänglichkeit, dem Tod anheimgegeben – »ein Schilfrohr«, das zwar denken, aber von einem Zufall zerstört werden kann. 98 Erlebt der Mensch sein Schicksal in dieser Weise, verfällt er dem größten Leid, der Verzweiflung an seinem Dasein, und die Geschichte der Menschheit lehrt zur Genüge, dass dies keine Ausnahme ist. Und doch beruht diese Verzweiflung auf einer Fehldeutung des Daseins, da, wie gesehen, die Hauptaufgabe des Menschen in nichts Anderem besteht, als in dem, was im Kosmos als Ganzem erstrebt wird: die Manifestation und ethische Vervollkommnung des persönlichen Geistes. Und so hat der Mensch die Pflicht, diesen Impuls aufzugreifen und fortzusetzen, was er auch von Anbeginn tut, nämlich mit seinem Kulturschaffen. Hier in der Tat offenbart sich der kreative Geist in einer Intensität, Direktheit, Höhe und Tiefe, die alles, was die kosmische Evolution bisher erreichte, grundsätzlich übersteigt. Und das kann nicht sinnlos, verfehlt, ein kosmischer Irrtum und Irrweg sein, wie J. Monod, E. Cioran, 99 T. Lessing und viele andere behaupten. Die Bestimmung der Stellung des Menschen im Kosmos zeigt, dass er kein Irrläufer der Evolution ist – er ist ihre konsequenteste Fortsetzung und ihre übernatürliche Erfüllung. Da der Leib des Menschen kein einfaches, sondern ein komplexes, nur teilweise dem Ich zugängliches und verfügbares, vielmehr
Siehe B. Pascal (»Pensées«, VI, 347): »Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur; aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Es ist nicht nötig, dass das ganze Weltall sich waffne, ihn zu zermalmen: Ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten.« 99 Vgl. E. Cioran (1979). 98
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Die drei Grundübel nach G. W. Leibniz
ein in vielem und vor allem im Grundlegenden autonomes Wesen ist, befindet sich der Mensch in der prekären Lage, nicht der alleinige Herr im Hause seines Leibes und Lebens zu sein. Oft erscheint er nur einer von vielen Mietern, der mächtig bedrängt und aus seinem Haus hinausgedrängt wird. Hier spielen die tierischen Triebkräfte die entscheidende Rolle, in deren Machtbereich der Mensch erwacht und mit denen er sich arrangieren muss. Da dies nicht ohne Fremd- und Selbsterziehung gelingt, kommt es zu vielen intra- und interindividualen Konflikten, so mit den oralen, narzisstischen, sexuellen und aggressiven Triebkräften, die in einem langwierigen und mühsamen Entwicklungsprozess, genannt »Ontogenese«, in die Gesamtperson integriert werden müssen. Bekanntlich setzte an diesem Punkt die Freudsche Trieb- und Konfliktpsychologie an, die zweifellos eine fundamentale Lebenswahrheit, obschon einseitig, zum Ausdruck bringt. Immerhin ist es richtig, dass die Integration der leiblichen Triebkräfte in die Gesamtperson – wozu auch Altern, Krankheit und Tod, Müdigkeit, Schwere und Mühe gehören – nicht abschließbar ist und eine ständige Konflikt-, Herausforderungs- und Leidquelle darstellt. Die Menschen leben in ihrem Leib nicht nur in einem Lust-, sondern auch in einem Feindesland und müssen sich am Ende der totalen Selbstauslöschung des physischen Lebens ergeben. So gesehen, ist das Leid der unumgängliche Preis für die zunehmende Verinnerlichung, Vergeistigung und Emanzipation des kosmischen Prozesses und keineswegs etwas, das sich als zufälliges Beiwerk wegdenken lässt.
4.10. Die drei Grundübel nach G. W. Leibniz mit einer Ergänzung durch ein viertes Grundübel auf dem Hintergrund der kosmischen Evolution G. W. Leibniz unterscheidet in seiner »Theodizee« drei Grundübel dieser Welt: das physische Übel oder das Leid, das geistig-sittliche Übel oder das Böse und das metaphysische Übel oder die Unvollkommenheit der Welt. Da die Unvollkommenheit, etwa in Form von Wandelbarkeit, Vergänglichkeit, Verletzlichkeit, Pluralität und Agonalität zum Wesen der Welt gehört, plädiere ich wie schon Plotin und Augustinus dafür, nicht von »Übel« zu sprechen. Anders betrachtet, handelt es sich um Vollkommenheiten, da eine dynamisch-entwicklungsfähige und kreative Welt reicher, sinniger und lebendiger ist als eine statische Welt. Im Vergleich zu Gott ist zwar auch eine kreative 393 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
Welt unvollkommen, aber das ist ihrer Nichtgöttlichkeit geschuldet. Sekundär können die metaphysischen Begrenztheiten allerdings dadurch zu Übeln werden, dass ein Subjekt an ihnen leidet. Unter allen Lebewesen ist es bezeichnenderweise nur der Mensch, der unter dem Werden, der Vergänglichkeit, unter Sterben und Tod leidet, für das Tier sind dies Gegebenheiten, die es nicht infrage stellt, möglicherweise auch deshalb, weil es im tiefsten Seinsgrunde »seinen vollen Frieden« gefunden hat, d. h. mit dem Göttlichen vereinigt ist, was die phänomenologisch so beeindruckenden Zustände der »Seelenruhe«, des »vollkommenen Bei-sich-Seins« der Tiere bezeugen. All das beweist, dass der Mensch in dieser Welt nur ein Durchreisender ist, der sich im Hiesigen nie ganz beheimaten kann. Anders verhält es sich mit dem physischen Übel. Seine metaphysischen Bedingungen sind die Pluralität und die Wechselwirkung mindestens zweier oder mehrerer selbständiger Wirkungszentren oder Subjekte mit eigenen Absichten und Zielen. Wo kein oder nur ein Subjekt tätig ist, wie im Falle der solipsistischen oder radikal idealistischen Weltanschauung, oder wo zwar mehrere Subjekte vorhanden sind, aber nicht direkt wechselwirken wie bei G. W. Leibniz, G. Berkeley und überhaupt bei den Parallelisten und Okkasionalisten, da können keine echten Konfrontationen und Konflikte und also keine physischen Übel entstehen. Ein Zweites kommt hinzu. Da die Pluralität mehrerer Wirkungszentren prinzipiell harmonisch gedacht werden kann, muss es sich im Fall des physischen Übels um solche Wirkungen handeln, die sich gegenseitig stören oder schädigen, die also nicht (auf Anhieb) kompatibel sind. Das ist wiederum nur dann der Fall, wenn mit diesen Wirkungen verschiedene und einander behindernde oder schädigende Absichten und Ziele verbunden sind. Wenn ein Raubtier einen Menschen anfällt, prallen zwei unvereinbare Willenskräfte aufeinander, die sich gegenseitig beschränken und schädigen: Das Raubtier muss, um überleben zu können, Beute schlagen; der Mensch muss sich, will er sein Leben behalten, schützen. Schlägt das Raubtier keine Beute, erleidet es ein Übel, ist es erfolgreich, erleidet das Beutetier ein Übel. Alles Übel und damit alles Leid hängen von einer Willens- und Wertsetzung ab, die im Falle der Affliktion gehemmt, verletzt oder zerstört wird. Ein rein sachlich-neutrales, rein objektives Übel gibt es nicht, seine Objektivität besteht geradezu in einer subjektiven bzw. intersubjektiven Wertverbundenheit. Doch ist diese keinesfalls beliebig, vielmehr ist sie in der Lebensform und im Lebensentwurf der betei394 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Die drei Grundübel nach G. W. Leibniz
ligten Subjekte verankert und dadurch objektiv. So ist ein Knochenbruch objektiv-subjektiv nicht weniger ein Übel als eine Depression, ein Arbeitsplatzverlust oder eine Ehekrise. Denn in allen diesen Fällen wird eine Seinssinnstruktur verletzt oder zerstört, so der Seinssinn des Knochens, den Leib zu stützen, so der Seinssinn der Psyche, das Leben zu motivieren und zu beleben, so der Seinssinn der Arbeit, einem Menschen ein selbst erwirtschaftetes Einkommen und damit seine soziale Selbständigkeit zu garantieren, so der Seinssinn einer Ehe, ein gemeinsames Leben zu gestalten. Da der Kosmos aufgrund der Kraftspezialisierung vertikal in Schichten und horizontal in konkurrierende Machtbereiche gegliedert ist, sind Dissonanzen, Konflikte und Affliktionen immer möglich und, wie die Erfahrung lehrt, tatsächlich. Bei dem heutigen Stand der kosmischen Evolution erleidet aber nur mehr der Mensch echte Übel, da alle vormenschlichen Naturwesen zum einen ihren eigenen Gesetzen folgen, zum anderen die Störungen, die sie erleiden, integrieren, etwa durch starke Vermehrung. Nur der Mensch hat noch nicht sein mit der Natur und mit seinesgleichen versöhntes Lebensgesetz gefunden und erzeugt daher viele Übel. Auch ist nur er den Unbilden in einer Weise ausgesetzt – man denke an Naturkatastrophen –, die nicht kompensierbar und integrierbar ist. Wenn eine Tierart ein Individuum verliert, dann verliert es nur ein Exemplar seiner Gattung; wenn die Menschheit ein Individuum verliert, verliert es eine einzigartige Person. Dieses Übel ist in keiner Weise wiedergutzumachen, hier kommt es, rein innerweltlich betrachtet, zu einem »unendlichen« Verlust. Die dritte Klasse der Übel, die G. W. Leibniz anführt, umfasst die moralischen oder sittlichen Übel. Zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit gehören, wie er in seiner Theodizee anführt, erstens die Freiheit, zweitens die Endlichkeit bzw. Prozessualität der Freiheit, drittens die Pluralität der Freiheit und viertens die Unreife der Freiheit, d. h. ihr Schwanken zwischen gut und böse, gut und schlecht. Wo die Freiheit reif geworden ist, individuell wie kollektiv, und sich endgültig unter die absoluten Werte des Guten, damit unter die Tugendwerte der Selbstbeherrschung, Achtung und Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und Güte, der Nachsicht, Vergebung und Liebe gestellt hat, da sind sittliche Übel nicht mehr möglich. Leicht ersichtlich wird dieses Ideal mindestens solange nicht erreicht, als neue und damit unreife Menschen in die Welt geboren werden, die ihre Freiheit noch nicht dem Guten gemäß gebrauchen. 395 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
Über diese drei Klassen hinaus scheint es nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, die Klasse der psychischen, psychosomatischen und psychosozialen Übel einzuführen, die sich weder auf die physischen noch auf die sittlichen Übel reduzieren lassen. Leiden wie psychosomatische Erschöpfung, Geistesstörung und Demenz, Angst und Depression, Missverständnis und Irrtum, Arbeitsplatzverlust und Diskriminierung u. v. a. m. sind weder physisch noch durch die moralisch schwankende Freiheit zu erklären, sondern durch Endlichkeit, Missverständnis, Überforderung, Schwäche, Kulturgebundenheit und Unreife, die nicht alle auf eine missbrauchte Freiheit zurückgeführt werden können und mit der psychophysischen und gesellschaftlichen Entwicklungsunterworfenheit des Menschen zusammenhängen. Da diese Übel und Leiden, die zahllos sind, der Wechselwirkung und Intersubjektivität der Menschen geschuldet sind, musste sie G. W. Leibniz, der in seinem System keine Interdependenz der Monaden kennt, ausblenden, was seine Theodizee entscheidend schwächt. Mehr noch kennt er als metaphysischer Parallelist nicht einmal die Abhängigkeit der Seele von ihrem Leib, durch die der Mensch tiefgreifend gebunden und eingeschränkt wird, oft bis zur vernichtenden Überwältigung durch physische, psychische und soziale Widerfahrnisse. 100
4.11. Der menschliche Leib als prekäre Synthese der Evolution; seine Antiquiertheit, Gebrechlichkeit, Offenheit und Plastizität Der Leib des Menschen, der die Philosophie seit dem 19. Jahrhundert mehr als jemals zuvor beschäftigt, ist ein außerordentliches Gebilde. Bis zu dieser Zeit recht stiefmütterlich oder sogar, meist aus religiösen Gründen, abwertend behandelt, wirkten sich die Naturwissenschaften in Hinsicht der Bedeutung des Leibes positiv aus, da sie ein immer differenzierteres, reicheres und tieferes Bild vom Leib entwarfen, ein Bild, das von einer eigenartigen Polarität bestimmt wird. Auf der einen Seite wurde deutlich, wie autonom viele Prozesse im Körper ablaufen und vom bewussten Menschen selbst kaum wahrgenommen, geschweige gesteuert werden können, Prozesse, die höchst 100 I. Kant unterscheidet als eigene weitere Klasse der Übel noch »das Missverhältnis zwischen Verbrechen und Strafen in dieser Welt«.
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Der menschliche Leib als prekäre Synthese der Evolution
komplex, prompt, sinnverbunden, seelisch-ausdrucksvoll und kommunikativ verlaufen. Auf der anderen Seite wurde zunehmend die zentrale Rolle der höchsten Hirnregionen, also die physiologischen Korrelate des Bewusstseins erkannt, die durch Hemmung, Regulation und Initiative die tieferen Hirnregionen beeinflussen, und zwar sowohl bewusst als auch vor- und unbewusst. Denn in der Tat sind nicht nur basale, etwa instinktive Körpervorgänge unbewusst – das so genannte »Reptiliengehirn« –, sondern auch zum großen und viel größeren Teil höchste kognitiv-geistige, personal-emotive und sozialkommunikative Aktivitäten. Eine andere Polarität, die den menschlichen Leib auszeichnet, ist der Gegensatz von Archaik und kreativer Plastizität. Im Leib gibt es Strukturen und Funktionen, die aus der Zeit der ersten Einzeller stammen, und vieles wird mitgeschleppt, was heute funktions- und nutzlos, manchmal sogar schädlich geworden ist wie die so genannten Atavismen, z. B. der Ohrknorpel und die Ohrmuskeln des Menschen, die »Weisheitszähne«, überzählige Rippen oder der »Blinddarm«, die von den tierischen Vorfahren nutzbringend eingesetzt wurden, heute aber überflüssig oder problematisch sind (auch das wüsste ein Gott, der direkt die Natur bewirkte, besser zu machen). Andererseits beweist der Leib eine erstaunliche Plastizität, etwa im Bereich des Nervensystems, des Wachstums und der Koordination, was durch die Wachstumsakzeleration der jüngeren Generationen und durch die enorme Entwicklung des Sports deutlich belegt wird. Im Bereich des Gehirns bzw. Zentralnervensystems deuten die empirischen Befunde, wie G. Hüther 101 zusammenfasst, eindeutig auf den Umstand, dass sich an jenen Stellen neuronale Netzwerke neu ausbilden, wo der Geist aktiv ist, was bedeutet, dass das Bewusstsein Einfluss auf Struktur und Funktion des Leibes nimmt, während es zu Rückbildungen von Organsystemen und neuronalen Strukturen kommt, wenn sie nicht genutzt werden, der Geist also über längere Zeit in dieser Hinsicht inaktiv ist. Offensichtlich ist der Leib für Seelisch-Geistiges, überhaupt für alle Arten der Intentionalität empfänglich, ganz im Gegensatz zur klassischen Auffassung von R. Descartes und I. Kant, wonach Seelisch-Geistiges und Leiblich-Materielles zwei getrennte Welten seien. Im Gegenteil lässt sich Organisch-Leibliches, wie schon Aristoteles wusste, ohne Seelisches nicht fassen, und daher gibt es kein Seelisches, das ohne Leiblichkeit gedacht werden kann. So be101
Vgl. G. Hüther (2009).
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Natur und Leiden
sitzen z. B. Reflexe und Instinkte seelische Aspekte, die zwar vormenschlich-seelisch sind, aber nichtsdestotrotz seelische Qualität besitzen wie der geruchlich geleitete Instinkt der Nahrungsauffindung, die Annäherung an einen Geschlechtspartner oder der Fluchtreflex. Typisch Leibliches ist hier ohne seelische Intentionalität nicht denkbar, nur handelt es sich nicht um eine spezifisch menschliche Intentionalität, sondern eine vormenschlich-animalische, die auch im menschlichen Leib auftritt und in Konflikt mit den menschlichen Intentionalitäten geraten kann. Es heißt, durch N. Kopernikus, Ch. Darwin und S. Freud sei der Mensch aus seiner antik-mittelalterlichen Mittelpunktstellung im Weltall hinausgestoßen worden. Rein räumlich betrachtet, stimmt dies, da sich das Sonnensystem am Rand einer von vielen Millionen Galaxien des Weltalls befindet. Aber so einfältig hatten die antiken und mittelalterlichen Denker es nicht gemeint. Und nimmt man den strukturellen Aspekt in den Blick, gilt nach wie vor, dass der Mensch den Mittel- und Höhepunkt der bisherigen kosmischen Entwicklung insofern darstellt, als alle bekannten Kräfte des Alls – von den einfachsten physikalischen Wirkungen bis zur höchsten Kulturleistung – in seiner psychophyischen Existenz vereinigt sind. Vor allem im menschlichen Mikrokosmos Leib bündelt sich die makrokosmische Strukturfülle und lässt ihn immer komplexer, differenzierter, integrierter, individueller, seelenvoller und transparenter für den personalen Geist und die höchsten Lebenswerte werden. Der Preis, der dafür gezahlt werden muss, ist unausweichlich die wachsende Kompliziertheit, Verletzlichkeit, polare Spannungs- und Konfliktbeladenheit und Leidausgesetztheit des menschlichen Lebens. Denn der Leib wird zugleich immer älter und immer jünger, immer antiquierter und moderner, und also immer »prekärer«, was den modernen, besonders eindrücklich in der Filmkunst umgesetzten Wunsch erklärt, den Leib verlassen und durch ein unveränderliches »Surrogat« ersetzen zu können (vgl. die Filme »Avatar« 2009 und »Surrogates« 2010). Da dies nicht möglich ist, gerät die leibliche Existenz immer stärker unter Druck. Besonders die heutige Geschwindigkeitszunahme aller Lebens- und Kommunikationsprozesse stößt an die Grenzen des Leibes und treibt diesen in Überforderung, Erschöpfung und Burn-out hinein. Zweifellos verdankt sich die ganze Fülle des Leidens der Leiblichkeit, die nicht nur die individuellen Leiden der Verletzung und Krankheit, des Verfalls und des Todes, sondern auch alle intersubjek398 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der menschliche Leib als prekäre Synthese der Evolution
tiven und sozialen Leiden ermöglicht und vermittelt. Reine Geister können zwar leiden, z. B. wenn sie ihre Seinsaufgabe nicht finden oder gegen Gott aufbegehren, aber solange ein Medium fehlt, das es möglich macht, aufeinander einzuwirken und einander zu schädigen, sind intersubjektive Leiden unmöglich. Da im Falle des Menschen dieses Medium da ist, nämlich der Leib, und da im Gegensatz zum Tier in jedem menschlichen Leib ein eigenständiges, einmalig individuales Wirk- und Kraftzentrum agiert, potenzieren sich die Möglichkeiten der intersubjektiven und kollektiven Konflikte ins Grenzenlose. Die Weltgeschichte, die vielen Denkern mehr als eine Schlacht- und Folterbank denn als eine Verständigungsplattform erscheint, ist dafür der schlagende Beweis. Auch hier zeigt sich das Leiden als unvermeidlicher Preis für die Beseelung, Individualisierung, Sozialisierung und Vergeistigung der leiblichen Materie mit einer mühsam erwachenden und zu sich findenden, durch allerlei Kämpfe zur sittlichen Veredelung reifenden bzw. nicht reifenden, ja oft sogar verrohenden Geistseele. Blieben die Menschen erstens so un- oder halbbewusst wie die Tiere, wären sie zweitens wie diese nach wenigen Lebensjahren fertig entwickelt und wären drittens als Individuen mit ihren Interessen der Gattung unter- und eingeordnet, ginge es, wenigstens innerartlich, friedlicher zu – allerdings um den Preis der ausbleibenden individualen Vergeistigung und sozialen Kommunikation, also um den Preis von Personalisierung und Interpersonalisierung des materiellen Seins. Da alles Werden und Sichentwickeln ein Reifen ist, physisch, psychisch, sozial und geistig, ist kein Vorbeikommen an Versuch und Irrtum, Verwirrung und Konflikt, Scheitern und Versagen, Schuld und Sühne, Opfer und Ergebung, Kampf, Niederlage und Sieg. Offensichtlich will Gott keine gute Welt in reiner Einfachheit (das zu tun er die Macht hat), sondern eine Welt, die das gesamte Spektrum der Möglichkeiten vom Nichts bis zum Gottmenschen, von der abgrundtiefen Niedertracht bis zur grenzenlosen Güte, von der stumpfen Dummheit bis zur erleuchteten Weisheit, von der Herzlosigkeit bis zur aufopferungsvollen Liebe abdeckt. Und so besteht ihre Vollkommenheit nicht darin, dass es Geschöpfe von höchster und reinster Güte gibt (und die gibt es durchaus), sondern darin, umfassend, allseitig und stufenreich vom Kleinsten bis zum Größten, von Dunkelsten bis zum Hellsten, vom Einfachsten bis zum Komplexesten, vom Wertlosesten bis zum Wertvollsten zu sein. Ein Argument, das die großen Philosophen wie Platon, Philon, Plotin, Boethius, Augustinus, Thomas v. Aquin und G. W. Leibniz mit Nachdruck vertraten. 399 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
Diese ganze Vielfalt trägt Gott in seiner grenzenlosen Souveränität und Großzügigkeit, keine Bosheit ist ihm zu finster, um sie nicht in seinem Licht zu erhalten und zur Metanoia anzuregen, was seine Allmacht, Allweisheit und Allgüte eher beweist als seine angebliche, etwa von J. J. Rousseau, F. M. Voltaire und H. Jonas 102 unterstellte Ohnmacht. Bedenkt man außerdem – in einem religionsphilosophischen Vorgriff –, dass zur besten aller möglichen Welten ihre erst am Ende der Zeiten – unter entscheidender göttlicher Mithilfe – sich abschließend vollziehende Selbstreinigung gehört, offenbart sich am Wesen der Zeit selbst ein Moment, das nicht nur der Autor 103 der biblischen Genesiskapitel, sondern auch der ionische Naturphilosoph Anaximander tiefsinnig erspürt, nämlich die Zeit als Motor und Medium der Reinigung und Sühnung und damit als Vehikel der Notwendigkeit, die Welt mit dem Unendlichen bzw. der Gottheit immer mehr in Übereinstimmung oder, noch besser, wieder in Übereinstimmung zu bringen. »Anfang der Dinge ist das Unendliche. Woraus aber ihnen die Entstehung ist, dahin kehren sie auch wieder zurück nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit.« 104
4.12. Existenzielle Unbehaustheit und Preisgegebenheit als anthropologische Grundentfremdung des Menschen Viele Texte, vom Altertum bis in die Moderne, vom Buch Micha und dem Buch Kohelet im Alten Testament bis zu F. Dostojewskij, 105 Vgl. H. Jonas (1994). So liest R. Guardini (1987, 103 ff.) die ersten drei Genesiskapitel der Thora. 104 Siehe Anaximander, Fragment 9, zit. nach H. Diels (1903). Alles Übel scheint hier seinen Ursprung nicht im Unendlichen bzw. in der Gottheit, sondern im Unrecht der zeitlichen Dinge, das sich diese gegenseitig antun, zu haben. Dabei ist das Übel das Unrecht selbst schon, das sich jedoch auch auf seine Folgen, nämlich auf Strafe, Buße und Sühne erstreckt, durch die hindurch alles Zeitliche als dem Weg der Entfremdung, des Leids, der Läuterung und Wiedergutmachung zu seinem Ursprung, der Heimat von allem, zurückfindet. Die Kreisfigur, die Idee des Abfalls, der rückgängig gemacht werden muss, das Weltdrama und die Gemeinschaft im Weltleid, Grundgedanken, die in vielen Religionen und Philosophien wiederkehren, tauchen hier in der Morgenröte des Denkens auf und werden nicht mehr in Vergessenheit geraten. So ist das Übel ein nicht zu beschönigendes Unheil, aber zugleich der einzige Weg zum Heil. 105 In einem eindrucksvollen, geradezu visionären Text, dem »Traum eines lächerlichen Menschen«, gibt F. Dostojewskij (1991, 217–246) seine »Theodizee« bzw. seine 102 103
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Existenzielle Unbehaustheit und Preisgegebenheit
L. Tolstoi, 106 F. Kafka und S. Beckett malen die existenzielle Ausgesetztheit und Preisgegebenheit des Menschen in der Welt mit eindringlich düsteren Farben. »Und je mehr ich betete, desto deutlicher wurde mir, dass Gott mich nicht hörte, dass es niemanden gibt, an den man sich wenden könnte. Mein Herz war voll Verzweiflung darüber, dass es keinen, keinen Gott gebe und ich sprach: »Herr, erbarme dich meiner, errette mich. Herr, belehre mich, mein Gott!« Aber niemand erbarmte sich meiner, und ich fühlte, dass mein Leben stillsteht. Aber immer wieder, immer wieder kam ich von den verschiedensten Seiten zu der Erkenntnis dessen, dass ich doch nicht ohne jeglichen Grund, ohne Ursache und Sinn auf die Welt gekommen sein könnte, dass ich nicht ein solches aus dem Nest herausgefallenes Vögelchen sein kann, als das ich mich selbst fühlte. Und wenn ich auch, ein herausgefallenes Vögelchen, auf dem Rücken liege, im hohen Gras piepse – ich piepse doch, weil ich weiß, dass mich die Mutter unter dem Herzen getragen, ausgebrütet, gewärmt, genährt, geliebt hat. Wo ist sie, diese Mutter? Und wenn ich herausgeworfen worden bin, wer hat mich herausgeworfen?« 107
Dieser »Hochgesang« der Klage, durchdrungen von Trauer, Angst und Verzweiflung, zieht sich so »schreiend« durch die Weltgeschichte, dass an seiner Realitätsverbundenheit nicht gezweifelt werden kann. Und in der Tat ist das kleine, verletzliche und in seiner Selbstheit doch wieder so große Ich des Menschen allen äußeren und inneren Unbilden dieses Kosmos so schonungslos ausgesetzt, dass man seine Lage – wenn neben dem verzweifelten Leiden und der Weltfremdheit die unerbittlichen Prozesse des Alterns und Sterbens hinzugenommen werden – nicht anders als »hoffnungslos« bezeichnen kann. 108 Diese Preisgegebenheit hat solch ein Gewicht, dass der Erklärung für das Leid in der Welt und erkennt mit psychologischer Hellsichtigkeit, wie der Mensch von Lüge, Verbrechen und Leid angezogen wird und sich darin geradezu verliebt: »Sie lernten das Leid kennen und gewannen es lieb, sie lechzten nach Qual und sagten, die Wahrheit lasse sich nur durch Martyrium erkennen« (1991, 740 f.). Der Grund für diese »Leidenssucht« scheint nach F. Dostojewskij ein tiefstes existenzielles Schuldgefühl zu sein, dessen Qual nur durch Leiden einigermaßen aufgewogen und damit ausgehalten werden kann. Manifestiert sich hier vielleicht die Urund Erstschuld der Menschen, vielleicht ihr abgrundtiefer Hang zu Rücksichtslosigkeit und grausamem Egoismus? 106 In seiner »Beichte« findet L. Tolstoi (2008) drei paradigmatische Gleichnisse für die leidgeprüfte »situation humaine«: das morgenländische Märchen mit dem »Reisenden im Brunnen« (2008, 29 ff.), das aus dem Nest herausgefallene bzw. herausgestoßene Vögelchen (2008, 94 f.) und die Fahrt in einem Kahn (2008, 98 f.). 107 Siehe L. Tolstoi (2008, 94). 108 In seinem Aufsatz »Weltfrömmigkeit« weist E. Spranger (1941) überzeugend
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Mensch seine Existenz wiederholt als unerträglich und im Letzten sinnlos oder, wie A. Camus (1913–1960) sagt, als »absurd« erlebt, und nachweisbar ist A. Camus nicht der erste, der dies behauptet. In der gesamten Evolution der Lebewesen begegnet man keinem Tier, das ähnliche Anwandlungen der Not und des »Daseinsjammers« zum Ausdruck brächte, und so scheint es, dass man hier auf ein »Anthropinon« 109 schlechthin stößt – doch was für eines? Und warum? Wieder hat man es mit einem Doppelten, Zwiefachen, mit einer eigentümlichen Polarität zu tun: Einerseits steht nicht in Frage, dass der Mensch ein Geschöpf der kosmischen und insbesondere biologischen Evolution ist, er wächst biologisch aus ihr heraus und bleibt mit seinem beseelten Leib stets ihr Kind und Diener. Andererseits besitzt er die außerordentliche Begabung und Macht, seine materielle Existenz, seinen Leib und seine Umwelt zu lenken, zu gestalten und zu nutzen, so sehr sogar, dass er eine neue Welt darauf aufbaut: seine Technik und seine Kultur, in der er sich selbst zum Herrn der Evolution aufwirft. 110 Wie sollte das möglich sein, wenn er nur ein Fremdling in der Welt wäre? Wenn seine innere Freiheit, wie I. Kant meint, einer total determinierten, damit undurchdringlichen und angeblich nach I. Kant an sich unerkennbaren Welt gegenüber stünde? Das ist selbstwidersprüchlich und kann als philosophische Antwort auf die Frage nach der Weltstellung des Menschen nicht befriedigen. Entweder ist der Mensch partiell frei und kann in der Welt wirken, und dann muss auch die Welt partiell frei bestimmbar sein, sonst könnte er darin nicht wirken, oder er ist völlig unfrei, und dann muss man die Täuschungen erklären, sich frei zu fühlen und eine Welt aufbauen zu können, die aus der Physis nicht ableitbar ist. Aufgrund seiner Fähigkeit zu einem selbstgetätigten Selbstverhältnis in Selbstempfinden, Selbstwahrnehmung, Selbsthabe, Selbstlenkung und Selbstgestaltung ist der Mensch zwar nicht total frei (und kann es nicht sein), doch verfügt er über ein gewisses, wenn auch vielfach eingeschränktes Maß an Selbstbestimmungsfähigkeit. Sie ist es, die ihn nicht nur über die organische Welt der Lebewesen hinaushebt, sondern davon auch grundhaft entfremdet. Der Mensch nach, dass jeder rein immanente Weltoptimismus an den existenziellen Urtatsachen des Todes, der Verzweiflung, also des Leidens und der Weltfremdheit zerbricht. 109 Dieser Begriff meint etwas fundamental Menschliches, was nur den Menschen auszeichnet, und wird von Thukydides in seiner Schrift »Der peloponnesische Krieg« 1,22,4, verwendet. 110 Dieses Phänomen nennt M. Foucault (2005, 230 ff.) »Biopolitik«.
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Existenzielle Unbehaustheit und Preisgegebenheit
ist in seine Freiheit eingesetzt, er weiß im Gegensatz zum instinktgeleiteten und umwelteingepassten Tier nicht auf Anhieb, wer er ist, warum er da ist, woher er kommt, wohin er soll und wie er seinen Weg finden und gehen kann. Aber er soll es! Den Anruf spürt er, und er spürt ihn unerbittlich. So ruft die eigene Freiheit zur Selbstbestimmung, obgleich sie ihm wenig andeutet, was er tun soll. Das ist außergewöhnlich und, am Tier gemessen, »unnatürlich«. Evolutionstheoretisch betrachtet, ist dies fast selbstmörderisch und zunächst kein Überlebensvorteil, im Gegenteil. Das Kleinkind wäre, allein auf sich gestellt, hoffnungslos verloren, und selbst unter dem Schutz seiner Eltern braucht es viele, viele Jahre, um lebensfähig zu werden. Ist das ein Überlebensvorteil? Man dreht das heute so hin, aber es überzeugt wenig. Die metaphysische Analyse lehrt etwas anderes: Der Mensch als Person, als geistige Individualität steht zwar im zweiten Seinsrang, doch sein Leben beginnt im dritten Seinsrang und bleibt darin bis zu seinem Ende eingebunden. Das ist ein Wunder, aber auch ein Rätsel und eine furchtbare Last und Not: Im extensiven Leibkörper erscheint selbsthaft eine rein intensive Wesenheit, das Bewusstsein, nicht nur eine oder mehrere Funktionen desselben wie beim Tier, sondern, wie H. Plessner 111 betonte, es selbst, als Ich, mit seinem Wirkzentrum, in unmittelbarer Selbsthabe. Wie das möglich ist, darüber grübelt der Mensch, seit er denken kann, und es ist kein Zufall, dass er an diesem Punkt über sich und seine Existenz hinaus denkt, da er fühlt, dass er nicht nur ein Produkt dieser Welt ist, sondern dass es ihn hierher aus dunklen Gründen verschlagen hat und dass er in eine verlorene Heimat zurück muss. Wie aber kam es dazu und warum? Metaphysisch-kausaltheoretisch wurde geklärt, dass der zweite Seinsrang nicht aus dem dritten Seinsrang abgeleitet werden, dass Personales nicht aus Unpersonalem, Bewusstsein nicht aus völlig Unbewusstem entstehen kann. Wie gezeigt, ist der zweite Seinsrang der geschöpflichen Geistkräfte insofern aktiv, selbsttätig, kreativ und schöpferisch, als er Dinge im dritten Seinsrang, z. B. Organismen, technische Gebilde und Kunstwerke bzw. noch grundlegender: Gedanken, Absichten, Wünsche, Ziele, Zwecke, Werte etc. hervorbringt, doch ist er nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft mit dem dritten Seinsrang in einer Art und Weise zu vereinigen, dass beide Ränge nicht mehr voneinander loskommen, dass also der zweite vom dritten 111
Vgl. H. Plessner (1981, letztes Kapitel).
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Natur und Leiden
Seinsrang direkt abhängt. Genau das aber ist beim Menschen der Fall. Diese Synthese zwischen einem Geistwesen im zweiten Seinsrang mit einem Ding im dritten Seinsrang kann nur die Gottheit im ersten Seinsrang bewerkstelligen, die die Wesen im zweiten Seinsrang hervorbringt und – natürlicherweise – Herr über alle Seinsränge ist. Wenn dem so ist, dann fragt sich, warum sie das tut? Ohne die Klärung dieser Frage bleiben das Problem des Leids und insbesondere die Theodizeefrage unlösbar. Denn alles Leid hängt an der Existenz von Geistwesen im zweiten Seinsrang, mehr noch, an deren Einverschmelzung in den dritten Seinsrang, in einen vergänglichen Leib. Oder anders herum: Wer den Menschen bloß naturalistisch als Produkt der physischen Evolution auffasst, der kann weder erklären, warum er sich in dieser Welt so fremd und verloren vorkommt, noch erklären, warum er sich ihr gegenüber positionieren kann, noch, warum er so an sich selbst und an dieser Welt leidet. Wer den Menschen nur als höheres Tier bestimmt, steht vor seinem Existenzgefühl der Ausgesetztheit und Preisgegebenheit wie vor einem absurden Rätsel. Letztlich kann, was im Kosmos möglich ist, nicht absurd, sondern muss aus seinen innersten Gesetzen und letzten Gründen heraus erwachsen sein. Die Preisgegebenheit, so sinnlos und zufällig sie zunächst anmuten mag und damit Entscheidendes zum Ausdruck bringt, muss möglich gewesen sein und muss, da der letzte Seinsgrund Gott ist, einen Sinn haben, auch wenn dieser Sinn tief im Dunkeln liegt. Vielleicht besteht genau darin ein Aspekt dieses Sinnes, dass er im Dunkeln liegt, also die Folge irgendeines tiefgreifenden Geschehens ist, und zudem die Aufforderung darstellt, dieses Dunkel aus eigenen Kräften, so gut es geht, zu lichten. Nichts anderes tut der Mensch seit seinem Anbeginn: gegen die permanent drohende Vernichtung durch die »Nacht« mit der Aufrichtung seiner vor allem technischen Kultur anzukämpfen und seiner Existenz mit seiner geistigen Kultur einen Sinn zu geben und so sein Dasein zu erhellen. Und dennoch: Mit all seinen großartigen technischen, wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Werken ist es dem Menschen nicht gelungen, ein durchdringendes Licht auf seine Existenz zu werfen, was heißt, dass die existenzielle Grundentfremdung bleibt und bisher nicht ausgeräumt werden konnte. 112 Da muss noch Höheres, Mächtigeres im Spiel sein – aber was? 112 Die christliche Offenbarung hat zwar der »situation humaine« den letztgültigen Sinn gezeigt, doch ausgeräumt sind Weltausgesetztheit und Gottferne damit nicht.
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Der Mensch als Bürger zweier Welten: die Weisheit des Mythos
4.13. Der Mensch als Bürger zweier Welten: die Weisheit des Mythos 113 So weit die Zeugnisse, die über die Selbstdeutung des Menschen Aufschluss geben, zurückreichen, erfährt man, dass der Mensch stets nach sich selbst fragte: Wer bin ich, sind wir? Was soll ich, sollen wir? Woher komme ich, kommen wir? Wohin soll ich, sollen wir? Warum der Tod? Warum das Leid? Warum die Schuld? Warum die Verlorenheit im Kosmos? Daraus erhellt, dass der Mensch bei aller Vorgeprägtheit seiner Existenz wesentlich unfertig und sich selbst aufgegeben ist. Er soll etwas aus sich machen. Was er aber aus sich machen soll, das sagt ihm das »Leben«, das ihm nur aufdrängt, überleben und so angenehm wie möglich leben zu sollen, nicht. Damit begnügt sich der Mensch nicht und stellt die Rückfrage: Wozu überleben? Offenbar genügt ihm das einfache Dahinleben, Sichernähren, Schlafen, Sicherholen und Sichfortpflanzen nicht. Und so fragt er nach einem übervitalen Sinn, nach einer Aufgabe, mehr noch nach einem geistigen Auftrag. Die zentralen Mythen aller Völker lehren einhellig, obschon in verschiedensten Formen, dass der Mensch nicht allein das Kind dieser Welt ist, sondern darüber hinaus aus einer anderen Welt stammt, deren Zusammenhang mit dem Hiesigen er allerdings selten klar zu bestimmen weiß. 114 Selbst so streng logische Köpfe wie Platon und I. Kant schließen sich dieser Auffassung an und bezeichnen den Menschen als Bürger zweier Welten. Während aber Platon für dieses Rätsel eine Lösung gibt, die er den Pythagoräern verdankt, weiß I. Kant nicht mehr zu sagen, wie es dazu gekommen ist oder gekommen sein kann. Dies entspricht der neuzeitlichen Wende der Philosophie vom Weltdenken weg hin zum Subjektdenken und entspricht der Spaltung des Lebens in eine Subjekt- und eine Objektsphäre, mit der Folge, dass dieses »transzendentale« Subjekt weltlos, weltfremd, manchmal sogar eine fensterlose Monade im Weltgeschehen wird.
113 Wer die in den Kapiteln 4.6. – 4.12 entwickelte Kraftspezialisierungstheorie, also die Grundidee, dass der physisch-sichtbare Kosmos das Aufbau-, Abbau- und Umbauwerk von geistigen, naturmächtigen Kräften im zweiten Seinsrang ist, nicht nachvollziehen oder akzeptieren kann, kann die folgenden Kapitel überspringen, da sie auf jenen basieren und ohne jene Basis als unzumutbar erscheinen müssen. 114 Vgl. A. Grabner-Haider und H. Marx (Hrsg., 2005: »Das Buch der Mythen aller Zeiten und Völker«).
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Dass dies möglich war, beweist wieder die Sonderstellung des Menschen und sein fundamentales Fremdsein in der Welt, aber es beweist auch, dass es an ihm liegt, wie weit er sich losreißt und von der Welt entfremdet. Obschon die Mythen und nicht wenige Philosophen wiederholt erzählen, dass es den Menschen »in die Wüste verschlagen« hat (L. Tolstoi: »dass er aus dem Nest gefallen ist«), so halten sie doch das Bewusstsein seiner »besseren« Herkunft wach und versuchen, seiner Existenz einen Sinn über den Tag hinaus zu geben. Worin kann dieser bestehen? Darauf findet man nur eine befriedigende Antwort, wenn geklärt wird, warum es überhaupt zu diesem »Fall« in eine andere, gar fremde Welt kam, und wenn sich dafür ein wenigstens plausibler Grund angeben lässt. Denn, wie schon hier klargestellt werden muss: Rein philosophisch lässt sich darauf keine Antwort mehr finden, ein Beweis ist hier unmöglich, doch schließt das nicht aus, andere Erkenntnisquellen zu befragen und wenigstens plausible und wohlbegründete Zusammenhänge aufzudecken. 115
4.14. Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn: Gott- bzw. Heimatverlust und Weltdurchgeistigung Die Tatsache ist aufschlussreich, dass Altertum und Mittelalter auf die zuletzt gestellte Frage primär eine negativ-miserabilistische, dagegen die Neuzeit eine überwiegend positiv-optimistische Antwort geben. Es wird sich zeigen, dass erst die Synthese beider Antworten eine befriedigende Lösung des Problems ermöglicht. Leichter ist die positive Antwort zu geben, was zunächst verwundern mag, aber damit zusammenhängt, dass der Sinn der Sonderstellung des Menschen in der Welt empirisch zugänglich ist, während der Grund für die »Sinnstörung« nicht auf der Hand liegt, sondern nur religiös geoffenbart, erfühlt oder metaphysisch erschlossen werden kann. Welches ist die positive Antwort? Sie wurde zwar nicht zuerst, aber am eindringlichsten vom Deutschen Idealismus gegeben: Der positive Sinn der Weltfremdheit des Menschen ist danach die Beseelung und Vergeistigung der Materie, ist die Vollendung der Natur durch die Kultur, ist im Letzten das Zusichselbstkommen des 115 »Wohlbegründet« sind in diesem Zusammenhang jene Gründe, die zu dem, was bisher erwiesen werden konnte, am besten passen.
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Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn
Seins, mehr noch – so bei G. W. F. Hegel – die Selbsthabe des göttlichen Weltgeistes im Menschen und seiner Kultur-, Staats- und Rechtsbildung. Was zunächst als Mangel und Schmerz fühlbar ist, eben einer lebensfeindlichen und sinnbaren Welt preisgegeben zu sein, ist eigentlich Aufgabe und Chance, selbst einen Sinn zu stiften und am Weltbau mitzuwirken. So sahen es J. G. Fichte, K. C. F. Krause, F. W. J. Schelling, G. W. F. Hegel und F. v. Baader, so sieht es auch K. Rahner, 116 und sie sahen teilweise richtig, obgleich sie – F. v. Baader und K. Rahner ausgenommen – einerseits mit der Vergottung des Menschen übers Ziel hinausschossen, andererseits die tiefere Ursache der Menschwerdung verkannten. 117 Der Grund für diesen Mangel bestand darin, dass sie den »negativen Sinn« nicht bzw. nicht mehr sahen, jenen Sinn, der durch die Frage eröffnet wird, wie es überhaupt möglich war, dass in der Natur der personale Geist erscheint. Im Grunde hatten diese Denker, so idealistisch sie waren, an diesem Punkt naturalistisch gedacht: Für sie ist der menschliche Geist ein Produkt des naturalen (allerdings geistpotentialen) und im Ganzen stets fortschrittlichen Weltgeschehens – darin stimmen sie mit allen naturalistischen Evolutionisten und Materialisten überein. Doch ist dies, wie gezeigt, nicht haltbar. Wenn es sich jedoch anders verhält, dann stellt sich erneut die Frage nach dem »negativen Sinn« des menschlichen In-der-Welt-Seins. Worin besteht dieser also? Nicht die streng logisch argumentierende Metaphysik, sondern der Mythos gibt auf diese Frage eine eindeutige Antwort: Der Mensch ist gefallen, und zwar aufgrund eigener Schuld, und das heißt: Er ist aus seiner ursprünglichen Heimat, die das Leben bei Gott – im Paradies, genährt vom Lebensbaum, als Quintessenz bzw. 5 – war, in eine Welt der Gottferne, der Gottlosigkeit, des deus absconditus und damit des homo absconditus gefallen: 118
116 Siehe K. Rahner in P. Overhage/K. Rahner (1965, 69): »Und so ist für ein wirklich metaphysisches Denken alle spätere Wirklichkeit, die nach dem Anfang aus ihm kommt, auch eine Enthüllung der verborgenen Fülle dieses Anfangs. Je höher die »Entwicklung« steigt, umso mehr wird deutlich, welche echten, wirklichen Möglichkeiten in diesem Anfang beschlossen waren.« 117 F. W. J. Schelling (1809) muss man, zumindest seit seiner »Freiheitsschrift«, von dieser Einseitigkeit ausnehmen, denn er thematisiert darin den Gedanken des »Abfalls« des Menschen von seinem göttlichen Ursprung durch den Missbrauch der Freiheit. 118 Eine tiefdringende allegorisch-symbolische Ausdeutung dieser Geschehnisse findet sich bei K. Hälbig (2011), insbesondere in Bezug auf die Lebensbaum-Metapher
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»Einst war der Mensch innerlichst, von Wesen und Willen her, mit seinem Seinsgrund verbunden; nun aber ist diese Verbundenheit zerrissen und kann nur noch selten, mühsam, vorläufig und bloß vorübergehend wiederhergestellt werden.« 119
Ist das bloße Phantasterei oder ist das eine tief gefühlte Wahrheit? Zweifellos wird hier die Grenze der wissenschaftlichen Metaphysik berührt, und in der Tat kann man bestenfalls noch zeigen, dass dieser Mythos philosophisch möglich ist, aber beweisen lässt er sich nicht. 120 Immerhin kann seine Plausibilität aufgezeigt werden: Der Mensch als geistig-personales Wesen, als geistiges Geschöpf des zweiten Seinsranges kommt unmittelbar aus der Hand der Gottheit, das ließ sich beweisen, und also ist sie seine eigentliche Heimat. Dies wird durch die ontologische Einsicht unterstrichen, dass der Mensch in seinem Seinskern potentialunendlich, sprich seinsmäßig zwar begonnen, aber unerschöpflich, also unvergänglich ist bzw. seine Vollendung wesenhaft nur im Aktualunendlichen Gottes finden kann. Nichts Endliches kann ihm darum genügen, und entsprechend strebt er ganz natürlich, wie gerade sein Kulturschaffen eindringlich beweist, ins Unendliche, ins Unbegrenzte, in die totale Fülle des pleromatischen nunc stans der unio mystica. Wenn dem so ist, dann drängt sich die Frage auf, wie er als pUWesen ins rein Endlich-Vergängliche der Welt hatte geraten können? Hat ihn Gott ins Endliche der Welt geschickt oder verstoßen oder den Menschen, dessen ureigenster Wunsch dies vielleicht selbst war, dahinein freigelassen? Es wird sich zeigen, dass alle drei Antworten zutreffen. Der Mensch wollte selbst ein »sinnlich-materielles Weltding« werden (1); der Mensch wurde genau deswegen in die Welt »gestoßen« bzw. entlassen (2); und der Mensch wurde, um sie geistig zu veredeln, in die Welt geschickt (3). Wie lässt sich dies verstehen? Wie könnte es dazu gekommen sein? Auch wenn der moderne Mensch hier nur mythologische Träumerei vermutet, so ereignete sich in Wahrheit an diesem Punkt die und die Zahl 5. Eine interessante Kulturgeschichte des Paradies-Sündenfallmythos bietet S. Greenblatt (2018). 119 Siehe R. Guardini (1991, 40 ff.); ähnlich R. Spaemann (1992, 19), der von einer vorlapsarischen »anfänglichen Katastrophe« spricht, die erklärt, warum sich der Mensch in der faktischen Welt fremd fühlt und in ihr nicht heil werden kann. 120 In meiner Auffassung befinde ich mich in unbeabsichtigter Übereinstimmung mit der modern und existenzphilosophisch ausgelegten Theodizee des Thomisten J. B. Lotz (1977), die sehr bemerkenswert ist.
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Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn
schwerwiegendste und folgenreichste Katastrophe der Seinsgeschichte. Bevor die mythologische Deutung ausgebreitet wird, sei jedoch zusammengefasst, was bisher – im Rahmen einer rational begründenden, also wissenschaftlichen Metaphysik – erkannt wurde und feststeht: Da der Mensch in seinem personalen Kern ein Wesen ist, das mit einem partiell freien und sich selbst bestimmenden Willen begabt ist, kann er nach dem streng gefassten Kausalprinzip nur direkt von der Urkraft Gottes und nicht von einem anderen Geschöpf, erst recht nicht von bloßen naturalen Dingen oder Prozessen erschaffen worden sein. Diese Grundtatsache impliziert folgende Bestandsstücke: 1. Als unmittelbare Wirkung Gottes gehört der personale Kern des Menschen, sein »Selbst« oder Ich, der göttlichen Seinssphäre an; 121 hier ist er, weil er von dort her »erzeugt« wurde, zuhause, hier ist er »ganz« – er ist also, insofern er sich seiner selbst bewusst sein und sich selbst bestimmen kann, insofern er Wille, Vernunft und Gefühl besitzt, ein »Ebenbild« der Gottheit, ihr »Kind«, ihr »Sohn«, wenigstens potentiell und wenn er sich nicht von ihr abwendet. 2. Als Schaffung Gottes ist der menschliche Geist nicht ewig, sondern begonnen und damit zeitverbunden. Das wiederum bedeutet, dass ihm ein Ort in der Zeit und gewiss kein beliebiger zugewiesen ist. Nach allem, was bekannt ist, tritt der Mensch sehr spät im kosmischen Geschehen auf, genauer scheint er die jüngste Ordnungsschicht des Weltbaues darzustellen. Damit ist ihm natur- und welthistorisch eine bestimmte Aufgabe zugedacht.
121 Mit dem »Ich« ist hier nicht das »Ego« gemeint. Das Ego ist das Bild, die Vorstellung, der Wunschtraum oder das Angstzerrbild, das ein Mensch von sich unbewusst und bewusst hat, das »Ich« oder »Selbst« dagegen ist jener schaffende Grund, der dieses Bild hervorbringt. Das »Ich« ist eine ontologische bzw. metaphysische Grundrealität, das »Ego« ist ein Psychologikum, in den Worten I. Kants: Jenes ist das transzendentale Subjekt, dieses seine bloße, meist durch Selbst- und Fremdtäuschung verzerrte Erscheinung. Vgl. ähnlich N. D. Walsch (2003, 88 ff.): »Dein Ego ist, wer du denkst, dass du bist. Es hat nichts mit dem zu tun, Wer Du Wirklich Bist.« Trotzdem ist das »Ego« ein unverzichtbares Durchgangsstadium bei der seelischen Entwicklung und vermittelt die notwendige Abgrenzung und Trennung von Anderen. Das »wahre Selbst« überwindet dies als Illusion und erfährt seine direkte und indirekte Verbundenheit mit Allem und wird so zum »geeinten Selbst«. Letztlich wird man wohl niemals Selbst, Ich und Ego ganz unterscheiden können.
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3. Als partiell freies Wesen steht es dem Menschen frei, sich zu Gott, zu sich selbst und zur Welt zu stellen. Grundsätzlich kann er sich allem zuwenden, sich von allem abwenden, kann also zustimmen und verwerfen oder er kann in Gleichgültigkeit verharren. 4. Als bestimmungsfähiges Wesen ist der Mensch notwendig wirkmächtig, wenigstens in der Sphäre seines Bewusstseins. Eine Freiheit, die in keiner Weise wirken könnte, wäre ohnmächtig, passiv, inaktiv und also nicht frei. Zur Freiheit gehört Macht, zumindest in begrenzter Weise. 5. Wenn man weiter annimmt, dass der Mensch auch als Geistwesen nicht einer beliebigen Schöpfungslaune entsprang, sondern eine bestimmte Aufgabe im Wirkungsgeschehen der Welt auferlegt bekam, dann ist gemäß der Kraftspezialisierungstheorie (siehe Kapitel 4.6. über den Naturaufbau) und gemäß dem späten Erscheinen des Menschen zu erwarten, dass er an der Gestaltung des bis dahin komplexesten Weltgebildes, des Primatenorganismus, beteiligt war, und zwar als bislang letzte organisierende Wirkungsmacht. Das heißt nicht notwendig, dass er schon in diesem Tierleib als Geistseele inkarniert war, sondern nur, dass er daran mitwirkte, entsprechend der Wirkungsweise der übrigen schöpferischen Kräfte, der vormenschlichen Naturgeistkräfte, die, wie bereits erkannt, ihren Wirkungen und Werken gegenüber wie Künstler transzendent sind und nicht immanent in ihnen leben. Konkret bedeutet dies, dass der »erste« Mensch bzw. das erste Menschenpaar (die keine Menschen im irdischen Sinne waren) noch in der unmittelbaren Seinssphäre der Gottheit lebte – R. Guardini sagt: »in reiner Gemeinschaft mit Gott« 122 – und von dort aus am Weltwirken, besonders am Aufbau und Abschluss des Primatenorganismus mitwirkte. In dieser Sicht, die mit der »Paradiesvertreibung« am besten zusammenpasst, wäre der Menschengeist nicht von Anfang an ein irdisch-leibliches Wesen gewesen. 123 Dies einmal angenommen, folgt, dass die Existenz des Menschen ursprünglich in der Sphäre der Gottheit zwischen zwei Pole eingeSiehe R. Guardini (1987, 48). Alternative Hypothesen werden im Folgenden behandelt, zumal die Hypothesen, der Mensch sei schon im »Paradies«, also in seiner vorirdischen Existenz verleibt oder eben nicht verleibt gewesen. 122 123
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Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn
spannt war: Auf der einen Seite lebte der Menschengeist unmittelbar aus der Urquelle des Seins (»Lebensbaum« = Gott), ja er lebte mit ihr in ihrer unmittelbaren Lebens- und Machtsphäre; auf der anderen Seite entfaltete er als transzendente Wirkursache sein spezifisches Wirken in der physischen Welt, ohne selbst direkt in sie verfangen zu sein. Genau so zeichnen viele Mythen, vor allem der jüdische Paradiesmythos den ursprünglichen Ort des Menschen im Sein. Denn da im Paradies noch kein Zeugen und Fortpflanzen, noch kein Altern und Sterben, noch kein Übel und Leid, noch keine Mühen und kein Kampf waren, kann es sich schwerlich um einen irdischen Zustand gehandelt haben. 124 Nie – auch nicht am biologischen Ursprung des Menschen vor zwei oder mehr Millionen Jahren – waren die Lebensverhältnisse, wie in romantisierender Weise anscheinend E. Drewermann, 125 vielleicht sogar R. Guardini 126 meinen, frei von Kampf und Not, Gefahr und Leid, Neid und Hass, Gier und Rücksichtslosigkeit, Hunger und Kälte, Geburt, Altern und Tod. Und deshalb deute ich den Paradieseszustand der Ureltern vor dem Fall als vorirdische Existenz im Vorhof der göttlichen Vollkommenheit, frei von aller irdischleiblichen Gebundenheit und Vergänglichkeit, aber mitwirkend wie alle Naturgeistkräfte am Aufbau der physischen Welt. Das entspricht in etwa der christlichen, vor allem katholischen Auffassung, wie sie in Teilen R. Guardini 127 vertritt und am Anfang des Christentums wohl auch Origenes (185–253 n. Chr.) verteten hat. Das bedeutet allerdings nicht, dass damit dessen Lehre von der Präexistenz aller Menschenseelen, ihrer präexistenten rein geistlichen Leiblichkeit und dem vorirdischen Sündenfall aller Menschenseelen gefolgert werden müsste. 128 Was aber geschah in diesem mythischen Drama? Wie bewältigte das Menschenpaar diese Spannung zwischen gottverbundener Gottgeborgenheit und hoher, souveräner, für den irdischen Menschen un124 Auch Jesus vertritt die Ansicht, dass das Paradies kein irdischer Ort und Zustand, sondern das Leben bei Gott ist, was berechtigt, ihn zum Gewährsmann dieser Interpretation zu nehmen. Als beim Kreuzigungsgeschehen der eine der beiden Schächer Jesus darum bittet, dass er an ihn denken solle, wenn er in sein Reich eingeht, antwortet Jesus (Lukas 23, 43): »Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.« Vgl. ähnlich Neues Testament, Offenbarung 2,7. Das ist schwerlich ein Ort auf dieser Erde! 125 Vgl. J. Drevermann (1984). 126 Vgl. R. Guardini (1987, 79 ff.). 127 Vgl. R. Guardini (1987, 9–116). 128 Vgl. zu Origenes H. U. v. Balthasar (1991, 76–91).
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vorstellbar gewaltiger Weltmacht? 129 Da der Mensch am bislang vollkommensten Weltgebilde, dem Primatenleib, mitwirkte und diesem schon vormenschlich hochorganisierten und seelisch ungemein ausdrucksvollen Lebewesen eine neue und höchste Lebendigkeit verlieh, steht zu vermuten, dass er von diesem seinem (!) Wirken und Werk so fasziniert war – Plotin (Enneade V, 1, 1) spricht treffend vom tollkühnen Schaffensdrang des Menschengeistes, seiner Werdelust und seiner Begierde nach der Körperlichkeit –, dass er ihm verfiel und den Gottesbezug vernachlässigte bzw. in einer Art selbstverliebtem Narzissmus zu verlassen strebte. Der Gedanke ist keineswegs abwegig, dass das reine Geistwesen »Mensch« mit seinem Werk, dem Primatenleib, wie Narziss mit seinem materiellen Spiegelbild zu verschmelzen begehrte, vielleicht noch getrieben von dem Wunsch, sich mit seiner geistigen Gefährtin (und vice versa) nicht nur geistig, sondern auch leiblich, vor allem sexuell zu vereinigen. Was hier antrieb, war die mächtige, von Platon im »Gastmahl« so einzigartig geschilderte Kraft des Eros, diese Sehnsucht der Geschöpfe nach direkter, ganzheitlicher, also auch »fleischlicher« Vereinigung mit einer nichtgöttlichen Realität (Eros contra Agape?), durch deren Verlangen (»Begierde«) der Mensch bis heute genötigt wird, von seinen höchsten Werthaltungen – von Lauterkeit, Wahrhaftigkeit, Fairness und Rücksichtnahme – abzufallen. 130 Diese Hinwendung der reinen Geistkräfte zur materiell-sinnlichen Leibsphäre bedeutet nicht, dass Leiblichkeit und Sexualität an sich widergöttlich und sündig seien, sondern nur, dass der Mensch seiner Leiblichkeit und Sexualität, ihnen nicht gewachsen, oft so verfällt, dass er Gott und die höchsten Seinsgüter vergisst. 131 Von dieser 129 Adam und Eva in ihrer paradiesischen, vor-irdischen Existenz waren, wenn sie als transzendente, nicht inkarnierte Geistwesen gefasst werden, keine halbbewussten, unwissenden Kinder, sondern – weil nicht vom Leib eingeschränkt – vollbewusste geistige Wesen, deren geistige Weite und Macht weit über den irdisch-verleiblichten Menschen hinausgehen. Und so konnte sich der Missbrauch ihrer Freiheit nur vollbewusst ereignen. 130 Dass es den Urmensch »ins irdisch (zeitlich-tierische) Leben gelüstete, vergessend seiner selbst« (1991, 115), sieht auch F. von Baader (1991, 98): »Aber Adam selbst, sich aus dem Ewigen wendend in diese Zeit, wollte nicht mehr in Gott offenbar sein, sondern nur in dieser Creatur, anstatt sie durch sich in Gott wieder zu offenbaren. Und so ging er denn in diesen Creaturen unter.« Diesen neuen Seinszustand der »Wildheit« des Menschen (1991, 115) als »Entfremdung vom göttlichen Leben« nennt F. von Baader treffend den »Winter der Ewigkeit« (1991, 99). 131 Nur im Sinne dieser Wiederholung der Erstsünde kann die »Erbsünde« verstan-
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Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn
Seite aus betrachtet, ist die Verleiblichung des Menschengeistes und die damit eröffnete Möglichkeit der unmittelbar leiblichen Vereinigung zweier Seelen ein Gottesgeschenk. Wenn der alttestamentarische Mythos daher erzählt, dass Gott die Menschen wegen der »Lust auf eine verbotene Frucht« bzw. wegen ihres Ungehorsams gegenüber ihrem Schöpfer verstieß, dann sehe ich darin nicht, was der Text vielleicht nahelegt, eine grausame Bestrafung, sondern die Gewährung dessen, was der Mensch selbst begehrte: einerseits die »Lebenslust« um den Preis der Loslösung von Gott und andererseits, wie auch Plotin (Enneade V, 1, 1) hellsichtig hervorhebt, die unbeschränkte Autonomie, das reine Stehen auf sich selbst und auf der eigenen, gottgelösten Freiheit. 132 Und in der Tat ist der Mensch seither von Gott getrennt, muss die Verbundenheit mühsam suchen und hat seine Existenz, weitgehend auf sich allein gestellt, zu bewältigen. »Was bedeutet also der Baum (im Paradies, B. W.)? Weder die Erkenntnis, noch das Geschlecht, noch das Verlangen nach personaler Mündigkeit. Er ist überhaupt kein Symbol eines Lebenswertes und Wertverlangens bzw. der Versagung eines solchen, sondern Malzeichen von Gottes Hoheit, sonst nichts. Er sagt dem Menschen: In deinem Bewusstsein, in deiner Gesinnung, in deinem ganzen Dasein soll allbestimmend die Tatsache stehen, dass du wohl Sein Ebenbild bist, aber nur Ebenbild; Urbild Er allein. Du darfst und sollst Herr über die Welt sein; aber von Seinen Gnaden, denn Herr von Wesen ist nur Er. Das ist die Ordnung. Aus ihr heraus sollst du dich verstehen und in ihr leben. In ihr zur freien Persönlichkeit wachsen, Wahrheit erkennen, dich in Fruchtbarkeit erfüllen und die Welt in Besitz nehmen. Von der Frucht des Baumes nicht zu essen, bedeutet keinen Verzicht auf Wesentlichkeiten deines menschlichen Seins, sondern den Gehorsam, in welchem du deine Endlichkeit anerkennst; und damit die Entscheidung für die Wahrheit.« 133
den werden, nicht als reale Vererbung einer freien Willenstat, sondern als ständige Nachahmung und Wiederholung, die jedes neue Geschöpf neu und selbst zu verantworten hat. Was dagegen ererbt werden kann, sind die Folgen der Erstsünde, etwa die Gebrechen der irdischen Existenz und die historisch auferlegte Verstrickung Neugeborener mit den unaufgelösten Schuldlasten ihrer Vorfahren im Sinne eines allgemeinen, eher tragisch als moralisch zu verstehenden Verstrickungs- und Verblendungszusammenhangs. 132 Siehe Altes Testament, Das Buch Jesus Sirach 15, 17: »Vor dem Menschen liegen Leben und Tod; was er will, wird ihm gegeben.« 133 Siehe R. Guardini (1987, 60); ähnlich D. Bonhoeffer (1989, 75 ff.); ähnlich R. Spaemann (1992, 20 ff.): »Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass der biblische Text hier (d. h. durch J.-J. Rousseau, die deutschen Idealisten, S. Kierkegaard, C. G. Jung etc., Einschub von B. W.) vergewaltigt wird.« Vgl. ähnlich K. Hälbig (2011).
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Natur und Leiden
Die »Erkenntnis« von Gut und Böse, die die Ureltern durch ihre Verfehlung erlangten, ist – wie auch sonst im jüdischen Denken – keine bloß intellektuelle, sondern eine existenzielle Erkenntnis: Sie erkannten Gut und Böse, indem sie gut und böse handelten und somit gut und böse wurden. Schon vorher wussten sie, was sie nicht sollten, wussten also, was Böse wäre (nicht ist), aber jetzt haben sie das Böse wahrhaft »geschmeckt« und verletzten damit fundamental die Positivität der Schöpfung. Dies ist vor allem Einschreiten Gottes schon die »Vertreibung aus dem Paradies«, ihr erster, grundlegender Akt, nämlich in Form einer Selbstvertreibung. Dass Gott keine unmittelbare Gemeinschaft mit dem – ungesühnten, ungereinigten – Bösen haben will und haben kann und sich deshalb aus der unmittelbaren Lebensgemeinschaft mit den Menschen zurückzieht, darf nicht verwundern; das ist gottgemäß. Gott vollzog nach dieser, im Kontext des Ganzen wahrscheinlicheren Hypothese, was die beiden Ureltern der Menschen selbst wollten: die irdische Verleiblichung und damit die prominentere Individualisierung ihrer Seelen, die Verschmelzung eines pU-Geistwesens mit einem E-materiellen Ding und dadurch die Möglichkeit der leiblichen Vereinigung zweier Personen, und dies mit allen Folgen, die untrennbar und tragischerweise daran geknüpft waren, vor allem – – –
mit der Folge der Gottferne, mehr noch des Gottverlustes bzw. des Verlustes der unmittelbaren Gottverbundenheit, der Folge der eigenen Geistverhüllung (der Trennung vom Vollbewusstsein, das zum Unbewussten wird), 134 der Eintauchung ins geschlechtliche Gattungsleben, was mit den Folgen der Auslieferung an die materielle und triebhaft-biologische Welt, an ihre Vergänglichkeit und Sterblichkeit, ihre Bedürfnisnot und Getriebenheit, aber auch mit der Gewinnung des unmittelbaren leiblichen Lusterlebens, der direkt-leiblichen Verwandtschaft aller Menschenseelen, der Fortpflanzungsmöglichkeit und mit einer neuen, scheinbar schier grenzenlosen physischen Freiheit verbunden ist,
134 Vgl. den Schleier der Maya, die platonische Geistseele, die durch die Durststillung am Fluss Lethe in Vergessenheit geriet, die übersinnliche Seele Plotins, das transzendentale Ich I. Kants und A. Schopenhauers und das Unbewusste bei S. Freud – alles Äquivalente der Geistverhüllung.
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und schlussendlich mit der Folge des Eintritts in einen tragischhistorischen Verstrickungs- und Verblendungszusammenhang, derart, dass zunächst unschuldig geborene Nachkommen in einen nicht überwundenen Schuld- und Leidzusammenhang ihrer Vorfahren geraten, der sie überfordert und – aufgrund ihres Hanges zur Eigensucht – zu neuer Schuld veranlasst (erst Opfer, dann selbst Täter usw.).
Während der »Mensch« im »Paradies« nicht sinnlich begehrte und entbehrte, nicht alterte, nicht starb, nicht arbeiten und sich mühen, nicht kämpfen und leiden musste, erlegte er sich im Grunde selbst, von Gott dazu freigelassen, dieses Schicksal auf. Die Vertreibung war daher im Kern eine Selbstvertreibung, man kann auch sagen: Der Mensch zog seiner bisher dominierenden vita contemplativa die vita activa vor und wurde zum »animal laborans et patiens«. Der Mensch fiel, weil er fallen wollte, und Gott verwehrte ihm diesen furchtbaren Entschluss nicht. 135 Die Lehre, die daraus zu ziehen ist, hat mehrere Aspekte: –
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Wer sich von Gott bzw. dem Leben schlechthin lossagt, überantwortet sich letztlich dem Chaos, der Verwirrung, dem Nichts und dem Tod. Ohne Gott kein Leben. Wer sich von Gott lossagt, erwirbt zwar eine in gewissem Sinne größere Freiheit, gar eine scheinbar unbegrenzte Autonomie, aber er muss gewahren, dass ihn diese Freiheit überfordert und dass er ihr nicht gewachsen ist, da sie – fern von den höchsten Lebensquellen – in Gefahr steht, in Angst, Rücksichtslosigkeit, Gier, Torheit und Grausamkeit, Müdigkeit und Erschöpfung auszuarten. 136 Diese negative Bilanz, die gewaltig ist und mit den Schrecken der Weltgeschichte zur Genüge belegt, dass außerhalb Gottes kein
135 Scotus Eriugena (De Divisone Naturae, 1865, Buch 4, 5 p. 760 C; Buch 5, 2 p. 864 C) geht noch weiter und sagt tiefblickend, dass Gott nicht aus Zorn oder Rache die Menschen in die Welt verstoßen, sondern sie aus Barmherzigkeit dorthin entlassen habe, um sie von der Sünde zu reinigen. Die ganze sichtbare Welt sei der Erlösung des gefallenen Menschen wegen in ihrer gegenwärtigen Form geschaffen (Buch 2, 12 p. 540 A)! 136 Vgl. »Der überforderte Mensch« (2018, Hrsg. T. Fuchs, S. Micali, L. Iwer); zur Müdigkeit durch Verabsolutierung des Leistungsprinzips und zur dadurch verbannten Muße, Sammlung und »guten Langeweile« vgl. »Die Müdigkeitsgesellschaft« von Byung-Chul Han (2010) und »Das erschöpfte Selbst« von A. Ehrenberg (2008), der auf die (Selbst-)Überforderung durch Hyperautonomie des Individuums abhebt.
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Frieden und kein bleibendes Glück möglich sind, erhält durch Gottes Vorsehung ein positives Gegengewicht. Gemäß Genesis 2 beauftragt er nämlich diese gefallenen Menschen, zum einen »sich die Welt untertan zu machen«, also die Weltmaterie (zuallererst den Leib) zu bewohnen und zu kultivieren, zu durchgeistigen und zu beseelen, und zum anderen »sich zu vermehren«, also den Eintritt zahllos neuer Menschenseelen in die Welt zu ermöglichen. 137 Im »Paradies« (gemeint als Bei-Gott-Sein) war eine Vermehrung weder möglich noch nötig, auch konnte es, solange die Geistseele des Menschen im Primatenleib nicht inkarniert war, nicht zur vollständigen, sprich auch leiblichen Individualisierung und Personalisierung, nicht zur leiblichen Kollektivierung und mit ihr zur vollen Kulturbildung der materiellen Welt kommen. Und so trägt die Weltgeschichte ein doppeltes, mehr noch ein dreifaches Gesicht: Sie ist zum Ersten der entsetzliche Ausdruck eines schuldhafttragischen Seins-, Gottes- und menschlichen Selbstverlustes mit allen Übelfolgen der Geistverhüllung, metaphysischen »Ichspaltung«, der Leibabhängigkeit, des Weltleidens, der Kollektivierung und Abhängigkeit von Anderen usw. 138 Das »Gute« an diesem Ereignis ist die Offenbarung der von Gott vollständig freigelassenen Freiheit, deren »Befreitheit« so weit reicht, dass sie sich sogar von ihrem Seinsgrund abzuwenden vermag. Sie ist zweitens der bittere Weg der Sühnung, Reinigung und Wiedergutmachung jener Erstschuld der Ureltern, die sich in
137 Dies impliziert, dass die Menschen nach dem Urelternpaar nicht mehr wie diese präexistent bei Gott bzw. in seinem direkten Einflussbereich leben, sondern direkt im Leib erschaffen werden und darin allmählich erwachen. Damit ist sowohl die allgemeine Präexistenzlehre als auch die spezifische Auffassung des Origenes abzuweisen, die lehrt, dass alle Menschen präexistent den Sündenfall vollzogen haben. Nach der hier vertretenen Überzeugung erwacht der Mensch sündenlos in seinem sterblichen Leib und in dieser kontingenten Welt, verfällt, da er sich außerhalb des Schutzes Gottes befindet, bald der Verwirrung und Sünde und wird dann, aber auch erst dann in Hinsicht seines Sündenstatus seinen Ureltern gleich. 138 Ähnlich deutet R. Spaemann (1992, 18) die Erbsündenlehre nicht als Weitergabe einer bestimmten Qualität, eben des »radikal Bösen«, sondern als Mangel einer Qualität, nämlich der Gottesnähe, Gottesgeborgenheit und ursprünglich menschgemäßen Seinsordnung, die durch eine »anfängliche Katastrophe« (1992, 19) verlorenging: »Die Erbsündenlehre impliziert also auf irgendeine Weise die Behauptung, dass die Gesamtverfassung der Welt, so wie wir sie als normale finden, nicht die ursprüngliche Verfassung ist« (1992, 17).
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fast jedem Menschen (vor allem aufgrund des »Erbhanges« zu Eigensucht und Sünde) wiederholt. 139 Sie ist drittens der Rahmen für die vertiefte Selbstfindung und Individualisierung eines Geistwesens durch die schöpferische Mitarbeit am »Weinberg« der Welt, also am Überstieg der bloßen Natur in die unbegrenzte Welt der menschlichen Kultur, in der sich die scheinbar getrennten Subjekte wieder verbinden und dadurch die vollkommene Einung der Selbste im geeinten Selbst des Gottmenschen präludieren. 140 Durch die Selbstkonstitution des Menschen als mitschöpferischen Geschöpfes »macht« er viertens Gott zum Schöpfer bzw. offenbart ihn als solchen. Dieser Prozess impliziert eine selbsttätige »Wiedererschaffung« des Menschen, und zwar dadurch, dass er sich »er-innert« und die »Perle« seines besten Selbst eigentätig »wiedererschafft« und darin der Gottheit begegnet. J. Böhme deutet die Inkarnation der Menschenseele nach dem Sündenfall ebenfalls negativ und positiv zugleich: Im Gegensatz zu Luzifer wurde der Mensch in einen tierischen, Böhme sagt, »monstrosischen« Körper verbannt, um durch diese Verohnmächtigung und Demütigung vor dem Absturz in den totalen und endgültigen Ab- und Ungrund der »Grimmigkeit«, wo er völlig zum Teufel würde, bewahrt zu werden. 141
139 Nach christlicher Lehre verfallen Jesus und Maria nicht der Neigung zur Sünde bzw. werden durch Gott und ihre Gottverbundenheit davor geschützt. Vom Punkt der »Wiedergutmachung« aus gesehen, lässt sich verstehen, warum in vielen Religionen, besonders den Hochreligionen, die Metapher in Gebrauch kommt, den gesamten kosmischen Seinsprozess, eben wegen des Abfalls nicht nur des Menschen, als eine Art kosmische Krankheit zu interpretieren, die sich durch die Zeit frisst, die Schöpfung immer näher an den Abgrund drängt, und die nur von jenem Arzt geheilt werden kann, der selbst völlig frei von Schuld ist und von Gott ermächtigt wurde, die gesamte Schöpfung zu Gott zurückzuholen. Im Christentum ist das Jesus als Gottmensch, der durch seinen Tod am Kreuz den starren Leidens- und Todesbaum zum lebendigen Lebensbaum zurückverwandelt, was ein Bild dafür ist, dass sich der Mensch – über das Kreuz als Leidens- und Todesbaum = Welt = Quadrat – wieder mit Gott = Lebensquelle = Lebensbaum vereinigt. Vgl. dazu F. Weinreb (2002); K. Hälbig (2011). 140 K. Hälbig (2007, 196 f.) spricht von »Bauauftrag« und »Bauherrschaft«, die dem Menschen von Gott aufgetragen sind, verbunden mit den Zielen, die Welt zu einem »bewohnbaren Haus« zu machen und zur wechselseitigen »Ein-wohnung, Bei-wohnung oder Durchdringung (Perichorese) von Gott und Welt« (196) als dem Endziel und Letztsinn des Kosmos beizutragen. 141 Vgl. F. Billicsich (1952, 64 f.).
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Der tiefste Seinssinn der Inkarnation der Menschenseele kann jedoch nur von Gott her einsichtig werden, der einem geistigen Wesen das Lebensopfer zumutet, seinen gottnahen Wesensraum mit einem Daseinsraum einzutauschen, der seinem innersten Wesen letztlich fremd ist. Das aber bedeutet, der Mensch solle gern und froh im Irdischen wohnen, nicht bloß um sich zu zerstreuen und zu vergnügen, sondern um eine untergeistig-unterseelische Welt um ein Unendliches zu erhöhen und so mit und durch sein Wesen um ein Unendliches zu Gott hin zu erheben, der dann sogar selbst noch in diese psychophysische Existenz eintritt, um dort zu wohnen. So wird aus dem E ein pU, und aus dem EpU ein atU.
Damit ist die Aufgabe gestellt: Der Mensch soll wieder zu Gott zurückfinden, doch soll er nicht mit leeren Händen zurückkommen, sondern mit sich selbst als einem durch das physische Dasein individualisierterem Subjekt 142 und mit der ganzen geistig angeeigneten Welt, bereichert, veredelt und vertieft durch seine technischen, medizinischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, sozialen, rechtlich-sittlichen und religiösen Werke, vor allem aber bereichert um seine Selbsterneuerung, so weit sie in seiner Kraft liegt. 143 Wie man sieht, erweist sich hier das Leid nicht nur als Preis für ein Versagen, sondern eröffnet eine große Chance und Aufgabe. Erst 142 Es liegt auf der Hand, dass ein personales Geistwesen, das leiblich, sprich in Raum, Zeit und Materie inkarniert ist, stärker vereinzelt ist, als ein nicht verleiblichtes. Der Sinn dieser vorübergehenden Vereinzelung ist, dass das Subjekt sich selbst intensiver erfährt und findet, lernt, wer es ist, wer es nicht ist, um sich dann aus dieser Illusion des völlig getrennten Ego und der autarken Welt zu verabschieden und zu erkennen, dass es in Wahrheit mit Allem verbunden ist. 143 Nach Meister Eckhart (1979, 271–273, Predigt 26) wird der Mensch so zum auserwählten Ort einer »Wiederbringung« aller Kreaturen zurück in Gott (restitutio universalis): Indem der Mensch alle Kreaturen zu verstehen sucht und ihren intelligibelgöttlichen Seinsgrund und ihre »Wesensideen« in sich aufnimmt, vereinigt er sich mit der geistigen Schöpfung und bringt sie in seinem »Weltinnenraum« (Rilke) zu Gott zurück. Daher kann Meister Eckhart in derselben Predigt sagen, dass der »Ausfluss«, d. h. das Ausgehen aus Gott, weniger edel als das Zurückkehren, das »Durchbrechen« zu Gott ist, weil dieses unendlich reicher und bedeutender, aber auch viel schwerer ist als jenes. Dieses Durchbrechen, das auch ein Zerbrechen der irdischen Geschlossenheit ist (= Jesus am Kreuz), stellt daher nicht nur die ursprüngliche, »ungefallene« Schöpfung wieder her, was vielleicht die Apokatastasislehre des Origenes meint, sondern steht auf einem neuen, einzigartig höheren Niveau, das die Entwicklungsphasen der Schöpfung nicht nihiliert, sondern integriert – so wie Jesus die Menschheit und die Schöpfung zum Vater zurückbringt.
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Der Mensch in der Verbannung, ihr negativer und positiver Sinn
Schuld und Fall des geistigen Menschen haben – felix culpa – die Selbstfindung des Menschen und die Vergeistigung des Kosmos möglich gemacht. Doch ist dieser Preis nicht, wie viele, z. B. manche Autoren in dem Buch »Das Heilige Nichts« 144 sagen, zu hoch? Es gibt Aussagen, nicht nur von skeptischen Autoren wie D. Hume, G. Streminger und B. Russell, sondern auch aus dem jüdisch-christlichen Horizont, die darauf insistieren, dass die Folgen des Sündenfalls, wenn man ihn als real voraussetzt, unverhältnismäßig und eines gütigen Gottes nicht würdig seien. Das Vergehen von Adam und Eva, das nicht einmal ein bewusstes Aufbegehren wider Gott gewesen sei, sondern ihrer Naivität und Verführbarkeit geschuldet war, sei viel zu harmlos gewesen, um eine solche Jahrmillionen lange Lawine von Katastrophen loszutreten. Darauf ist Zweierlei zu sagen: Zum Ersten ist mit Nachdruck festzuhalten, dass es nichts Verheerenderes geben kann als die Abwendung bzw. Lossagung von Gott. Da er der Urquell des Lebens schlechthin ist (Quintessenz, die 5 in der 4 der Geschöpflichkeit), bedeutet jeder Versuch der Trennung den Beginn der völligen Unverbundenheit und damit der Selbstvernichtung. Sollte geschehen sein, was der Sündenfall erzählt, würde es sich hier – auch nach der Deutung R. Spaemanns (1992, 19) – um die größte Seinskatastrophe aller Zeiten handeln, die gar nicht überschätzt werden kann. 145 Um die Ungeheuerlichkeit, Tiefe und Folgenschwere dieser aus endlicher Freiheit erfolgten Entscheidung gegen Gott und seine reine Seinsfülle offenbar zu machen, gewährt Gott, was die Menschen vorirdisch begehrten: das scheinbare Stehen nur auf sich und ein Leben außerhalb der unmittelbaren Gottgeborgenheit. Damit offenbart Gott den Menschen erstens die Größe und Gefahr der Freiheit schlechthin und zweitens durch das Leid der auf diesem Wege eingetretenen Unordnung die Bedeutung und Erlösungskraft der Ordnung. Für die nach Adam und Eva geborenen Menschen bedeutet dies, dass sie die Folgen der Erstsünde, sprich die irdische Verleiblichung Vgl. D. Wabbel (2007). Diese voll bewusst durchgesetzte Abwendung vom Urquell des Seins darf nicht mit der psychologischen Loslösung, dem Neinsagen und dem Trotz des Kindes parallelisiert werden, die weder eine Revolte gegen die Eltern noch gegen die letzten Lebenswerte, sondern eine Hinwendung zur eigenen Freiheit darstellt. Im Gegensatz zur Tat der Ureltern ist dies kein Missbrauch der Freiheit, sondern ihre erste und notwendige Aktualisierung. A. Gide und R.-M. Rilke deuten die »Geschichte vom verlorenen Sohn« in diesem Sinne. 144 145
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ihres Geistes, den »Fall in die Materie«, die Verhüllung des eigenen Geistursprunges, die Fesselung an die Materie und die Weltausgesetztheit miterleiden und mittragen müssen, also nicht mehr ins Paradies eintreten, sondern von Anbeginn »in der Welt« sind, was keineswegs bedeutet, dass die Erstsünde als Erbsünde vererbt würde. Das ist der Sache nach unmöglich, wogegen die Vererbung der Folgen im Sinne einer Erblast – Verlust der Gottverbundenheit, Auslieferung an die Naturmächte, Gebären unter Schmerzen, Arbeit unter Mühen, Herrschaft des Menschen über den Menschen, Anfeindung der Natur, Krankheit, Altern, Tod, Verstrickung in andere, undurchschaute Schuld, damit insgesamt Belastung und Schwächung von Geist und Willen – durchaus möglich ist. Das ist die eine, die negative Erklärung. Hätte man nur sie zur Hand, wäre die Verstoßung aus dem Paradies und damit aus der Nähe Gottes unverhältnismäßig und Gottes Heilkraft nicht würdig. Denn er hätte dem reuigen Urelternpaar, wenn sie wirklich bereut hätten, was R. Guardini in seiner feinen Analyse verneint, die Rückkehr in seine Nähe wieder bahnen können. Doch weil Gott mit der Katastrophe sofort einen Übergangssinn – die Sühnung – und einen echt positiven Letztsinn – die Personalisierung des Leibes bzw. der Natur, die prägnantere Individualisierung bzw. Selbstfindung der »Seelen« und die darauf aufbauende Kulturbildung – verband, mutete er den Menschen ihr irdisches Schicksal zu, das nicht nur darin besteht, die Vergänglichkeit und die tödliche Gottferne zu erleiden – man denke an die tagtäglichen Unfälle und Katastrophen, an Flugzeugabstürze, Schiffsuntergänge, Überschwemmungen, Brände usw. –, sondern darin, die Schöpfung mit der physischen Verleiblichung der menschlichen Geistseele und dem Aufbau der Kultur zu vollenden: der Mensch als projektiertes Schlussgeschöpf. Erst hier und erst so wird Kultur zur Wiedergutmachung des Abfalls von Gott und, wo das heilige Band zu Gott und Natur nicht zerreißt oder restauriert ist, zur Transformation, Überhöhung und Verklärung der Natur. 146 Diese Es ist interessant, dass die abgründig tiefe Bedeutung des Gottabfalls nur von solchen Philosophen und Theologen gesehen wird, die ein unbedingtes Empfinden für den absoluten »Sinn des Wertes« und seine Bedeutung für das Leben haben, so z. B. J. Hessen (1954, 129–136) und A. Wenzl. Da Gott ens realissimum und summum bonum in einem ist, und da der Mensch seine Vervollkommnung nur durch Wertverwirklichung erreicht, bedeutet der Abfall von Gott den Abfall vom Urwert und damit den Verlust der letzten Seinswürde des Menschen, was nichts weniger heißt, als dass er des Seins nicht mehr würdig bzw. »nichtswürdig« ist und des (Voll-)Seins 146
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Exkurs zur Ursprungsfrage von Leiblichkeit und Schuld
»Taufe der Erde« geschieht durch die »Ausgießung« des Menschengeistes über die Natur, wie F. v. Baader (1991, 27) sagt, und ist nicht nur eine Gegebenheit, sondern eine unabschließbare Aufgegebenheit. In der Inkarnation, die so nicht nur Faktum, sondern bleibende Utopie ist, wird der Mensch zur aufgehenden Sonne in der Nacht der Erde.
4.15. Religionsphilosophisch-mythologischer Exkurs zur Ursprungsfrage von Leiblichkeit und Schuld (mit eigenem Lösungsvorschlag) Während die Philosophie als Wissenschaft von unbezweifelbaren, ohne Selbstwiderspruch nicht leugbaren Erfahrungstatsachen ausgeht und von ihnen aus mittels notwendiger logischer Rückschlüsse (und nicht mittels mathematischer Deduktionen) die unabdingbaren Seinsund Denkvoraussetzungen jener Erfahrungstatsachen ermittelt, kann sich die Religionsphilosophie vom Numinos-Geheimnisvollen direkt anmuten lassen und, meist gestützt auf Dokumente mit divinem Offenbarungscharakter, intuitive Hypothesen und diskursive Rückschlüsse aufstellen. 147 So gehen E. Drewermann, D. Bonhoeffer, K. Rahner 148, R. Spaemann 149, B. v. Brandenstein 150 und R. Guardini 151 erst wieder würdig werden muss. Diese Nichtswürdigkeit sieht und betont sogar A. Schopenhauer (zit. bei F. Billicsich 1959, 23). 147 Was die »unleugbaren Tatsachen« betrifft, spreche ich im abhebenden Bezug auf den »Wiener Kreis« von den »neuen Protokollsätzen«. 148 Vgl. P. Overhage/K. Rahner (1965, 13–90). Wie verwickelt und problembeladen das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlicher und theologischer Herkunftsfrage des Menschen betreffend »die Anfangsfrage« ist, zeigt die Stellungnahme K. Rahners, die kaum zu bestimmen ist und am ehesten als agnostisch eingeordnet werden muss. Die Genesiserzählung deutet er dabei am ehesten im Rahmen einer philosophischfundamentalen Existenzialanalytik, die weniger als echte, sei es naturgeschichtliche, sei es metaphysische Geschichte denn als Bild für die grundsätzlich-überzeitliche condition humaine des in die Ausgesetztheit der todesgezeichneten Welt gefallenen Menschen erscheint. Seltsam unbestimmt lässt er dabei die Paradiesgeschichte, also die damit verbundene Frage, wie der Mensch vor seinem Abfall von Gott beschaffen war bzw. »was an der Schilderung der traditionellen Theologie vom glückseligen und übernatürlichen Urstand des Menschen richtig und was vereinfachende Zurückprojektion des seinsollenden und zukünftigen Zustandes des Menschen in seinen Anfang ist« (41). Nicht nachvollziehbar ist z. B. der Satz: »Kurz: Von den Daten her, die die kirchliche Lehre von Adam in seiner Geschichte bis zur Sünde festzuhalten gebietet, ist nicht nachweisbar, dass seine empirisch greifbare Situation sich wesentlich von der
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Natur und Leiden
in ihren Interpretationen des alttestamentarischen Genesistextes und seiner Schilderung des Abfalls des Menschen von Gott vor. 152 Dabei erweisen sich die Deutungen R. Guardinis, R. Spaemanns und B. v. unsrigen habe unterscheiden müssen« (87), wo doch unzweideutig gesagt ist, dass der Mensch vor dem Sündenfall nicht Altern, Krankheit, Tod, nicht dem Fortpflanzungsdrang, nicht Kampf und Krieg in der Welt ausgesetzt war. 149 R. Spaemann (1992, 15–24) spricht in »Transformation des Sündenfallmythos« ebenfalls von einem »protologischen Mythos«, der eine Geschichte erzählt, »die nicht eingebettet ist in den Kosmos, so wie wir ihn kennen, sondern umgekehrt eine Geschichte, die die Verfassung dieses Kosmos (die dem Menschenwesen nicht gemäß ist und seinen Widerspruch provoziert, B. W.) selbst erst erklärt« (1992, 17). 150 Die m. E. tiefgründigste und metaphysisch bzw. religionsphilosophisch am besten begründete Deutung gibt B. v. Brandenstein (1968, 318–329, besonders 322–324 und 356–362). 151 Auch die Konzeption von C. S. Lewis (1991, 75 ff.) ist höchst originell und steht derjenigen von R. Guardini sehr nahe, da C. S. Lewis ebenfalls davon ausgeht, dass der paradiesische Mensch mit einem Leib »angezogen« war, aber einem »reinen« Leib, der allein unter der Herrschaft seiner Geistseele, nicht unter der Herrschaft der Naturgesetze stand, daher nicht leiden musste und die Länge seines Lebens selbst (?, B. W.) bestimmen konnte. Mit dem Sündenfall verlor der Mensch diese Macht und geriet unter die Naturgesetze, die biologischen Triebe und in den Kampf ums Dasein. Was ist davon zu halten? Ich kann diese Konzeption eines rein »geistig-geistlichen« Leibes durchaus übernehmen, doch meine ich, dass nicht der Mensch am Anfang der Schöpfung einen solchen gehabt habe, sondern erst der Mensch der erlösten Schöpfung einen solchen, wie Paulus sagt, haben wird. Somit kann man in Hinsicht der Leiblichkeit drei metaphysische Großphasen unterscheiden: die ursprüngliche, leibfreie, allerdings nur für das Urelternpaar zutreffende Existenz bei Gott (1) – die irdische Existenz in einem »Gesetzes- und Zwangsleib«, also die gesamte Weltgeschichte nach dem Sündenfall (2) – und die Existenz in Gott, nun mit einem erlösten, zwangs- und notfreien, »lichten« oder »himmlischen« Leib, mit der spirituellen Leiblichkeit, in der sich die Geistseele des Menschen transparent und widerstandsfrei darleben und ausdrücken kann (3). Die Alternativen – die Ureltern hätten bereits vorbzw. überweltlich in einem geistlichen Leib bei Gott gelebt und wären erst nach dem Fall in einen physisch-korruptiblen Leib geraten bzw. die Ureltern hätten vor ihrem Fall innerweltlich in einem geistlichen Leib oder physischen Leib gewohnt – halte ich für weniger plausibel und schwer mit anderen Tatsachen in Übereinstimmung zu bringen. 152 Nah am Text von Genesis 3, doch immer intertextuell auf den gesamten Textkorpus des Alten Testaments bezogen, bleibt W. Eichrodt (1974, 264–345), der nichtsdestotrotz in seinem umfassenden Werk auf phänomenologisch-hermeneutische Weise eine tiefgründige existenzialontologische Auslegung des Abfalls des Menschen von Gott, ja eine Wesensanalyse der israelitischen Religiosität überhaupt vorlegt. Allerdings bietet er keine logische Konsistenzanalyse oder gar eine metaphysische Durchklärung der jüdischen Gottesvorstellung und des Gott-Welt-Mensch-Verhältnisses. Wie schließlich eine metaphysisch-realistische Interpretation mit einer symbolistischen Deutung tiefsinnig vereinigt werden kann, zeigt K. Hälbig (2011).
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Exkurs zur Ursprungsfrage von Leiblichkeit und Schuld
Brandensteins als tiefdringende Erhellungen, die ihre Stärke daraus beziehen, dass sie, im Gegensatz zu den üblichen Deutungen, etwa die von J.-J. Rousseau, I. Kant, 153 G. W. F. Hegel, E. Drewermann, C. G. Jung u. a., streng am Text bleiben und keine gegen dessen eigene Intention aufgenötigten tiefenpsychologischen, kulturphilosophischen oder sonstigen ideologischen Vorentscheidungen hineintragen. 154 Man könnte sagen, sie setzen sich in echt hermeneutischer Weise den »Ungeheuerlichkeiten« dieses Textes aus und riskieren um dieser Treue willen logische Spannungen und Ungereimtheiten. Dies erreichen R. Spaemann, R. Guardini und B. v. Brandenstein – im Gegensatz zu den sonstigen Interpretationen – dadurch, dass sie vom – wenn auch nicht positivistisch-empirischen, sondern metaphysischen – Realitätscharakter der Genesiserzählung ausgehen, die 153 In einer klugen und originellen, vor allem psychologisch und kulturgeschichtlich tiefgründigen Arbeit nimmt I. Kant (1786) zum »Mutmaßlichen Anfang der Menschheitsgeschichte« Stellung. Dabei wählt er sich die Genesiserzählung zum Ausgangspunkt und deutet das »Paradies« als den ursprünglich-innerweltlichen, also tierischen oder fast-tierischen Naturzustand des Menschen, womit er offenkundig einen rein naturalistischen Standpunkt bezieht. Woher der Wesenskern des Menschen, seine Vernunftnatur, kommt, lässt er bewusst offen, betont aber, dass sie aus der biologischen Sphäre nicht ableitbar sei, womit seine Anthropologie im Entscheidenden »metaphysisch« bzw. antinaturalistisch bleibt. Um seine Deutung der Genesiserzählung durchzuführen, muss I. Kant einige wesentliche Elemente der Paradiesgeschichte unterschlagen, so z. B. die Freiheit von Tod, Leid und Not. Übrigens liefert I. Kant in dieser kleinen Schrift, obschon er an anderer Stelle die Theodizeefrage für unlösbar hält, eine interessante und durchaus ernst zu nehmende »Theorie des Leidens« bzw., recht betrachtet, eine Theodizee. Mehrfach betont er dabei, dass man weder das sittliche noch das physische Übel der »Vorsehung« (also Gott) anlasten dürfe, da das sittliche Übel direkt den Menschen zum Urheber habe und das physische Übel – Missbildungen, Krankheiten, Naturkatastrophen etc. – als Ausgleich und Strafe der sittlichen Missetaten zu betrachten sei. Zweifellos ist diese Deutung, mit der er G. W. Leibniz folgt, hochproblematisch und dürfte stark von der protestantischen bzw. pietistischen Religiosität beeinflusst sein, aber die Erkenntnis I. Kants, dass die moralische mit der physischen Natur in »unaufhörlichem Widerstreit« liege, das Vernunftvermögen, vor allem in seinem sittlichen Teil durch diesen Widerstreit erweckt und hervorgetrieben werde und dass dadurch und durch andere Faktoren wie Nomadentum, Sesshaftigkeit etc. die Epochen der Menschheitsgeschichte erzeugt werden, all das ist sehr klug und im Kern annehmbar, obschon m. E. die Paradiesesgeschichte nicht nur historisch, sondern wesentlich metaphysisch interpretiert werden muss. Letztlich geht es nach I. Kant bei diesem Prozess um den schwierigen, leidvollen und prekären Fortschritt der Menschheit als Kultureinheit und als sittliche Instanz, also um die Befreiung von allen Zwängen und um die Verbesserung der sittlich selbstbestimmten Freiheit des Menschen. 154 Vgl. die gleichlautende Kritik von R. Spaemann (1992, 15 ff.).
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zwar keine Epoche der bekannten Menschheitshistorie vergegenwärtigt, dafür aber den geschichtlichen Ursprung derselben in der Transzendenz mitteilt: den Anfang der Menschen und ihr Wohnen bei Gott – das ist ihre rational und naturalistisch nicht einholbare Voraussetzung. 155 Entsprechend den Aussagen der Bibel meint R. Guardini daher, dass die Menschen in diesem Zustand zwar schon voll-leiblich inkarniert, aber dennoch nicht der üblichen biologischen Korruptibilität unterworfen waren. Ja, er meint, dass die Menschen irgendwie »zu Ende kamen« bzw. »starben«, aber ganz anders als die »gefallenen« Menschen, nämlich gleichsam wie in einer Art Hinüberwandeln in die Ewigkeit, von der sie nie eigentlich wie der gefallene Mensch getrennt waren. Ihr »Sterben« habe eher einem sanften Entschweben und Hinübergleiten als einem echten Tod geglichen. 156 Im Gegensatz dazu deutet E. Drewermann den Genesistext vollständig naturalistisch und betrachtet das Paradies als weltimmanenthistorischen Zustand des ungebrochenen Gott-, Natur- und Lebensvertrauens, wobei er, wie es scheint, Gott und (ursprüngliche) Natur weitgehend gleichsetzt. Diese Menschen starben zwar wie heutige Menschen, wurden auch krank und erlitten so manches Ungemach, aber es berührte sie nicht wirklich, da sie in ihrem Innersten damit einverstanden waren und nicht dagegen – darin den Tieren gleich, den heutigen Menschen ungleich – aufbegehrten. Während die leibliche Existenz der Menschen im Paradies bei E. Drewermann, wenn ich recht sehe, ganz natural und weitgehende »rousseauistisch« verstanden wird, imponiert die Leiblichkeit bei R. Guardini als eigenartig physisch-mystischer Zustand, vielleicht als eine Art »geistig-geistlicher Leiblichkeit«. Da beide ihre religionsphilosophische Interpretation weder einer philosophisch-metaphysischen noch einer naturwissenschaftlichen Kritik unterziehen, können sie m. E. nicht klären, ob ihre Standpunkte überhaupt wahrscheinlich bzw. logisch konsistent sind. Das aber ist nötig, um aus der »intuitiven Beliebigkeit« heraus-
Alle anderen genannten Autoren betrachten dagegen den Sündenfall als weltimmanent historisches Ereignis. Das aber führt, wie B. Bavink (1947, 39 ff.) zeigt, zu Konsequenzen, die mit dem heutigen empirisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand unvereinbar sind. Das sieht auch J. Ratzinger (1968) so. 156 Damit setzt sich R. Guardini in eine gewisse Spannung zur katholischen Dogmatik, die die ursprünglich-primäre Unsterblichkeit des vorirdisch-paradiesischen Adams als leib-seelische Ganzheit lehrt (vgl. J. Neuner/H. Roos (1971), 6.1. Der Urzustand des Menschen, 220 ff.). 155
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Exkurs zur Ursprungsfrage von Leiblichkeit und Schuld
zukommen und mehr Vernunftsicherheit zu erlangen. Sind also diese beiden Standpunkte möglich, plausibel und haltbar? Wenn man die Aussagen des Genesistextes mit der Worttreue R. Guardinis betrachtet, dann muss die Annahme R. Guardinis, dass der paradiesische Mensch irgendwie doch gestorben sei, zurückgewiesen werden, denn das verneint der Text eindeutig, der umgekehrt betont, dass »erst durch die Sünde der Tod in die Welt« kam, nämlich nicht nur das Verenden (!) bloß tierischer Organismen, sondern der erlebnismäßig, also seelisch-geistig erlittene und mitvollzogene, »echte und volle« Tod des psychophysischen Menschenbewusstseins. Tut man dies, gerät man mit anderen Aussagen der Urkunde in Dissonanz: erstens mit der Aussage, dass der Mensch aus Erde geformt wurde, also einen realen, wohl sogar irdischen Leib besaß; und zweitens mit der Aussage, dass er sich mehren und die Schöpfung bewahren soll. Wie soll aber eine leibliche Vermehrung und Naturgestaltung mit einer unsterblichen leiblichen Existenz zusammengehen? Da die Bibel kein philosophisches Lehrbuch ist, klärt sie solche Spannungen nicht auf, sondern lässt sie nebeneinander in Schwebe stehen. R. Guardini sucht darum einen Mittelweg, der aber vage bleibt und einen Tod einführt, der keiner ist. Auch die entsprechende Leiblichkeit bleibt unklar und rätselhaft. Man steht demnach vor folgendem Dilemma: Einerseits war der paradiesische Mensch frei von Arbeit, Altern, Sterben, Leiden und Tod (und vermehrte sich im Paradies nicht); andererseits besaß er einen echten, vollen, sogar irdisch-biologischen Leib, der – als tierisches Entwicklungserbe – unmöglich unveränderlich, unvergänglich, triebfrei und inkorruptibel gewesen sein konnte. R. Guardini und E. Drewermann, darin beide gleich, lösen dieses Dilemma, indem sie an der Vergänglichkeit des Leibes zwar festhalten, ihn aber aufgrund der innigen Gottverbundenheit des Urmenschenpaares zur Nebensache erklären. Das scheint mir realitätsfern zu sein: Wenn der paradiesische Mensch tatsächlich voll in einem Leib gelebt haben sollte, voll »eingefleischt« und damit voll an ihn in seiner ganzen Physiologie gebunden war, dann war er damit unweigerlich allem ausgesetzt, was mit dieser vergänglichen Leiblichkeit verknüpft ist und von den tierischen Vorfahren vererbt worden war: Schmerz, Notdurft, Triebdruck, Entbehrung, Unbewusstheit, Naturgefährdung, Abhängigkeiten aller Art und ebenso Altern, Krankheit, Schwäche, Sterben und Tod. Es ist kaum vorstellbar, dass dies alles sollte vom Menschen in stoischer Weise leidfrei erlebt und getragen worden 425 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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sein, und zwar, wie diese Theorie unterstellt, von Geburt an. Da die Natur vor dem Erscheinen des Menschen schon von Tod, Schmerz, Kampf, Geburt, Altern, Sterben, Krankheit, Fressen und Gefressenwerden gezeichnet war, ist es unlogisch, dass der Mensch, als er in diese Welt eintrat, von all dem nicht betroffen, bedroht und geängstigt worden sein soll, selbst wenn man annimmt, dass seine Gottverbindung ungetrübt war. Erkennt man gar, dass eine völlige Gottverbundenheit, wie sie das Paradiesesbild schildert, nicht möglich ist, wenn der Mensch »ganz irdischer Leib« ist, dass die Inkarnation also, wie dies Pythagoras und Platon lehrten, notwendig mit einer Gottund Ursprungsferne bzw. Gott- und Ursprungsvergessenheit erkauft wird, werden die Lösungsvorschläge der beiden Theologen noch unwahrscheinlicher. Und somit stellt sich erneut die Frage nach Alternativen, die erstens mit den heutigen wissenschaftlichen Kenntnissen der Phylogenese vereinbar und zweitens den Grundaussagen der Genesiserzählung bzw. der metaphysischen Erkenntnisse gemäß treu verbunden bleiben – gibt es sie? Ich meine schon. Die erste prinzipiell denkbare Alternative, die der Guardinischen Deutung nahekommt, würde wie folgt lauten: Im Urzustand befand sich der Mensch nicht in einer irdischen Idylle, sondern er war mit Gott ungehindert verbunden, trotzdem nicht rein geistig, sondern irgendwie leiblich beschaffen. Stimmte dies, könnte es sich nicht um die irdisch-tierisch-sterbliche Leiblichkeit handeln, auch nicht um einen evolutionär entstandenen Leib, sondern es müsste sich um eine nichtevolutive, überirdisch-inkorruptible, eine »rein geistig-geistliche« Leiblichkeit gehandelt haben, deren Entstehung, Natur und Sinn aus der irdischen Perspektive weitgehend verschlossen ist. Nach dem Sündenfall dagegen wäre der Mensch der Nähe Gottes und damit seines »geistigen« Leibes verlustig gegangen und mit einem irdisch-sterblichen Leib verbunden und so den tierischen Trieben und Krankheiten, Altern und Tod ausgesetzt worden. Diese Auffassung scheint am Besten zu den nicht ganz einfach zu interpretierenden Urkunden mancher Konzile zu passen, etwa der Versammlung der Kölner Kirchenprovinz im Jahre 1860. 157 Dieser Deutung käme der Vorteil zu, dass sie den
157 Vgl. J. Neuner/H. Roos (1971, 221 f.). In diese Richtung weist vielleicht auch die Deutung von K. Hälbig (2011, 84 f.), der von einem »überirdischen Lichtkleid« spricht, das eigentlich kein Leib ist, sondern mit dem »unendlichen Liebesblick und Liebesglück« der Herrlichkeit Gottes identisch ist. Mit dieser Sichtweise stimmt die meinige, die ich im Folgenden gebe, überein.
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Exkurs zur Ursprungsfrage von Leiblichkeit und Schuld
»Sündenfall« nicht, wie anscheinend R. Guardini und E. Drewermann, als zeitlich-historisches und damit weltimmanentes, sondern als transzendentes, überweltliches Ereignis betrachtet. 158 Eine zweite Version differiert davon und gestaltet sich zwar komplizierter, erheischt dafür m. E. mehr Wahrscheinlichkeit; sie lautet: Der Mensch, als Geistwesen direkt erschaffen von Gott, lebte ursprünglich, sprich »vor- oder überempirisch bzw. vorweltlich« bei Gott, ihm nahe (und so im »Lichtkleid« seines Liebesblickes), und zwar als verschiedengeschlechtliches Paar, 159 aber nicht leiblich inkarniert, sondern »nur« rein geistig, sprich in einem leiblich nicht beschränkten und belasteten Vollbwusstsein. 160 Diese beiden Geistgeschöpfe waren mit echter Wirkmächtigkeit begabt und erhielten für ihr Wirken, wie auch die Genesiserzählung betont, einen bestimmten irdischen Wirk- und Gestaltensbezirk in der sich seit Langem entfaltenden physischen Schöpfung zugewiesen. Darin sollten sie wirken, schaffen, gestalten und Neues formen, ohne die bisherige Schöpfung zu stören, sondern – gleichsam aus der »Höhe des Paradieses« – die materiell-sinnliche Erde bebauen und bewahren, aber auch ergänzen und mit ihren speziellen Gestaltbildungen weiter be158 Auch B. Bavink (1947, 43) sieht dies und lehnt einen »Sündenfall« innerhalb der natürlich-empirischen Schöpfung ab: »Der Konflikt zwischen Trieb und ethischem Gebot entsteht also gar nicht durch einen »Abfall« von einem ethisch »guten« Zustande, sondern vielmehr gerade umgekehrt durch den Aufstieg zum klaren Bewusstsein aus einem dumpfen tierischen Triebleben heraus […] Einen solchen »Urstand« hat es nie gegeben, weil es ihn gar nicht geben konnte, wenigstens nicht innerhalb dieser Schöpfung, die so ist, wie sie ist.« Die Einschränkung, die B. Bavink hier macht, ist entscheidend, doch leider entwickelt er daraus nicht die einzig mögliche Alternative, dass der Sündenfall sehr wohl geschah, nur nicht, wie er richtig sieht, innerhalb der empirisch-natürlichen Schöpfung, sondern »vor« bzw. »über« ihr, nicht in einem empirisch-naturhaften Anfang, sondern im überweltlichen Anfang bei Gott, also genau so, wie die »Genesis« dies schildert. Dieses »Bei-Gott« kann, wie J. Hick betont, wohl kein »In-Gott« sein, sondern muss eine »epistemische Distanz« implizieren, da sonst der Sündenfall höchst unwahrscheinlich wird. 159 Aus verschiedenen, hier nicht näher erläuterbaren Gründen halte ich den Mythos des androgynen Uradams für unhaltbar, dagegen wird er an späterer Stelle seine allerdings ganz andere Bedeutung zurückgewinnen (zum Problemkreis vgl. E. Benz (1955: »Adam, der Mythus vom Urmenschen«)). 160 Vgl. B. v. Brandenstein (1968, 324). Diese ursprüngliche, dann verlorene Nähe zu Gott ist wahrscheinlich (noch) nicht die unio mystica, in der Gott von »Angesicht zu Angesicht« geschaut wird, sondern erst nur eine nahe Verbundenheit. »Am Ende der Zeiten«, wenn der erlöste Mensch zu Gott zurückkehrt und in sein Leben hineingenommen wird, erst dann und dort findet eine Einigung statt, die einen Abfall nicht mehr möglich macht.
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reichern. Das taten sie und lebten auf diese Weise »im Paradies«, erstens in bleibender Gottgemeinschaft und zweitens, ohne selbst ein empirisch-sinnliches Weltwesen zu sein, in kreativ schaffender, jedoch transzendenter, nicht inkarnierter Weltbezogenheit und daher (als »Mann« und »Frau«) voneinander getrennt. Was sie da wirkten, gestalteten und formten, war – nun in Übereinstimmung mit der neuzeitlichen Wissenschaft – nichts anderes als die bestimmte »menschliche« Weitergestaltung des ihnen übergebenen, bislang höchsten Lebewesens, des Primatenorganismus (eines männlichen und eines weiblichen), den sie zwar formten und lenkten, aber nicht unmittelbar bewohnten, sondern sich darin »nur« mächtig und typisch »menschlich« ausdrückten, etwa wie ein Bildhauer in einer mobilen Plastik, und auf diese Weise zum »Vormenschen«, zum »Menschenprimaten« gestalteten (und damit ungewollt für die volle Inkarnation vorbereiteten). Dieser Organismus war als tierischer Leib allen irdischen Gesetzen unterworfen, wurde geboren, alterte, vermehrte sich auf tierische Weise, erkrankte und starb – aber nicht starb der »Mensch«, besser die rein geistige, vollbewusste Menschenkraft (als rein geistiger Mann und rein geistige Frau), die mit diesen organismischen Leibern als mit ihrem physisch-irdischen Wirkungsfeld zwar direkt verbunden, aber nicht direkt vereinigt war. So hegte und pflegte das Paar sein Werk, vermehrte es auch und überließ es, wenn die Zeit reif war, dem Hinscheiden und Verenden. Ein echtes Sterben fand hier nicht statt, eben weil dieser Organismus von keinem psychophysisch-inkarnierten Menschenbewusstsein bewohnt wurde, das hier hätte mitsterben können und, wie das seit der »Vertreibung aus dem Paradies« bis heute der Falle ist, mitsterben müssen. So betrachtet, muss man einen irdischen Adam von einem paradiesischen Adam unterscheiden. Dieser stünde außerhalb der irdischen Geschichte, jener müsste in den ersten anthropomorphen Gestalten des Menschseins als die irdische Inkarnation des paradiesischen Adams (nach dem transzendenten Sündenfall) gesucht werden und wäre etwa 2,5 Millionen Jahre alt. Dieser Übergang fand statt, als die Menschengeister von Gott abfielen und begehrten, mit ihren Wirkungsfeldern, den irdischen, nur »menschaften« Leibern, eins zu werden und so erstens deren Sinnlichkeit direkt zu spüren und zweitens sich die Möglichkeit zu eröffnen, mit dem jeweils gegengeschlechtlichen Anderen »ein Fleisch und ein Blut« zu werden, sich also leibseelisch zu vereinen: eine radikale kosmische Revolution dies, die radikalste überhaupt in aller Seinsgeschichte, ein wahrer Seinsbruch 428 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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und Seinsumbruch, allein deswegen, weil ab diesem Bruch ein Wesen im zweiten Seinsrang (personaler Geist) mit einem Wesen im dritten Seinsrang (dem tierisch-menschlichen Leib) direkt und unmittelbar vereinigt wurde, wozu nach dem recht gefassten Kausalprinzip, wie bereits erwähnt, nur Gott in der Lage ist. Der Mensch als ontologischmetaphysisches, wahrhaft »lebendiges Paradoxon« entstand. 161 Die Wahrheit dieser Sichtweise vorausgesetzt, ermöglicht sie, an der Todlosigkeit des ursprünglichen paradiesischen Menschen (nicht des Primatenorganismus) festzuhalten, ohne ihn entweder völlig von der Leiblichkeit zu trennen und damit total zu spiritualisieren oder seine Leiblichkeit für unvergänglich zu erklären. Im Gegenteil, »seine« Leiblichkeit war vergänglich, nämlich als ein natürlicherweise irdisch-hinfälliges, evolutionär entstandenes Naturgebilde oder Naturwerk, aber die Person, die darin (noch) nicht unmittelbar anweste und lebte (die »nackte«, von keinem Tierleib, keinem »Tierfell« umhüllte menschliche Geistseele nämlich), sondern darin sich nur ausdrückte, wenn auch schon sehr »persönlich«, wie das bereits bei vielen Tieren der Fall ist, war als personale und gegenüber der Natur transzendente Geistkraft, da dem Physischen nicht ausgesetzt, nicht sterblich, konnte nicht krank werden, altern, vergehen, damit sich aber auch nicht biologisch-evolutionär entwickeln. Die Vermehrung dagegen war möglich, allerdings nur derart, dass die Exemplare dieser Primatenorganismen durch die schöpferischen, menschlichen Wirkkräfte vermehrt wurden – echte Menschen, mit individuellen Seelen begabte Leiber entstanden dadurch nicht. Von solcher Vermehrung spricht der Genesistext auch nicht, solange die Menschen im Paradies leben. Erst als sie vertrieben sind, kommt es dazu, da in jedem neuen Menschenleib eine individuale Seele mitkommt, erst unbewusst, dann nach und nach erwachend. Und erst dieser Mensch ist »wirklich« und »ganz« Mensch, stirbt, stirbt voll und ganz, auch seelisch-geistig, leidet, kämpft, wird ein Gattungswesen, ist den Trieben ausgesetzt und neigt zu Angst, Eigensucht und Gier. Doch ist dieser Mensch als Nachkomme von Adam und Eva von Gott getrennt und lebt in einem völlig neuen metaphysischen Zustand, nicht mehr bei Gott (der Quintessenz 5 oder genährt vom Lebensbaum), sondern von Anbeginn seiner Erschaffung gottfern, nicht mehr naturtranszendent, sondern naturimmanent (in der 4 der Welt, »fünflos«) und deswegen in einem fundamentalen Zu161
Vgl. B. v. Brandenstein (1968, 323).
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stand der »Unordnung«, der Störung, des metaphysischen Unheils, welches Unheil aber keine Sünde ist, sondern Folge und Erblast der »paradiesischen Erstsünde«. 162 Und natürlich: Solche Last schwächt die Willenskraft, ohne sie allerdings, wie M. Luther meint, völlig aufzuheben, und macht neuer Sündigkeit geneigt, was man »Erbhang zur Sünde« und als solchen – und nur als solchen – »Erbsünde« nennen kann. 163 Diesen fundamentalen metaphysischen Zusammenhang spürt und ahnt der Naturmensch noch, und in den allermeisten frühen Kulturen entwickeln sich entsprechende Ursprungsmythen, die lehren, von wo die Existenz des Menschen ursprünglich ihren Ausgang genommen, wo sie vor ihrem irdischen Dasein gewohnt hatte und wo sie selig war (Platons Anamnesis), doch wissen können sie es nicht mehr, der Rückweg ins Paradies ist versperrt. Der Engel mit dem Flammenschwert, ein Bürge und Wächter der neuen Ordnung, steht davor und weist jeden Zudringling ab. Die Vertreibung aus dem Paradies war nach dieser, wie ich meine, wohlbegründeten und plausibelsten Version, der Verlust der Gottunmittelbarkeit und die Auslieferung an und die Einsenkung in die Abhängigkeit von der Natur, konkret in die Abhängigkeit eines singulären Leibes, der als Werk der Gattung – im Gegensatz zum Paradieseszustand – Macht über den Menschen erhielt. 164 So muss der Mensch einerseits seinem Leib dienen, um ihn zu erhalten, zu befriedigen und zu vermehren, andererseits muss er ihn leiten, lenken und unter großen Mühen beherrschen lernen. Viel Kampf, Krampf und Unfreiheit ist so in das Verhältnis zu seinem Leib geraten, und oft – in Krankheit, Verwirrung und »Leidenschaft« – wird er zum Sklaven 162 Und zwar entgegen Origenes von Geburt an, was eine vorgeburtliche Existenz der Menschen nach Adam und damit eine direkte Gottesanschauung der irdischen Menschen vor der Geburt ausschließt. 163 Vgl. ähnlich B. v. Brandenstein (1968, 324 ff.) in seiner »Grundlegung der Philosophie«, Bd. 6. Dieser »Hang zum Bösen« ist selbst nicht böse, sondern nur potentiell böse. Solange der Mensch Gott zugewandt war, blieb er unwirksam, seit jener aber, von Gott getrennt, in die Welt verschlagen wurde, fehlt das Gegengewicht, so dass er sich über die ganze Menschheit hin aktualisiert. Diese Aktualisierung ist allerdings das Werk einer freien Zustimmung. Erst hier beginnt das Böse, real zu werden, und fällt in die Verantwortung des Menschen, des einzelnen wie der Gesamtheit. 164 Womit die »anthropologische Ichspaltung« in bewusst und unbewusst, in persönliche Leibseele und verborgen-verschleierte Geistseele erfolgte. Der rein geistige Seinsgrund, das transzendentale Ich, wirkt zwar im Menschen, aber er kann nicht unmittelbar erfahren werden. Vgl. dazu mein »Traumbuch« (2008).
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desselben und verliert die Würde seines ursprünglichen Standes: Herr von Gottes Gnaden zu sein. 165 Die Vorteile der hier vorgelegten Lösung gegenüber der von R. Guardini und E. Drewermann, K. Rahner und C. S. Lewis liegen auf der Hand: 166 Nur so wird das Drama des Falles in eine andere, unendlich tiefere Seinsdimension real. Ein pU-unvergängliches, rein seelisch-geistiges Wesen gerät in ein E-großes, E-vergängliches Raumzeitgebilde. Das ist nicht nur höchst dramatisch, eine Dramatik, die bei R. Guardini und E. Drewermann verloren geht, sondern, wie auch N. Berdjajew betont, höchst tragisch. Die Nichts-Ausgesetztheit kommt so erst voll zum Tragen: Der Mensch ist nun wirklich in der Fremde, die ihn auffordert, erstens zu bestehen und zu überleben, zweitens sich zu behaupten, drittens wieder zu Gott zurückzufinden, viertens Sühne zu leisten und fünftens die physisch-biologische Welt mit seiner spezifischen Geistigkeit und mit seiner Kulturtätigkeit zu durchdringen. Wäre der Mensch wie bei R. Guardini und E. Drewermann in seinem Anfang ein verleibtes Wesen, befände er sich nicht in wirklicher Fremde und hätte kaum den Antrieb, zu Gott zurückzukehren, Sühne zu leisten und aus Natur Kultur zu machen. Er wäre im Wesen ein Tier, nur ein Tier. Die vielen großen Spannungen, Konflikte und Nöte, die dem Menschen mit seiner Leib- und Triebhaftigkeit aufgebürdet sind, blieben rätselhaft, wenn der Mensch im Ersten und Letzten ein bloßes Naturwesen (E. Drewermann) bzw. ein geistiges Wesen (R. Guardini) mit einer »untierischen« leiblichen Hülle wäre. Bedenkt man dagegen die Tatsache, dass der Mensch in der Mathematik zeitlose Größen und Verhältnisse denken und in Ästhetik und Ethik überzeitliche Werte fühlen und erkennen kann, beweist das zur Genüge, dass er in der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit mit der über- und unzeitlichen Seinsregion verbunden ist, obgleich oft nur dunkel und verworren. All dem wird die Genesiserzählung in meiner Auslegung gerechter als in der Deutung der beiden anderen Autoren – eine Auslegung übrigens, die m. E. mit der Metaphysik des Paulus in seinen Römer- und Korintherbriefen übereinstimmt. 167
Zum Wesen der Leidenschaft vgl. B. Wandruszka (2016, 2–15). Ähnliches wäre auch gegenüber der Auffassung B. Bavinks zu sagen, der den Transzendenzcharakter der Paradieserzählung verkennt. 167 Was jedoch nur der Fall ist, wenn die Lehre des Paulus nicht, wie B. Bavink (1947) das m. E. zu Unrecht tut, rein weltimmanent bzw. rein empirisch gedeutet wird. Dann allerdings führt sie zu Selbstwidersprüchen. 165 166
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In einem treffen sich alle Deutungen am Ende doch, und das ist entscheidender, als es alle Differenzen und Hypothesen sein können: Wenn die innere Verbundenheit mit Gott abreißt, geraten Mensch und Gott, Mensch und Mensch und Mensch und Natur in eine unheilvolle Unordnung, die, falls ihre Dynamik nicht gewendet wird, in Zerstörung enden muss. Angst, Eigensucht, Schuld, Selbstüberforderung, Ausbeutung, Neid, Hass, Rücksichtslosigkeit und Maßlosigkeit sind im Nur-Endlichen nicht, obwohl dies selbstverständlich da anheben soll, zu beheben und zu begrenzen, im Gegenteil zerreiben sie alle endliche Daseinsgestalt und bezeugen so ihr überendliches pUWesen, das sich nur im Kontakt mit dem aU-Ursein Gottes mäßigt und befrieden lässt. Würden die Menschen ihren Bezug zum Ewigen ganz abreißen lassen und bloße Naturwesen sein wollen, wäre ihre heute drohende Selbstausrottung das nur gerechte Selbstgericht. Und eben diese Selbstauslöschung droht, weil sich die Menschen den »niedrigen« Seinsschichten ausliefern und sein wollen, was sie nicht sein können: reine Natur-, reine Trieb-, reine Materiewesen, rücksichtslos, uneins, gierend nach Besitz, Macht und Lust, getrieben von Angst und Misstrauen, »zu kurz zu kommen«. 168 P. Sloterdijk (2016, 101–114) spricht treffend von der »Apokalypse und dem Pathos des Realen«, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, und meint damit die Vergötzung des »Unten«, d. h. des MateriellNaturalen, auf Kosten des »Oben«. Mit diesem Exkurs endet die mythologisch-religionsphilosophische Betrachtung und kehrt zur philosophischen Untersuchung empirischer Verhältnisse zurück.
4.16. Der Sinn von Schmerz, Mühsal, Verletzung, Krankheit, Altern und Tod Seit der Mensch in seinem Leib zu sich selbst erwachte, fühlt er sich umringt von Drangsalen. Da sich seine Existenz nicht von allein lebt, sind Einsatz, Kampf, Duldung, Verzicht, Arbeit und Mühe gefordert, um in dieser Welt zu bestehen. Der Stoffwechsel seines Organismus 168 Zwei »Mythen«, die sich der Mensch gemacht hat, prädestinieren zum Untergang: erstens der Mythos, dass alle und alles uneins ist, verkennend das Einssein von allem, was ist; und zweitens der Mythos, dass nicht genug für alle da ist, um die Bedürfnisse nach Sicherheit, Nahrung usw. zu befriedigen. In Wahrheit ist alles mit allem verbunden, und in Wahrheit versorgt die Erde, wenn die Ressourcen gerecht verteilt, geschont und erneuert werden, alle.
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Der Sinn von Schmerz, Mühsal, Verletzung, Krankheit, Altern und Tod
bedarf, da er sich in einem fort selbst verzehrt, des ständigen Nachschubs an Energie und Stoffen; und da ihm diese nicht einfach in den offenen Mund fallen, muss der Mensch arbeiten. Arbeit aber ist Mühe und oft Mühsal, die nicht selten bis zu Erschöpfung, Schmerz, Verschleiß und Krankheit reicht. Verweigert er die Arbeit und geht der Mühsal aus dem Weg, drohen Verwahrlosung, Schwächung und Verfall. Denn erst der Kampf weckt die Kräfte und stählt die Widerstandskraft, leiblich wie seelisch, das erkannten schon die agonalen Griechen der Antike und pflegten entsprechend ihre Wettkampfkultur. So steht der Mensch zwischen der Skylla der aufreibenden Arbeit und der Charybdis des verweichlichenden Müßigganges und muss darin sein jeweils rechtes, nie völlig festgesetztes, sondern rhythmisch oszillierendes Maß finden: »Balance of life«. Schon vormenschlich tragen die Lebewesen, wenigstens die »höheren« ab der Wirbeltierstufe, das Leid in sich: in der besonderen Form des Schmerzes nämlich. 169 Er ist ein biologisches Urphänomen mit einem doppelten, oft schillernd rätselhaften Gesicht. Zunächst hat er eine positive Funktion, obschon er eindeutig als negativ, leidvoll und aufhebenswürdig erlebt wird. Denn er zeigt an, dass im Organismus etwas nicht in Ordnung ist, dass eine Grenze erreicht ist, jenseits derer eine Schädigung droht und dass etwas Fremdes, Störendes, Verletzendes in die Eigensphäre eingedrungen ist, das eliminiert oder assimiliert werden muss. Somit ist der Schmerz der existenzielle Beweis dafür, dass der einzelne Organismus eine Integrität und Identität besitzt, die von anderen Identitäten verschieden ist; dass er vulnerabel ist; dass er stets von Übergriffen anderer Identitäten, die seine Integrität infrage stellen, bedroht ist; dass er sich abgrenzen und schützen muss; und dass er sich, wenn er verletzt ist, regenerieren muss. Der Schmerz beweist die intentionale Pluralität, Agonalität, Konfliktuosität und Disharmonie der Lebewesenwelt, ein Umstand, der mit den Ergebnissen des bis auf seinen Grund durchdachten Kausalprinzips übereinstimmt. Doch ist der Schmerz nicht nur Zeichen für drohende oder eingetretene Schädigung, sondern selbst potentieller Schaden und potentielles Leid. Das gilt vor allem dann, wenn er sich von seiner Verursachung ablöst, verselbständigt und chronifiziert. Der akute Schmerz steht in der Regel in einem sinnvollen Bedingungszusammenhang; der chronische Schmerz verliert oft diesen Sinnbezug und 169
Ausführlich zum Schmerz vgl. B. Wandruszka (2004, 57–64).
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Natur und Leiden
wird selbst zum Übel, oft zu einem der schwersten Übel, die bekannt sind. Was sagt dies? Hier stößt man auf eine innere Grenze des organischen Lebens, will heißen: Auch seine Selbstkonstitution, seine »Autopoiesis« ist verletzbar, anfällig, potentiell lebensunangemessen und kann »aus dem Ruder laufen«. Metaphysisch betrachtet, liegt hierin ein Hinweis darauf verborgen, dass jene intentionalen Kräfte, die den Schmerz erzeugen, selbst »endlich«, fehlbar und also nicht Gott sind. Gott, wäre er der unmittelbare Erbauer der Welt, was, wie gesehen, nicht der Fall ist, könnte den chronischen, den »sinnlos« maladaptiven Schmerz vermeiden. Da der Mensch ein später Erbe des tierischen Leibes ist, hat er den Schmerz, auch den maladaptiven Schmerz geerbt, umso mehr, als er, wie es scheint, durch seine enervierend-hektische Lebensweise weitaus mehr für die Chronifizierung des Schmerzes prädestiniert ist als die Tiere, bei denen der akute Schmerz viel häufiger ist und die zum Selbstschutz ausgedehnte Ruhezeiten einlegen. 170 Die vielen Rücken-, Kopf- und Nervenleiden der Menschen belegen diese Tatsache zur Genüge. Somit zeigt sich hier, tiefer geblickt, Entscheidendes: Wohl ist das Geistige im Menschen mit seiner Leiblichkeit harmonisch verbunden, doch der Geist droht in seiner Potentialunendlichkeit, die alle endlichen Grenzen sprengt, dem wesenhaft endlichen Leib zu schaden, und also reicht er metaphysisch über seine Leiblichkeit hinaus und kann in ihr nie ganz heimisch, nie völlig endlich werden. Die Plagen der vielen Süchte, etwa die Arbeitssucht der modernen workaholics, bestätigen diese metaphysische Aussage von der praktischen Seite her. 171 Anders verhält es sich mit Mühe und Mühsal. Beide sind schmerzfrei oder können es sein, aber die Mühsal ist immer leidvoll. Warum? Während die Mühe zwar einen Aufwand von Kraft, Energie und Arbeit gegen einen Widerstand bedeutet, der gerade noch bewältigt werden kann, gerät der Mensch in der Mühsal an seine Belas170 Vgl. kritisch zur heutigen Leistungs-, Konsum-und Vergnügungsgesellschaft mit ihren »neuronalen Krankheiten« Byung-Chul Han (2010). 171 Auf diesem Phänomen gründet L. Klages (1929–32) seine einseitige und übertriebene Auffassung vom »Geist als Widersacher der Seele«, wobei er unter Geist nur das Rational-Intellektuale, unter Seele das Leiblich-Vitale versteht, verkennend, dass der Geist in sich Leben ist und nicht nur durch rationale Komponenten bestimmt ist, sondern auch intuitive, imaginative, emotionale und volitionale Seiten umfasst, während die Leibseele ihrerseits nicht nur lebensfördernde Komponenten besitzt, sondern auch destruktive Impulse aufweist.
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Der Sinn von Schmerz, Mühsal, Verletzung, Krankheit, Altern und Tod
tungsgrenzen oder darüber hinaus. Er muss »sich quälen«. Diese Selbstqual ist oft unvermeidbar und kann, wie das mühselige Training der Spitzensportler beweist, lustvoll sein. Es ist bezeichnend, dass ein Trainingseffekt erst an der Grenze des Erträglichen erzielt wird. Allerdings drohen hier stets die Überforderung und damit die Selbstschädigung. Vergleicht man wieder Mensch und Tier, fällt auf, dass sich die Tiere selten mühen, vielmehr die Mühsal geradezu vermeiden, während der Mensch sich oft müht und quält und die Mühsal manchmal geradezu sucht. Letztlich ist dies seiner überendlichen, alle endlichen Grenzen transzendierenden Selbstdynamik geschuldet, die das Tier nicht kennt. Im Wesen ist der Mensch kein Hedonist, der sich mit der Lust begnügt, er will mehr, er will Sinn stiften und Sinn schaffen, der das bloße Überleben und Sichwohlbefinden übersteigt. Viele Genies leben dies vor, manchmal bis zur Auszehrung ihres Leibes und bis zum frühen Tod ihres durch ihre Schaffenswut ausgebrannten Körpers. Großes ist, so scheint es, ohne Mühe und Mühsal nicht zu erreichen, wobei »groß« relativ ist und schon die Gründung und Erhaltung einer Familie bedeuten kann. Damit wird offenbar, dass der Mensch nicht fertig in die Welt tritt und ein gemachtes Plätzchen vorfindet, sondern dass er sich selbst, sein Sosein, seinen Ort im Ganzen und im Kleinen, seine Zukunft und Perspektive erkämpfen und erringen muss und oft sehr lange orientierungslos durch sein Leben irrt, bis er fündig wird. Während das Tier beruflos ist, muss der Mensch seinen Lebensberuf finden, und diese Findung ist meistens schwierig, mühevoll und voller Rückschläge. Tiefer gesehen, heißt das, dass der Mensch eine bzw. mehrere Aufgaben hat und dass er in die Welt mit einem Auftrag geschickt ist, nämlich: sich durch Aneignung und schöpferische Weiterbildung der Welt selbst in der Welt zu finden und zu erfinden. Was aber ist sein Auftrag? Seine Aufgabe? Das liegt nicht auf der Hand, wie schon Pico della Mirandola 172 plastisch formulierte, sondern verbirgt sich und muss sowohl im Allgemeinen (durch Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Religion) als auch im Einzelnen (in Alltag, Beruf und Freizeit) mühsam und meist leidvoll, was Freude und Lust nicht ausschließt, entdeckt und entwickelt werden. Da dieses Wissen im Allgemeinen und im Einzelnen vom Schöpfer dem Menschen nicht apriori in den Schoß gelegt ist, ist es offensichtlich sein Wille, dass der Mensch von der Nacht zum Tag, vom Unwissen aus eigener 172
Vgl. Pico della Mirandola (1996 a).
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Natur und Leiden
Kraft (und durch seine Hilfe unterstützt) zum Wissen vordringe, und darum gehört es nach dem Plan Gottes zur besten aller möglichen Welten, dass sie selbsttätig ist, dass sie sich prozessual entfaltet und nicht fertig ins Sein tritt, sondern ihre Wahrheiten durch Einsatz, Wagnis, Suche und Kampf selbst gebiert. Wie dies überhaupt für den Kosmos gilt, so gilt es a fortiori für den Menschen und sein Kulturschaffen. Noch mehr als Arbeit, Mühe, Mühsal und Schmerz beweisen Verletzung und Krankheit, dass die Welt keine einfache Einheit ist, sondern aus vielen gegensätzlichen Kräften, Intentionen und Entwürfen zusammengestaltet wird. Da jede physische Gestalt – vom Atom bis zum Menschen – eine intentional gestaltete Sinneinheit darstellt, kann sie in ihrer Integrität beschädigt werden. Die einfachste Beschädigung ist die einmalige Verletzung, das einzelne Trauma; komplizierter sind das Polytrauma und die Krankheit, die nichts anderes darstellt als eine konsequent verbundene Reihe von Verletzungen, in der ein leibbewahrendes und ein leibauflösendes Prinzip gegeneinander wirken. Letzteres bedingt, dass die Krankheit eine wesenhaft diskrepante, konfliktuöse und nicht primäre Einheit darstellt und mit einem Organismus, einer »Wesenheit« nicht gleichgesetzt werden kann. Die Ontologisierung der Krankheit in der romantischen Medizin ist daher ein Fehlgriff. Der Sinn von Verletzung und Krankheit liegt nicht in einer Gestaltbildung, sondern in der Umkämpfung und Eroberung eines Stückchens des kosmischen Raumes. 173 Dies zeigt deutlich, dass es in der Natur – empirisch nicht unmittelbar erfahrbar – wirkende Kräfte gibt, die Intentionen haben und diese im Raum durchsetzen und ausbreiten wollen. Schon ein Virus bezeugt diese Dynamik, in der sich ein »Wollen« ausdrückt. Im Grunde strebt aber alles Leben zu expandieren, und nur weil dies alle Lebewesen mehr oder weniger tun, begrenzen sie sich gegenseitig und schaffen ein nie ganz stabiles, oft sogar sehr labiles Gleichgewicht, das nicht selten in ein Ungleichgewicht umkippt und zur Ausrottung von Arten führt. Hier kommt das Prinzip »Selbstsein«, gar »Selbstsucht« zum Vorschein, ohne das die Dynamik und Dialektik des kosmischen Geschehens nicht verstanden werden kann und das nochmals offenbart, dass Gott nicht die unmittelbare Naturursache sein kann. Andererseits legt eine tiefere Naturbetrachtung, deren Fundament das geklärte Kausalproblem 173 Vgl. die von mir verfasste, noch nicht veröffentlichte Arbeit »Wesen und Unwesen der Krankheit«.
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Der Sinn von Schmerz, Mühsal, Verletzung, Krankheit, Altern und Tod
ist, nahe, dass schon vormenschlich ein Reifungsprozess im Naturgeschehen stattfindet, der mit einer Selbstbegrenzung und Selbstmäßigung der Seins- und Lebensdynamik verbunden ist. Nur der Mensch scheint sich noch im Stadium einer infantilen und pubertären Selbstüberspannung und egoistischen, Natur und Mensch ausbeutenden Rücksichtslosigkeit zu befinden. Immerhin weist die Menschheitsgeschichte einen wenn auch mit vielen Rückschlägen befrachteten Reifungsprozess, etwa im Bereich des Rechts auf. Anders verhält es sich mit Altern und Tod. Sie kommen nicht nur von außen, sondern sind in das Programm des Lebens miteingebaut. Wozu? Warum? Oft hört man sagen, so z. B. von S. Freud und C. G. Jung, das Ziel des Lebens sei der Tod. Gewiss stimmt es, dass das Individualleben im Tod endet. Ist er darum aber das Ziel des Lebens? Wenn man nicht einem naturalistisch-positivistischen Fehlschluss verfallen will, nämlich von dem Faktum des Endes auf seinen inneren Zweck zu schließen, dann gewiss nicht. Vielmehr dient der Tod dem Leben, und das Ziel des (organischen) Lebens ist das Leben, allerdings nicht das Individualleben, sondern das Gattungsleben. Jedenfalls gilt dies für das vormenschliche Leben. Warum ist das Individualleben jedoch dem Gattungsleben unterworfen? Auch hier kann die Antwort nicht zweifelhaft sein: Nur weil die Individuen altern und vergehen, wird wieder Raum frei für neue, jüngere und darum anpassungsfähigere Individuen einer Gattung bzw. Lebewesenart. Die Überlebenschance einer Art wäre weitaus geringer, wenn sie sich den oft dramatisch und auf Dauer immer wechselnden Umweltverhältnissen nicht anpassen könnte. Anpassen kann sie sich aber nur über ihre Individuen, und da nicht über die alten, sondern über die neugeborenen, noch plastischen Wesen. Im Tierund Pflanzenreich dienen Altern und Tod dem Leben der Gesamtheit bzw. dem Kollektiv einer Art und sind kein Zweck an sich. 174 Dass dies so ist, beweist, dass das Leben vormenschlich nicht auf die höchste Höhe der möglichen Individualisierung gelangt ist: nämlich auf die Höhe der Personalisierung des Lebens. Darum macht es keine
174 C. F. v. Weizsäcker (1954, 94) geht noch weiter und sagt: »Ich glaube, dass auch die Sterblichkeit die Entwicklung beschleunigt […] Das Leben entwickelt sich weiter, weil jedes lebende Wesen auf der Schwelle des Todes steht […]« Vgl. ähnlich J. W. v. Goethe (1966, 45–47: »Die Natur – Fragment aus dem Tiefurter Journal 1783«. In: Goethes Werke, Bd. XIII, Wegner, Hamburg): »[…] und der Tod ist ihr Kunstgriff viel Leben zu haben« (1966, 46).
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Natur und Leiden
Schwierigkeit, ein Individuum für die Art zu opfern, sein Wert steht unter dem der Art. Genau dies ändert sich beim Menschen und bedingt eine neue Dramatik und Tragik des Lebens: Hier erhebt sich das Individuum, weil Person bzw. individual beseelter Leib, auf die gleiche Stufe wie die Gattung. Und dies statuiert einen Konflikt, mehr noch ein Dilemma: Das Individuum, das für das anpassungsfähige Überleben der Art geopfert werden muss, ist nicht mehr der Art unter-, sondern ihr wesentlich gleichgeordnet. Die Folge ist, dass es sich gegen die (selbstverständliche, unkritische) Aufopferung für das Kollektiv – zu Recht – zur Wehr setzt. Wie aber soll sich die Art erneuern, wenn die Alten, was heute zum realen Problem unter den Menschen geworden ist, nicht gehen, sondern endlos oder doch sehr lange bzw., so lang wie möglich, leben wollen? So tragen sie auf der einen Seite nicht mehr genügend zum Bestand der Gattung bei, verbrauchen andererseits ungeheuer viele Ressourcen, etwa für die Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit, Fitness und Jugendlichkeit. Für dieses Dilemma gibt es bislang keine befriedigende Lösung, die m. E. in einer Art Selbstzurücknahme der Alten bestehen müsste, wie sie von anderen Kulturen bekannt ist. Biologisch ist der Tod kein Problem, dient er doch eindeutig dem Leben, seiner Plastizität und seinem Fortbestand. Im Fall des Menschen ändert sich dies, da sich das Individuum zu Recht als etwas Eigenwertiges, gar Höchstwertiges erlebt, in dem der Anspruch auf Unzerstörbarkeit und Unsterblichkeit erwacht. Wie N. Berdjajew 175 tiefsinnig bemerkt, erhält der Tod erst durch den unabweisbaren Anspruch auf Unvergänglichkeit im sterblichen Menschen sein existenziell tragisches Gewicht. Denn nur hier, wo das Individuum auf keine Weise mehr gattungsmäßig kompensiert werden kann, droht der Tod mit letzter Vernichtung und mit letzter Sinnlosigkeit. Wie kann etwas einen nahezu absoluten Wert erhalten und fühlen, zugleich jedoch milliardenfach wie Wassertröpfchen zu nichts verdampft werden? Wie löst sich dieser seltsame Widerspruch? Nicht dadurch, dass der Mensch als reines Naturwesen betrachtet wird. Wäre er das, würde er sich nicht als etwas Letztes und Höchstes empfinden, im Gegenteil würde er individuell als etwas Vorletztes in der Gattung aufgehen, und zwar ohne Widerstand, Hadern und ohne Leid. Die Auflehnung der modernen Existentialisten, vor allem von 175
Vgl. N. Berdjajew (1951, 76).
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Der Sinn der Evolution und des Leidens darin
A. Camus, ist, rein naturalistisch betrachtet, nicht nachvollziehbar, wird aber verständlich, wenn man den doppelten Ursprung des Menschen in den Blick bekommt. Denn insofern der Mensch seelischgeistig direkt als Zweitursache gottentsprungen ist, muss die totale Vernichtung seinem innersten Wesen diametral zuwider sein. Als ein Wesen, das die Kraft der Selbstheit, also der Selbstbestimmung, Selbstgestaltung und Selbstbewegung in sich trägt, kann es sich ohne diese Fähigkeit weder denken noch sein. Als Fähigkeit, aus sich selbst leben und kreativ endlos schaffen zu können, muss sie überendlich und damit unvergänglich sein, was durch die Klärung der Kausalproblematik bereits erhellt und z. B. von Platon im »Phaidon« klar erkannt wurde. Das Ich oder Selbst des Menschen ist demnach unsterblich und muss doch mit dem Leib vergehen. Dieses Dilemma gibt dem menschlichen Tod eine einzigartige Bedeutung, die im Tierreich nicht vorkommt, im Menschen seine geistigen Potenzen weckt und zur vollen Selbstausschöpfung provoziert. Da der Tod im Letzten »widernatürlich« und unhinnehmbar bzw. nur als Übergang hinnehmbar ist, ringt der Mensch mit all seinen Mitteln um die Lösung dieser existenziellen Not. So wurde, nicht von ungefähr, oft bemerkt, dass sich das ganze Kulturschaffen des Menschen dem Tod verdanke. Schon der sumerische König Gilgamesch setzte, nachdem er die Unsterblichkeit verspielt hatte, alles daran, in der Gründung einer Stadt einen »ewigen« Ersatz dafür zu schaffen. Sollte dieses sicher unzulängliche Unterfangen nicht ein genügendes Zeichen für die nicht nur ersehnte, sondern im Letzten tatsächliche Unvergänglichkeit des Menschen als eines Geistgeschöpfes sein? Für das todlose Leben im göttlichen Leben schlechthin? Für das »Sicut eritis deus« (Ihr werdet sein wie Gott)? Dann aber bedeutete die Vergöttlichung der »Stadt«, also des technischen und gesellschaftlichen Kulturschaffens einen tragischen Irrweg, der sich, wie heute weltweit erfahrbar, selbst zerstören muss.
4.17. Der Sinn der Evolution und des Leidens darin; die Unvermeidbarkeit des Leidens in der Evolution Das in den vorigen Kapiteln gezeichnete Bild von Naturordnung und kosmischem Geschehen bietet die Grundlage für ein geistiges Verständnis der physisch-materiellen Wirklichkeit, das von Grund auf 439 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
sinnverbunden und oft sinndurchdrungen ist. Im Gegensatz zu allen materialistischen und naturalistischen Naturtheorien, für die der Kosmos letztlich sinnlos und der sinngerichtete Mensch darin ein Rätsel, gar eine ontologische Monstrosität darstellt, fügt sich nach jener Auffassung der Mensch zwar nicht spannungs- und konfliktfrei, dennoch sinnreich und harmonisch in die Ordnung der Natur ein. Vor allem erweist er sich auf dem Hintergrund der recht gefassten Kausalverhältnisse als eine von vielen geschöpflichen, in der Natur wirksamen Geistkräften, die wirkmächtig am Naturaufbau mitschafft und in seinem Rahmen die bislang letzte Stelle einnimmt. Diese letzte Stelle hat ihren tiefen Sinn, den Sinn der letzt- und höchstmöglichen Individualisierung – der Ichbildung – und damit Sozialisierung – der Du- und Wirbildung. Während das Tier ein bloß mehr oder weniger austauschbares Exemplar seiner Gattung ist, der es radikal untergeordnet ist, steigert sich die Individualisierung im Falle des Menschen zum einzigartigen Punkt, an dem sich das Individuum seiner selbst bewusst wird, sich ergreifen und damit in freier Weise sich entscheiden und sich dem Du öffnen kann: Individuelles Leben wird Person und tritt dem Anderen, der sich jetzt auch als Person offenbart, als Person gegenüber. Selbstbewusstheit, Freiheit, Eigenverantwortung, Würde und lebendig-geistiger Austausch, aber auch Missverständnis, Vereinsamung, Schuld, Scheitern, Scham und Existenzangst werden zu spezifisch menschlichen Größen. Da sich vom Menschen aus die Evolution in der Linie, die zu ihm führt, als zunehmende Komplexierung, Individualisierung, Vergesellschaftung (vor allem durch Sprache), Verinnerlichung, Vergeistigung und Emanzipation von den Umweltbedingungen darstellt, welche Zunahme nicht mit einem Sprung beim Menschen einsetzt, sondern konsequent und Schritt für Schritt in der kosmischen Evolution vorbereitet und realisiert wird, kann der höhere Sinn der Evolution nicht fraglich sein: Es soll letztlich jene Seinsdimension, jener Seinsrang, der den physischen Kosmos in einem langen Prozess hervorbringt und gestaltet, selbst zum Vorschein kommen, die geschöpfliche Geistkraft nämlich, die Zweitursache oder, wie Pico 176 es noch radikaler formulierte, das »Ebenbild der Gottheit«, am Ende gar, wie Pico sagt, die Gottheit selbst in der »sublunaren Welt«, vertreten durch den menschlichen Geist. 176
Vgl. Pico della Mirandola (1996 b).
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Die Inkommensurabilität von Leibleben und Geistleben
Damit ist keineswegs gesagt, dass der Mensch die einzige geistige Wesenheit im ansonsten angeblich toten Kosmos ist, im Gegenteil gehört er gemäß der Kraftspezialisierungstheorie zu einer riesigen Familie von Naturgeistkräften, die ihm vorangegangen ist und in gesetzlicher Form die Natur so geschaffen hat und regelt, dass der Mensch darin auftauchen und wirken kann. Allerdings ist der Menschengeist der einzige Geist, der mit dem materiellen Sein unmittelbar verschmolzen ist und daher im Leib direkt manifest wird, während die anderen Naturgeistkräfte ihren Wirkungsgebilden gegenüber transzendent und verborgen bleiben, nichtsdestotrotz zum Kosmos gehören und ihn »transzendent bevölkern«. Seine unmittelbare physische Anwesenheit offenbart der Menschengeist durch den Aufbau seiner Kulturwelt, die beweist, dass er mehr als nur Physis ist. Der Sinn dieser Kulturwelt wiederum ist, sowohl die kreativen Quellen des Universums als auch die Verbundenheit des kosmischen Geschehens mit den Urmächten und Urwerten des Seins, mit Schöpferkraft, Vernunft, Güte, Achtung, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Mitgefühl, Kooperation und Liebe offenbar zu machen. Da dieser Vorgang von geschöpflichen Wesen, insbesondere vom Menschen getragen wird, die wesenhaft fehlbar sind, werden jene Urwerte nicht mit einem Schlag und in ungetrübter Weise manifest, sondern im Rahmen eines gewaltigen Ringens und Kämpfens, in dem das Wert- und Lebensvolle schmerzvoll herausgeboren werden muss. Konkurrenz, Rivalität, Kampf, Krieg, Disharmonie, Konflikt, Spannung, Ausbeutung, Schaden, Not, Trauer, Verzweiflung, Angst und Schuld werden so zu unumgehbaren Ingredienzien des kosmischen Werdens. Mehr noch fungieren sie direkt als Zeichen und Symptome dafür, dass nicht alles in Ordnung, dass etwas noch unfertig, unvollkommen, fehlerhaft, verbesserungswürdig und entwicklungsfähig ist. Alles Leiden spricht: »Nicht so! Anders!« Oder: »Werdet, die Ihr noch nicht seid!«
4.18. Die Inkommensurabilität von Leibleben und Geistleben: ihre polar-konfliktuöse Lebenseinheit Das Verhältnis von Körper, Leib, Seele und Geistperson wird in der philosophischen Tradition bis heute kontrovers diskutiert und sehr gegensätzlich beantwortet. Die einen versuchen, alles Seelisch-Geistige auf die reine Körperlichkeit, die anderen versuchen, alles Körper441 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
lich-Leibliche auf das Geistige zurückzuführen. Die erste Position nimmt der Materialismus, die zweite der Idealismus ein. Dazwischen gab und gibt es eine dritte, man könnte sagen, organismische oder vitalistische Position, die das Leib-Seelische für eine eigene Dimension ansieht, die nicht auf das physikalisch-chemisch Körperliche reduzierbar ist und auf geheimnisvolle Weise das personal Geistige hervorbringt. Aristoteles unterscheidet den reinen, seelenlosen Körper vom beseelten Leib und diesen wieder von der personalen Geistseele. Er sieht also drei bzw. mindestens zwei eigenständige Schichten, das Leibseelische und das rein Geistige, im Menschen. Von heute aus gesehen, ist man berechtigt zu sagen, dass alle reduktionistischen Erklärungen, obwohl die materialistische in der modernen Neurobiologie wieder ihre Auferstehung feiert, gescheitert sind: 177 Weder ist das Geistige auf den Körper bzw. den animalisch-beseelten Leib, noch der Körper bzw. der animalisch-beseelte Leib auf den personalmenschlichen Geist zurückzuführen. Oder anders: Weder bringt der Körper bzw. der Leib den Geist noch der (menschliche) Geist den Körper bzw. den animalisch-beseelten Leib hervor. Aber wie steht es mit dem beseelten Leib genauer? Offensichtlich ist die Sachlage hier diffizil und kompliziert und verbietet alle Arten der Simplifizierung. Tritt man zunächst rein deskriptiv an die Verhältnisse heran, lässt sich Folgendes sagen: Im menschlichen Dasein gibt es eine unterste körperliche oder physikalisch-chemische Schicht, die (scheinbar) nichts oder wenig Seelisches zum Ausdruck bringt. Darauf baut eine biologische Schicht auf, in der seelische Qualitäten wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Bedürfnis und Instinkt, Sensibilität und Reagibilität, Aufmerksamkeit und Umsicht, Wollen und Verhalten zur Darstellung kommen, beginnend bei den Einzellern und endend beim Primatenorganismus. Hier ist das Leibliche vom seelischen Ausdruck nicht zu trennen, doch erreicht das Seelische nicht die Dimension der geistigen Person, die sich ihrer selbst bewusst wird und frei erwägen und nicht nur nach Kriterien der Selbsterhaltung (Ernähren und Fortpflanzen), sondern um der Wertverwirklichung selbst willen entscheiden kann. Diese geistige Person tritt eigens in Erscheinung, ist also different zur »Leibseele« und ist keineswegs nur durch Rationalität bestimmt, sondern umfasst neben dem Vernunftleben gleichwertig die nicht-sinnlich-geistigen
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Das hat N. Hartmann (1964) bestechend klar herausgearbeitet.
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Die Inkommensurabilität von Leibleben und Geistleben
Formen der Emotionalität (Gefühlsleben) und Volition (Willensleben). 178 Dass bei all diesen Schichten eine Aufbauordnung vorliegt, steht außer Frage, nur ist deskriptiv nicht entscheidbar, wie die Kausalverhältnisse beschaffen sind. Die Tatsache, dass die untere Schicht die frühere ist, heißt keineswegs, dass sie die Ursache für die spätere, auf ihr aufbauende Schicht ist. Auch bei einem Haus sind nicht die Hauswände die Ursache für das Dach, sondern nur eine allerdings wesentliche Vorbedingung – die Ursache für das Dach sind die Architekten und Zimmerleute, ihr Hausentwurf und ihre Ausführungstat. Aufgrund des geklärten Kausalgeschehens wurde klar, dass keine Schicht die Ursache für die andere ist, sondern dass transzendente geschöpfliche Geistwesen ihre physischen Wirkungen im Raumzeitfeld der Materie aufeinander bauen und dabei ihre spezifische Handschrift, ihre »Seele« zum Ausdruck bringen. Das gilt schon, wie gesehen, für die physikalischen Weltgebilde, die für den Menschen nur deshalb »seelenlos« wirken, weil sie ihm so fern stehen, viel ferner jedenfalls als die biologischen Gebilde. Im Grunde verhält es sich hier nicht anders als in der Kunst: Für einen Menschen, der seine Wahrnehmung an Rembrandt und Tizian geschult und gewöhnt hat, wären Bilder von Mondrian und Malewitsch völlig unverständlich und fremd, er würde sie als total »seelenlos« bezeichnen, während ein moderner Betrachter hier widerspricht und bei den ungegenständlichen Malern sehr bestimmte seelisch-geistige Qualitäten erspürt und entdeckt. In Wahrheit gibt es keine seelenlose Physis oder anders: Alles Materielle ist gestaltet und geistig-seelenausdrucksvoll und kann es nicht anders sein, weil es das Wirkergebnis seelisch-geistiger Ursachen ist. Die Unterscheidung seelenloser Körper – animalisch-beseelter Leib – leibhafter Geist ist demnach so nicht haltbar, da das Körperliche nie total seelenlos ist, allerdings das Seelische immer mehr und deutlicher zur Anschauung bringt. Erst im Menschen tritt ein persönlich-individuelles Ich hinzu, das sich mit dem seelenausdrucksvollen tierischen Leib innigst verbindet, doch auf diesen nicht reduzierbar ist. Hier drückt die Materie nicht nur Seelisches aus, sondern wird zum Raum, zum Feld, zum »Haus«, in dem eine »Seele«, sprich eine Zweitursache unmittelbar selbst erscheint und sich ihrer selbst bewusst und habhaft wird. 178
Vgl. diesbezüglich B. v. Brandenstein (1947, 325 ff.).
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Natur und Leiden
Damit erhellt, dass weder der Materialismus noch der Vitalismus noch der Idealismus die Verhältnisse genügend klar, tief und genau erfassen, sondern Wesentliches verkennen oder verzerren. 179 Erst die Kraftspezialisierungstheorie, die in wesentlichen Hinsichten über die Schichten- und Stufentheorie von Aristoteles und N. Hartmann hinausgeht, lässt die Problematik von Dualismus und Monismus hinter sich, da sie erstens die komplexe plurale, immer seelischgeistige Aufbauordnung der materiellen Naturgebilde erschaut und zweitens die Stellung des Menschen als die letzte Kraftordnungsschicht erkennt, in der die Zweitursache nicht nur am drittrangigen Naturgebilde mitwirkt, sondern darin selbst erscheint, indem sie »inkarniert« wird. Weder ist das animalische Leben des Leibes auf den Menschengeist noch der Menschengeist auf das Leben des Leibes zurückzuführen, doch immerhin trägt das animalische Leibleben das volitionalkognitiv-emotionale Geistleben und ermöglicht (und begrenzt!) seine Offenbarung im Leib, während das Geistleben das Leibleben gestaltet und führt. Da der Leib letztlich im dritten Seinsrang des Objektseins steht, was die seelische Ausdrucksqualität nicht nur nicht ausschließt, sondern einschließt, der personale Geist dagegen in den zweiten Seinsrang des geschöpflichen Subjektseins gehört, sind sie wesenhaft inkommensurabel, »unvergleichlich«. Das heißt wiederum nicht, wie R. Descartes meinte, dass sie völlig voneinander getrennt wären oder nichts miteinander zu tun hätten. 180 Im Gegenteil: Wie erkannt, sind alle Gebilde im dritten Seinsrang die Wirkungen der Kräfte im zweiten (und ersten) Seinsrang, jene können ohne diese nicht entstehen und bestehen. Auch der Menschengeist wirkt als Zweitursache im drittrangigen Leib mit, drückt sich in ihm unwillkürlich aus, bewegt ihn, führt ihn, gestaltet ihn, trainiert ihn, zehrt ihn auf und erschöpft ihn usw., doch bringt er ihn nicht ursprünglich hervor, vielmehr übernimmt er ihn so, wie ihn die vormenschlichen Naturgeistkräfte bis dahin gebildet haben, und wird in ihm zur obersten Initiativ- und Leitungsinstanz, allerdings nicht völlig souverän und unabhängig geVgl. N. Hartmanns Kritik (1964, 1. Kapitel). Schon auf phänomenologischer Ebene lassen sich einige analoge Wesenszüge finden, die Leibleben und Geistleben gemeinsam haben, so die Zeit, teilweise der Raum, die Selbstbewegung, die Polarität, die Einheit u. a. m., während das qualitative Moment, also die Willens- und Gefühlsaspekte des Geistes, von den Qualia des Leibes (Hunger, Durst, Wollust etc.) stärker differieren, Erstere sich in den Letzteren allerdings stark ausdrücken. 179 180
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Das Leiden der Tiere
genüber dem Leib, sondern an ihn gebunden und ihm ausgesetzt, im Letzten ihm sogar unterworfen.
4.19. Das Leiden der Tiere Unabhängig davon, ob man Durchschnittsbürger oder Wissenschaftler anspricht, bekommt man auf die Frage, ob Tiere leiden, ein einhelliges Ja als Antwort. Ist es doch offensichtlich, dass Tiere Lust, Schmerz und Angst, Trauer und Freude, Zufriedenheit und Zorn, Ärger, Eifersucht, Neid, Panik und sogar in manchen Fällen Verzweiflung, Scham, Schuld und Seligkeit zu empfinden scheinen. Obgleich der Philosoph diesem intuitiven Eindruck nicht grundsätzlich widerspricht, so muss er dennoch die vertiefende Frage stellen, ob man beim Tier so ohne Weiteres das voraussetzen kann, was zum Leidenkönnen erforderlich ist, nämlich ein subjektiv selbständiges Prinzip, das mit dem identisch ist, was man gemeinhin »Seele« nennt. Und das ist allerdings keineswegs der Fall, zumal die Bestimmung dessen, was »Seele«, Subjektivität, Ich, Person und Geist beim Menschen besagen soll, höchst umstritten ist. Wissenschaftlich korrekt lässt sich darum nur, aber immerhin festsetzen, dass bei den Tieren Akte und Zustände des Leidens mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommen. Was sie wirklich in sich selbst erleben, bleibt, weil sie nicht sprechen können, im Dunkeln. Müssen wir es damit bewenden lassen? Wie früher dargestellt, wird alles Leiden substantiell von Gefühlen, Emotionen und Affekten bestimmt. Ein affektloses Leiden gibt keinen Sinn, es wäre unempfunden, apathisch, innerlich nicht vollzogen und damit nicht mehr leidhaft. Affekte und Emotionen sind, so eng sie mit körperlichen Empfindungen und Funktionen, mit Handlungen und Verhaltungen verbunden sein mögen, etwas Eigenes, nämlich die Fühlungnahme mit sich selbst und dadurch die inniginnerliche Selbstgestaltung bzw. Eigenresonanz eines zum Selbsterleben fähigen Wesens, also eines Subjektes. Sie stellen eine durchaus selbstaktiv-ungegenständliche bzw. inständliche Seite eines Bewusstseinswesens dar, eines Wesens, das sich und Anderes erleben kann, und sind nicht nur leibliche Empfindungen oder Vorstellungen wie Kalt- und Warmqualitäten, wie Brennen und Jucken, Hunger und Durst. Dort, wo sich die Gefühle und Affekte mit Leidenszuständen verbinden, bilden sie eine aufweisbare innere Ordnung, die in meiner 445 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
Phänomenologie des Leidens aufgedeckt wurde. Von der apathischen Leidensabstumpfung über die Leidenshinnahme in Geduld, Trauer, Wehmut, Sorge, Schuld und Ergebung und die defensive bzw. aggressive Leidabwehr in Angst, Furcht, Panik, Erschrecken, Grauen bzw. Ärger, Zorn, Wut, Eifersucht, Missgunst, Hass hin zu den innerlich zerrissenen Leidenszuständen der Verzweiflung, Depression, Scham und Zerknirschung und schließlich bis zu den emotionalen Auflösungszuständen in Panik, Amok und völliger Lähmung formt sich ein Kreis affektiver Leidreaktionen, den die Menschen unmittelbar in sich selbst erleben und der sich in Mensch und Tier ausgedrückt findet. Das ist, biologisch gesehen, nur deshalb möglich, weil sich im Laufe der Evolution die »Außenseite« des Organismus so weit ausdifferenzierte, dass er sein »Inneres« immer besser zeigen kann. Während man bei Amöben, Weichtieren, Fischen, Amphibien und Reptilien nur Angst- und Angriffsbewegungen, etwa in Form von Flucht, Vermeidung und Attacke sieht, sind höhere Säugetiere wie Katze, Hund und Affe in der Lage, handlungsunabhängige Mimik und Gestik zu produzieren, also z. B. Furcht nur expressiv zu zeigen, ohne eigens wegzulaufen. Unabhängig von der Frage, ob ein Tierindividuum über eine eigene Seele verfügt, zwingt die unleugbare Existenz der im Gebaren exprimierten Leidensgefühle zur Annahme eines psychischen, sprich erlebnisfähigen Prinzips, das zu achten ist. Ohne diese Annahme wäre der Affekt- und Leidensausdruck bei den Tieren widersinnig und rätselhaft – ein erlebnismäßiger Ausdruck ohne erlebendes Wesen. Aus vielen Gründen, die ich bereits durchgegangen bin, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass jedes Tierindividuum eine eigene selbständige Psyche besitzt, die dann im Falle des zerschnittenen, aber in zwei Exemplaren weiterlebenden Wurms teilbar wäre, vielmehr spricht vieles dafür, dass die Individuen einer Tierart gleichsam von einer gemeinsamen (in sich stets individualen) Psyche belebt, gestaltet und regiert werden, die nicht unmittelbar im einzelnen Tierorganismus inkarniert ist, sondern »über« den Individuen einer Art steht und diese als ihre lebendigen Werke »betreibt«. Sowohl das allgemeine Kausalitätstheorem als auch das Kraftspezialisierungsprinzip klären und bestätigen diesen Zusammenhang: Tiere sind weder seelenlose Apparate noch einzigartige psychische Individuen, sondern von seelisch-geistigen Kräften, die in sich geistig individual sind, gebildete und ausdrucksvoll gestaltete Organismen als relativ uniforme Artoder Gattungsexemplare. Da die Naturgeistkräfte, die als solche per446 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden der Tiere
sonaler Natur sind, gleichsam »hinter« ihren Werken stehen und nicht unmittelbar darin leben, können sie zwar »Leid« zum Ausdruck bringen, doch nicht unmittelbar selbst Leid erfahren, jedenfalls nicht in der Weise, wie dies dem Menschen eigentümlich ist, der, insofern er als Erlebniswesen leibhaft ist, jede physische Affliktion direkt leidhaft erfährt. Immerhin ist vorstellbar, dass die Naturgeistkräfte, wenn ihre Werke – die Organismen – Schaden erleiden, seelisch mitleiden, etwa so wie ein Künstler leidet, der Zeuge der Beschädigung seiner Kunstwerke wird. Daher gewiss der keineswegs seltene tieftraurige Ausdruck in den Augen mancher Tiere, vor allem wenn sie vom Menschen entwürdigt oder gefangen gehalten werden. 181 Ansonsten scheint das Leiden oder besser der Leidensausdruck in der Natur eher von funktionalen und kommunikativen Rücksichten bestimmt und weniger individualer Selbstausdruck zu sein wie im Falle des Menschen. Hier erst wird das Leiden ganz selbsthaft und innerlich, und es kann und muss dies werden, weil im Menschenleib unmittelbar eine einzigartige Ichseele anwest. Auf die Frage, ob Tiere leiden, muss also differenziert mit Ja und Nein geantwortet werden. Was ist auf diesem Hintergrund der Sinn der offensichtlichen Zunahme der Fähigkeit zu leiden und Leid zum Ausdruck zu bringen in der Evolution auf der Linie zum Menschen? Wie schon erwähnt, um offenbar zu machen, dass »hinter« der Natur seelisch-geistige Prinzipien, und zwar nicht Gott, sondern geschöpfliche und damit leidensfähige Geistwesen leben und wirken, die sich in ihren Schaffungen darstellen, mitteilen und realisieren, dabei auch behindert, bekämpft und in ihren Schaffungen beschädigt werden. Hätte Gott die Natur direkt hervorgebracht, wäre, da Gott nicht leiden, nicht gegen sich selbst kämpfen und sich beschädigen kann, aller Leidensausdruck unangemessen und absurd. Das Leiden in der Natur beweist darum nicht nur die Existenz einer Pluralität von geistigen Wirkprinzipien, sondern auch ihre Agonalität und dynamische Gegensätzlichkeit im kosmischen Geschehen. Somit ist die Natur keine einfache Einheit, wie dies von 181 Siehe P. Lippert S.J. (1940), der in seinem wichtigen Buch das rechte Verhältnis des Menschen, zumal des Christen zum Tier darlegt: »Das schmerzlichste Rätsel sind mir die traurigen Augen der Tiere.« Offenbart sich hier nicht, dass die Tiere an ihrem tiefsten Grunde »seinsberuhigt« sind, also gleichsam ihren inneren Frieden gefunden haben und ganz, gemäß ihrer Seinsstufe, mit dem Göttlichen verbunden sind? Aus solcher Einheit durch die menschliche Gewalt herausgerissen, können sie nur ihre tiefste Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen.
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Natur und Leiden
romantischen Denkern gern gesehen wurde, sondern eine dynamisch-polare Vieleinheit, die sich, ohne Hinweise auf eine allumfassende Weltseele, immer wieder um neue Wirkorte zentriert. In Bezug auf den Menschen lehrt das Leiden in der Natur mehr als irgendetwas anderes, dass der Mensch nicht aus dem Gesamtrahmen der Natur herausfällt, im Gegenteil konsequent in sie hineingehört und ihre stärkste Dynamik, nämlich das subjektive Prinzip zur vollsten Manifestation zu bringen, am klarsten realisiert. 182 Die Tiere, zumal die höheren und höchsten, präludieren das Leiden und bilden die organismisch-ausdruckshaften Grundlagen dafür, dass der Mensch diese schmerzlich-tragische Aufgabe übernimmt und erfüllt: nämlich Leidensgeschöpf zu sein und damit im Letzten offenbar zu machen, was es heißt, nicht göttlichen, sondern kontingenten, nichtshaften, mehr noch von Gott abgefallenen Seins zu sein. Alles Leid ist, schon in der Natur, wie Paulus 183 und Buddha 184 trefflich formulieren, Mangel am Sein schlechthin und als solcher Mangel der sehnsüchtige Schrei nach dem Vollsein, das nur im Ursein Gottes bzw. des Nirwanas erreicht werden kann. Diesen Sehnsuchtsschrei, der für feine Ohren hörbar durch das gesamte Weltall hallt, bringt der Mensch zur Sprache und macht so seinen tiefsten Sinn offenbar. Schöpft am Ende die Sprachentstehung aus dieser Leidensspannung und ist ihr Kind? Alle Theodizee ist Sinngebung des Leids, und diese Sinngebung können die Tiere nur anbahnen, aber nicht vollziehen und erfüllen: Das kann erst der Mensch, und er soll und muss es auch, will er in der Welt und vor sich selbst bestehen. So betrachtet, hat der Mensch sogar die Pflicht, Schirmherr der Schöpfung und Hüter der Tier- und Pflanzenwelt zu sein. 185 Das Fressen und Gefressenwerden in der Natur, das oft so grausam anmutet, kann nur auf dem Hintergrund der Annahme pluraler Wirkprinzipien, also einer Vielheit von »Selbsten« verstanden werden. 186 Diese »Selbste« haben ihre Entwicklung durchgemacht, in de182 Dem entspricht physiologisch, dass kein Tier so viele und so bewegliche (!) Gesichtsmuskeln besitzt wie der Mensch. 183 Vgl. Paulus, Neues Testament, Römerbrief 8, 18–30. 184 Vgl. Buddha (1998). 185 Vgl. L. Ruland (1933), der, wie selten jemand, die Not der Tiere sieht und wertvolle Richtlinien für die Verbesserung der beklagenswerten Missstände gibt. 186 Selbst das parasitäre Verhalten der Schlupfweste (Ichneumonida), das für M. Brod (1947) so »monströs maligne« erschien, dass eine Theodizee äußerst erforderlich wurde, darf nicht moralisch beurteilt werden. Wie man heute weiß, hat dieses Parasiten-
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Der Mensch als natürlich-übernatürlicher Abschluss der Evolution
ren Rahmen sie von selbstischen zu weitsichtig-maßvollen Geistkräften reiften. Vordergründig mag das Fressen und Gefressenwerden als reine selbstsüchtige Destruktion erscheinen, eine genauere und tiefere Betrachtung zeigt jedoch, dass sowohl die Beutetiere in der Natur mit dem Gefressenwerden rechnen und sich darauf eingestellt haben, etwa dadurch, dass sie sich entsprechend schützen und vermehren, als auch die Raubtiere ihr Maß einhalten und nur soviel rauben, wie sie zum Überleben brauchen, worin eine gereifte Harmonisierung des Daseinskampfes zum Ausdruck kommt. In Wahrheit ist das Fressen und Gefressenwerden in der Natur im Großen und Ganzen zu einem ausgewogenen Geben und Nehmen geworden, und derjenige, der gibt (tiefer betrachtet, sich hingibt) und aus der Evolution ausscheidet, opfert sich um eines größeren Ganzen willen, welches das Leben und die Evolution insgesamt ist. Daher ist die gnostische, auch von A. Platinga geteilte Auffassung, wonach das Zerstörerische in der Natur das Wirken gefallener Engel oder eines Widergottes sei, verfehlt. Ohne Zerstörung gäbe es kein Leben und vor allem kein Weitergehen und Weitergeben des Lebens. Die vormenschliche Natur erweist sich vor dem tieferen Blick als durchgereift, geläutert, in ihren Geistprinzipien vielleicht sogar schon gottvereinigt, während sich die Menschenwelt noch auf dem Wege befindet und kaum das Stadium des pubertären Halbstarken erreicht hat. Die volle Naturversöhnung, die des Fressens und Gefressenwerdens überhoben ist, kann jedoch nur in Gott gelingen, unter einem neuen Himmel und auf einer neuen Erde.
4.20. Der Mensch als natürlich-übernatürlicher Abschluss der Evolution; die Lehre vom »großen Menschen« (homo maximus) Wenn es stimmt, dass im Menschen der zweite Seinsrang direkt als personales Individuum, als geistiges Subjekt auftritt, dann ist in dieser Hinsicht und an diesem Punkt keine weitere Steigerung der Individualisierung mehr denkbar. Mehr, als dass in einem Leib ein Ich tum für das Gleichgewicht in der Natur eine bedeutende Funktion. Wenn es diesen Tieren gelingt, z. B. eine Spinne dahin zu bringen, abweichend von ihrem eigenen Instinkt, ein solches Fadenmuster zu weben, das einen Kokon erzeugt, der als Bruthöhle für ihre Nachkommen dient, dann offenbart sich darin eine gewaltige, wenn auch nicht göttliche Intelligenz, die »nur« optimale Bedingungen für das Überleben der eigenen Art nutzt.
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Natur und Leiden
erscheint, ist nicht möglich. Möglich ist allerdings, dass sich dieses Ich in diesem seinem Leib immer mehr konturiert und individualisiert, dass es immer »selbsthafter« wird und z. B. aus seiner unbewussten Einbindung in Bios und Sippe heraustritt. Genau dies geschieht im Verlauf der Menschheitsgeschichte: Die menschlichen Individuen werden immer »eigener«, oft sogar so sehr, dass sie in einen naturund gemeinschaftsfeindlichen Egoismus verfallen. Gerade diese Exzesse beweisen, dass die biologische Evolution eine Grenze erreicht hat, die nicht mehr wesentlich hinausgeschoben werden kann. Dafür tritt eine neue evolutionäre Dimension auf den Plan: die kulturellgeistige Evolution. Da sie sich nicht im Rahmen der endlich-vergänglichen Physis, sondern im Felde des potentialunendlichen Geistes vollzieht, ist sie unabschließbar. Solange der Mensch auf der Erde physisch bestehen kann, solange wird er – ob konstruktiv, ob destruktiv – kulturell-geistig schöpferisch sein. Der Grund ist klar: Da das Ich (einschließlich des Du und Wir) ein wesentlich übernatürlicher Faktor ist, kann es sich in der Natur nicht ausschöpfen. Auch beweist die gesamte geistig-kulturelle Dynamik, die zweifellos aufs Ganze und ins Unendliche geht, so z. B. in der Mathematik, in der Physik, in der Astronomie, aber auch in Kunst und Sprache, dass hier kein Ende absehbar ist. Was aber ist dann der neue Sinn der Evolution? Hier geben die Religionen die beste Antwort: Da das Ziel des Menschen die Gottheit ist, also der erste Seinsrang, geht es seit seiner Bewusstwerdung in der Evolution um nichts weniger als um seine möglichste Ver- oder doch wenigstens Durchgöttlichung. In gewissem Sinne soll nicht nur der zweite Seinsrang der Geistgeschöpfe im dritten Seinsrang der durchgeistigten Materie, sondern der erste Seinsrang der Gottheit im vergänglichen Naturgeschehen offenbar werden. Alle Gottkönige in der Menschheitsgeschichte, vom Pharao bis zum chinesischen Kaiser, von Prometheus, Faust bis zu Nietzsches Zarathustra, besonders aber die Epiphanie des Gottmenschen Jesus sind Symbol und Realität dieses Strebens und dieser Dynamik. Gott selbst will in seiner Welt anschaulich werden, auch wenn sie ihn zunächst nicht erkennt und ablehnt. 187 An diesem Punkte findet die mystische Lehre E. Swedenborgs ihren direkten Anschluss, übersichtlich dargestellt in der Swedenborgbiografie von E. Benz. 188 Dieser Lehre zufolge, die auf direkten 187 188
Vgl. B. v. Brandenstein (1984, 126–148: »Das Problem des Gottmenschen«). Vgl. E. Benz (2004, IV.2. Metaphysik des Lebens, 380–402).
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Der Mensch als natürlich-übernatürlicher Abschluss der Evolution
Schauungen beruhen soll, ist der Mensch in seiner mikrokosmischen Komplexität das Urbild und das Ziel des gesamten kosmischen Lebens, und zwar nicht nur in Bezug auf die physische, sondern auch in Bezug auf die geistige, übersinnliche und sogar die himmlische Welt. Gott, der Quell allen Lebens, der in seiner Unendlichkeit gestaltlos und unfassbar ist, will sich in aller Kreatur offenbaren und schafft dafür ein nicht zu überbietendes »Ebenbild«, das wie ein lebendiger Spiegel alle Seinsränge, Seinsaspekte und Seinsstufen in fassbarer Gestalt integriert, vom einfachsten Atom bis zum reinen Geist: das ist der Mensch, der in seinem Leib alle kosmischen Gestaltungen zusammenfasst und in seinem personalen Ich die persönliche Geistigkeit Gottes, sein »Ur-Ich« mit Wille (Schöpfer), Verstand (Logos) und Gefühl (Liebe) widerspiegelt. Da dieser »Entwurf« nicht nur am Ende, sondern auch am Anfang der Schöpfung steht, dort erst nur als »Idee« im Geiste Gottes, lebt in jedem Ding, auch im Atom, in einem Einzeller, in einer Pflanze, im Tier der Drang über sich hinaus, letztlich hin zum Menschen, ja zum Gottmenschen. Gott will nicht nur Geist, er will auch Leib sein, und er wird dies im Menschen, vor allem im Gottmenschen. Dies wird nicht nur nach E. Swedenborg, sondern auch nach Paulus (2. Korintherbrief und Christus-Hymnus in Kolosser 1, 12–20) und Hildegard v. Bingen den Punkt »Omega« erreichen, wo die gesamte kosmische Welt leibhafte Gestalt annimmt und in mystischer Weise zum Menschenleib geordnet wird, zum Leib des Gottmenschen Christi, des »kosmischen Christus,« in dem die Gottheit in lebendiger Gestalt zur Anschauung gelangt. 189 Das ist durchaus nicht nur allegorisch, sondern real gemeint, obgleich das Vorstellungsvermögen bei dem Versuch versagt, die Myriaden Wesen und Naturgebilde als den kosmischen Leib des »homo maximus« bzw. des kosmischen Gottmenschen zu denken. Der Sinn dieses ganzen Seinsbildes ist klar: Wenn es Gott gibt, und wenn er schöpferisch dadurch tätig werden will, dass er endliche bzw. potentialunendliche Wesen erschafft, dann kann er nur solche Wesen bilden wollen, die das Höchstmögliche des göttlichen Lebens »abbilden« bzw. durchscheinen lassen, und das ist nach der Lehre von Paulus, Hildegard
189 Siehe W. Thiede (2001). Eine literarische Umsetzung der Idee des Adam Kadmon, der sich mit allen Schichten und Stufen des Seins vereinigt und dadurch zum Homo maximus wird, bietet H. Broch in seinem Roman »Der Tod des Vergil« im vierten Gesang: Äther – Heimkehr.
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Natur und Leiden
v. Bingen und E. Swedenborg der »große Mensch«, der homo maximus, der kosmische Adam, der nach christlicher Lehre in Jesus Christus seinen konkreten irdischen Vorläufer hat und im kosmischen Christus, in dessen Leib alle Wesen des Kosmos ihren Platz und ihre letzte Gemeinschaft finden, seine Vollendung, seine Ver- und Durchgöttlichung erfahren wird. Dann ist Gott, der an sich Unerfahrbare, das lebendig-anschauliche Alles in Allem: Hen Kai Pan.
4.21. Noch einmal Hiob und sein Scheitern an der kosmologischen Frage Am Ende dieses Abschnittes fällt ein doppeltes Licht auf die Hiobgeschichte. Auf der einen Seite wird eine Grenze deutlich, die im ungeklärten Weltbild der jüdischen Antike gründet; auf der anderen Seite eine Möglichkeit, die in diesem Mythos eigenartigerweise nicht genutzt wird. Zweifellos zeigt sich hier ein einseitiges und nicht genügend differenziertes Gottesbild: Vor allem am Ende der Erzählung tritt Gott als erdrückend autoritäre, zum Teil willkürliche, zum Teil deterministische Naturmacht auf, d. h. weder als Gott der Wahrheit, Kommunikation und Weisheit noch als Gott der Liebe, und fordert, ohne jede Begründung und Vermittlung von Einsicht, sondern erzwungen durch seine pure kosmische Wirkungsmacht, bedingungslose Unterwerfung. Dabei wird Gott selbst als unmittelbare Ursache der Natur gezeichnet, was – fatalerweise – beinhaltet, dass er, abgesehen von den Übeln, die Satan verursacht, auch die unmittelbare Ursache aller Weltübel ist. Der geschöpfliche Charakter des Kosmos wird weitgehend unterschlagen, ihr nichtgöttlich-zeitliches Wesen verkannt. Das verwundert umso mehr, als der Anfang des Buches Hiob, wo eine nichtgöttlich-geschöpfliche Wirkmacht eingeführt wird, die für die Dramatik der Geschichte von entscheidender Bedeutung ist, etwas ganz Anderes nahelegt, nämlich die Existenz nichtgöttlicher Mächte, hier in Gestalt des Satans. So rätselhaft diese Gestalt ist, so klar ist, dass nicht Gott die Übel und das Leid schafft, sondern dieser seltsame »Gottessohn«, und dass Gott die Zulassung dieses Übeltuns einer »Himmelsmacht« mit einem bestimmten und durchaus positiven, also sowohl vernünftigen als auch »gerechten« Sinn verbindet, der in der Frage zum Ausdruck kommt, ob Hiob seinem Herrn und Schöpfer auch in Not und Leid treu bleiben kann? Ja er bleibt, und deshalb hätte er es auch verdient, am Ende seines Lei452 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Noch einmal Hiob und sein Scheitern an der kosmologischen Frage
dens über die realen Hintergründe dieser Prüfung aufgeklärt und von Ohnmacht, Erniedrigung und Scham befreit zu werden. 190 Warum aber prüft Gott seinen Knecht Hiob? Aus grausamer Lust? Aus willkürlicher Spiellaune? Wohl nicht. Vielmehr will Gott die tiefsten und meist unbewussten Einstellungsschichten Hiobs erwecken, jenes »Selbst«, das nicht in guten und angenehmen Zeiten zum Vorschein kommt, sondern dann, wenn ein Mensch mit seiner Endlichkeit ringen, sie gleichsam in seine Tiefe hinein aufbrechen muss. Das Beste im Menschen ist, wie schon bei Abraham, der absolute Gottgehorsam im absoluten Gottvertrauen, also genau das, was Adam und Eva nicht mehr aufzubringen vermochten. Die gesamte jüdische Geistes- und Realgeschichte lässt sich daher nicht von ungefähr als Versuch lesen, das Versagen der Ureltern wiedergutzumachen, um zu beweisen, dass es anders geht und darum hätte für Adam und Eva anders gehen können, wenn sie besonnener, folgsamer und willensstärker gewesen wären. Nicht Gott also schafft die Übel, aber er ermöglicht sie, lässt sie zu und nutzt sie zu höheren Zwecken. 191 Hiobs Tragödie ist, jüdisch betrachtet, nur auf dem Hintergrund des Sündenfalls, der Existenz von nichtgöttlich-kosmischen Geistmächten und von Gottes Erziehungs- und Heilwirken zu verstehen. Darüber hinaus kommt der besondere, eben schichtenartige Aufbau des Kosmos in Betracht, der zwar in Genesis 1 genial erahnt ist, aber von der späteren Geistesund Religionsgeschichte nicht genügend ausgeschöpft wurde – nämlich der Aufbau der Welt mittels der zunehmenden Kraftspezialisierung, die bedingt, dass der Kosmos eine komplexe, durchaus prekäre und keine direkt-göttlich-vollkommene Einheit ist. Ein Erdbeben ist keine direkte Wirkung Gottes und keine göttliche Strafaktion, wie G. W. Leibniz und I. Kant meinen, sondern die natürliche Folge des spezifischen Weltaufbaues, in dem nicht alles prästabiliert, harmo190 Es ist darum rätselhaft, warum Hiob selbst nicht daraufkommt, dass er geprüft wird, zumal solches Geschehen vielen seiner Vorgänger, etwa Adam und Eva, Abraham, dem Moses, den Propheten usw. widerfahren ist. Mit dieser Deutung hätte sein Leiden eine andere Gestalt angenommen und wäre nicht in verzweifeltes und wütendes Aufbegehren verfallen. 191 Vor Einführung der Impfung 1963 verstarben jährlich 2,6 Millionen Menschen an Masern, vor allem Kinder. Wäre Gott die alleinige und direkte Ursache der Schöpfung, müsste man an seiner Fähigkeit und Weisheit zweifeln, die Schöpfung sinnvoll, gut und stimmig einzurichten. Da dies nicht angeht, kann er nicht die einzige und direkte Ursache der empirischen Naturprozesse und -gebilde sein.
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Natur und Leiden
nisch und ausgewogen-abgestimmt, sondern vieles – gewiss nicht alles – disparat, unabgestimmt und ungewollt destruktiv ist. So gesehen, tragen die Naturgesetze ein doppeltes Gesicht: Ohne ihre feste Geltung wären menschliche Freiheit und menschliches Schaffen unmöglich, doch mit ihnen sind die Menschen unberechenbaren und unabwendbaren Gefahren ausgesetzt. Letztlich liegt dies an der nur »endlichen« Freiheit der Naturgeistkräfte, die einfach ihr Werk tun und dies aufgrund ihrer begrenzten Weitsicht nicht unter Einbeziehung der lang nach ihnen auftretenden menschlichen Existenz tun können. Wohl hätte Gott ihnen diese »bis ans Ende sehende« Weitsicht schenken können, doch hätte er dann ihre Freiheit, damit ihre Selbstfindung, ihr Suchen und Experimentieren empfindlich einschränken und manipulieren müssen. Da er ihnen die auch von Unwissenheit bestimmte Freiheit lässt, musste eine Welt entstehen, deren spätere Entwicklungsphasen mit den früheren nicht vollkommen abgestimmt werden konnten. 192 Weil der Mensch genau in diese spätere, auf ihn nur partiell abgestimmte Phase eintritt, ist er zwangsläufig so manchen abträglichen Naturereignissen ausgesetzt und muss sich seine Welt erst passend machen. Hier deutet der Hiobbericht das Naturgeschehen zu theistisch und zu moralisch, außerdem zu sehr eingeengt auf ein patriarchalisch-autoritäres Gottesbild und muss korrigiert und ergänzt werden.
4.22. Theodizee dritter Teil Die moderne Theologie folgt nicht mehr der augustinischen Geschichtstheologie und ihrer Auffassung des Sündenfalles als eines realen Ereignisses und der Vertreibung aus dem Paradies als einer göttlichen Strafaktion. Die »Erbsünde« interpretiert sie entsprechend als Disposition aller Menschen zum Bösen (»Erbhang zur Sünde«, »universale Sündenverfallenheit«), die letztlich im Ichsein selbst wurzelt, das aufgrund seiner Bedürfnisstruktur sowohl Neigungen zur sozialen Rücksicht als auch Neigungen zur Selbstsucht aufweist, doch als solche noch nicht böse, höchstens potentiell böse ist. 193 Die Inklination zum rücksichtslosen Egozentrismus, die unstrittig vor192 Selbstverständlich sieht Gott diese Unabgestimmtheit voraus, lässt sie zu und arbeitet mit ihr. 193 Vgl. A. Kreiner (2005, 227 ff.).
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Theodizee dritter Teil
handen ist und sich wohl in jedem Menschenleben zeigt, bedeutet daher keineswegs einen zwangsmäßigen Übergang zur Verfehlung, da Wille und sittliche Vernunft durchaus selbständig Stellung zu triebhaften und affektiven Motiven nehmen, eingreifen und gewisse fragwürdige Neigungen, Affekte und Bedürfnisse hemmen, aufschieben, also steuern und modifizieren können, wenn auch nicht zu jeder Zeit, z. B. in der Kindheit, und nicht in jeder Situation, z. B. bei Krankheit oder unter Einfluss von Drogen. Obschon diese Sicht in Bezug auf den irdisch-leiblichen Menschen richtig ist und den unhaltbaren klassischen Erbsündebegriff so uminterpretiert, dass er logisch und ethisch konsistent wird, so bleibt sie doch die Antwort auf die Frage schuldig, wie es zur Verleiblichung des personalen Geistes, des Ich, der Person und damit zur »Erblast« der vergänglich-irdischen, von Triebkräften bedrängten und von Welteinwirkungen gefährdeten Existenz kam. Im Grunde neigt hier auch die moderne Theologie einem naturalistischen Menschenbild zu, das die Entstehung des Menschen allein »von unten« aus den biologischen Bedingungen ableitet. Nur fragt sich, ob nicht auch, wenn der Sündenfall für unbrauchbar oder sogar unmöglich erklärt wird, der Schöpfergedanke fällt, so dass der Mensch als personales Geistwesen nicht mehr als unmittelbare Schaffung Gottes gesehen wird? Leiblich ist der Mensch zwar ein Sprößling der Natur – aber ist er es auch seelisch-geistig, als Person, als selbständig wirkendes, partiell freies Subjekt? Nach dem recht gefassten Kausalprinzip ist der Mensch, wie gesehen, monistisch nicht bestimmbar, sondern wird trotz seiner innigen leibseelischen Einheit durch eine fundamentale Zweiheit gekennzeichnet: als animalisch beseeltes Leibwesen ist er (auch) Natur, als volitional-kognitiv-emotionales Geist-Personwesen ist er Gottes unmittelbares Geschöpf. Ist er aber Gottes direktes, unmittelbares Geschöpf, besteht die Möglichkeit, dass er ursprünglich bei ihm beheimatet war und erst durch eine außerordentliche Abkehr und Entfremdung in die Gottferne geriet. Diese Gottferne, die bei den Ureltern eine direkte Folge ihres Vergehens (und, wie schon Plotin vermutet, ihres Begehrens, in die materiell-sinnliche Welt einzutauchen) und keine Straffolge, sondern eine Gewährung war, diese Gottferne wurde zusammen mit der Verleiblichung und Verweltlichung des Menschen zur Erblast für alle kommenden Menschen. Nicht die Erstsünde wurde vererbt, was unmöglich ist, sondern die metaphysische Anschlagbarkeit, der »Hang zur Sünde« und die Folgen desselben, also die Inkarnation und damit die Weltpreisgegebenheit 455 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
wurden den kommenden Generationen auferlegt. Daher ist ein Neugeborenes sündenfrei, unschuldig, keineswegs irgendwie böse oder verderbt, wie Augustinus, M. Luther und I. Kant meinen. Doch da andererseits seine Existenz – nicht mehr unmittelbar in Gottes Leben geborgen – im Leib beginnt, ist es sowohl seiner inneren Bedürfniswelt als auch den äußeren, sehr prekären Umwelteinflüssen ausgesetzt, durch die es zu selbstischem und destruktivem Verhalten gedrängt werden kann. 194 Als der Menschengeist dagegen noch bei Gott lebte, war er einerseits frei von leiblichen Bedrängnissen, und andererseits besaßen seine seelisch-geistigen Bedürfnisse in der Gottnähe ihre Erfüllung oder doch einen wirksamen Schutz. Seit seine Existenz im Leibe beginnt, muss er dagegen schutzlos mit seinen leiblichen Bedürfnissen, mit seinen seelischen Antrieben und Neigungen, also auch mit seiner Tendenz zu Angst, Gier, Selbstsucht, Egoismus und Rücksichtslosigkeit, und muss er mit den Herausforderungen und Anfeindungen der Außenwelt selbständig und letztlich allein fertig werden. Wie die Geschichte des Individuums und der Menschheit beweist, liegt darin zwar eine ungeheure Chance der Freiheit zur Selbst- und Weltgestaltung, aber im Grunde erwies sich der Mensch damit als überfordert, genauer, selbstüberfordert. Darum scheitert er immer wieder an seiner »gottbefreit-gottfernen«, weil bald gottlos werdenden Freiheit und missbraucht sie. Auf diese Weise offenbart sich der Sinn des Scheiterns: Gegen die Urwerte des Lebens kann sich keine Freiheit auf Dauer positiv realisieren, im Gegenteil unterhöhlt sie sich selbst; sie muss sich binden, anders verliert sie sich. Aus jüdisch-christlicher Sicht fand demnach vor Beginn der irdischen Geschichte der Menschheit mit dem Sündenfall eine dramatische Änderung der »situation humaine« statt, die sich als grundlegender Wandel sowohl der menschlichen Bedürfnisstruktur als auch des menschlichen Weltbezuges manifestiert. Was bei Gott nur Möglichkeit war, die Gottferne und damit die entgleisende Selbstsucht, wird jetzt zur bedrängenden Neigung, die das Subjekt unter Mühen und (häufigem Versagen) beherrschen, mäßigen und regulie-
194 Allerdings nicht muss! Wäre nämlich die soziale Umwelt seelisch-geistig ausgereift und könnte in der Erziehung konsequent die Prinzipien der Rücksichtnahme, Einfühlung, Wertschätzung usw. und damit letztlich das Prinzip: »Ich bin Du« zur Geltung bringen, würden sich wohl nur sehr wenige Menschen destruktiv und inhuman verhalten.
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Theodizee dritter Teil
ren soll. Der Sinn dieses Wandels ist, wie gesehen, ein doppelter: negativ, insofern ein Leben ohne Gott bzw. außerhalb von ihm dem Kampf, der Not, dem Leid und dem Scheitern, letztlich der Nichtigung ausgesetzt ist; positiv, insofern dem Menschen genau durch diese »Gottlosigkeit« eine Freiheit und Weltmacht zuwächst, die es ihm ermöglicht, die vormenschlich-apersonale Welt der reinen Naturdinge zu versubjektivieren, zu vergeistigen und zum verinnerlichten personalen Sein zu erheben und so, grenzenlos bereichert und vertieft, zu Gott und damit zum Vollsein zurückzubringen. Als dritter Sinn mag dann noch die Sühnung, sprich die Wiedergutmachung der Urverfehlung hinzutreten. Da diese Welt das Werk endlicher, aber sehr dynamischer transzendenter Geistgeschöpfe ist, ist sie auch der Kampf-, Experimentierund Schaffensplatz pluraler, teils agonistischer, teils antagonistischer Intentionen, Entwürfe und Interessen. Zwar gibt Gott diesen Geistursachen, die die Natur aufbauen, sowohl ihre zeitliche Stelle als auch ihre spezifische Schaffenseigenart vor, darin sind sie also unfrei, aber dann lässt er sie frei wirken und maßregelt sie nicht. Denn er will, dass sie ihre Freiheit selbst entfalten, darin sich selbst erkennen und eigenverantwortlich für sich eintreten. Entsprechend entfaltet sich der Kosmos als ein gewaltiges Drama, das Gott wohl trägt und dem er den Rahmen setzt, das er aber nicht ständig korrigiert und manipuliert. Wie schon die vormenschliche Evolution beweist, lebt sich die Freiheit der kreatürlichen Phantasie zuweilen in absurden und überdrehten Formen aus, die wenig überlebensfähig sind und bald wieder verschwinden. Was Gott hier zulässt, lässt er auch in der Menschenwelt zu: Das Geschenk der kreativen Freiheit wird gleichsam vorbehaltlos gegeben und nicht ständig gemaßregelt, was der Fall sein müsste, wenn Gott alle vom Menschen drohenden Übel verhindern wollte. Auch ist es unmöglich, eine Grenze anzugeben, ab der Gott eingreifen sollte: Sollte Gott Auschwitz verhindern oder schon den ersten Weltkrieg oder eine Naturkatastrophe oder eine Misshandlung oder eine Demütigung oder einen Unfall oder ein Missverständnis oder eine »harmlose« Dummheit? Um es einmal auf die Spitze zu treiben, ist festzustellen, dass Gott auch A. Hitler ins Leben gerufen und damit den Nationalsozialismus nicht nur zugelassen, sondern ermöglicht, ja auf dem Hintergrund seines Gesamtwissens des Alls und der Funktion des Bösen darin sogar gewollt hat. Zwar hätte er eine ganz andere Welt schaffen können, eine solche, in der es keine Naturkatastrophen, keinen Weltkrieg, kein Auschwitz gibt und in der nur 457 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Natur und Leiden
Menschen leben, die sich überall und zu jeder Zeit rücksichtsvoll behandeln. Doch offensichtlich geht es ihm nicht darum, sondern um etwas Anderes, kurz gesagt, nicht um eine Güte, die einfach da und fertig ist, sondern um eine Güte, die gegen schwerste Widerstände und Verluste erkämpft werden muss, die sich läutert, die reift, die für Höheres Hohes opfert – und die vor allem in die überendlichen Tiefen des geschöpflichen Geistes hinabdringt, alles Endliche und Vorläufige übersteigt und am Grund der eigenen abgrundtiefen Seele den Platz bereitet für die Vereinigung mit Gott. 195 Dass dies nur möglich ist, wenn Gott seinen Geistgeschöpfen das Äußerste an Freiheit (und Freiheitsmissbrauch, also an Grausamkeit) zutraut und zumutet, wenn er die endlichen Freiheiten antagonistisch aneinander sich abarbeiten lässt bis hin zu schwersten Opfern und Leiden, das ist zwar für den Menschen bitter, rätselhaft und oftmals unerträglich, doch vor dem Hintergrund der hier gezeichneten Ordnung und Dynamik des Kosmos sinnhaft und nicht selten sinnvoll. Es geht auf dieser Erde nicht um Wohlleben und dauerhaftes Glück, sondern um die Erkenntnis der Tragödie des Gottverlustes, ihres Zustandekommens, ihres Sinnes und um die Mitarbeit an der Aufhebung dieser Fundamental-Entfremdung. Die entfesselte und weitgehend entgleiste Freiheit des Menschen, mit der offenbar wird, was an Ungeheuerlichkeiten im Abgrund des Menschseins schlummert, wird nur menschlich im besten Sinne, wenn sie sich frei an Gott und seine ethischen, logischen und sonstigen Gesetze bindet, also gerade den Anspruch auf eine angemaßte totale Freiheit aus freien Stücken aufgibt. Damit wird das Hauptübel des Sündenfalls, die angemaßte absolute Autonomie der Kreatur, die Irrtum, Selbsttäuschung und Illusion ist, korrigiert und rückgängig gemacht, und eben das ist ein Sinn der Weltgeschichte, von dessen Realisierung die Menschheit noch weit entfernt ist. Die Naturkatastrophen, die so viele unschuldige Menschenopfer kosten, sind dagegen weder das Werk Gottes noch ein Strafgericht noch purer Zufall noch Ausdruck eines Übelwollens der Naturgeistkräfte, wie es manche nichtchristliche und christliche Gnostiker lehren, sondern sie sind ein natürliches Phänomen, das zur dramatischen Dynamik des Kosmos gehört und von den Menschen als unvermeid195 Und höher als das »irdische Leben« scheint für Gott jenes Leben zu sein, das sich zu Ihm als dem Urquell des Lebens bekennt, bei Ihm ankommt und dort für immer existiert.
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Theodizee dritter Teil
liche Folge des Begehrens ihrer Ureltern, in dieser sinnlichen Welt in einem animalischen Leib inkarniert zu sein und darin ihr Paradies finden zu wollen, erlitten wird. 196 Existenzielle Unsicherheit, Gefahr und Leid werden hier geradezu zu Mahnzeichen und Erziehungsmitteln, sich nicht der Welt zu verschreiben (»Könnt ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön, dann […]«, Faust), sondern bereit zu sein, alle irdischen Güter immer wieder loszulassen. Obwohl die Menschen nach Adam und Eva primär unschuldig in die sinnliche Welt gebannt werden und deren Übel unschuldig erleiden müssen, verfallen doch auch sie wie ihre Ureltern dem »Herrn der Welt« und beweisen so, dass sie nicht besser sind bzw. hätten genauso wie ihre Ureltern handeln können. 197 Darum ist aufgegeben, nicht die schwere Hypothek der Erblast, also der Leiblichkeit und Weltausgesetztheit abzuwerfen oder gegen sie aufzubegehren oder umgekehrt ihr zu verfallen, sondern sie demütig zu tragen und schöpferisch zu verwandeln. Blickt man von hier auf die bisherigen Diskurse zurück, darf behauptet werden, dass die Theodizee der drei von G. W. Leibniz genannten und um ein viertes erweiterten Übel so weit geklärt ist, dass sie ihren Platz und ihren Sinn im Kosmos gefunden haben. Dies heißt nicht, dass das Problem vollständig gelöst und die Fragestellung gänzlich ausgeschöpft wären. Vielmehr gilt es, weiter zu schürfen und umfassendere und tiefere Sinnzusammenhänge zwischen Mensch, Welt und Gott aufzudecken. Dass man dabei an Grenzen stößt, hinter denen das Geheimnis waltet, ist zu erwarten und geht auf das Konto der beschränkten Vernunft des Menschen, die zwar nicht ohne die Idee der Totalität, der Idee, dass das Sein ein einheitliches Ganzes ist, auskommen kann, diese Totalität aber nie ganz durchdringt, sondern höchstens in ihren Fundamentalstrukturen erkennt.
196 Noch einmal: Diese Inkarnation wird zwar – in dieser Deutung – von den Menschen, genauer, dem Urelternpaar begehrt, aber nicht vollzogen; das kann nur Gott bewirken. Und auch daran sei erinnert, dass Er dies nicht im Sinne einer Bestrafung tut, sondern im Sinne einer Gewährung und Auferlegung bzw. einer Herausforderung, damit die Menschen die Folgen ihres Begehrens »am eigenen Leib« erfahren, erkennen und dadurch sekundär – erst unfreiwillig, dann mehr und mehr bewusst – den tierischen Organismus personal beleben und vergeistigen. In einem anderen, nichtmenschlichen Sinn der Wiederherstellung von Gerechtigkeit kann dies »Strafe« genannt werden. 197 Und berufen sind, die Erstsünde durch freiwilliges Opfer und Sühnung abzutragen und wiedergutzumachen.
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V. Mensch, Kultur und Leiden: Die Explikation des Leidens im Kulturgeschehen
5.1. Die Kultur als unvermeidbare Entfremdungs- und Leidensquelle: die Selbstentfremdung in der Objektivation Obschon der Mensch, wie die Erdbeben und Überschwemmungen beweisen, in hohem Maße den Naturgewalten ausgesetzt ist und mit zahllosen Opfern für seine irdische Existenz bezahlen muss, sind sich die meisten Menschen darin einig, dass die Leiden, die sich die Menschen gegenseitig antun, die Zahl der naturbedingten Leiden bei weitem übersteigen. Auch wenn die Aussage von T. Hobbes (1588–1679) einseitig ist, wonach der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, so übertreibt sie doch keineswegs und trifft ein fundamentales Anthropinon. 1 Warum ist das so? Woher rührt diese Ungeheuerlichkeit? Wie ist sie zu verstehen? Und wie kann ihr begegnet werden? Ein Grund für die Feindseligkeit unter den Menschen ist die unauflösbare und nicht ausgleichbare polare Spannung zwischen zwei Wesensfaktoren, ohne die der Mensch nicht Mensch ist: die Polarität zwischen seinem einzigartigen unteilbaren Ich- bzw. Eigensein und seiner sozialen Bezogenheit, seinem Selbstsein und seiner Wirhaftigkeit. Als unmittelbares Geschöpf Gottes ist der Mensch von Anbeginn Person, also individuelles Geistwesen und damit potentiell ichhaft, selbsthaft, »egozentriert« und in gewissem Sinne selbsteingeschlossen, was soviel heißt, als dass er sich selbst ergreifen, bestimmen und gestalten, schließlich sich seiner selbst durch sich selbst bewusst werden kann und soll. Ohne diese Fähigkeit, die sein Ichsein konstituiert, wäre der Mensch nicht Mensch, und darum ist sie keineswegs die Folge irgendeiner Trennung vom Ursein, wie so manche Die lateinische Sentenz »homo homini lupus est« stammt aus der Komödie »Asinaria« (Eseleien) des römischen Komödiendichters Titus Maccius Plautus (ca. 254–184 v. Chr.). Vgl. T. Hobbes (1657, 10: »Profecto utrumque vere dictum est, Homo homini Deus, & Homo homini Lupus«).
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Mensch, Kultur und Leiden
hinduistische und gnostische Lehre besagt, sondern viel eher deren Voraussetzung. Andererseits impliziert die Erschaffung des Menschengeistes durch Gott eo ipso dessen Du-Bezogenheit, ursprünglich als Bezogenheit auf das Du Gottes, ontologisch später (zeitlich allerdings früher) auf das Du der Mitmenschen. 2 Das menschliche Ich in seiner bewussten Selbsthabe ist ohne ein Du nicht möglich, und also ist es wesenhaft auf ein »Außer-Sich« angewiesen. Man kann auch so sagen: Die Innerlichkeit des Menschen ist von der Art, dass mit ihr immer schon ein »Außensein«, ein Anderssein, ein Ich-Anderer, eben ein Du, mindestens das Ur-Ich Gottes mitgesetzt ist, gleich ob der Mensch sich dessen bewusst ist oder nicht. Zu diesem Grund- und Urverhältnis treten zwei weitere intersubjektive Verhältnisse hinzu. Da der Mensch als Leibwesen sehr spät in der kosmischen Evolution auftritt, impliziert sein psychophysisches Gesamtwesen sowohl einen grundlegenden Bezug zur nichtoder vormenschlichen Natur (zum »Es« mit seinen »a-humanen« Trieben) als auch zu anderen menschlichen Ichen und menschlichen Sozialverbänden. 3 Als leiblich gezeugtes Geschöpf ist er das Ergebnis einer sozialen Aktion, der Vereinigung von Mann und Frau als potentiellen Eltern, und damit von Anbeginn auf Andere bezogen. Jeder Mensch entsteht und erwacht in einem leibhaft sozialen Raum und ist sofort als einzigartiges Individuum ein soziales Glied mit bestimmten Rollen, Ansprüchen und Erwartungen. Die Polarität von Ich und Du, Ich und Wir, Ich und Man, Ich und Es (materielle Dinge, aber auch gesellschaftliche Sachzwänge und Prozesse) ist damit grundgegeben und erzeugt von Anbeginn eine spannungsvolle, dramatisch-wechselreiche und oft leidvolle Dialektik, die das gesamte Leben durchzieht und nicht mehr aufhört. Da der Mensch einerseits zu seiner Selbstfindung auf Andere angewiesen ist (Autarkie-VersorEmpirisch bzw. psychologisch ist das menschliche Gegenüber früher als der Gottesbezug, analog der Tatsache, dass das selbstbewusste Ich erst allmählich in der zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung mit Hilfe des erwachsenen Du erwacht, was nicht bedeutet, dass das Du (als Du dieses Ich) früher wäre. Ein Du kann nur von einem Ich her zum Du werden, dieses setzt jenes logisch voraus, jenes nicht notwendig dieses, wiewohl es faktisch so ist. Was die biopsychologische und biosoziale Evolution des Menschen im Ganzen betrifft, ist gezeigt worden, dass die gegenüber den Menschenaffen außerordentlich vergrößerte Hirnkapazität bzw. Hirnleistung des Menschen wesentlich durch die gemeinschaftliche Jungenaufzucht, also durch Sozialität und Kommunikation ermöglicht wurde. Vgl. C. v. Schaik/K. Isler (2010, 142– 169). 3 Vgl. zu »Ich und Du, Es und Wir« M. Buber (1995). 2
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Die Kultur als unvermeidbare Entfremdungs- und Leidensquelle
gungskonflikt), für genau diese Selbstfindung sich aber andererseits gegenüber diesen Anderen abgrenzen und oft gegen sie durchsetzen muss (Autonomie-Abhängigkeitskonflikt), wird nicht selten ein regelrechtes Macht-Ohnmacht-Dilemma, zumal am Anfang des Lebens, wo das kleine Ich schwach, abhängig und ohnmächtig ist, konstituiert, das ohne Kampf, Konflikt, Not, Schaden und Leid kaum möglich ist (Macht-Unterwerfungskonflikt). Warum das im Letzten so ist, wurde bereits ermittelt: Seit der Mensch aus der unmittelbaren Geborgenheit in Gott herausgefallen ist, geht ihm die letzte innere Seinserfüllung und damit Seinsruhe ab. Geistig und geistlich gleichsam nackt, muss er ganz aus eigener Kraft sich selbst erfinden und finden, muss sich im Dunkel seiner selbst orientieren und positionieren und muss sich, um hierin voranzukommen, auf einen steinigen Weg begeben, der die Abhängigkeit von anderen Menschen einschließt (Individuationsprozess). An die Stelle Gottes ist der andere Mensch getreten. Welche Verantwortung Vater und Mutter und überhaupt dem Mitmenschsein auferlegt ist, wird erst durch diesen metaphysischen Zusammenhang klar – sie grenzt an eine Überforderung und verlangt von den Eltern das Äußerste an Menschlichkeit, sittlicher Integrität, Verantwortlichkeit, Opferbereitschaft und Demut. Man sollte darin die Aufforderung sehen, »zu werden wie Gott«, eine Forderung, die im Neuen Testament von Jesus wiederholt wird, wenn er sagt, »Werdet vollkommen wie Euer Vater im Himmel« (Math. 5, 48). Nirgendwo stellt sich dieser Anspruch unmittelbarer als bei der Betreuung eines neugeborenen Menschen. Umso erschreckender ist es, wie unbesonnen viele Menschen Kinder zeugen und wie unachtsam und egoistisch sie diese erziehen. 4 Der Mensch ist ein Zwischenwesen par excellence. So wurde er vom seinsvollen Ursein aus dem Nichts ins »Halbsein« (Platon), in dem er stets gehalten werden muss, gehoben, immer endlich weit vom Nichts und unendlich weit vom göttlichen Sein entfernt. Als Geistgeschöpf ist er sowohl passives, erschaffenes und daher unfreiabhängiges Objekt als auch selbsttätig-freies Subjekt, stets von einem Die meisten Menschen sind bis zum 30sten Lebensjahr – und nicht selten darüber hinaus – selbst noch insofern »Kinder«, als sie die Prägungen durch die Elterngeneration nicht durchschauen und ihnen entweder unfrei folgen oder sich unfrei widersetzen. Von daher sollte der Gedanke erwogen werden, ob nicht die erfahreneren, reiferen Menschen, etwa die Großeltern, die Erziehung der Kinder (mit-)übernehmen, zumal sie freier sind von sozialen Pflichten. Hinzu kommt, dass die biologischen Eltern noch sehr mit ihrer Selbstsuche und Selbstverwirklichung beschäftigt sind.
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Mensch, Kultur und Leiden
unausschöpflich-dunklen, daher unbewussten Seinskern beschwert, aus dem er dennoch – als geistig ewachendes Wesen – endlos schöpfen und schaffen und so sein Bewusstsein ins Unendliche erweitern kann. 5 Insofern dieses Geistgeschöpf Mensch ist, stellt es die Synthese eines unräumlich-geistig-intensiven Prinzips (»Ich«) und eines hochorganisierten apersonal-extensiven Materiewesens (»Es«), sprich seines Leibes dar. In diesem animalisch »vorbeseelten«, deswegen partiell in seiner Triebdynamik autonomen Leib existiert die Person zunächst unbewusst und allein, getrennt von allen anderen geistigen Wesen, sowohl von Gott als auch von den Naturgeistkräften als auch von anderen Menschen, und muss über die Brücken der Sinne, Phantasien und Gedanken erst zu den anderen Subjekten, also wahrnehmend, tätig, suchend, vermutend und »konstruierend« hinüberfinden. Der Mensch ist primär in der Fremde, mehr noch von den Anderen entfremdet, was bedeutet, dass er sich durch eigene Bemühung mit allem Anderen und allen Anderen vertraut machen muss (Prozess des »Affectattunement« und der »Resonanzabstimmung«). Da diese Bemühung sich nur wenig auf vorgegebene Hilfsmittel, z. B. Instinkte, stützen kann, kann sie jederzeit in die Irre gehen und scheitern. Der Mensch als Zwischenwesen muss sein Zwischensein selbst schaffen und ist darin zeitlebens verletzbar, man denke nur an die kommunikative Notwendigkeit und Brüchigkeit der nonverbalen und verbalen Verständigung. Wie mache ich mich dem Anderen verständlich? Wie kann ich wissen, ob er mich wahrnimmt und versteht? Und wie weiß ich, was er meint und mir sagen will? Da der Mensch nicht unmittelbar im Anderen ist, muss er sich mitteilen. Das wiederum heißt, er muss »aus sich herausgehen«, seine Subjektivität verlassen und deren Produkte – Erfahrungen, Gedanken, Ideen, Gefühle, Phantasien, Absichten usw. – einem nichtsubjektiven Medium, seinem Leib, der Natur, der Materie und der Sprache, anvertrauen. Man kann auch so sagen: Er muss sein Selbstsein in ein Nichtselbstsein, sein Ich in ein Nicht-Ich transformieren oder kurz: Er muss seine Subjektivität objektivieren. Leicht ersichtlich handelt es sich hier um einen höchst prekären Vorgang. Eine sozusagen notwendige und natürliche »Selbstentfremdung« findet
Dieser Seinskern ist trotz seiner Unerschöpflichkeit bzw. gerade deswegen pU-unfertig und nicht, wie Meister Eckhart dies mit seinem Seelengrundtheorem behauptet, zeitlos-ewig-ungeschöpflich.
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Die Kultur als unvermeidbare Entfremdungs- und Leidensquelle
statt, die von G. Simmel 6 klar gesehen und ausformuliert worden ist. Alle Kultur beruht auf dieser Selbstentäußerung der ungegenständlich-inständlichen Subjektivität in die objektiv-gegenständliche Welt, des »Lebens« in die »toten« Dinge, und also kann alle Kultur das Prinzip Subjektivität nur approximativ vergegenwärtigen und zum Ausdruck bringen. In dieser Inkommensurabilität liegt einer der letzten Gründe dafür, dass der Mensch als Subjekt immer wieder seine Kultur aufheben muss: Sie genügt ihm nicht und fesselt mit ihren stets nur endlichen und bald erstarrenden Formen die grenzenlose Kreativität des lebendigen subjektiven Geistes. Es gibt keine technische, wirtschaftliche, rechtliche, wissenschaftliche, künstlerische, philosophische, religiöse und politische Grenze, die der Mensch nicht überschreiten könnte. Und selbst wenn er es aktuell nicht kann, so erstrebt er es doch und gibt keine Ruhe, bis er seiner endlosen Schaffenskraft neue Seinsgebilde entrissen hat. 7 Es liegt auf der Hand, dass hierin eine unergründliche Quelle vielfältiger Leiden zu suchen ist, sowohl auf Seiten derer, die sich, um zu sich selbst zu finden, Freiräume schaffen und nicht selten Teile ihrer Lebenswelt zerstören müssen, als auch auf Seiten derer, die ihre erreichten Selbstrealisierungen erhalten wollen. Der Konflikt, der sich in vielen Fällen zum Krieg zwischen Alten und Jungen, Tradition und Modernisierung, Herrschenden und Beherrschten ausweitet, scheint nur schwer vermeidbar. Alle Intersubjektivität ist Notwendigkeit, Chance, Bedrängnis, Überfremdung und Kampf zugleich. Der Mensch stellt ein prekäres Bündel von positiven und negativen Gegensätzen dar, deren Zahl so groß ist, dass sie sich kaum vollständig angeben lässt. Er ist seiend und nichtseiend, Objekt und Subjekt, Kreatur und Kreator, passiv und aktiv, in seiner Grundstruktur bestimmt, in seiner Entwicklung unbestimmt, endlich-begonnen und potentialunendlich auf das Unendliche ausgerichtet, Natur und Kultur, Mangel und Fülle, unbewusst und bewusst, Geistwesen und Sinnenwesen, innerlich-intensiv und äußerlich-extensiv, unwissend und lernfähig, amoralisch und moralisch, Einzel- und GemeinschaftsVgl. G. Simmel (2004, 25–57). Wie man sieht, entspricht diese Beschreibung dem metaphysischen, alle endlichen Daseinsformen zerbrechenden »Lebenswillen«, wie ihn A. Schopenhauer entwirft und ins Kosmische projiziert. Überhaupt scheint es, dass die nachkantischen Idealisten das Wesen des Menschen tief erschauten, aber ins Kosmische und Göttliche projizierten. Da der Mensch pU, Gott aU ist, wurde bei ihnen aus dem ewig-zeitlosen Gott ein werdender Gott.
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wesen, Egoist und Altruist, Mann und Frau, mächtig und ohnmächtig, Täter und Opfer, gläubig und zweifelnd, selbstherrlich und zerknirscht u. v. a. m. Alle diese Polaritäten muss der Mensch leben und bewältigen; es gibt keine Möglichkeit, sie zu umgehen, und entsprechend müssen sie durchlebt, durchlitten und immer wieder neu gestaltet werden. 8 Darum verbietet sich ein festgelegtes Schema, wie der Mensch zu sein habe, im Gegenteil fordert jeder Tag eine neue, oft einzigartige Antwort. Ohne eine äußerst bewegliche Intelligenz und eine große Phantasie könnte dies nicht gelingen, und darum liegt dem Menschen so viel daran, diese Fähigkeiten durch kulturelle Techniken und Institutionen von Anfang an zu fördern, etwa durch Sprache und Spiel. Kultur wird dadurch zur Naturnotwendigkeit des Menschen, als zweite Natur in seine erste, die leibliche Natur hineingebaut. Insofern der Mensch auf Kultur angewiesen ist, muss er sich veräußerlichen und vergegenständlichen, um innerlich zu sein und eine eigene Identität zu entwickeln. Sein Selbstsein ist, so gesehen, wesentlich vermittelt, damit heteronom, abhängig, angreifbar und verletzlich. Bekanntlich gehen sogar in etwas so Innerliches wie das Gewissen familiäre und gesellschaftliche Normen und Vorbilder ein, oft ohne dass sich der Betroffene dessen bewusst ist. Durch solche »Introjektion« wird er, mehr als ihm lieb sein kann, zum blinden Handlanger familiärer und gesellschaftlicher Normen, Vorurteile, Gebote und Verbote. Alle »Autonomie« ist daher im Menschenleben relativ, vorläufig und muss hart errungen werden. Letztlich geht sie, wie Altern und Tod zeigen, verloren. Das erste und letzte Wort des menschlichen Daseins spricht die Schicksalsmacht der Fremdbestimmung, der gegenüber der Mensch nur die Autonomie besitzt, sich ihrer Verfügungsgewalt anheimzugeben. Anvertrauen, Sichhingeben, Sichüberlassen und Sichergeben reichen darum tiefer in die Wesensstruktur des Menschen als Eigenwille und Selbstmacht, was umso mehr gilt, wenn man erkennt, dass sich der Mensch durch Hingabe und nur durch sie – Meister Eckhart spricht vom »Entwerden« – der
Vgl. H.-R. Lückert (1972). Da sich die genannten Polaritäten leicht und rasch zu Konflikten auswachsen, ist die Behauptung von H.-R. Lückert zutreffend, dass die Konfliktträchtigkeit des Menschen das Zentrum der menschlichen Existenz bzw. der Psychologie überhaupt darstellt. G. W. F. Hegel erschaute diese Dialektik des Gegensatzes in Leben und Geschichte, ja selbst – nun aber falsch – in der Gottheit.
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Die historisch wechselnde Polarität
höchsten Seinswirklichkeit, dem Ur- und Vollsein der Gottheit, öffnet. 9 Die letzte Glückseligkeit des Menschen ist nicht das Selbstsein, sondern das Anderssein bzw. das Selbstsein im Anderssein. Welche neue und prekäre Polarität sich hier aufspannt, die im Tierreich überhaupt nicht bekannt ist, bedarf keines eigenen Diskurses.
5.2. Die historisch wechselnde Polarität von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft, von Freiheit und Ordnung, Willkür und Wertorientierung als Leidensquelle Mit dem polaren Urgegensatz von Ich und Wir, Individuum und Gemeinschaft, Einsamkeit und Zweisamkeit, der sich mit der Geburt eines Menschen einstellt, wird ein anderer, grundlegender Gegensatz mitgegeben, nämlich der zwischen Freiheit und Ordnung, Initiative und Tradition, Spontaneität und Konvention, Willkür und Zwang, aber auch Willkür und Wertgebundenheit, Liberalität und Recht, Jung und Alt. 10 Alle echte Individualität will sich primär selbst realisieren und ihren Neigungen, Absichten und Anlagen folgen, gleich ob sie mit der Mitwelt bzw. der »Überwelt« der ethischen Grundwerte übereinstimmen oder nicht. Alle Gemeinschaft dagegen lebt aus der Verbundenheit, Loyalität und Anpassung, was wiederum nur möglich ist, wenn sich die Individuen an allgemeine Werte, Regeln und Normen halten. Während das Individuum ohne Freiheit und Zukunft unmöglich ist, ist die Gemeinschaft ohne verbindliche Ordnung, Tradition und Vergangenheit nicht möglich, und so stehen die Menschen einem konfliktreichen Antagonismus gegenüber, der oft schmerzvoll, dennoch unumgänglich und förderlich ist. Denn auf Dauer würde eine wertungebundene, gesetzlose Freiheit ebenso lebenszerstörend sein wie eine alle Kreativität unterdrückende Ordnung. Weder reine Willkür noch reiner Zwang werden dem Leben gerecht, sondern nur ihre gleichsam oszillierende, immer neu zu definierende Synthese. Betrachtet man sowohl die Individualgeschichte als auch die Weltgeschichte, ist festzustellen, dass das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Freiheit und Ordnung, Willkür und Bindung, Neuem und Altem, Macht und Machtlosigkeit ständig 9 10
Siehe Meister Eckhart (1979, 90). Zu Wesen und Rolle des Rechts im Leben vgl. R. Marcic (1965, 1969)
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Mensch, Kultur und Leiden
neue Formen annimmt und keine endgültige Gestalt kennt. Mit jedem neuen Menschen, der in die Welt tritt und darin seinen einzigartigen Platz finden will, kommt ein neues Freiheitsmoment ins Spiel, das unlösbar mit Unruhe, Spannung, Gegensatz, Konflikt, Kampf und Leid verbunden ist. Gerade der Anfang eines Einzellebens, einer neuen geschichtlichen Epoche oder einer neuen Gesellschaftsform zeigt, dass die Selbstfindung erst negativ durch Abgrenzung und Verneinung eingeleitet werden muss, bevor sie sich positiv bestimmen kann. 11 Es ist, als müsste zunächst Raum geschaffen werden, um sich darin selbst spüren, begegnen und erkennen zu können. Durch seine natürliche Selbstbewahrungstendenz verwahrt sich das bisherige Leben gegen solche neuen, Unruhe und Unordnung stiftenden Impulse und pocht auf seine angeblich bewährten Werte, Regeln und Gesetze. Während Ordnung, Gemeinschaft und Zivilisierung eher vergangenheits- und wertorientiert sind, sind Freiheit, Individualität und Kreativität eher zukunfts- und schaffensorientiert. Die fruchtbare Gegensätzlichkeit dieser Lebenswahrheit reicht bis in die letzten Gründe der Zeitstruktur hinein und bedingt eine Dialektik, die in Streit und Krieg ausarten kann. Um nicht tödlich zu erstarren, muss die gemeinschaftliche Ordnung die neuen Impulse des Individuums aufnehmen; und um nicht isoliert und kontaktlos in einer sterilen Selbstverbohrtheit zu enden, muss das Individuum die sozialen Gegebenheiten wahr- und ernst nehmen. Im Konfliktfall bedeutet dies, dass das Individuum gegebenenfalls alte starre Ordnungen aufbrechen, die Gemeinschaft egoistische Neigungen und Interessen bändigen muss. Revolution und Restauration haben hier ihre Wurzeln. Irgendeiner leidet, muss leiden, und so ist das Leid in einer Welt, in der das Individuum freigelassen ist und die Gemeinschaft ihre Ordnung finden muss, unausweichlich. Sub specie aeternitatis 12 erhält eine Welt, in der die Gottheit nicht direkt regiert, die Aufgabe, aus eigener Kraft, Freiheit und Vernunft das Verhältnis von Freiheit, Ordnung und Zivilisierung, Liberalität und Selbstdomestikation zu finden und zu bestimmen. Dieses gewaltige und oft gewalttätige Wagnis geht Gott »mutig« ein, da ihm eine selbständige, kreative, ringende, suchende, sich läuternde, sich bewährende und sich frei hingebende Welt, auch wenn sie mit IrrSchon gegenüber seiner tierischen Leiblichkeit und Herkunft grenzt sich der frühe Mensch entschieden ab. 12 Unter dem Blickwinkel der Ewigkeit. 11
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Die historisch wechselnde Polarität
tümern, Irrungen, Unrecht, Gewalt und ungeheuerlichen Opfern verbunden ist, mehr wert ist als eine geknebelte, sterile und unkreative Welt. 13 Das kann Gott umso mehr wagen, als er jedes, sogar das vergangene Unrecht berichtigen und allen Opfern und Leidenden, auch den Verstorbenen, die im Hiesigen keine Wiedergutmachung erfahren, Gerechtigkeit und Erbarmen zuteil werden lässt. Wäre dies unmöglich, stellte das Universum eine ethische Monstrosität dar, die es nicht wert wäre, erhalten zu werden. 14 Nur weil Gott Gott und Herr über alle Zeit ist, dessen Heilswillen sich kein Schmerz und keine Wunde entziehen können, darf er soviel Unheil, Unrecht, Unglück, Leid und Not »riskieren«. So gesehen, besteht von Seiten der Leidbetroffenen stets die Möglichkeit, angetanes Unrecht als freiwilliges Opfer für ein größeres Ganzes, das dadurch geadelt wird, aufzufassen. Selbst ein Kind, das früh aus dem Leben gerissen wird, kann so am Ganzen der Schöpfung sinnvoll teilhaben, was selbstverständlich nur gilt, wenn es über das irdische Leben hinaus ein anderes Leben gibt, in dem es den Gesamt- und Endsinn der Schöpfung erkennen und ihm zustimmen kann. Wenn Gott Natur und Menschheit dazu freigelassen hat, eine eigene Welt mit einer eigenen Ordnung aufzubauen, dann drängt sich die Frage nach dem Wie dieser Ordnung auf. Ist sie beliebig oder nicht? Gibt es Maßstäbe, an denen sie sich orientieren und trotzdem Weshalb die Freiheitskämpfer der antiken Griechen höher geschätzt werden als ihre despotischen Gegner, die Perser. 14 Vgl. Iwan Karamasow im Roman »Die Brüder Karamasow« von F. Dostojewskij (2. Teil, 5. Buch, 4. Kap.): »Solange noch Zeit ist, beeile ich mich, mich zu schützen, und verzichte darum völlig auf die höhere Harmonie. Sie ist nicht einmal eine einzige Träne auch nur des einen gequälten Kindes wert, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug und in dem übelriechenden Loch mit ungesühnten Tränen zu seinem lieben Gott betete. Sie ist es nicht wert, weil seine Tränen ungesühnt geblieben sind. Sie müssen gesühnt werden, sonst kann es keine Harmonie geben […] Auch hat man die Harmonie zu hoch bewertet, sie geht über meine Verhältnisse. Darum beeile ich mich, meine Eintrittskarte zurückzugeben. Und wenn ich ein ehrlicher Mann bin, so bin ich verpflichtet, sie so bald wie möglich zurückzugeben. Das tue ich auch. Nicht Gott lehne ich ab, Aljoscha, sondern ich gebe ihm nur ehrerbietigst die Eintrittskarte zurück.« Doch gerade das gequälte Kind, das ja betet (!), ist durch seine göttliche Herkunft gewürdigt, am ewigen geheilten und geheiligten Leben teilzunehmen! Und das sollte wohl eine genügende Sühnung bzw. Wiedergutmachung sein. Das verkennt Iwan Karamasow. Alles andere käme einer totalen Vernichtung der menschlichen Würde gleich. Andererseits verbietet Dostojewskijs Argument eine jegliche Theodizee, die das Übel oder gar das Böse verharmlost bzw. als bloß »minder Gutes« (Stoa, Bruno, Spinoza, Hegel) relativiert. 13
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Mensch, Kultur und Leiden
frei und kreativ sein kann oder nicht? Lässt sich sagen, wie das Verhältnis von Freiheit, Recht und Ordnung, Autonomie und Heteronomie, Spontaneität und Bindung, Kreativität, Gesetz und Erziehung beschaffen sein soll? Diese Fragen, die auf das Wesen von Gesellschaft und Geschichte bzw. ihren Zusammenhang mit den Individuen hinausgehen, sollen im Folgenden bewegt werden.
5.3. Das Leiden als Preis der Kulturentwicklung: die großen Kulturepochen der Menschheit und die Theorie der Kulturentwicklung 5.3.1. Der Quellgrund der Kultur Wenn man sich das Problem des Zusammenhanges von Leiden und Kultur und damit das Problem der Kulturbildung mit ihren immanenten Polaritäten und Antinomien, Widersprüchen, Dialektiken und Defizienzen vor Augen stellt, fragt sich, ob irgendwelche kulturanthropologischen Grundgesetze des Kulturprozesses angegeben werden können, die den Rahmen für eine jede Kulturbildung abgeben und sowohl ihre Einheit als auch ihre Vielfalt erklären helfen? Ich meine, dass dies möglich ist. Am Beginn aller Kulturwerdung steht das wohl größte Seinsrätsel überhaupt: das Erwachen der seelisch-geistigen Person, also einer ungegenständlich-inständlichen Seinsweise in einem reinen Naturding, im gegenständlichen Sein des animalischen Organismus. 15 Obwohl der Mensch Natur und Leib ist, zeugt sein Dasein im Laufe der Hominisation von einem auf Leib und Natur nicht reduzierbaren Plus: von einer spezifisch-transnaturalen, umweltemanzipierten und damit »weltoffenen« (M. Scheler) Eigenart, die sich als persönliche Intentionalität, einzigartige Entscheidungskraft und übernatürlichimmaterielle Geistes- und Phantasietätigkeit kund tut. Vor allem die hominisierende, die innere Welt der Phantasie und Reflexion ins Unendliche steigernde Intentionalität bildet den Quell- und Mittelpunkt Es ist klar, dass schon der tierische Organismus nicht nur eine Funktionseinheit, sondern auch ein Leib ist und damit ein ungegenständlich-seelisch-kognitives Leben zum Ausdruck bringt, jedoch nur zum Ausdruck. Zum voll individualen Ich, das sich im Leib seiner selbst bewusst wird, sich selbst relativ frei gestaltet und seinen bloßen Überlebenswillen (Fressen und Fortpflanzen) transzendiert, bringt es das artgesteuerte Tier nicht.
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Das Leiden als Preis der Kulturentwicklung
aller Kulturation und formt sich von Anbeginn in drei Richtungen, in drei humane Dimensionen aus. 16 –
Zum Ersten manifestiert sie sich in genauer Naturbeobachtung, Naturbeherrschung, Naturgestaltung und Naturüberhöhung, etwa in der Beobachtung der Wirkung des Feuers und seiner Beherrschung, in der Beschaffung und Zubereitung von Nahrung und in der Erzeugung von Kleidung, Behausung, Waffen, Schmuck und Werkzeug. 17 Hier geht es im Wesentlichen um Schutz vor Gefahren, Abwendung von Leid, Not und Elend und um Erleichterung der Daseinslast, Leistungen, die man vielfach schon bei den Tieren findet. In der philosophischen Anthropologie betonte A. Gehlen 18 diesen Aspekt. 19 In ihr wird alle Kulturtätigkeit als Kompensation der biologischen (und sonstigen)
Nicht von ungefähr entspricht dieser »Innenwelt«-Kapazität des Geistes auf der neurobiologischen Ebene ein Gehirn, dessen Verschaltungen zu 90 % intern und nur zu 10 % extern (afferent und efferent) sind bzw. deren Verhältnis 107 zu 1 beträgt. Vgl. W. Welsch (2006/7). 17 Es ist wahrscheinlich, dass gewisse Menschenaffen (Australopithecus afarensis/ »Lucy«), ausgelöst durch den Rückgang der ost- und südafrikanischen Wälder, zwischen verschiedenen Bauminseln hin und her streiften und durch das Pflücken der Früchte und das Sammeln von Nahrung im Gras nach und nach den aufrechten Gang erwarben (»Mangeltheorie«). Mit der Zeit verließen sie die zurückgehenden Wälder ganz und lernten, das Überangebot an »Fleisch« in den Savannen zu nutzen, wohl erst in Form von Kadavern, dann in Form von erlegtem Großwild (»Überfluss- und Lockungstheorie«). Durch die Aufrichtung im hohen Gras erkannten sie ihre Feinde und ihre Beute besser, entwickelten dadurch ein komplexeres Sinnessystem mit einem entsprechend leistungsfähigeren Gehirn und bekamen die Hände für intelligente Handlungen frei, was auf das Gehirn differenzierend zurückwirkte. Die veränderte Fortbewegungsart erforderte ein neues System der Wärmeableitung über die Haut, was zum Verlust des Haarkleides führte. Beides, Sprint und Dauerlauf, wurde möglich, wozu kein anderes Lebewesen in der Lage ist. All dies führte in ständigen organischen Rückkopplungsprozessen zur Vergrößerung des Gehirns, zur Kreativität der frei gewordenen Hände und zur Ausbildung der stabilen Füße. Das Verhaltensrepertoire dieser Vormenschen gestaltete sich tiefgreifend um, wurde kooperativer, vorausschauender, fürsorglicher, sozialer, individueller, »seelisch-geistiger« und vor allem flexibler, offener, erfinderischer und anpassungsfähiger. Schließlich benutzten sie Naturgegenstände als Werkzeuge und Waffen, entwickelten Gewohnheiten, Gebräuche, Rituale und Sitten, wurden fähig, das Feuer zu beherrschen, verfertigten Geräte, Kunstwerke und Grabbeigaben und wurden, alles dies in kulturell erlernten Traditionen sprachlich und edukativ weitergebend, zu vollen Menschen. Vgl. J. H. Reichholf (2009); J. Herrmann/H. Ullrich (1991, 128–152). 18 Vgl. A. Gehlen (2004, 222–242). 19 Neuerdings kehrt die alte funktionalistische Kompensationstheorie in der »Lebensund Kulturimmunologie« von P. Sloterdijk wieder (2016, 168 f.). 16
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Mensch, Kultur und Leiden
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Mängel des Menschen und alle gesellschaftliche Institution als kulturelles Entlastungswerk für das in seiner Instinktfreiheit überforderte Individuum gedeutet. Dabei lässt sie sowohl ungeklärt, warum es überhaupt zu den angeblichen Mängeln kam, was evolutionstheoretisch unplausibel ist, als auch ungeklärt, worin die objektiven Bedingungen der Möglichkeit für die kompensatorischen Fähigkeiten liegen. Zum Zweiten betätigt sich die kulturelle Intentionalität in der Regelung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Zugehörigkeit und Ausgrenzung, Achtung und Missachtung, Eigen und Fremd, Aufgaben- und Arbeitsteilung, Status-, Rollen-, Kompetenz- und Machtverteilung, nach S. Freud 20 vor allem die Bändigung des kulturauflösenden Todes- oder Destruktionstriebes verdanken sich diesem Impuls, der sich so, wie S. Freud 21 betont, als »kulturbewahrend« erweist. Die soziologische Anthropologie, z. B. von K. Marx, E. Durckheim, M. Weber, G. Simmel, A. Gehlen, T. W. Adorno und J. Habermas und anderer beschäftigt sich in besonderer Weise mit diesem Aspekt der kulturalen Intentionalität, wie sie sich in der »kommunikativen Vernunft«, der Zwischenmenschlichkeit und Gemeinschaftlichkeit des Menschen ausformt. Zwar haben sie alle wichtige Vorläuferstrukturen in der Tierwelt, doch gehen sie, was z. B. Arbeit, Symbolverwendung und gegenseitige Anerkennung betrifft, neue Wege. Und schließlich entbindet die kulturelle Intentionalität das kreative Potenzial des personal individualen wie kollektiven Geistes und führt zur Aufgipfelung der menschlichen Höchstleistungen, zu Kunst, Religion, Philosophie, Ethik, Wissenschaft, Recht, Politik und Spiel, Leistungen, die so nicht beim Tier gefunden werden. Wohl verfügt das Tier über außerordentliche kognitive, emotive und praktische Fähigkeiten, aber sie stehen immer im Dienst des Lebens und Überlebens und lassen sich daher nur durch irgendwelche Nahrungs- oder sonstige Lustvorteile wecken und erziehen. Ein Lernen ohne äußere Belohnung, ein
Vgl. S. Freud (1970 a, 106 ff.). Aus heutiger Sicht muss allerdings die »Todestriebtheorie« S. Freuds neu gefasst werden, da der Lebenstrieb keineswegs, wie S. Freud meinte, im Dienst des Todestriebes, sondern der Sterbens- bzw. Todestrieb im Dienst des Lebens steht. 21 Siehe S. Freud (1970 a, 110). 20
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Lernen um seiner selbst bzw. um der Sache willen gibt es nicht. Das Tier ist stets Pragmatiker, Utilitarist und Hedonist, dem die Eigen- und Selbstwerthaftigkeit des Seienden bzw. des Denkens, Erkennens, Wollens und Fühlens nicht aufgeht. Der Mensch dagegen kann es dahin bringen, die Dinge der Natur, der Kultur und der geistigen Welt unter den Uraspekten Schönheit, Wahrheit, Güte, Erkenntnis, Hilfe, Mitgefühl, Würde, Kunst und Glaube um ihrer selbst willen zu schätzen und zu suchen, und dies sogar dann, wenn sie existenzielle Nachteile nach sich ziehen. 22 Damit erhellt bereits hier, dass sich Wesen und Beginn der Kultur weder rein utilitaristisch wie bei K. Marx und A. Gehlen noch rein eudämonistisch-hedonistisch wie bei S. Freud erklären lassen, vielmehr ist die Kultur dem Geistigen als solchem eigen und ihm damit wesensimmanent. Diese originär kulturale Wesenseigenart äußert sich, wie am umfassendsten wohl E. Cassirer (1923–29) herausgearbeitet hat, im Symbolschaffen und Symbolverständnis des Menschen. Völlig selbstverständlich, man möchte fast sagen, »naturhaft« neigt der Mensch dazu, alle Erfahrung, ob sinnlich oder unsinnlich, in »symbolische Formen« – in Hinweise, Chiffren, Ornamente, Bilder, Worte und Werke – zu kleiden und ihnen so seinen typisch menschlichen Stempel aufzudrücken. Nicht dass der Mensch nur durch Symbole hindurch leben, wahrnehmen und denken könnte, wie E. Cassirer meint, durchaus kann er der inneren und äußeren Welt ohne das Medium der Symbole, also direkt begegnen (und muss es zunächst auch). Doch kommt er nicht sehr weit damit und kann sein unerschöpfliches Schaffens-, Mitteilungs- und Darstellungsbedürfnis darin nicht stillen. Um sich vom unmittelbar Gegebenen zu lösen, schaltet er darum die Zeichen- und Symbolwelt, allem voran die Wort- und Schriftsprache dazwischen und eröffnet sich so ein grenzenloses Spiel- und Kombinationsfeld für seine Kreativität und das unbegrenzte Ausdrucksbedürfnis seines Selbstseins. 23 Nicht primär Die philosophische Anthropologie von H.-E. Hengstenberg (1957, 9–41, 131–136) betont in Anlehnung an M. Scheler vor allem diese Fähigkeit des Menschen zur »Sachlichkeit« bzw. »Sach- oder Seinsgerechtigkeit«, die schon G. W. Leibniz hervorgehoben hatte. 23 Charakteristischerweise bleibt der Mensch, allerdings nicht immer und notwendig, ein Leben lang neugierig und lernfähig, sprich »welt- und selbstoffen«, während sich das Tier, sobald es erwachsen ist, seelisch-geistig abschließt und seine anfängliche 22
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Aneignung der Welt hat das Symbol zu leisten (wiewohl auch das), sondern Selbstbespiegelung, Selbstvergewisserung und Selbsterfindung. Denn in allem Symbolschaffen agiert die Phantasie, diese alles Naturale weit überflügelnde Urkraft des Menschen, die ihn, wie alle Mythen erzählen, zu einem wahren Halbgott macht. Darum hält auch L. v. Bertalanffy 24 den »Symbolismus« für das Kennzeichen der biologischen Sonderstellung des Menschen, wenn er sagt: »Es scheint daher, dass diese Kennzeichen: Freiheit der Wahl (des Zeichens für einen Sachverhalt), Darstellungskunst und Tradition ausreichen, den Symbolismus und das durch Symbole bestimmte Verhalten beim Menschen von untermenschlichen Verhaltensweisen abzugrenzen. Diese drei Kennzeichen müssen zusammengenommen werden, während Mitteilung oder Sprache mit nicht allen diesen Kennzeichen schon manchen Tieren zukommt.« 25
Wo immer personaler Geist ist, ist also – wenigstens potentiell – Kultur, d. h. Sprache, Kunstschaffen, Recht, Religion und Wissenschaft, weswegen es entgegen J.-J. Rousseaus (1712–1778) Auffassung kulturlose, vorzivilisatorische Zeiten des Menschseins nicht gab und geben kann. Wenn dies gilt, dann liegt in aller Kultur ein Auftrag, der
Offenheit und Flexibilität verliert. Der Mensch ist wesenhaft pU (potentialunendlich), sozusagen immer jung, während das Tier wesenhaft E (endlich), also »zum Tode alt« ist. 24 Siehe L. v. Bertalanffy (1958, 14); vgl. ähnlich R. Eraßme (2002, 43 ff.). 25 Strukturell baut sich ein Symbol im weiten, also nicht im künstlerischen Sinne aus folgenden Komponenten auf: aus der bezeichneten Sache (Signifikat), aus dem bezeichnenden Zeichen (Signifikant), aus dem bezeichnenden Subjekt, aus dem bezeichnenden, hinweisenden Akt (Bezeichnungs- oder Bedeutungsvergabehandlung, Signifikation), aus der spezifischen Signifikat-Signifikanten-Verbindungsgestalt (vgl. meine unveröffentlichte »Philosophie des Zeichens«), aus dem Kommunikationspartner und aus dem Symbolsystem der Sprache, aus dem das Zeichen geschöpft wird. Nach F. Saussure besteht das Symbol im Vollsinne aus Signifikat und Signifikanten, also aus dem Objekt der Bezeichnung und dem Zeichen im engeren Sinne. Fehlt eines dieser Glieder, kommt kein Symbol und damit auch kein Wort oder Satz zustande. Als Besonderheit ist zu bedenken, dass das Signifikat sowohl ein bloßes Vorstellungsding (z. B. eine Erinnerung) als auch ein reales Außenweltding sein kann. Im letzteren Fall wird das Außenweltding durch eine mentale Repräsentation bzw. Wahrnehmung oder Vorstellung hindurch anvisiert und dadurch vertreten. Die Symbolisierung verkompliziert sich dann, so dass man in diesem Falle, wo ein reales Ding oder Geschehen mit im Spiel ist, vom »Referenten« spricht. Hier verweist das Zeichen i. e. S. mittels eines Vorstellungsbildes oder Gedankens auf den realen Gegenstand als dem Referenten in der Welt. Diese Gesamtstruktur zeigt, dass es keine bloße Reihe von einander bezeichnenden Signifikanten, etwa das Derridasche »Signifikantenspiel« geben kann, da ein Signifikant ohne Signifikat kein Signifikant ist.
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nämlich, dass der Geist darin in zunehmender Entfaltung zu sich selbst komme, den Sinn seines Daseins stifte und dem Kosmos damit die Krone aufsetze. Nicht der Mensch als solcher ist die Krone der Schöpfung, sondern die Schöpfung der Kultur ist die Krone des Universums, deren sich der Mensch innerlich bzw. ethisch erst würdig erweisen muss und bis heute noch nicht genug als würdig erweist.
5.3.2. Die anthropologischen Grundlagen der Kultur Wie der Mensch so erwächst auch die Kultur aus der die Kultur vorbereitenden und ankündigenden Natur und offenbart so von Anbeginn ihren »doppelten Ursprung«. 26 Als Leib und Person, als verleiblichte Person und personaler Leib ist der Mensch zugleich Natur und Geschichte, Gesetz und Symbol, Freiheit und Prägung, Kreatur und Kreatrix und demgemäß eine natürlich-übernatürliche Polaritätseinheit. 27 Damit erledigt sich der alte Streit, worum es in der philosophischen Anthropologie primär gehe, um das, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat und unveränderlich ist oder um das, was der Mensch aus sich macht und geschichtlich variabel ist. 28 Es geht um beides, um die Einheit von Naturhaftigkeit und Geschichtlichkeit im Menschen und deren prinzipiell unaufhebbare Spannung. Diese nur für den Menschen typische Lebenszweiheit in Lebenseinheit manifestiert sich bald und vielfältig, so in Schutz und Pflege des leiblichen Lebens einerseits und andererseits in der Beherrschung, Umgestaltung und Ausnutzung der Natur. Sein wichtigstes Objekt ist dabei zuerst der eigene Leib: Da greift der von Natur instinktreduzierte Mensch tief in die Leibesgestalt und ihr Trieb- und Instinktleben ein bis zu dessen Verstümmelung und triebhaften Unterdrückung, und zwar, wie die paläontologischen Befunde beweisen, schon früh in seiner Menschwerdung. 29 Siehe K. Graf Dürckheim (2001). Vgl. zu »Kreatur und Kreatrix« M. Landmann (1982). 28 In Wahrheit gibt es sowohl in der leiblich-naturalen als auch in der geistig-seelischpersonalen und sozialen Schicht unveränderliche und veränderliche Strukturzüge. Dabei sind auch die unveränderlichen Züge oft echte Potenzen, Kräfte, also dynamischer, keineswegs nur statisch-struktureller Natur. 29 Heute zeitigt dieses supranaturale Plus des »animal laborans« eine »gedopte Kultur«, sprich den Versuch, aus dem Leib durch künstliche Mittel mehr und mehr an Leistung herauszuholen (»Effizienzparadigma«). Vgl. kritisch zur Selbstausbeutung 26 27
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Warum tut er dies? Weil in ihm eine neue Lebensmacht »emergierte« bzw. erwachte, die sich von rein natürlichen Bindungen befreien und für ihre eigengesetzliche Kreativität frei werden will. Dieses emanzipatorische Gefühl für eine neue Freiheits- und Gestaltungsmöglichkeit drängt sich wie ein unbedingter Imperativ auf, auch wenn es der gesamten Menschheitsgeschichte bedarf, um diesen Urimpuls zu manifestieren und in eine »gute Form« zu bringen, und erzeugt Scham, wenn ihm nicht Genüge getan wird. Daher die scharfen, meist durch Tabu und Ritus geformten Abgrenzungen gegen alles Nur-Tierische, Nur-Triebhafte, Nur-Sexuelle, blind Gierige und blind Aggressive. 30 Diesem potentialen Freiheitsgrund im Menschen, der erst erwachen und sich in mühsamen Entscheidungen zu sich selbst durchringen muss, kommt auf fast wunderbare Weise die »neue Leiblichkeit« des Menschen, die sich vormenschlich bei den Hominiden anbahnt, entgegen: 31 Sie ist zwar nicht frei von Instinkten, aber nicht mehr wie beim Tier rigide in sie eingespannt, und sie zeigt eine große Offenheit, Plastizität, Flexibilität und Variabilität in ihren Strukturen und Funktionen. 32 Sowohl die Sinnesleistungen als auch die Handdes modernen Prometheus und zu seiner daraus folgenden Dauererschöpfung ByungChul Han (2010, 56–63). Metaphysisch betrachtet, beweist dieses »self-enhancement«, obschon in pervertierter Form, dass der Mensch mehr ist als Natur, dass er sie immer schon transzendiert und ganz hinter sich lassen will, damit er nicht mehr essen, schlafen, sich erholen, nicht altern und sterben muss. Dass dadurch dieser neue Prometheus mit seinem »alter ego«, dem »Adler der Gewalt und Gier« seine »Leber«, sprich seine Vitalität zerhackt und frisst, offenbart eine Tragik der menschlichen Existenz, deren Überwindung nach Byung-Chul Han nur durch eine »freundliche Abrüstung des Ich« (2010, 6), eine »Kultur der Freundlichkeit« (2005, 68–73), eine gute, »um-zu-lose«, sabbatäre Müdigkeit (2010, 62 f.) und eine neuerliche vita contemplativa (2013, 8) möglich ist. 30 Gerade die frühen mythisch-magischen Kulturstufen zeigen weltweit, dass alles Natürlich-Kreatürliche geistig durchdrungen und überhöht ist, Sexualität z. B. nicht nur Sexualität meint, sondern göttliche Kraftteilnahme, übernatürliche Fruchtbarkeit, göttliches Leben. Vgl. »Fruchtbarkeit? Erotik? Sex? Im Alten Amerika«, aus der Sammlung U. Hoffmann (2006). 31 Vgl. Herrmann, J.; Ullrich, H. (1991). 32 Genau besehen, ist der Menschenleib evolutionsgeschichtlich ein »Mosaik«, das sowohl Züge aufweist, die primitiver sind als bei den Menschenaffen, als auch Züge, die viel jünger sind (z. B. großer Kopf, menschlicher Fuß, verfrühte Geburt, dadurch höhere Vulnerabilität, Notwendigkeit einer extrauterinen Gestation, intensivere soziale Prägbarkeit). Wie das erklärt werden kann, zeigt B. v. Brandenstein (1947, 15 ff.), vor allem 50 ff. auf: Hier wird der Mensch als direkter und letzter Spross des Primatenurstammes gesehen, von dem vor dem Menschen die Pongiden und Pithecinen
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lungskreise sind nicht mehr wie beim Tier in eine spezifische Umwelt eingefügt, sondern – daraus entlassen – für Welt überhaupt, gar für die Möglichkeit von Welt, mithin für utopische Selbstkonstruktionen von Welt offen und geeignet. Damit steht der Mensch nicht mehr distanzlos im Zentrum seiner Umwelt, sondern er kann von ihr abrücken, sie sich gegenüberstellen und im Hinblick auf eigene Entwürfe relativieren: Er ist, wie H. Plessner 33 sagt, »exzentrisch positioniert« oder, wie E. Rothacker 34 sagt, »distanzfähig«. Diese distanzierende Exzentrizität gegenüber der Welt eröffnet zugleich die Möglichkeit einer zweiten Exzentrizität: der gegenüber sich selbst. Und in der Tat vermag der Mensch schon als Kleinkind auf sich selbst zu blicken. Diese Reflexivität ist anfänglich naiv, überhaupt unbegrifflich-emotional und intuitiv, aber schon das Schulkind zeigt erste Anklänge rational-intellektuell-diskursiver Reflexivität, die beim pubertären Menschen dann vollbewusst durchbricht und die einzig beim Menschen vorfindliche Reflexion gebiert, nämlich das Erleben und Wissen um das Reflektieren und Reflektierenkönnen bzw. Nichtreflektierenkönnen selbst: »Ich weiß, dass ich jetzt über mich nachdenke und dies oder jenes empfinde, erkenne, wünsche«; »Ich weiß, dass ich nicht weiß, wer ich bin und was ich soll.« Gewisse Menschenaffen können zwar auf sich reflektieren, auch verallgemeinern und einfache Schlüsse ziehen, aber sie können nicht auf die Reflexion reflektieren und wie der Mensch Symbole bzw. die Akte des Symbolisierens zum Gegenstand ihres Symbolisierens machen. Nur beim Menschen scheint sich in gleichsam potenzierter Form die Exzentrizität ihrer selbst bewusst zu werden. H. Lenk 35 nennt darum den Menschen in Weiterführung von E. Cassirer das metaysmbolische oder suprainterpretierende Wesen: »animal metasymbolicum«. Ich halte fest: Fundamentalontologisch unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch spontan erwachende individuelle Freiheit und Entscheidungsnotwendigkeit, Symbolbildung und symbolische abgezweigt sind, was zwanglos jene Mosaikstruktur erklärt. Auch die Embryonalstadien der Affen bezeugen dies: Die Affenbabys sehen viel menschlicher aus als die erwachsenen Affen, weil sie nicht ausdifferenzierte Affen sind und dem Primatenstamm näher stehen. In gewissem Sinne kennzeichnet den Menschen eine »dauernde Unreife«, eine dauerhafte Kindheit (»Neotenie«). Vgl. zu Neotenie und Selbstdomestikation den kulturphilosophischen Aufsatz von P. Sloterdijk (2016, 44–59). 33 Siehe H. Plessner (1981, 360–365). 34 Siehe E. Rothacker (1964, 61 ff.). 35 Siehe H. Lenk (2001, 237 ff.).
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Mensch, Kultur und Leiden
Kommunikation, durch endlose, alles Endliche transzendierende Kreativität und damit durch lebenslanges Lernen, durch Reflexion und Metareflexion, durch die Entdeckung überzeitlicher, selbstwerthafter Seins- und Wertstrukturen und vor allem, wie M. Tomasello 36 betont, durch »joint intention« und »shared intentionality«, also durch ingeniöse, tief empathische Kooperation, 37 auf deren Grundlage es dem Menschen möglich wird, sich und anderes zu »zähmen«, d. h. zu domestizieren und zu zivilisieren. 38 In all dem kommt ein Grundgesetz der Evolution zum Vorschein, das neben dem allseits bekannten der zunehmenden Komplexität und Spezifizierung mit einer größeren Universalität unter Beibehaltung unspezifisch-primitiver Züge einhergeht und damit eine weniger eindeutige Umwelteinpassung beinhaltet. Gerade als Generalist weist der Mensch diesen antidarwinistischen Wesenszug am klarsten auf: die Emanzipation als Befreiung von natürlichen Bindungen, die souveräne Erhebung über das Natürliche, die Selbstwerdung und die zunehmende Befreiung des individualen Prinzips aus allen kollektiven Größen – ein Prozess, an dessen Ende die geistige Person im Menschen steht.
Siehe M. Tomasello (2009). Affen dagegen benutzen den anderen als Werkzeug und sind nicht in der Lage, den »dritten Standpunkt« einzunehmen: »Apes don’t point for apes.« Von dieser Befundlage aus betrachtet, erscheint die Tatsache der großen genetischen Übereinstimmung von Mensch und Menschenaffe (98 %) bzw. Mensch und Schimpanse (98,8 %) – bei drei Milliarden Genombuchstaben 16–20 Millionen mensch-spezifische genetische Änderungen (vgl. W. Enard 2010, 65) – in einem neuen Licht: Sie beweist, dass die große existenzielle Verschiedenheit nicht nur leiblich-naturalistisch begründet werden kann, sondern durch den Hinzutritt einer neuen, nicht-naturalen Seinsschicht begründet werden muss, jener, der sich alle Kulturation verdankt: der seelisch-geistig-sozialen, selbstverständlich stets an neurobiologische Strukturen gebundenen Dimension, dem Erscheinen der »Person« als »Ich«, »Du« und »Wir«. In der neueren Zeit werden die Befunde von M. Tomasello wieder kontrovers diskutiert. Vgl. W. Welsch (2006/7). 38 J. Scott (2019) stellt das klassische Fortschrittsmodell auf den Kopf und deutet die Sesshaftwerdung des Menschen höchst kritisch. Mit der »Zähmung« und Zivilisierung von Feuer und Boden, Pflanze und Tier, Flüssen und Seen, Frauen und Kindern hätten Herrschaft und Zwang, Gewalt und Zerstörung in einem Ausmaß in die Kultur Eingang gefunden, das mit dem Leben nicht mehr vereinbar sei. Dass die »Technik der Zähmung« (in diesem Maßstab!) den Menschen vom Tier grundlegend unterscheidet, dürfte unfraglich sein und als Grundlage einer umfassenden Kultur- und Zivilisationstheorie dienen. Vgl. dazu A. Roberts (2018), »Tamed«, Windmill Books. 36 37
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5.3.3. Der allgemeine Kulturaufbau und die vier Kulturepochen der Menschheit Den drei in 5.3.1. genannten anthropologischen Grunddimensionen entspricht passgenau die Kulturtheorie D. Ribeiros (1971). Sie unterscheidet in einem Stufenmodell drei zivilisatorische Systeme, die zwar immer zusammen vorkommen, aber in verschiedenen Epochen wechselnd im Vorder-, Mittel- oder Hintergrund stehen. 39 Die erste Stufe (Grundstufe) betrifft die materielle, zumeist wirtschaftliche Reproduktion und fungiert als »adaptives System«: Hier geht es um den Stoffwechsel mit der Natur, d. h. um die Rohstoffgewinnung, Verarbeitung, Arbeitsteilung und Anwendung von Produktionstechniken zur Einpassung der Kultur in die physische Umwelt und deren Erhaltung dort. Die zweite Stufe (Mittelstufe) sorgt für die soziale Reproduktion und wird von D. Ribeira als »assoziatives oder generatives System« bezeichnet: Hier geht es um die Bildung und Erhaltung von Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft, Staat bzw. von staatlicher Organisation, von Unternehmen, Betrieben und sonstigen Korporationen. Die dritte Stufe (Endstufe) betrifft als ideelle Reproduktion die ideologischen, also »ideell-geistigen Systeme« und umfasst die Bildung, Erhaltung und Umbildung von Religion, Weltanschauung, Ideologie, Philosophie, Wissenschaft (inkl. Technikwissenschaft), von Recht, Normen und Wertvorstellungen und schließlich von Musik, Literatur und bildender Kunst. Diese dritte Stufe schließt die Wissensgenerierung und Wissensvermittlung, d. h. die »Produktion des Humankapitals«, für Stufe 1 und 2 ein. Auf dem Hintergrund der drei fundamentalen Dimensionen des Humanen und ihrer Ausprägung auf den drei Kulturstufen lassen sich die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Kulturbildung und ihr immanentes Leidpotential ermitteln, im Rahmen dieser Arbeit selbstverständlich nur kursorisch und unvollständig. Grundsätzlich beginnt alles kulturelle Wirken mit einer Akkumulation, die entweder durch bestimmte Naturressourcen naheDie über das Stufenmodell weit hinausgehende hochkomplexe Kulturtheorie von D. Ribeiro kann hier nicht berücksichtigt werden. Immerhin mag die interessante These D. Ribeiros angeführt werden, die besagt, dass unterentwickelte Kulturen keineswegs nur Vorstufen von höherentwickelten Kulturen sind, sondern dass beide Kulturformen zusammengehören und in ihrer Wechselbedingung ein globales, meist von Unrecht und Ausbeutung bestimmtes Herrschaftssystem bedingen.
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gelegt, 40 durch bestimmte Nöte provoziert oder durch die friedliche oder kriegerische Begegnung zweier Kulturen evoziert wird. 41 Damit ist jene alle Stoffe und Techniken ansammelnde Aktivität gemeint, mit der sich der Mensch in endlosem Taten- und Schaffensdrang seine gegenständliche Kultur schafft, seine Nahrung, Kleidung und Behausung, seine Werkzeuge und Waffen, seine Kultgegenstände und Kunstwerke, seine Sprache und sein Recht, seine Mythen, Sitten und seine Wissenschaft. 42 Diese Akkumulation geht anfänglich weitgehend ungeordnet vor sich und schreitet, so in der Altsteinzeit – der ersten Kulturepoche der archaisch-egalitären Jäger-SammlerGesellschaften von 2,5 Millionen bis 40 000 v. Chr. – über Millionen Jahre sehr langsam, wenn auch keineswegs völlig inkonsequent voran. Diese Epoche wird gemäß W. Welsch als »Protokultur« bezeichnet, weil sich in ihr einerseits die genetische und die kulturelle Tradierung von Wissen und Fähigkeiten noch mischen, andererseits die kulturellen Leistungen des Menschen prägend und gestaltend auf die genetische, noch nicht fixierte Ausstattung zurückwirken und den tierischen Leib menschlicher gestalten. 43 Um 40 000 v. Chr. scheint diese Plastizität des Genoms zu erlöschen, so dass die Tradierung von Wissen und Kompetenz nur noch kulturell erfolgt, weshalb hier zu Recht von einer »jungpaläolithiEin unkriegerisches Beispiel von Akkumulation scheint die »Heilige Stadt von Caral« in Peru zu sein, die ihre Lage und Entstehung vor 4600 Jahren besonderen geografischen Umständen und ihrer Funktion sowohl als Heiligtum als auch als Handelszentrum verdankt. 41 Wie C. Lévi-Strauss (2004, 168–221) bemerkt, gibt es keine einheitlich-linear fortschreitende Akkumulation kultureller Errungenschaften, vielmehr ist eine im Austausch vieler Kulturen sich komplexierende Verzweigung und Verwicklung mit allen möglichen Stagnationen, Abbrüchen und Rückbildungen festzustellen. Klassisch ist der Aufeinanderprall der dorischen mit der »pelasgischen« Kultur, der germanischen mit der römischen, der islamischen mit der griechischen, der jüdischen mit der germanisch-römischen Kultur usw. Nirgendwo gibt es einen reinen Fortschritt auf allen Kulturgebieten, im Gegenteil wird der Fortschritt in einer Kultursphäre oft mit Hemmungen und Rückschritten in anderen Sphären erkauft. Trotzdem meine ich, dass nach dem gigantischen Fortschritt der Neuzeit in Technik und Wissenschaft, der eher die »äußerlichen« bzw. zivilisatorischen Sphären der Kultur betrifft, ein globaler Fortschritt in Recht und Sittlichkeit folgen wird, der, weil im Inneren des Subjekts gelegen, weitaus schwieriger zu initiieren und zu lenken ist. 42 Diese materielle und geistige Gegenstandswelt nennt N. Hartmann (1949, 406) »den objektivierten Geist« im Unterschied zum subjektiven Geist und zum objektiven Geist (z. B. der Gemeinschaft). 43 Siehe W. Welsch (2006/7). 40
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schen Revolution« gesprochen wird. 44 Diese zweite Epoche der menschlichen Kulturgeschichte, die alle Züge einer Übergangsepoche trägt, dauert vom Jungpaläolithikum bis zum Neolithikum um 10 000 v. Chr., also 30 000 Jahre lang. Mit der neolithischen Sesshaftwerdung des Menschen in der Mittel- und Jungsteinzeit – der dritten Kulturepoche 45 – und vor allem im Rahmen der ersten Stadtbildungen und der ersten »hydraulischen Großstaaten« im Orient 46 – der vierten Kulturepoche – explodieren die akkumulativen Betätigungen des Menschen, mit der Folge, dass das Leben wirr und unübersichtlich zu werden droht: Das Chaos, ein von allen großen Mythen beschworenes Urphänomen, lauert hinter dem Vordergrund der bunten Kulturwelt. Darum dauert es nicht lange, bis der polare Gegensatz zum Chaos, die bewusst und gezielt eingreifende und lenkende, in diesem engeren Sinne »geistige« oder »zivilisierende«, »domestizierende« und »richtende« Organisation, auf den Plan tritt, die antispontane, bald sich verfestigende Strukturbildungen wie Stände, Klassen, Institutionen und Gesetzeswerke nach sich zieht, deren traditionale Weitergabe dazu bestimmt ist, Spontaneität und Kreativität einzudämmen. Es gilt nun, was die Väter und Vorväter sagten, und erneut steht man vor einem unvermeidlichen Kulturdilemma: Um nicht in Unübersichtlichkeit, Chaos und Anarchie zu versinken, muss sich alle Kultur, wie N. Elias 47 im »Prozess der Zivilisation« gezeigt hat, Regeln und Grenzen geben, muss sich organisieren, reglementieren und rationalisieren, muss vor allem, wie auch S. Freud 48 betont, den unfassbaren Tiefengrund
Siehe W. Welsch (2006/7). Diese dritte Kulturepoche reicht auf der Grundlage einer dörflich-sesshaften, viehund pflanzenzüchtenden segmentären Gentilgesellschaft als der Trägerin der neolithischen Revolution vom Ende der Eiszeit um 10 000 bis zu den ersten Städtegründungen um 3000 vor Christus. Eine besonders komplexe Erklärung der Sesshaft- und damit höheren Kulturwerdung des Menschen gibt J. H. Reichholf (2009, besonders Teil I, IV, V). 46 Hierbei handelt es sich um die vierte Kulturepoche der patriarchal-kephalen, weitgehend agrarisch-präfossil getragenen Industrie-, Handels- und Kriegsgesellschaften, die von 3000 v. Chr. bis in die Zeit der fossilen Brennstoffverwertung bzw. bis heute dauert. Vgl. dazu die aufschlussreiche kulturhistorische Darstellung der Kulturepochen bei U. Wesel (1994), zumal im Zusammenhang mit dem »Matriarchat«, aber auch die von G. Jenner (2018). 47 Siehe N. Elias (1997). 48 Vgl. S. Freud (1970 a). 44 45
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der individuellen Freiheit und Kreativität in ihre »Gehäuse« bannen. 49 Es entsteht ein Kulturapparat bzw. eine regelrechte »Kulturmaschine« mit eigener Trägheits-, Perpetuierungs-, Zwangs- und Zerstörungskraft. 50 Schon die ersten großen Städte im Zweistromland, in Ägypten und in China zeugen von einer solch hohen technokratischen und bürokratischen Organisation. 51 Das einzelne Subjekt, das in diese Welt hineingeboren wird, hat nicht mehr die Möglichkeit, sich eigens und anders zu definieren, es erlebt diese Welt als eine unhinterfragbare zweite Natur, die ihre angebliche Überzeitlichkeit dadurch zu legitimieren sucht, dass sie sich von Göttern und Heroen herleitet: »cum illo tempore« (seit altersher) sind die paradigmatischen Worte, mit denen M. Eliade 52 immer wieder diese kulturbewahrende und lebensfixierende Aktivität zu charakterisieren sucht. Dem entspricht das interessante Phänomen, dass der Mensch auf der magisch-mythischen Kulturstufe nichts so sehr fürchtet wie die Zeit und darum alles Erdenkliche tut, um sie zu nihilieren. 53 Mit diesem Kulturaufbau gehen unvermeidlich Begrenzung, Hemmung, Abbau und Zerstörung von Erde und Mensch einher. Denn die Kulturwerdung muss in die Natur eingreifen, ihre Kräfte bändigen und sich ihre Ressourcen, z. B. die Bodenschätze, die Pflanzen- und Tierwelt, aber auch die Menschen, nämlich als Sklaven, erschließen. Im weiteren Kulturwerden entstehen komplexere Kulturen durch Unterwerfung anderer Kulturen, die diese entweder ausrauben oder assimilieren. Die Polarität von Aufbau und Abbau, Konstruktion und Destruktion, Förderung und Hemmung, der man Zum »Gehäuse« siehe G. Simmel (2004), K. Jaspers (1954, 304 ff.) und die beeindruckende Erzählung »Der Bau« von Franz Kafka. 50 Siehe L. Mumford (1981, 2 ff.), der in der zunehmenden Mechanisierung des »zivilisierten« Menschen, die in den ersten Großreichen der vorgriechischen Antike (Ägypten, Sumer, Assur, Babylon) einen Höhepunkt erreicht, eine Verwandlung des ganzheitlich magisch-mythischen Menschen der Vorbronzezeit zum »fragmentarischen Menschen« erkennt. Erst in der folgenden Epoche des »axialen Menschen«, der in Buddha, Jesus, Laotse und Jesaja Gestalt annimmt, erfolgt eine allerdings nur teilweise, weil bloß vereinzelte Überwindung dieses Menschen zu einem neuen ganzheitlichen Selbst. Das Ziel kann daher nur darin bestehen, dass alle Menschen ihres »wahren Selbstes« gewahr werden. 51 D. van Laak (2018) zeigt am Phänomen »Infrastruktur« auf, wie sich der Kulturprozess auch nach innen immer komplexer und verwickelter ausbildet und die Gesellschaften dadurch immer abhängiger, verletzlicher und undurchschaubarer werden. 52 Siehe M. Eliade (1998). 53 Vgl. M. Eliade (1994). 49
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schon in der vormenschlichen Natur begegnet, kehrt im Leben der Kulturen wieder. Es liegt auf der Hand, dass hier große Gefahren drohen, vor allem die Gefahr der maßlosen Naturzerstörung und die Gefahr der gegenseitigen Zerstörung von Kulturen. Beides geschieht in der Menschheitsgeschichte wiederholt und bis heute. So kann der Punkt erreicht werden, dass eine Zivilisation ihre eigenen Natur- und Kulturgrundlagen angreift und sich selbst in den Abgrund reißt (z. B. Mayas und Maoris). Mit der industriellen Revolution schließlich begann ein solcher Ausbeutungsprozess sowohl der Natur als auch gewisser sozialer Bevölkerungsschichten bzw. gewisser Nationen, der schwer zu bremsen ist und das Schreckbild des Menschheitsunterganges in die Zukunft malt. Und dennoch: Kein Aufbau ist ohne Begrenzung, Hemmung und Abbau alter Strukturen möglich, das gilt schon für die Führung des eigenen Leibes mit seiner Triebwelt, für den Umgang mit den Naturkräften und gilt für das soziale Zusammenleben. Somit geht es um das rechte Maß und Tempo – und vor allem geht es um Achtsamkeit und Behutsamkeit bei dieser schwierigen Herausforderung. Im Gefolge der unumgehbaren Organisation der akkumulierten Fülle der Kulturgüter und Kulturfähigkeiten kommt es im weiteren Kulturprozess zur Differenzierung, Spezifizierung, Spezialisierung und Parzellierung der Gesellschaft, und zwar sowohl der Breite als auch der Höhe nach: 54 Es entstehen gemäß dem Prinzip der Arbeitsteilung gewerbliche Zünfte und Berufsordnungen und darin allerlei Stände und Herrschaftsschichten. Jeder hat jetzt seinen Platz, den er nur selten selbst wählt, sondern von dem er gleichsam gewählt wird. Die Folgen sind beschrieben worden: Arbeitsteilung und Spezialistentum, Machtverteilung, Herrschaft und Cliquenwirtschaft, Konkurrenz um Ressourcen und Einfluss, gesellschaftliche Verfilzungen und Entfremdungen durch Verlust der Unmittelbarkeit und durch fixierte Rollenerwartungen (soziale »Masken«), und last but not least Ausbeutung von Natur und Mensch, z. B. in Form der Sklaverei. Die Gewinne dieses Differenzierungs- und Spezialisierungsprozesses sind Vertiefung und Präzisierung des gegenständlichen Umganges der menschlichen Arbeit: Der Mensch lernt sowohl das Wesen der Natur als auch seine eigenen künstlichen Produkte genauer, tiefer und innerlicher kennen, z. B. indem er eine intime Materialkunde entwickelt. Insgesamt werden sowohl die menschlichen Produkte als 54
Gefahr: »Verzettelung«, Atomisierung.
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auch die menschliche Tätigkeit selbst komplexer, an innerer Struktur reicher und dynamischer, was mit intrinsischer Notwendigkeit zu einer zunehmenden Vergeistigung, Verinnerlichung, expressiven Veräußerung und Akzeleration des Kulturprozesses führt. Dies wiederum ermöglicht, ja erzwingt eine größere gesellschaftliche Vernetzung (und damit Verstrickung), so dass, wie die moderne Mediengesellschaft beweist, die bessere, feinere, weitere und schnellere Kommunikation immer notwendiger wird. Spätestens hier offenbart sich im Menschen ein grenzenloses Sprachbedürfnis und Sprachvermögen, das kein Tier in dieser Art aufweist. Dass die physikalische Natur dieser Kommunikationsintensivierung, die leicht verflachen kann, mit den unsichtbaren elektromagnetischen Feldern, die zahllose Nachrichten gleichzeitig und störungsfrei zu vermitteln vermögen, ein wunderbares Medium zur Verfügung stellt, mutet fast wie eine prästabilierte Harmonie an, ohne die der menschliche Sprachabgrund nicht offenbar geworden wäre. Die Vergeistigung zeigt sich aber nicht nur in einer zunehmenden Verfeinerung der Prozesse, sondern auch in ihrer zunehmenden Entkörperung, Entsinnlichung und abstraktiven Symbolisierung: Geld z. B. bedarf heute fast keines materiellen Trägers mehr, sondern löst sich in einen reinen Zahlenverkehr auf. Greift dieser Prozess auf das konkrete Leben über, droht eine Verflachung, die das Leben unvital und rigide werden lässt – der homo faber frisst die Leber seiner eigenen Vitalität auf. Aber nicht nur dies: Durch die zunehmende Komplexierung der Gesellschaft tun sich zunehmend dunkle Nischen und düstere Verstecke auf, in denen das Leben in den Untergrund abtaucht und Gegenwelten schafft, destruktive Gegenwelten wie Vetternwirtschaft, Verbrechen, Betrug und Denunziation, Prostitution und Schwarzhandel, aber auch positive Gegenwelten wie verbotene Kunst und Wissenschaft, verfemte religiöse Kulte und politischer Widerstand. 55 Am Beispiel des nationalsozialistischen Staates lässt sich dies gut studieren; Analoges findet man im alten Rom, in Athen, in Alexandrien und in Babylon. 56 Mit der Differenzierung, Spezialisierung, Parzellierung, VernetDas so genannte »Dark Net« weist genau diese beiden Charakteristika auf und wird entsprechend genutzt. Es deckt nicht nur kriminelle Aktivitäten, sondern schützt auch die Meinungsfreiheit, Anonymität und Privatsphäre. 56 Vgl. W. F. Müller (Hrsg., 1958); ähnlich H. Münkler (2007). 55
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zung, Akzeleration und Komplexierung der kulturellen Welt wurden neben der Akkumulation weitere Kulturgesetzmäßigkeiten aufgedeckt, die das Kulturgeschehen verständlich machen. Da Entfremdungen und Konflikte zwischen verschiedenen Kulturmächten mit der komplizierter werdenden Kulturwelt unvermeidlich sind, etwa zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen Recht und Sitte, Religion und Staat, Staat und Kunst, Philosophie und Religion, werden neue gesellschaftliche Mächte auf den Plan gerufen, um Krisen und Katastrophen abzufedern und für Vermittlung, Ausgleich und Integration zu sorgen. Schon die erste Rechtssammlung des sumerischen Königs Ur-Nammu (2100 v. Chr.) und die Kodifizierung des Rechts durch Hammurabi in Babylon deuten auf diese Ordnungsfunktion. Doch es genügt ein Blick in die Geschichte, um zu erkennen, dass diese Vermittlung nur gegen größte Widerstände gelingt bzw. oft misslingt, da immer wieder eine an die Macht gekommene Partialmacht die totale Vorherrschaft im Kulturleben beansprucht und sich alle anderen Kulturzweige zu unterwerfen sucht, was zwangsläufig und regelmäßig zu Krisen und Zerfall führt. Lange Zeit tat dies die Religion, in der Neuzeit sind es Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, heute die Medien, morgen die künstlichen Intelligenzen, die die Oberherrschaft an sich reißen und über andere Lebenszweige dominieren. 57 Es waren die klassischen Griechen, die als erste ein scheinbar außergeschichtliches Prinzip in das Kulturleben einführten, das die Machtverhältnisse jenseits von Herkommen, Stand, Ansehen und Macht regeln sollte: die autonome, nur sich selbst verpflichtete Vernunft. Noch die neuzeitliche Aufklärung beruft sich auf sie, und selbst das Grundgesetz beansprucht, allgemeinmenschlich und überzeitlich gültig zu sein. Dahinter steht der Gedanke des Naturrechtes, also eines Rechtes, das qua Menschlichkeit einem jeden Menschen zukommt und daher wesenhaft zusteht. 58 So hat die Vernunft seit den Griechen, mal mehr mal weniger, die Aufgabe übernommen, die disparaten Kräfte einer Kultur zu bändigen, zu kanalisieren und zu integrieren. Wo ihr das nicht gelingt, droht eine Gesellschaft in Irrationalismen zu versinken. Andererseits kann Vernunft selbst, wenn Unter anderem deshalb der Untergang des Mittelalters. Vgl. H. Blumenberg (1988). 58 Vgl. H. Grotius (1583–1645) als einen der ersten Theoretiker des Naturrechts, das bis auf die Stoa zurückgeht und heute z. B. von R. Marcic (1969) vertreten wird. 57
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sie sich wie zur Zeit der französischen Revolution oder im viktorianischen Zeitalter verabsolutiert, autoritär und inhuman, etwa leibund gefühlsfeindlich werden, und also muss sie, um im höheren Sinne vernünftig zu bleiben, die nicht-rationalen Kräfte des Menschen – Leiblichkeit (»Trieb«), Intuition und Phantasie, Gefühl, Glaube und Gewohnheiten – achten und »vernünftig« integrieren. 59 Die Bedeutung der höheren Integration wird da am deutlichsten, wo ein kultureller Sektor, der nur Mittel- und nicht Endzweckcharakter hat, sich selbst zum letzten Zweck aufwirft. Das war immer da der Fall, wo Wirtschaft, Konsum, Macht und Technik das Leben einer Gesellschaft dominierten. Hier sinkt die Kultur weit mehr ab als in Gesellschaften, in denen wie in den traditionalen Stammeskulturen die Sitte oder in den Hochkulturen die Religion dominierten. Denn diese sind in ihrem Kern kein Mittel, sondern selbst letzter Daseinszweck (weshalb der Zusammenbruch des Abendlandes in den Weltkriegen weitaus verheerender war und rascher erfolgte als der Zusammenbruch Roms oder des Mittelalters). Wo dagegen die höchsten menschlichen Kulturzwecke geschätzt und gefördert wurden, und das sind neben Religion und Sitte die Kunst, die Wissenschaft, die Philosophie, das Spiel und die hohe Politik, da gelangte eine Gesellschaft auf ihre höchstmögliche kulturelle Stufe. Es liegt auf der Hand, dass diese Sternstunden der Menschheit ihr Licht nur selten und kurz im Leben der Kulturen verbreiten. Man bedenke, dass die Hochklassik des perikleischen Zeitalters kaum 50 Jahre dauerte, das augusteische auch nicht viel mehr. Neid, Eifersucht, Habgier, Missgunst, Kleinmut, Größenwahn und Kleingeist übernahmen auch dort bald wieder die Oberherrschaft – klassischer Vorfall: der Prozess gegen Sokrates – und führten die Kultur ins Mittelmaß. Doch auch im Mittelmaß sind rechte Ordnung der gesellschaftlichen Mächte und ihre Integration nötig, so dass es zu keinen Missverhältnissen und Ungleichgewichten kommt. Das Dilemma, das sich hier auftut, ist vielleicht das größte von den bisher genannten: Wie kann ein notwendig einseitiges Individuum wie ein Monarch oder eine entsprechende gesellschaftliche Institution wie eine Regierung die allseitig gerechte Integration aller Kulturmächte garantieren? Wie tief Platon (428–347) in dieses Dilemma, das sich über der Polarität von Lenken und Gelenktwerden aufbaut, hineingeschaut hat, beweist sein in der »Politeia« gegebener dringender Rat, dass die 59
Vgl. M. Landmann (1975, 164 f.).
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politisch Führenden Liebhaber der Weisheit und der höchsten ethischen Tugenden sein müssen, also nicht ihrem speziellen Eigeninteresse als Familienväter, Parteigänger und Zunftmitglieder frönen, sondern das Ganze unter der Ägide der höchsten regulativen Ideen des Guten, der Gerechtigkeit, Besonnenheit und Maßhaltung im Blick halten. Es spricht für Platons sittliche Höhe, dass er den Mut aufbrachte, dieses Konzept, obschon er scheiterte, konkret zu verwirklichen. Können die Menschen heute diesen Mut auch aufbringen und eine Neuordnung der Gesellschaft und Kultur wagen, in der nicht die mittelwertigen Kulturmächte der Wirtschaft, des Finanzwesens, der Verwaltung und der Technik, des Konsums, des Reklamismus und des Vergnügens, sondern die endwertigen Kulturmächte der gerechten Politik, der Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion dem Leben Sinn, Richtung, Grenze und Ordnung geben? Ohne Bändigung der heute herrschenden Plutokratie bzw. ohne eine gesunde Machtbegrenzung der Finanz-, Wirtschafts- und Medienmächte wird dies nicht möglich sein. Was gebraucht wird, ist daher die Fortsetzung des Prozesses der Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle, so dass sich weder Technik und Wirtschaft noch Wissenschaft und Verwaltung noch Medien und Unterhaltungsindustrie verabsolutieren können. 60 Nach dem Schweizer Kulturphilosophen J. Gebser 61 leben die Menschen seit etwa 1900 in einer Zeit des Umbruchs auf der Schwelle zwischen dem mentalen Bewusstsein, das durch verdinglichende Herrschaft, Rationalisierung, spezialisierende Differenzierung und veräußerlichende Entfremdung geprägt ist, und dem integralen Bewusstsein, das alle vorigen Bewusstseinsstufen – die archaische, die magische, die mythische und mentale – aus innerer mystischer Tiefe heraus integriert und den trans- und überkulturalen Wesenskern des Menschen aufscheinen lässt, so dass sich, wenn diese Diagnose zutrifft, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Möglichkeit ankündigt, auf eine Kulturstufe zu gelangen, die nicht mehr dem Gesetz des immanent unausweichlichen Kulturniederganges anheimfällt. 62 So scheint die Einführung einer echten vierten Gewalt, die das Finanzgebaren der Banken und des Staates bzw. der Regierung wirksam überwacht und begrenzt, unumgänglich zu sein. Das in seiner Mehrheit regierungsabhängige Parlament ist dazu kaum in der Lage. 61 Vgl. J. Gebser (1992). 62 Alle organizistisch-zyklischen Kulturkreistheorien von N. Machiavelli, G. Vico, 60
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Um hier klarer zu sehen, ist es hilfreich, die Theorie der Kulturepochen heranzuziehen. 63 Sachlich betrachtet, ist es fragwürdig, den kontinuierlichen Verlauf der Geschichte in Abschnitte zu unterteilen, doch abgesehen von der leichteren Fasslichkeit, die jede Gliederung mit sich bringt, und der Erkenntnis, dass die Geschichte, wenn auch nicht mit strenger Notwendigkeit, so doch auch nicht völlig regellos abläuft, gibt es Zeiten, die durch wenig Veränderungen, und Zeiten, die durch rasche oder markante Veränderungen, so genannte »Paradigmenwechsel« bzw. neue »Leitideen«, gekennzeichnet sind. 64 Dies gilt sowohl für die Individualgeschichte als auch für die Nationalbzw. Universalgeschichte. Andererseits ist zu betonen, dass ein KonJ. W. v. Goethe, F. Nietzsche, L. Frobenius, E. v. Lasaulx, O. Spengler und eingeschränkt A. Toynbee betrachten die Kultur als einen Organismus, der ähnlich den Pflanzen den Gesetzen des Werdens und Vergehens unterworfen ist. In Wahrheit ist es keine Naturnotwendigkeit, dass Kulturen untergehen, sondern innere Widersprüche (»Ungerechtigkeiten«, Imbalancen, Einseitigkeiten) sind es, von denen sie ausgehöhlt und geschwächt werden, bis sie von selbst zerfallen oder von außen durch vitalere Kulturen überwältigt werden. Eine Kultur, in der die Menschen- und Bürgerrechte durchgesetzt wären, was die gerechte Verteilung der Güter und Finanzmittel einschließt, wäre m. E. nicht notwendig dem Untergang geweiht. Eine solche Kultur müsste sich nicht mehr wesentlich rechtlich-politisch, sondern könnte sich geistig-künstlerisch-spirituell vertiefen und endlos weiterentwickeln. In Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und Recht wäre eine Art Homogenisierung bzw. Uniformierung zu erwarten, während in Spiel, Sport, Kunst, Religion und Philosophie die Unterschiede der Kulturen bewahrt und gefördert werden sollten, also eine Diversifikation wünschenswert wäre. Vgl. dazu Byung-Chul Han (2005, 55), der mit seinem Begriff der »Hyperkulturalität« bzw. der »hyperkulturellen Identität« das Phänomen beschreibt, dass Künste und Religionen durch eine Art Hyperindividualisierung (»coloured self«), die sich die eigene Identität beliebig »zusammenstückelt«, immer vielgestaltiger werden (»Patchwork-Religion«, Mischkünste usw.). 63 Sehr überzeugend sind die diesbezüglichen Überlegungen der »Psychohistoriker«, z. B. von L. Janus (2007, 11–19); vgl. ähnlich R. Tarnas (2006, 544 ff.). Die Psychohistorie sucht mittels individual- und kollektivpsychologischer Kriterien die Ablaufgesetze der Geschichte zu bestimmen und stimmt darin mit J. Gebser nahezu überein. Davon unterscheiden sich Modelle, die eher mittels sozioökonomischen Kriterien arbeiten, um die Geschichte in Epochen zu gliedern, z. B. das Modell von A. GrabnerHaider (2005, 607 ff.; 2006, 19 ff.), der folgende, sich überlappende Kulturstufen unterscheidet: Jäger und Sammler (mit Domestikation des Hundes ab 40 000 v. Chr.) – Hirtennomaden (Viehzucht) – niedere Ackerbauern (Pflanzenzucht und Gartenbau) – höhere Ackerbauern (Städtebau) – Industriezeitalter (Maschinenbau) – zuletzt das »Informations- und Medienzeitalter« (»Zeichenbau«), dessen »Wirken in Echtzeit« auf eine »absolut-zeitlose Kommunikation« in der Sphäre des Göttlichen vorausweist. 64 Je tiefer man in die Kulturwerdung eindringt, desto mehr kann man auf innere Sinnzusammenhänge stoßen, die das Zufällige, Sinnwidrige und Unvernünftige keineswegs aus-, sondern einschließen.
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tinuum das Vorhandensein von Rhythmen, Brüchen, Zäsuren, Sackgassen, Beschleunigungen und Verlangsamungen keineswegs ausschließt, wie die Musik am schönsten beweist. Die Frage, die sich aufdrängt und die beantwortet werden muss, ist die nach dem Epochenkriterium, und da gibt es viele Möglichkeiten der Unterscheidung und Gliederung. So lässt sich die Universalgeschichte recht eingängig nach dem grundsätzlichen »Bewegungsverhalten« bzw. »Bewegungsstil« des Menschen gliedern: So war er bis zum Beginn der Jungsteinzeit ein gemäßigter Nomade und eroberte, indem er den Beutetieren, von denen er lebte, als Horde wandernd folgte, den ganzen Erdball. Entsprechend dieser flexiblen Lebensweise lebte er sozial wenig arbeitsteilig in eher egalitären und reziproken Beziehungsstrukturen mit einer direkt von der Natur lebenden Wirtschaftsform ohne Vorratshaltung und ohne Privatbesitz. Danach entwickelte er, ausgehend vom »Fruchtbaren Halbmond« in Vorderasien, Viehhaltung und Ackerbau, wurde bald sesshaft und siedelte sich mit seinen Sippen bzw. Stämmen in Dörfern an. Entsprechend der neuen technischen und wirtschaftlichen, vor allem aber menschlich »intimeren« Lebensform änderten sich die sozioökonomischen Verhältnisse und gingen mit komplizierten gentilen Verwandtschaftsstrukturen mit oft bizarren Heirats- und Besitzregeln, Umgangsformen und vielfältigen Geboten und Verboten einher. Diese Neuerung war so fundamental, anhaltend und welterobernd, dass sie zu Recht von G. Childe 65 als »neolithische Revolution« bezeichnet wurde. 66 Ihr folgte mit der Städte- und Reichebildung und der Ausbildung einer arbeitsteilig-klassengeschichteten Gesellschaft (Priesterkönigtum, adlige Kriegerkaste, Arbeiter, Händler, Handwerker und Sklaven) eine neue, äußerst machtorientierte Epoche, die durch Naturausbeutung, Menschenversklavung, Kriegführung, Hierarchisierung und Patriarchalisierung der Gesellschaft charakterisiert war. Ihre Dynamik reicht bis in die Neuzeit und umfasst in gewisser Weise noch die industrielle Revolution der Moderne, der es keineswegs gelang, die alten patriarchalischen Herrschaftsformen aufzulösen. Im Gegenteil verschärften sich die gesellschaftlichen und nationalen AnSiehe G. Childe (1960, 29 ff.). A. Grabner-Haider (2005, 619 ff.) unterteilt diese Kulturstufe in zwei Unterstufen, die niederen und die höheren Ackerbauern, was einen Erkenntnisgewinn mit sich bringt.
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tagonismen durch die lebensfeindliche Entwicklung von Patriarchalismus, Nationalismus, Sklaverei, Kolonialismus, Militarismus, Imperialismus, Kapitalismus und Rassismus. Es scheint, dass diese vierte Großepoche der Menschheit – die »Herrschaft der Hure Babylon« – noch anhält, sich erst allmählich auflöst und nur unter schweren Geburtswehen rechtlicheren, demokratischeren und humaneren Lebensformen Platz macht. Ein bedeutender Gradmesser für diesen Prozess ist der Umgang mit Schwächeren und Minderheiten, insbesondere die Gleichstellung der Frau, die Aufwertung des Kindes, der bewusstere und respektvollere Umgang mit der Natur, flachere Hierarchien, die Anerkennung anderer Kulturen und Religionen und insgesamt ein spirituelleres und integrativeres Denken. 67 Man wird nicht fehlgehen anzunehmen, dass die neuen Medien, vor allem das Internet, diesen Demokratisierungs- und Globalisierungsimpuls und damit den Übergang in eine neue fünfte Großepoche befördern. 68 Es dürfte klar sein, dass dieser Epochenwechsel nicht glücken kann, wenn die nach wie vor extrem natur- und menschausbeutende Wirtschaftsweise nicht in eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Wertschöpfung überführt wird. 69 Darum ist es angezeigt, die liberalistisch-individualisL. deMause (2005, 6) spricht geradezu von einem »versteckten Holocaust an den Kindern«, deren verstümmelte Emotionen entscheidend an der Verursachung von Kriegen, Massenpsychosen und Revolutionen mitwirken. 68 Gemäß psychohistorischen Kriterien folgt auf die archaisch-tiernahe, noch instinktgeführte Horde bzw. Sippe (1) die magische Stammesherrschaft (2), dann das mythische Königtum (3) und heute, als vierte Epoche, die rationale Demokratie (4). Nach ihr sollte laut J. Gebser (1992) die integrale Menschheitsepoche (5) kommen, deren politische Struktur noch unbekannt ist und die ihre ersten Anfänge um 1900 erkennen lässt. Nach R. Tarnas (2006, 553) entsprechen der 1., 2. und (nur bedingt) der 3. Großepoche die Vorherrschaft der participation mystique, der 3. und 4. Epoche die Vorherrschaft von Dualismus, Entfremdung, Spaltung und Dissoziation und der 5. Epoche die neue participation dialectique, die ganzheitlich-integrativ, emanzipatorisch und partizipatorisch ist. F. Adama v. Scheltema (1950) unterstreicht, dass jede »mittewendige«, zentripetal-geistige Epoche, die eine zentrifugal-peripherische Entmittung und Zerstreuung überwindet, mit der Aufwertung der Frau als Realsymbol der ruhenden Mitte verbunden ist. Entsprechend unterscheidet er eine peripher-geistige Formung der Kultur, die man »kindlich« nennen könnte, von einer zentral-geistig-bindenden Formung, die er »weiblich« nennt, von einer zentrifugal-explosiv-expansiv-entbindenden Kulturformung, in der das »Männliche« vorherrscht. Steht also eine Epoche der geistigen Zentralisierung an, in der die Frau eine neue Rolle spielt? Manches spricht dafür. 69 Das heißt, dass sie ihrem Wesen nach eine utilitaristische und daher wertverneinende Weltanschauung impliziert. 67
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tisch-materialistische Weltanschauung, die Zerstörung und Leid in einem Ausmaß verursachte, das in der Menschheitsgeschichte unerreicht ist, zu hinterfragen. Die derzeitige Krise von Finanz- und Wirtschaftswelt bietet sich dafür nachdrücklich an. Mit diesen Ergebnissen stimmt das Theorem von Teilhard de Chardin 70 überein, demgemäß sich zwei Großphasen unterscheiden lassen, nämlich die der Divergenz und die der Konvergenz, die sich rhythmisch abwechseln. Sowohl in biologischer als auch in kultureller Hinsicht beobachtet man oft ein breites Auseinandergehen der Gestalten in Vielfalt und Fülle, damit auch in Differenz, Diskrepanz, in Kampf und Krieg, ein Auseinandergehen, das von Konvergenzkräften gebündelt und integriert wird und dann oft kategorial neuartige Gestalten aus sich entlässt. So haben sich z. B. aus dörflichen Siedlungsgebilden zunächst viele Stadtstaaten gebildet, die später von Großreichen im Rahmen neuer Technologien, Sozialstrukturen und politischen Lenkungszentren zusammengefasst wurden; und so scheint sich heute nach einer langen Epoche der Nationenbildung eine Tendenz zur Globalisierung zu regen, die höhere übernationale Einheiten hervorbringt, also zur Konvergenz führt. Die höchste mögliche Einheit – nach Teilhard de Chardin der »Omega-Punkt« – wäre die Menschheit selbst, die sich, wenn sie sich rechtsstaatlich allgemein formieren und spirituell einigen würde, vielleicht wirklich, wie I. Kant hoffte, eines »ewigen« oder doch anhaltenden Friedens erfreuen dürfte. 71
5.3.4. Exkurs: Die Krise des Kapitalismus und der Buddenbrook-Effekt Schon seit Langem ist bekannt, dass das kapitalistische, heute mehr als je neoliberal orientierte Gesellschafts- und Wirtschaftssystem in schwere Krisen gerät, die zyklisch wiederkehren. 72 Den Hauptgrund Vgl. T. de Chardin (1965). Dem »Pulsieren« von Divergenz und Konvergenz entspricht das Konzept von F. Adama v. Scheltema (1950) von Zentralisierung und Zentrifugalisierung des Kulturprozesses bzw. vorher schon der biologischen Evolution. 71 Vgl. I. Kant (1795). 72 Hinter dem neoliberal-marktorientierten bzw. »welfaristischen« Wirtschaftsmodell steht das Dogma, dass sich der Markt, wenn er frei von staatlicher Regulierung bleibt, selbst steuere und alle Bedürfnisse der Individuen befriedige, was mit dem Kürzel EMH (efficient market hypothesis) bezeichnet wird. Zur Voraussetzung hat 70
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für dieses Phänomen sieht K. Marx in der durch die Konkurrenzspirale erzwungenen Überproduktion von Kapital und Waren, die – nicht mehr sinnvoll in den Wirtschaftskreislauf eingebracht und angemessen verteilt – überflüssig werden. 73 Akkumuliertes Kapital aber, das nicht zirkuliert, wird – etwa in Form von »Warenhalden« (Lagerung von Nahrung) und »Zivilisationsmüll« (Plastikteppiche im Meer) – zur teuren Last und erzeugt eine schwer steuerbare Akkumulationsdynamik. Diese Dynamik hat folgenden Hintergrund. Nach Expertenaussage stehen an ihrem Anfang große Einkommensunterschiede zwischen den gesellschaftlichen Schichten, zumal zwischen der reichen Oberschicht und den oft verarmten Mittel- und Unterschichten bzw. zwischen den reichen und den armen Nationen. Da Letztere von den Konsummöglichkeiten der Reichen angezogen werden, jedoch nicht in der Lage sind, ihnen aufgrund des fehlenden Eigenkapitals zu folgen, leihen sie sich Geld von Banken, die mit Spekulationen wirtschaften, und verschulden sich, um sich ihre Konsumwünsche, z. B. den Kauf von Eigenheimen und Immobilien, zu erfüllen oder Kredite aufzunehmen. 74 Da diese Schuldner, zu denen auch finanzschwache Staaten gehören, ihre Darlehen nicht zurückzahlen dieses Dogma – neben den Items »Wettbewerb«, »Vertragsfreiheit«, »Eigentumsgarantie« und »unbegrenztes Wachstum« – das »Philosophem« des homo oeconomicus, der unbeeinflusst von sozialen und psychologischen Einflüssen und auf rein rationalem und dadurch mathematisch genau berechenbarem Wege seinen Vorteil sucht, ja berechnet und damit rational erfüllt. Hinter dieser Logik wiederum steht das neuzeitliche Ideal, alle Wissenschaften der Naturwissenschaft anzugleichen und – in diesem Fall – die Wirtschaftswissenschaft zur reinen Naturwissenschaft, die sich nicht nach solch »antiquierten« Werten wie Mitgefühl, Wahrheit und Gerechtigkeit zu orientieren habe, zu entwickeln. Alles Nichtnaturwissenschaftliche bzw. Nichtmathematische wie soziale, psychologische, leiblich-organische und geistig-kulturelle Werte und Verhältnisse werden ausgeblendet und für Randfaktoren erklärt, die sich dem Nutzendogma des Utilitarismus zu unterwerfen haben. Die Folgen dieser »globalen Amerikanisierung« (P. Scholl-Latour) müssen von einem humanistischen Menschenbild her verheerend sein. Vgl. dazu ähnlich T. v. Treeck (2012). Zum Problem der Entstehung von Wirtschaftskrisen überhaupt vgl. H. Schumann/C. Grefe (2009); vgl. ähnlich W. Plumpe (2010). 73 Siehe A. Müller (2009, 51): »Die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit erhöht den relativen Mehrwert nur dadurch, dass sie bei gegebenem Kapitaleinsatz den Arbeitseinsatz vermindert. Dadurch senkt sie die Profitrate und schafft eine Verwertungsschranke, die nur durch die Krise überwunden werden kann.« 74 Vor allem in den USA wurden geradezu rauschartig Eigenheime gekauft, was anzeigt, dass hier ein Archetypus aktiviert wurde, der Millionen von Menschen mit sich riss – der Archetypus des »Selbst-Gehäuses« mit seinem eigenen, scheinbar voll kontrollierbaren Eigenraum.
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können, sammeln sich auf den Banken »faule Kredite«, mit denen trotz ihrer sachlichen Wertlosigkeit »erfolgreich« gehandelt und Profit erwirtschaftet wird. Hierin liegt ein erster Grund für die Immobilienblase, die 2007–2009 eine Finanzkrise nach sich zog. Wie aber konnten die Banken so viel Geld verleihen? Woher kam das Überangebot an Finanzkapital, das in geradezu manisch-irrationaler Weise in einen Markt gepumpt wurde, von dem man wusste, dass er das geliehene Geld nicht würde zurückgeben können? 75 Dies galt umso mehr, als die Kredite unbegrenzt und ungeprüft weiterverkauft wurden, so dass eine gigantische Investitionsblase mit einer daran auf Gedeih und Verderb hängenden Investmentindustrie entstand. Gefördert wurde dieser Investment-Hype auf Seiten der Kreditgeber außerdem durch die maßlose Vergabe von Provisionen für die Banken bzw. Banker, die diese Investitionen vermittelten. Dieser »Goldrausch« ergriff schließlich sogar die Eigenheimkäufer selbst, die nicht selten mehrere Immobilien erwarben, um an ihnen durch Weiterverkauf zu verdienen. Das Erstaunlichste an diesem Vorgang war jedoch nicht das wahrhaft weltweite »Machen und Hinauswerfen« von Geld, sondern das Erstaunliche war, dass dieses Kapital erstens an Schuldner gegeben wurde, die nicht über das Einkommen verfügten, um ihre Schulden zurückzahlen bzw. die Zinsen tilgen zu können, dass also letztlich ungedeckte, aberwitzig riskante Anlagen getätigt wurden, und dass zweitens, was noch unverantwortlicher erscheint, von den Kapitalgebern keine Rücklagen gebildet wurden, um sich für schlechte Zeiten abzusichern. Der Konkurrenzdruck und das Gieren nicht nach Gewinn überhaupt, sondern nach dem schnellen und schnellsten Gewinn und damit das Ausstechen der Konkurrenz, also letztlich die Erreichung und Konservierung der Vormachtstellung auf dem Weltmarkt, verbunden mit einer garantierten Dauerbereicherung waren der Grund für dieses irrational riskante Anlageverhalten. Da sich die Finanzmärkte durch die Totalmobilisierung und Internationalisierung des Kapitals immer mehr der politischen Kontrolle entzogen, kam es zu Kapitalfluchtbewegungen und turbo-kapitalis-
Das Wesen des Marktes ist seinem Austauschwesen entsprechend amoralisch und kurzsichtig. Beides ist mit den heutigen sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen nicht mehr vereinbar, weswegen diese Form des Marktes nicht zeitgemäß ist. Im Übrigen ist die freie Marktwirtschaft eine gelenkte Illusion, da viele Großunternehmen staatlich subventioniert oder bevorteiligt werden.
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tischen Aktienspekulationen mit dem Phänomen der »Entkopplung«, sprich »der Entfernung der Börsenwerte von den tatsächlichen in den Unternehmen erzielten und überhaupt erzielbaren Gewinnen […] die […] Dekontextualisierung der Informationen über Märkte und Unternehmen (machte) die Akteure unfähig […], zwischen der tatsächlichen Profitabilität der Wirtschaft und den systemintern durch die Finanzmärkte selbst generierten Signalen zu unterscheiden.« 76 Da auf diesem Wege an Stelle der Realität »symbolische Inszenierungen und politische Rhetorik treten, in der sich Identitäten in der Tat mit Leichtigkeit konstruieren und dekonstruieren lassen«, entsteht im Grunde ein kollektiv-massenpsychotischer Zustand mit Realitätsverlust und Wahnbildung. 77 Der Turbokapitalismus wird zum MimikryKapitalismus, der Realität nur imitiert und darum dieselbe mit einer »Beschleunigung der Mythenspirale« ersetzen muss. Die Folge dieses »entfesselten Fortschrittes« 78 ist mit innerer dialektischer Konsequenz ein »rasender Stillstand«, 79 der dem entspricht, was der Kapitalismus am wenigsten verträgt und sein Ende bedeutet: die Stagnation. Woher aber, so fragt sich, kamen die gigantischen Geldmengen? Zum Teil von den neuen, schnell wachsenden Volkswirtschaften der bevölkerungsreichen Länder China und Indien, zum Teil aus einer weltweiten Gesellschaftsschicht von »Rentiers«, die von der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich profitiert und ihr maßlos wachsendes Kapital nicht mehr wirtschaftlich produktiv investiert, sondern zur weiteren Geldvermehrung in Investmentfonds anlegt und bloß vererbt. 80 C. Deutschmann (2008 und 2009) spricht bei diesem Verhalten vom Buddenbrook-Effekt, da die von Thomas Mann beschriebene Kaufmannsfamilie Buddenbrook erst ein durch gesundes Wirtschaften florierendes Unternehmen aufbaute, um es ab dem Zeitpunkt, als seine Eigentümer immer mehr jener Rentiermentalität der unproduktiven Kapitalvererbung verfielen, in den Siehe C. Deutschmann (2002, 248). Siehe C. Deutschmann (2002, 249). 78 Siehe R. Dubos (1970). 79 Siehe P. Virillo (1992). 80 Worin im Übrigen deutlich die »utopische Funktion« des Geldes mit ihrer »Imagination absoluten Reichtums«, wie C. Deutschmann (2002, 242) sagt, zum Vorschein kommt: Geld individualisiert und universalisiert nicht nur den Markt, sondern »utopisiert« ihn auch: Auf Zukunft projektiertes Geldvermögen wird »zum Fluchtpunkt gesellschaftlicher Projektionen und Phantasien«. Vgl. C. Deutschmann (2002, 242). 76 77
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Strudel des wirtschaftlichen Ruins hineinzumanövrieren. Man sieht daran, dass nicht nur die reine Profitgier das Unglück heraufbeschwört, wiewohl ganz wesentlich auch, sondern das anankastischsinnlose Horten von Finanzkapital um seiner selbst willen. Geld mutiert vom Tauschmittel zum Selbstzweck und erhält, wie C. Deutschmann betont, einen religiös-numinosen Nimbus – schon G. Simmel 81 spricht beim Geld nicht nur von einem Tauschmittel, sondern von einem »Vermögen« mit quasimagischen Qualitäten –, was eine archaisch-magische und irrationale Komponente des angeblich so rationalen Kapitalismus freilegt. Wenn aber ein Nicht-Absolutum die Last des Absolutums tragen soll, muss es tragischerweise zusammenbrechen. Genau das ist das Wesen und Schicksal des heutigen Kapitalismus, der nur wird überleben können, wenn er sich grundlegend reformiert, seine Maßlosigkeit aufgibt und sich in den Dienst der Menschen stellt. Um dies zu erreichen, muss die Kluft zwischen Arm und Reich verringert werden oder anders: Menschliche Arbeit muss mit betrieblicher Mitbestimmung und unternehmerischer Partizipation verknüpft werden – Stichwort: der Arbeiter als Kapitaleigner, und zudem muss sie sich lohnen und darf nicht so verschieden wie heute vergütet werden. Zwar lebt die kapitalistische Dynamik davon, dass innerhalb der Gesellschaftspyramide Klassendifferenzen, und zwar im Gegensatz zum feudalistischen Ständesystem durchlässige Klassendifferenzen bestehen, weil sich nur so jene Aufstiegsmöglichkeiten eröffnen, die der Motor für das Funktionieren des Kapitalismus sind. Wo die gesellschaftliche Kluft jedoch zu groß wird und die Mehrwertverteilung ungerecht ist, resignieren oder rebellieren die unteren Gesellschaftsschichten, während die oberen keine Abnehmer mehr für ihr Kapital finden. Das System kollabiert. Die kapitalistische Dynamik braucht die Spannung, die durch die Gesellschaftspyramide zwischen den Klassen der Gesellschaft erzeugt wird. Aber wo sich die reicheren Klassen abkoppeln bzw. die Kluft zu groß wird oder die unteren Klassen wie heute durch die Überalterung der Gesellschaft schrumpfen, letztlich also das Finanzkapital nicht mehr im Dienst der Gesellschaft wirtschaftet, sondern sich narzisstisch selbst vermehrt und dabei die Natur, die naturnahen Kulturen und die Gesundheit der Menschen zerstört, da ist diese Form des Kapitalismus samt ihrem Gesellschafts-
81
Vgl. G. Simmel (2008, 253 ff.).
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system dem Untergang geweiht. 82 Da diese Dynamik längst den lenkenden Kräften der Politik entglitten ist, wird es schwer sein, sie aufzuhalten bzw. umzukehren. Es dürfte andererseits keine Alternative dazu bestehen, wenn die Menschheit überleben will – sie muss lernen, ihre Gier, ihren Egoismus, ihre Rücksichtslosigkeit, ihre Unvernunft und ihre unbewussten »magischen Phantasien« zu mäßigen und einzubinden.
5.3.5. Mystik und Kultur Um den letzten Sinn und Zweck des Kulturlebens zu erfassen, ist es hilfreich, dasselbe jenem seltenen und seltsamen menschlichen Phänomen gegenüberzustellen, von dem es nicht den mindesten Ansatzpunkt im Tierreich gibt und das sehr oft im Gewand der Kulturnegation auftritt: Es handelt sich um die Mystik. Bedenkt man ihre zentrale Intention, frei von allen nichtgöttlichen Zutaten die Vereinigung mit der Gottheit zu realisieren – Meister Eckhart (1260–1327) spricht von einer radikalen Entbildlichung, also einer Transzendierung allen (gegenständlichen) Seins –, wird ihre Stellung zur Kultur und damit die Stellung der Kultur in der Totalität des Humanen deutlicher. Alle Kultur ist in Sprache, Bild und Ritual Menschenwerk – die Mystik dagegen sucht das, was menschlich nicht erreichbar oder herstellbar, im Wesen nicht einmal aussprech- und benennbar ist. Sie weiß, dass sie des menschlichen Selbstseins ledig werden, dass sie sich in Schweigen hüllen muss, um das absolute »Übersein« zu erreichen. So nah die Kultur an die Gottheit heranführen mag, und das tut sie in ihren großen künstlerischen, wissenschaftlichen und religiösen Werken, so kann sie nicht den Sprung in den »Abgrund der Gottheit« vermitteln. 83 Im Gegenteil steht sie einem solchen zumeist, da die Menschen an ihren geliebten Werken und Gebräuchen (letztlich an sich selbst) anhaften, im Wege, was die nicht seltene Kulturfeindlichkeit von Mystikern erklärt. Damit ist die Grenze aller Kultur angegeben, und man muss konstatieren, dass das Wesen des Menschen in ihr nicht zu voller Entfaltung und Erfüllung kommen kann, sondern dass Nach neusten Studien sind 19 %, also fast ein Fünftel der Bevölkerung dauerhaft psychisch und psychosomatisch krank! 83 Siehe Meister Eckhart (1996, 22). 82
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vielmehr die Kultur dann ihren größten und letztmöglichen Dienst erfüllt, wenn sie den Menschen »gottwürdig« und »gottfähig« macht, ihn also paradoxerweise in die Lage versetzt, von allem Kulturwerk und Kulturwirken, also auch von der »Religion« und »Spiritualität« zu lassen. 84 Nicht wenige vortechnologische Kulturvölker haben um diesen dilemmatisch-prekären Zusammenhang gewusst und verlangten von ihren Mitgliedern, ihre in großer Hingabe und mit viel Mühe geschaffenen Werkzeuge, Waffen und Kunstwerke als Opfer an die Gottheit dem Feuer zu übergeben, noch besser, zurückzugeben. Denn in der Tat liegt in aller Kultur, da sie der toten Dinge bedarf, die Gefahr der geistigen Sklaverei und damit des Selbstverlustes des Menschen. Der Mathematiker und Mystiker B. Pascal (1623–1662) erlebte dies schmerzlich und zog daraus seine radikal-spirituellen Konsequenzen. Kultur, die nicht, selbstvergessend, zur schweigenden Leerheit vor die Gottheit führt, setzt sich prometheisch an deren Stelle und verrät das Beste des Menschen: seine Gottebenbildlichkeit, seine Gotteskindschaft und seine Bestimmung, »zu werden wie Gott«. 85 Die letzte und äußerste Krisis der Kultur ist darum ihre freie Selbsthingabe in den Abgrund der Gottheit. Gerade das völlige Erwachen des Menschen zu sich selbst, zu seiner metasymbolischen und damit welttranszendierenden Potenz beweist, dass sich sein Innerstes, Wesenhaftestes, das er im Kulturschaffen vor sich bringt, um sich darin angesichtig zu werden, letztlich der Kultur entzieht und sich nicht vergegenständlichen lässt. Der Quell aller Kreativität lässt sich nicht, wie dieses Dilemma beweist, verdinglichen, lässt sich nicht gegenübersetzen, sondern offenbart sich, wenn überhaupt, nur in Selbstreflexion und Selbstversenkung in die innere ungegenständliche Leere, in der die Menschen – frei von Gedanken, Begriffen, Wünschen und Bildern – unmittelbar ihr überund ungegenständliches Da- und Wachsein, ihr lebendiges Strömen und inständliches Innesein gewahren. 86 Der innerhalb der Kultur unüberwindliche Gegensatz von Formbildung und Formauflösung verVgl. Meister Eckhart (1996, 36 ff.), der so weit geht, von allem Gottnahseinwollen abzulassen und überhaupt nicht mehr zu wollen, weil nur so der Mensch völlig leer (ledig) wird für Gott. 85 Vgl. J. Hessen (1924). 86 Von der Sache her entspricht dies J. G. Fichtes intellektueller Anschauung, in der sich das Subjekt nicht gegenständlich, sondern inständlich, sprich unmittelbar als Vollzug erlebt und anschaut. 84
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schwindet auf dieser höheren und höchsten Stufe der Bewusstheit und befreit für neue Erfahrungsdimensionen, jene nämlich, die von der »religio perennis« zu allen Zeiten und Orten gelehrt wurde und von Nikolaus von Cues (1401–1464) in den Begriff der »coincidentia oppositorum«, in den Zusammenfall der Gegensätze gefasst wurde. 87 Es rührt wohl daher, dass mystisch begabte Menschen und Völker wie z. B. diejenigen auf dem indischen Subkontinent in der Vergangenheit weniger an der technisch-wissenschaftlichen Kulturentwicklung interessiert waren als die faustisch-abendländische, eher extrovertierte und sach- und machtorientierte Kultur der Europäer. Weltverhaftete Wissenschaft, weltbemächtigende Technik und weltverfangene Medienwelt müssen zwangsläufig in Europa auf mehr Gegenliebe stoßen als etwa in Indien und Afrika. Auch an diesem Punkt des Kulturvergleiches begegnet man dem Urdilemma der menschlichen Existenz: zugleich in und über der Welt zu sein, zwei Ursprünge zu haben, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen, sondern ausgewogen verbunden werden müssen. Mit seinem Innesein transzendiert der Mensch, wie heutzutage ein Denker wie M. Henry 88 wieder zu sagen wagt, die Welt in eine wesenhaft »unweltliche« Dimension, ohne die er sich hoffnungslos an die Welt verZur »religio perennis« siehe G. Hierzenberger (2003, 137 ff.). Siehe M. Henry (2005, 112). »Das Leben erprobt sich unmittelbar selbstempfindend ohne Distanz; ohne dass sich irgendein Abstand in ihm auftut, der es von ihm selbst trennen würde, und ohne dass ein einziger Blick jemals in es eindringen könnte, um es als Gegenüber oder Objekt in irgendeinem Außen zu entdecken. Das Leben ist in sich der Welt fremd; und wenn die Welt einen ekstatischen Horizont der Sichtbarkeit bezeichnet, so ist das Leben unsichtbar. Niemand hat jemals das Leben gesehen oder wird es jemals sehen. Wer hat jemals seine Mühe, seine Angst, seine Freude gesehen? Wer hat jemals Gott gesehen? Deshalb ist es notwendig – wenn man das innere Wesen dieses Lebens meint, welches das unsrige ist, das Tiefste unseres Seins definiert und mit dem in letzter Hinsicht die Psychoanalyse und die Psychopathologie im Allgemeinen zu tun haben –, jede Annäherungsweise abzulehnen, deren Möglichkeit im Außen oder Im-Außen-sein bestünde. Und ebenso ist die Gesamtheit der Kategorien zurückzuweisen, die ihren Ursprung und ihre Konkretheit in jener Weise des Erscheinens schöpfen.« Auch wenn »das Leben« nicht objekthaft erscheinen und angeschaut werden kann und daher keine objekthaft innere Vielheit mit inneren Distanzen besitzt, weist es dennoch immanent unterscheidbare Momente auf: So ist nach M. Henry das Leben immer zugleich die Einheit eines Sichselbsthingebens, Sichselbstentgegennehmens und eines Sichselbstertragens. Vgl. M. Henry (2005, 124– 139). Kritisch ist anzumerken, dass hier »Leben« und »Welt« nahezu auseinandergerissen werden, verkennend, dass sich »Leben« nicht nur in allem Welthaften ausdrückt, sondern alles Welthafte gestaltet. Dieser Dualismus nimmt fast manichäischweltentwertende Züge an.
87 88
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lieren müsste, und das heißt, veräußert, verdinglicht und zerstreut würde. Darum müssen in einer Kultur, die nur das »In-der-WeltSein« 89 kennt, depressiver Selbstverlust, Lebensangst, Sucht und Ersatzbefriedigung epidemisch um sich greifen: An die Stelle des wesenhaft undinglichen Seins tritt das dingliche Sein bzw. das Haben desselben: Reichtum, Macht, Attraktivität, Lust, Ablenkung, Gerede und Suchtmittel aller Art. 90 Ein gewissensbildender Todes- und Aggressionstrieb ist nicht, wie noch S. Freud (1970 a) meinte, nötig, um die Dilemmata der Kultur zu erklären. Viel tiefer als S. Freud dachte, liegt es im kulturbildenden Impuls selbst, Kultur zerstören zu müssen. Denn alle Kultur verdankt sich der verendlichenden, damit einengenden, festlegenden, fixierenden und unfrei machenden Formbildung, und eben die muss der kreativ-supranaturale Urimpuls im Menschen um seiner selbst willen immer wieder aufbrechen. 91 Zwar erzeugt dies gegenüber den traditionsbildenden Mächten ein schlechtes Gewissen, vor allem in den traditionalen Gesellschaften, weswegen solche Kulturen statisch und zeitfeindlich sind; und richtig ist auch, dass sich die Revolte hier vor allem gegen den »Vater« bzw. die gesellschaftliche Vatermacht richtet, vertritt diese in der Regel doch das traditionsbildende Kulturgut, die Gesetze, Regeln, Vorschriften, Tabus, Machtverteilungen und Einflusssphären. Doch diese Revolte steht, wie alle pubertären Aufstände beweisen, nicht, wie S. Freud meinte, im Dienst eines irrationalen Todestriebes, sondern im Dienst des Lebens, seiner erneuten Befreiung und Weiterentwicklung. Im Unterschied zum Tier, das »immer dasselbe bleibt«, gehört es zum Menschsein, überkommene Identitätsformen zu zerbrechen, um einer neuen, eigenen Identität Raum zu verschaffen. Denn das Wesen des Menschen besteht gerade nicht (nur) in einer bestimmten Identität, einer fixierten Wesenheit, sondern in der freien Identitätsbildung: »L’homme est ce qu’il se fait«, sagt J.-P. Sartre; und analog spricht Hyung-Chul Han von der »hyperkulturellen Identität«. 92 Auf gesellschaftspolitischer Ebene dürfte heute eine solche Identität neben den demokratisch-repräsentativen noch mehr basisdemoSiehe M. Heidegger (1979, EA 1927). Vgl. E. Fromm (1993). 91 Diesen Zusammenhang sieht auch A. Schopenhauer, allerdings ins Metaphysische gewendet und auf das Verhältnis des unendlichen Lebenstriebes zu seinen immer nur endlichen Lebensmanifestationen übertragen. 92 Siehe J.-P. Sartre (1973, 23); siehe Byung-Chul Han (2005, 54). 89 90
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kratische Elemente und damit den Abbau von antihumanen und antidemokratischen (Finanz-)Hierarchien umfassen. 93 Diese Grunddynamik des ständigen Identitätsumbaues weist vor allem auf den Unterschied zwischen Mensch und Tier hin: Jeder neue Mensch ist nicht nur wiederholendes Exemplar einer Gattung, sondern einzigartig neue individuelle Monade, die den inneren, oft schwer als Eigenverantwortung lastenden Anruf vernimmt, sich selbst erschaffen zu müssen (Pico della Mirandola, J. W. v. Goethe, J.-P. Sartre). Die Gegensätze von Freiheit und Ordnung, Willkür und Recht, Fortschritt und Tradition wurzeln darum letztlich, wie B. v. Brandenstein 94 in seiner großen Anthropologie betont, im Gegensatz von personalem Individuum und personaler Gemeinschaft, von schöpferischer Freiheit und bewahrender Ordnung, von öffnender Zukunft und tragender Vergangenheit. Diese Spannung lässt sich nicht aufheben, sondern nur dialektisch im Durchgang durch die Gegensätze gestalten. Und dazu gehört, wie alle Drachenkampfmythen beweisen, dass die Kinder ihre Mütter und Väter »töten«, wenigstens symbolisch und meist auch institutionell. Denn Institutionen entlasten nicht nur, wie A. Gehlen richtig sieht, sie engen auch ein und drohen, wie die Frankfurter Schule um T. W. Adorno so leidenschaftlich lehrte, das Leben zu ersticken.
5.3.6. Zusammenfassung: Kultur als Dienst am Ganzen Zusammengefasst, verdichtet sich die bisherige Analyse in folgenden Hauptaussagen: 1. Alle Kultur verdankt sich der Kreativität individueller Subjekte. Diese Kreativität als »inneres Leben« ist wesentlich supranatural Solange solch extreme Einkommensunterschiede wie z. B. in Europa möglich sind, ist der Demokratisierungsprozess nicht zu Ende gebracht. Es geht nicht an, dass wirtschaftliche Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden; es ist eine Täuschung, dies eine freie und soziale Marktwirtschaft zu nennen. 94 Vgl. B. v. Brandenstein (1947, 61 ff. und 478 ff.). Für E. O. Wilson (2016) ist der Gegensatz von egoistischem Individuum und sozialer Gruppe schon vormenschlich von Bedeutung. Was den Erfolg der Evolution betrifft, gibt er der Gruppe den Vorzug, was hinsichtlich der vormenschlichen Lebewesen gewiss richtig, in Bezug auf den Menschen aber einseitig ist, da das menschliche Individuum nicht ausschließlich egoistisch ist und außerdem das Prinzip von Freiheit, Kreativität und Erfindungskraft vermittelt. 93
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und erbaut über der Natur die Kultur als zweite Natur des Menschen. Ihre innerste Quelle ist personal und kann nicht auf rein naturale Ursachen wie Instinkte, »Energien«, Gehirn und Leib reduziert werden. Wohl taucht sie in der Natur bzw. im Leib auf, »emergiert dort«, aber sie wird nicht von der Natur verursacht; diese ist nicht der Ursprung der personalen Subjektivität. Eine Anthropologie auf rein naturaler Ebene, wie sie neuerdings der Emergenztheoretiker W. Welsch (2006/7) projektiert, ist phänomenologisch, ontologisch und metaphysisch nicht durchführbar. 2. Um etwas Neues aufzubauen, muss Schonvorhandenes und Altes gemäßigt oder abgebaut werden. Zumal die Kulturwerdung geht fast unweigerlich mit einer oft räuberischen Kontrolle der Natur bzw. der Ausnutzung einer Kultur durch eine andere einher. Solche Destruktivität ist in vielen Fällen unvermeidlich, also dialektisch und dilemmatisch, kann aber ausarten und dazu führen, dass ein neuer Kulturaufbau seine eigenen natürlichen und kulturellen Grundlagen angreift und dadurch sich selbst untergräbt. In H. Kesslers bereits erwähntem Buch (2000) wird diese Problematik von allen Seiten beleuchtet. 3. Die Kreativität des Menschen wird nur real, wenn sie in die Eigenverantwortung übernommen und durch konkrete Entscheidungen verwirklicht wird. Solche Entscheidungen stehen stets zwischen mindestens zwei Polen, die entweder beide positiv sind oder der eine positiv, der andere negativ ist. Da der Mensch nicht zugleich und gleicherweise alles wollen kann, muss er werten, wählen und sich einseitig bestimmen. Das ist die Grundlage für spezifische Lebensund Kulturstile, in denen die vielfältigen Polaritäten des Lebens in bestimmter Weise dialektisch durchgelebt und austariert werden. E. Rothacker 95 (1964) hat dies in seiner Kulturanthropologie tiefdringend entfaltet. 4. Alle Kultur sucht durch gesellschaftliche Regeln das Tun und Lassen der Individuen zu ordnen und zu begrenzen. Dahinter steckt die Tatsache, dass der Mensch einerseits ein »ewiger Egoist« ist, der meist unter mühsamen Selbstopfern Rücksicht lernen muss, andererseits über tiefste Bindungs- und Beziehungsbedürfnisse verfügt, die ihn 95
Vgl. E. Rothacker (1964).
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zu einem gemeinschaftlichen, zur Gemeinschaft berufenen und bildbaren Wesen machen. Gemeinschaften und Gesellschaften sind darum mehr als nur die Summe ihrer Glieder; sie sind neue, durch ihre Glieder hindurch eigenartig überpersönlich wirkende Lebenseinheiten, 96 die sich in gegenständlichen Werken, Prozessen und Institutionen objektivieren und in Lebens- und Kulturstilen charakteristischphysiognomisch auszeugen. 97 5. Die im Kern ungegenständlich-inständliche Kreativität muss sich, um »sichtbar« zu werden und sich mitteilen zu können, vergegenständlichen, wodurch sich eine Eigengesetzlichkeit in den Gegenstandswelten des objektiven bzw. objektivierten Geistes, in den »medialen Materien«, der Sprache etwa, entwickelt, die sich den Subjekten als Trägern der Kultur partiell entzieht und auf sie bildend und fördernd, aber auch hemmend und einengend zurückwirkt. 6. Alle Kultur erstrebt die Akkumulation, Organisierung, Differenzierung und Integrierung ihrer Kulturgüter und Kulturfähigkeiten. Arbeitsteilung, Spezialisierung, Rationalisierung, Parzellierung, Verfeinerung, Entsinnlichung, Akzelerierung und vielfache Neuvernetzung sind unumgänglich, da anders keine Kulturvertiefung möglich ist. Nur droht genau dadurch eine Atomisierung und Verflachung der Kultur. 7. Durch die grenzenlose Akkumulation, Vernetzung und Verwischung kommt es zur Unübersichtlichkeit und Überforderung der Individuen (z. B. durch Informationsüberflutung in den neuen Medien), die sich den ganzen Umfang der Kulturgüter nicht mehr aneignen können und eine »hyperkulturelle Identität« mit Symptomen der Identitätsdiffusion entwickeln. Die beschleunigte, desynchrone und hyperaktuell-ahistorisch werdende Kultur droht auseinander zu brechen oder chaotisch zu werden. 98 Neue Vereinfachungs- und Integrationsbemühungen werden notwendig. Vgl. N. Hartmann (1949, 175 ff.). Vgl. ähnlich B. v. Brandenstein (1947, 491 ff.). Welche gewaltige Realisationsmacht hinter anscheinend nur »ideellen« Kollektivgrößen wie der Nation steckt, beweist die Geschichte solcher Völker, denen die Nationbildung zu bestimmten Zeiten misslingt oder verweigert wird, so z. B. der Deutschen, der Polen, der Iren. 98 Siehe Byung-Chul Han (2005, 77): »Die Hyperkulturalität defaktifiziert, dematerialisiert, entnaturiert und entortet die Welt«; die Zeit verliert ihren ordnenden 96 97
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8. Die Organisierung der akkumulierten Kulturgüter führt zu Rationalisierung und Rationierung der begrenzten Ressourcen. Bürokratie und Technokratie werden als Regulationsbetriebe unumgänglich, überwuchern bald die Gesellschaft und ersticken ihr kreatives Potential. So kommt es zu bürokratisch-technokratischen oder kriegerisch durchorganisierten Herrschaftsformen mit irrationalen Zügen (wie z. B. in der »Nomenklatura« der kommunistischen Länder, früher im »Byzantinismus« des oströmischen Reiches und noch früher in der spartanischen Raub- und Kriegsgesellschaft). 9. Die so bewirkte Entfremdung muss korrigiert werden, indem Organisierungs- und Rationalisierungsprozesse vereinfacht und durchschaubar gemacht werden (Prinzip Transparenz und »simplify your life«). 10. Lebensmächte, die sich verselbständigen und das Ganze einer Lebensgemeinschaft zu tyrannisieren drohen, müssen begrenzt und in ihre naturgemäßen Schranken verwiesen werden, so vor allem Militär, Wirtschaft, Verwaltung, Technik, Reklame, Konsum und Medien (»Journalistik«, »Propaganda«), die immer die Tendenz haben, andere Lebensmächte (samt Individuum und Natur) zu versklaven und auszubeuten. Überhaupt gilt, dass alle mittelwertigen Lebensmächte dem Ganzen, der Einheit und den endwertigen Lebensmächten unterstellt werden müssen, damit sie diesen dienen (Prinzip Wertordnung). 99 11. Die endwertigen Lebensmächte wie Spiel, Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Sitte, Recht, gerechte Politik und Religion stehen prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander, sind einander also koordiniert, nicht, wie bei G. W. F. Hegel, subordiniert. Umso mehr ist von ihnen
Rhythmus (2013, 7); durch »Dyschronie beginnt das Leben, richtungslos zu »schwirren« (2013, 7), entbehrt der Dauer, verweilt nicht mehr, atomisiert sich zu »atomistischen Identitäten« (2013, 7) und gleitet in »Weltarmut« ab. Gegen die »Hyperkinese des Alltags« und die Vorherrschaft des »animal laborans« möchte Byung-Chul Han daher das Verweilen in Kontemplation setzen (2013, 8). 99 Als praktisches Regulativ sei erneut an die zwei Leitsätze erinnert: 1. Alles ist mit allem verbunden und in Einheit (Trennung ist Illusion), und entsprechend wirkt alles auf alles zurück; 2. Für alle ist genug da (Mangel ist Illusion bzw. rhetorische Täuschung).
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zu fordern, dass sie die jeweilige Eigenart und Eigengesetzlichkeit der anderen endwertigen Lebensmächte achten und fördern. Übergriffe sollten verhindert, »hyperkulturelle« Verwischungen vermieden werden, was eine tiefe und innige Zusammenarbeit der verschiedenen Lebensbereiche und Daseinsmächte nicht ausschließt. Die Endwerte lauten: Schönheit für die Kunst, Wahrheit für Wissenschaft und Philosophie, Güte für Politik, Recht, Sozialarbeit und Medizin, das Heilige für Religion und Mystik und Freiheit für das Spiel. 12. Wer aber übernimmt die Koordination der großen Kultursphären? Wer weist ihnen den wesensgemäßen Ort zu? Das kann nur die hohe, rechtlich fundierte und allgemein legitimierte Politik leisten. 100 Da ihr in der Neuzeit die gubernatorische Vorherrschaft in der Gesellschaft immer mehr entglitten ist, wurde die Politik zum Spielball des Militärs, des Lobbyistentums, besonders aus Wirtschaft und Wissenschaft, und der Propaganda, 101 diesen großen Problemzonen moderner Gesellschaften. Solange die Politik es nicht schafft, wieder »politisch« zu werden und unabhängig-autonom in ihrer Lenkungsmacht agiert, solange wird die Kultur als ganze von Krise zu Krise stolpern. Was nottut, ist darum eine »Entfilzung der Politik«, und das heißt, eine Befreiung des Politikers von außerpolitischen Abhängigkeiten (Lobbyisten, Aufsichtsräte etc.) hin zu seiner autochthonen Eigenverantwortung. Politiker müssen daher einerseits gut bezahlt, andererseits gesellschaftlich geächtet werden, wenn sie sich »kaufen« lassen bzw. ihre Macht auf Kosten der Gemeinschaft zu persönlichen, familiären oder parteilichen Vorteilen missbrauchen. Politiker müssen frei von Partikularinteressen das Ganze im Blick haben und jedem Teil seinen Platz im Ganzen zuweisen – sie müssen echte »Stellvertreter der Ganzheit« und »Liebhaber der Weisheit« sein.
100 Alle Politik, die nicht rechtlich begründet und begrenzt ist, verfällt früher oder später einem Machiavellismus. Selbst in modernen Demokratien neigen Politiker dazu, das Recht auszuhöhlen und am Recht vorbei zu regieren. Vgl. die Verfassungsbrüche von O. v. Bismarck und A. Hitler und die verfassungsrechtlich fragwürdige Auflösung des Parlamentes durch die Kanzler H. Kohl und G. Schröder in der BRD. In: H. Jaenecke (2005: »Der blinde Adler. Reflexionen über Deutschland«). 101 Wilhelm II., A. Hitler, B. Mussolini und – auf rechtlich-demokratischer Bühne – G. Schröder waren regelrechte Schauspielernaturen auf dem Hintergrund einer allgemeinen »Inszenierungskultur«. Vgl. »Performance statt Inhalt« von H. Schmoll (2009).
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13. Wachstumsprozesse sollten sich deswegen immer mehr vom wirtschaftlich-materiellen Sektor, der irgendwann saturiert ist, weg auf Bereiche verlegen, in denen Wachstum deshalb endlos und grenzenlos befördert werden kann, weil es innerlich-geistiger und intersubjektiver Natur ist, also in allen kulturell endwertigen Sphären wie Kunst, Wissenschaft, Spiritualität, Spiel, Bildung, Psychotherapie und Philosophie. 14. Unübersehbar sind heute globale Konvergenzprozesse in den Kultursphären Recht, Technik, Wirtschaft und Wissenschaft, wogegen sich in Kunst und Religion eher Divergenztendenzen zeigen. In Sport und Spiel verflechten sich Konvergenz- und Divergenzbewegungen in eigentümlicher Weise. Eine Weltkultur mit einer rechtlich identischen, den Weltfrieden sichernden Grundlage (vgl. I. Kant) und einer darauf aufbauenden kreativen Vielfalt an menschlichen Schöpfungen kündigt sich an und lässt zwar nicht das Ende der Geschichte überhaupt (außer in einem dritten Weltkrieg) absehen, doch das Ende der egoistisch-nationalistisch-kriegerischen Geschichte, also der vierten großen Kulturepoche erhoffen. Das von C. Lévi-Strauss 102 herausgearbeitete Dilemma zwischen Uniformisierung und Differenzierung der Kulturen bleibt zwar bestehen, lässt sich auf höherer Ebene aber, wie ich meine, ausgleichen. 15. Alle diese Überlegungen machen es notwendig, für die Kultur, gerade je komplexer sie ist, eine umso differenziertere und tiefere Theorie, also eine tragfähige Weltanschauung im Sinne eines adäquaten Bildes von ihr selbst zu entwickeln. Wo der Kultur ein solches fehlt, muss sie sich im unübersichtlichen Gewirr und in der sich nahezu überschlagenden Rasanz der Prozesse heillos verstricken und wird straucheln. A. Schweitzer 103 betont daher zu Recht, dass eine Kultur sowohl einer grundlegenden und umfassenden Weltanschauung als auch einer universalen Ethik bedarf, doch fragt sich, wer diese beiden liefern kann? In der Frühzeit der Menschheitsgeschichte besorgte dies der Mythos, später tat dies die Religion, noch später lieferten Religion, Philosophie und Wissenschaft zusammen das Weltbild, das der Mensch einforderte. Heute ist m. E. eine neue Philosophie gefragt, und zwar eine solche, die im Konzert mit allen an102 103
Vgl. C. Lévi-Strauss (2004, 220–221). Vgl. A. Schweitzer (1955).
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deren Wissenschaften und der Religion in der Lage ist, ein neues Fundament zu legen, das so tief und umfassend ist, dass es für alle Menschen tragfähig und annehmbar ist und vor allem die kulturelle Vielfalt garantiert. Um dieses Desiderat einzulösen, müssen eine neue Fundamentalontologie, eine tiefgreifende, letztlich metaphysische Naturlehre und eine Kulturanthropologie entwickelt werden, wie ich sie derzeit nur im Werk des deutsch-ungarischen Philosophen B. v. Brandenstein (1901–1989), seiner »Grundlegung der Philosophie« (1965–1970) und seiner »Anthropologie« (1947; 1948; 1979) verwirklicht sehe. 16. Aus all dem erhellt, dass eine Kultur nur dann Bestand hat, wenn, wie E. Spranger 104 betont, ihre Träger bzw. Hauptverantwortlichen ihren Wert sehen, anerkennen und sowohl mittragen können als auch mittragen wollen. Wo die Hauptverantwortlichen sich zynisch oder resigniert von ihrer Kultur abwenden, wie z. B. im spätrömischen Reich, kurz vor der französischen Revolution, in Europa vor und nach dem Ersten Weltkrieg und in der DDR vor dem Mauerfall, da muss eine Kultur verfallen. Der Glaube an sich selbst, an den Sinn der Kultur und an die sie tragenden Zentral- und Endwerte ist als »subjektiver Faktor« zum Kulturleben ebenso wichtig wie »objektive Faktoren« der Organisation, Ökonomie und Politik. 17. Als übergeordnetes Gesetz des Kulturlebens ist im Rückblick als ein Hauptgesetz das Gesetz der Polarität zu erkennen: Ob dialektisch oder nicht-dialektisch, ob dilemmatisch oder nicht-dilemmatisch, ob echt-polar oder nur negativ-polar, immer stehen sich im Kulturwerden dynamische Gegensätze gegenüber, die Spannungen, Ungleichgewichte, Einseitigkeiten, Extremisierungen, Konflikte, Hemmungen, Zwietracht, Unordnung und die Sehnsucht nach Ruhe und Ausgleich, Ordnung und Klarheit erzeugen. Mehr als im Individualleben treffen lebendige Gegensätze, wie G. W. F. Hegel und K. Marx zu Recht betonten, im Kollektivleben aufeinander und fordern ihre Integration. Kultur ist, so gesehen, ein immerwährender Integrationsversuch der verschiedenen Daseinspolaritäten mit dem Ziel, alle Lebensmächte in eine umfassende Form zu bringen. Dass dies letztgültig nicht möglich ist, wurde dargelegt, da im Kulturgeschehen der Formbildung stets eine Formauflösung gegenübersteht. Ja mehr noch 104
Vgl. E. Spranger (1956, 35).
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sucht die Kultur aus sich selbst heraus ihre Aufhebung in der überkulturellen Mystik. Erst die Dimension des Unendlichen macht aus Natur Kultur, doch genau diese Unendlichkeit transzendiert alle Kultur und hebt als coincidentia oppositorum alle Dilemmata in ihrer überseienden Einheit auf. 18. Der beste und dem Leben angemessenste Weg, Polaritäten zu integrieren, besteht darin, zwischen ihnen rhythmisch zu schwingen. Wo sich ein Mensch oder ein Kollektiv im Spannungsfeld der Pole positionieren soll, lässt sich nicht abstrakt und endgültig sagen, sondern hängt von der jeweiligen Situation, ihren Grenzen, Möglichkeiten und Herausforderungen, letztlich von ihrer immanent-transzendenten Sinn- und Wertbestimmtheit ab. Die Bewegung des polar pendelnden Rhythmus, der »Tanz des Lebens« muss also seins-, sinnund wertbezogen erfolgen (und bestimmt schon durchgängig das leibliche Leben). Die letzten Sinn- und Wertquellen, für die der Mensch im Tiefsten leben will und soll, werden von den höchsten Seinsleistungen der Kulturzweige entdeckt und bereitgestellt. Immer dort, wo sich diese Kulturzweige zur Höchstform emporstilisieren, also »Hochkultur« werden, da werden diese letzten, tiefsten und höchsten Sinn- und Wertquellen freigelegt: Gerechtigkeit, Achtung und Toleranz in Recht und Politik, Güte, Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit im gesellschaftlichen Umgang, Wahrheit und Erkenntnisrichtigkeit in Wissenschaft, Forschung und Lehre, Freiheit und Vergnügen im Spiel, Schönheit und Genuss in der Kunst, das Heilige und Erhabene in der Religion, die Liebe im gesamten Spektrum der Kultur. Nur da, wo das Individuum und die Teilgemeinschaften dem Ganzen und da insbesondere den höchsten Sinn- und Wertansprüchen dienen, nur da lebt eine Kultur wirklich aus den reichsten Seinsquellen, und nur da hat sie die Chance, nicht nur ihre Glieder, die Einzelmenschen, zu bereichern, zu nähren und zu tragen, sondern in immer neuer Jugendfrische als ganze den Wechsel der Zeiten zu überdauern. Kultur erweist sich so im Letzten als Dienst und Dienstwerk, und zwar als Dienst am Anderen, am Ganzen und als Dienst an den höchsten Sinn- und Wertmächten, die das Leben im Urstand der Gottheit ausmachen. Man könnte auch so sagen: Wer diesen Lebensquellen zu Diensten ist, der wird »unendlich« vom Leben »bedient.«
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Mensch, Kultur und Leiden
5.3.7. Die Prinzipien der Kulturbildung und ihre innere Logik: eine Übersicht –
Begrenzung, Hemmung und Abbau als Voraussetzung von Neuaufbau und Neuordnung Erfindung, Findung und Akkumulation (Gefahr der Unübersichtlichkeit) Organisation/Sichtung/Gliederung (Gefahr von Erstarrung, Machtgefälle, Machtmissbrauch) Differenzierung/Verfeinerung/Präzisierung (Gefahr der Verzettelung) Spezialisierung (Gefahr von Spezialistentum, Berufsborniertheit, Atomisierung, Vereinseitigung), was zusammen mit der Differenzierung den Individualisierungsprozess vorantreibt Komplexierung (damit erhöhte Verletzbarkeit) Integration Akzeleration (Gefahr der Verflachung) Globalisierung (Gefahr der Uniformisierung) Parzellierung in Lebenszweige, Berufsstände etc. Vertiefung Vergeistigung/Entsinnlichung (Gefahr der Abstraktivierung) Universalisierung/Vernetzungszunahme/Vielseitigkeit Vermittlungsnotwendigkeit/Mediatisierung
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Übergeordnete Prinzipien: Challenge, Suffering and Response bzw. Aufgabe, Ungenügen, Unzufriedenheit, Leid und bewältigende Antwort, oft in einem dynamisch-dialektischen Prozess durch polare Gegensätze hindurch. 105 Übergeordnete Ziele: Bewältigung der ökonomischen, sozialen, psychologischen, politischen und ökologischen Herausforderungen, Probleme und Konflikte des Daseins durch: offenen Welthandel – Weltindustrialisierung – Weltkommunikation – Weltrecht – Weltdemokratie (Föderalismus der Nationen in einer UNO) – Weltsozialismus (Verteilungsgerechtigkeit) – Weltökologie (Ressourcenschonung, Recycling) – Weltwissenschaft/Weltphilosophie – Weltfrieden – Weltreligion (gemeinschaftliche Einigung mit dem göttlichen Prinzip durch Weisheit und Heiligung).
105
Vgl. A. Toynbee (1949).
508 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der Bewusstwerdungs- und Selbstwerdungsprozess als Leid- und Heilungsquelle
5.4. Der Bewusstwerdungs- und Selbstwerdungsprozess als Leid- und Heilungsquelle Unter den Geschichtsphilosophen ist es nach wie vor umstritten, ob die Geschichte der Menschheit einem Ziel zustrebt oder nicht. Doch selbst derjenige, der dies abstreitet, wird kaum behaupten, dass der Geschichtsprozess völlig regellos verlaufe. Das ist schon insofern unwahrscheinlich, als der Mensch sowohl individual als auch kollektiv ein im höchsten Grade »teleologisches«, sprich ziel- und zweckorientiertes Wesen ist. Das Problem ist nur, dass die Menschen von sehr vielen und oft sehr gegensätzlichen Zielen geleitet werden und diese weder klar und konsequent verfolgen noch ausreichend koordinieren. Damit werden zumindest zwei Faktoren wirksam, die sich in der Geschichte auswirken müssen: der Faktor des – oft unbedachten bis widervernünftigen – Eigeninteresses eines Individuums oder einer Gruppe und der Faktor des Antagonismus zwischen den verschiedenen Interessen. Schon allein damit kommt eine zukunftsorientierte Dynamik in die notwendig dramatische, wechselvolle und dialektische Geschichte, die ihre Spuren hinterlässt. Betrachtet man die Geschichte, soweit dies möglich ist, als Ganzes, zeigt sich, dass in ihr viele Gesetzmäßigkeiten, Wertmächte und Kräfte am Werk sind. Schon die physischen Umweltbedingungen, das Klima, die Geografie, die Bodenschätze, Naturereignisse usw. bestimmen nicht unbeträchtlich den Geschichtsverlauf. 106 Während diese Faktoren von außen auf die Menschen einwirken, gestalten Rassen, Völker, Kulturen, Religionen, gesellschaftliche Ordnungen, politische Reiche, Lebensstile und Weltanschauungen mit ihren Eigenarten das menschliche Leben von innen her. Gilt dies, fragt sich, wovon alle diese Strukturbildungen motiviert und geformt sind? Gibt es gewisse »Urkräfte« und als »Urnormen« wirksame Leitmotive für Strukturbildungen oder nicht? Manche Kulturanthropologen verneinen dies. So sieht etwa M. Landmann 107 im Kulturgeschehen nur die angeblich voraussetzungslose Freiheit des Menschen und ihre unerschöpfliche Kreativität am Werk. Das ist nicht haltbar und scheitert an der unbefangen betrachteten Alltagsrealität. Denn alle Freiheit steht in einem situativen Rahmen, und alle menschliche Freiheit ist vorbedingt, von außen wie von innen, und zwar vielfach, oft bis zu ihrer Hemmung 106 107
Vgl. H. H. Lamb (1989). Vgl. M. Landmann (1965).
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Mensch, Kultur und Leiden
und Zerstörung. Das hebt zwar ihre prinzipielle Autonomie nicht auf, beschränkt sie aber so beträchtlich, dass die Erfahrung nicht selten ist, dass sich Einzelmenschen (und erst recht Kollektive) oft nicht verändern können, selbst dann, wenn sie es wollen. Man denke an die mühsame und nur unter schwerem Leidensdruck erreichbare Änderungsbereitschaft in Psychotherapie und Politik. Tiefer betrachtet, wird die rein formalistische Kulturanthropologie, die alle »Inhalte« historistisch relativiert, dadurch widerlegt, dass es nachweisbar eine Grundanzahl von unaufhebbaren und darum »übergeschichtlichen«, obgleich nur in der Geschichte sich auswirkenden Bedürfnissen, existenziellen Anliegen und Wertmächten gibt, die im Menschen (und natürlich auch im Tier) vor aller Selbstbestimmung angelegt sind und gelebt werden wollen. 108 Zwar handeln diese Bedürfnisse und Wertmächte nicht selbst, sondern nur, wenn sie vom Menschen aktiv übernommen und oft gegen viele Widerstände realisiert werden. Wer sie dagegen ignoriert, verdrängt oder verstümmelt, muss die Folgen tragen und wird wenig Spielraum haben, neue Alternativen zu »entwerfen«. Die fundamentale Ordnung der menschlichen Grundbedürfnisse habe ich an anderer Stelle aufgezeigt, es handelt sich um vier bzw. fünf Großgruppen, die in sich weiter vielfältig aufgegliedert sind. 109 Am Anfang stehen die materiellen bzw. physiologisch-leiblichen Bedürfnisse, die das Leben des Menschen elementar tragen und mitsteuern, z. B. die Bedürfnisse nach Luft, Wasser, Nahrung, Wärme, Schutz, Sicherheit, Bewegung, Schlaf, Sexualität usw. Darauf bauen die psychischen, psychosozialen und geistigen Bedürfnisse auf, zuerst die überwiegend emotionalen Bedürfnisse nach Bindung, Anlehnung, Anerkennung, Geborgenheit, Halt, Schutz, Zuwendung, Liebe, Austausch, Teilhabe, Zugehörigkeit, Mitgefühl und Lebensfreude; dann die mehr volitionalen Bedürfnisse nach Selbstwirksamkeit, Eigeninitiative, Kreativität, Selbstbewegung, Expansion, Autonomie, Macht und Freiheit; und schließlich die eher kognitiven Bedürfnisse nach Orientierung, Struktur, Übersicht, Vorausschau, Wahrnehmung, Erkenntnis, Erleuchtung, Klarheit und Sinn. In allen diesen
108 Nach H. Jonas (1973, 15) ist jedes Wesen, das sich, weil es sich selbst Aufgabe ist, um sich sorgt, notwendig ein bedürftiges Wesen, ein Wesen mit Bedürfnissen, das der »Bürde der Notdurft« ausgesetzt ist. Schon der erste Einzeller weise diese Charakteristik auf. 109 Vgl. B. Wandruszka (2004, 92 ff. und 2009).
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Der Bewusstwerdungs- und Selbstwerdungsprozess als Leid- und Heilungsquelle
vier Bedürfnisgruppen realisiert sich, wenn sie sich erfüllen, als »innere Krönung« das Bedürfnis nach Selbstsein, Selbstgefühl, Selbstwert und Selbstbild (Identität) und kommt damit zu einem inneren »gefühlten« Selbstabschluss. Von diesen Bedürfnissen ist zu sagen, dass sie zugleich treibende Kräfte, Orientierungshilfen, Sinnquellen und »aktive« Mangelzustände sind, die über sich hinausweisen und den Menschen mit allen anderen Dimensionen und Schichten der Wirklichkeit, mit der physikalisch-chemischen, mit der biologischen, mit der psychosozialen und mit der noetisch-spirituellen verbinden. Denn durch diese Bedürfnismächte und Bedürfniskräfte ist er zugleich auf sie verwiesen und auf sie angewiesen. Ein Mensch, der sich zum Mitgefühl, zur Erkenntnis oder zur Tatkraft aufgerufen fühlt, aber nichts zu fühlen, zu erkennen und zu tun hätte, befände sich in einem ontologischexistenzialen Dilemma, an dem er zerbrechen müsste. Dieses Universum hat nicht nur an der Herausbildung seiner Bedürfnisstruktur mitgewirkt, was deren »Objektivität« garantiert, sondern entspricht ihr auch fundamental, wie die Antwort einer Frage, ein Schloss einem Schlüssel entspricht, auch wenn deren Passung oft nur mühsam gefunden wird. Werden diese Bedürfnisse, die im Menschen als Möglichkeit angelegt sind, verwirklicht, stellen sich Gefühle des Gelingens, der Übereinstimmung, der Stimmigkeit, der Erfüllung, des Glücks und damit des positiven Selbstwertes ein, wo nicht, da drohen Leid, Minderwertigkeit und Verzweiflung. Gewiss, der Mensch muss diese seelisch-geistigen Wertmächte nicht verwirklichen, und vor allem verwirklichen sie sich, wie gesagt, nicht von selbst, sondern nur, wenn er sie frei (nicht unbedingt vollbewusst) übernimmt und realisiert, doch als Anruf und Motivation leben sie in ihm und geben keine Ruhe, bis sie gewürdigt werden. Das bedeutet: Der Mensch kann wohl ohne sie, sogar gegen sie leben, aber er kann nicht ohne sie und gegen sie »selbsthaft« und glücklich werden. 110 In allen fünf Großgruppen wirken, phänomenologisch nachweisbar, elementare Seins-, Sinn- und Wertmächte mit, die gleichsam als Gravitationszentren oder leuchtende Sterne alle Bedürfnisse »faszinieren«, also auf sich ziehen und an sich binden, nämlich die Lebensurmächte und damit Lebensurwerte der Macht (Selbstwirksamkeit, Selbstbeherrschung, Disziplin und Selbsterhaltung), der 110
Einmal abgesehen davon, dass er, wenn er gegen sie lebt, krank wird.
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Mensch, Kultur und Leiden
Achtung (der eigenen und fremden Wertigkeiten und Würde), der Gerechtigkeit, der Liebe, der Freiheit und der Wahrheit. Dabei fungiert die Macht als das Gravitationszentrum der Selbstwirksamkeitsund Selbsterhaltungsbedürfnisse, die Liebe als das Gravitationszentrum der Bindungsbedürfnisse, die Freiheit als das Gravitationszentrum der Autonomie- und Expansionsbedürfnisse, die Wahrheit als das Gravitationszentrum der Erkenntnis- und Orientierungsbedürfnisse und Achtung und Gerechtigkeit als Gravitationszentren der Selbstwert- und Würdebedürfnisse. Da ich davon ausgehe, dass diese Urmächte des Lebens nicht disponibel sind und keine Alternativen zulassen, ist damit zu rechnen, dass sie die Menschheitsgeschichte wesentlich mitgestalten. Da sie polarer, z. T. antagonistischer Natur sind, kann der Geschichtsverlauf nicht einsinnig und geradlinig, aber auch nicht völlig willkürlich und sinnlos sein. Am ehesten ist eine dramatisch-dialektische Verlaufsform zu erwarten mit allen möglichen Konflikten, Hemmungen, Stagnationen, Rückfällen, Abbrüchen, Umwegen, Krisen, Katastrophen, Sackgassen, Revolutionen, Reformen, Ruhezeiten und Akzelerationen. Doch insgesamt dürfte aufgrund der E-pU-Natur des Menschen der »Vorwärtsdrive« stärker sein und sich mit keinem endlichen Ergebnis zufriedengeben. 111 Darin kommt eine Dominanz zum Vorschein, die fundamentaler Natur ist: Der Mensch will hervorbringen, schaffen, realisieren, neue Seinsgestalten erzeugen, Zukunft eröffnen und erfüllen, und also will er mehr das Sein als das Fehlen von Sein (bzw. das Nichts), will mehr die Macht als die Ohnmacht, will mehr die Vernetzung (Bindung, Heimat, Liebe) als die Isolation, will mehr das Licht der Erkenntnis und überhaupt der Bewusstwerdung als das Dunkel der Unbewusstheit und der Unwissenheit. 112 Diesen »Urdrang« nach Mehr an Sein in jeder Hinsicht bezeugt die Kulturgeschichte der Menschheit nachdrücklich. Und in der Tat waren die Menschen nie so mächtig, etwa mittels Technik und Wirtschaft wie heute; nie waren sie, etwa durch Demokratie, MeinungsIn seinem Aufsatz »Das Geheimnis der Persönlichkeit« sieht E. Rothacker (1958, 25 ff.) in der eigenartigen Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit, die den Menschen vor dem Tier auszeichnet, das entscheidende Charakteristikum des Menschseins. Das hatte schon S. Kierkegaard (1849, 1. Kapitel) in seiner Schrift »Die Krankheit zum Tode« festgestellt. 112 Im vollen Sinne ist ein Wollen in Bezug auf das Nichts zwar unmöglich, da jedes Wollen ein Seinsvollzug ist, aber anstreben lässt sich das Nichts durchaus, wiewohl nicht erreichen. 111
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Der Bewusstwerdungs- und Selbstwerdungsprozess als Leid- und Heilungsquelle
und Versammlungsfreiheit so ungezwungen wie heute; nie unterstellten sie sich so bereitwillig der Gerechtigkeit, etwa im Rahmen der Grund-, Menschen- und Völkerrechte; nie haben sie eine so intensive Kommunikation betrieben und sich so eng vernetzt; und noch nie ist ihre Wissenschaft so weit in unbekannte Regionen von Sein und Leben vorgedrungen wie heute. Wohin diese Dynamik, wenn sie die mit ihr einhergehenden Gefahren meistert, weist, ist kaum vorauszusehen. So imponiert das ganze Menschheitsdasein als eine gewaltige und leider auch gewalttätige Geburt, deren Geburtshelfer die genannten Urmächte des Lebens sind. Das Hauptcharakteristikum scheint dabei – global gesehen – die wachsende Bewusstwerdung des Menschen zu sein, Bewusstwerdung dessen, was und wer er ist und was überhaupt ist. Denn alles, was wird, wird dem Menschen nur dadurch zu eigen, dass es ihm bewusst wird. So wird das Bewusstsein selbst zum führenden Motor der Seinsverwirklichung und der Selbsterweiterung, so etwa in Form der rasanten Zunahme von Informationsaustausch, Bildungsanstrengung, Kommunikation und gegenseitigem Kulturverständnis. Doch auch diese Dynamik hat ihren Widerpart: Verdrängung, Verleugnung und Manipulation der Wahrheit, etwa durch Propaganda, die geradezu eine Art »Lust zu Unwissenheit und (Selbst-)Täuschung« darstellt. Denn in der Tat ist die Erweiterung des Bewusstseins, die keineswegs nur kognitiv, sondern auch emotional und volitional stattfindet, zumeist mit Mühe und Leid verbunden. Immer geht es dabei um Selbsterkenntnis, denn selbst die reinste Welterkenntnis ist ohne Selbstteilnahme, ohne Sicheinlassen nicht möglich und offenbart damit etwas Eigenes vom Menschen. Und weil solche Selbsterfahrung oft mit unangenehmen, peinlichen und schmerzlichen Wahrheiten konfrontiert, wird sie gemieden und verweigert. Auf diesem Konflikt und Dilemma beruht die ganze Psychoanalyse, hieraus schöpft sie ihre Daseinsberechtigung. Doch genau diese tiefste Quelle des Leidens ist eine tiefste Quelle der Heilung: Wer sich der Wahrheit bzw. sowohl der inneren als auch äußeren Wirklichkeit stellt, muss zwar manchen Schmerz erdulden, aber wenn er diesen Schmerz aushält, anschaut, durchschaut, aufarbeitet und das Unerledigte, Nichtgelebte, Unrealistische und Feindselige in sich erledigt, korrigiert und integriert, wird er mit einem Mehr an Sein beschenkt, das stärkt, erweitert, vertieft, verfeinert und lebendiger sein lässt. Alle spirituelle Bemühung geht 513 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Mensch, Kultur und Leiden
diesen Weg, dem man in allen Religionen und großen Philosophien begegnet. Die Kunst zu leben will nicht nur überleben, sondern reiner und reicher leben. Als Orientierungsmaßstab hierfür kann dem Menschen nur das reichste Sein genügen, das göttliche Sein, das Sein im Urstand, auch wenn er oft Maßstäbe wählt, die weit darunterliegen wie die Macht, den Vorteil, die Bequemlichkeit, die Lust, das oberflächliche Glück, das Ansehen u. v. a. Nicht umsonst hat Platon den weisen Satz in seinem achten Brief geprägt: »Für besonnene Menschen ist Gott das Gesetz, für unbesonnene die Lust.« Damit soll nicht gesagt sein, dass die Lust zu meiden wäre, doch darf sie nicht – wie heute etwa in Form des unersättlichen Konsums – der oberste Handlungsmaßstab sein. Das gehört allerdings in eine Ethik des Leidens, die sich hier ankündigt.
5.5. Personale Unreife, Vielfalt der Interessen und Kampf um die »Lebensmächte« (»Ideen«) als Quelle des Leidens Im Rahmen des sozialen und kulturellen Lebens hat das Leiden viele Quellen. Eine grundlegende und unaufhebbare Quelle ist die Einzigartigkeit eines jeden menschlichen Individuums, das gegenüber seiner Gattung inkommensurabel ist. Diese Einzigkeit der Person ist, wie J. W. v. Goethe 113 sagte, sowohl höchstes Glück als auch, wie ich hinzufügen möchte, höchstes Unglück des Menschen, denn sie begründet sowohl den unteilbaren Selbstgenuss als auch den lebensfeindlichen Egozentrismus, sowohl die Herrlichkeit des Ruhms als auch die bittere Einsamkeit, sowohl die wunderbare Zugehörigkeit als auch den schmerzhaften sozialen Ausschluss, sowohl den erhebenden Erfolg als auch das niederdrückende Versagen. Zudem beginnt dieses einzigartige personale Sein in dunkler Potenzialität, also in fundamentaler Unreife und muss erst zu sich, zu seiner Aufgabe und zu seinem Platz in der Welt finden. Da hierfür keine eindeutigen, 113 Siehe J. W. v. Goethe (1819) in seinem »West-östlichen Diwan«: Suleika spricht: »Volk und Knecht und Überwinder,/Sie gestehn zu jeder Zeit,/Höchstes Glück der Erdenkinder/Sei nur die Persönlichkeit.« Hatem aber setzt dieser allgemeinen Meinung seine eigene entgegen, die besagt, dass der Mensch nicht in der Persönlichkeit als solcher, nicht im »werten Ich«, das höchste Glück finde, sondern im anderen Menschen, im geliebten Du, und so antwortet er: »Kann wohl sein! so wird gemeinet;/ Doch ich bin auf andrer Spur:/Alles Erdenglück vereinet/Find ich in Suleika nur.«
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Personale Unreife, Vielfalt der Interessen und Kampf um die »Lebensmächte«
z. B. instinktiven Vorgaben bestehen, und die kulturellen Vorgaben, die immer vorhanden sind, offen, variabel und vieldeutig, oft auch menschenfeindlich und gewaltsam sind, ist der Mensch aufgerufen, und zwar von innen wie von außen her, sich selbst zu entwerfen und sich gleichsam zu erfinden. Zwar nicht total, wie das etwa J.-P. Sartre und M. Landmann lehren, aber im hohen Grade. Es ist klar, dass diese Sondersituation des Menschen, wie P. Wust 114 betont, mit Unsicherheit, Ungewissheit, Angst, Verirrung, Verführbarkeit und drohendem Selbstverlust, also mit Leid und Leiden verknüpft ist. Die Einzigkeit des menschlichen Individuums bedingt den multiplen Antagonismus zwischen den Menschen: Jeder ist dem Anderen ein Anderer, damit eine potentielle Grenze und ein potentieller Widerpart. Wenn ein jeder Mensch besondere Gaben, Fähigkeiten, Aufgaben, Grenzen und Unvermögen hat, dann hat er auch besondere Interessen und Anliegen, die mit denen von Anderen kollidieren können und, wie die Geschichte beweist, auch kollidieren. Der fast schon ontologisch zu nennende Zwang zur Selbstverwirklichung gehört zu den zentralen Ursachen für alle Konflikte und Kriege, weswegen es eine der größten und schwersten Herausforderungen für die Menschen ist, ihre Interessen gegenseitig zu achten (und nicht, wie so oft, von vorneherein abzuwerten!), zu vermitteln und zu harmonisieren, ohne sie zu verstümmeln. Kompromiss, Aufschiebung, Verzicht und freiwilliges Opfer werden unvermeidlich. Hinter allen Kämpfen des Lebens stehen Mächte, vordergründig betrachtet, Interessen, hintergründig betrachtet, Seinsforderungen, mit denen sich die Menschen individual wie kollektiv identifizieren. Erst dadurch werden diese Mächte zu Interessen. Zu diesen Mächten gehören alle genannten Basisbedürfnisse des Menschen, seine leiblichen, psychischen, sozialen, kulturellen, kognitiven, emotionalen, praktischen und spirituellen Sehnsüchte, die wiederum durch die Wertmächte der Selbstwirksamkeit, sprich der Macht und Freiheit, der Achtung und Gerechtigkeit, der Erkenntnis und Wahrheit, der Zugehörigkeit und Liebe geweckt, gerufen und angeleitet werden. Wie bereits ausgeführt, können diese Seins- und Wertmächte kollidieren und tun dies sowohl im individuellen als auch im kollektiven Menschendasein. Sehr freiheitsliebenden, subjektzentrierten Menschen z. B. fällt es schwer, sich der Wahrheit zu unterwerfen – sie wollen auch noch diese bestimmen. Umgekehrt tun sich sehr wahr114
Vgl. P. Wust (1928) und (1946).
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Mensch, Kultur und Leiden
heitstreue Menschen schwer, anderen Menschen ihre Meinung zu lassen und ihnen für allerlei Experimente Freiraum zu geben. Zu den Ersteren gehört F. Nietzsche, zu den Letzteren z. B. Platon. Obschon die Menschen individual wie kollektiv nicht nur von den Basisbedürfnissen bzw. den Urmächten des Lebens, sondern auch von ganz speziellen Anliegen bestimmt und geleitet werden, z. B. von historisch einzigartigen Begabungen, Visionen und situativen Herausforderungen, heißt dies nicht, dass diese mit jenen Urmächten apriori im Widerspruch stünden, im Gegenteil werden jene von diesen getragen und ermöglicht. Das ist aber nicht notwendig so und kann immer dann in einen Konflikt umkippen, wenn spezifische Interessen die Basisinteressen nicht anerkennen bzw. auf deren Kosten sich zu realisieren suchen. Das ist etwa der Fall, wenn ein Staat unter Missachtung des Lebensrechtes anderer Staaten und Völker zu expandieren strebt und mehr Lebensraum für sich in Anspruch nimmt. Oder wenn ein Mensch die Wahrheit unterschlägt, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Das Individuelle ist nicht per se »unwahr«, wie G. W. F. Hegels Philosophie nahelegt; es ist aber zumeist einseitig und beschränkt und neigt zu Egoismus und Rücksichtslosigkeit. Doch kann es sehr wohl mit den Grundprinzipien des Seins und Lebens in Einklang kommen, auch wenn dies nicht selten ein persönliches Opfer verlangt.
5.6. Herrschaft, Abhängigkeit, Autonomie und Leiden Eine der größten Quellen des Leidens unter Menschen ist die Herrschaft der einen über die anderen. Obwohl die Menschen, wenn sie zurechnungsfähig und eigenverantwortlich geworden sind, prinzipiell gleichwertig, sprich mit prinzipiell gleicher Würde, gleichen Rechten und gleichen Pflichten begabt sind, stellen sich immer wieder Verhältnisse ein, in denen ein Mensch oder eine Menschengruppe den Anspruch erhebt, über andere zu bestimmen. Hier wird eine Freiheit anders als eine andere Freiheit gewertet, jene über diese gestellt und mit mehr Macht ausgestattet. Wie kommt es dazu? Was sind die anthropologischen Voraussetzungen dieses Ungleichverhältnisses? Hat es berechtigte Gründe oder ist es nur willkürlich? Und wie ist sein Zusammenhang mit dem Leiden? Ist alles Herrschen notwendig leidvoll – entwürdigend, freiheitsberaubend, unrecht, inhuman? Oder gibt es auch eine gute Herrschaft? 516 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Herrschaft, Abhängigkeit, Autonomie und Leiden
Freiheit als die Fähigkeit, sich und anderes zu bestimmen, ist Macht. Ohne Macht, ohne irgendein Können wäre Freiheit ohnmächtig, handlungsunfähig, wirkungslos und damit unfrei. Zumindest muss Freiheit, um Freiheit zu sein, über sich selbst in irgendeiner Hinsicht bestimmen können. Das gelingt, wenn erstens das, was bestimmt werden soll, bestimmungsoffen, also bestimmbar ist, und wenn zweitens das, was bestimmt, dazu in der Lage ist, sich und/oder anderes zu bestimmen. In der Lage, aktiv etwas zu bestimmen (sich selbst und/oder anderes), ist ein Wesen nur dann, wenn es diese Fähigkeit ergreifen und anwenden kann. Anwenden kann es sie, wenn es »sehfähig« ist, also weiß, was es tut und tun kann, wenn es also im weitesten und grundlegendsten Sinne »vernünftig«, sprich wirklichkeitssichtig ist. Denn ein Wesen, das blind ist, keinerlei Zusammenhänge, Bedingungen und Verhältnisse erfassen kann, kann seine Macht nicht »plazieren« und erfolgreich realisieren. Zur Freiheit gehören demnach erstens Tatkraft, zweitens Ermächtigung über irgendein Handlungsfeld und drittens Vernunft. Ein Beispiel: Wenn ein Mensch die Tatkraft besitzt, sich als Handelnder selbst zu ergreifen, des Weiteren über einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt, z. B. seine Hand oder ein Werkzeug, zu bestimmen und schließlich die Zusammenhänge zu erfassen vermag, in die er hineinwirken will, dann kann sich seine Freiheit realisieren. Wenn ihm dagegen die Tatkraft fehlt, sich zu ergreifen, obwohl er über seine Hand oder ein Werkzeug verfügt und gewisse relevante Zusammenhänge durchaus erkennt, etwa weil er aufgrund einer Depression keinen Antrieb hat, der wäre ohnmächtig. Ähnlich ohnmächtig wäre ein Mensch, der sich zwar ergreifen kann, aber keine Macht über seine Hand oder ein Werkzeug besitzt, z. B. weil die Hand gelähmt ist, bzw. einen bestimmten wichtigen Wirklichkeitszusammenhang nicht zu durchschauen vermag, so etwa, wenn er aufgrund eines Angstzustandes seine Gedanken nicht ordnen kann. Und ähnlich wäre ein Mensch unfrei, der sich zwar ergreifen und Macht ausüben kann, aber seine Vernunftkraft, weil empfindlich beeinträchtigt, nicht nutzen kann und orientierungslos bleibt. Es ist klar, dass aufgrund dieser komplexen Verhältnisse Freiheit nicht gleich Freiheit ist. Was der eine kann, kann der andere nicht notwendig auch, und das ist eine Quelle möglicher Herrschaft. Der klassische Fall liegt im Eltern-Kind-Verhältnis vor. Zwar ist das Kind nicht total unfrei, es kann sich ergreifen, auf die Wirklichkeit einwirken und sieht auch gewisse Zusammenhänge, doch ist seine vernünf517 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Mensch, Kultur und Leiden
tig gelenkte und ermächtigte Handlungsfähigkeit beschränkt, leicht verwirrbar und verletzbar. Auf keinen Fall ist es der Wirklichkeit, der es gegenübersteht, gewachsen und muss daher fremdbestimmt, also partiell »beherrscht«, angeleitet und geführt werden. Wie problematisch dies ist, erkennt man daran, dass das Kind sich bald gegen diese unvermeidliche Bevormundung auflehnt – ein sicheres Zeichen für seinen innerlich tief und unmittelbar erlebten Selbstbestimmungsanspruch. Und in der Tat ist man hier mit einem Dilemma der menschlichen Existenz konfrontiert, das unaufhebbar ist und über die Stellung des Menschen in All und Leben Letztes lehrt: Im Wesen zur Selbstbestimmung berufen und befähigt, gerät der Mensch mit seiner Geburt und später im hohen Alter unter Verhältnisse, die ihn vielfach fremdbestimmen und entmündigen. So wird er schon von seinem Leib, den Trieben, Reflexen, Mechanismen und Instinkten in vieler Hinsicht – trinken, essen, schlafen, altern, erkranken, sterben – und ein Leben lang gezwungen; und so zwingen ihn die natürliche und die soziokulturelle Umwelt – Klima, Landschaft, soziale Schicht, Kultur, Sprache usw. – in vorgegebene Formen, an deren Entstehung und Geltung der neue Mensch nicht mitgewirkt hat. Die Folge ist eine unausweichliche Auseinandersetzung zwischen Selbstbestimmungsund Fremdbestimmungsanspruch, zwischen Freiheit und Herrschaft: In einer Welt voller Schranken, Auflagen, Erwartungen, Übergriffe, Manipulationen und Zwänge muss sich das Individuum den Freiraum für seine Selbstbestimmung meist mühsam und nicht selten leidvoll, unter Kraftaufwendung und gegen allerlei leibliche, menschliche und kulturelle Widerstände erkämpfen. Die Freiheit ist herausgefordert, sie muss sich zeigen, erproben und bewähren, und keinesfalls kann sie sich »natürlich« und zwanglos entfalten. Damit wird Freiheit zu Arbeit und Übung – sie muss errungen werden, und das ist ein tiefster Sinn dieser Tatsache. Wohl kann und soll sie anerkannt, unterstützt, ermutigt und gefördert werden, etwa im Fall der Kindererziehung durch Eltern und Mitwelt, aber das genügt nicht, der Betroffene selbst muss irgendwann sich selbst ermutigen, »erkraften«, ermächtigen, muss selbst frei sein wollen, wie das spontan beim gesunden und nicht verängstigten Kind der Fall ist, und muss sich – in bestimmter Weise – wählen. 115 Da jeder Mensch an Leib, Seele und Geist verschieden ist und in einer jeweils anderen natürlichen und sozialen Umwelt lebt, ist seine 115
Vgl. zur Thematik »Freiheit zur Freiheit« H. Arendt (2018).
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Herrschaft, Abhängigkeit, Autonomie und Leiden
Freiheit sowohl von der Macht- und Vernunftseite her als auch von der Ermächtigungsseite her verschieden ermöglicht und beschränkt. Nicht jeder hat den gleich ausgeprägten Willen, nicht jeder kann gleich gut über seinen Leib verfügen, nicht jeder hat dieselbe Intelligenz und nicht jeder wird von seiner Umwelt in gleicher Weise anerkannt, gefordert, gefördert und unterstützt. Und somit ist seine Fähigkeit, über sich, seinen Leib und seine direkte Umwelt zu »herrschen« und nach den eigenen Vorstellungen, Absichten und Wünschen Einfluss zu nehmen, unterschiedlich. Zweifellos liegt hierin eine wichtige Quelle für die verschiedenen Herrschaftsansprüche. Vor allem sieht man, dass Herrschen, man könnte neutral sagen, »auf eine Wirklichkeit einwirken«, »Einfluss nehmen«, »über etwas verfügen«, eine Lebensfähigkeit, ein Lebensrecht und eine Lebensnotwendigkeit ist: Niemand könnte lange überleben, wenn er völlig unfähig wäre, z. B. über seinen Leib und sein Verhalten zu verfügen. Prekär wird dieses Verfügenmüssen erst, wenn es in den Einflussbereich eines anderen Verfügenmüssens, also einer anderen Freiheit übergreift, z. B. wenn eine Mutter ihr Kind reinigen oder wenn eine Krankenschwester einen hilflosen Patienten pflegen muss. Schon der Blick auf den Anderen kann, wie J.-P. Sartre 116 aufzeigte, ein Übergriff sein, erst recht eine ärztliche Hilfeleistung. In Wahrheit können die Menschen Übergriffe und damit die Beeinträchtigung der Freiheit des Anderen nicht völlig vermeiden. Das ist ein Dilemma, ein NichtSein-Sollendes, das doch ist. »Während dieser Arbeiten sandte ihm Tomyris, die Königin der Massageten, einen Boten mit folgender Nachricht: »König der Meder, lass ab von deinem Beginnen. Du weißt ja nicht, ob dieses Werkes Vollendung dir zum Heile gereicht oder nicht. Lass ab. Bleibe König über das, was dir gehört, und ertrage es, uns über das herrschen zu sehen, was unser ist.« 117
Es gehört zu den Besonderheiten der menschlichen Existenz und Geschichte, dass das Verhältnis Eltern-Kind, wohl weil es so grundlegend ist und das gesamte Leben durchzieht, auf andere Verhältnisse übertragen wird, so auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau, aber auch auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe und auf die besonderen Verhältnisse zwischen Regierenden und Regierten, Reichen und weniger Reichen, Einflussreichen und Einflusslosen, Ange-
116 117
Vgl. J.-P. Sartre (1997, 497–538). Siehe Herodot (Historien I., 206 f.).
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Mensch, Kultur und Leiden
hörigen und Fremden, auf bestimmte Stände und Berufsgruppen. Diese Übertragung ist psychologisch, soziologisch und historisch bedingt, stellt also keineswegs eine anthropologische Notwendigkeit dar. Nicht zufällig wurde sie im Verlaufe der Geschichte infrage gestellt und vielfach überwunden. Herrschaft – früher eine unhinterfragbare Selbstverständlichkeit – wurde somit grundsätzlich fraglich. Sogar die Herrschaft über sich selbst, die Selbstbeherrschung wird differenzierter gesehen. Gewiss muss der Mensch sich selbst führen, steuern und lenken, sowohl seine psychischen Kräfte als auch seinen Leib. 118 Doch hat dies Grenzen und kann übertrieben werden. Viele Prozesse im Seelenleben, im Leib und zwischen den Menschen entfalten sich nur, wenn man sie kommen und sein lässt und nicht minutiös dirigiert und kontrolliert. Die wahre Selbstbeherrschung, ohne die Leben nicht möglich ist, umfasst daher das Selbstloslassen, das Gewähren- und Geschehenlassen. Echte Lebenskunst baut auf dieser Polarität auf und oszilliert zwischen beiden Haltungen hin und her. Auf diesem Hintergrund kann die Stelle des Leidens im Felde dieser Problematik angegeben werden: Dort, wo bei einem sich selbst bewegenden Wesen überhaupt keine Selbststeuerung erfolgt, dort, wo bei einem partiell freien Wesen zu viel einwirkt, also Einfluss erzwungen wird, dort, wo bei einem nur partiell selbständigen Wesen, z. B. bei einem Kind, einem Dementen oder Süchtigen zu wenig Einfluss genommen wird, und dort, wo in der falschen Weise, also unangemessen eingegriffen wird, da entstehen Störungen, Schäden und Leiden. Herrschaft und Machtausübung sind nicht per se destruktiv, wie J. Burckhardt meint, im Gegenteil impliziert alle Gesundheit stets ein gesundes Herrschafts-, nämlich letztlich Handlungsbewusstsein und ein beträchtliches Machtvermögen, so vor allem im Sinne der Selbststeuerung über sich selbst, über die eigenen Gedanken, Gefühle, Phantasien, Absichten, Pläne, Triebe, Wünsche, Sehnsüchte und Handlungsimpulse, des Weiteren über den eigenen Leib und die unmittelbare physische und soziale Umwelt. Freiheit ohne Macht und Herrschaft ist Ohnmacht und Willkür. Aber sie hat auch ihre Grenzen, innere, äußere und »obere« gegenüber sich selbst, gegenüber Anderen und gegenüber den letzten Wertmächten. Sobald der Herrscherwille die eigenen Grenzen miss-
118
Vgl. J. Bauer (2015).
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Herrschaft, Abhängigkeit, Autonomie und Leiden
achtet, die Freiheit und die Vorstellungen der Anderen übergeht und die höchsten ethischen Werte – wie Achtung, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Mitgefühl – verletzt, wird das Leben beschädigt und muss leiden. Wohl darf aller Herrschaftswille seine Anliegen und Interessen kund geben, sie vertreten und sie durchzusetzen bestrebt sein, doch nur unter Rücksichtnahme auf die physischen, psychischen, sozialen, ethischen und religiösen Grenzen. Dass es hierbei zu Konflikten und Kollisionen kommen kann, vor allem dann, wenn gleich hohe bzw. gleichwertige Ansprüche und Werte aufeinander stoßen, ist unvermeidlich und verlangt Auseinandersetzung, Abwägung, Diskurs, Kompromiss und Opfer. Nur wo sich der Herrschaftswille absolut bzw. das eigene Ego als letzten Maßstab setzt, der nichts mehr über sich gelten lässt, keine sozialen Normen, keine ethischen Grundwerte (z. B. die Menschenrechte) und keine göttliche Instanz, da wird er hybrid, maßlos, selbstherrlich und dadurch destruktiv und bösartig. Leider haben Selbstüberhebung und Rücksichtslosigkeit in der Menschheitsgeschichte immer wieder die Macht an sich gerissen und ihren Vorteil auf Kosten Anderer gesucht. Leid, Schmerz, Angst, Not und Zerstörung waren die Folge. Warum Gott dies zulässt, mag verwirren, doch nicht, wenn man erkennt, dass er die Welt freigegeben und freigelassen, und zwar im weitesten Umfang in die Hände seiner Geschöpfe, menschlicher und vormenschlicher Art, gelegt hat. Den Grund für diese Großzügigkeit sehe ich darin, dass jene Freigabe der einzige Weg ist, die unerschöpfliche Tiefe des geistigen Geschöpfes freizusetzen, zu aktivieren und zu provozieren, um so die grenzenlose seelische, geistige und sittliche Kreativität der Zweitursachen »mit ihrer größten Version ihrer großartigsten Vision von sich selbst« an den Tag zu bringen. Freiheit ist zwar an sich ein Wert, aber zum Vollwert wird sie erst im Dienst der seinsgerechten Seinsschöpfung und der lebendigen Kreatitivät, also durch Bindung an die Wertmächte des Lebens. Eine Theodizee, die sich nur auf die Freiheit stützt, bleibt sinnlos und wirkt lebensfeindlich. Da die menschliche Freiheit nicht absolut, sondern im vollen Sinne »relativ« bezogen auf das rechte, wertvolle Sein ist, muss sie sich im Kampf mit dem Fragmentarischen, Vorläufigen, Verfehlten, Schlechten und Bösen bewähren und darauf mit einem tieferen Gut, einer größeren Ganzheit antworten. Diese Zusammenhänge offenbaren unzweideutig, dass der Mensch nur in einem beschränkten Maße autonom, sprich selbstgesetzgebend genannt werden kann. Zunächst ist er mit einer Fülle von Gesetzen, materiellen, leiblichen, psychologischen, sozialen, 521 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Mensch, Kultur und Leiden
geistigen und sittlichen, die ihn binden und beschränken, konfrontiert. Diese muss er, will er sich im Leben zurechtfinden, kennenlernen, verstehen, befolgen und anwenden. Wer diese Gesetze missachtet, wird ständig anstoßen und letztlich scheitern. Innerhalb dieses umfassenden gesetzlichen Rahmens, der tief in seine personale Substanz hineinreicht, erfindet sich der Mensch aus seiner begrenzten Freiheit heraus dann auch selbst und stellt »Gesetze«, sprich Regeln, Anleitungen, Maximen und Gewohnheiten auf, die nur für ihn gelten und die nicht selten mit anderen, z. B. rechtlichen, sozialen und ethischen Gesetzen in Konflikt geraten, allerdings nicht geraten müssen. Ob einer vegetarisch lebt oder nicht, ob einer lieber Tennis oder Fußball spielt, unterliegt keiner physischen, sozialen oder sittlichen Ordnung, sondern kann autonom vom Subjekt selbst festgelegt werden. Da der Mensch ein »abgeleitetes«, im Sein spät auftretendes Wesen ist, sind ihm viele Gesetze vorgeordnet, letztlich die göttlich-sittlichen, nicht weniger die physikalisch-biologischen und viele soziokulturellen Daseinsordnungen. Hier wird er vor- bzw. heteronom fremdbestimmt, was bedeutet, dass er sich diese Ordnungen – kritisch! – aneignen muss. Da er dies kann, und er kann es, weil er nicht total determiniert ist, liegt es in seiner Macht, aus fremd eigen, aus Heteronomie Autonomie zu machen. Allerdings erschöpft sich das menschliche Sein nicht im »TaoSein«, also im »Sichangleichen«, Sichfügen, Sichanschmiegen und Sichüberlassen, da es selbstschöpferisch veranlagt und dazu berufen ist, sein allgemeinmenschliches und sein einzigartig individuales Selbstsein (mit den entsprechenden »Aufträgen«) zu finden und zu realisieren. Zwar hat auch das individuelle Selbstsein ein Vorbild, nämlich die Gottheit selbst bzw. genauer, eine unendliche Seite von ihr (vgl. Kapitel 7.8 und 7.14.), deren Ebenbild der Mensch überhaupt, aber auch das einzelne Individuum ist bzw. sein soll. Eine voraussetzungslose Selbsterfindung ist für den Menschen, da er nicht urfrei ist, unmöglich. Gegen Gott bzw. gegen das vollkommene »Voroder Urbild«, das Gott von einem bestimmten Individuum hat, kann es sich nicht positiv, sondern nur negativ bestimmen. Da gibt es keine Autonomie oder nur eine negative, destruktive. Deswegen schöpft sich derjenige am freiesten und reichsten, der in seinem Selbstbestimmen ganz auf die Gottheit hört und sich von ihr geben lässt, was ungefähr dem entspricht, was der Satz zum Ausdruck bringt: »Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.« Da erhält er, wenn es gelingt, stets das Beste seiner selbst. Für das Theodizeeproblem ist 522 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Problem der Kommunikation als Leidquelle
diese Ebenbildlichkeit, wie noch zu zeigen sein wird, von entscheidender Bedeutung. 119
5.7. Das Problem der Kommunikation als Leidquelle: die Grenze des Verstehens und das Ichsein als einzigartigunvertretbare Perspektive Nur deswegen, weil der Mensch ein fundamentales Selbst, ein Eigensein besitzt, ein Eigensein übrigens, das schon vorsprachlich über kategoriale Strukturen und Schemata des Weltseins verfügt, drängt es ihn, sich mitzuteilen. 120 Er hat im Gegensatz zum Tier überhaupt etwas, ja etwas intim Persönliches zu sagen, nur darum ist er sprachbegabt und sprachabhängig. Gäbe es weder die Möglichkeit, Zeichen zu bilden, noch die Möglichkeit, bedeutungstragende Zeichen über ein Medium zu übertragen, wäre der mitteilungsbedürftige Mensch in sich eingeschlossen. Das Eigenartige ist nun, dass er trotz des Vorhandenseins dieser beiden Möglichkeiten in gewissem Sinne in sich eingeschlossen bleibt. Der Grund liegt darin, dass Zeichen und Sprache nicht in der Lage sind, den Grund des Sprechenkönnens selbst zur Sprache zu bringen oder doch nur als Schatten, Abglanz, Spur und Hinweis. Dieser Grund ist das Selbst des Menschen, sein personales, selbstaktives Eigensein, seine schöpferische Quelle, die aufgrund ihrer Selbsttätigkeit nicht in einem passiven Zeichen »untergebracht« werden kann. Und doch sehnt sich der Mensch nach nichts mehr als genau danach, in dieser seiner personalen Lebendigkeit gesehen, anerkannt und geliebt zu werden. Das ist ein Dilemma, nie ganz aufhebbar, nur immer in Fragmenten und vorläufig abbaubar, darum eine Quelle vielfältiger Leiden – des Stummseins und Verstummens, des Beschweigens und Verschweigens – und darum der Quell des Immer-wieder-und-Immer-weiter-Sprechenmüssens. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das sich nie ganz auszusagen weiß, aber doch irgendwann einmal sich ganz aussagen will. 119 Siehe Nikolaus von Flüe: »Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu Dir. Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu Dir. Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir.« 120 Die moderne Säuglingsforschung kann dies experimentell nachweisen. Sprache setzt Denkstrukturen voraus, Sprache und Denken sind nicht einfach identisch, wie eine ältere Sprachphilosophie, z. B. die von B. L. Whorf (2002) meinte.
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Mensch, Kultur und Leiden
Diesem Antrieb stehen andere Faktoren entgegen: die einzigartige Perspektivik des Ichs, seine nicht ganz aufhellbare Unbewusstheit und die Lust, sich zu verstecken, zu verstellen und zu maskieren. Der Mensch hat das Bedürfnis, in seinem Selbstsein unbehelligt, ungesehen, geschützt und verborgen zu sein. Warum? Weil er sich dadurch ganz frei, völlig unbewertet und unkontrolliert fühlen kann. Der Tagtraum nährt sich aus diesem Grundbedürfnis und stellt eine Entlastung dafür dar, dass sich der Mensch im Alltag ständig gesehen, bewertet und beurteilt fühlt – oder dies vermeint. Aus diesem Grund sind nicht nur Zeigen und Sprechen eine Notwendigkeit, sondern auch Schweigen und Verschweigen. Und so stößt der Mensch erneut auf eine Polarität des menschlichen Daseins, die das Tier so nicht kennt und die eine besondere Quelle für die Aktivität, das Glück und das Leiden des Menschen ist. Er will gesehen werden und wird nicht gesehen, er wird gesehen und will nicht gesehen werden; er redet und wird nicht gehört, und er schweigt und wird in seinem Schweigen missdeutet und vereinnahmt. Der Mensch ist keine fensterlose Monade, wie G. W. Leibniz 121 meinte, aber er ist in gewisser Weise eine Monade, die ihr Innerstes, ihr Selbstsein, ihren Aktivitätsgrund nicht unmittelbar, sondern nur über das Fenster seines Leibes, Sprechens und Handelns in die Welt bringen kann. Denn die Perspektivik des Ichseins ist nicht direkt mitteilbar und konstituiert ein unaufhebbares Eingeschlossensein, einen tiefsten Grund der Einsamkeit, die Bedürfnis, Notwendigkeit und Last in einem ist. Doch selbst wenn der Mensch sein innerstes Selbst mitteilen wollte, er könnte es nicht, da es ihm unverfügbar ist und sich in seinem innersten Kern und in weiten Regionen, wie die Psychoanalyse zu Recht lehrt, entzieht. Wie B. v. Brandenstein 122 und V. Frankl 123 nachwiesen, besitzt der Mensch nicht nur ein unbewusstes Es – den Leib mit seinen Triebquellen, Instinkten, Reflexen, unwillkürlichen Mechanismen –, sondern auch ein unbewusstes Ich, ein »Tiefenselbst«. Der Traum beweist dies am schlagendsten, da es dort nicht nur um »Triebe« geht, sondern zumeist um das ungelebte oder verfehlte Selbst- und Miteinandersein. 124 Nicht genug damit: Der Mensch will und muss sich verstecken, 121 122 123 124
Vgl. G. W. Leibniz (1714). Vgl. B. v. Brandenstein (1966: Kap. G. Das Vollbewusstsein, 153 ff.). Vgl. V. Frankl (1988). Vgl. B. Wandruszka (2008).
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Das Problem der Kommunikation als Leidquelle
nicht zuletzt auch vor sich selbst, da in ihm so Vieles ist, das ihm nicht zur Ehre gereicht. Der Mensch weiß recht genau, wie unlauter, betrügerisch, hinterhältig und gemein er ist – F. Dostojewskij schildert dies immer wieder in bunten bis grellen Farben –, und er weiß genau, dass dies nicht in Ordnung ist und unangenehme Folgen hat, wenn es öffentlich wird. Also muss er verbergen, verdecken, vertuschen bzw. muss sich, wenn das nicht gelingt, schämen. Nur weil der Mensch ein Selbst oder Eigensein hat und dieses Selbst nicht vollkommen ist, sondern vor sich selbst oft nicht bestehen kann, nur deshalb gibt es Schuld und Scham. Im Über-Ich der Psychoanalyse schlägt sich gewiss die Welt der soziokulturellen Normen, Gebote und Verbote nieder, aber im Innersten ist es das Sichselbstsehenkönnen und das unausweichliche, irgendwie stets sich selbst richtende Sichselbstsehenmüssen mit allen seinen guten, üblen und fragwürdigen Aspekten, das Scham und Zerknirschung heraufbeschwört. Der Mensch ist wesenhaft, weil stets urteilend, ein milder oder strenger Richter, nämlich der Richter über sich selbst, und darin sprudelt eine der mächtigsten Quellen des Leidens, etwa in Form von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen, von Scham und Reue. Die Kommunikation ist jedoch nicht nur dadurch begrenzt, dass sich nicht alles mitteilen lässt, selbst wenn man wollte, sondern auch dadurch, dass zum einen die Welt der Zeichen begrenzt, vieldeutig und leicht verwirrbar, zum anderen das Medium der kommunikativen Vermittlung, die physische Welt des Leibes und der Natur, nur begrenzt transparent und stabil ist. Dass die Zeichen begrenzt und vieldeutig sind, beweist schon der schwierige Versuch, zwei Dialekte aufeinander abzustimmen; und die Endlichkeit des Mediums erlebt jeder fast täglich, wenn das Senden bzw. Empfangen einer Nachricht gestört wird. Da das Sichmitteilen fundamental zum Menschen gehört, sind alle Missverständnisse, wie auch immer bedingt, schwer erträglich und zeitigen üble Folgen. Die größte Herausforderung besteht darin, um den Anderen zu verstehen, nicht nur die Zeichen gut zu wählen und das Medium »clean« zu halten, sondern sich in den Anderen hineinzuversetzen. Sprache und Verstehenwollen implizieren somit die ethische Herausforderung, von sich abzusehen bzw. das Selbst zum Anderen werden zu lassen, was nur begrenzt möglich ist. In einer Welt, in der Gott das unmittelbare Kommunikationsmedium wäre, wäre diese Forderung unnötig. Das ist ein wichtiger, meist übersehener Punkt in der Theodizeefrage: Wohl mag das Eschaton der 525 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Mensch, Kultur und Leiden
Welt das Reich Gottes, die störungslos-glatte innerste Einheit aller Sprechenden und Hörenden sein, doch zuvor muss das Sichöffnen und Sichanvertrauen, das Sichschützen und Sichverschließen, das Sichhinterfragen und Sichkorrigieren geübt werden, und das ist in einer Welt, in der die Kommunikation prekär ist, stärker gefordert als in der unio mystica, wo Irrtum und Missverständnis unmöglich sind. Diese Welt ist so beschaffen, dass Denken, Sprechen und Mitteilen ständig präzisiert, verdeutlicht und korrigiert werden müssen, damit die Menschen verstanden werden und selbst verstehen. Leider sind sie sich dessen meist nicht bewusst und »reden« bzw. »hören drauf los«. Gerade die Unvollkommenheit und Zerbrechlichkeit der Welteinrichtung treiben Sprache und Denken zu Höchstleistungen hinauf, die anders kaum zu erreichen wären. Die hermeneutische Auslegung des Welttextes wäre überflüssig, wenn alles direktes Gotteswort wäre. Den innersten Grund meines Selbstseins aber kann nur Gott zugänglich und aussprechbar machen, nämlich dadurch, dass Er in die Seele als Ich (und nicht als Du!) eintritt, sodass des Menschen eigenes Ich im Gottes-Ich zum Du für Gott wird. So wird Gott mehr mein Ich als Ich jemals für mich Ich sein kann. Um dieses absolute Ich zu werden, muss ich mein kleines Ich »opfern«, d. h. hingeben, was nicht vernichten bedeutet. Dann spricht mich Gott ganz aus, nämlich sein-mein Ich zu mir als Du, und zwar so, dass er mich – mich entwerdend, bewahrend und emporhebend – aufhebt.
5.8. Das Leiden als Marker dessen, was Not tut: die utopische Potenz des Leidens und der metaphysische Sinn der Zeit Wenn es, wie hier aufgewiesen, ein vollkommenstes Sein gibt, dann ist jedes unvollkommene, unvollständige, verletzte und beschädigte Sein ontologisch ein Hinweis auf jenes »Totum«. Alles, was nicht jenes vollkommene Ursein ist, ist notwendig seinsärmer und in sich auf jenes bezogen und sehnt sich, wenn es aktiv und lebendig ist, nach ihm. Da das Leiden trotz seiner inneren Aktivität ein Seinsmangelzustand ist, gehört es in die Klasse jener Seinsgestalten, die aus sich selbst heraus über sich hinausweisen und ein Größeres, oft Größtes, sprich die leidfreie, glückselig-ruhevolle Fülle erstreben. Im Unter526 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden als Marker dessen, was Not tut
schied zu anderen unvollkommenen Seinsgestalten eignet dem Leiden eine besondere Schärfe: Es inkliniert ab einer gewissen Stärke oder Dauer zur Unerträglichkeit und konstituiert einen Seinszustand, aus dem der Leidende nur noch hinaus will, aber nicht hinaus kann. Wohl kaum eine andere Existenzform trägt soviel Negation des Gegebenen in sich wie das Leiden, und nicht von ungefähr betont T. W. Adorno 125 wiederholt, dass das Leiden letztlich das Sein in seiner aktuellen Totalität verneine. Diese Negation ist nichts anderes als der Ausdruck für das Gespür, dass das Leiden nicht in Ordnung, nicht recht ist und nicht das letzte Wort des Seinsgeschehens sein kann. Während der bloße Verstand kühl und distanziert lehrt, was nicht stimmt, macht das Leiden die Unstimmigkeit existenziell fühlbar. Es ist mit seiner Betroffenheit der unmittelbare subjektive Widerschein dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist und reicht damit tief in das Selbst hinein. Es liegt auf der Hand, dass das Leiden dadurch anders wirkt als die bloße kühle Verstandeseinsicht und die Betroffenen von innen heraus antreibt, etwas zu unternehmen und sich für eine Veränderung zu engagieren. Das Leiden zieht ins Leben hinein und treibt über das bloß Gegebene hinaus; es steigert zugleich die Immanenz und die Transzendierung, und so will es das ganze, heile und volle Sein, tief gefühlt und in ungebrochener Einheit: »Genug kann nie und nimmermehr genügen« (siehe das Gedicht »Fülle« von C. F. Meyer). Bezogen auf die Theodizeeproblematik lehrt das Leiden, dass die bis jetzt erreichte Welt nicht die beste aller möglichen Welten sein kann und dass es eine bessere Welt darüber hinaus geben muss, weil es sie geben soll. Das Leiden impliziert Freiheit und Pflicht: Die Leidenden sind an- und aufgerufen, den gegebenen Zustand zu ändern und zu überwinden. Die beste aller möglichen Welten, wenn es sie überhaupt gibt, kann nur in der Zukunft liegen, recht besehen, sogar nur am Ende aller Zeiten, wo weitere Entwicklung und Verbesserung nicht mehr möglich sind. Das Leiden zielt darum auf die Überwindung aller Zeitlichkeit, denn Zeit ist Ungenügen, Noch-Nicht und darum potentiell Mangel, Entbehrung, Nichtangekommensein und das Bisherige Verlassenmüssen, also potentiell Leiden. Gegen diese Sicht scheinen alle jene Leiden und Übel zu sprechen, die in dieser Welt nicht behebbar sind, z. B. alles Unrecht, das nicht mehr wiedergutgemacht werden kann. Nichts und niemand in 125
Vgl. T. W. Adorno (1966).
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Mensch, Kultur und Leiden
der Welt, auch in einer morgigen Welt nicht kann das Leid, das in Auschwitz über Menschen gekommen ist, ungeschehen machen, geschweige wiedergutmachen. Gäbe es keine andere Möglichkeit der Schaffung von Gerechtigkeit, und müsste jenes Unrecht unaufhebbar diesen Kosmos zeichnen, erwiese sich diese Welt als zutiefst monströs, grausam, sinnlos, mehr noch, als pervers. 126 Umgekehrt heißt dies: Sollte dieser Kosmos sittlich ins Lot kommen können, müsste es eine Dimension geben, die ihn radikal transzendiert, eine Dimension, aus der heraus er bis auf seinen Grund »gerichtet« und wieder recht gemacht würde. Gerade das unsühnbare, nicht wiedergutzumachende Leid verweist über diese Welt als ganze hinaus auf ein Seinsprinzip, das in der Lage ist, auch »vergangenes«, nicht erledigtes Leid und Unrecht aufzuheben. »Das Leid schreit über alle Welt hinaus nach Gott.« Wenn ein Gott existiert, der diese Macht hat, warum hat er die Welt jedoch so eingerichtet, dass sie solche Leiden erdulden muss, die innerweltlich unüberwindbar sind? Man könnte zunächst sagen, weil er es kann, d. h. weil Gott will, dass im Gesamtbild seiner Schöpfung auch das Leiden eine »positive« Stelle erhält. Dagegen lässt sich anführen, dass Gott trotz der gewaltigen Größe des Kosmos nicht alles wirklich werden lässt, was möglich ist, sondern dass auch dieser Kosmos nur eine Auswahl seiner unendlichen Möglichkeiten bietet. Das ist wahr und also folgt, dass es weitere Gründe für die Zulassung von Leid, Unglück, Grausamkeit und Bosheit geben muss. Und, wie bereits gesehen, gibt es sie. An erster Stelle stehen die endliche Freiheit der Geschöpfe, sowohl der nichtmenschlichen als auch der menschlichen, und die Unreife bzw. das Reifensollen dieser werdenden Geistwesen. Wohl hätte Gott eine Welt mit solchen Geistwesen bevölkern können, die sich nicht mehr entwickeln und reifen müssen bzw. in einer Weise reifen, die keinen Schaden anrichtet, sondern stets mit einer umfassenden Rücksichtnahme und Opferbereitschaft in Bezug auf Andere verbunden ist, und zwar sowohl in der vormenschlichen Natur als auch im 126 Ähnlich M. Horkheimer 5. 1. 1970 in einem Spiegelgespräch: »Theologie bedeutet das Bewusstsein davon, dass die Welt Erscheinung ist, dass sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist – ich drücke mich bewusst vorsichtig aus – die Hoffnung, dass es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge […] Ausdruck einer Sehnsucht, einer Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge.«
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Das Leiden als Marker dessen, was Not tut
Leben der Menschen. Dann aber hätte er sie von vorneherein mit einem solchen Weitblick, mit solcher Selbstzucht und Einfühlung bilden müssen, dass von einem eigenständigen Lernen und Sichbilden nicht mehr die Rede wäre. Im Grunde hätte er sie mit einem schier überendlichen Weitblick und einem ethisch so vollkommen durchgereiften Charakter schaffen müssen, was nicht unmöglich für ihn gewesen wäre, dass sie gleichsam von Anfang fertig gewesen wären. Geistlich gesprochen, hätte er lauter »Jesusmenschen« erschaffen müssen. Solch eine Welt wäre zwar leidfreier, aber nicht vollkommener, nicht »besser«, denn, wie in der Ethik des Leidens zu zeigen sein wird, ist Glück weder der einzige noch der letzte Maßstab für Vollkommenheit. Aus Gottes Perspektive scheint eine Welt besser zu sein, in der nicht nur das reine Gute repräsentiert ist, sondern das gesamte Spektrum der Seinsmöglichkeiten vorkommt, wenigstens in exemplarischer Auswahl vom Vollsein der Gottheit bzw. des Gottmenschen über alle Abstufungen bis zum Nichts. Überhaupt ist klar, dass die beste aller möglichen Welten, wenn es sie gibt, nicht die heutige Welt, sondern eine Welt der Zukunft ist, mehr noch, der absoluten Zukunft, in der »am Ende der Zeiten« Gott alles Unrecht und Unheil zusammen mit seinen Geschöpfen wieder ausgleicht und in Heil und Recht umwandelt. Einzig und allein in diesem Fall würde das Leid seinen innersten Seinssinn erreichen und erfüllen, der darin besteht, sich selbst radikal und endgültig aufzuheben. Die beste aller möglichen Welten kann nur jene Welt sein, die durch das tiefste, schlimmstmögliche Leid hindurchgegangen und leidfrei geworden ist. Wenn sie möglich sein sollte, dann scheint eine solche dynamische, dramatische, suchende, lernfähige, sich läuternde, reifende, bewährende und während der Zeit tragische Welt vor Gott größer und wertvoller zu sein als eine Welt, die von Anfang an fertig ist und durch kein Leid hindurchgehen muss. 127 Ontologisch tiefer betrachtet, verlöre die Zeit ihren innersten Seinssinn, nämlich Medium eines Seinsgebärens und des kommuni127 Das schlimmstmögliche Leid sind nicht Selbstzerstörung und Auslöschung der Menschheit, sondern Unrecht und Grausamkeit, die einem vollkommenen Geistgeschöpf, nämlich dem völlig unschuldigen »Gottmenschen« zugefügt werden. Insofern Kleinstkinder unschuldig sind, erleiden auch sie ein solches Schicksal, das tief bewegt und erschüttert, man denke an die diesbezügliche Rede des Iwan Karamasow in F. Dostojewskijs Roman »Die Brüder Karamasow« (1. Band, 2. Teil, 5. Buch, IV. Kapitel).
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Mensch, Kultur und Leiden
kativen Austausches zwischen Geistwesen zu sein, wenn diese Geschöpfe geistig und ethisch mit ihrer Erschaffung fertig wären. 128 Ihre Fähigkeit und Aufgabe, eine gegenständliche Welt, also die Naturwerke und die Kultur zu schaffen, stellte sich als unnötiges, überflüssiges und geistontologisch sinnloses Unterfangen heraus. Der Sinn der Natur wie auch der Kultur ist aber Geburt, Schaffung, Neuschaffung und Kreativität, und zwar gemeinsam in Austausch, Wechselwirkung und Kampf, letztlich mit dem Zweck, durch diese gegenseitig-agonale Kreativität sich zu entfalten, zu ergänzen, reicher zu werden, zu reifen, einsichtiger, einfühlsamer, willensstärker, weiser und liebevoller zu werden. All das ginge verloren und nähme der Zeit ihren geistig-metaphysischen Sinn, wenn ihre Träger und Quellen – die in der Zeit wirkenden Geistwesen – fertig, reif und von Anbeginn angekommen wären. Dieser Denkvariante steht Gottes Entscheidung entgegen, nicht Aktualitäten, sondern Potenzen zu erschaffen, und zwar solche Potenzen, die sich selbst bestimmen und gestalten sollen, die also über Freiheit verfügen und eigenverantwortlich agieren können. Im Falle des Menschen treibt er diese Situation derart auf die Spitze, dass sich ein Geistwesen, dem sein Leben und seine Umwelt nahezu vollständig in die eigenen Hände überantwortet wurden, durch die Verleiblichung bzw. »Fleischwerdung« dem Weltgeschehen ausgesetzt und ausgeliefert sieht. In der Welt ist darum dieses verleiblichte Geistwesen quasi gottlos und gleichsam wie Gott auf sich allein gestellt. Überspitzt könnte man sagen, dass Gott den Menschen in eine Lage bringt, wo diesem zugemutet und zugetraut wird, »wie Gott« zu sein, nämlich »ganz« frei und mächtig. Es liegt auf der Hand, dass der Mensch dadurch einerseits in eine unerträgliche Überforderung gerät, andererseits zur Selbstgeburt seines Besten und Letzten herausgefordert wird. Und schlussendlich zwingt ein innerweltliches Leid, das innerweltlich nicht wiedergutgemacht werden kann, und das geht schon jetzt ins Maßlose, dazu, Herz und Blick über die Grenzen aller Welthaftigkeit hinauszurichten, um den Raum für eine weltumgreifende Heilung zu öffnen. Gerade die immanent unheilbare Tragödie der Welt schreit mit Unbedingtheit »de profundis« nach dem transzen-
128 Es ist klar, dass auch die Gottesgeburt im Menschen im Sinne Meister Eckharts in diesem Falle unmöglich und überflüssig wäre.
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Not als Grund des Leidens
denten Gott, damit er in die Immanenz eintrete und ihre zu Tode blutenden Wunden heile.
5.9. Not als Grund des Leidens: der überforderte Mensch und der Sinn des Scheiterns Es scheint, dass der Mensch mit seiner besonders prekären Stellung im All überfordert ist. Dass dies der Fall ist und dass er sein Dasein nicht durchgreifend zu meistern vermag, beweisen die zahllosen Opfer, mit denen er seine irdische Existenz bezahlen muss. Dabei scheitert er nicht nur an sich selbst, an seiner Unreife, seiner Orientierungslosigkeit, seinen Schwächen und seiner Verblendung, sondern auch an seiner objektiven Stellung im Kosmos, die ihn sowohl radikal den Naturmächten als auch den sozialen Gewalten aussetzt. Zwar bringt der Mensch all seine Intelligenz und Erfindungskraft auf, um die Übermacht der Natur zu bändigen und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, doch ist es kaum fraglich, dass er nur zeitweise obsiegen kann, im Letzten sich jedoch in die Niederlage ergeben muss. Spätestens wenn eine kosmische Katastrophe – eine Supernova, ein Kometeneinschlag, eine radikale Temperaturänderung – die Erde vernichtet, spätestens dann gelangt der Mensch an sein definitives Ende. Doch fragt sich, ob der Sinn seiner Existenz, wie meist unterstellt wird, darin besteht, »ewig« auf dieser Erde zu leben? Faktisch nicht, aber auch metaphysisch nicht. Wohl versucht der Mensch, den Tod zu überwinden, aber es kann ihm nicht gelingen, da die Vergänglichkeit zum Wesen des materiellen Seins gehört. Sollte das irdische Ende der Menschheit, das unausweichlich ist, auch ihr metaphysisches Ende sein, wäre ihr ganzes Tun und Leiden sinnlos und eitel, ein verzweifeltes Bemühen um nichts. Aber so ist es, wie aufgezeigt, nicht, da die Existenz weitergeht, wenn auch in einer anderen Dimension, und dafür ist diese irdische »Probe« eine entscheidende Voraussetzung. Der Mensch scheitert jedoch in einem tieferen Sinne. Er lebt und wirkt in dieser Welt nahezu vollständig freigelassen, ohne direkte Anleitung und ohne direkten Schutz in gottlos-quasigöttlicher Autonomie. Nach religionsphilosophischer Deutung war dies das unaufhaltsame Begehren des ersten Menschenpaares, dem Gott entsprach und das der Mensch seither verzweifelt zu realisieren sucht. Gelänge ihm dies, wäre er wie Gott und würde sich selbst erlösen können. Wie 531 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Mensch, Kultur und Leiden
gezeigt, lässt die pU-zeitliche Natur des Menschen das nicht zu – er kann aus eigener Kraft nicht aU-ewig werden, und also muss er scheitern. Das Scheitern, so betrachtet, erhält dadurch den tiefsten metaphysischen Sinn überhaupt. Alles andere als sinnlos zu sein, offenbart es erstens die wahren Seinsverhältnisse, nämlich die absolute Abhängigkeit des pU-Menschen vom aU-Gottwesen bzw. den Irrsinn und die Illusion einer angemaßten Totalautonomie, wie sie sich bei I. Kant moralisch anbahnt, bei F. Nietzsche radikal metaphysisch artikuliert und bei A. Hitler praktisch umsetzt; und zweitens offenbart sie die Struktur der metaphysischen Seinsgeschichte des geschöpflichen Geistes, seinen Abfall vom Ursein, seine Sehnsucht zu diesem zurück, seinen einzigartigen Auftrag in der Welt und seine Rückkehr zu Gott. Das im Letzten unabwendbare äußerlich-technische und innerlich-moralische Scheitern des Menschen beweist, dass er sich weder selbst tragen noch autonom entfalten noch erfüllen noch erlösen bzw. retten kann. Er braucht, weil er sich dies alles nicht selber geben kann, Geborgenheit, Anleitung (etwa durch die Wertmächte) und Erhebung aus dem Fast-Nichts in die Seinsfülle. Nur im Scheitern der irdischen Menschheit, individual wie kollektiv, erfüllt sich der Sinn der Geschichte, was paradox klingt, doch metaphysisch keine Alternative zulässt. Alle Weltreligionen haben diesen Zusammenhang gespürt und im Bild der Apokalypse ausgemalt. 129 Und wahrlich, der Mensch scheitert in einem fort, individuell wie kollektiv, an allen Orten und zu allen Zeiten. Selbst wenn er in der Zukunft ein irdisches Paradies errichten sollte, hätte er einen aus eigener Kraft nicht abtragbaren Trümmerberg von Unrecht und Leid, von Gemeinheit und Niedrigkeit, Grausamkeit und Gewalt, Demütigung und egoistischer Rücksichtslosigkeit hinter sich aufgetürmt, an dem gemessen aller Erfolg triste erscheinen müsste. Nur ein Wesen, das wie Gott über aller Zeit steht und die Vergangenheit korrigieren und übererfüllen kann, eben weil im Bewusstsein der Geistgeschöpfe nichts Erlebtes, Gedachtes, Erlittenes und Getanes vergeht, nur ein solches Wesen könnte ein wirkliches Paradies schaffen, in dem »alle Tränen abgewischt« werden und jedes Unrecht gesühnt und wieder-
129 Vgl. die Rolle des Scheiterns als notwendiges Medium der Selbst- und Wahrheitsfindung im Gesamtwerk des Philosophen des Scheiterns, K. Jaspers (z. B. 1947). Allerdings wäre es wünschenswert, dass das unvermeidbare Scheitern nicht selbst-, sondern nur oder überwiegend fremdbedingt wäre. Ein anderer großer Denker und Darsteller des menschlichen Scheiterns ist F. Dostojewskij.
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Vom Sinn der Zeit und des Raums
gutgemacht wird. Dass der Mensch dazu nicht in der Lage ist, musste offenbar werden, und es wird offenbar durch sein Scheitern an diesem Anspruch, der an ihn gestellt ist und den er selbst stellt. Folgerichtig kann dies nur heißen, dass sich der Mensch bei aller Bemühung um die Schaffung einer gerechteren und liebevolleren Welt in das Scheitern fügen und ergeben muss. »Scheitert fröhlich« möchte man in einer Paraphrase mit dem heiligen Paulus ausrufen, »verzweifelt nicht, denn ihr könnt nicht, was ihr sollt. Und obwohl ihr es nicht könnt, sollt ihr es dennoch, aber wisset, dass euch das, was ihr sollt und doch nicht könnt, jetzt und einst gewährt wird.« Damit erhellt, dass alles Leiden einer metaphysischen Notsituation entspringt, die durch den Menschen zwar nicht überwunden werden kann, die er aber tapfer und zuversichtlich durchstehen soll, letztlich weil er sie selbst als »gottloser« gewollt hat. Somit erweist sich die gesamte Seinsgeschichte als Aufdeckungs-, Lehr- und Selbstüberwindungsgeschichte: Der Mensch erfährt, wer er ist und nicht ist, was er kann und nicht kann, was er soll und nicht soll. Dass er bei diesem Abenteuer einer kosmischen Psychoanalyse irrt und fällt, sich verschätzt und verhebt, ja letztlich scheitert, ist kein Missgeschick, sondern Aufruf, sich immer wieder aufzurichten und sich ins Unvermeidliche zu ergeben, denn bekanntlich ist Gott ein reuiger Sünder lieber als tausend Gerechte.
5.10. Vom Sinn der Zeit und des Raums Auf diesem Hintergrund wird über den rein formalen Struktursinn hinaus der metaphysisch-geistige Sinn von Zeit und Raum transparent. Schon das reine Strukturwesen von Zeit und Raum legt die entscheidende Spur, da alles Zeitliche dynamisch und werdend ist, nach vorne geht, ein Nacheinander und Neuschöpfen impliziert, ein Weitergehen und Sichverändern, während der Raum durch seine Gleichzeitigkeit, sein Aufgespanntsein, sein Raumlassen und seine haltgebende Statik charakterisiert wird. Entsprechend eignet sich die Zeit zum Medium des Hervorbringens, Schaffens, Entwickelns, Bauens, Schöpfens, des Wandels und Wechsels, der Raum dagegen zum Medium für das Koexistieren, für den Austausch, die Kommunikation, die Wechselwirkung, das Anschauen und Gesehenwerden. Gäbe es keine Zeit, gäbe es nichts Neues; gäbe es keinen Raum, wäre Begegnung unmöglich. 533 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Mensch, Kultur und Leiden
Da die Zeit wesenhaft kontingent ist, also weder hat überhaupt sein müssen noch so sein müssen, wie sie sich vollzieht, eignet ihr das Nichtseinmüssen, das »Zufällige«, das Nichtshafte. Unterstrichen wird dies durch ihre Eigendynamik, die über alles Gegebene »rücksichtslos« hinweggeht, es ins Nichts fallen lässt und zu einem Neuen übergeht, um auch dieses durch ein Folgendes zu ersetzen. Die Zeit erzeugt nicht nur, sie vernichtet auch, ja sie vernichtet, indem sie erzeugt. Wie sie das macht, stellt eines der größten Seinsrätsel dar, denn es fragt sich, woher sie schöpft, woraus und mit welcher Kompetenz, und wohin sie fallen läst, wie und wodurch? Aus und durch nichts wird nichts bestimmt, und also muss es schöpferische, seinsgebende Seinsquellen geben, die durch ihr Wirken und Schaffen Zeit möglich machen. Ist dem so, schafft nicht die Zeit selbst, sondern bietet nur das Medium an, in dem sich das Seinsschöpfen vollzieht. Das durchdachte Kausalprinzip bestätigt diesen Zusammenhang: Alles Zeitliche verdankt sich Seinsquellen, die unerschöpflich und damit unvergänglich sind, sich jedoch nur in der Zeit manifestieren und realisieren können. Wie in der Zeit, so wird auch im Raum das ungegenständliche Sein gegenständlich, das unsichtbare Sein sichtbar. Im Medium der Zeit zeigt es seine Dynamik, seine Innerlichkeit, sein Tätigsein, im Medium des Raums finden Begegnung und Austausch statt, von Geist zu Geist, von Subjekt zu Subjekt. Da die Zeit nicht ohne Vergänglichkeit, der Raum nicht ohne Orientierungsschwierigkeiten zu haben sind, sind mit Zeit und Raum Erreichen und Verlieren, Irrtum und Missverständnis, Mühe und Kampf mitgegeben. Doch auch untereinander geraten Zeit und Raum in einen ontologischen Konflikt, da die Zeit mit dem Neuen, dem Dynamischen, der Geburt, dem Fortschritt und dem Vergehen korreliert, der Raum mit dem Statischen, Bleibenden, Beharrenden, Strukturellen und Alten. Obschon sie einander bedürfen und fordern, reiben sich Zeit und Raum aneinander und zeitigen nicht wenige Konflikte und Leiden. Vor allem ist die Vergänglichkeit das Werk der Zeit, da sie dort, wo sie Neues hervorbringt – wie im Bild des Uroboros als der sich selbst fressenden Zeit –, Altes fallen lässt. Alle Zeit verlangt ständige Neuorientierung, ständiges Loslassen, ständiges Neuergreifen und ständige Umstellung, man kann auch sagen: Sie zwingt zu ständiger Erneuerung und Anpassung, zu Plastizität und Flexibilität. Im Gegensatz dazu schenkt der Raum Anhalten, Ruhe, Erholung und Halt, so wie die Berge im Gegensatz zum Meer, das Licht im Gegensatz 534 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Vom Sinn der Zeit und des Raums
zum Wind, das Land im Gegensatz zur Stadt, die Philosophie im Gegensatz zum Alltag. Diesem Gegensatz entsprechen in der Physik der Gegensatz von haltender Gravitation und zerstreuender Wärmekraft (Fugitation), in der Biologie von Jugend und Alter, Geburt und Tod, Lebendigkeit und Erstarrung. Erst ihre dialektisch-gespannte Einheit erzeugt den Kosmos und seine Evolution, die unmöglich ohne Neuwerdung und Untergang, Geburt und Tod, Kampf und Verletzung, und also auf der subjektiven Seinsstufe nicht ohne Erwartung, Freude, Überraschung, Angst, Enttäuschung, Not und Leid zu haben ist. Wenn die Zeit im Wärmetod zuendegeht oder der Raum im kosmischen Kollaps verschwindet, dann endet auch alles Gebären- und Schaffenmüssen, dann wird der Kosmos reif bis zum Tode und geht in die ewige Ruhe ein, die das Zeichen dafür ist, dass die Seinsquellen des Kosmos, die menschlichen und vormenschlichen Geistsubjekte, angekommen sind, nämlich bei sich und im Ursein, wo mit der Aufhebung der Weltraumzeit kein Leiden mehr ist. So erlöst der Tod. Ihre größte Erfüllung finden Raum und Zeit in der menschlichen Existenz, da sich nirgends im Kosmos Selbstgeburt und Austausch, Dynamik und Struktur, Selbst- und Fremdbewusstsein in solcher Intensität und Unmittelbarkeit wie im Falle des Menschen realisieren. Hier ist es jedem Individuum selbst, ohne dass ihm Instinkte helfen würden, aufgetragen, sich hervorzubringen, Sprache zu bilden und in Kontakt mit dem Anderen zu treten. Die Zeit wird ganz innerliche Tätigkeit, der Raum ganz innerliche Begegnung und Sprache, und das so sehr, dass ihre Medialität in den Hintergrund tritt und subjektiv verschwindet. Wer denkt z. B. an seinen Leib und seine Funktionen, wenn er mit einem anderen kommuniziert? Er ist vielmehr ganz bei der Sache und beim Anderen, d. h. bei der Bedeutung dessen, was gesagt und ausgetauscht wird. Objektiv verschwindet die Medialität von Raum und Zeit nicht, das ist ontologisch unmöglich. Nur in Gott könnten, wenn er selbst das Medium für alle Selbstwerdung und alle Kommunikation werden sollte, Raum und Zeit, überhaupt alle Medialitäten überflüssig werden.
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Mensch, Kultur und Leiden
5.11. Sinn und Unsinn der Geschichte: die schwere Geburt des Humanum (»dynamischer Platonismus«/»kritischer Humanismus«) Wenn gilt, dass die Zeit das Medium für die Selbsthervorbringung des Menschen ist, dann gilt dies umso mehr für die menschliche Geschichte. Was wird da aber hervorgebracht und wie und nach welchen Maßstäben? Gibt es im Geschichtsprozess Sinnzusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Regeln? Manches wurde weiter oben bereits herausgearbeitet, vor allem der Polarismus der menschlichen Geschichte, das Ringen, Kämpfen und Leiden von Trägern verschiedener Wertmächte, die einander teils positiv, teils negativ entgegenstehen, also miteinander dialektisch verwoben sind. 130 So z. B. in positiver Weise: Respekt und Selbstbehauptung, Freiheit und Bindung, Neuerung und Tradition, Individuum und Gemeinschaft, die Verbundenheit garantieren, während rücksichtsloser Egoismus und Rücksichtnahme, Gewalt und Friedfertigkeit, Hass und Liebe, Weisheit und Torheit, Ausbeutung und Gerechtigkeit einander polar-negativ gegenüberstehen und separative Tendenzen anzeigen. Zwischen den Trägern dieser Mächte entbrennt oft ein unerbittlich-tödlicher Kampf, eine »Gigantomachie« und schafft in dieser Weise Geschichte, sowohl im Individuum als auch im Kollektiv. Dabei wogt der Kampf so sehr hin und her, dass offen ist, wohin die Geschichte sich entwickelt und welchen Ausgang sie nimmt. 131 Im Ganzen sehnen sich die Menschen danach, dass die positiven Wertmächte, indem sie die negativen Kräfte bändigen und minimieren, die positiven harmonisieren und integrieren, die Oberhand gewinnen. Von allein können sich die Wertmächte allerdings nicht verwirklichen, sind sie doch auf die tätige und durchsetzungsfähige Freiheit des Menschen, auf seinen Einsatz und seine Opferbereitschaft angewiesen. 132 Trotzdem stellen sie keine bloß passiven Ge130 Ähnlich sieht es H. Heimsoeth (1948), der eine Zwischenstellung einnimmt zwischen Positionen, die in der Geschichte nur oder überwiegend Vernunft (G. W. F. Hegel), und Positionen, die in der Geschichte nur Zufall und Chaos am Werke sehen. 131 Eine Zivilisation steht umso höher, je mehr sich in ihr »Verbundenheit aus Freiheit« manifestiert. 132 Es sei an Wertmächte erinnert wie Selbstbeherrschung, Tapferkeit, Maßhaltung, Mäßigung, Achtung, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Güte, Barmherzigkeit, Vergebung, Weisheit und Liebe. Dieses »Sonnendenken« des Maßes nennt A. Camus (1974 b, 241–248) das »mittelmeerische Denken«.
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Sinn und Unsinn der Geschichte
danken bzw. bloße abstrakte Ideen dar, sondern sie offenbaren sich sowohl im Individuum als auch in der Geschichte, wie z. B. Wilhelm von Humboldt 133 hellsichtig erkennt, als dynamische, sei es drängende, sei es anziehende Mächte, die schon der mythische Mensch anschaulich in seinen Göttergestalten versinnbildlichte. 134 Im Menschen zeigen sie sich einerseits im Gewissen, andererseits dort, wo ihre Realisierung intersubjektiv gelingt, als Frieden, Verbundenheit, Klarheit und Glück. 135 Wie die Erfahrung lehrt, geht es auch hier um Geburt, nämlich um die Realisation und Manifestation der Werturmächte im Leben, die im Menschen als Möglichkeit, Aufforderung, Richtschnur und letzte Anziehungsquellen angelegt sind und dort, wo sie in die Verantwortung übernommen werden, auf dem realen Plan erscheinen. Es ist eine Auszeichnung des Menschen, dass ihm Gott die Macht anvertraut, die Werturmächte des Seins, die letztlich nichts anderes sind als der Spiegel und die Ausstrahlung von Gottes Innenleben, in der Welt selbst zu realisieren. Dabei wird parallel – in einem mühsamen geschichtlichen Bewusstwerdungsprozess – der Träger dieser Seinswertverwirklichung, das sich seiner selbst bewusste Individuum, immer klarer, inniger und tiefer geboren und in seiner absoluten Würde und Werthaftigkeit, in seiner »Heiligkeit«, erkannt und anerkannt. 136 Gott gibt sich, stellvertretend durch die Werturmächte, in die Hand der Menschen und sagt: »Realisiert mich mittels dieser Werturmäch133 Vgl. »Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers«. In: »Die Ewigkeitswerte der Deutschen Philosophie«, ausgewählt von J. Hessen (1942, 258–267). 134 So sagt C. F. v. Weizsäcker (1954, 120 f.) treffend: »Das Bild, unter dem Gott (bzw. die Götter) dem Menschen erscheint, zeigt nicht, was der Mensch ist, sondern was er sein kann. Es ist das Bild seiner objektiven Möglichkeit des Seins, die sein Leben bestimmt […] Diese Möglichkeit aber ist das Unbewältigte […] Sie fordert uns, und unser Leben ist Gehorsam gegen sie oder Flucht vor ihr […] Jede dieser Forderungen ist an sich selbst aber unausweichlich und absolut. Sie kann aus der Geschichte nicht abgeleitet werden, sondern bestimmt die Geschichte.« Hier sind mit »objektiven Möglichkeiten« und »Forderungen« die höchsten Wertmächte des Daseins gemeint, die letzten und werthaltigsten, jene, die den Menschengeist unbedingt verpflichten. C. F. v. Weizsäcker erweist sich hier im Felde der Ethik als moderner Platoniker. 135 Selbst ein Nicht-Platoniker und eher pragmatisch-konventionalistischer Diskursethiker wie J. Habermas (1995, 5–19) setzt à la longue auf die Durchsetzungskraft der Menschen-, Völker- und Weltbürgerrechte mittels eines fairen Dialogs. 136 Vgl. zur »Sakralität der Person« und der Geschichte der Menschenrechte H. Joas (2011).
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Mensch, Kultur und Leiden
te im Dasein, erzeugt mich durch euer Mitschöpfertum als Schöpfergott!« Nicht, dass der Mensch die Macht hätte, diese Werturmächte autonom zu setzen, so weit reicht sein Bestimmen nicht, aber er kann und soll sie in dieser Welt Gestalt werden lassen, ihnen hier und heute Geltung verschaffen, vor allem in sich und im Miteinander der Menschen. Kann es Größeres geben, Größeres an Vertrauen seitens Gottes, Größeres an Macht für eine Kreatur? Indem Gott einer Kreatur soviel an Freiheit und Macht überträgt, dass sie den Verwirklichungsanspruch der Werturmächte ablehnen kann, überschreitet er noch jenes Vertrauen, allerdings nur in Verbindung mit der Konsequenz, dass, wer sich gegen die Werturmächte auflehnt, an Seinsund Lebensfülle einbüßt, was ein offener Beweis für die Wirklichkeitskraft dieser Wertmächte ist. Demnach hatte Platon recht, es gibt die »Ideen«, verstanden nicht nur als passive abstrakte Gedankengebilde (so der Ideenbegriff seit R. Descartes und J. Locke), sondern als objektive Wertmächte, als wirkkräftige Gerechtigkeit, Wahrheit, Achtung, Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit und Frömmigkeit, die im Menschen mit einem unbedingten, »kategorischen« Anspruch auftreten. Da sie göttlichen Ursprungs sind, gehen sie von Gott, bei Platon von der Uridee der Ideen, vom Guten, aus und strahlen in das Weltsein, insbesondere in den Menschen hinein und verlangen seine aufnehmende und sich hingebende Stellungnahme. Der Mensch ist frei, auf die Stimme der Werturmächte des Lebens zu hören oder sich taub zu stellen; er ist frei, ihren Glanz in sein eigenes Sein aufzunehmen oder nicht, um sie im Leben konkret umzusetzen, aber er ist nicht frei, gegen oder ohne sie etwas positiv zu setzen. Der Mensch ist nicht wie Gott urfrei, letztlich besteht seine Freiheit in Befolgung, Übernahme und Hingabe, nicht im Setzen, Schaffen und Machen, wie die Neuzeit, auch die neuzeitliche Ethik eines I. Kant, J. G. Fichte und F. Nietzsche meinte. Trotzdem soll er setzen, schaffen, machen, aber eben durch ein Hinhören und Sichanvertrauen, sprich durch eine Bindung an die Seinswerte hindurch. Seinsvoll wird die Freiheit des Menschen erst durch diese freie Bindung und frei eingegangene Abhängigkeit letztlich von Gott, unmittelbar von den Werturmächten, die die erfahrbaren Stellvertreter Gottes in der Welt bzw. im Bewusstsein des Menschen sind. 137 Weil ihre Weltgeltung in die Hände der geistigen Geschöpfe, der mensch137
Dagegen soll sich der Mensch von seinen Mitmenschen immer nur mittelbar ab-
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Sinn und Unsinn der Geschichte
lichen und vormenschlichen, gelegt ist, ihre Realisierung im kosmischen Sein eine Aufgabe darstellt, die Gott an seine Geschöpfe abgibt (und die ihn an Gott zurückerinnen lassen), deswegen spreche ich von einem dynamischen Platonismus bzw. – mit Gero Jenner – von einem »kritischen Humanismus«. 138 Da es um nichts weniger geht als um die stellvertretende Verwirklichung der Gottheit in der Welt, eine Aufgabe, die größer nicht sein kann, liegt das Wagnis, das Gott mit seinen Geschöpfen eingeht, auf der Hand. Und wie die Weltgeschichte lehrt, geraten die Menschen an ihre Grenze und versagen immer wieder. Darum der Kampf, das Ringen, das Suchen, das ständige Scheitern und doch wieder neu Beginnen. Da Gott das Höchste will und von seinen Geschöpfen das Höchste fordert, das darin besteht, dass sie das Göttliche selbst stiften und schaffen, etwas, womit die Geschöpfe, wären sie ohne Anleitung, Schutz und Hilfe, hoffnungslos überfordert wären, sind Versagen und Irrtum, Verirrung und Illusion, Abkehr und Resignation, Ungeduld und Unduldsamkeit, Grausamkeit und Herzlosigkeit, kurz: Schmerz, Not und Leiden unvermeidlich. Wer das Höchste will, muss mit dem Niedrigsten rechnen, und Gottes Herz ist so weit, dass er auch dem Niedrigsten, Armseligsten und Gemeinsten noch einen Platz im Sein gewährt und es nicht »negiert«, nicht ins Nichts stößt. 139 Das ist kein Zeichen von Sadismus und Leidenslust, von Blindheit oder Ohnmacht, sondern von Großherzigkeit und Nachsicht, vor allem wenn man bedenkt, dass Gott bereit ist, selbst die gemeinste und bösartigste Kreatur, wenn sie nur umkehrt, zu sich emporzuheben. Alle Verdammnis ist daher letztlich Selbstverdammung – Gott gibt niemanden und nichts verloren. Prädestiniert sind alle geistigen Geschöpfe für die Gottvereinigung, die sie aber frei sind
hängig machen, d. h., nachdem er geprüft hat, ob sie auf der Seite der Werturmächte stehen oder nicht. Im positiven Fall heißt dies »Vertrauen«. 138 G. Jenner (2018) spricht von einem nicht-relativen, allen Menschen und Kulturen potentiell eigenen »universal conscience«, das sich im Laufe der Geschichte überall, wenn auch gegen den großen Widerstand des (Gruppen-)Egoismus bzw. der Mächtigen herausarbeite. 139 Insofern lässt sich der Auffassung, wonach Gott kein gut und schlecht, kein besser oder schlechter, kein höher und niedriger kennt, durchaus ein rechter Sinn abgewinnen. Genau genommen, überlässt es Gott der Wahl des Geschöpfes, wo – wie hoch, wie tief – es in der Seinsordnung stehen will, und wertet, drängt und zwingt keineswegs »nach oben«, sondern »zieht nur«. Wer sich mit Weniger an Seinsfülle begnügt, bekommt trotzdem, was er will, eben das, was ihm gemäß ist.
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Mensch, Kultur und Leiden
abzulehnen, womit sie sich selbst zur ewigen Selbstqual in wachsender Seinsentleerung und Selbstversteinerung prädestinieren. 140 Blickt man auf den Gang der Menschheitsgeschichte zurück, zeigt ihr Fortgang immer deutlicher, je weiter man sich der Gegenwart nähert, dass sich die Werturmächte der Wahrheit, Gerechtigkeit, Achtung, des Mitleids und Mitgefühls immer mehr durchsetzen. 141 Dieser Fortschritt erfolgt gewiss nicht notwendig und einlinig, sondern ist mit endlosen Rückschlägen, Stagnationen, Enttäuschungen, Opfern, Umwegen und Zerstörungen verbunden, aber wer wollte leugnen, dass es heute mehr Demokratien, mehr Meinungs-, Presseund Versammlungsfreiheit gibt als je zuvor in der Geschichte, dass sich das Recht immer mehr institutionalisiert, national wie international, dass der Informationsaustausch und damit Forschung und Wissenschaft immer reicher, dichter und offener werden, dass ein Weltgewissen entsteht, das die Ungerechtigkeiten anprangert, dass Individuen und Minderheiten sich immer mutiger zu Wort melden und ihre Rechte einfordern, dass die gerechtere Verteilung des Wohlstandes und der Ressourcen ein Gebot der Stunde ist, dass es überhaupt ein klareres Bewusstsein, ja Weltbewusstsein von der allgemeinen und unbedingten Gültigkeit der Menschen-, Lebens- und
140 Das sieht schon Dante in seiner »Divina Commedia«: Alle Verdammung geht auf den Selbstausschluss der Widergöttlichen aus dem Reich Gottes zurück. Und da Gott der unbewegte Beweger ist, muss ein Wesen, das sich von dieser vollkommensten Bewegung ausschließt, in einer sich selbst lähmenden »Selbstvereisung« enden. Deswegen ist Dantes Hölle nicht heiß, sondern eisig – und deswegen muss selbst Satan im Eissee der Hölle einfrieren (Divina Commedia, Inferno 34, 46–52). In dieser Tatsache sieht B. v. Brandenstein (1968, Bd. 6, 339) insofern eine »indirekte Gnade«, als durch diese Selbstversteinerung auch die »Bewegtheit des Leids« schwächer wird, wiewohl sie nie endet: »Vielleicht lindert sich dadurch auch unverdient – denn es ist unverdient – das Los der im Wesen selbstverdammten geschöpflichen Widergeister […]« 141 S. Pinker (2011) versucht, in seinem monumentalen und umstrittenen Werk »Eine neue Geschichte der Menschheit« nachzuweisen, dass sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die Gewalt immer mehr verringert habe. So sei mit dem Zivilisationsprozess ein zunehmender Befriedungsprozess einhergegangen, der sich etwa in der zunehmenden Abschaffung von Blutrache, Faustrecht, Sklaverei und Folter, von Rassentrennung und Diskriminierung von Minderheiten, in der zunehmenden Durchsetzung von Frauen- und Kinderrechten und in der Formulierung von Individual-, Bürger-, Völker- und Menschenrechten niederschlage. Für Europa, Australien und Nordamerika dürfte diese Einschätzung zutreffen. Auch G. Jenner (2018) weist nach, dass die voraufklärerischen agrarischen Zivilisationen weitaus brutaler, grausamer, ausbeuterischer und opferreicher waren, als die Aufklärungskritiker von J.-J. Rousseau bis Pankaj Mishra, die die Vergangenheit oft verklären, wahrhaben wollen.
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Vom Segen zum Fluch
Völkerrechte gibt, deren Kodifizierung und Einklagbarkeit ein nicht dagewesenes Ausmaß erreicht haben? Und wer wollte abstreiten, dass heute, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit, Frauen, Kinder, Behinderte, Ungeborene, Alte, Demente und Minderheiten gehört werden und ihre Rechte selbst oder in Stellvertretung einklagen können? Gewiss, noch steht die Menschheit am Anfang, der Weg ist weit, aber dass hier im untersten »sublunaren« Weltsein das höchste Sein geboren werden will und nach und nach geboren wird, wenn auch unter Seufzen und Klagen, das scheint nicht strittig zu sein.
5.12. Vom Segen zum Fluch Und trotzdem, wenn die Zeit das Medium für die Selbstgeburt des Besten und Göttlichen im Menschen, der Raum das Medium des Gespräches ist, warum werden dann Zeit und Raum zu Medien von Hass und Gemeinheit, Gewalt und Grausamkeit, Schmerz und Leid? Um dies beantworten zu können, ist zu fragen, wieso der Mensch bisher allen Segen in Fluch verwandelt? So hat der Segen des christlichen Glaubens die Greuel der Inquisition hervorgebracht, der Segen der Technik die atomare Katastrophe in Hiroschima und Nagasaki, der Segen der ethischen Gesetze die moralische Zwangs- und Angstatmosphäre der preußischen, jüdischen und chinesischen Gesellschaft, der Segen der kommunistischen Gleichheit den Archipel Gulag, der Segen der Vernunft in der französischen Revolution die Guillotine, der Segen der Medizin die Herabwürdigung des menschlichen Körpers und das Segensglück der Sexualität eine Flutwelle des Missbrauchs, des Betrugs, der Lüge und des Leidens, die ihresgleichen sucht. Überschaut man diese Schreckensgeschichte des Menschen, bleibt kaum etwas anderes übrig als festzustellen, dass der Mensch mit diesen Seins- und Segensgaben nicht umzugehen weiß. Warum aber? Die Gründe wurden bereits ermittelt: An erster Stelle steht das unfertig-unerschöpfliche, damit abgründig unreife, ungesicherte, schwanke und unersättliche pU-Wesen des Menschen, hinter dem eine überendliche, endlich nicht fass- und zähmbare Kraft, Unruhe, Wucht und Gier steht, unter der alles Endliche – der Leib, die sozialen Beziehungen, die Natur, das Leben – einzubrechen droht. Das Zweite ist der endliche Rahmen – die Inkarnation und das In-der-WeltSein –, der jene pU-Dynamik aushalten muss und dem Anspruch 541 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Mensch, Kultur und Leiden
des Menschen nach grenzenloser Seinsverwirklichung nicht genügen kann. Viele psychosomatischen Erkrankungen, aber auch die psychophysische Selbstaufzehrung genialer Menschen beweisen diesen Zusammenhang der Problematik des pU im E. Drittens ist zu bedenken, dass der Menschengeist genau jenen Halt und Träger verloren hat, der einzig in der Lage ist, seine pU-Seinsdynamik zu umfassen und schadlos auszustehen: das aU der Gottheit. Statt in Gott, wo der »dionysische« Menschengeist einzig leben kann, ohne Schaden anzurichten, lebt er – nun als entfesselter Prometheus, homo luxuriosus und homo faber – in der irdischen, sehr zerbrechlichen Endlichkeit. Diese Gott- und damit Selbstentfremdung enbindet zwei Grundkräfte, die, wie S. Freud sah, die Quellen allen Unglücks sind: den alles Endliche überfliegenden Wunsch, also die »Gier«, eine typische pU-Seelengestalt, und die Angst, die, wie M. Heidegger und vor ihm schon S. Kierkegaard, herausarbeiteten, ebenfalls alles Endliche in den Strudel der Nichtigung reißt. Von Gott verlassen und sich selbst überlassen, muss der Mensch sein Selbst in einer plural-antagonistischen Welt, allein auf sich gestellt, behaupten und gerät fast zwangsläufig in eine egoistische und rücksichtslose, nur sein Interesse und seinen Vorteil im Auge behaltende Kampf-, Angriffs- und Verteidigungshaltung. Bedenkt man, wie kurz seine Lebenszeit bemessen ist, wie verschieden und oft sehr ungünstig die Startbedingungen der Menschen in dieser Welt sind, wie orientierungslos der Einzelne oft ist und mit ständigen Erschütterungen und Anfeindungen aus seinem Unbewussten, aus seinem Leib (Krankheit, Altern, Tod) und aus seiner natürlichen und sozialen Umwelt konfrontiert ist, dann ist nicht rätselhaft, warum der Mensch mit den reichen Gaben des Daseins oft so ungeschickt und fahrlässig umgeht, warum er allen Segen in Fluch verwandelt und an sich selbst scheitert. Die Aufgabe ist so groß, dass sie in der Tat nur von einem Gott bewältigt werden kann, und eben das sollte die Lehre sein: 142 Wenn der Mensch meint, aus eigener Kraft diese Existenz bewältigen zu können, dann wird er aus großer Höhe einen tragischen Sturz erleiden, den er nicht überlebt. Doch wenn er begreift, dass Gott die Hand nach ihm ausstreckt, ihm aufhelfen und ihn begleiten will, ohne ihn zu entmündigen, sondern mit ihm – vor allem mit Hilfe seines gottmenschlichen »Sohnes« und seines »Heiligen Geistes« – zu kooperieren bereit ist, dann 142 Vgl. M. Heidegger im Spiegel-Gespräch vom 31. 5. 1976, 193: »Nur ein Gott kann uns retten.«
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Vom Segen zum Fluch
ist ein Gelingen möglich, dann wird aus Segen kein Fluch, sondern mehr Segen, dann erringt der Mensch eine kosmische Würde, von der er heute nicht zu träumen wagt. 143 Diesen Traum »träumt« Gott, und er riskiert damit alles: Wird der Mensch den Sinn seiner Existenz und seinen Auftrag begreifen, wird er den angebotenen Segen lebensgerecht umsetzen oder wird er ihn in einen endgültigen Fluch verwandeln? Dass Gott mit dem Menschen das Äußerste wagt, mag als tollkühn, fahrlässig und töricht erscheinen, aber es ist nur gottgemäß und entspricht seiner Seinshoheit, dass er, wenn er überhaupt etwas wagt, alles wagt und das Äußerste will. Weniger wäre seiner Unendlichkeit unangemessen und hätte aus seiner Sicht schon vor allem Beginnen mit der Welt das Scheitern bedeutet. Nur weil er die Nichtigung mit dem Menschen und überhaupt mit der Schöpfung wagt, kann er sie zur Totalität hinführen und erheben. Selbst im Fall, das Universum verschwände im Nichts, würde dies an der göttlichen Vollkommenheit kein Jota verändern. Doch sprechen alle Anzeichen dagegen, da – vom Menschen abgesehen – die gesamte Schöpfung weitgehend reif geworden ist. Und selbst der Mensch bemüht sich im Ganzen redlich, seinen Beitrag zu leisten und sucht Leben, Frieden, Gerechtigkeit und Freude. 144 Aller Fluch, der nichts anderes ist als der Wille, ohne Gott bestehen zu wollen, kommt einzig und allein vom geschöpflichen Sein, kommt nicht von Gott her. 145 Gott lässt die Selbstverfluchung der Geister und ihr gefährliches Spiel mit dem Nichts nur zu, um diese über ihre wahre Bestimmung aufzuklären. Das Aufklärungsmittel par excellence aber ist der Leidensdruck, die Drohung des totalen Scheiterns und Misslungenseins, der Absturz in die nicht endende Nacht. Da kein anderes Mittel wirkt, und selbst dieses oft stumpf bleibt, kann das Äußerste des Seins nur durch das Äußerste des Nichtseins bewusst und schätzenswert gemacht werden.
Zu dieser »Hand« gehören die allen geistigen Geschöpfen als Potentialitäten eingeborenen ethischen Grund- bzw. Naturwerte, etwa in Form der Menschenrechte, die philosophisch ermittelt und praktisch erweckt werden können. 144 Siehe J. W. v. Goethe (Faust 1, Prolog, Gott): »Der Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst.« 145 Und »ohne Gott« bestehen zu wollen, bedeutet, den beiden Illusionen »Jeder und jedes lebt getrennt für sich« und »Es gibt nicht genug« nachzulaufen, denn Gott ist die Seinsverbundenheit und das Über-Genug schlechthin. 143
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Mensch, Kultur und Leiden
5.13. Theodizee vierter Teil: die Rolle des Nichts im Seinsgeschehen mit einer Kritik an der plotinischen Gleichsetzung von Materie und Üblem, Materie und Bösem »Ein Nichts waren wir, sind wir, werden wir bleiben, blühend: die Nichts-, die Niemandsrose.« (Paul Celan 1963, Die Niemandsrose)
Hat all dies Unheil wirklich sein müssen? Hatte Gott keine andere Wahl, als solch eine leidvolle, zerbrechliche und nichtshafte Welt zu schaffen? Man kann es nicht genug betonen, dass Gott durch nichts gezwungen werden kann und durchaus keine oder eine ganz andere Welt hätte erschaffen können. Doch andererseits ist er es seiner Vollkommenheit »schuldig«, wenn er überhaupt eine Welt erschafft, eine »totale« Welt ins Leben zu rufen, also nicht eine Welt, in der nur glückliche und fehlerlose Wesen agieren, denen stets alles gemäß Gottes Wille gelingt, sondern eine Welt, die in exemplarischer Weise alle Ränge, Stufen und Grade des Seins abbildet, vom Fast-Nichts bis zum Vollsein, von Satan bis zum Gottmenschen, zudem verbunden mit einer zeitlichen, physischen, geistigen und sittlichen Dynamik, die sich vom Fast-Nichts bis zu Gott dramatisch durchringt. Wie ein Kunstfilm, in dem das Böse, Angstmachende, Schmerzliche, Traurige, Schwierige, Umkämpfte und Misslungene seinen Platz hat, packender, interessanter, lehrreicher und letztlich beglückender ist als ein Film, in dem von Anfang an alles entschieden ist, nur Gutmenschen auftreten, keine Gegnerschaft und keine Rivalität bestehen, das Böse, Schmerzliche, Traurige und Misslingende fehlen, ein solcher Film also einfach langweilig ist, so verhält es sich auch mit der Schöpfung. Gott und nur Gott kann den Preis der ungeheuerlichen Leiden zahlen, weil er die Macht hat, nichts verloren zu geben, auch ein Kind z. B. nicht, das wegen eines ärztlichen Kunstfehlers oder aufgrund einer Misshandlung früh stirbt und in dieser Welt keine Chance hatte, seinen einzigartigen Beitrag zum Dasein beizusteuern. Recht betrachtet, kann kaum jemand nachvollziehen, wie weit Gott geht bzw. mit seiner Schöpfung gegangen ist. Klarer wird dies, wenn man Folgendes bedenkt: Logisch zwingend gilt, dass es außerhalb Gottes kein weiteres Sein geben kann. Alles, was entsteht und ins Sein tritt, kommt unmittelbar oder mittelbar von ihm und bleibt von ihm umfasst. Und in der Tat besteht das gesamte mögliche aUaU Seinsall, man kann auch sagen: bestehen alle möglichen Welten in 544 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Theodizee vierter Teil
Gottes Bewusstsein. Aus dieser größtmöglichen Menge von Gegenständen wählt Gott eine Welt aus, den Kosmos, der, zwar abhängig von Ihm, doch in seinen Geistgeschöpfen selbständig agieren kann. Wohl übersteigt schon diese Möglichkeit, freie und selbstbewusste Wesen zu erschaffen, die menschliche Vorstellungskraft, doch geht Gott noch weiter und entlässt diese Wesen in eine Welt, die zwar stets in seinem Blick und unter seiner Regie bleibt, die aber nicht mehr unmittelbar in seinem Geist, also in seinem Macht- und Wirkungsbereich besteht, sondern gewissermaßen außerhalb von ihm oder, vielleicht besser, am »äußersten Rande« von Gottes Ursein agiert, was eine uneigentliche Rede ist, da Gott keinen Rand hat. Das bedingt Zweierlei: erstens dass Gott nicht selbst unmittelbar in der Welt, und also die Welt in sich ohne Gott ist; und zweitens dass die Welt über dem Nichts hängt, allein von Gott, der für seine erschaffenen Subjektwesen keinen Träger braucht und haben kann, gehalten. 146 Wie Gott aus seiner Welt heraustritt, ist schwer zu denken, aber es muss so sein, da der Mensch keine unmittelbare Gottesanschauung hat und so weit von Gott entfremdet ist, dass die Menschheit als ganze in Tausenden von Jahren nicht sicher geworden ist, ob es Gott überhaupt gibt. Wäre Gott als er selbst in der Welt und in jedem direkt und unmittelbar erfahrbar, wäre ein Zweifel an seinem Da- und Sosein unmöglich. Nur wenn man diesen in allen bisherigen Theodizeen übersehenen Zusammenhang erkennt, nur dann kommt man dem Rätsel des Bösen und des Leids näher. Ontologisch gesehen, rückt hier etwas in den Mittelpunkt, das zum Hauptthema der modernen Philosophie wurde, so vor allem seit G. W. F. Hegel, explizit dann in der Existenzphilosophie: die Rolle des Nichts im Seins- und Weltgeschehen. Während die Existenzphilosophie unter Aufgabe des Gottesgedankens, so jedenfalls bei M. Heidegger, J.-P. Sartre, A. Camus und E. Bloch (dagegen nicht bei S. Kierkegaard, K. Jaspers und G. Marcel) 147 das Nichts verabsolutierte und dadurch seine Stellung und seine Rolle verkannte, lässt die Theodizee die dramatische Funktion des Nichts bzw. der Nichtigung im Seinsgeschehen klarer erkennen. Das Nichts ist weder Ursprung noch Ziel des Seins, das ist direkt selbstwidersprüchlich, doch ist es der gähnende Abgrund, über den Gott das gesamte Weltsein aufhängt, so dass er den drohenden Hintergrund des 146 147
Vgl. Altes Testament, Buch Hiob, 26, 7: »Er hängte die Erde über dem Nichts auf.« Vgl. L. Gabriel (1968).
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Mensch, Kultur und Leiden
Weltdramas bildet. Dass Gott dies tut, ist nicht Ausdruck einer allmächtigen Häme, sondern des Wagnisses, der größtmöglichen Freiheit außerhalb der Freiheit Gottes Raum zu geben. M. Heidegger verweist darauf, wenn er Freiheit und Nichts zusammenbringt: »Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts« 148 und: »die Freiheit ist der Ab-grund des Daseins.« 149 Mehr noch braucht die Freiheit nach M. Heidegger und J.-P. Sartre sogar das Nichts, um sich zu entwerfen und zu transzendieren, da sie andernfalls im dichten Gedränge des Weltseienden ersticken würde. Sie muss dieses »nichten«, was nach M. Heidegger vor allem in Angst und Langeweile, nach J.-P. Sartre durch die Imagination geschieht, um zu sich zu kommen. 150 Doch das genügt nicht, es gilt, tiefer zu dringen und zu erkennen, dass der menschlichen Freiheit ein viel größerer Raum gegeben wurde, nämlich der Raum des Gottnichts. Gott hat sich für den Menschen gleichsam »zu nichts gemacht«, hat sich verborgen, damit dieser, auf sich gestellt, zu sich und darüber frei zu Gott finde. 151 In der Gottnähe, wie sie im adamitischen Paradies bestand, waren die Menschengeister zwar nicht unfrei, doch nicht ihrer Freiheit ausgesetzt – sie waren geschützt, behütet, von Grund auf gesättigt. Im Grunde hatten sie nichts zu tun, nichts zu leisten und nichts Letztes aus sich herauszuholen, mussten also nicht mit ihrer Freiheit und ihrer Abgründigkeit vollen Ernst machen. Das hat sich geändert: In der gottlosen Welt ist der Mensch ausgesetzt, ausgeliefert, nicht satt zu kriegen, und also muss er tief ins Sein hinabsteigen und hineingreifen, muss alles Weltseiende transzendieren und in totaler Freigelassenheit das Nichts riskieren, um jenen Raum zu öffnen, in dem das letztlich tragende und voll nährende Sein, die Gottheit, eintreten kann und als innerster Frieden, stille Beglückung und unendlich feine Liebe erfahren wird. Gott hat den Menschen und seine gesamte Schöpfung der Nichtigung und damit der größtmöglichen Freiheit, Verantwortung und Mitschöpfermacht, aber auch der größten Gefahr – der Verwirrung und dem Missbrauch – ausgesetzt, so dass sie selbst und ganz eigenständig den Schritt vom nicht nur gedachten, sondern tief und Siehe M. Heidegger (1969, 35). Siehe M. Heidegger (1949, 49). 150 Vgl. J.-P. Sartre (1982). 151 Auch die sicherlich allzu räumlich gedachte Idee der Kabbala, Gott müsse sich gleichsam »zusammenziehen«, um Raum für die geschöpfliche, menschliche und engelische Freiheit zu schaffen, sieht das Problem, wie geschöpfliche Freiheit überhaupt denkbar ist, löst es aber noch allzu »vorstellungshaft«. 148 149
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Theodizee vierter Teil
damit schmerzlich gefühlten Fast-Nichts über das Halbsein zum Vollsein tut, einen Schritt, den sie im »Elysium« nicht hätte tun können, selbst wenn sie hätte wollen. Dabei bedeutet dieses Nichts nicht nur den physischen Tod, sondern jegliches Scheitern, jeglichen Tod und jeden Seinsverlust. 152 Wenn dies, was hier ermittelt wurde, stimmt, sprich, sowohl die vormenschlichen Naturgeistkräfte als auch die Menschen echt »gottfreigesetzt« sind, dann erklären sich zwanglos sowohl die natürlichen als auch die zwischenmenschlichen Übel. Denn außer Gott kann das Wirken in der Welt nur kontingent, »zufällig«, vorläufig, fragmentarisch, unvollkommen, ein Suchen, Irren und Finden sein, und gewiss kann es nicht allseitig, sondern nur einseitig erfolgen, kann nicht das Ganze berücksichtigen und verfällt leicht der Rücksichtslosigkeit, der Torheit und dem Egoismus. Wenn z. B. die Naturgeistkraft, die die Gravitation bewirkt, in gesetzlicher Form agiert, dann kann sie nicht Rücksicht auf den Menschen nehmen, der Jahrmilliarden später auftritt und mit den Folgen der Gravitation, z. B. mit Meteoriteneinschlägen und Erdbeben zu kämpfen hat. Und so kann auch ein Physiker, der die Atomspaltung entdeckt, nicht dafür schuldig gesprochen werden, wenn diese von späteren Generationen als Waffe missbraucht wird. In allem, was die Freiheit hervorbringt, und mag es das Beste sein, riskiert sie das Böse, den Missbrauch und das Leid. Um all dies zu verhindern, müsste sie, wie im Grunde Buddha lehrt, auf sich selbst Verzicht leisten und sich dem Leben verweigern. Wer sich radikal dem Quietismus verschreibt, der kann in der Tat keinen Schaden anrichten, doch setzt er auch dem Leben das Ende. A. Schopenhauer predigte dies und verkannte damit den Sinn des Seins. Wer kein Leid ermöglichen will, der muss das Leben, die Freiheit und die Kreativität verneinen, und das wäre für lebensgierige, freiheitsversessene und schaffenswütige Wesen, wie es alle Geschöpfe sind, das viel größere Leid. Hätte sich A. Schopenhauer konsequent an seine Lehre gehalten, hätte er nicht schreiben dürfen; und wäre Buddha konsequent der Lebensverneinung gefolgt, hätte er nicht predigen dürfen. Denn mit all dem verstrickten sie sich und die Anderen wieder 152 So etwa die Nichtigung durch Irrtum, Lüge, Betrug, Missverständnis, Trennung, unglückliche Liebe, Schuld, Unversöhnlichkeit, Hässlichkeit, Unlauterkeit, Trägheit, Ödnis, Langeweile, Angst, Trauer, Unwissenheit, Hoffnungslosigkeit, Gemeinheit, Ungerechtigkeit und vieles andere mehr.
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Mensch, Kultur und Leiden
ins Leben und riefen zahllose Lebensantworten hervor, man bedenke nur die vielen neuen Bücher und Diskussionen, Fragen und Probleme, Konflikte, Kämpfe und Leiden, die die Werke dieser beiden großen Denker und Lehrer provoziert haben. Wahrscheinlich haben sie mehr Leid erzeugt als im Falle, sie hätten geschwiegen, doch nur so wühlten sie die Menschen auf und regten ihr Fragen, Suchen, Schaffen, Erkennen und Finden an. So darf man sicher sein, dass die meisten Buddhisten für den Gewinn an Einsicht, Frieden und Seligkeit, der ihnen durch diese Lehre gewährt wird, gern bereit sind, das damit unvermeidlich verbundene Leid, das ihnen angetan wurde, das sie sich selbst antun und das sie anderen antun, in Kauf zu nehmen. Denn die Menschen sind nicht dazu da, wie F. Nietzsche richtig sieht, nicht zu leiden und das »Glück der Kühe« zu genießen, sondern zu schaffen, hervorzubringen, den Menschen zu überwinden oder, mit Meister Eckhart gesprochen: die Gottgeburt im Menschen (mit-)zubewirken. Und wie sollte solche Geburt, in der das Letzte, Höchste und Tiefste, das aU im E bzw. pU durchbricht, ohne Risiko, schmerzlos und schadlos vonstattengehen können? Mit der Inkarnation des Menschengeistes im tierischen Leib wurde jedoch nicht nur das »Gottnichts« bzw. seine Abwesenheit mitgesetzt, sondern auch der Raum für die Mitmenschen, den Anderen und damit für die Kommunikation geöffnet. An die Stelle Gottes tritt der Andere – das ist zwar ein gewaltiges Risiko, das fast sicher zum Scheitern führen muss, aber doch eine ungeheure Chance darstellt. Im Paradies muss der Mitmensch neben Gott verschwinden, denn sie beide sind nicht kommensurabel; in der Welt aber, wo kein Gott ist, da wird der Mitmensch alles. Und so ist es schon biologisch, dann auch psychologisch, soziologisch und noetisch. Der Säugling kann ohne seine Eltern nicht leben; er kann ohne sie die Sprache nicht erlernen; er bleibt ohne sie und die weitere soziale und kulturelle Umwelt barbarisch und unzivilisiert. Die Gottlosigkeit oder Gottferne zwingt die Kultur hervor, und diese muss durch das angeblickte Auge des Anderen hindurch. Vor allem die Sprache erhält einen existenziell notwendigen Status, den sie in Gottes unmittelbarer Nähe nicht hätte erlangen können. Wer in Gott lebt, hat alles unmittelbar, der braucht keine vermittelnden symbolischen Zeichen, um Sinn und Verständnis zu entwickeln. Das heißt, dass der Andere über alle Grenzen aufgewertet wird und gleichsam Gott zu vertreten hat. Es liegt auf der Hand, welches Unheil und Leid entstehen müssen, wenn ein solcher Mensch kein Gottesbewusstsein hat: Entweder vermittelt 548 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Theodizee vierter Teil
er nichts als Langeweile, Dürre und Sinnlosigkeit, ist gleichgültig oder abweisend oder er vermittelt sein Ego, sprich Rücksichtslosigkeit, Gewalt, Härte, Zynismus, Grausamkeit und Tyrannei. Offensichtlich ging Gott dieses Risiko ein und nahm diese »Kollateralschäden« in Kauf, um die Menschen aufeinander in unbedingter Weise zu beziehen und aneinander zu binden. So wird der Mensch tatsächlich dem Menschen entweder ein Wolf oder ein Mitmensch (oder sogar, wie T. Hobbes sagt, Gott). Eine Welt, die frei von Leid wäre, hätte weder Mitmenschlichkeit noch Kultur hervorbringen können. Die Menschen sollen aneinander wachsen, außerhalb von Gott, nur geleitet von seiner sittlichen, »ins Herz gezeichneten« Rechtsordnung, und zwar in einer radikal gegenseitigen Angewiesenheit, die beweist, dass die Menschen nicht urfrei, sondern bedürftigfrei sind und die Bindung als Schutz, Halt und Führung brauchen. Dieses Aneinanderwachsen und -reifen schließt alles Missliche ein, das die Menschen darum, wie der Stifter des Christentums sagt, mitlieben und nicht als »Unkraut vor der Zeit ausreißen« sollen, gleich ob es als Kranker, Behinderter, Versager oder Feind in Erscheinung tritt. Das Eigene im Anderen zu lieben ist leicht und stellt nur die Form eines versteckten Egoismus dar, dem wir in so vielen Familien, Gemeinschaften und Völkern begegnen. Doch das Fremde, Widerwärtige, Angstmachende und Feindliche (als meines!) zu lieben, das transzendiert alles Endlich-Eigensüchtige und ist, da es wahrhaft frei macht, göttlichen Ursprungs. An dieser Stelle ist es angebracht, die Philosophie und Theodizee Plotins, der von 204 bis 270 n. Chr. lebte, zu diskutieren, und zwar umso mehr, als das »Nichts« darin eine entscheidende Rolle spielt. 153 Verständlich wird sie auf dem Hintergrund 1. des typisch plotinischen Seinsgeschehens, das Emanation genannt wird, und 2. der Form-Materie-Ontologie des Aristoteles, die Plotin übernimmt und 153 Vielleicht sollte man eher, wie viele Autoren, so etwa F. Nietzsche tun, nicht von Theodizee, sondern von Kosmodizee reden, da die Antike keinen Schöpfergott kennt und letztlich den Kosmos für göttlich, vollkommen und ewig hält, so Aristoteles, die Stoa und Plotin. Damit aber wird das Negative – das Leid, das Böse, das Schlechte, das Zweckwidrige, das Vorläufige und Fragmentarische – apriori zu etwas, das keinen oder nur einen scheinbaren Platz im Ganzen hat und damit ortlos, »u-topisch«, letztlich nicht-seiend wird. Vgl. die Hauptschrift der plotinischen Theodizee »Von der Vorsehung« (Enneade III 2.3, Kap. 47, 48); vgl. dazu die Interpretation von J. Halfwassen (2004, 98 ff.). Ausführlich zur Theodizee und Übellehre Plotins vgl. F. Billicsich (1955, 98–185).
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zuspitzt. Unter Emanation versteht Plotin das Überströmen der unendlichen Fülle des Ureinen in einem endlosen und notwendigen Vorgang, der auf diesem Wege stufen- oder phasenweise neue Seinssphären hervorbringt, die, je weiter sie vom Ureinen entfernt sind, desto formloser und damit seinsleerer werden. Am Ende dieser Selbstverströmung des Ureinen über die Zwischenstufen von Geist (nous), Ideenwelt, Weltseele, Individualseele und Körper hinweg steht die formlose, daher »nichtseiende« Materie. Sie aber »– und das ist einer der wesentlichsten Punkte in Plotins Metaphysik – darf nicht als eine für sich neben dem Einen bestehende körperliche Masse angesehen werden, sie ist vielmehr selbst körperlos, immateriell […] Die Materie ist für Plotin die absolute Negativität, die reine Privation, die völlige Abwesenheit des Seins, das absolute Nichtsein […] In der reinen Negativität begründet es sich nun aber, dass diese eigenschaftslose Materie auch durch ein Wertprädikat bestimmt werden kann: sie ist das Üble bzw. Böse (kakos). Als der absolute Mangel, als die Negation des Einen und des Seins, ist sie auch die Negation des Guten […] das Böse ist nicht selbst etwas positiv Vorhandenes, sondern es ist der Mangel, es ist das Fehlen des Guten, das Nichtsein. Diese Begriffsbildung gab für Plotin ein willkommenes Argument für die Theodizee: wenn das Böse nicht ist, so braucht es nicht gerechtfertigt zu werden, und so folgt aus den bloßen begrifflichen Bestimmungen, dass alles, was ist, gut ist.« 154
Was ist darauf zu sagen? Ist diese Theodizee mit ihrer ontologischen Fundierung im »Materie-Nichts« überzeugend? Wohl kaum, und das aus verschiedenen Gründen. Zuerst ist hervorzuheben, dass es, recht besehen, das Böse nicht gibt. Vielmehr gibt es nur böse Geister und Menschen, böse Handlungen und böse Gesinnungen, aber weder begegnet man dem Abstraktum eines rein Bösen noch einem bösen Ding. Ein fehlerhaftes Gerät, Gedicht, Werkzeug, Gesetz, Kleidungsstück, Instrument usw. mag schlecht, aber böse kann es nicht sein. Böses ist notwendig an endliche Subjektivität gebunden, an Freiheit, Bewusstsein und Handlungsfähigkeit, an Wille, Verstand, Intentionalität und Begehren. Damit aber ist entschieden, dass Materie, gleich wie man sie definiert, nicht böse sein kann. Erst recht ist es unmöglich, dass die Materie, definiert als reines Nichts, übel oder böse ist. Denn Nichts ist nicht und weist keinerlei Bestimmung, erst recht keinen Willen auf, und also ist es weder gut noch böse bzw. – als Materie – nur »gut« im Sinne von »geeignet für das Weltwechsel154
Siehe W. Windelband (1957, 211 f.); vgl. ähnlich J. Halfwassen (2004, 120–128).
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wirken und die Kommunikation« bzw., gemäß Plotin, für »das schöne und dramatische Spiel der Erscheinungen an ihr«. Und doch steckt etwas Richtiges in Plotins Auffassung, nur ist es einseitig übertrieben und damit falsch. Das Richtige besteht darin, dass das Böse zwar einerseits an ein echt Seiendes, eben an ein wirkund denkfähiges Wesen, an ein Subjekt gebunden ist, andererseits insofern wesenhaft eine (allerdings immer nur partielle) Negativität aufweist, als der böse Mensch, die böse Gesinnung und die böse Handlung auf eine Seins- und Wertzerstörung, eine Seins- und Wertwidrigkeit gerichtet sind, was im Falle der Materie nicht möglich ist. So ist die Lüge nicht reines Nichts, sondern impliziert das Sein des als solchen wahrheitsfähigen Denkens und Redens, doch bezogen auf die Verletzung von Wahrheit; und so ist die Intrige nicht rein Nichts, sondern impliziert einen tätigen, insofern guten bzw. zum Guten berufenen Willen, doch will sie bewusst jemanden schädigen und in Verruf bringen. All dies erhellt, dass das Böse nicht rein nichts ist, im Gegenteil, wie Augustinus, Dionysios Areopagita 155 und Thomas v. Aquin lehrten, auf ein Gutes angewiesen ist, um sich zu realisieren. 156 Ohne die Existenz eines Willens, eines Denkens, ohne Sprache, Kommunikation und Handlungsfähigkeit könnte weder gelogen noch intrigiert noch gefoltert werden, und also ist das Böse nicht rein nichts und muss sehr wohl »gerechtfertigt«, in seiner Existenz wahrgenommen, verstanden und erklärt werden. Sicher aber ist, dass die Materie nicht übel oder böse sein kann, dazu fehlen ihr die entscheidenden Voraussetzungen, und deswegen kann sie nicht einmal schlecht sein, denn auch das Schlechte in der Welt ist die Folge zwar nicht unbedingt böser, aber endlicher und evtl. irrender oder ungeschickter Subjekte. Da die Materie nach Plotin darüber hinaus eine Emanation des Ureinen ist, kann sie nicht rein schlecht, höchstens nur partiell und beschränkt gut sein, das umso mehr, als sie nach Aristoteles (und Plotin) nicht rein Nichts, sondern ein potentielles Sein ist, das durch eine Form wirklich wird, ja sich gemäß Plotin nach der Form sehnt. So gesehen, ist die Materie sogar seinsbezogen, ja seinsberufen.
Vgl. Dionysios Areopagita (1985, 98 ff.). Siehe ähnlich Hugo von St. Viktor (1961, 30): »Aber selbst die Finsternis wird nicht ohne das Licht gesehen […] In jenem (ungeschaffenen) Lichte nämlich, das allein gut ist, wird das Böse und das Gute sichtbar […] es erscheint auch das Böse eben als böse und das Gute eben als gut.« 155 156
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Vielleicht meinte Plotin aber gar nicht, dass die Materie an sich böse sei, sondern eher (wie Paulus im Galaterbrief), dass sie den Menschengeist, der an sie gebunden ist, trübt, beschwert, des Weiteren mit den animalischen Triebkräften des Leibes bedrängt und zu maßlosen Handlungen »verführt«. Wenn man sich vor Augen führt, zu welchen Schandtaten die Menschen z. B. aufgrund des an sich wertneutralen bzw. wertpositiven, weil Lust und Glück schenkenden Sexualtriebes fähig sind, dann spricht manches für jene Auffassung, dass die (hier biologisch geformte) Materie zwar selbst nicht böse ist, aber dem Bösen und Schlechten dann Vorschub leistet, wenn der Menschengeist schwach ist und die sinnlichen Triebkräfte nicht angemessen lenkt und begrenzt. Tiefer reicht der plotinische, von Augustinus, G. W. Leibniz u. v. a. wieder aufgegriffene Gedanke, dass die Rolle des Übels nur auf dem Hintergrund des gesamten Seinskosmos und seiner organismischen, vielfach gestuften Ganzheit beurteilt werden kann und darf, einer Ganzheit, die Vergangenheit und Zukunft, Teil und Ganzes, Vielheit und Einheit, Gegensatz und Zusammenstimmung, Erfolg und Misserfolg umfasst. Und da vergleicht Plotin zu Recht das Weltgeschehen mit einem Drama, in dem sowohl das Unvollkommene bzw. Einseitig-Beschränkte als auch das Übel, das Leid und das Böse einen Sinn und eine Funktion haben. 157 Leider wird Plotin dabei von der Tendenz geleitet, das Böse und Üble auf die positive Gegensatzstruktur des Kosmos zurückzuführen und so gleichsam für natürlich und notwendig zu erklären. Dieser Schluss ist übereilt: Denn aus den positiven Gegensätzen z. B. von Mann und Frau, Alt und Jung, Führer und Geführten, Form und Materie usw. entsteht nicht zwangsläufig das Üble, Schlechte oder Böse, die durch einen negativen Gegensatz charakterisiert sind, vielmehr fordern diese ihre eigenen Seins- und Erklärungsgründe, die über die bloße Gegensätzlichkeit des Weltseins hinausgehen. Während einleuchtet, dass in einer zeitlich-veränderlichen, von gegensätzlichen Kräften bestimmten Welt Kollisionen, Kämpfe und Konflikte unvermeidlich sind, leuchtet keineswegs ein, dass dadurch schon Übles und Böses beigemischt sein müssen. Wie der Text über die Vorsehung beweist, ringt Plotin, wie mir scheint, letztlich vergeblich mit dem Problem, wie der »Weltplan« (die Notwendigkeit) einerseits das Weltgeschehen in jeder Hinsicht bestimmt, andererseits in 157
Vgl. Plotin (1973, 225).
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Hinsicht des Bösen und Üblen durchkreuzt wird. Dahinter steht offensichtlich das Urproblem des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit, für das Plotin, so weit ich sehe, keine Lösung findet und auf dem Hintergrund der antiken Kosmos-Idee auch nicht finden kann. Nicht weniger schwer wiegt das Problem, dass der Mensch die höhere und höchste Ganzheit des Seinsgeschehens einerseits zwar voraussetzt und nach Plotin auch voraussetzen muss, andererseits, insofern sich die Zukunft dem Menschen grundsätzlich entzieht, nicht überschauen und daher den Sinn des Weltdramas nur sehr schwer und allgemein bestimmen kann. Das Schlechte (kakos) ist nach Plotin zwar irgendwie da, aber es ist nicht total schlecht, sondern immer und letztlich um des Guten willen vorhanden. Dass es zu Konflikten und Leiden, Übel und Verfehlung kommt, ist eine unumgängliche Folge der Wandelbarkeit der Welt und letztlich nach Plotin die Folge dessen, dass der Abstand zum Ureinen im Verlauf der Weltemanation größer und damit die Wirkung der »dunklen Materie« immer eindringlicher wird. 158 Doch auch da betont Plotin, dass nicht der zunehmende Abstand und Seinsverlust den Letztsinn des Kosmos, sondern die Rückkehr alles Seienden, einschließlich des »Nichts« der Materie zum Ureinen, Sinn und Ziel des Weltdramas ausmacht. Und doch: So tief und richtig die Deutung des Weltgeschehens als Drama ist, so nimmt Plotin diese Einsicht insofern wieder zurück, als er darin nur ein nicht wirklich ernst zu nehmendes Spiel sieht, in dem die endlosen Scheußlichkeiten der Menschen Sein und Wert des seelisch-geistigen Lebens, seine intelligible Seele, nicht berühren. 159 158 An diesem Punkt unterlaufen Plotin zwei fundamentale Widersprüche: Da nach seiner Metaphysik die Emanationen auf zeitlos-unendliche Weise aus dem unendlichgrenzenlosen Einen entspringen, bleibt erstens rätselhaft, warum ab einer bestimmten Emanation überhaupt Zeitliches entsteht. Zweitens scheint Plotin zu übersehen, dass sich ein unendliches Entströmen aus einem Unendlichen niemals, zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort, vermindern kann, wie er aber annimmt, zumal das Emanieren zeitlos erfolgt. Gemäß seiner Lehre müssten auch die Seelen und die Materie unendlich sein, das Unendliche kann nicht, wie Parmenides richtig sah, abnehmen, gleich, wie weit sich die Emanationen von ihm entfernen, zumal im Unendlichen keine Entfernungen, Abstufungen, Grade möglich sind. 159 Vgl. Plotin (1973, 225 ff.). Mit der These, dass die Sünde nicht in den Kern des Selbst dringt, berührt sich Plotin mit einer Auffassung, die sowohl bei den von ihm sonst so scharf bekämpften Gnostikern als auch viel später bei den Katharern zu finden ist. Wie im Falle der ewigen und damit ewig bösen Materie offenbart sich hier
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Hier macht sich bei Plotin ein harmonisierend-beschönigender Optimismus breit, der dem tragisch-agonalen Aspekt der Schöpfung nicht gerecht wird und ausweicht. Auch überspringt er die unausweichliche Härte der Unwiederholbarkeit des Daseinsgeschehens mit der Reinkarnationslehre, durch die sich alle Probleme in die Vergangenheit und Zukunft verschieben lassen. Ganz anders werden in diesem Punkt die christlichen Kirchenväter mit ihrer Eschatologie argumentieren, da sie erkennen, dass das Böse bis in den letzten Seinsgrund des Geschöpfes, in seine intelligible Freiheit nämlich, reicht und nur durch eine radikale Umwendung »von innen und unten« und eine übernatürliche Erlösung »von oben« überwunden werden kann. 160 Sinn und Stellung von Schlechtem und Bösem werden hier ganz neu, vor allem nicht-naturalistisch bestimmt, wenn man von dem naturalistischen Rückfall der (vulgären) Erbsündenlehre einmal absieht, so dass die Entfremdung vom Ureinen der Gottheit nicht durch eine zwangsläufige Emanation, sondern durch die freie Tat begründet wird. Dass dies zur Begründung einer Theodizee nicht ausreicht, soll Gegenstand der nächsten Kapitel werden.
5.14. Hiobs Unkenntnis der unbewussten Seelentätigkeit; die Unmöglichkeit einer Erbsünde Es liegt an der kulturell bedingten Beschaffenheit seines Gottes-, Welt- und Menschenbildes, dass Hiob unter den schweren Schlägen seines Schicksals in theoretische und existenzielle Dilemmata gerät. Einiges davon wurde bereits erläutert. Im Kern wird Hiob von folgenden Grundannahmen geleitet: Es gibt ein personales Ursein, Gott, das die gesamte Welt direkt erschaffen hat, auch den Menschen, und die Welt nach gerechten Grundsätzen einrichtet. Die Freunde Hiobs, die ähnlich denken, unbei Plotin ein versteckter metaphysischer und ethischer Dualismus, der nicht in sein monistisches Gesamtsystem passt. 160 Die Dissonanzen in Plotins Metaphysik werden dadurch verschärft, dass die Emanationen der verschiedenen Seinsdimensionen, wie sie vom Ureinen ausgehen, mit Notwendigkeit erfolgen, womit der gesamte Weltprozess – antik-stoisches Erbe – naturhaft-notwendig verläuft. Ersichtlich kann es in einem solchen Seinsbild keinen Ort weder für das Schlechte noch für das Böse geben, da das Notwendige, zu dem keine Alternative besteht, weder gut noch böse, sondern einfach so ist, wie es ist und wie es sein muss.
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Hiobs Unkenntnis der unbewussten Seelentätigkeit
terstellen daher, dass Gott gutes Verhalten mit Glück, böses Verhalten mit Leid, das durch Naturereignisse oder durch Menschenhand verursacht sein kann, beantwortet. Und auch Hiob meint dies: Während Hiobs Freunde vom Leid Hiobs auf dessen angeblich schuldhaftes Vergehen zurückschließen, wogegen sich Hiob wehrt, schließt Hiob von seiner Unschuld auf die Ungemäßheit seines Leidens bzw. auf seinen Anspruch auf Wohlergehen und Glück zurück. Der theoteleologische Horizont ist derselbe. Da Hiob schweres Leid erfährt, sich aber keiner Schuld bewusst ist, regt sich sein Rechtsempfinden und begehrt auf. Er verlangt von Gott die Rechtfertigung für einen Zusammenhang, der nach seiner Auffassung nicht sein dürfte und nicht zu rechtfertigen ist. Hiobs ethisches Empfinden kollidiert mit der Faktizität des (ungerechten) Leidens, das in seinem Weltbild nicht möglich ist; er verlangt gute Gründe und Gerechtigkeit. Wenn Gott Gott ist und wenn Gott als allmächtiger alles direkt bewirkt, dann darf es solches Leid, wie er es erfährt, nicht geben. Da es aber dieses Leid gibt, gerät Hiob in ein unauflösbares Dilemma: Sein Gottesbild kollidiert mit der faktischen Welt und ist daher logisch und ethisch selbstwidersprüchlich. Dieses Dilemma wird durch die weitere Annahme Hiobs verschärft, dass Gott die unmittelbar-direkte Ursache der Natur und also auch der leidbringenden Naturereignisse ist. Gott lässt nicht nur das Naturübel zu, er tätigt es selbst. Das bedeutet, dass Gott selbst direkt Leid zufügt, also etwa wütet, Leben zerstört, unrecht handelt, grausam und mörderisch ist (Millionen Kinder jährlich mit Seuchen hinwegrafft), was mit seiner Vollkommenheit und Allgüte aporetisch kollidiert. 161 Das Ende der Hioberzählung, in der Gott als allgewaltige Naturkraft auftritt, legt die weitgehende Identität von Gott und Natur nahe. Gott überzeugt dort nicht durch Aufklärung, Vernunft, Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung, sondern durch pures naturgewaltiges, zudem undurchschaubar-rätselhaftes und willkürliches Machtgebaren und Erschrecken, dem sich Hiob in Furcht und Zittern am Ende kleinmütig unterwirft. Was hier sehr realitätsnah zum Ausdruck kommt, ist die Erfahrung wohl aller Menschen, dass das göttlich Vernünftige und Erbarmende in dieser Welt voller Widersinn und Grausamkeit nicht oder doch nur schwer zu erkennen ist.
161 Im selben Dilemma befinden sich alle modernen Theologen und Theodizeekritiker, insofern sie die Möglichkeit und Notwendigkeit von Zweitursachen nicht sehen.
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Mensch, Kultur und Leiden
Hiob geht drittens davon aus, dass dem Menschen seine Schuld immer und überall bewusst ist. Hiob kennt nicht wie die Neuzeit seit G. W. Leibniz das »Unbewusste«, er kennt kein Dunkles in sich, was dem jüdischen Denken im Alten Testament durchaus bekannt ist. 162 Offensichtlich wird er selbst von einer weitgehend unbewussten Vorstellung geleitet, nämlich der, dass ein gottesfürchtiger, ehrsamer Mensch in Gottes Schöpfung kein Leid erfahren dürfe. Auf dem Hintergrund sowohl einer durchschnittlich normalen Lebenserfahrung als auch der jüdischen Sündenfallerzählung ist solch eine Haltung naiv und dogmatisch. Die Konsequenz müsste eine Änderung des Gottes- und Weltbildes sein, zu der es in der Hioberzählung nicht kommt. Das Ende des Berichtes legt eher die Annahme nahe, dass Gott so allmächtig ist, dass er sich über alle Vernunft- und Sittlichkeitsprinzipien hinwegsetzen kann. Wie und wann er will, kann er ohne sinnvollen Zusammenhang über ein Geschöpf Leid oder Glück bringen. 163 Diesem bleibt nichts übrig, als sich zu ergeben, ohne Sinn und Einsicht, was hier die Nähe Jahwes zu Allah zeigt. Letzteres verwundert umso mehr, als die Hiobparabel in eine Rahmenerzählung hineingestellt ist, die das Leid des Hiob in einen höheren Sinnzusammenhang verknüpft und jene genannte Aporie dadurch auflöst, dass die Zweitursache des Satans eingeführt wird. Es befremdet, dass Hiob davon nichts erfährt, da eine solche Erkenntnis seinem Leiden den Stachel nehmen würde. Im Grunde wird das Prinzip Wahrheit verletzt, doch auch die Prinzipien Güte und Gerechtigkeit werden missachtet. Wer so mit Leid geprüft wird, müsste irgendwann erfahren dürfen, warum und wozu dies geschah. Wüsste Hiob, dass Menschen weitaus mehr, als sie meinen, unbewusst gesteuert werden, besäße er die Möglichkeit, sich in einer »rationalen« und nicht nur hündisch unterwürfigen Form der Demut zu üben, dann könnte er, was durchaus bei den Propheten, den Weisheitssprüchen und bei Paulus vorkommt, sagen: »Herr, nur du kennst die Abgründe des menschlichen Herzens und weißt, was ich getan und was ich unterlassen habe. Nichts entgeht dir, auch das nicht, was mir selbst entgeht, und darum gebe ich mich mit meinem unverständlichen Leid in deine Hand, hoffend und vertrauend, dass es in deiner Weisheit seinen rechten Platz findet und mir im Letzten, viel-
162 163
Vgl. übernächste Fußnote. So scheinen es auch Augustinus (1948, 78 ff.) und J. Calvin zu sehen.
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Hiobs Unkenntnis der unbewussten Seelentätigkeit
leicht als Prüfung meiner Treue zu Dir zum Guten gereicht, zum Guten, das du selbst bist und zu dem mich das Leid führen möge.« 164 In Wahrheit offenbart Hiobs Leid, dass menschliches Wohlverhalten und (äußeres) Glück nicht aneinander gekoppelt sind, offenbart, dass Gott nicht mit der Natur identisch ist und dass Gott nicht unmittelbar im Menschendasein anwest, sondern abwesend und fern ist, so fern, dass der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird, auf sein Fragen, Irren und Suchen, das ihn zwingt, einerseits die Einrichtung der Schöpfung und den Sinn des Lebens zu hinterfragen, andererseits mit seinesgleichen in Kontakt zu treten und sich in Rede und Gegenrede auszutauschen. Wären die Freunde zu Hiob gekommen und hätten tagelang mit ihm diskutiert, wenn alles klar auf der Hand läge? Wenn Gott unmittelbar bei Hiob wäre und ihn über alles aufklärte? Das Grübeln über Gott und seinen Schöpfungsplan und so auch alle Theodizee und Theologie können nur dort aufkommen, wo Gott verborgen ist und nicht direkt und allein das Weltgeschehen bewirkt. Darum ist zu folgern, dass es zur Welteinrichtung gehört und gehören soll, dass Theologie und Philosophie betrieben werden, dass der Mensch alle seine Geisteskräfte aktiviert und, so weit er kann, in die Geheimnisse des Lebens eindringt. So zwingt ihn die Gottesferne zu viererlei: sich selbst, so radikal es geht, zu ergründen; dem Wesen der Natur und des Kosmos auf die Spur zu kommen, seine Gesetze, seinen Aufbau, seinen Sinn aufzudecken und mit diesem Wissen sich immer besser in dieser Welt einzurichten; den Mitmenschen kennenzulernen und mit ihm ein menschenwürdiges Leben, eine humane Kultur aufzubauen; und schließlich zu versuchen, in allem sowohl Gottes indirektes Wirken als auch seinen umfassenden Sinn zu erkennen, um so mit ihm in Verbindung zu treten. All das soll der Mensch, und weil er es soll, kann er es auch, wie die Geschichte des Geistes beweist. Was die Schuld betrifft, vor allem die »Erbschuld« im Sinne der christlichen Erbsünde, so zeigt sich: Im Sinne der Vererbung aktualer 164 Siehe und vgl. König Davids Gebet um Vergebung der ihm unbekannten Schuld im Psalm 19, 13 gemäß der Einheitsübersetzung: »Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewusst ist«; vgl. ähnlich 1. Samuel 9, 17: »Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Jahwe aber sieht auf das Herz«; ähnlich in Sprüche 21, 2: »Der Mensch hält alles, was er tut, für gut, doch Jahwe prüft die Motive.« Herz und Motive (Beweggründe) stehen für das Innerste im Menschen, das ihm entzogen und nur für Gott sichtbar ist, auch nach jüdischem Verständnis!
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Mensch, Kultur und Leiden
Schuld ist sie unmöglich, doch in zweierlei anderem Sinne ist sie nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Erstens im Sinne des »sündigen Erbhanges«, also der vererbten Neigung, gegen die letztlich gottgegründete sittliche Ordnung zu verstoßen, umso mehr, da der Mensch durch seine Verleiblichung real von Gott getrennt wurde und, durch die biologischen Triebkräfte bedrängt, den »Ruf des Geistes und des Herzens« leicht überhört. Und zweitens durch die Wiederholung der »Erstsünde«, die zwar nicht notwendig, aber sehr wahrscheinlich ist. Die Neigung selbst ist noch nicht aktual, sondern nur potential sündig, der Mensch muss ihr nicht nachgeben, er kann sie wahrnehmen und in der Potentialität halten, was allerdings durch die angeborene Ichschwäche, die vielen Drangsale und Verführungen der Existenz schwer fällt. Denn das Ich muss erst erwachen und muss sich, wenn erwacht, gegen vielerlei Bedrängnisse von innen und außen erwehren. An diesem Punkt erwies sich das Menschenbild Hiobs als zu naiv, weder kennt es den »sündigen Erbhang« noch das große Problem des »unbewussten Vergehens«, was Hiob nur bedingt anzulasten ist und worauf erst S. Freud aufmerksam macht.
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VI. Gott und das Leiden: Gott als die letzte Fremdheit und Eigenheit des Menschen
»Es gibt keinen wahren Einblick in die menschlichen Dinge ohne den in die göttlichen.« (J. Bernhart, Vom Mysterium der Geschichte, 1945, 57)
6.1. Macht und Ohnmacht – Leiden als Ausdruck von grundhafter Ohnmacht und grundhafter Erlösungsbedürftigkeit Der Mensch ist ein mächtiges, ein »ungeheuer« mächtiges Wesen im doppelten Sinn von »ungeheuer«, nämlich von großartig und unheimlich, von gewaltig und gewalttätig. Schon physisch erreicht er, wie der moderne Sport beweist, Leistungen in einem Umfang, einer Vielfalt, Präzision und Eleganz, an die kein Tier heranreicht. Ist man darüber hinaus Zeuge davon, wie er seine physische Kraft mit seiner technischen Intelligenz ergänzt und überhöht, wie er Pyramiden, Zikkurats, Dome, Wasserläufe, Staudämme, Städte, Weltraumstationen, Satelliten, Waffen- und Informationssysteme, chemische Verbindungen, künstliche Chromosomen und humanoide Roboter baut, dann kann nicht infrage stehen, dass der Mensch eine wahrhaft in die Natur eingreifende und sie umbildende Naturmacht darstellt, deren Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft sind. All dies gilt sowohl individual als auch kollektiv: Das einzelne Ich, das heute so gern in Anlehnung an östliche Lehren als Schein abgetan wird, ist in Wahrheit ein Machtfaktor ohnegleichen, im Guten wie im Bösen. Ohne seine »Selbstheit«, die wesenhaft ein Beisich-selbst-sein, Sich-selbst-erfassen und Aus-sich-selbst-Wirken ist, gäbe es weder eine schöpferische bzw. zivilisatorische Leistung noch die Maßlosigkeit und Rücksichtslosigkeit, unter der das Leben so leidet. Wie bereits erkannt, ist das Ich als geistig individuale Person unerschöpflich an Sein, also pU, überendlich, wenn auch nicht unend559 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
lich, sondern endlos sich entfaltend, eben eine Zweitursache, ein »Zweitgrund«. Dieser zeitlichen Überendlichkeit entspricht ein überendlicher Seinsgehalt, und der stellt sich in einer Hinsicht als Macht, als Können, als Selbstwirksamkeit, allerdings auch als Willkür und Maßlosigkeit, in anderer Hinsicht als grenzenlose Sehnsucht und Hingabefähigkeit dar. Kollektiv drückt sich diese Potentialunendlichkeit in nichts weniger aus als im Aufbau und Wandel der zahllosen Erdkulturen, die heute zur Menschheitszivilisation zusammenwachsen. 1 Statt sich durch ihr Wirken zu erschöpfen, entfaltet sich die Schaffenskraft des Menschen immer vielfältiger, reicher, rasanter und komplexer – ein klares Zeichen für den unerschöpflichen Seinsgrund der Menschennatur, der durch den individuellen Tod nicht nur nicht aufgehalten, sondern geweckt und angespornt wird. Subjektiv schlägt sich dieser grenzenlose Wirk- und Machthunger immer wieder als individueller oder kollektiver Rausch mit entsprechenden Größenphantasien nieder, in denen sich der Mensch zum Herrn über Leben und Tod, Sein und Nichtsein, über Natur und Seinesgleichen, Wahrheit und Gerechtigkeit aufzuschwingen versucht. Er will den Tod abschaffen, Krankheit beseitigen, die Natur total unterwerfen, den Mitmenschen zum Objekt, zur Maschine, zum Sklaven degradieren – und muss bitter erfahren, dass er hier Illusionen der Kontrollierbarkeit verfällt, die es nicht gibt. Erdbeben, Flutkatastrophen, Vulkanausbrüche, Aufstände, Revolutionen und technische Ausfälle, aber auch die unerbittlichen Folgen von Selbsttäuschung, Unrecht, Lüge und Bosheit legen manchmal innerhalb von Minuten das Leben lahm und vernichten nicht selten hunderttausende Menschen auf einen Schlag. In Wahrheit ist die gewaltige physische, technische, wirtschaftliche, bürokratische, militärische und geistige Macht des Menschen einer noch viel größeren Ohnmacht ausgesetzt – sie schwebt über dem Nichtsabgrund der totalen Kontingenz, des Nichtseinmüssens, des immer drohenden Nichtseinkönnens. 2 Nicht nur der individuelle, auch der menschheitliche Tod ist nach menschlichem Ermessen sicher, und es wäre töricht verblendete Hybris zu glauben, die Menschheit könne »ewig« im Sinne von endlos leben. Was wäre der Sinn solcher »Endlosigkeit«, die nichts anderes ist als ein Verlaufen und Versanden in Beliebigkeit? Vgl. zur Geschichte der großen Zivilisationen A. Toynbee (1979). Vgl. zu Macht und Ohnmacht des Menschen von philosophischer Seite B. v. Brandenstein (1983, 277–284).
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Macht und Ohnmacht
Tiefer betrachtet, weiß der Mensch, dass er in dieser Welt nicht total »ans Ziel« kommt; dass alles, was er tut, vorläufig, fragmentarisch, prekär, defekt und morsch ist (ein Grund, warum es A. Hitler z. B. so maßlos eilig hatte). Nüchtern betrachtet, versagt er, vor allem ethisch und spirituell, kläglich, individuell wie kollektiv, und produziert seit Menschengedenken Berge unschuldiger Opfer von Mensch, Tier und Pflanze und noch mehr Trümmerberge an Kulturwerken. Immer wieder fällt er in Gedankenlosigkeit, Trägheit, Rücksichtslosigkeit, Missgunst und Hass zurück und offenbart so seine tiefe Ohnmacht gegenüber den letzten und höchsten Seinsanforderungen, die an ihn gestellt sind: Er kann nicht sein, wie er sein soll und wie er doch auch sein will – »Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht. Denn nicht das, was ich will, führe ich aus, sondern das, was ich hasse, tue ich«, sagt Paulus von sich selbst. 3 Noch radikaler verbindet sich mit der menschlichen Wesenskonstitution und ihrer »intrinsischen« Unerfüll- und Unabschließbarkeit die Urtatsache der Ohnmacht: Da der Mensch aufgrund seiner pUSeinsdynamik das aU der Gottheit zu seinem Wesensziel hat, einem Wesensziel, das er unmöglich aus eigener Kraft erreichen kann, befindet er sich, solange er um dieses Ziel ringt, im Zustand der »Unmöglichkeit«, der Verzweiflung und des drohenden Scheiterns und damit der – hier nicht moralisch gemeinten – Seinsschuld. Wie sehr er sich auch bemühen mag, er wird nur ankommen, wenn sich das aU der Gottheit ihm zuneigt bzw. wie die Seele von Faust zu sich erhebt. Anders kommt die Wesensdynamik des Menschen nicht zur Ruhe. 4 Von daher rührt die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, die schon anthropologisch begründet ist und nicht erst durch sittlichen Verfall und Gottabfall zustande kommt, sondern, wie seine Wesensohnmacht, grundhafter, ursprünglicher und unüberwindlicher Natur ist. Aus seinem tiefsten Wesen heraus soll der Mensch etwas, was er allein aus eigener Kraft nicht leisten kann: Er soll das Unmögliche: die Gottwerdung in der Gottvereinigung, die nur »von oben« durch gnadenhafte Durchgöttlichung möglich ist; daher sein Schrei »de profundis«. Doch genau diese Durchgöttlichung, die bereits hier und
Siehe Paulus, Neues Testament, Römer 7, 15. Siehe Augustinus (1958): »Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir, o Herr« (»Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te, Domine«, Conf. I, 1). Dieses weltimmanente Leid beweist erneut die fundamentale Unfertigkeit des ganzen (!) Kosmos, die mit existenzieller Notwendigkeit auf eine erlösende Transzendenz verweist.
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Gott und das Leiden
heute anfangen soll, hält der heutige Mensch für einen Mythos oder einen illusionären Wunsch, womit er sich von seinem Wesensziel und Wesenssinn, mehr noch von seiner Wesenstiefe, wo Gott bereits im »Selbst« anwest, fundamental abschneidet, ohne sich dieser Wesensanforderung entwinden zu können. Der Rest ist Verzweiflung.
6.2. Formen der Gottferne und Verlorenheit ins drohende Nichts All das Gesagte gilt sowohl für den sittlich reinen, den »ungefallenen« Menschen als auch für den Menschen in der Gottesnähe, den paradiesischen Menschen. Wie erst für den Menschen in der Gottesferne! Zwar wird der irdische Mensch, was seinen personalen Kern betrifft, von Gott direkt erschaffen und gehalten, aber Gott lebt nicht als Er selbst in seiner Innerlichkeit, d. h. im direkten Erleben des Menschen, in seiner Seele, sondern bleibt »außen« vor. 5 Und ebenso ist Gott im physischen Kosmos nicht direkt anzutreffen, sondern nur in Spuren, etwa in der unwahrscheinlich fein abgestimmten Ordnung der Naturkräfte und Naturgesetze, in der Gesamtdynamik, im Gesamtaufbau, im verborgenen Ursprung und Ziel der Evolution. Was diese Gottferne betrifft, sind zwei Grundgestalten denkbar und tatsächlich: Es kann sich Gott vom Menschen, und es kann sich der Mensch von Gott entfernen. Recht betrachtet, ist beides ein Rätsel, ein »Wunder«. Denn wie kann es möglich sein, dass sich der Mensch von seinem Seinsgrund entfernen, ja abwenden kann? Und wohin lässt Gott den Menschen sich entfernen, wenn doch Gott »alles ist«, alles durchdringt und alles umfängt, und es außerhalb von ihm kein »Außerhalb« geben kann? Sollte dies nicht ausgeschlossen sein? Total ist es in der Tat nicht möglich – auch »Satan«, falls es ihn gibt, Nach Meister Eckhart (1996, 39) gibt es natürlicherweise im Menschen eine Schicht, die selbst göttlich und daher ungeschaffen, unveränderlich, ewig ist: »Und darum bin ich ungeboren und nach der Weise einer Geburt, die ewig ist, vermag ich nimmer zu sterben« (»Von der wahren Armut«). Damit wird der Mensch zwar radikal erhöht, aber er wird auch gespalten. Das christliche Menschenbild, das mit dem metaphysischen übereinstimmt, sieht den ganzen Menschen als geschaffenes, damit begonnen-zeitliches Wesen, in dem zwar nichts Ewiges ist, das Ewige als Wertspur aber doch anwest. In dieses Ewige soll und kann der Mensch, frei und von der göttlichen Gnade erhoben, eintreten. Bei Meister Eckhart ist der Mensch »in seinem Grund« nicht aus Gnade, sondern von Natur aus ewig, unendlich und zeitlos; die »Erlösung« ist schon immer geschehen, einen echten Abfall gab es nie und konnte es nicht geben.
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wird von Gott getragen und umfangen. Aber innerhalb dieser ontischen Geborgenheit sind doch Distanzierungen möglich, und diese gründen im Geheimnis der Freiheit: Gott hat dem Menschen bzw. jedem geistigen Geschöpf die Freiheit gegeben, sich selbst und damit sein Verhältnis zu allem anderen Sein, auch zu Gott, zu bestimmen. Diese Freiheit ist zunächst Macht, und zwar Macht über die eigene unmittelbare Selbstheit und Innerlichkeit, und eben da in diesem Eigenraum kann der Mensch bestimmen, und zwar autokratisch (und hoffentlich aristokratisch!), wer außer ihm selbst darin vorkomme oder nicht vorkomme. Dass dies überhaupt möglich ist, gründet in den Seinsrängen, die von unten nicht überbrückbar sind und nur ein Untereinander der Seinsränge, nicht ein Nebeneinander zulassen. Insofern ist ein »Außensein« von Gott in der Tat unmöglich. Alle monistischen, seinsranglosen Ontologien zerstören darum die Möglichkeit der Freiheit, der Pluralität, der Agonalität und heben sich damit selbst auf. Auch der Dualismus hilft hier nicht weiter, sondern einzig die Lehre der drei Seinsränge von Ursubjekt, Objekt-Subjekt und Nur-Objekt, reinem Ding. Darin haben der Mensch und überhaupt jedes Geschöpf ihren Platz und ihre relative Freiheit, und nur so sind die Formen der Fernen von Gott möglich. Alles »außer Gott« ist darum notwendig »unter Gott«. Die fürchterlichste Form der Gottesferne ist der bewusste Bruch mit Gott, die Sünde, die Lossagung, die Selbstvergottung des Geschöpfes. Sie ist immer möglich, wo geschöpfliche Freiheit ist, und Gott hat sie im Gesamtplan des Schöpfungsdramas gewollt und zugelassen. Wer sich von Gott lossagt, sagt sich vom Ursein und also vom Sein im höchsten Stande, vom »Sein überhaupt« los mit der Folge, dass er dem radikalen Nihil zufällt, ja oft, so etwa im »Dritten Reich«, aktiv zustrebt und darin verlöschen müsste, wenn Gott ihn nicht trotzdem im Sein hielte. Der Mensch ist dann nicht mehr in der Seinsurnotwendigkeit, in der Nichtkontingenz geborgen, sondern dem Abgrund der Kontingenz, dem Nichtseinkönnen ausgesetzt. Dabei ist im Grunde gleichgültig, wie »groß« eine Sünde ist – schon die geringste Verfehlung wider Gott droht mit dem totalen Nichts, da es kein halbes Abwenden von Gott, keine halbe Sünde gibt. Um die Menschen zur Besinnung zu bringen, lässt Gott sie nicht ins radikale Nichts fallen, sondern verschlägt sie auf jene Seinsstufe, die zwar nicht Gott, aber auch nicht Nichts ist, sondern in die E-Welt, in das vergänglich-wandelbare Sein, das den Tod zum Herrn hat. Das bedeutet, dass der Mensch nicht mehr da ist, wo er im Letzten mit 563 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
seinem pU-Wesen hingehört: in die aU-Geborgenheit, sondern dass er in der Fremde, in der Wüste, in der Unbehaustheit, in der Ungeborgenheit und Anfeindung, eben dort ist, wo sein pU-Wesen – verborgen, verschüttet und ins E eingeengt – durch Verfall und Tod radikal bedroht und zerrieben wird. Statt des totalen Nichts auferlegt Gott dem Menschen »erzieherisch« den leibhaften Tod, den weltlichen, da er am eigenen Leibe erfahren soll, was es heißt, sich von Gott loszusagen und ohne Ihn auskommen zu wollen: an Kraft zu schwinden, die Orientierung zu verlieren, an Innerlichkeit entleert zu werden, grundhaft geängstigt, verunsichert, verloren zu sein, also zu sterben, ins Nichts zu stürzen, fürchterlich sich selbst entrissen. Man muss demnach drei Grundformen der »Alterität« und damit der Gottesdistanz des Menschen unterscheiden: Als erschaffene Kreatur ist der Mensch, und zwar durch und durch nichtgotthaft, kein Ursein, kein ens a se, auch kein Teil, keine Emanation davon, also kontingent, nichtseinkönnend, nicht anfangslos, sondern abhängiges Sein, gegenüber Gott also, da Gott einzig das »wirkliche Sein« ist, in gewissem Sinne fast nichts. 6 Auch für den »paradiesischen Menschen« gilt dies, also für den Menschen »im Angesicht Gottes«, wo noch keine Entfremdung, keine Vergänglichkeit, kein Sein ohne Gott statt hat. Im Moment, wo sich Gott aus dem inneren Blickfeld des Menschen entzieht und der Mensch – gottfern, gottlos, als physische Kreatur, als Tier – in der sinnlichen Welt seines Leibes erwacht und damit in die werdend-vergängliche Zeit eintritt, verschärft sich die Alterität, und es wandelt sich das Nichtgottsein zur radikalen Kreatürlichkeit: Es wird offenbar, was der Mensch im Kern ist, eben nicht Gott. Diese Wahrheit konnte, solange Gott noch beim Menschen war, nicht voll fühlbar und existenziell werden, da die Kontingenz des Menschengeistes von der Nichtkontingenz Gottes erfüllt war. Im Moment, wo der Mensch auch Tier wird, wird sie es. Er lebt im »Halbnichts«, im »Halbsein«, ja im »Untersein«, also in jenem Sein, das zu nichts wird. Im Rahmen der Bildung von Hochkulturen vertieft sich die Gottferne insofern, als der Mensch immer selbstmächtiger wird und gegen Gott bzw. seine höchsten Seinsgesetze, die sittlichen Gebote nämlich, verstößt. Jetzt ist er nicht nur dem vergänglichen Sein ausgesetzt, sondern hat sich von der höchsten Seins- und Lebensquelle 6
Vgl. Augustinus’ Wendung dafür: »prope nihil«.
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Formen der Gottferne und Verlorenheit ins drohende Nichts
losgesagt, was heißt, dass er sogar noch unter die Stufe des vergänglichen irdischen Seins fällt und auf das radikale, auch geistig-spirituelle Nichts zustürzt. Während sich der Mensch etwa bis zur späten Neuzeit immer noch im Grundsätzlichen auf Gott hinordnet, reißt sich der spätneuzeitliche Mensch von seiner Urquelle los und taumelt in den selbst aufgerissenen Abgrund. Seine Alterität, sein positives Anders-sein-als-Gott wird nun zum negativen Anders-sein-als-Gott, zum radikalen Nicht-sein(-wollen). Bliebe es dabei, wäre der Mensch verloren, und der Rückweg würde immer beschwerlicher, je weiter er sich von seinem Urgrund entfernte. Denn Entfernung vom Ursein ist gleich Entfernung vom Sein, und also Entfernung von Kraft, Orientierung und Klarheit, Lebendigkeit und Fülle, ist Angst, Unsicherheit, Desorientierung, Misstrauen, Zweifel und Verzweiflung. Je mehr aber der Mensch geschwächt ist, innerlich verdunkelt und sich entleert, desto schwieriger wird die Rückkehr zum Urleben, zum Leben überhaupt. Nicht dass sie unmöglich wird, aber sie wird immer unglaublicher, immer mühsamer. Das fühlt der Mensch, er ringt, er ängstigt sich, er verzweifelt, er schreit um Hilfe, Beistand und Entgegenkommen Gottes. Alle Religionen, alle Mysterienkulte sind Ausdruck dieses Schreis, aber auch, wo sie zur Wiederbegegnung mit der Gottheit führen, Ausdruck des göttlichen Entgegenkommens, der göttlichen Barmherzigkeit. Wozu aber, so fragt man, das Ganze? Wozu dieses ungeheuerliche kosmische Drama vom Wunder der Erschaffung des Geistgeschöpfes in der Harmonie mit Gott über seinen rätselhaften Abfall von seinem Urglück durch das Martyrium der Wüstenwanderung in der Gottlosigkeit hindurch zur erlösenden Wiedervereinigung von Kreatur und Gott? Sicher nicht, damit Gott, wie die Idealisten meinen, über diesen Weg im vollen Sinne zu sich selbst finde; auch nicht, weil es Gott in seiner Ewigkeit langweilig geworden wäre. Im Gegenteil, nur weil Gott immer schon bei sich ist, hat er die Macht, Größe und Freiheit, das ganz Unnötige und »Überflüssige« zu schaffen, die Welt, die ihm, Gott nichts geben kann und mit der er sich als Schöpfer realisiert, indem er die Welt frei ins Sein hebt. Gerade dieses Unnötige erwählt er aber dazu, an seinem Ursein, seinem ewigen Leben in Fülle und Nicht-Kontingenz teilzuhaben und es mit sich eins werden zu lassen. Nicht Gott findet sich im kosmischen Prozess, sondern der Kosmos findet sich im Drama seiner eigenaktiven, selbst gesuchten und errungenen Selbstwerdung am Ende in Gott, in gewissem Sinne, wie 565 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
in den nächsten Kapiteln gezeigt wird, als Gott. Um diese Ungeheuerlichkeit – dieses Werden eines Fastnichts zur Totalität – radikal zu manifestieren, hatte die Welt und insbesondere die Menschheit als deren höchste Inkarnation bis an den Rand des Nichts treten müssen, also an den äußersten Punkt der Gottferne (z. B. im Realsymbol von Auschwitz). Und selbst wenn sie in irrsinniger Verblendung den kollektiven Suizid vollbringen sollte, könnte Gott sie aus diesem Fall ins Bodenlose ergreifen und herausheben und damit beweisen, dass ohne ihn alles nichts und mit ihm nichts alles ist.
6.3. Der Tod als Symbol der Nichtsverfallenheit; Anmerkung zu T. di Campanella Nichts fürchtet der Mensch so sehr wie die Nichtigung seines Selbst, den Tod, denn durch dieses Ereignis scheint er vollständig aus dem Sein gerissen zu werden. 7 Wofür hat er gelebt, sich gemüht, gelitten, gekämpft, verzichtet und genossen, wenn am Ende alles zu nichts wird? Es ist das völlige Nichtseinkönnen, die berüchtigte Kontingenz, die dem Menschen durch den Tod unerbittlich vor Augen geführt wird und die ihn, wie M. Heidegger und E. Drewermann 8 nicht müde werden zu betonen, die letzte Daseinsangst lehrt. Diese Angst hat den Menschen stets beschlichen, auch in solchen Zeitaltern, die vom Weiterleben nach dem Tod überzeugt waren. Denn wer kann sich sicher sein, was nach dem Tode kommt? Wirklich ein Leben? Oder nichts? Oder noch Schlimmeres als das Erdenleben – »Hölle«, »Gericht«, »Fegefeuer«, »ewiges Schattendasein«, »Schluchzen und Seufzen«, »Heulen und Zähnklappern«? Auf der einen Seite wird das Leben durch den Tod, auf den hin allein der Mensch unter den Lebewesen »vorlaufen« kann, zu einem einmaligen und einzigartigen Gut aufgewertet, dessen zeitliche Begrenzung zum intensivsten Genuss und zur Realisierung höchster technischer und geistiger Errungenschaften antreibt. 9 Auf der andeVgl. zum Sinn des Todes die tiefsinnigen Analysen B. v. Brandensteins (1948, 136– 167). 8 Vgl. E. Drevermann (1984) und (1988). 9 Siehe M. Heidegger (1979, 235 ff.). R. Swinburne (1987, 263–267) führt fünf Argumente an, die dem Tod für »die beste aller möglichen Welten« einen unverzichtbaren Sinn verleihen. Neben der Aufwertung des Lebens sind es vor allem die Erweiterung des Freiheitsspielraumes und der Erwerb wertvoller Haltungen und Tugenden, die der 7
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Der Tod als Symbol der Nichtsverfallenheit
ren Seite stellt er alles Erreichte so radikal infrage, dass für nicht wenige alles sinnlos wird, so dass der zumeist mühsame Lebenseinsatz erlahmt. Da hilft die Erkenntnis wenig, dass der biologische Sinn des Todes in der Ermöglichung weiteren Lebens besteht, dass neues, besser angepasstes und weiter entwickeltes Leben den Tod des alten, erstarrten Lebens voraussetzt. Denn erstens wird über kurz oder lang auch die Gattung Mensch und letztlich alles Leben der totalen Vernichtung anheimfallen und zweitens erschöpft sich der Sinn der personalen Existenz nicht im Überleben der Gattung – sie, die Personalität, ist sich selbst ein Wert, ein einzigartiger Wert, der für sich selbst eine unbedingte Würde fordert. Hier, wie sonst kaum, offenbart sich die nichtnaturale, die überbiologische Existenzdimension des Menschen, die sich nicht, wie das selbst der Theologe E. Drewermann 10 erhofft, in die Natur einfach und spannungslos einfügt und im Hiesigen ihren »ewigen« Frieden findet. Die pU-Seinsfülle des Menschen, die alle Naturalisten, E. Drewermann eingeschlossen, nicht sehen, wird immer wieder die naturale, E-beschränkte Welt transzendieren, diese aufbrechen, belasten und überfordern. Ein Genie, über das die Kreativität hereinbricht, man denke z. B. an W. A. Mozart oder Michelangelo, droht stets, seinen Leib und seine Umwelt über die Maßen zu fordern – soll es deshalb seine Kreativität abwürgen oder unterdrücken? Das wäre der schlimmere Tod, und oft war der Mensch eher bereit, physisch zu sterben, als auf seine Selbstgeburt zu verzichten. Denn das »eigene Selbst« als Ich und als Wir zu realisieren, ist letztlich der göttliche Auftrag, den die Menschen in der Welt erledigen sollen. Wer darum jenes verleugnet, der verleugnet diesen und mit diesem seinen Gott. Doch selbst da, wo es sich nicht um so »Hehres« handelt, selbst im Alltag, der durch Gehetztheit, Getriebenheit, Monotonie, Ermattung und Burn-out gezeichnet ist, offenbart sich diese übernaturale Überendlichkeit des menschlichen Wollens und Strebens, die nur, wenn überhaupt, zur Ruhe kommt, wenn sie, wie in Meditation, Muße, Gebet und Feier, inneren Anschluss an den »göttlichen Grund«, die wahre Heimat, den metaphysischen Sabbat findet. Warum und wozu also diese ontologische Monstrosität eines pU-Seins in einem E-Sein? Zwei Antworten wurden gegeben: Zum Tod (in gewisser Hinsicht!) ermöglicht. Ohne den natürlichen Tod wäre etwa die totale Hingabe des eigenen Lebens als Liebesopfer und als Dank an Gott wohl unwahrscheinlich. Der Mensch hielte endlos an seinem unsterblichen Ego fest. 10 Vgl. E. Drewermann (1984).
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Gott und das Leiden
einen wird das pU-Sein ins E-Sein versenkt, um existenziell und tief leidvoll zu erfahren, was es heißt, ohne das aU-Sein Gottes leben zu wollen und dem Nichts zuzufallen. Diese Nichtsausgesetztheit, philosophisch als radikale Kontingenz gefasst, provoziert die Anamnesis im Menschen, sich seiner wahren Herkunft und seiner wahren Heimat, der Gottverbundenheit, die nie ganz auflösbar ist, zu erinnern. 11 Zum anderen erhält das ins E-Sein versenkte pU-Sein die Aufgabe, das E-Sein mit seiner Geistigkeit, Innigkeit, Personalität und »Unendlichkeit« zu durchdringen, zu veredeln und zu vertiefen. Zwar kann dieses Kulturwerk nur auf Zeit bestehen, doch immerhin hat es einmal das Licht des vergänglichen Seins erblickt und soll im unvergänglichen »Weltinnenraum« (R.-M. Rilke) der Geistgeschöpfe unsterblich werden. Beide Aspekte werden durch den Tod radikal beleuchtet und befördert und darin liegt sein tiefster Sinn – den Menschen für die wahre Heimat und für die Daseinsgestaltung im Endlichen zu erwecken, für den Aufbau der Kultur das Äußerste zu geben und dem Kosmos so seine Krone aufzusetzen. Damit nicht genug, zeigt der Tod seine volle Schärfe, wenn man das Sterben miteinbezieht. Wie schon Epikur sagte, lässt sich der Tod nicht erleben, sein ganzer Schrecken liegt in seinem drohenden Hereinragen aus der Zukunft. Ist er da, ist schon alles vorbei. Das Sterben dagegen wird erlebt, erlitten und durchlitten. Und hier kommt die Besonderheit ins Spiel, dass sich der Leib, der den Menschen trägt und von dem er seelisch-geistig abhängt, im Sterben entzieht und am Menschen fürchterlich rüttelt und reißt. Wohl gibt es das sanfte Sterben, doch das ist die Ausnahme, zumeist wird der Verfall des Leibes und seiner Funktionen zur Qual. Hier findet ein allmähliches Nichtmehrkönnen statt, das oft mit Schmerz, Erschöpfung, Schwäche und Hilflosigkeit verbunden ist. Im Sterben erfährt der Mensch am radikalsten sein Objekt- und Dingsein, sein Ausgeliefertsein an die Materie, an Ohnmacht und Nichtswerden, das der Tod, Herr alles Materiellen, endgültig besiegelt, damit aber auch gnädig beendet. Der Tod erlöst. Erst im Sterben und nicht nur im Tod werden Kontingenz und Unverfügbarkeit des Seins zum leidvollen Drama, werden erlebt, Diese in der Wesensnatur des Menschen mitgegebene Gottverbundenheit, die meist unbewusst ist, nennt K. Rahner »transzendentale Erfahrung«. Vgl. J. Sudbrack (1989, 99–133).
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Der Tod als Symbol der Nichtsverfallenheit
werden faktisch und werden nicht nur gewusst und gedacht. 12 Und darum geht es. Wer hier nicht zu seiner Gottberufenheit erwacht, der ist wahrlich verlassen und verloren, ja noch verlassener und verlorener als der Gottmensch am Kreuz, der den Schmerzensschrei der Gottverlassenheit in seinem Sterben ausstößt und damit selbst die wirklich Gottlosen und Gottverlassenen in sein Erlösungswerk mit hineinnimmt. Für hier genüge die Einsicht, dass Sterben und Tod Zeichen, und zwar gelebt-erlittene Zeichen der Kontingenz und Nichtsverfallenheit sind, die lehren, dass die Trennung von Gott nur eines bedeutet: Tod, Nichts, Unsinn, Qual und Leiden; dass sie aber auch Bewusstsein, Freiheitskraft, Kreativität, Demut, Edelmut, Tapferkeit, Vertrauen und Hingabe weckt, diese Trennung zu tragen, seelisch-geistig zu überwinden und wieder gottwürdig zu werden. Die Heimat des Menschen ist weder das Nichts noch das Unterwegssein im ewig Vorläufigen eines endlosen irdischen Lebens, sondern die Bergung in der ruhevoll-lebendigen Urfülle des Seins. So lehrt es auch der Philosoph der Spätrenaissance Tommaso di Campanella (1568–1639), der eine wahre »Metaphysik des Nichts« verfasst hat. Der christlichen Tradition gemäß betont er, dass das endliche Sein nicht nur de nihilo durch Gott, sondern gleichsam ex nihilo, soll heißen, aus dem Nichts als wie aus einer Art »Rohstoff« geschaffen wurde. Aufgrund dieser »Nichtsdurchsetztheit« neigt alles endliche Sein einerseits dem Nichts zu, erhält aber andererseits den mächtigen Impuls, seinen endlichen Seinsteil so zu läutern, zu vertiefen und zu erweitern, dass er zur Teilhabe am unendlichen Sein fähig werde. So sind menschliches Können, Wissen und Lieben – die »drei gottähnlichen Primalitäten« T. di Campanellas – zwar endlich, also nichtsdurchsetzt und deswegen mit ihren defizienten Analoga Ohnmacht, Torheit und Hass durchmischt, doch genau durch diese »Trinität« der dreifach-dynamischen Negativität wird die »virtu« der Tapferkeit, dieser dramatische Kampfaffekt des Menschen, geweckt, um das Nichts mit seinen drei Grundübeln zu nichten 13 und – auf dem schwarzen Hintergrund des Nichts – die drei Sonnen der Macht (Wille), der Weisheit (Vernunft) und der Liebe (Gefühl) als
Vgl. K. Rahner: »Im Tod wird der Mensch in radikalster Weise real gefragt, ob er sich ins verhüllt Unübersehbare hinein verfügen lässt«. Vgl. J. Sudbrack (1989, 132). 13 Vgl. den Heroismus der modernen existenzialistischen Philosophie und die SeinNichts-Philosophie M. Heideggers. 12
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Gott und das Leiden
die »Urgründe des Seins« aufleuchten und in Mensch und Welt zur Geltung kommen zu lassen. 14
6.4. Der kosmische Sinn des Todes Mit den Überlegungen des letzten Kapitels ist der Sinn von Sterben und Tod keineswegs erschöpft. Eine berühmte, wenn auch ziemlich dunkle Stelle im Neuen Testament gemahnt daran. Im 8. Kapitel seines Römerbriefes sagt Paulus »Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung. Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden« (8, 18–30).
Wunderbare, tiefsinnige Worte, die auf dem Hintergrund der bisherigen Metaphysik des Leidens ungeheuren Sinn ergeben. Bei aller geheimnisvollen Dunkelheit ist so viel klar: Solange der Mensch in seinem irdischen Leib lebt und sich, wie heute üblich, nur für ein Naturwesen hält, solange bleibt seine Gottessohnschaft, garantiert durch die Gabe seines personalen Geistes, verborgen und verhüllt. Mit dieser Verhüllung bleibt der Mensch in die tiefe Nacht von Gottlosigkeit und Untermenschentum gebannt, die sich erst aufhellt, wenn sich der Mensch wieder mit seinem Ursprung verbindet, wie das jede Kultur und jede Religion seit jeher versuchte. Letztlich gelingt dies nur durch die Doppelbewegung der Überwindung der irdischen Vergänglichkeit, also durch die Überwindung von »Sklaverei, Verlorenheit und Todverfallenheit« und die Heimkehr zu Gott, geVgl. T. di Campanella (1623: »Philosophia realis in vier Teilen« mit dem Anhang der »civitas solis« im dritten Buch, Frankfurt a. M.) und (1638: »Universalis philosophiae partes tres«, Paris). Eine prägnante Zusammenfassung von T. di Campanellas Philosophie liefert E. Bloch (1972, 44–57) in seinem schönen Renaissancebuch »Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance«. In mehr systematischer Form vgl. E. Cassirer (2013) und M. Raffaelli (2009, 27–78).
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Der kosmische Sinn des Todes
meinsam von Mensch und Gott vollzogen. Ist dies erreicht, werden Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes, also nicht nur der menschlichen, sondern aller Geistkräfte im zweiten geschöpflichen Seinsrang offenbar. Das impliziert, dass die Befreiung von Menschheit und vormenschlicher Schöpfung aus den Fesseln der Vergänglichkeit letztlich nur zusammen erfolgen kann: Sie beide sind untrennbare Teilnehmer, gleichsam kosmische Geschwister eines gigantischen Geburts-, Reifungs- und Heilungsprozesses, an dessen Ende die Herrlichkeit der geschöpflichen Freiheit in Gott steht, mit der verglichen alle Leiden des gewaltigen Weltdramas ein Fast-Nichts sind. Aus der »Perspektive Gottes« betrachtet, erhalten in diesem weitesten Horizont Sterben und Tod der vormenschlichen Natur einen letzten Sinn: Da Gott in seinem alle Zukunft umfassenden Bewusstsein vorhersah (und auch vorher-mitwollte), dass der Mensch als letzte Geistkraft im Kosmos von Ihm abfallen und in die Welt des dritten Seinsrangs der materiellen Natur versinken würde, richtete er den Kosmos so ein – und das meint Paulus mit »Unterwerfung« –, dass Vergehen, Sterben und Tod schon vormenschlich das Leben zeichnen, gleichsam als Vorbereitung für den einst »fallenden« Menschen. Als der Mensch in seinem vergänglichen Leib seelisch-geistig erwachte, wurde er durch Sterben und Tod mit seiner Nichtsverfallenheit konfrontiert und dadurch in seine tiefere Geistigkeit hinein aufgeschreckt. Dieses Erschrecken bedeutet nichts anderes als den Beginn seiner Erlösung von seiner Verfallenheit an sein Ego und an das sinnlich-materielle Leben, und also darf man, aus einer letzten metaphysischen Perspektive (sub specie aeternitatis) sagen, dass Vergänglichkeit, Sterben und Tod in der vormenschlichen Schöpfung dazu dienen, den Menschen durch die Natur hindurch zu seinem höheren, eigentlichen Selbst zu führen. 15 Das kosmische Sein und Leben vor dem Menschen trägt daher das Schicksal von Kampf, Sterben und Tod um der Gefallenheit des Menschengeistes willen mit – ein »Tragen«, das der Apostel als Seufzen im Kosmos hört. Das bedeutet nicht, wie manchmal Paulus fehlinterpretiert wird, dass die Sünde des Menschen direkt alle, sprich auch die vormensch-
Siehe P. Teilhard de Chardin (1962, 90): »Der Tod ist beauftragt, diese ersehnte Aufschließung (für Gott, B. W.) bis auf den Grund unseres Selbst durchzuführen […] Er wird uns in jenen Zustand versetzen, der organisch unerlässlich ist, damit das göttliche Feuer sich auf uns senke.« Vgl. weiter zum »Sinn des Todes« B. v. Brandenstein (1948, 136–173; 1955, 95–104).
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Gott und das Leiden
lichen Übel in die Welt gebracht hätte, aber in der Vorhersehung »zahlte« Gott im voraus – um den einstigen Abfall des Menschen wissend – den Preis, der gesamten vormenschlichen Schöpfung das Los der Vergänglichkeit und damit das Los von Leiden und Kämpfen, Sterben und Vergehen, Versagen und Scheitern aufzuerlegen, letztlich in der Absicht, den Menschen zu läutern und für seine Erlösung reif zu machen. So gesehen, erweist sich das Sterben der Pflanzen und Tiere und überhaupt der »kosmische Zwang der Vergänglichkeit« als ein vorauserlittenes Opfer der Natur bzw. der Naturgeistkräfte zur Rückgewinnung des verlorenen Sohnes der Schöpfung, des Menschen, mit dessen endgültiger Befreiung und Erlösung die Schöpfung von allem Leid und Tod, schließlich von aller Vergänglichkeit miterlöst wird und so die Söhne und Töchter Gottes, zu denen der Mensch zählt, in ihrer Herrlichkeit offenbar werden.
6.5. Die Urangst und ihre Folgen In Anlehnung an die »Philosophie der Existenz«, wie sie S. Kierkegaard, F. Nietzsche, M. Heidegger, K. Jaspers, J.-P. Sartre und A. Camus entwickelten, entwarf E. Drewermann in seinem monumentalen Frühwerk »Strukturen des Bösen« (1988) aus christlicher Sicht eine imposante und bemerkenswerte Religionsphilosophie der Angst, die alles Leid und Unglück, alles Unheil und alle Not, alle Sünde und Verfehlung, alle Entfremdung und Grausamkeit auf die Angst und den Verlust des Urvertrauens, also auf den Verlust der Geborgenheit in Gott zurückführt. 16 Und in der Tat liegt es auf der Hand, dass Angst Misstrauen erzeugt, Misstrauen wiederum Kontrolle, Manipulation und Herrschaft nach sich zieht, und Herrschaft Gewalt, Rücksichtslosigkeit, Egoismus, Gefühllosigkeit, Härte und Grausamkeit bewirkt, und all dies im Sinne eines Teufelskreises wieder in Angst und Misstrauen zurückmündet. Die Angst aber, so E. Drewermann, wurzelt im Kontingenz- und Zufälligkeitserleben, das sich immer dann einstellt, wenn die Verbindung zum Nichtkontingenten, zum unbedingten Sein Gottes abreißt. Es ist daher die im Grunde »unwahre« Angst vor dem totalen Nichts, die die »AbwehrHierin folgt E. Drewermann weitgehend den Arbeiten S. Kierkegaards, der in seiner Schrift »Der Begriff der Angst« (1844) ebenfalls die Sünde auf die Angst, genauer, auf die Angst der Freiheit vor der Freiheit zurückführt.
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Die Urangst und ihre Folgen
mechanismen« der Angstreduktion, von der Verdrängung über die Projektion bis zur sadistischen Angstbetäubung, provoziert. 17 Vor dem Hintergrund dieser Deutung kann die Heilung nach E. Drewermann nur im Wiedergewinn des Vertrauens liegen, der die vertrauensvolle Akzeptanz der Endlichkeit, also von Geburt, Altern, Krankheit und Tod miteinschließt. Überspitzt gesagt, bedeutet dies, dass E. Drewermann die Rückkehr des Menschen auf die Stufe des Tieres empfiehlt, denn im Gegensatz zum Menschen leidet das Tier tatsächlich nicht an seiner Endlichkeit. Ist das aber nicht ein Wunschtraum, ein illusionäres Zurück-zur-Natur? Ich meine schon, da sich die Frage stellt, wie es dazu kam, dass der Mensch das Urvertrauen in die göttliche Geborgenheit, die E. Drewermann in naturalistischer Weise mit der (scheinbaren) Geborgenheit in der Natur gleichsetzt, verlor und warum er an seiner Endlichkeit zu leiden anfing? Wäre der Mensch ein reines Naturwesen, wäre es nicht dazu gekommen. E. Drewermann deutet die menschliche Existenz letztlich rein naturalistisch und empfiehlt daher die Rückkehr zu Mutter Natur, die schon der Urmensch nicht nur als bergend, sondern auch als bedrohlich und verschlingend erlebte. Das scheint E. Drewermann auszublenden und dadurch zum einen die Natur zu verharmlosen und zum anderen das nicht-nur-endliche Wesen des Menschen, seine transnaturale Dimension zu verkennen und damit zu verkleinern. Auch seine Gleichsetzung von Gott und Natur ist nicht akzeptabel und verniedlicht die bittere und leidvolle Abwesenheit Gottes, die nicht dadurch aufgehoben wird, dass die Menschen in Harmonie mit der Natur leben oder sich Gott zuwenden. Selbst der tiefgläubige Mensch und der Mystiker müssen immer wieder den Zustand der Gottlosigkeit erleiden und ertragen. Die naturalistisch-tiefenpsychologische Deutung des Sündenfalls reicht daher nicht aus, im Gegenteil geht es darum zu erkennen, dass die Kontingenzangst nicht nur psychologisch bzw. soziologisch, sondern metaphysisch durch eine reale Entfremdung von Gott, wie sie von der Genesiserzählung geschildert wird, verursacht wurde – durch den Sturz in die Kontingenz Kultur- und psychohistorisch ist an dieser Stelle folgende Differenzierung aufschlussreich: Die Angst des Frühmenschen vor der Natur wich, so eine These z. B. von A. Gruen (2010, 69 ff.), mit dem Aufkommen der patriarchalischen Großstaaten, die ihren Bestand auf Naturbeherrschung, Macht, Besitz, Gehorsam und Unterwerfung stützten, der Angst vor dem Menschen mit allen den verheerenden Folgen, die A. Gruen und E. Drewermann so plastisch beschreiben und die den Menschen bis heute beschweren.
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Gott und das Leiden
der Welt, die weder durch Naturverbundenheit noch durch Gottglauben aufgehoben werden kann. Wenn dies stimmt, dann ist nicht die Angst die letzte Wurzel des Bösen, wie E. Drewermann meint, sondern das, was in die Kontingenz und damit in die Existenzangst hineintrieb, und eben das ist nach biblischer Auffassung ein Gemisch aus Naivität, Gedankenlosigkeit, Torheit, Sinnengenuss, Verführbarkeit und Selbstüberhebung, also im Ganzen eine Art Unreife und selbstverschuldete Egoverfangenheit. Darum ist die Angst schon im »Paradies« und nicht erst, wie E. Drewermann meint, danach die sofortige Konsequenz des Sündenfalls, vor allem in Form der Schuld-Schamangst, die sich, weil sie sich im Unguten entdeckt fühlt, zu verbergen sucht. 18 Mit dieser »Urangst« wird das ganze fatale Konglomerat von Sichverbergung, (Selbst-)Täuschung, Selbstverleugnung, Kontaktverlust mit Gott, Misstrauen und Angst, Selbstentwertung und Fremdentwertung, Verstellung und Gewalt, und also der gigantische welthistorische Circulus vitiosus der Angst, um den es E. Drewermann geht, in Gang gesetzt. Die Kontingenzangst dagegen taucht konsequenterweise, wie auch R. Guardini sieht, erst mit der »Vertreibung aus dem Paradies« auf, also mit der Trennung von Gott und seiner Entfernung aus dem unmittelbaren Sein und Erleben der Menschen und erzeugt die Mühen, Leiden und Grausamkeiten, die die Bibel so realistisch schildert, das Gebären unter Schmerzen, die Arbeit im Schweiße des Angesichts, die Verfeindung mit der Natur, die Herrschaft des Mannes über die Frau, den Bruderzwist, der schließlich zum Brudermord führt, die Sprachenverwirrung, den sittlichen Verfall und am Ende den »Gottesmord«, der zu einer wesentlichen Bedingung der menschlichen Vernichtungsgier, von Auschwitz, Atombombe und Naturzerstörung wurde. Das Leben bei Gott wurde von der echten vollen Kontingenz nicht berührt, dies geschah erst nach der Trennung von ihm.
Was metaphysisch-spirituell nichts weniger bedeutet, als dass sich der Mensch aufgrund seiner gottwidrigen Entscheidung noch in der Verbundenheit mit Gott vor diesem zu verbergen suchte. Wie kann dies anders erreicht werden als durch eine geistig-intentionale, »innere« Abwendung. Und so gilt: Es war zuerst der Mensch, der sich aus der Gottesverbindung, die Hände der Scham vor sein geistiges Antlitz werfend, löste – und nicht Gott, der »nur folgte« und gleichsam dem Menschen »gehorsam« war nach dem Satz: »Der Mensch wird des Weges geführt, den er wählt.«
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Die Härte Gottes und die »Nichtswürdigkeit« des gefallenen Menschen
6.6. Die Härte Gottes und die »Nichtswürdigkeit« des gefallenen Menschen Macht man sich in aller Schonungslosigkeit bewusst, wie radikal der Mensch von der lauteren Fülle des Seins abgefallen ist und sich dem Nichts – dem Niederwertigen, dem Abscheulichen, dem Gleichgültigen und der Selbstsucht – zugewandt hat, muss man sich ohne alle Selbstbeschönigung eingestehen, dass der Mensch seine ursprüngliche Seinsunschuld und Seinsreinheit, also seine innerste Seinswürdigkeit verloren und sich der Nichtigung würdig gemacht hat, zumal, wie mehrfach betont, der gott- und selbstentfremdete Mensch vom Urquell des Lebens unendlich, vom Nichts aber endlich weit entfernt ist. 19 Oder anders gesagt: Wäre er wirklich allein auf sich gestellt, wie es der neuzeitliche Mensch mit seinem verabsolutierten Autonomieanspruch zu sein versuchte, würde er mit einem Schlag zu nichts werden. 20 Dass dies nicht geschieht, verdankt der Mensch der Güte und dem Erbarmen Gottes, der an dem Gefallenen festhält, ihn weiterträgt und zur Umkehr ruft. Die Tatsache der Nichtswürdigkeit haben ältere Kulturen gespürt und z. B. in den Bildern der Sintflut, mit deren Hilfe Gott oder die Götter die anmaßende Menschheit hat ausrotten wollen, zum Ausdruck gebracht. Im Grunde jedoch sind dies Selbstbestrafungsphantasien, die im Wissen um eine tiefste Seinsschuld entstehen und auf Gott projiziert werden. Ohne Gottes Güte und Allmacht wären die Menschen längst verschwunden. Andererseits ist wahr, dass Gott den Menschen Ungeheures zumutet. Man denke nur an das Leid so vieler unschuldiger, z. B. über Jahrtausende durch Seuchen hinweggeraffter Kinder, Alten und Schwachen. Auch hier muss ohne alle Beschönigung festgestellt werden, dass für Gott Leben und Glück der Erdenkinder nicht das höchste Gut sind, dass für ihn in vielen Fällen vielmehr Leben und Glück Einzelner, nicht selten ganzer Völker auf Erden keinen letzten Wert darstellen. Andernfalls dürfte er z. B. den grausamen Tod vieler Kinder, Nicht- und Geradegeborener und den Genozid nicht weniger Völker in den zahllosen Kriegen der Menschheit nicht zulassen. Er tut es aber. Daraus zu schließen, Gott sei Im Neuen Testament Lukas 7, 6 wird diese Einsicht in dem Ausspruch deutlich, der in jeder Messfeier wiederholt wird: »Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« 20 Mit den Weltkriegen hat dies der neuzeitliche Mensch fast erreicht. 19
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Gott und das Leiden
machtlos, ist eine Verlegenheitslösung, die »Gottes Härte« nicht aushält und Gott darum, um ihn zu entlasten, verniedlichen muss. In Wahrheit ist Gott nicht machtlos, sondern er wertet diese irdische Existenz nicht als etwas Höchstes und Letztes, sondern als etwas Vorletztes, als einen Durchgang, als eine Vorläufigkeit und einen Vorlauf für eine ganz andere, dann in der Tat endgültig wertvolle Existenz, nämlich die Existenz in »seinem Reich«. Erst dort werden Leben und Glück zu letzten Wertgrößen, die nicht mehr verletzt und korrumpiert werden können. Solange die Menschen hienieden leben, haben sie für jedes Glück zu danken, die Härte der Existenz durchzustehen und tapfer zu bestehen. Gelingt dies, ist es das erste Anzeichen für den Triumph über Leid und Tod. Ein Humanismus, der den Menschen zum höchsten Gut und letzten Maßstab erhebt, wird die obigen Ausführungen für inhuman halten. Doch bedenke man, dass nicht nur Buddha und Jesus Menschen waren, sondern auch A. Hitler und J. Stalin. Ein allgemeines abstraktes Menschenideal zum Maß aller Dinge zu nehmen, ist zum einen irreal, zum anderen läuft es doch auf einen Gottmenschen hinaus. Hier wie nirgends gilt das Wort B. Pascals, dass der Mensch den Menschen unendlich übersteigt – und somit kann das letzte Maß nicht in ihm selbst liegen. Die Anmaßung, selbst die höchste Instanz zu sein, mutet umso tragikomischer an, als das Leben, die Evolution und der Kosmos mit dem Menschen umgehen, als sei er eine Eintagsfliege, die beliebig bei nichtigsten Anlässen und Zufällen ausgelöscht wird. Und das soll das Maß aller Dinge sein? Selbst die meisten Menschen gehen miteinander um, als seien sie bloße Objekte, die man für die eigenen Interessen nutzen und ausbeuten kann. Da wäre ein Mensch für den anderen das Maß – kann das sein? Wohl kaum. Wenn aber weder ein konkreter Mensch noch ein abstraktes Menschenideal das Maß für das Menschsein abgibt, dann kann dieses Maß, wenn es denn eines gibt, nicht im Menschen allein liegen. Die Kausaltheorie hat gezeigt, dass der Mensch als pU Wesen seinsmäßig auf das aU der Gottheit bezogen ist und erst dort, nachdem alles Nichtswürdige überwunden ist, sich selbst in Fülle und Klarheit findet, während er in sich selbst davon »nur«, aber immerhin einen Funken, eine Spur bzw. ein Ebenbild besitzt, das allerdings vielfach »überschrieben« und verdeckt ist. Erst im Bezug auf die Gottheit werden die so verschiedenen Menschen im Grundlegenden zu Brüdern und Schwestern, während sie ohne diesen Bezug einander hoffnungslos Wölfe sind.
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Der Gottesverlust als Strafe?
6.7. Der Gottesverlust als Strafe? Von der Unmöglichkeit eines zornigen, reuigen und strafenden Gottes Wie ein roter Faden zieht sich durch die Theologien der Kulturen das Bild von einem aus verletztem Zorn sich rächenden und vergeltenden Gott, von den neidischen Göttern des Mythos bis in die spekulative Theologie des Paulus und in die Theosophie J. Böhmes. 21 Auch Mittelalter und Neuzeit rücken davon nicht ab, und es verwundert, dass sich selbst moderne Theologen nicht fragen, ob das Wesen der Gottheit mit dem, was Unmut, Zorn, Reue, Rache und Strafe meinen, überhaupt zusammengehen könne. 22 Um es gleich zu sagen: Es geht nicht zusammen. 23 Dagegen kann aufgezeigt werden, dass hier einerseits eine mythopsychologische Projektion des strafenden patriarchalischen Vaters (bei einem tief verwurzelten schlechten Gewissen) vorliegt, die mit dem Wesen Gottes nichts zu tun hat, andererseits in der echten Gottesbegegnung die gewaltige Übermacht des gerechten Gottes von Seiten des endlichen und vor allem gefallenen Geschöpfes als Bedrohung – in Wahrheit nicht für seine Existenz überhaupt, sondern für seinen Sündenschaden! – bzw. als vernichtender Zorn (orgé) erlebt wird und somit die Disproportion von Schöpfer und Geschöpf zum Ausdruck bringt. Dieses »Mysterium tremendum« in der unmittelbaren Gottesbegegnung wurzelt in der Hauptsache in der Endlichkeit des Geschöpfes und spiegelt als objektiven Wesenszug der Gottheit deren kein Unrecht und keinen Sündenschaden endgültig duldende Allmacht und keineswegs einen irgendwie gearteten »Kränkungs- und Zornaffekt« wider. 24 Überhaupt ist die Vorstellung, Gott Es fällt auf, dass Jesus dem Vergeltungsgedanken sehr reserviert gegenübersteht (Jo 9,3; Lk 16,19–31), dass er ihn aber nicht rundweg ablehnt (Lk 13,1–5; Jo 5,14). Im zeitgenössischen rabbinischen Judentum, das interessanterweise für den Begriff »Leiden« das Wort »Züchtigung« benutzt, spielt er dagegen eine große Rolle. Im Übrigen haben nicht wenige Juden die Shoah als Strafgericht Gottes für die von der Tradition abgefallenen westeuropäisch-assimilierten Juden interpretiert, was umso abwegiger ist, als die meisten ermordeten – und auch die aufständischen! – Juden aus Osteuropa und dem tiefgläubigen chassidischen Judentum stammten. Übrigens wehrten sich schon im 19. Jahrhundert orthodoxe Juden gegen das zionistische Bestreben, einen jüdischen Staat zu gründen, da sie in der Diaspora eine Strafe Gottes sahen. 22 Eine Ausnahme ist der christlich-existentialistische Religionsphilosoph N. Berdjajew (1951, 80 ff.); ebenso K. Frielingsdorf (1997). 23 J. Bernhart (1945, 24) nähert die Überwindung an, wenn er sagt: »Sein Gericht ist nie ohne Erbarmung, seine Strafe immer auch Segen.« 24 Zum »Mysterium tremendum« siehe R. Otto (1917). Ähnlich betont schon Augus21
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Gott und das Leiden
habe ein Geschlecht, widersinnig, da die Geschlechtlichkeit eine ontologische Einseitigkeit darstellt, die der allseitige Gott nicht aufweisen kann. So gilt es zu fragen, ob die Begriffe Gott, Zorn und Strafe sachlich einander vertragen. Was meint »Strafe«? Strafe ist eine Handlung, und zwar eine reaktive Handlung auf ein begangenes Unrecht hin. Dieses Unrecht hat einen Schaden angerichtet, z. B. einen Betrug, einen Diebstahl, eine Lüge, und der soll durch die Strafe ausgeglichen werden. Wie aber erfolgt dieser Ausgleich? Indem wieder ein Schaden gesetzt wird: eine Inhaftierung, ein Ausschluss von der Gemeinschaft, in nicht wenigen Kulturen Peitschenhiebe, Verstümmelungen, Demütigungen und Hinrichtung, also Auge um Auge, Zahn um Zahn. Was hier vorwaltet, ist klar – das talionische Gesetz des vergeltenden Ausgleichs, der »Gerechtigkeit«, des gleichen Rechtes. Das ist an sich nicht zu beanstanden, im Gegenteil war dieses Gesetz ein Fortschritt gegenüber früheren Rachehandlungen wie Blutrache und wildem Faustrecht. Problematisch ist allerdings die Art und Weise. Denn die konstruktivere Form des Ausgleiches bestünde darin, den Schaden wiedergutzumachen, sprich Schlechtes durch Gutes zu beheben. Bei der Strafe, wie sie Menschen verstehen und ausüben, wird jedoch der »gleiche Stand« durch eine erneute Schadenssetzung erreicht. Ist das notwendig? Sinnvoll? Ethisch? Nein. Denn im Grunde wird ein Unrecht durch ein neues Unrecht, ein Schaden durch einen neuerlichen Schaden »behoben«. Und das ist prinzipiell destruktiv, lebenszerstörend, nicht auf das Gute oder Bessere gerichtet. Weder der gute Mensch noch Gott, und er überhaupt nicht, sind destruktiv und auf Zerstörung gerichtet, sondern prinzipiell lebens- und wertbejahend. Im Gegenteil vergeben sie das Böse und Schlechte, antworten auf Böses mit Gutem und suchen den Schaden positiv zu beheben, zumal Gott, der das Urpositive, das Vollpositive ist, sogar zur Feindesliebe tinus (1948, 36), unter Zorn dürfe nicht eine Gemütsbewegung in Gott, sondern nur sein Gerechtigkeitswille verstanden werden. Da die meisten Menschen, übrigens auch Augustin, auf diesen »Zorn« allerdings mit Angst reagierten bzw. reagieren, wirkt Augustinus’ Intellektualisierung des Zorns wenig überzeugend. Bei J. Böhme schließlich werden »Zorn und Grimm« in Gott zu einem echten ontologischen Finster- und Ungrund, für den er meist das Bild des Feuers wählt und der nach Böhme – in Gott! – die Wurzel des Bösen ist. Diese »Bosheit« wirkt sich in Gott nur deshalb nicht böse aus, weil die Lichtkraft in Gott, im Gegensatz zu Luzifer und zum Menschen, absolut überwiegt. In seiner Freiheitsschrift hat F. W. J. Schelling diese Lehre im Kern übernommen.
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Der Gottesverlust als Strafe?
aufruft. Wie sollte dieses Vollpositivum schaden wollen, schaden können? Kurzum: Gott straft nicht und kann nicht strafen, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie hier Strafe expliziert wurde, nämlich als Kränkung, Wut, Rache, Vergeltung und neuerliche Schadens- und damit Leidzufügung. In einem anderen, wesentlich positiven Sinne können sowohl Gott als auch gute Menschen »strafen« und tun dies auch, etwa wenn sie Grenzen setzen und eine »schmerzende« Gegenleistung auferlegen, die den Sinn der Wiedergutmachung, der Besinnung oder der Umerziehung hat. Die Geldstrafe im Straßenverkehr hat z. B. diesen Sinn. Der »Schaden«, den hier einer erleidet, etwa die »Geldbuße«, ist kein Unrecht, sondern ein Ausgleich für die geschädigte Gemeinschaft, eine Wiedergutmachung, die zudem, damit die Untat nicht wieder geschehe, mit der Absicht verbunden ist, bewusstseinserweckend und erzieherisch zu wirken. In Wahrheit erweist sich hier der »Schaden« als höheres Gut. Wenn Gott in dieser Weise agiert, dann »straft« auch er, aber nicht im vergeltenden oder rächenden Sinn, nicht aus Zorn heraus, wie Paulus z. B. im Römerbrief 2,1–11 sagt, sondern aus Wissen um das Bessere des Menschen, das er wecken will, und also aus Liebe. Dass Liebe manchmal schmerzt, schmerzen muss, nämlich den schlechteren Teil in uns, damit der bessere auf den Weg komme, ist zwar eine bittere Wahrheit, aber dennoch eine Wahrheit, die an die Reifung des Menschen gebunden ist. Wissen wir nicht alle, gerade im Rahmen der Psychotherapie, dass nur unter Leidensdruck eine echte innere Veränderung erfolgt? Damit ist es klar: All das Unrecht, das in der Welt geschieht, einschließlich der Naturkatastrophen, die über Unschuldige kommen, ist nicht Ausdruck göttlicher Strafaktionen, sondern entweder unvermeidliche Folge der Welteinrichtung – z. B. der Verlässlichkeit der Naturgesetze, der Freiheit der die Naturgesetze bewirkenden Naturgeistkräfte und der Konsequenz des menschlichen Handelns, die Gott nicht aufhebt – oder tatsächlich irgendeine Art der Bewusstseinsaufrüttelung und Erziehung. Auf diesem Hintergrund stellt die »Vertreibung aus dem Paradies« keine Strafe dar, vielmehr die Erfüllung des urelterlichen Begehrens, unmittelbar sinnlich in Welt und Materie zu existieren, was zum auferlegten Schicksal aller Menschen wird, die diese Urabkehr von Gott erdulden müssen, sühnen, wiedergutmachen und schöpferisch überhöhen sollen. Dass dieser Weg durch die Fremde der Welt mit der Ausgesetztheit der Menschen bezahlt wird, eine Ausgesetztheit, die Millionen von Unschuldigen hinwegrafft, 579 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
man denke an die aidsinfizierten, verhungernden oder verdurstenden Kinder, ist zwar hart (und damit Ausdruck von »Gottes Unerbittlichkeit und Härte«), aber nicht Zeichen von Strafe, sondern oft, keineswegs zynisch gemeint, Ausdruck von Gnade. Denn schon in der Antike riefen die größten Geister, so z. B. Sophokles und Jeremias, aus, dass es besser wäre, nicht geboren zu sein oder, wenn schon geboren, bald wieder sterben zu dürfen. 25 Was einem Menschen dadurch erspart wird und was er gewinnt, das lässt sich kaum ermessen, da die Frühverstorbenen nicht nur nicht mehr fehlen und sündigen können, leiden und ringen müssen, sondern in Gott eingehen und die totale Erfüllung erfahren dürfen. Daraus zu folgern, dass es besser wäre, sich das Leben zu nehmen oder die Menschen zu ihrem Heil zu vernichten (wie die Inquisition), ist Unsinn und Selbstüberhebung, da sich in diesem Falle der Mensch an Gottes Stelle setzt und für sich etwas in Anspruch nimmt, was nur Gott zusteht: Leben zu geben und Leben zu nehmen, wie und wann er will. Eine Ethik, die wie das Vergeltungsprinzip in der Karmatheorie auf der Strafe im erstgenannten Sinne fußt, hebt sich selbst auf; sie ist unethisch, inhuman und widergöttlich. »Strafe« ist ethisch nur dann konsistent, wenn sie nutzt, hilft, fördert, also etwa als Verwahrungsmaßnahme zum Schutz vor Selbst- und Fremdschädigung, als Zeichen der Reue, als Sühne und Wiedergutmachung und als Erweckungs- und Erziehungsmittel. Wo sie schadet um des Schadens, des bloßen Schadensausgleichs oder um der »Kühlung« des Kränkungs- und Zornaffektes willen, stellt sie nichts anderes als eine Form der Rache dar, in der keine sittliche Vernunft, geschweige denn die
Ähnlich Augustinus, I. Kant, F. M. Voltaire. Als moderne Variante siehe C. G. Jung (1988, 317): »Unter einem anderen Gesichtspunkt aber erscheint der Tod als ein freudiges Geschehen. Sub specie aeternitatis ist er eine Hochzeit, ein mysterium conjunctionis. Die Seele erreicht sozusagen die ihr fehlende Hälfte, sie erlangt Ganzheit.« Als Erlösung, ja als Gnade denken sich Paulus, Bernhard von Clairvaux und viele Mystiker den Tod, aber auch ein so herrlich heiterer Mensch wie W. A. Mozart (vgl. seinen letzten Brief an den Vater vom 4. April 1787), V. van Gogh (»Aber dieser Tod hat nichts Trauriges; er kommt im hellen Tageslicht bei einem Sonnenschein, der alles in Gold taucht«), P. Claudel (»Der Tod ist die letzte feierliche Restitution«) und J. S. Bach, der in seinen Kantaten manchmal den Tod herbeiwünscht (»Wer weiß, wie nahe mir mein Ende«, Bachwerkeverzeichnis 27). In dieser Todessehnsucht drücken sich nicht Resignation und Defätismus aus, sondern das unumstößliche Gefühl und die existenzielle Gewissheit, dass diese von Schuld und Leid so tief zerrissene Welt das letzte Wort des Seins unmöglich sein kann.
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Der Gottesverlust als Strafe?
Liebe waltet. Mit dieser Bemerkung greife ich in den dritten Teil der Philosophie des Leidens, in die Ethik des Leidens, vor. Damit ist die Frage, ob Gott zornig, wütend, traurig, verletzt, gekränkt und rachsüchtig sein kann, geklärt. Auch hier handelt es sich um eine menschliche, für die mythische Bewusstseinsstufe adäquate Projektion. Daraus folgt jedoch nicht, wie viele meinen, dass Gott überhaupt keine Gefühle habe und nur Wille und Vernunft sei. Er hat sehr wohl Gefühle, nur weder Affekte, also Reaktionsgefühle, noch Wunschgefühle. Denn diese beiden Gefühlsarten sind an endlich-zeitliche Wesen gekoppelt, während in Gott nur die absolut autonomen und seinserfüllten Gesinnungsgefühle wie Liebe, Barmherzigkeit, Freude, Frieden und Seligkeit möglich sind. Zorn z. B. stellt sich immer dann ein, wenn ein fühlendes Wesen verletzt wird, wenn es also irgendein echtes oder vermeintliches Unrecht erleidet. Niemand kann aber Gott ein Unrecht antun oder ihm etwas wegnehmen oder vorenthalten. Wünsche schließlich kann Gott auch nicht haben, da im Wunsch per se ein Noch-nicht, also Mangel und Zeit impliziert sind. Da aufweisbar jedes Trauer-, Ärger-, Zorn-, Enttäuschungs-, Mitleids- und Angstgefühl wesenhaft mit einem Wunschgefühl verwoben ist, kann Gott alle diese Gefühle nicht haben. Wenn der Mensch etwas tut, was Gottes Wille widerspricht, dann hat der Mensch den Schaden, nicht Gott, der diese Renitenz voraussah und in seinen Gesamtplan der Schöpfung, längst bevor die Menschen sündigen, miteinbezieht. Und sehr wohl weiß er, ob und wie sie wieder mit seinem Willen kongruent werden. Diese Einsicht nötigt, das Gottesbild weiter von Anthropomorphismen, von denen auch die Bibel nicht frei ist, zu reinigen, wobei man sich an Jesus (und ebenso an Paulus!) halten kann, der ein prinzipiell »väterlich-mütterliches«, von gerechter Güte, Langmut, Nachsicht, Liebe, Erbarmen und Milde charakterisiertes Gottesbild vermittelt. Gott ist ein fühlender Gott, aber erfüllt nur von rein positiven, mangelfreien, schenkend-überquellenden Gefühlen. Dass er diese nicht immer und überall sogleich zeigt und gibt, dass er sich nicht selten auch entzieht und so indirekt Leid erzeugt und dass er schließlich in der unmittelbaren Gotteserfahrung ob seiner Größe und Intensität scheinbar »mit Vernichtung droht«, obwohl er in Wahrheit das endliche Geschöpf reinigen und in seinen unendlichen Rang erheben will, was leidfrei unmöglich ist, steht auf einem anderen Blatt und wird Thema der folgenden Kapitel sein. 581 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
6.8. Der leidlose Gott, der leidende Gott und der »leidend« mitfühlende Gott Wenn man die Reihe der Gottesbilder überblickt, die historisch in Erscheinung getreten sind, dann stößt man auf alle denkbaren Variationen. Am einen Ende steht ein Absolutum, dem überhaupt keine seelische Qualität eignet, so z. B. im Falle des Parmenideischen Seins oder des buddhistischen Nirwana, während am anderen Ende Gottheiten auftreten, die wie die Menschen fühlen und handeln, so z. B. die griechischen Götter, die lieben, leiden, sich freuen, ärgern, traurig, neidisch, enttäuscht, rachsüchtig und verliebt sind. Dazwischen liegen alle denkbaren Übergänge, so z. B. die Götter Epikurs, die sich für die Menschen und die Welt überhaupt nicht interessieren und in den Intermundien leben, und der Gott des Alten Testamentes, der mal völlig erhaben ist, mal allzumenschliche Affekte zeigt. Diese Bandbreite der Gottesbilder beweist, dass der Mensch fern von Gott lebt und keine unmittelbare Anschauung vom Absoluten besitzt. Das Sein im Urstand mag zwar mit ihm verbunden sein und muss es sogar, aber es ist nicht unmittelbar im Bewusstsein des Menschen gegeben. Und weil dies so ist, schwankt der Mensch in seiner Vorstellung vom Absoluten. Es liegt auf der Hand, dass in diese Leere die Phantasie hineinwirkt und solche Bilder produziert, die den Wünschen und Ängsten, den sozialen Einflüssen und kulturellen Prägungen der Menschen mehr entsprechen als der Wirklichkeit. Dieser subjektiven Beliebigkeit kann nur eine Analyse begegnen, die die letzten und notwendigen Seinsvoraussetzungen der menschlichen Existenz aufdeckt und zu bestimmen versucht, wie dieses Ursein, das aus eigener Kraft nicht erfahren werden kann, in sich selbst beschaffen sein muss. 26 Da die Welt entstanden und in Bewegung begriffen ist, muss, wie gesehen, das Ursein, insofern es der Grund der Welt ist, aktiv sein; das ist gewiss. Ein aktives Sein ist aber notwendig bestimmend, sowohl selbstbestimmend als auch, falls es anderes schafft, fremdbestimmend. Da Aktivität im Urstand nur durch sich selbst bestimmt sein kann, ist solch ein Wesen wesenhaft frei, sprich spontan, initiativ, autonom, und zwar absolut autonom. Ein Wesen, das sich selbst bestimmt, kann dies aber nur, wenn es über Vgl. Thomas v. Aquin (1985: »Summe der Theologie«, I. Band (Gott und die Schöpfung), 2.–12. Untersuchung); vgl. B. v. Brandenstein (1966: »Metaphysik«, Bd. 3, VI. Gott).
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Der leidlose Gott, der leidende Gott und der »leidend« mitfühlende Gott
ein Selbstverhältnis verfügt, und zwar ein aktives. Um sich selbst bestimmen zu können, muss sich solch ein Wesen erreichen, sich ergreifen, sich fassen und sich »sehen« können, und also ist es notwendig gewärtigend, bewusst und geistig, eben seiner selbst durch und durch inne. Tut es dies mit Erfolg, nimmt es sich auch an, schätzt und liebt sich. Insofern das Ursein anfangslos, damit notwendig zeitlos-ewig ist, sich also nicht entwickelt, sondern schon immer alles hat, was es ist, ihm also nichts mangelt und fehlt, ist es notwendig »erfüllt«, ganz und vollkommen. Ein erfülltes Wesen, das total an seinem Seinsziel angekommen ist und dies durch und durch erlebt, das »fühlt« sich auch, ist sich seiner »inniglich inne«, spürt sich und weiß sich nicht nur abstrakt, und zwar in der Weise der Zufriedenheit, des Friedens und der Freude. Ein absoluter Geist ist darum notwendig selig, glücklich, auch sicher, gefestigt, klar und das heißt: voller Urvertrauen, Urzuversicht, Ursicherheit. Daher sind Unsicherheit, Ungewissheit, Schmerz, Angst, Zweifel, Trauer, bange Hoffnung, Ärger, Unzufriedenheit und Zorn als Selbstzustände des Absoluten unmöglich. 27 Erkennt man weiter, dass Leiden wesenhaft ein Mangelzustand ist, der über sich hinausweist, erhellt, dass Gott unmöglich leiden kann. Denn wie sollte einem Wesen, das nicht entsteht, sich nicht ändert, nicht wachsen und nicht abnehmen kann, etwas genommen oder dazugegeben bzw. ein Schaden, eine Verletzung oder irgendetwas »Unangenehmes« zugefügt werden, also überhaupt etwas ermangeln können? 28 Vgl. zum Thema P. Koslowski (Hrsg., 2001: »Der leidende Gott. Eine philosophische und theologische Kritik«); mehr von psychologischer Seite her vgl. K. Frielingsdorf (1997). 28 Dass auch eine Theologie der Theodizeeproblematik einer philosophischen Grundlegung bzw. einer rationalen Kritik bedarf und ohne eine solche in die Irre gehen muss, beweist der ambitionierte trinitärtheologische Versuch von W. Thiede (2007), der – ohne Klärung, was Leid und Schmerz sind! – meint, Gott fühle Schmerz, sei in seinem Wesen (neben seiner Zeitlosigkeit!) auch zeitlich verfasst, verzichte auf seine Unendlichkeit und werde (in Jesus) endlich. Ja er behauptet, wieder ohne genügende Begründung, dass Gott, wenn er die Welt erschaffe, notwendig mit ihr in ein Entfremdungsstadium (2007, 116) gerate, was an F. W. J. Schellings bzw. G. W. F. Hegels Konzeption erinnert und schwer mit dem christlichen Gott, den W. Thiede sonst vertritt, vereinbar ist. Um hier Klarheit zu erreichen, genügt schon die Einsicht, dass ein ewiger Gott, für den W. Thiede eintritt, nicht vereinbar mit wesenhaft zeitigenden Phänomenen wie Leiden, Schmerz und Enfremdung ist; dass ein notwendiges Entfremdungsstadium im Gott-Welt-Verhältnis die Autonomie und Freiheit Gottes zerstört, was in der Folge bedeutet, dass Leid und Grausamkeit notwendig und damit 27
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Gott und das Leiden
Damit klärt sich das Gottesbild: Gott ist ein lebendiger, kein toter Gott; damit ist er auch ein fühlender und mitfühlender Gott, doch nicht, wie W. Thiede 29 meint, in der Form des Mitleidens und (leidhaften) Mitsorgens. Alle Gefühle in Gott sind absolute, sprich vollkommene und schöpferische, »überfließende« Gesinnungs- und Haltungsefühle, denen nichts fehlt und mangelt. Zu diesen Gefühlen gehören die Liebe, die Freude, der Frieden, die Seligkeit, das Vertrauen, die Zuversicht und das Erbarmen, jedoch nicht die reaktiven Leidensgefühle, auch die Trauer und der Schmerz und das Mitleiden nicht. 30 Wie die Rede vom »leidenden Gott« im Christentum dennoch einen nachvollziehbaren Sinn erhält, wird in den nächsten Kapiteln deutlich, aber erweisbar nicht in der Weise, dass Gott selbst leidet, affektiv reagiert, sich ängstigt, ärgert oder wünscht und sich sehnt. 31 unaufhebbar sind; und dass nicht verständlich wird, warum Leid überhaupt sein muss bzw. wozu dieser seltsame Gott das Leid, die Entfremdung, den Schmerz und das Böse braucht. Weil er nur so seine Liebe realisieren kann, wie W. Thiede meint? Eine Liebe, die durch Schrecken, Erniedrigung, Abwertung, Sadismus und Grauen hindurchgehen muss, um am Ende doch (nur woher?) die Macht zu haben, dieses »Muss« aufzuheben? Was ist das für eine Liebe, die Grausamkeit schaffen, zulassen und erleiden »muss«, um lieben zu können? Mit der These, Gott müsse, wenn er Welt schaffe, notwendig durch ein Entfremdungsstadium mit der Welt hindurchgehen, umgeht W. Thiede den »Sündenfall«, sprich die Freiheit, und verschiebt die Korruption, wie es gewisse Gnostiker, J. Böhme und teilweise die Deutschen Idealisten taten, in Gott hinein, der nichts dafür kann, weil er muss. Nur wer oder was macht, dass Gott muss? Wie kann Gott Gott sein, wenn ihn etwas zwingt? 29 Vgl. W. Thiede (2007, 140); ähnlich H. U. v. Balthasar (1966, 91), der auch das Leiden in Gott für notwendig hält, da die innergöttliche Selbstkonstitution der Trinität ohne die leidende, sich selbst opfernde Liebe des Gottsohnes für Gottvater anders angeblich nicht möglich sei. Hier schleichen sich bei W. Thiede, D. Sölle und H. U. v. Balthasar zwar menschlich gutgemeinte, aber gnostizistisch-widergöttliche Elemente ein. Vgl. dazu den kritischen Aufsatz von R. Schenk (2001, 225–239). 30 So die Meinung von D. Sölle (2009, 278 ff.). Dabei bemerkt sie nicht, in welche Widersprüche sie sich verwickelt. In ihrer Theologie ist Gott einerseits verletzlich, ohnmächtig, traurig und empfindet Schmerz, andererseits soll er der Schöpfer des Alls sein, das Leiden überwinden, die Auferstehung bewirken und die Schöpfung zu einem guten Ende führen. Wenn er so machtvoll ist, was nach D. Sölle nicht allmächtig bedeutet, dann fragt sich, warum er überhaupt das Leid zulässt? Denn Leid zu verhindern, dürfte nicht schwieriger sein, als Leid zu überwinden oder die Grundlagen des Kosmos zu schaffen. 31 Vgl. hierzu die tiefdringenden und höchst differenzierten Ausführungen von P. Koslowski (1993) in seinen vielen Büchern, in denen vor allem zwischen der christlichen Gnosis (und ihrem in sich harmonischen Gottesbild) und dem nicht-christlichen Gnostizismus mit seinem in sich zerrissenen, werdenden, sehnenden, leidenden und sich erst finden müssenden Gott und seiner tragischen Schöpfung
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Der leidlose Gott, der leidende Gott und der »leidend« mitfühlende Gott
Das drückt Bernhard von Clairvaux prägnant in seinem HoheliedKommentar mit den Worten aus: »[…] impassibilis est Deus, sed non incompassibilis […]«, wobei compassibilis nicht mit »mitleiden«, sondern mit »mitfühlen« bzw. »sich erbarmen« übersetzt werden muss. 32 Um dies besser zu verstehen, gilt es, sich klar zu machen, dass Gott, als er die Grundlagen der Welt erschuf, von Anfang an sowohl um das entsetzliche Leid, das die Welt erfüllen wird, als auch um die letztgültige Aufhebung allen Leidens, die er immer schon voraussieht, die Menschen aber nur erhoffen können, wusste. Darum fühlt er zwar mit, solange die Geschöpfe leiden, aber er leidet nicht mit, da er die Aufhebung des Leids schon sieht und in gewissem Sinne immer schon und von Ewigkeit her bewirkt hat. In einem Ausspruch von Meister Eckhart 33 kommt diese Erkenntnis in paradoxer Weise zum Ausdruck »Ist mein Leiden in Gott und leidet Gott mit, wie kann mir dann das Leiden ein Leid sein?« 34
Die Gefühlsform dieses Vorganges ist das Erbarmen, das einfühlsam mitfühlt und zugleich durch seine größere Seinsfülle das Leid aufhebt, und eben darum leidet Gott nicht mit und bleibt nicht in Manunterscheidet. Im Unterschied zum Letzteren, der tragisch-unfreiwillig leiden muss, um selbst zu werden, leidet der christliche Gott in Jesus total freiwillig mit bzw. trägt dessen Leid mit und überwindet es als Gottessohn im Menschensohn sogleich (!) und endgültig, was sich dann in der Auferstehung und Erhöhung Jesu auch zeitlich vollzieht und offenbart. Echten Mangel erfährt Gott also auch in Jesus Christus nicht. Davon bald mehr. 32 Siehe Bernhard von Clairvaux (1994, 394). 33 Siehe Meister Eckhart (1979, 133). 34 Ausführlich siehe Meister Eckhart (nach J. Quint (Hrsg.): »Das Buch der Göttlichen Tröstung«, 1979, 133): »Alles, was der gute Mensch um Gottes willen leidet, das leidet er in Gott, und Gott ist mit ihm leidend in seinem Leiden. Ist mein Leid in Gott und leidet Gott mit, wie kann mir dann das Leiden ein Leid sein, wenn das Leiden das Leid verliert und mein Leid in Gott und Gott mein Leid ist?« Wie man sieht, sagt Meister Eckhart ausdrücklich, dass das Leiden in Gott sein Leid verliert, was nur möglich ist, wenn Gott das Leid übersteigt und selbst nicht leidet. Im Christentum gibt es allerdings in anderer Form einen Weg des göttlichen Mitleidens: Insofern Jesus Christus nicht nur Gott, sondern Mensch ist, kennt er alles Leid aus eigener leibhafter Erfahrung, die zwar in seiner vollständigen Vergöttlichung (nach der Auferstehung) aufgehoben, aber als Spur in ihm – anschaulich in den Kreuzmalen – gegenwärtig bleibt. Das ist es wohl, was christliche Theologen wie J. Moltmann und D. Sölle meinen, die vom »gekreuzigten Gott« und vom »leidenden Gott« sprechen. Damit ist klar, dass Gott in seinem Urstand nicht leiden kann.
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Gott und das Leiden
gel, Schmerz, Trauer und Not befangen, wie das beim Menschen der Fall ist, der aufgrund von Machtlosigkeit und Zeitgebundenheit einem Leid oft hilflos ausgesetzt ist und daher tatsächlich mitleidet und im Mitleid auch selbst leidet. 35 Überspitzt, aber nicht falsch, lässt sich sagen: Gott hat die Welt errettet, bevor sie überhaupt in Not geraten ist, und er hat sie beseligt vor allem Leid. Wie das möglich ist, legt das nächste Kapitel dar.
6.9. Die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und offener Zukunft mit der Allmacht und Allwissenheit Gottes In der Theologie meinen heute nicht wenige, dass die Allwissenheit Gottes, die auch um die Zukunft weiß, zum einen selbstwidersprüchlich sei, zum anderen die Freiheit des Menschen und überhaupt von geistigen Geschöpfen grundsätzlich aufhebe. 36 Das ist erweisbar falsch. Zunächst hat A. Kreiner 37 allerdings in dem Sinne recht, als er sagt, dass auch Gott nicht voraussehen kann, was überhaupt nicht da ist, was also noch unrealisiert »in der Zukunft liegt«. In Wahrheit liegt es nirgends, es ist noch nicht, und damit ist es als solches überhaupt nicht. Nichts (im vollen Sinne) kann in der Tat nicht erkannt werden, auch von Gott nicht. Was aber A. Kreiner verkennt, ist, dass Gott andere Möglichkeiten hat, das Künftige »vorauszusehen«. Welche? Zum einen kann er in die letzten Tiefen seiner Geschöpfe und damit in die potentialen Werde-, Motiv- und Impulsquellen der Welt hineinsehen und somit alle jene Regungen gewahren, die sich im Status der Potentialität bzw. in statu nascendi befinden. Damit aber kann er voraussehen, was kommen wird. Noch wichtiger ist, dass Gott in seinem unendlichen Bewusstsein alle möglichen Welten, und das sind aU viele, voll bewusst umfasst, und zwar zeitlos-gleichzeitig bewusst umfasst, um daraus eine real selbständige Welt, die sich zeitSiehe Dante, »Göttliche Komödie«, 3. Gesang, 158: »Zwar schrecklich waren alle meine Sünden, aber mit weiten Armen nimmt die Gnade, die unerschöpfliche, den Reuigen auf« (übersetzt von K. Vossler). 36 Vgl. A. Kreiner (2005, Kap. 11, 275 ff.). Vgl. dagegen B. v. Brandenstein (1984: »Über die Zu-Kunft«). 37 Vgl. A. Kreiner (2005, 313 ff.). Schon Boethius erkannte dies in seinem Buch »Trost der Philosophie« (5. Buch) und machte darum die feine Unterscheidung zwischen »praevidentia« (Vorausschauen), das Gott, der alles zugleich überschaut, nicht nötig hat, und »providentia« (Vorsichsehen). 35
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Die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und offener Zukunft
lich vollzieht, auszuwählen. Da das zeitlose Vorbild der jetzigen zeitlichen Welt vollständig und abgeschlossen ist, weiß Gott zwar nicht aus der werdenden Welt, aber aus ihrem zeitlosen Vorbild alle »Zukunft«. In Wahrheit weiß er, wie schon Boethius betont, keine Zukunft, was, da sie nicht existiert, unmöglich ist, sondern er weiß das zeitlos-aktuelle Vorbild der zeitlich werdenden Welt und damit deren in der Ewigkeit des göttlichen Bewusstseins vorgebildete Zukunft in voller Gegenwart. Man könnte auch so sagen: Für Gott gibt es keine Zukunft, er ist reine totale Gegenwart. Alle Zukunft ist in ihm immer schon vorgebildet. Genau dieses Argument wird benutzt, um auf die Unvereinbarkeit eines alles Werden voraussehenden Gottes mit der Freiheit seiner Geschöpfe hinzuweisen. Hier sind folgende Bedenken zu erheben. Zum Ersten setzt ein jedes Erkennen, auch das Gottes, das zu Erkennende – allerdings nicht der Zeit, sondern der Sachlogik nach – voraus. Wo nichts ist, kann nichts erkannt werden. Damit erhellt zweitens, dass die Erkenntnis, wie schon Boethius und G. W. Leibniz wussten, weder das Da- noch das Sosein eines Seienden bestimmt. Das gilt für Gottes Erkenntnis nicht weniger als für irgendeine andere, denn darin besteht das Wesen von Erkenntnis überhaupt. Weil sich dies so verhält, ist die geschöpfliche Freiheit mit Gott durchaus vereinbar, allerdings nicht im Sinne einer totalen und absoluten Freiheit. Das wiederum heißt, dass ein frei wirkendes Geschöpf nichts bewirken und tun kann, was (scheinbar) jenseits des Macht- und Wissenshorizontes Gottes liegt. Diese Freiheit besitzt der Mensch in der Tat nicht. Gott lässt ihn zwar frei entscheiden und wirken, aber nicht so frei, dass Er davon »überrascht« werden könnte. Wohl rechnet er mit der Freiheit der Geschöpfe, er weiß um sie, er plant mit ihr und bezieht sie in das Gesamtkonzept seiner Schöpfung selbst dann ein, wenn sie sich gegen ihn und seine Schöpfung erhebt. Somit kann sich das Geschöpf zwar seinen Grundgeboten widersetzen, aber nicht seinen Zielen. Drittens gilt die totale Determination seitens Gottes nur für das zeitlos-ewige Vorbild der Welt, in dem es tatsächlich keine Freiheit oder besser nur die Freiheit Gottes gibt, während das »Abbild« jenes Vorbildes, die zeitlich reale Welt, in die Hände der partiell freien Geschöpfe gelegt ist. Da Gott deren Sinnen und Handeln schon in ihrem Beginnen erkennt, sieht er zwar alles voraus, doch nimmt er ihnen deshalb nicht ihre Handlungsinitiative – die überlässt er ihnen. 38 38
Auch G. W. Leibniz (1967, § 37 u. 38) sieht, dass das Bestimmen (»Determinieren«)
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Gott und das Leiden
So betrachtet, scheint die Freiheit des Menschen gering, und nicht von ungefähr hat ein so großer Geist wie Platon die Menschen als Marionetten der Gottheit gedeutet, was freilich übertrieben ist. 39 Doch zeigt es klar, dass die endliche Freiheit, die durchaus eine Macht darstellt, Gottes Freiheit und Macht nicht transzendiert. Im Gesamtentwurf der werdenden Welt steht von Ewigkeit zwar ihr Ausgang für Gott fest, doch nicht für seine Geistgeschöpfe. Worum sich die Geschöpfe bemühen sollen, ist, in ihr Sinnen und Handeln Gottes Absichten so gut wie möglich zu integrieren, ihm zu folgen, seinen Willen zu erforschen und sich ihm, wie es Platon 40 und Philon forderten, so weit wie möglich anzugleichen. Über ihn hinaus oder an ihm durch Wissen etwas ganz anderes ist als das Bestimmen (Determinieren) durch Wille, Tat und Handlung. Würde Gott unser Handeln durch willentliche Einwirkung bestimmen, wären wir in der Tat unfrei, aber Wissen wirkt nicht bzw., wie G. W. Leibniz (1967, 205) richtig sagt: »[…] dass das Vorherwissen an sich der Wahrheitsbestimmung zukünftiger Zufälle nichts hinzufügt […]«, sondern ist das Ergebnis eines rezeptiven Erkennens, das sich nach dem Zuerkennenden richtet. Das Wissen Gottes in Bezug auf die Tatsachenwahrheiten richtet sich demnach primär nach dem Tun und Schaffen des göttlichen Willens und erkennt dessen Wirkungen und Ziele, unter denen auch freie Geschöpfe sind. Zwar weiß Gottes unendlicher Verstand um deren Wollen und Tun, aber nicht dadurch, dass er den schaffenden göttlichen Willen determiniert, sondern nur dadurch, dass er »wie im Spiegel« zeigt, was der »Vater« will und als Bestes wollen »soll«. Es ist der Wille Gottes, der das Geschöpf, indem er es erschafft, bestimmt, aber nur als Erschaffenes, nicht in seinem Selbstbestimmen, nicht in seiner Subjektivität. Da die göttliche Vernunft den göttlichen Willen vollständig durchschaut, »spiegelt« und berät, weiß sie, was der Wille Gottes will, ohne ihn bzw. sein erschaffenes Geschöpf zu zwingen, berät ihn aber. In der Tradition, zu der auch scholastische Positionen gehören, wird aber immer wieder damit argumentiert, dass (Vorher-)Wissen ein eingreifendes Tun sei, was dem Wesen des Erkennens, auch des göttlichen Erkennens zuwider ist. Vereinfacht könnte man sagen: Gott weiß zwar immer schon, was sein Wille und dadurch vermittelt seine Geschöpfe tun bzw. tun werden; doch gerade weil er dies weiß, bestimmt sich sein Willenshandeln (z. B. als Schöpfungswirken) gemäß dieser Erkenntnis und wählt solche (freie) Geistgeschöpfe aus, die seinem Gesamtziel, vorgedacht vom göttlichen Logos, entsprechen. In Hinblick des Geschöpftwerdens der Subjektwesen und des kosmischen Gesamtzieles, in Hinblick darauf, wohin Gott jedes Geschöpf in Zeit und Raum stellt, sind wir unfrei, doch in dem, was wir tun, sind wir frei, auch wenn dies Gott immer schon weiß. 39 Siehe Platon (»Nomoi«, 644 d): »Denken wir uns jedes von uns lebenden Geschöpfen als eine Drahtpuppe in der Hand der Götter, ob nun von ihnen zum Spielzeug oder zu irgendeinem ernsten Zwecke gebildet; denn das wissen wir nicht.« Hier zeigt sich selbst bei Platon eine Unsicherheit im Gottesbild, die erst im (gereinigten) Christentum überwunden wird. 40 Vgl. Platon (»Theaitet«, 176 ab).
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Die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und offener Zukunft
vorbei kann kein Wesen etwas schaffen bzw. nur Mangelhaftes, Nichtshaftes, weswegen seine Kreativität nicht absolut, sondern »mimetisch« ist. Da Gott das absolut Neue, »Frische«, schöpferische Sein ist, erreicht der Mensch die größte »Jugendlichkeit«, wenn er ihm gemäß handelt und sich nicht anmaßt, Ihm Neues geben und Ihn Neues lehren zu wollen. Gott lässt frei, aber nicht urfrei, und er gesteht den Missbrauch der Freiheit zu, ohne sich die Freiheit vorzuenthalten, den Missbrauch der Freiheit in sein Gesamtkonzept einzuplanen, der darin nicht nur seinen Ort und seine Funktion findet, sondern letztlich seine Korrektur und Überwindung erfährt. Wer wie der Theologe A. Kreiner (in Anlehnung an A. N. Whitehead) 41 nicht nur die Freiheit, sondern die angeblich absolute Freiheit des Menschen »retten« will, kann dies nur dadurch erreichen, dass er Gott entthront und ihn verzeitlicht. Ein werdender Gott kann in der Tat nicht mehr die Zukunft (an einem ewigen Weltvorbild und aus den Abgründen der Geschöpfe) voraussehen und steht damit der Freiheit des Menschen unwissend gegenüber. So wird der Mensch zum echten Nebengott oder besser Gott zum Nebengeschöpf, da beide dem Werden und Entstehen unterworfen sind. Wie allerdings ein Geschöpf der Schöpfer aller geistigen Geschöpfe sein soll, ist ein Rätsel, und noch widersinniger ist, dass Gott als der Grund allen Seins entstanden sein soll. Woraus, woher, durch was oder wen? Ein Gott, der von Ewigkeit her »entstanden« bzw. geworden ist, ist, wie gesehen, ein eklatanter Selbstwiderspruch. Denn wer von Ewigkeit her besteht, besteht anfangslos. Wer aber anfangslos ist, hat immer schon eine unendliche Fülle an Sein und Dauer »hinter«, besser in sich. Ein unendlich erfülltes und unendlich dauerndes Sein kann, wie schon Parmenides 42 sah, nichts hinzuerhalten, sonst wäre es nicht unendlich, und also kann es nicht werden, sich wandeln und erst recht nicht entstehen. Ein anfangslos-werdender Gott ist also, das muss auch gegen H. Jonas’ 43 Gotteskonzeption gesagt werden, ein Widersinn, eine sachliche und theoretische Unmöglichkeit. Damit gilt umgekehrt: Da ein werdender Gott etwas hinzugewinnt, kann er nicht unendlich sein, weil echte Unendlichkeit ein »Alles« umfasst. Wenn er aber nicht unendlich ist, weder an Seinsgehalt noch an Seinsdauer, dann 41 42 43
Vgl. A. Kreiner (2005, 101 ff.). Vgl. Parmenides (1981, 11 f.). Vgl. H. Jonas (1994).
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Gott und das Leiden
ist er notwendig anfänglich; wenn aber anfänglich, dann entstanden; und wenn entstanden, dann nicht aus und von nichts entstanden, sondern von etwas. Damit wäre dieser Gott kein Gott, sondern kontingent, ein reines Geschöpf, das Schaffensobjekt eines anderen Seinsgrundes, der entweder selbst anfangslos-ewig, also Gott wäre oder selbst wieder auf Anderes zurückgeführt werden müsste. Da dieser Regress ad infinitum unmöglich und selbstwidersprüchlich ist, und im Übrigen real unendlich wäre, so dass sich auch auf diese Weise das Sein im Ganzen als unendlich erwiese, muss es einen letzten Seinsgrund geben, der selbst nicht entstanden ist und damit nicht wandelhaft, nicht zeitlich sein kann. Ein zeitlos-ewiges Wesen, das aktiv, schaffend und schöpferisch ist, muss über eine real unendliche Wirkungs- und real unendliche Schaufähigkeit verfügen, und entsprechend ist es im traditionellen Sinne allmächtig und allwissend. Die Idee eines ohnmächtigen, sich in die Welt verlierenden Gottes, wie sie H. Jonas 44 vertritt, hebt sich selbst auf. Im Horizont der göttlich-unendlichen Macht und Schau kann nichts unvorhergesehen entstehen – eine absolut offene, d. h. von nichts und in nichts bestimmte, Zukunft ist unmöglich, sie wäre ein Werden aus und von nichts. Somit gilt: Im Letzten ist alles Sein gesichert, geborgen und gehalten, doch nicht von den Geistgeschöpfen, sondern von Gott. Für diese ist die Zukunft offen, real offen, denn sie bestimmen nicht unerheblich, wenn auch nicht an Gott vorbei, mit. Dieses Bestimmungshandeln kann fehlgehen, und tut es in einem fort, was Gott zulässt. Aber er lässt es sich nicht nehmen, selbst diese Fehlgriffe in seiner umfassenden Liebe zu tragen und im Letzten wiedergutzumachen. So gilt nicht nur: »Denn siehe, alles war gut«, sondern auch: »Denn siehe, alles wird gut«, selbst dann, wenn in der dramatisch-tragischen Zwischenzeit ein großes Irren und Scheitern in der Schöpfung vorgeht.
6.10. Gottes Gerechtigkeit und das Problem der Ausgleichsidee In Bezug auf die Rolle des Übels, des Leids und des Bösen in der Welt wird immer wieder, so schon im Begriff der »Theodizee« des G. W. Leibniz, von der Gerechtigkeit Gottes gesprochen, zu der er verpflich44
Vgl. H. Jonas (1994).
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Gottes Gerechtigkeit und das Problem der Ausgleichsidee
tet sei. Ist das sinnvoll? Strenggenommen nicht. Denn alle Gerechtigkeit bezieht sich auf ein Maß, und also wird sie durch eine Differenz konstituiert, nämlich durch diejenige zwischen einem Sein und einem Sollen. Gerecht, »angemessen« und »rechtmäßig«, Wörter, in denen z. T. das Wort Maß vorkommt, ist demnach jenes Sinnen und Handeln, das so ist, wie es sein soll. Das Maß des Sollens aber liegt über den hinaus, der sich danach richten soll. Damit ist klar, dass Gott in diesem Sinne nicht gerecht sein kann. 45 Denn in seinem Fall ist jedes Sollen sinnlos, erstens weil es außerhalb seiner kein Maß gibt, nach dem er sich richten könnte, und zweitens weil er schon alles ist und nichts Weiteres mehr in seinem Seinsrang realisieren kann bzw. muss. In Gott sind Sein und Sollen bzw. genauer, Sein und Wert identisch. Somit erhellt, dass nicht Gott gerecht ist oder gerecht sein soll, sondern dass alles, was nicht Gott ist, dadurch gerecht wird, dass es sich Gott annähert und angleicht. Denn er allein ist das Maß aller Gerechtigkeit. Wenn dem so ist, dann ist apriori einerlei, was Gott sinnt und tut – es ist, da er das Urmaß aller Gerechtigkeit, nämlich die Gerechtigkeit selbst ist, per se gerecht. Dies bedeutet nun keinesfalls, wie manche gefolgert haben, dass Gott reine Willkür sei und das Böse, wie er will, zum Guten umdefinieren könne. Er kann dies in der Tat nicht, jedoch nicht aus Ohnmacht, sondern aus Stärke, die das nicht will. Und Gott will dies nicht, weil er als Urfülle, Urweisheit und Urordnung des Seins nicht das Mangelhafte, Gestörte, Destruktive, Lebensfeindliche, Verworrene, Falsche und Gemeine will. Dass er trotzdem dies alles in seiner Schöpfung, allerdings nicht in seinem eigenen Sein zulässt, heißt wiederum nicht, dass er das Schlechte guthieße oder für etwas endgültig Gutes hielte. Es heißt nur, dass er es für etwas vorläufig »Gutes« bzw., um mit N. Malbranche zu sprechen, für einen Weg zu einem größeren Gut nimmt, an dessen Ende alles Üble und Böse aufgehoben bzw. nur das an Bösem geduldet wird, was die Umkehr verweigert und als »mahnendes« Seinsbild der Gottlosigkeit fungiert. In diesem Sinne kann es nichts endgültig Schlechtes in der Schöpfung geben, und in diesem Sinne wertet Gott nicht, sondern nimmt alles – zunächst! – so, wie es ist. Immerhin ist es richtig, dass Gott für alles Schlechte und Böse, Wie Gott im anderen, d. h. absoluten, Sinne angemessen und gerecht ist, entfaltet Thomas v. Aquin in seiner »Summe der Theologie«, Buch I, 21. Untersuchung. Im Folgenden wird eine im Ergebnis selbe Gerechtigkeitslehre entwickelt.
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Gott und das Leiden
indem er es ermöglicht, trägt und zulässt, mitverantwortlich ist und dass er es seiner Vollkommenheit und in diesem Sinne seiner Gerechtigkeit, die auch als absolutes Gutwollen gefasst werden kann, »schuldet«, 46 das Schlechte und Böse nur zeitweise zu dulden und im Letzten aufzuheben. 47 Könnte oder wollte er dies nicht, dann allerdings würde er seiner Seinshoheit nicht gerecht, dann verlöre er seine Gotteswürde, und das eigentliche Übel wäre die Gottheit selbst. Wie absurd und selbstwidersprüchlich dieser Gedanke – der im Gnostizismus bezüglich des Demiurgos vertreten wird – ist, muss nicht eigens ausgeführt werden. 48 Wenn man dagegen erkennt, dass Gottes Gerechtigkeit gerade darin besteht, alles Gute zu fördern und alles Schlechte aufzuheben bzw. »wieder gut zu machen«, also alles Schiefe unter Wahrung der Freiheit und Grenzen seiner Geschöpfe »gerade zu richten«, 49 dann erkennt man, dass seine Gerechtigkeit letztlich mit seiner Güte identisch ist und nicht das gute Potential schlechter bzw. böser Geschöpfe »vorzeitig« verdammt. 50 Der Unterschied zwiSelbst Thomas v. Aquin (1985, 171) verwendet diese Redeweise in der »Summe der Theologie«, Buch I, 21. Untersuchung: »Und demnach nimmt die Gerechtigkeit Gottes auf den eigenen Ehrenanspruch Rücksicht, nach welchem er sich gibt, was ihm geschuldet wird.« Gottes Gerechtigkeit besteht darin, dass er nur das tut, was ihm und seinem »Urmaß« – und das ist die Einheit seiner Urgüte, Urweisheit und Urliebe – angemessen ist, also diesem gerecht zu sein. Rücksichtnahme ist stets eine vernünftig begründete »Anmessung«. 47 Dieser Gedanke lässt sich theologisch radikalisieren und besagt dann, dass Gott aufgrund seiner Mitverantwortung für das Böse das größtmögliche Gut einsetzen muss, um seine Schöpfung vom Bösen zu befreien: Dieses höchste Gut kann nur Er selbst sein, was nicht weniger bedeutet, als dass Er sich selbst »hingeben«, sich selbst dem Bösen aussetzen und ausliefern muss, um das Wesen des Bösen erstens schonungslos offenzulegen, um es zweitens bis auf seinen letzten Grund zu erschüttern und um es drittens, wo es noch »erreichbar« ist, zu wenden. Das »Mitopfer« Gottes im Gottmenschen erhält so seine theologische Logizität. Oder wie es R. Guardini (1961, 269) sagt: »Gott hat liebend die Verantwortung für die Schuld auf sich selbst genommen und ist in die Geschichte eingetreten« – nicht weil er mitschuldig, sondern weil er mitverantwortlich ist. Vgl. B. v. Brandenstein (1984, 185–187: »Gott und das Leid«). 48 Vgl. P. Koslowski (1992, 263–307). 49 »Gott schreibt auch auf krummen Zeilen gerade« – »gerade«, »richten« und »gerecht« gehören etymologisch zusammen. 50 Dies lässt sich schon für die altisraelitische Gottesvorstellung nachweisen: »[…] wie denn im Alten Testament die auf Gott angewendeten Begriffe »Gerechtigkeit« und »richten« sehr oft geradezu so viel sind wie »Güte« und »helfen«« (siehe O. Eißfeldt, 1931, 8). Hingewiesen sei außerdem auf das Gleichnis Jesu (Math. 13, 24– 30), das Unkraut nicht zu früh auszureißen, um nicht den verdeckten guten Weizen mitzuzerstören. 46
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Gottes Gerechtigkeit und das Problem der Ausgleichsidee
schen Güte und Gerechtigkeit besteht dann nur darin, dass die Gerechtigkeit auf das zu überwindende Übel – das Unrecht, das Böse, das Gemeine, das unverdiente Leid – bezogen ist, während die Güte darüber hinaus helfende Barmherzigkeit und überströmend-schenkende Liebe umfasst. Indem Gott seiner Schöpfung die Freiheit, bis an den Rand des Nichts zu treten, lässt, beweist er sowohl seine Souveränität, Großzügigkeit und totale innere Freiheit gegenüber der Welt als auch den fundamentalen Status der Kontingenz alles nichtgöttlichen Seins, das, stünde es allein auf sich, zu nichts würde. Darüber hinaus ist die Schöpfung, insofern sie von Gott abfiel, nicht nur nichtsbehaftet, sondern nichtswürdig geworden und bedarf einer reinigend-heilenden Umwandlung. So erhebt Gott seine Schöpfung nicht nur aus der Nichtshaftigkeit, sondern aus der Nichtswürdigkeit wieder zur Seinswürdigkeit, 51 und er tut dies im Letzten dadurch, dass er sie – in Gestalt des Gottmenschen 52 und der geheilten Heiligen – mit sich totaliter und endgültig eint, sprich, das pU zum aktualisiert Unendlichen, zum atU – nicht zum aU, was unmöglich ist – erhebt und ergänzt. 53 Erst indem die Welt wird wie Gott, entwindet sie sich sowohl der Nichtswürdigkeit als auch der Nichtshaftigkeit, verliert allen Makel und alle Kontingenz und wird, eben durch Teilhabe an der Seinsnotwendigkeit Gottes, selbst seinsnotwendig, damit inkorruptibel. 54 Kampf, Scheitern, Irren und Wirren, Suchen und Finden, Leiden Wie Thomas v. Aquin (1985, 173) betont, handelt es sich bei der Mängelbehebung um eine besondere Art der Gerechtigkeit, um die Barmherzigkeit. Beide sind in Gott eins, die Gerechtigkeit, indem sie das Unrechte offenbar macht, »richtet« und Wiedergutmachung von Seiten des Ungerechten einfordert, die Barmherzigkeit, indem sie einen Mangel benennt und zu beheben hilft. 52 Woraus das Christentum die Folgerung zog, dass jeder Mensch dem Gottmenschen nachfolgen und mit ihm eins werden solle. Vgl. R. E. O. White (1962: »Dass Christus in euch Gestalt gewinne«, bes. Kap. 5 und 6). 53 Das aU ist immer schon aktualunendlich, das atU als das aktualisiertunendliche Sein ist die Erhebung eines pU ins aU und hat demnach eine Geschichte. Jesus als Gottmensch ist als Mensch entstanden und geworden, also endlich, aber erhoben und vereinigt mit Gott bzw. mit der zweiten Gottesperson, die nicht geworden ist und mit Jesus als Geschöpf schon von dessen Anfang an vereinigt ist, aktualgeworden, also aktualisiertunendlich. Diese Differenz ist theologisch bedeutsam und wird oft nicht berücksichtigt. Sie darf nicht mit der Irrlehre des »Adoptianismus« verwechselt werden. 54 Siehe Angelus Silesius (2006, EA 1675, 1. Buch, 42, 102. Aphorismus): »Dann wird das Blei zu Gold, dann fällt der Zufall hin/Wann ich mit Gott durch Gott in Gott verwandelt bin.« 51
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Gott und das Leiden
und Qual endigen ein für allemal und unwiderruflich. Das tut Gott, er allein. Das können die Geschöpfe nur staunend, zitternd und freudigdankend erleiden und empfangen. Solange die Welt unterwegs ist und mit ihrer Neigung zu Unrecht und Bosheit ringt, solange kann die Gerechtigkeit Gottes nicht voll zum Vorschein kommen. Erst am Ende der Zeiten spricht sie ihr definitives Wort und statuiert ihr »Gericht«. Ein Wort, das schon von Ewigkeit her gesprochen ist und gleichsam über der Welt – selbstverständlich immer gegenwärtig – schwebt und in die Zeit allmählich, an ihrem Ende dann vollends in sie – durch das Walten des »Heiligen Geistes« – eindringt und nichts anderes ist als die göttliche Barmherzigkeit und Güte selbst. Denn die »Gerechtigkeit Gottes« ist im Letzten dies: sein Wille, dass alles (wieder) gut werde. Und da »gut« im vollen Sinne nur Gott ist, wie auch Jesus betont, bedeutet Gutsein letztlich Gottsein, genauer, »wie Gott werden«. 55 Erkennen wir dies, haben wir den letzten Sinn des Weltübels erkannt: Denn nur durch Entstehung und Überwindung des Übels in allen seinen Formen manifestiert sich Gott als das Wesen, dessen Wille es ist, dass allem und jedem Wahrheit und Gerechtigkeit widerfahre, dass alle Wunden und Schäden behoben werden und dass alles und jedes, insofern es dazu bereit und befähigt ist, in die Glückseligkeit eingehe. Gott hätte als gerechter Richter und alleserbarmender Heiland ohne Leid, Schmerz, Unrecht, Schuld und Sünde nicht offenbar werden können. Nicht das entsetztlichste Unrecht, nicht die schauderhafteste Tat, nicht die größte Niedertracht können diesen Sinn des Übels brechen, im Gegenteil sind es gerade sie, die die unendlich gütige Allmacht Gottes herbeiziehen. Auf diesem Hintergrund ist es möglich, zu einem Gedanken Stellung zu nehmen, der in vielen Religionen und Philosophien zentral ist und die Idee des »Jenseits« evoziert: Es ist der Gedanke der Diskrepanz zwischen Tugend und Glück bzw. die Idee des Ausgleichs. Was meint er? Da in dieser Welt immer wieder Menschen schuldlos Unglück und Unrecht erleiden – frühen Tod, Krankheit, Naturkatastrophen, Betrug, Täuschung, Missbrauch, Gewalt –, die in diesem Leben nicht erkannt, gewürdigt und gesühnt werden, erhebt sich das Gerechtigkeitsgefühl und fordert in einem anderen Leben für Schmerz Lust, für Trauer Freude, für Ohnmacht Macht, für Demütigung Genugtuung. Was ich hienieden – anscheinend zu Unrecht –
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Vgl. Jesus in Lukas 18, 19.
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Gottes Gerechtigkeit und das Problem der Ausgleichsidee
nicht bekam und was mir doch zusteht, das muss mir dort mindestens im gleichen Maße gegeben werden. Somit impliziert der Ausgleichsgedanke das Fortbestehen des verletzten Individuums nach dem Tod, mithin seine seelisch-geistige Unsterblichkeit. Kann dieser Gedanke aber vor dem Gerichtshof der metaphysischen und ethischen Vernunft auch bestehen? Um hierin weiterzukommen, hilft eine Frage: Wäre ein Schmerz im diesseitigen Leben wirklich behoben und überwunden, wenn dafür im Jenseits, wie dies etwa der Islam und die Karmatheorie lehren, Lust und Vergnügen gewährt würden? Eine Ohnmacht hinweg, wenn drüben ein Machtzuwachs erfolgte? Ein Nachteil ausgelöscht, wenn darauf ein Vorteil folgte? Wäre dem so, hätte man es kaum mit etwas Anderem als mit einem »Kuhhandel« zu tun, der einen Geschäftssinn verrät, der dem Reich Gottes nicht ansteht. Die echte und volle Behebung eines Unrechts kann dagegen nur dann gelingen, wenn eine Versöhnung zwischen Opfer und Täter erreicht wird, die gegenseitiges Verstehen, Reue, Vergebung und Wiedergutmachung einschließt. »Lust« und Freude, die ihr seinshaft entspringen, mögen dann der »Ausgleich« sein, der aber nur eine Dreingabe bei der Wiederherstellung des Guten ist und nicht das Ziel der Versöhnung sein kann. Darüber hinaus ist zu bedenken: Alles Leid und Unrecht dieser Welt, das mich trifft, ist entweder die gerechte Erschütterung meiner Untaten bzw. meiner noch allzu unbewussten Neigung zu selbstsüchtigem Verhalten, oder es ist die Herausforderung, ja mehr noch die Ehre, zeigen zu dürfen, ob und inwieweit ich willens und fähig bin, von mir abzusehen, mich dem göttlichen Ratschluss anzuvertrauen und mich für Anderes und Andere bereitzustellen, und das heißt, für die Annäherung an Gott reif zu werden. In dieser Sicht, die in die letzten Gründe des geschöpflichen Seins blickt, verschwindet der Ausgleichsgedanke, und alles, was widerfährt, erweist sich als Geschenk, an dem wir wachsen können und »gottähnlich« werden. Denn eben dies war die Tat Gottes im Gottmenschen: sich für das Heil aller, die es zu empfangen willens sind, hinzugeben, nicht, weil ein göttlicher Zorn zu besänftigen wäre, sondern weil die liebende Selbsthingabe, so Gottes und eben so auch des heiligen Menschen, die höchste Seins-, Sinn- und Werterfüllung des geistig-persönlichen Seins ist. Und so verdient ein jeder die Schwere des Schicksals, die ihn trifft, sei es, dass er sich deren würdig erweist und sie sich auf diese Weise verdient, sei es, dass er ihrer unwürdig bleibt und sie dann erst noch zu verdienen hat – oder eben, weil er verbittert auf 595 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
»sein Recht« pocht und im Ressentiment des vermeintlich Zukurzgekommenen verstockt, nie verdient bzw. gerade so »verdient«.
6.11. Die Gewährung destruktiven, »ungerechtfertigten« Leidens und ihr Sinn: die Öffnung des pU Abgrundes des Menschen (»homo abyssus«) Wenn Gott von seinem Wesen her dem Sein in Fülle, Reinheit, Ordnung, Klarheit und Schönheit verpflichtet ist, warum lässt er in seiner Schöpfung dann soviel Unordnung, Hässlichkeit und Grausamkeit zu? Obwohl darauf schon einige Antworten gegeben wurden, ist eine vertiefte Betrachtung angezeigt, die sich auf die Ontologie des geschöpflichen Geistes überhaupt und des menschlichen Wesens im Besonderen stützt. Wer den Menschen wie die meisten modernen Philosophen als rein endliches Wesen betrachtet, wird die angedeutete Dimension nicht sehen. Doch geraten alle diese Denker regelmäßig in einen Selbstwiderspruch, da sie neben der Endlichkeit des Menschen die Transzendierungsfähigkeit, also das prinzipielle Übersteigenkönnen alles Endlichen als Grundcharakteristikum seiner Seinsgestalt in Anspruch nehmen, so z. B. J.-P. Sartre, M. Heidegger, E. Bloch und A. Camus. Wenn der Mensch aber, wie sein gesamtes Kulturschaffen beweist, jeden endlich erreichten Seinsbestand zu überschreiten vermag, wenigstens der Intention nach, kann er kein rein endliches Wesen sein, wenigstens nicht in seinem kreativ-selbsttätigen Kern. Wohl setzt ihm der Tod die definitive Grenze seiner gesamten leiblich-irdischen Existenz, doch ist damit nicht ausgemacht, dass dadurch sein innerstes Selbst getroffen wird. Was bisher aufgedeckt wurde, zeigt, dass es nicht davon getroffen wird. Letztlich deswegen, weil die Fähigkeit zur Selbstaffektion, Selbstbewegung, Selbstbestimmung und Selbstgestaltung von außen nicht direkt affligiert werden kann. Ein rein endliches Wesen wäre im vollen Sinne endlich und müsste sich geistig erschöpfen. Im Falle der Menschen verhält es sich gegenteilig: Je mehr sie aus sich schöpfen, desto reicher, tiefer, differenzierter, wissender und – wenn das Mehr auf das Gute bezogen ist – reifer werden sie. Auf der anderen Seite beweist die Zeitgebundenheit des Menschen, sein offensichtliches Entwicklungswesen, dass er zwar nicht nur endlich, aber auch nicht unendlich ist. Denn ein echt oder aktual unendliches Wesen kann sich nicht entwickeln und braucht dies 596 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Die Gewährung destruktiven, »ungerechtfertigten« Leidens und ihr Sinn
nicht, da es alles erreicht hat. Somit erhellt, dass der Mensch in seiner tiefsten Seinsstruktur ein Zwischenwesen ist: Er steht zwischen dem E-Endlichen und dem aU-Unendlichen – er ist ein pU, d. h. potentialunendliches, alle Grenzen überschreitendes, sich auf das Unendliche zubewegendes, dieses nicht erreichendes, ein zwar anfangshaftes, aber »endloses«, unerschöpfliches, also unvergängliches Wesen, wenigstens in seinem Seinskern. Was bedeutet dies? Ungeheures, kaum Ausdenkbares. Im Menschen gibt es einen schlummernden, potentialen, unerwachten, nichtsdestotrotz mitgegebenen Seinsbestand der Möglichkeit nach, der dunkel, unentfaltet, ungehoben, zugleich überendlich, zwar nicht unendlich, aber auch nicht endlich, sondern potentialunendlich an Umfang, Tiefe und Innigkeit ist. Man kann auch sagen: Im Menschen waltet ein Abgrund an dunklem, unbewusst-unentfaltetem und »rohem« Sein, der aus eigener Kraft nicht voll durchschritten und erhellt werden kann; er ist ein ens abyssum. 56 Das wiederum impliziert, dass der Mensch nicht fertig ist und zu keiner Zeit aus eigener Kraft, wie F. Nietzsche sagt, total festgestellt werden kann, sondern immer offen, unsicher, schwankend und suchend auf dem Wege bleibt, weswegen er stets von sich selbst überrascht werden kann. 57 Was alles in diesem Abgrund verborgen liegt, kann ängstigen und verunsichern, und nicht selten versetzt es, so etwa in der Figur des Macbeth von W. Shakespeare, in Grauen, wenn sich der Betroffene mit diesem »Selbst-Abgrund« konfrontiert sieht. Wohl vermag der Mensch aus eigener Freiheit und Kraft immer wieder Neues aus seinem Abgrund zu heben, und das macht ihn unerschöpflich jung, beweglich und neu, doch droht, da er zu keinem Ende kommt, stets die Verzweiflung des ewigen Ahasvers: Er ist an ein nicht zu überwindendes Anderes, Fremdes, Dunkles, Unbewusstes und Gefährdet-Gefährliches in sich ausgeliefert, radikal und unaufhebbar. Immer droht die Monstrosität, der Horror, nicht weniger die bodenlose Schwäche, Unvollendbarkeit, das radikale Nichtfertigwerden- und Nichtankommenkönnen, damit schlussendlich die Angst vor der personal-geistigen Nichtshaftigkeit, dem nicht nur Zu diesem unausschöpflich-unerhellbaren Dunkel der Geistestiefe weiß Novalis Letztgültiges zu sagen, z. B. in seinen »Hymnen an die Nacht« (I, 56): »Denn himmlischer als jene blitzenden Sterne dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet.« Auch R. Safranski (2008) sieht die Abgründigkeit der menschlichen Freiheit und des menschlichen Seins überhaupt. 57 Vgl. ähnlich P. Wust (1946). 56
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Gott und das Leiden
psychologischen, sondern ontologischen Scheitern. Das größte Nichts liegt daher nicht außerhalb des Menschen und ist nicht der physische Tod, sondern es liegt in ihm, es ist der unaufhebbare »Tod« seines pU-Abgrundes. Da sich diese Seinstiefe nicht durchgreifend verlebendigen lässt, bleibt sie stets ein Unendliches an Dunklem, Nicht-Gelebtem, Nicht-Lebbarem, Schwerem, Finsterem und Ungeborenem. Der größte Tod des Menschen liegt »vor« seiner Geburt – und er bleibt da für alle Zeiten, das übersehen viele »Lebensphilosophen«, auch M. Henry. Oder doch nicht für alle Zeiten? Denn hier wie nirgends drängt sich die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und überhaupt aller geistigen Geschöpfe auf: Ausgeliefert an dieses innere grenzenlose »Nichts«, das aus eigener Kraft nicht ins volle, aU lichte Sein verwandelt werden kann, ist der Mensch auf einen Helfer angewiesen, der diese »dunkle wirre Nacht des Wahnsinns« beendet, die offene Wunde schließt und das »tonnenschwere« schwarze Granitgewicht dieses Abgrundes gleichsam abhängt. Es liegt auf der Hand, dass nur ein real unendliches Wesen diesen pU-Abgrund durchhellen, ins aU heben und damit die Sinnlosigkeit der nie ankommenden, »schlechten« Endlosigkeit, unser »Sisyphos-Erbe«, überwinden kann. Dieses unendliche Wesen ist Gott, und dieser Gott kann und soll zum sättigenden Grund im menschlichen Abgrund werden, und das heißt: Er, Gott, ist »mein« wahres, weil erfüllendes Selbst, jene Speise, die sättigt, das Wasser des Lebens, das Kraut der Unsterblichkeit – nicht ich, nicht das menschliche Du, nicht die Welt, nicht das Wir der Gruppe. Darum nach Meister Eckhart die Gottgeburt im Seelengrund. Dies ist die Sachlage, von der einen Seite betrachtet. Von der anderen aus gesehen, bedeutet dies, dass der Mensch, solange er nicht gotterfüllt und damit seinsberuhigt ist, in seinem Wesensgrunde ein leidensvolles und elendes Geschöpf ist, bedeutet weiter, dass er genötigt und getrieben ist, sich aus dem unerschöpflichen Abgrund seiner selbst heraus immer wieder neu zu erfinden, sich mit seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu konfrontieren, sich zu erproben, sich kennenzulernen im Guten wie im Fragwürdigen, um gleichsam immerfort von vorne zu beginnen. Was wird der werdende Geist da über sich erfahren müssen, sowohl an Faszinierendem als auch an Erschreckendem? Und all das immer wieder neu und mühsam anzunehmen, zu verwandeln und zu integrieren, aufgerufen sein? Möglichkeiten, Kräfte, Regungen, Wünsche, Sehnsüchte, Neigungen, Ideen, Pläne, Hoffnungen, Visionen, Aufgaben, Aufträge, Anmutun598 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Die Gewährung destruktiven, »ungerechtfertigten« Leidens und ihr Sinn
gen, Zusprüche und Pflichten – ein Heer von Anforderungen und Herausforderungen: »Legion«, wie es in der Bibel tiefsinnig heißt. Denn Sein ist immer Anspruch und Zumutung, jedenfalls für den Menschen, zumal im Fall, das Sein steigt aus ihm selbst. Damit wird der Sinn der Freigelassenheit des geschöpflichen Geistes offenkundig, der mit der folgenden Frage zum Vorschein kommt: Würde es nicht eine ungeheuerliche Monstrosität darstellen, wenn dieser pU-Abgrund immer verschlossen, schlafend, immer nur potential bliebe und nie voll aktualisiert würde? Wenn das Geschöpf ihn nicht ergriffe und ihm mit Eifer und Engagement, mit Wagemut und Zuversicht entgegenträte? Nein, das will Gott nicht. Gott will im Gegenteil, dass alles Dunkle ins Licht trete, dass nichts unter dem berühmten Scheffel bleibe, er will, dass dies nicht nur passiv geschehe, sondern vom Geschöpf selbst, so gut und so weit es kann, in Freiheit, Eigenverantwortung, in Eifer und Zuversicht geleistet werde. Und deshalb überlässt Gott der Menschheit soviel und lässt das denkbar Schlimmste zu, damit die Seinswahrheit dieses geschöpflichen Abgrundes offenbar werde. Denn dieser Abgrund birgt nicht nur das Gilgamensch-Epos, Platons Dialoge, den Faust J. W. v. Goethes, die Pyramiden, die Kathedralen, das Wirken M. Gandhis und A. Schweitzers in sich, sondern auch Auschwitz und die Auslöschung der vorkolumbianischen Kulturen, den Kindesmissbrauch und die Sklaverei. Welcher Illusion bezüglich seiner selbst unterläge der Mensch, wenn dies im Verborgenen bliebe? Gott ist die Wahrheit (griechisch aletheia: Unverborgenheit) und will die Wahrheit aller Menschen, und zwar in all ihrer Größe und Schrecklichkeit. Er will aber auch das gewaltige übernatürliche Schöpfertum seiner Geschöpfe bekannt machen, die Gottebenbildlichkeit des Menschen, und dafür ist er bereit, den Preis des düsteren Schöpfertums zu zahlen, das im Menschen steckt und von dem lichten Schöpfertum nicht zu trennen ist. 58 Nicht der oberflächliche Erscheinungs-Schein der Welt ist ihr letzter Sinn, sondern ihr Abgrund, ihre Tiefe, ihr Rühren an die Unendlichkeit im Grunde. Dorthin zu schauen, zwingt die dramatische und so bittere Geschichte der Menschheit, diese gewaltige Geburtshelferin des werdenden Seins. Nicht darum geht es, dass eine Hierauf spielt Jesus in Math. 13, 36–42 an, wenn er sagt, dass die Knechte das Unkraut nicht vor der Zeit ausreißen sollen, damit das ganze Weizenfeld nicht, solange es noch im Wachsen begriffen ist, Schaden nehme. F. Dostojewskij gestaltete im »karamsowschen Wesen« dieses Doppelsein mit all seiner Zwielichtigkeit.
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Gott und das Leiden
Kulturleistung, ein Werk, ein Mensch und eine Kultur so lange wie möglich in dieser vergänglichen Welt Bestand haben, sondern darum, dass soviel wie möglich geboren werde und dass das, was geboren wird, immer reicher, tiefer und reiner sei, als ein Zeichen des göttlichen Seins, selbst wenn es kurze Zeit später wie z. B. ein neugeborenes Kind von der Erde genommen wird. Nicht um endlose Dauer und Selbsterhaltung des Menschengeschlechtes geht es bzw. höchstens auch, sondern um das Aufblitzen der göttlichen Urquellen und Urstrahlen im vergänglichen Sein, damit dieses in jenes umgebildet und erhoben werde, ähnlich dem Aufblitzen der ersten morgendlichen Sonnenstrahlen an der Spitze einer ägyptischen Pyramide. Dabei kann es nicht genügen, dass die Wertstrahlungen des Urseins, wie F. Nietzsche und viele andere meinten, nur in einer Elite bzw. in einer Geistesaristokratie aufleuchten, sondern alle Menschen erreichen und im Sinne des Bildungskonzeptes der deutschen Klassik und Romantik – selbstverständlich weiterentwickelt für heutige und künftige Verhältnisse – in allen Menschen leibhaftig werden. 59
6.12. Leiden als Achtung der fehlbaren Freiheit durch Gott: Warum erschafft Gott überhaupt frei-fehlbare Wesen? Seine Mitverantwortung für das Übel und das Böse in der Welt Wie sollte Gott das Mitschöpfertum des Menschen uneingeschränkt freigeben, wenn er es nicht achten würde? Achten kann er es nur, wenn er die Freiheit achtet, gleichsam als den Grundwert des personalen Seins. Ohne Achtung fehlt die Basis für alle Begegnung, Beziehung, Kommunikation und Zusammenwirkung, sei es zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch, sei es zwischen dem Menschen und den nichtmenschlichen Geschöpfen. Da geschöpfliche Freiheit nicht unfehlbar ist, muss ihre Achtung ihre Fehlbarkeit miteinbeziehen. Wohl hätte Gott freie Wesen durch Vorauswahl schaffen können, von denen er wusste, dass sie nicht fehlen würden, im christlichen Raum sind das z. B. Jesus, insofern er ganz Mensch ist, und Maria, aber sein Herz ist so weit, dass er auch Wesen Vgl. zur Idee der Bildung als eigenständiges, vor allem im humanistischen Deutschland Goethes entwickeltes Mensch-, Kultur- und Wertekonzept G. Hillard (1961, 112–123).
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erschuf, von denen er wusste, dass sie fehlen und dass sie sich entweder vorläufig oder endgültig von ihm abwenden würden. An diesem Punkt wird Gott mitverantwortlich für das Schlechte, Üble und Böse in der Welt, nicht dadurch, dass er es selbst tut, auch nicht dadurch, dass er es selbst direkt will, was unmöglich ist, sondern dadurch, dass er Geschöpfe erschafft, gut erschafft, von denen er weiß, dass sie die Freiheit unbesonnen oder bewusst böswillig gebrauchen. Warum er dies tut, wurde bereits mehrfach beantwortet; es handelt sich um ein Bündel von Gründen. Unreife, zu Missgriff und Verfehlung neigende Freiheit ist aufgerufen, aus eigener Entscheidung und in eigenem Einsatz unter Mithilfe der Natur, der Mitmenschen und Gottes reif zu werden: Sie soll sich entwickeln und sich aus eigener Initiative und in kommunikativer Auseinandersetzung mit anderer Freiheit erproben. Dadurch wird der Andere zum konstitutiven Moment der eigenen und vollkommeneren Freiheit, auch dann, wenn dies durch Auseinandersetzung, Konflikt, Kampf und Verletzung bzw. durch Achtsamkeit, Rücksichtnahme, Empathie, Hilfe und Hingabe hindurchgeht. Eine solche Erziehung zur Freiheit ist nichts anderes als ein Drama, und daher ist nicht nur in der menschlichen Kunst das Drama die umfassendste, tiefste, reichste und lebendigste Kunstgattung, sondern auch in der Welt der passendste, weil weiteste, dynamischste, lebendigste und tiefste Rahmen des Weltgeschehens. 60 Den Abschluss des Dramas bildet jedoch nicht wieder ein Drama, sondern bilden, wie die großen Dichter des Dramas lehrten, die Lösung, Erlösung, die Ruhe und das Aufgehen des Endlichen im Unendlichen, die Hingabe des Geschöpfes an die größere Ordnung, an das göttliche Gesetz und der Sieg des absolut Wertvollen über das Wertwidrige (Tragödie) und das Wertmangelhafte (Komödie). Am Ende reift die geschöpfliche Freiheit nicht nur zu sich selbst und zur Freiheit des Anderen, sondern zur Urfreiheit, in die sie frei eingeht, um sich dort zur letzten Freiheit zu erheben oder besser zur letzten Freiheit erheben zu lassen. Denn den pU-Abgrund der Geschöpflichkeit kann nur die voll aktuale Seinskraft und Seinsfülle der Gottheit durchdringen, ganz frei machen und von der inneren Gebundenheit, Dunkelheit, Schwere und Unverfügbarkeit erlösen (vgl. S. Weil: »Schwerkraft und Gnade«). Weder gibt es eine Seinsform noch eine Denk- noch eine Kunstform, die diesen Übergang, diese TransformaVgl. zum Wesen des Dramas die Kunstphilosophie B. v. Brandensteins im 5. Bd. seiner »Grundlegung der Philosophie« (1968, 220–237).
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tion und Metamorphose wahrer und umfassender darstellt als das Drama. Insofern sah G. W. F. Hegel hellsichtig in das Weltgeschehen hinein, wenn er es dialektisch, mithin dramatisch deutete, nur hatte er Ablauf und Akteure nicht richtig bestimmt. Weder geschieht dieses Drama ausschließlich dialektisch noch mit Notwendigkeit und auch nicht mittels eines substanzialen Weltgeistes, von dem die Menschen nur »Momente« sind. 61
6.13. Leiden als Achtung der kosmischen Ordnung durch Gott und damit der Ermöglichung menschlicher Freiheit Es ist schwer zu bestimmen, wodurch der Mensch mehr Unglück, Not und Leid erfährt – durch sich selbst, durch seine Mitmenschen oder durch die Natur. Da die traditionellen Religionen entweder Gott und Natur gleichsetzen oder die Natur als direktes Wirkgeschehen der Gottheit deuten, geraten sie in ein nicht auflösbares Dilemma: Warum richtet Gott die Welt so ein, dass empfindsame Wesen darin so leiden müssen? Wären Gott und Natur identisch bzw. die Natur das unmittelbare Werk Gottes, stellte der Kosmos eine Monstrosität dar. Wie bereits erkannt, ist diese Betrachtung zu vordergründig. Gewiss ist, wie im Abschnitt II. gezeigt wurde, dass Gott mit der Natur nicht identisch ist, und sehr wahrscheinlich ist, dass er die Naturprozesse nicht selbst direkt bewirkt, vielmehr geistige Wesen, mit physischer Wirkmacht ausgerüstet, das Naturgeschehen gemäß dem transzendenten Kausalprinzip verursachen. 62 Da es sich bei diesen Naturgeistkräften zwar um gewaltige, mächtige, geistig und sittlich sehr hohe, aber nichtsdestotrotz erschaffene und einseitige Wesen handelt, müssen sich auch sie erst finden und ihre Möglichkeiten zu realisieren lernen. Dabei wird ihr Wirken immer bestimmter, regelAllerdings reicht diese Einsicht in die fundamentale Rolle der geschöpflichen Freiheit für die Erklärung von Üblem und Bösem in der Welt nicht aus, wie K. Rahner (1980, 26 ff.) betont, aber es bildet einen wesentlichen Teil seiner »Rechtfertigung«. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass Freiheit zwar die Bedingung der Möglichkeit von Bösem ist, aber nicht notwendig zu Bösem führt. Deshalb ist das Böse keineswegs, wie irrtümlicherweise J. Bernhart (1917, 39) meint, so notwendig in der Welt wie das Gute oder sogar die notwendige Voraussetzung des Guten (»Das Böse ist die Materie des Guten«, 1917, 41). Stimmte dies, wäre seine Überwindung weder anzustreben noch möglich noch durch den sittlichen Kampf und die religiöse Erlösung zu erreichen. 62 Siehe Abschnitt III. 61
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Leiden als Achtung der kosmischen Ordnung durch Gott
hafter und gesetzmäßiger, schlussendlich – als Naturgesetze – mathematisch klar durchgebildet und mit Energieaufwand stabilisiert. Denn nur unter dieser Bedingung kann ein Aufbau der Naturordnung, der zeitlich erfolgt, erreicht werden: Neues, noch Unsicheres baut auf Altes, Zuverlässiges, bis sich jenes Neue, selbst wieder alt, sicher und zuverlässig geworden, als Grundlage für einen weiteren Aufbau eignet. So in der Natur und so in der Kultur. Wenn dem so ist, dann erhellt, dass Gott die nichtmenschlichen Zweitursachen freilässt und ihre Wirkungen und Werke, ihre Eigenarten und Gesetzlichkeiten achtet. Es ist sein Wille, dass jedes Geschöpf werde, wozu es berufen und befähigt ist, und er will das, wenn möglich, in weitestgehender Reifung. Reife und Gesetzmäßigkeit gehören daher eng zusammen, diese ist der Ausdruck jener, auch in der Menschenwelt. Es wäre darum widersinnig, wenn Gott willkürlich die Naturgesetze aufhöbe, etwa um ein menschliches Unglück, z. B. einen Flugzeugabsturz, zu verhindern. Außerdem könnte sich ohne die Geltung und Zuverlässigkeit der Naturgesetze die menschliche Freiheit nicht entfalten, da sie auf jenen aufbaut und sie weiterführt. Hinter der unerbittlichen »Härte«, manchmal »Grausamkeit« des Naturgesetzes steht letztlich die Achtung der Freiheit und ihrer Selbstrealisation, nur nicht des menschlichen, sondern des außermenschlichen Geistes. Da die Naturgesetze primär nicht um des Menschen willen gemacht sind, sondern Ausdruck der vormenschlichen Geistigkeit und ihres Wirkens in der Natur sind, kann es zu Kollisionen mit den anders gearteten, oft sehr launischen, unreifen und willkürlichen Absichten des Menschen und so zu Disharmonie, Unglück und Leid kommen. Die Harmonie des Kosmos ist zwar groß, aber nicht durchgängig, sondern weist allerlei Spannungen, Schwankungen, Unschärfen, Schwachstellen, Brüche und Risse auf. Vom Menschen her ist darum ein Höchstmaß an Bewusstheit, Besonnenheit und Achtsamkeit, Umsicht, Vorsicht und Voraussicht gefordert, um sich harmonisch in die Wirklichkeit einzufügen und das Eigene darin zu realisieren. Dazu bedarf es seiner Gesundheit und seiner Talente, seiner Phantasie und praktischen Intelligenz, seiner Vorausschau und Kreativität – und also seiner Selbstverwirklichung im Rahmen des Weltgeschehens. Und genau in dieser Weise erfüllt der Mensch seine Rolle darin, eine große und hohe Rolle, nämlich die der personalen und intersubjektiven Vergeistigung und Verlebendigung der unbelebten und belebten Materie bzw. die Ich-Wir-Geburt in der materiellen 603 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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Welt. Diese Rolle ist einerseits ein »Geschenk« an die untergeistige irdische Welt, andererseits eine Bürde, die der Mensch bewusst auf sich nehmen soll. Tut er dies, wird das Opfer, das Gott der Welt mit dem Menschen erbringt, zum weltheiligenden Selbstopfer. Der Kosmos ist nicht fertig, sondern die Menschen sind berufen, an seiner Fertigstellung mitzuwirken. Gott will Partner, nicht Roboter in seiner Schöpfung, vielmehr überlässt er das kosmische Geschehen weitgehend seinen Zweitursachen und lenkt das Geschehen nur indirekt dadurch, dass er sie an bestimmte Raumzeitpunkte stellt und mit bestimmten Fähigkeiten ausstattet. Wie sie mit sich und miteinander umgehen, überlässt er ihnen. Und nur in Ausnahmen, den »Wundern«, greift er in ihr kosmisches Wechselwirken und Wechselgespräch direkt ein. Und selbst dann, wenn es zu Missverständnissen, Konflikten und Kämpfen, gar zu mörderischen Vernichtungskriegen kommt, greift er im Allgemeinen nicht direkt – sehr oft aber indirekt! – ein, wogegen er auf der inneren, der seelisch-geistigen Ebene weitaus häufiger und anhaltender wirkt, wenn auch geheimnisvoller, verborgener, allerdings ohne Zwang, Druck und Verführung, sondern in konsequenter Rücksichtnahme auf die Dispositionen und Intentionen des Geschöpfes, etwa durch unaufdringliche Haltgebung, Kräftigung und Belebung, durch warme Ermutigung und stillen Anruf, durch ruhigen Zuspruch, Trost und freundliche Erhellung, was vor allem dann der Fall ist, wenn sich das Geschöpf ihm frei und von Herzen zuwendet. Die Shoah hat Gott nicht verhindert, aber er verhinderte, dass sie ihr Ziel erreichte, und er hat, wie viele Betroffene bezeugen, im Innersten vieler Seelen Beistand geleistet, oft mehr, als die Opfer des Terrors es selbst wissen und fühlen konnten. 63
6.14. Leiden als Achtung der leidvollen Handlungskonsequenzen für Selbsterkenntnis und Selbstkorrektur Leiden ist ein Realzeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist und verändert werden muss. Wo das Problem sitzt, liegt oft nicht auf der Vgl. z. B. das Zeugnis von G. Fischer (1977: »Ein Brief Christi«, Greta Andrén, Brockhaus, Wuppertal). Indirekt wirkt Gott dagegen sehr oft, nicht selten mit dem, was man »Zufall« nennt. So fand der U-Bootkrieg im Zweiten Weltkrieg dadurch sein rätselhaftes und für die Deutschen niederschmetterndes Ende, dass die Engländer zufällig den Kommunikationscode der Nazis, die Enigma-Maschine, erbeuteten und damit allen Manövern der Deutschen zuvorkamen und deren U-Boote ausschalteten.
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Leiden als Achtung der leidvollen Handlungskonsequenzen
Hand und muss erforscht werden. Doch da an jedem Leiden der Leidende beteiligt ist, zumindest dadurch, dass er eine Disharmonie wahrnimmt, als Störung bewertet und sich davon befreien will, ist die Frage, ob und inwiefern der Betroffene Mitursache oder wenigstens Mitgestalter seines Leidens ist, unumgänglich. Diese Fragestellung wird virulenter, wenn der Betroffene selbst die Hauptursache seines Leidens und dieses selbst nichts als die Folge seines Verhaltens, Wertens, Denkens, Fühlens und Handelns ist. Hier wird das Leiden zum Spiegel für eigene Fehlhaltungen, dysfunktionale Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsmuster. Das Leiden sagt dann: »Schau hin, wer du bist und was du tust, denn du schädigst dich selbst.« Da die Welt ein konsequenter Wirkungszusammenhang ist, gibt es kein Leiden, das beziehungslos vom Himmel fällt. Immer ist es die Folge eines meist komplexen Wirkgeschehens, in dem Störungsfaktoren beteiligt sind, die im Blick auf den Betroffenen äußere oder/und innere Störfaktoren sein können. Aus dieser Einsicht folgt, dass es fatal ist, Leiden, ohne ihre Ätiologie erkannt zu haben, zu beseitigen. Vor allem gilt dies für Medizin und Psychotherapie, doch nicht weniger für Politik, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft und Religion. Bloßes »Wegmachen« von Leid beschwört die Gefahr herauf, dass es wiederkommt, vielleicht an anderer Stelle – man spricht von Symptomverschiebung –, aber nicht wirklich behoben ist. Von daher erweist sich der Wunsch vieler Menschen, Gott möge eingreifen und Leiden verhindern oder beseitigen, als realitätsfern und infantil-wunschgesteuert. Nicht nur, dass er dann alle Gesetzmäßigkeiten des Lebens, die Naturgesetze und vor allem die praktischen, psychologischen, sozialen und ethischen Gesetze durchgängig verletzen müsste, vielmehr würde er alle Prozesse der Einsichtsgewinnung in Ätiologie und Genese des Leids verunmöglichen. Lerneffekte und Besserung wären unmöglich, und vor allem die Täter würden sich ihrer Schuld nicht bewusst. Denn sehr viele Leiden entstehen unreflektiert und unbewusst, so dass ihr Zusammenhang mit Fehleinstellungen dunkel bliebe, wenn Gott diesen Zusammenhang unterbräche. Umgekehrt bedeutet dies, dass Leiden erweckt, wachruft, das Bewusstsein erweitert und dazu drängt, Zusammenhänge, individual- wie kollektivgeschichtliche, zu durchschauen. Genau das ist die entscheidende Dynamik des Leidens: Es erhellt Leben, Geschichte und Welt. Auf diesem Zusammenhang beruht eine der bedeutendsten Leidenstheorien, die Karmatheorie: Zwar ist sie, wie gesehen, im Kern 605 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
unhaltbar, da es weder eine Seelenwanderung gibt, noch der Kausalzusammenhang deterministischer Art ist. 64 Ihre Wahrheit besteht in der mehr gefühlten als logisch begründeten Erkenntnis, dass alles Fehlverhalten Folgen hat, und zwar leidvolle Folgen, die nur durch Selbst- und Welterkenntnis, durch Reue und Sühne aufgehoben, gemildert oder wiedergutgemacht werden können. Würde Gott die Leiden der Welt verhindern, verhinderte er die Möglichkeit zu Selbsterkenntnis und Welterkenntnis, zu Selbstkorrektur und Weltkorrektur. 65 Das will er nicht, im Gegenteil will er, dass sich die Menschen an der Veränderung und Verbesserung der Welt und ihrer selbst eigenverantwortlich, willig und besonnen beteiligen. Wie gerade die Psychotherapie lehrt, eignet sich dazu nichts so sehr wie der Druck des Leidens. 66
6.15. Leiden als Erweckung und Lehre Auch wenn das Leiden, je länger es dauert, desto mehr abzustumpfen droht, so schreckt es meist im Anfang auf. Wo es die Menschen überkommt oder unangekündigt überrascht, macht es wach und reißt aus dem Dahinleben heraus. 67 Damit rührt das Leiden an einen fundamentalen Wesenszusammenhang des Menschen: Er ist immer zugleich bewusst und unbewusst, aktual und potential, entfaltet und unentfaltet, aber stets weiter entfaltbar. Indem das Leiden dem Menschen einen Widerstand entgegensetzt, ihn hemmt, hindert, anstößt oder verletzt, wirft es ihn auf sich selbst zurück und erzwingt eine unfreiwillige Reflexion. Der Mensch wird sich im Leiden zugleich seiner selbst und seiner Fraglichkeit bewusst. »Ich bin – aber wer bin ich? Ich lebe – aber wie? Ich leide – aber warum?« Damit rüttelt das Leiden an seinem dunklen, noch unbewusst-unentfalteten Seinsbestand und nötigt zur Erweiterung und Vertiefung des Selbstbewusstseins. Der individuale, gesellschaftliche und – vor allem in dieser Arbeit freigelegte – universale Abgrund dunklen Seins, der für gewöhnlich still unter dem Alltagsbewusstsein schlummert oder
Siehe Kap. 3.11. Als Beispiel für eine solche großangelegte psychohistorische Analyse vgl. die Romane von Ursula Krechel u. v. a. 66 Vgl. B. Wandruszka (2004). 67 Vgl. zum Phänomen »Dahinleben« B. v. Brandenstein (1948, 7–52). 64 65
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Leiden als Erweckung und Lehre
aktiv verdrängt ist, kommt in Bewegung und erzeugt Unruhe, Zweifel und Fragen. Bisher Unbekanntes will bekannt, bisher Fremdes oder zwar Altbekanntes, aber Verdrängtes will eigen werden – und dagegen wehrt sich das bisherige Bewusstsein, vor allem dann, wenn das, was da »hochkommt«, mit dem bekannten Selbstbild nicht übereinstimmt und von Scham und Pein begleitet wird. 68 Leiden wird hier zum Geburtshelfer des Daseins, der Person, der Gesellschaft, der Menschheit, also überhaupt des pU-Seins, des Neuen oder des verdrängten Alten, was umgekehrt heißt, dass ohne Leid vieles an Sein im Menschen nicht zum Vorschein käme und ungeboren bliebe. Das kann unmöglich in der Absicht der Schöpfung und Gottes liegen, der der Allbewusste selbst ist und will, dass nichts »unter dem Scheffel« bleibe, sondern alles ans Sonnenlicht gelange. Geburt jedoch ist selten leicht und einfach, sondern fast immer beunruhigend, schmerzlich, beschämend, überraschend und will integriert werden. Das ist das Eine; das Andere ist, dass alles Leid einen Hinweis darauf gibt, dass etwas nicht in Ordnung ist und neu geordnet werden muss. Leid ist ein Lehrmeister und verlangt die Analyse der Umstände und Bedingungen einer Lebensführung, eines Lebensstandpunktes und einer Lebenssituation. Damit erweckt es die kritischen geistigen Kräfte, die Aufmerksamkeit, die Beobachtung, die Untersuchung, das Durchdenken und Verstehen. Wer leidet, versteht noch nicht ganz bzw. weiß nicht, wie es überwinden, und also soll er sich bemühen, mehr Licht in die Existenz zu bringen, in seine und die der anderen. Auch wenn die Gottheit nicht, wie der naiv-religiöse Mensch meint, das Leiden in jedem Fall als Weckruf schickt, so nutzt sie es doch in ihrer Allweisheit und verleiht ihm so einen tiefen Seinssinn. Selbst das grausamste und ungerechteste Leid kann zum Aufschließer tiefster Seinsregionen werden. Das macht Leiden nicht gut, aber es gewinnt ihm etwas ab. Im Letzten lehrt es, dass der Mensch als Kreatur aus sich allein nichts ist und dass er nur am Sein Anteil hat, hier in der Welt nur auf Zeit, so dass alles darauf ankommt, diese Teilhabe zu läutern, zu veredeln, zu vertiefen und zu erweitern. So kann das Leid den Boden bereiten für die Einsicht und Bereitschaft, sich dem absoluten Sein und seinen als Wertqualitäten erlebten »Ausstrahlungen« zu öffnen. Die Aufnahme dieses Seins ist Man denke etwa an die massive Verleugnung der eigenen Beteiligung am Nazitum nach dem Zweiten Weltkrieg in allen gesellschaftlichen Schichten, besonders bei den Verantwortlichen und »Eliten«.
68
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Gott und das Leiden
es, die allein die nichtshafte Kreatürlichkeit »aufheben« kann im dreifach hegelischen Sinne von Beenden, Erhalten und Emporheben. Dann wird, wie es Meister Eckhart sah, die Gottheit in der Seele der Kreatur geboren.
6.16. Leiden als Prüfung Der Prozess der Gottesgeburt in der Seele kann eine Intensivierung erfahren: Nicht nur, dass die Menschen für das Freie, Gute, Rechte, Wahre, Schöne und Heilige erwachen; nicht nur, dass sie sich danach ausrichten und dafür einstehen; sondern mehr noch kann es nötig werden zu prüfen, ob sie – wie Abraham – zur Einhaltung ihrer unbedingten Treue bereit sind, Opfer zu bringen, also niedrigere für höhere Wertgüter aufzugeben. Das lässt sich rein theoretisch oder gesinnungsmäßig nicht klären, das offenbaren erst der harte Lebenskampf, der Konflikt, die Not und das Leid. Hier wird das Leiden zur Prüfung, und die Geschichte lehrt im Kleinen wie im Großen – etwa am wiederholten Abfall des Volkes Israel –, dass die Menschen ihre höheren Wertüberzeugungen verraten, wenn sie etwas von ihren Interessen, Vorteilen, Wünschen und Genüssen aufgeben sollen. Wie oft erlebt man, dass »spirituelle« Menschen die Hingabe ihres kleinen Ego lehren, aber, wenn sie selbst an die Reihe kommen, wie Hyänen wüten und sich um den Erhalt ihres Ego schlagen, häufig in der Form des Rechthabenwollens und verbohrten Besserwissens. Hier wird das Leid zum Enthüller, der desillusioniert und den Schleier des Selbstbetruges wegreißt. Vor allem aber geht es um die Frage, woran das Herz des Menschen im Letzten hängt. Denn selbst diejenigen, die theoretisch behaupten, es gäbe nichts Letztes, können nur dadurch leben, dass sie sich für letzte – oft allerdings wechselnde – Wertmaßstäbe entscheiden. Ein solcher letzter Wertmaßstab ist weithin der eigene Vorteil, das Ego in diesem egoistisch-selbstischen und bald auch rücksichtslosen Sinne. Stimmt dies, ist es nur zu berechtigt, den Absolutheitsanspruch solch eines Wertes zu prüfen, um offenbar zu machen, ob er hält, was er verspricht. Er hält nicht: Denn nichts Relatives, das verabsolutiert wird, kann eine absolute Last tragen. Der tragische Zusammenbruch ist die notwendige und unumgängliche Folge. Somit erhellt, dass das Leid die Wahrheit eines Menschen offenbart: Wie hat er sich entschieden? Wonach richtet er sein Leben aus? 608 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Anfechtungs- und Versuchungsleid
Inwieweit wird er seinem Potential gerecht? Hat er sich in Übereinstimmung mit den sittlichen Prinzipien des Lebens gesetzt oder nicht? Ist sein Leben geordnet und wird seinem einzigartigen Anruf gerecht? Wo will er letztlich stehen? Insofern das Leben unentwegt eine Herausforderung ist, ist es auch eine Prüfung, die bestenfalls für Mußestunden ausgesetzt werden kann. Das aber dauert nicht an, und Herausforderung und Prüfung kehren zurück. Gott fordert und prüft durch das Leid – »auf Herz und Nieren«, wie es in der Schrift, Psalm 7,10 heißt –, weil er das Mehr-an-Sein will, die unabschließbare Seinsgeburt, die sich erst in der Gottgeburt erfüllt und endet. Wen Gott prüft, den liebt er – nicht nur so, wie er gerade jetzt ist, sondern so, wie er sein kann, reicher, reiner, herrlicher. Es wäre ein seltsamer Gott, der weniger von seinen Geschöpfen wollte.
6.17. Das Anfechtungs- und Versuchungsleid Da im Begriff der Versuchung ein eminent religiöser Sinn mitschwingt, klingt er für modern-»aufgeklärte« Ohren fremd. Schält man seinen anthropologisch-sittlichen Gehalt heraus, erweist sich sein Sinn als so universal, dass er in allen Kulturen und zu allen Zeiten anzutreffen ist. Trotzdem ist es gut, zunächst den ursprünglichen, sprich religiösen Sinn des Begriffes zu bedenken, um dann die Analyse weiterzutreiben. In prägnanter Form sagt Benedikt XVI. »Der Kern aller Versuchung […] ist das Beiseiteschieben Gottes, der neben allem vordringlich Erscheinenden unseres Lebens als zweitrangig, wenn nicht überflüssig und störend empfunden wird.« 69
Allerdings gilt dies nur für jene Versuchung, welcher der ihr ausgesetzte Mensch nachgibt bzw. nachzugeben bereit ist. Wer hier versucht, bleibt offen, denn wie die Bibel lehrt, kann nicht nur der »Satan«, sondern auch Gott versuchen. Anders wäre die Bitte im »Vaterunser« – »Und führe uns nicht in Versuchung« – unverständlich. Um klarer zu fassen, was die innere Wesensstruktur der Versuchung und ihres entsprechenden Leides ist, muss nach den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit dieses Phänomens gefragt werden. Was findet sich da? 69
Siehe J. Ratzinger (2007, 57).
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Gott und das Leiden
Versucht werden kann nur ein Wesen, das Wertunterschiede zu machen und sich zwischen ihnen frei zu entscheiden imstande ist. Daher können weder ein Tier (auch ein hochstehendes) noch ein Kleinkind versucht werden, es fehlen ihnen jene zwei Voraussetzungen, die freie Wahl- und die wertende Urteilsfähigkeit. Damit erhellt, dass ein »versuchungsfähiges« Wesen, weil es abwägen und entscheiden kann, auf sich reflektieren können muss. Abwägen kann ein solches bewusstes Wesen nur, wenn es über ein Wirklichkeitsbild verfügt, innerhalb dessen es Wertunterschiede gibt, also eine mehr oder weniger deutliche Wert- und Wirklichkeitshierarchie. Bei diesen Werten handelt es sich primär zwar um positive Werte, die einander gegenüberstehen, aber nicht um gleichwertige, sondern um verschieden wichtige Wertwirklichkeiten. Solchen Wertwirklichkeiten müssen, sollen sie nicht wahnhafter Natur sein, echte Realitäten – leibliche, psychische, soziale und geistige – entsprechen, wobei es für menschliche Belange zunächst sekundär ist, mit welchen sittlichen und metaphysischen Kriterien die Differenzen der Werte begründet werden. Soviel zu den Voraussetzungen, ohne die eine Versuchung nicht eintreten kann. Was aber ist sie selbst und was ereignet sich in ihr? Jede Versuchungssituation stellt eine Herausforderung dar, die mit Unbedingtheit eine Stellungnahme, und zwar eine sittliche verlangt. Darüber hinaus eignet dieser Herausforderung die Besonderheit, dass die weniger bedeutsame bzw. weniger wertvolle Wertwirklichkeit an den Wertträger, eben an die Person, mit dem Anspruch herantritt, einer höheren Wertwirklichkeit vorgezogen zu werden. 70 Dies tut sie, indem sie das entsprechende Wunsch- und Begierdeleben der Person reizt, was zu einem inneren Konflikt führt. Solange die Versuchung nur Versuchung ist und ihr Anspruch nicht Realität wurde, befindet sich ihr Ausgang in der Schwebe. Der wertwidrige Vorzug droht nur, der innere Konflikt hebt an, aber die Versuchung kann noch abgewendet werden. Da diese Drohung mit Anspruch und Macht auftritt und im Versuchten – neben der lustvollen Zustimmung – auf einen gewissen Während der Wagnersche Amfortas dieser Versuchung dadurch erliegt, dass er eine niedrigere Wertwirklichkeit (den Sexus) einer höheren Wertwirklichkeit (seiner Würde als Gralskönig und der Agape) vorzieht, bewährt sich der Wagnersche Parsifal, weil er der Versuchung durch Kundry widersteht. Genau dadurch aber versteht er das Geschick Amfortas von innen heraus und kann ihn erlösen. Parsifal ist zudem ein lebendiges Symbol für den – in diesem Falle guten – pU Abgrund des Menschen, aus dessen Tiefe heraus aus dem tumben Tor eine welthellsichtige Führergestalt wird.
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Das Anfechtungs- und Versuchungsleid
Widerstand stößt, wird eine spannungsvolle Konflikt– und Kampfsituation erzeugt. Somit hat man es mit einem Werte- und Wunschkonflikt zu tun, und zwar einem solchen, der keiner sein dürfte. Denn da die Werteverteilung feststeht, sollte sie nicht mehr disponibel sein. Aufgrund irgendeines Momentes gelingt es dem niedrigeren Wert aber, das Wertegefälle infrage zu stellen und, wenn der Versuchte nachgibt, den Vorzug umzukehren. Wie ist das möglich? Das kann dadurch bedingt sein, dass der Wertträger sich seiner Werteordnung nicht sicher ist und an der Wertehierarchie zweifelt. Es kann auch daran liegen, dass er zwar Bescheid weiß, aber einem objektiv zwar untergeordneten, subjektiv aber mächtigeren Moment nachzugeben bereit ist, z. B. einer günstigen Gelegenheit oder der Intensität oder der Dringlichkeit eines Bedürfnisses, einer Leidenschaft oder eines Wunsches. Wenn ein Mensch sich etwa zur Treue in der Partnerschaft entschieden hat und eindeutig dazu steht, nun aber in eine erotische Situation gerät, die ihn daran rütteln lässt, dann stellt sich diese typische Versuchungsdynamik ein: Die wenigstens subjektiv niedrigere Wertwirklichkeit sucht die höhere Wertwirklichkeit zu überwältigen. Was folgt? Zumindest ein Kampf und sehr oft, wenn ein Nachgeben einsetzt, das Leid. Denn da sich dieser Mensch bereits entschieden hatte, in diesem Falle jedoch halb unfreiwillig, halb freiwillig in eine Situation gerät, die ihn reizt und dazu verführt, jene Entscheidung zu untergraben, konstituiert sich die Wesensstruktur und Wesensdynamik des Leidens, wie sie ermittelt wurde: die dynamisch-dialektische Diskrepanz. Vermag der Betroffene nicht zu widerstehen, sondern gibt nach, lässt also die Versuchung der Werteumkehr zur Realität echter Wertwidrigkeit, gar Werteperversion werden, manövriert er sich in einen Konflikt, der mit innerer Zerrissenheit und Selbstschädigung bezahlt wird. Dennoch ist festzuhalten: Eine Versuchung ist eine Versuchung, noch keine Realisierung. Wenn ein Mensch versucht wird, heißt das nicht notwendig, dass er nachgibt. Somit muss die Definition von Benedikt XVI. modifiziert werden: Der Kern der Versuchung ist nicht das Beiseiteschieben Gottes, sondern nur dessen Möglichkeit, die allerdings nicht bloß gedanklich-abstrakter Natur ist, sondern mit Macht ihren Vorzug durchzusetzen sucht. So mag es – wie im Falle der Versuchungen Jesu im Neuen Testament, Matth. 4 – die leidfreie Versuchung geben, doch ohne inneren Kraftaufwand, ohne Widerstand und Kampf ist sie wohl nicht zu bestehen. Zum Leid wird sie, sobald der Versuchte trotz Gegenwehr 611 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
einbricht und überwältigt wird. Mit der Überwältigung stellt sich die Verzweiflung ein, während zuvor, solange der Kampf in der Schwebe ist, ein Gemisch von Lust und Angst vorherrscht. Wo die Versuchung obsiegt, obsiegt die niedrigere Wirklichkeit, und das ist, tiefer gesehen, eine Katastrophe, die, wie erkannt, Adam und Eva widerfahren war. Sie geht immer mit dem Verlust an innerer Freiheit, Reinheit, Würde und Kraft einher: Eine Geistkraft ist an sich selbst gescheitert und hat ihre Geistigkeit verraten. Spätestens an dieser Stelle wird der religiöse und damit der letzte Sinn der Versuchung klar: Da Gott sowohl der höchste Wert als auch die höchste Wirklichkeit ist, muss eine Versuchung, die den Menschen von seinem Ursprung und Urhalt trennt, nichts weniger bedeuten als den Verlust des Seins und der Glückseligkeit überhaupt. Ihr hat Jesus widerstanden, nur die Menschen haben es nicht. Und da sie wissen, wie schwach sie sind bzw. durch ihre Gott-, Seins- und Wertuntreue geworden sind, haben sie aus vollem Herzen zu bitten, nicht in Versuchung geführt zu werden. Schon gefallen und dadurch angeschlagen, droht mit jeder Versuchung der erneute Fall, letztlich der Fall in Abgrund und Nichts. Dieser Fall kann, weil des Menschen Geist unvergänglich ist, endlos dauern, eine unvorstellbare Qual, die nur dann enden würde, wenn eine Umkehr einträte, die beides braucht: Wille und Gnade, Entscheidung und Hilfe, Mut und Vertrauen. Warum wird der Mensch jedoch versucht? In vielen Fällen wird er nicht versucht, sondern versucht sich selbst – er spielt mit der Gefahr oder geht ein Risiko ein, wohlwissend, dass er erliegen wird. Das ist töricht und nicht selten ein Zeichen von Selbstüberschätzung. Dass er dann scheitert, ist nicht nur konsequent, sondern heilsam – die Torheit kann Weisheit, die Überhebung Demut werden. In anderen, nicht seltenen Fällen wird er tatsächlich versucht, was konkret immer eine Prüfung darauf darstellt, welcher Werteordnung er folgt und ob er die »Ordnung der Liebe« (ordre du coeur) achtet. Diese Herausforderung kommt dadurch zustande, dass der Mensch ohne Unterlass von einer dynamischen Fülle von Wertwirklichkeiten umgeben ist, die mit ihren Forderungen der Annahme und Verwirklichung an ihn herantreten und gleichsam um ihn »buhlen«: Alles, was ist, möchte mehr, mächtiger und dauerhafter werden, möchte im Menschen Platz nehmen und seinen Zuspruch erlangen. Das wiederum nötigt zu ständiger Wachsamkeit und Bereitschaft, zu Wertung, Würdigung und Stellungnahme mit dem Ziel, Schlechteres 612 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Leiden als Warnung und Bewahrung vor größerem Übel
und weniger Wertvolles als solches zu erkennen und nicht dem Besseren und Wertvolleren vorzuziehen, sondern eher zurückzuweisen. Diese Gefahr besteht deshalb in jedem Augenblick, weil das weniger Wertvolle offensichtlicher und leichter zu erreichen, plakativer, blendender, zunächst intensiver und mächtiger, also insgesamt »attraktiver« und verführerischer ist. Denn alle Versuchung hat eine verführerische Gewalt, die nur ab dem Zeitpunkt wirksam werden konnte, wo der Mensch aus der unmittelbaren Gottesgeborgenheit herausgefallen war und sich mit verschieden hohen bzw. niedrigen Wertwirklichkeiten konfrontiert sah, zwischen denen er sich entscheiden muss. Im Paradies der Gotteseinheit ist Versuchung zwar auch, wie das Schicksal von Adam und Eva zeigt, möglich, doch in dieser Welt und vor allem in diesem Leib mit seinen »wilden Mächten und Leidenschaften« ist der Mensch ständig Kräften ausgesetzt, die ihn ins Chaotische und Niedrige ziehen wollen, und das umso mehr, als das Niedrige häufiger, sichtbarer und leichter zu haben ist. Dagegen hat alles Wertvolle die Charakteristik der Perle: Es ist selten, verborgen, weit weg, schwer und meist nur unter Verzicht, Kampf und Leid zu gewinnen. So gesehen, ist die »Versuchung« ein Alltagsgeschehen, das die Menschen, wenn sie es positiv verstehen und sich erziehen lassen, reifen lässt. Da sie aber schwach sind, ist es trotzdem berechtigt, Versuchungen aus dem Weg zu gehen bzw. darum zu bitten, nicht versucht zu werden. Denn stets droht, weil die Menschen labil sind, die Überforderung. Solange es eine Werteordnung gibt, in die sich die Menschen bewusst und frei hineinstellen, solange sie nicht in Gott angekommen sind, wo alle Versuchbarkeit endet, solange kann die Versuchung nicht ausbleiben. Der letzte positive Sinn dieses »Kampfes mit dem Satan« ist darum, wach und reif zu werden für Erkenntnis und Befolgung der höchsten und letzten Wertansprüche, die entweder indirekt (über Konflikte und das Gewissen) oder direkt von Gott kommen. Tapferkeit und Reifung sind hier alles.
6.18. Leiden als Warnung und Bewahrung vor größerem Übel; Anmerkung zu A. Schopenhauer Der Mensch ist als pU-Wesen ein werdendes und zukunftsoffenes Lebewesen. Das heißt, dass er zukunftsblind ist – er kann nicht in die Zukunft hineinsehen, er kann sie nur ahnen bzw. mit Hilfe von Naturgesetzen und sonstigen Gesetzmäßigkeiten, sowie gestützt auf 613 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
eine Wahrscheinlichkeitsabschätzung, vorausberechnen. Was aber kann nicht alles in der verborgenen Zukunft drohen? Wenige Atheisten machen sich klar, was es bedeutete, wenn es keine Gottheit gäbe, die Herr über die Zukunft ist. Käme die Zukunft, wie die Atheisten wollen, wirklich nicht aus der Ewigkeit Gottes, sondern aus dem nichts, käme sie in Wahrheit überhaupt nicht, da aus und von nichts nichts werden kann. Die Zeit stockte und versiegte auf der Stelle. Wie aber stünde es, wenn die Zukunft zwar nicht aus nichts, jedoch aus einem rein kontingenten, zufälligen und sinnlosen Horizont hervorginge? Welchen Zufällen, welchem Schwanken und damit welchen Schrecken wären die Menschen ausgesetzt? Wohl ganz anderen als den jetzigen Schrecken, Naturkatastrophen und Unglücksfällen. So schauerlich die hiesige Welt ist, so sehr zeichnet sie sich durch eine gewaltige, wenn auch nur endliche Tragekraft aus. Ihre Kapazität, menschgemachtes Übel »wegzustecken«, beweisen gerade die technisch bedingten Katastrophen, z. B. die Ölpest im Golf von Mexiko, aber auch die Klimaerwärmung, die nun allerdings wohl an ihre Grenzen gerät. Letztere Beispiele können einen neuen Zusammenhang von Leben und Leid eröffnen, den nämlich, dass durch ein Leid ein anderes, größeres verhindert wird. So entsetzlich die Ölpest und die mit ihr verbundene Zerstörung von Natur und Menschenwelt sind, so ist klar, dass nur solch ein Ausmaß an Destruktivität die Menschen, wenn überhaupt, zur Besinnung bringt und Maß und Selbstbescheidung lehrt. Wie viele Bohrinseln gibt es heute nicht auf der Welt? Und wie viele sind aus Profitgier schlecht gesichert und geprüft? Zahllose. Und so könnte diese Katastrophe dazu dienen, dass entweder die gefährliche Ölgewinnung auf offener See beendet oder die Sicherungsmaßnahmen um ein Vielfaches gesteigert werden. Im Einzelleben erlebt man Analoges: Erst schweres Leid führt den Betroffenen zum Arzt und zur Einsicht, dass er etwas unternehmen muss, wenn es nicht noch schlimmer kommen soll. Wie sollte dies jedoch möglich sein, wenn das leidvolle Leben in einer tieferen Schicht nicht seinen Platz hätte und ins Leben eingeordnet wäre? Wenn es nicht immer schon Gegengewichte, Hilfskräfte, Auswege und Alternativen gäbe, die die Destruktivität des Leidens in Schach halten? Damit Leid und Übel das so fragile Leben nicht überwältigen, muss es ein großes Ressourcenpotential geben, aus dem Natur und Mensch ihr Überleben schöpfen. Und es gibt es. Dann aber besteht die Möglichkeit, dass selbst Leid und Übel eine 614 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Leiden als Warnung und Bewahrung vor größerem Übel
dienende Rolle übernehmen, nicht weil sie an sich gut wären, sondern weil nur unter ihrem Druck jene Gegenkräfte geweckt werden, etwa die Kräfte der Besinnung, Geduld, Nachsicht, des Verzichts, der Selbstbescheidung, des Muts und Engagements, der Vergebung und Verzeihung, mit deren Hilfe schlimmere Übel verhindert werden. Und da es Gott, wie gezeigt, gibt, weiß er darum, und er weiß nicht nur darum, sondern er arbeitet damit. Gott allein kann Übel und Leid so ordnen und im Weltprozess »stellen«, dass ihnen eine hilfreiche Funktion sowohl für den Einsatz für das gute Leben als auch für die Abwehr größeren Übels zufällt. Logischerweise können die Menschen das nicht überprüfen, da ein in der Zukunft verhindertes größeres Übel unzugänglich ist. Aber manchmal können sie es ahnen, z. B. in der Psychotherapie, wo nicht wenige Patienten sagen, und zwar mit tiefer Einsicht: »Wenn wir meine Leiden, Fehleinstellungen und früheren Verletzungen nicht durchgearbeitet und behoben hätten, dann wäre ich völlig abgestürzt.« Auch die große Geschichte lehrt diesen Zusammenhang und manchmal sehr drastisch: Wer hat sich noch nicht gefragt, warum A. Hitler die vielen, oft sehr gut geplanten Attentate überlebte? Warum die Welt seinen Wahnsinn bis zum bitteren Ende »auskosten« musste? Hätte Gott ihn nicht früher stoppen können, ja müssen? Er konnte – aber es wäre nicht gut gewesen. Warum nicht? Weil verdeckt geblieben wäre, wohin der Größenwahn des Menschen, der sich von Gott und allen sittlichen Werten abkehrt, führt. Wäre es nicht verheerender gewesen, wenn A. Hitler ermordet worden und als Märtyrer in die Geschichte eingegangen wäre, der »bestimmt, wenn er überlebt hätte, den Krieg gewonnen hätte« (Dolchstoßlegende!)? Wäre es nicht verheerender gewesen, wenn A. Hitler erfolgreich gewesen wäre und hätte weiterwüten können? Hätte man dann nicht schließen müssen, dass sich das Böse im Letzten mehr lohnt als das Gute? Dass es keinen Gott gibt? Dass sittliche Werte ohne Lebenskraft sind? Dass also das Leben im Letzten schwach, sinnlos und nichtig ist? Nein, A. Hitler scheiterte an der Übermacht des Guten und zudem daran, dass sich das Böse einem innersten Gesetz zufolge, wie Hitlers psychosomatische Leiden beweisen, selbst zerstört, zerstören muss. Da die Menschen so weit nicht denken und stets den sinnlichen Beweis brauchen, sollte dies konkret offenbar werden, und darum ließ Gott A. Hitler, seine Schergen und das mitlaufende Volk gewähren, damit er an seinem selbstgewählten Schicksal zugrunde gehe. Das ist nicht der einzige Grund. Mindestens genauso bedeutsam 615 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
ist die Einsicht, dass A. Hitler kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern das vielfach vorbereitete Ergebnis einer langen Vorgeschichte ist, deren konsequenten Abschluss er darstellt. A. Hitler hätte keine Chance gehabt, an die Macht zu kommen, wenn die Menschheit (und nicht nur Deutschland) seinen Größenwahn nicht weiträumig angebahnt hätte. Rücksichtsloser Nationalismus, räuberischer Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus, Antisemitismus, Rassismus, die Degradierung des Menschen zu Ware und Produktionsmittel, die Ausbeutung von Kindern, Frauen und kleinen Völkern, die Zerstörung der Umwelt, die Rücksichtslosigkeit aller Staaten und Völker gegen alles, gegen die Natur, gegen die Schwächeren, gegeneinander (1. Weltkrieg!), die narzisstische Selbstüberhebung einzelner und ganzer Völker und die hybride Selbstvergottung der ganzen abendländischen, in Wahrheit vom Christentum längst abgefallenen Menschheit, aber auch Sattheit und Langeweile, Überdruss und Lebensmüdigkeit (»fin de siècle«, »der überflüssige Mensch«) – all dies und noch viel mehr waren die Wegbereiter der Weltkriegskatastrophen, die hätten zum Untergang der Menschheit führen können, aber nicht führten. Und warum? Weil nur so die Menschheit zur Besinnung kam; weil nur so eine Umkehr eingeleitet werden konnte, die in der westlichen Welt und zumal in Deutschland einzigartig ist. Wer sehen kann, sieht auch hier die Hand Gottes am Werk: Die Weltkriege (und selbst A. Hitler, der von Gott nicht nur zugelassen, sondern erschaffen wurde) sind Mahnzeichen, die vor noch Schlimmerem bewahren und zum Einsatz für eine bessere Welt aufrufen. Gott ließ die Menschheit gewähren, fast bis zum Äußersten, dann aber doch nicht zum Äußersten: Zwar wollten die Nazis das Volk der Juden – und darüber hinaus Minderheiten, Behinderte, Kranke – ausrotten und sich die ganze Welt unterwerfen, und sie sind weit damit gekommen, aber sie scheiterten und erreichten ihr Ziel nicht, nicht einmal annähernd! Und so darf gehofft werden, dass der Kapitalismus, auch wenn er die Welt mit großer Wahrscheinlichkeit an den Rand des Abgrundes führen wird, durch Gegenkräfte, hinter denen letztlich Gott und seine wundervolle Lebensordnung stehen, aufgehalten und tiefgreifend ins Humane umgebildet wird. Damit dies gelinge, müssen große Leiden und Drangsale kommen, nicht weil sich Gott an diesen weiden würde, sondern weil die Menschheit zumeist nicht anders lernt und nicht anders zur Besinnung kommt. Der rücksichtslose Egoismus (zusammen mit seinen vielen Lebenslügen), der den Einzelmenschen und ganze Völker dominiert und schon immer domi616 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Leiden als Warnung und Bewahrung vor größerem Übel
nierte, gibt nur nach, wenn er unter Druck und in aussichtslose Enge gerät, in die er sich selbst hinein manövriert hat. Und das wird er tun, weil er es Tag für Tag tut. Das Klima wird sich weiter destabilisieren; die Gletscher werden weiter abtauen; der Meeresspiegel wird steigen; Erwärmung und Verschmutzung werden zunehmen; der Kampf der Nationen wird sich zuspitzen; viele Länder und Kulturen werden untergehen, Unruhen und Opfer, die jetzt schon zu beklagen sind, nehmen an Zahl zu. Gott lässt das zu, das mutet hart an und ist bitter, aber es ist nicht anders möglich, wenn das Schlechte des Schlechten und das Gute des Guten offenbar werden sollen, und wenn es gelingen soll, die korrumpierte Menschennatur tiefgreifend umzuwenden, zum Rechten, zum Humanen und Göttlichen hin. Die Menschen sind davon weit entfernt. In ähnlicher Weise, obschon in anderer Richtung, argumentiert A. Schopenhauer, wenn er, in fast schon teleologischer, damit seinem Gesamtsystem widersprechender Manier sagt, dass die Leiden und Übel insofern einen positiven Zweck erfüllen, als sich ohne sie der Übermut ins Grenzenlose, zu »zügellosester Narrhheit, ja Raserei« steigern würde. »So bedarf jeder allezeit eines gewissen Quantums Sorge oder Schmerz oder Not, wie das Schiff des Ballasts, um fest und gerade zu gehen. Arbeit, Plage, Mühe und Not ist allerdings ihr ganzes Leben hindurch das Los fast aller Menschen. Aber, wenn alle Wünsche, kaum entstanden, auch schon erfüllt wären; womit sollte dann das menschliche Leben ausgefüllt, womit die Zeit zugebracht werden? […] Da werden die Menschen zum Teil vor Langeweile sterben oder sich aufhängen, zum Teil einander bekriegen, würgen und morden, und so sich mehr Leiden verursachen, als jetzt ihnen die Natur auferlegt. Also für ein solches Geschlecht passt kein anderer Schauplatz, kein anderes Dasein.« 71
Ergo: Ein geringeres Übel verhindert oft ein schlimmeres Übel, was bedeutet, dass diese Welt – entgegen A. Schopenhauers sonstiger Auffassung – nicht die schlechteste aller möglichen Welten sein kann.
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Siehe A. Schopenhauer (1947, § 152, 311).
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Gott und das Leiden
6.19. Leiden als Führung und Erziehung Der Sinn des Leidens reicht noch tiefer, nämlich bis in die letzten Tiefen der schöpferischen Möglichkeiten des Menschen hinein. Warum und wie? Da der Mensch ein unerschöpfliches, jedoch unentfaltet-unbewusstes Seinspotential in sich birgt, ist er der »Gebärende« schlechthin: Letztlich soll alles, was in ihm schläft und schlummert, offenbar werden. Dieser Prozess würde nicht gelingen, wenn er zufällig und ungeordnet von statten ginge. Schon die menschlichen Erziehungsbemühungen – Stichwort »Anthropotechnik« – zielen darauf ab, die Selbstgeburt sinnvoll zu lenken, und zwar deshalb, weil die Erzieher wissen, wie gefährdet und gefährlich dieser Vorgang ist. Sowohl der Betroffene als auch seine Umgebung können dabei Schaden nehmen, wird doch nichts weniger als eine »Unendlichkeit« geboren, die stets droht, die endlich beschränkten Formen des Lebens zu verletzen oder zu sprengen. Andererseits haftet dem dunklen Seinspotential des Menschen aufgrund seiner »Schläfrigkeit« eine gewisse Passivität und Schwerfälligkeit an, die es nötig macht, der Selbstgeburt des Menschen aufzuhelfen. Hier kommt das Leiden insofern, als der Mensch bequem ist und sich gern auf dem »Faulbett« des Erreichten ausruht, ins Spiel. 72 Dagegen ist jene Selbstgeburt nicht nur anstrengend, mühsam und schmerzt, sondern sie irritiert und verunsichert, da sich der Betroffene darin selbst ein anderer wird und mit sich selbst in Dissonanz gerät: Er wird sich ein Fremder. Anders jedoch kann er nicht neu werden. Im Kleinen wie im Großen machen Not und Leiden bekanntlich erfinderisch. Und eben da setzt eine übergeordnete und geheimnisvolle Führung an, deren letztes Ziel die Gottgeburt im Menschen und damit die Gottwerdung der Welt im Einzelnen wie im gesamten »Leib der Menschheit« ist. Und das sollte ohne Leiden gehen bzw. ohne den Durchgang durch einen oft unkontrollierbaren Leidensprozess hindurch erreicht werden? Zwar durchschaut der Mensch die Gesetzmäßigkeiten des Lebens im Allgemeinen nicht, doch nicht so selten kann der Mensch, wenn er aus Leben und Geschichte lernt, Zeuge dieser geheimen Sinnzusammenhänge werden, vor allem in Hinsicht des eigenen Lebens. So wurde der Autor, bedingt durch ein frühes schweres Trauma und eine daraus folgende ungelöste Abhängigkeit von seinen Eltern, 72
Vgl. J. W. v. Goethes »Faust«, Vers 1692–1706.
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Leiden als Führung und Erziehung
in eine Berufswahl manövriert, die seiner Neigung nicht entsprach; und doch wurde er gerade durch diese extreme Fremdbestimmung, die eine anhaltend qualvolle Selbstentfremdung mit sich brachte, auf einen Weg geführt, der allein es möglich machte, das Lebenswerk seiner »Philosophie des Leidens« zu schreiben und aus innerlichem Wissen heraus Menschen in Not beizustehen. Am eigenen Leibe hatte der Autor alle möglichen körperlichen, psychischen, sozialen und geistigen Leiden, immer bis an den Rand des Erträglichen, durchzustehen, da er nicht anders hätte Experte in dieser Sache werden können. Das war seine Aufgabe, ein Auftrag von oben, wie er bald erkannte. Hier in diesem Fall wurde der nahezu totale Selbstverlust bzw. das radikale Scheitern der eigenen Existenz zu Aufgabe und Werk. Wie hätte solches ohne Führung und schmerzvolle Erziehung gelingen können? Der verlorene Sohn kehrt nicht ohne bittere Tränen heim. Und so steht diese großartige Parabel für den Weg des gesamten Alls, vor allem für den Weg der Menschheit. Und geschieht hier – wie im Ganzen so im Einzelleben – nicht Ähnliches? Die Menschheit weiß gut, wonach sie sich richten muss; sie kennt die lebensfördernden Werte des Daseins – Achtung, Respekt, Gerechtigkeit, Fairness, Wahrheit, Liebe, Nachsicht, Toleranz, Mut, Güte, Rücksichtnahme u. a. m. –, die das Leben gelingen lassen. Gewiss, es gelingt ihr nicht, diese Werte konsequent in Realität umzusetzen, immer wieder fällt sie davon ab, doch insgesamt ist nicht zu übersehen, dass sich diese Werte weltweit immer mehr durchsetzen und heute für Millionen von Menschen und Hunderte von Ländern gültig sind. Man denke an die Charta der Menschenrechte, an das Grundgesetz in vielen rechtsstaatlichen Demokratien, an das weltweite Bewusstsein von Recht und Gerechtigkeit und an das »Menschheitsgewissen«, das von immer mehr Menschen mit großer Zivilcourage vertreten wird. All das wäre widersinnig und sachlich unverständlich, wenn es nicht von echten Wertmächten, die über den Menschen hinausgehen, getragen, geordnet und angetrieben würde, Wertmächten, die einerseits den Menschen freilassen, andererseits »rufen« und »anleiten«. Wer anderes sollte hier, wenigstens im Letzten, rufen und anleiten als der »große Geist« der Gottheit?
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Gott und das Leiden
6.20. Das Schuld- und Sündenleid Über die Jahrhunderte hinweg ertönt immer wieder die Klage, dass in der Welt viele Unschuldige leiden, während die Rücksichtslosen für ihre Untaten belohnt werden. Was hier bemerkt wird, ist, dass die sittliche und die äußere physisch-soziale Welt nicht übereinstimmen – und das ist zweifellos richtig. Schon in der Hiobgeschichte begegnet man dem Wunsch, für frommes Verhalten von Gott entsprechend behandelt zu werden. Das ist auf dem Hintergrund des bekannten Weltdramas kindlich und naiv gedacht. Ist es aber auch wahr? Kommt derjenige, der sich vergeht, gut weg, selbst wenn er keine Strafe erfährt? Keineswegs. Hier wird Entscheidendes verkannt, nämlich die uralte, bereits von Sokrates und Platon 73 explizit hervorgehobene Wahrheit, dass Unrechttun schon in sich Unheil, Schmerz und Strafe ist. Dass dies von den meisten Menschen nicht erlebt wird, hat mit ihrer Selbstentfremdung zu tun, nicht mit angeblicher Schonung: Wer wirklich im Kontakt mit seinem Seelenleben steht, für den ist eine echte Schuld, also ein sich selbst zugefügter Schaden, eine Unerträglichkeit, gegen die äußeres Unglück und äußere Strafe wenig bedeuten oder nicht selten zum Anlass von Erleichterung werden. Wird erkannt und durchlitten, dass Schuld, bezogen auf Gott bzw. die Urwerte des Lebens, stets Entfremdung und Abfall vom Urquell des Lebens, der Freude, des Glücks, der Reinheit, der Güte, der Liebe und eine Selbstauslieferung an Nichtigung, Verdüsterung, Verstrickung, Unfreiheit und Unwürde ist, die zutiefst schwächen, wird aus Leid Verzweiflung. An diesem Punkt kann eine äußere Bestrafung, wenn sie als Sühne und Wiedergutmachung des inneren Unheils auftritt, als Erlösung erlebt werden, was ein Grund dafür ist, dass viele Verbrecher unbewusst die Bestrafung ersehnen. Der Leidensdruck der Schuld ist einer der fürchterlichsten, weil er tief innen, unaufhebbar und unerbittlich wirkt. Im Grunde zerreißt er die Person und spaltet sie, ohne sie zu vernichten, und lässt sie so leiden. F. Dostojewskij hat diesen psychoethischen Zusammenhang in seinen Romanen eindringlich gestaltet. 74 Andererseits ist bekannt, dass Schuld ein schwer erträgliches Leid darstellt und darum verdrängt wird. Tiefer geschaut, holt das Vgl. Platon (»Gorgias«, 508 b – 511 b). Vgl. F. Dostojewskijs Romane »Schuld und Sühne«, »Die Brüder Karamsow« und »Die Dämonen«.
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Das Schuld- und Sündenleid
Verdrängen sein Motiv aus diesem Leiden und nicht aus der Schuld. Da der Mensch nicht leiden will, ist das Leid ihm mehr zuwider als die Unwahrheit, die er mit der Verdrängung in Kauf nimmt. Um den Menschen aus dieser selbstgestellten Falle zu befreien, kann das äußere Leid, gleichsam als Weckruf der inneren verdrängten Schuld und als Mauerschleifer der Verdrängung und des Selbstbetrugs, fungieren und zu Bewusstwerdung, Umkehr und Sühne führen. Solche Deutung setzt allerdings einen höheren sittlichen Wirkungszusammenhang voraus, der erst durch die Annahme der Existenz Gottes und einer durch ihn eingesetzten sittlichen Weltordnung plausibel wird. Da kein Mensch, auch nicht der reichste, mächtigste, einflussreichste und am besten abgesicherte Mensch, dem Leid entgeht, kann das Leid für jeden diese segensvolle Funktion erhalten und ihn zur Wahrheit, vor allem der eigenen und sittlichen zurückleiten, vorausgesetzt, dass sein Herz nicht »verhärtet« ist. Beachtet man in dieser Hinsicht Träume, stellt sich nicht selten heraus, dass sie den Menschen vor seine inneren Wahrheiten, auch die schmerzhaftesten stellen, so dass der Eindruck nicht ausbleibt, dass das Unbewusste keineswegs nur ein triebhaft-blindes Es ist, sondern eine »Schicht« umfasst, die es besser weiß und gleichsam mit Gott gegen das sich selbst betrügende und vor sich selbst fliehende Menschenbewusstsein agiert. Was aber, so fragt sich, ist da schlimmer – dass ein Unrecht durch ein äußeres Unglück »bestraft«, sprich gesühnt wird oder dass ein Unrecht die Person aus ihrem Zentrum heraus anklagt und unausweichlich vor sie selbst hinstellt, bis sie sich endlich mit ihrem entstellten Antlitz anschaut und bereit wird, sich anzunehmen und zu ändern? Wie entstehen jedoch Schuldgefühl und Sündenbewusstsein? Durch die Wahrnehmung einer inneren Diskrepanz, durch einen gefühlten Vergleich zwischen einem Ist-Zustand, der nicht sein soll, der jedoch selbst herbeigeführt wurde, und einem Sollzustand, einer Wertnorm, einem Ideal, das sein soll, aber nicht durchgesetzt wurde, obwohl es im Innersten gleichsam an die Türe der Seele klopft. Zwar will der Betroffene dieses Ideal realisieren, aber aus oft unbewussten Gründen kann oder will er es nicht. Der Mensch liegt mit sich im Widerstreit. Dieser Widerstreit kann verschiedene Ursachen haben, besonders zwei. Zum einen kann er auf der Kollision einer internalisierten gesellschaftlichen Erwartung mit dem »Ich« und seinen Interessen, Wünschen und Antrieben beruhen; zum anderen kann dieses »Ich« mit seinem »besseren Selbst« und seinen fundamentalen We621 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
senszügen in Konflikt geraten, z. B. mit ethischen Grundsätzen oder mit spezifischen Talenten, die aus irgendwelchen Gründen nicht anerkannt werden, so etwa, wenn ein Mensch vor seiner künstlerischen Begabung flieht, weil er ahnt, welche Entbehrungen das mit sich bringen wird. Weil davon ausgegangen werden darf, dass der Mensch weder logisch noch ethisch noch ästhetisch ein leeres Blatt ist, sondern, wenn auch nicht in allem determiniert, so doch in seiner Grundstruktur fest bestimmt ist, kann er, wenn er von dieser Grundlage entfremdet ist, jederzeit mit sich selbst in Widerspruch geraten. Denn diese Grundstruktur ist nicht nur formaler Art, vielmehr lebt sie, zeigt sich, wehrt sich und macht sich bemerkbar, klassischerweise im schlechten Gewissen oder im Gefühl, mit sich uneins zu sein, nicht weniger im Traum oder in Fehlleistungen und Krankheitssymptomen. Zu dieser Grundstruktur gehören die bereits genannten Grundbedürfnisse und Grundfähigkeiten des Menschen, weiter die Grundwerte des physischen, seelischen, sozialen und geistigen Lebens und schließlich die spezifischen Eigenheiten eines Menschen, die ihn in seiner Individualität ausmachen. Zwar sind die Menschen frei, gegen alle diese Seinswerte zu verstoßen, doch nicht frei sind sie in den Folgen, die die Selbstentzweiung zeitigt, die Folgen der inneren Widersprüche, Entfremdungen, Aushöhlungen und Leiden. Der Mensch sündigt hier gegen sich selbst und damit gegen die göttliche Ordnung. Denn Gott will sein Bestes, welches wiederum Gott selbst oder wenigstens ein bestimmter Ausschnitt des göttlichen Lebens ist, das ebenbildlich im Menschen angelegt ist und dort wie eine unauslöschliche »Urschrift« glüht. Da die Bedingungen der objektiven, eben echten und vollen Schuld bekannt sind, zähle ich sie am Ende dieses Kapitels nur auf. Es sind dies: – –
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die Fähigkeit zur (wenigstens partiell) freien Selbst- und Weltbestimmung das Bewusstsein, zur eigenen Tat fähig zu sein bzw. eine eigene Tat setzen zu können und damit die Möglichkeit der Wahl, die Tat zu unterlassen, zu modifizieren oder eine andere Tat vorzuziehen die Zurechnungsfähigkeit als die synthetische Einheit von 1. und 2. und damit die Verantwortlichkeit und Haftung für die Tat
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Leiden als Reinigung und Vorbereitung für die Vervollkommnung
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das Wissen um die Wertwidrigkeit der (schuldhaften) Handlung und ihrer destruktiven Folgen, um den angerichteten Schaden, der entweder ein Fremd- oder nur ein Selbstschaden, wenn ein Fremdschaden, dann immer auch ein Selbstschaden ist und das Wissen oder doch das Gefühl um eine positiv-wertvolle Norm, die ethisch-verbindlicher Natur ist.
Wird dieser objektive Schuldzusammenhang vom Schuldigen wahrgenommen, erkannt und fühlend auf sich selbst bezogen, nimmt er subjektive Gestalt an und wird als Schuldgefühl erlebt. Damit hebt die Reue an, die die Grundlage einer jeden Sühnung bzw. Wiedergutmachung ist.
6.21. Leiden als Reinigung und Vorbereitung für die Vervollkommnung Wer leidet, der ist entweder selbst nicht in Ordnung oder ein Zeichen der Unordnung in der Welt. Alles Leiden deutet auf eine Störung, die bereinigt werden muss, und also ist ein jedes Leiden der Ruf nach Bereinigung. Da das Sein im Urstand sowohl vollkommen als auch urrein, ungetrübt, unverwirrt, schlackenlos und vollständig licht ist, stellt alles Leiden, so gesehen, die erste Stufe zur Vollkommenheit dar. Dies gilt auch im Falle, dass in rechter und »geordneter« Weise gelitten wird, da ein jedes Leiden der mal laute mal leise Ruf nach Wiederherstellung der Ordnung und nach Bereinigung von allen Übeln ist. Wo nicht mehr gelitten wird, da ist entweder ein Grad der Vollkommenheit erreicht, der die Ordnung luzide-rein aufleuchten lässt und mit Glückseligkeit einhergeht, oder ein Grad der Herabminderung des Lebens, in dem die Betroffenen nicht mehr leiden können. An diesem Punkt triumphiert das endgültig scheinende Schlechte, was umgekehrt bedeutet, dass das Lebensfeindliche solange nicht an sein Ziel gelangt ist, solange das Leiden in der Welt ist. Alles Leiden ist Rebellion des Lebendigen gegen Unordnung, Gemeinheit und Entlebendigung. Da in der Welt nichts vollkommen ist, andererseits alles und jedes die Anlage zur Vollkommenheit besitzt, bedeuten Weg und Wille zur Vervollkommnung entweder die Hervorbringung eines vollkommeneren oder die Überwindung eines unvollkommeneren Zustandes. Beides ist an Mühsal und Unlust gebunden, vor allem an 623 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
die Abscheidung einer nicht nur unvollkommenen, sondern schlechten und lebensfeindlichen Seinsweise. Die höheren Grade der Schlechtigkeit erreichen die gottentfremdeten und sich am Un- oder Minderwertigen ausrichtenden Menschen, die meist zwar nicht durch und durch, aber an irgendeiner Seite schlecht sind. C. G. Jung 75 nennt diese Seite den »Schatten«, und er meint damit einen abgespaltenen, darum destruktiv wirkenden Aspekt des menschlichen Daseins. Unter dem Bild der Gewinnung des Goldes hat die Alchemie diesen Entschlackungsprozess gedacht, in dessen Verlauf die göttliche Ebenbildlichkeit des Geschöpfes wieder zum Vorschein und zum Leuchten kommt. Gäbe es das Sein im vollkommenen Urstand nicht bzw. besäße das unvollkommene Sein in seiner Substanz nicht eine Spur oder einen Abglanz jener Vollkommenheit, wäre der Drang zur Vervollkommnung ansatzlos und damit unmöglich. Die Vollkommenheit kann daher weder nur in der Zukunft noch nur in der Vergangenheit liegen – vielmehr muss sie über der Zeit stehen und von dort in die Zeit hineinstrahlen. Läge sie nur in der Zukunft, wie alle atheistischen Utopien meinen, wäre sie ein Unding und wäre nicht einmal abstrakt denkbar. Da das Vollkommene nicht nur endlich sein kann, denn dann wäre es zu Vollkommenerem hin transzendierbar, also unendlich sein muss, wäre es, wenn es nur in der Zukunft läge, wesensmäßig nicht erzeugbar. Alles, was noch nicht ist, aber wird, ist notwendig endlich und kann nicht unendlich sein. Schlussendlich kann alles Künftige nur aus der Seinskraft des Gegenwärtigen hervorgehen, und wenn diese endlich ist, wie die meisten atheistischen Utopien annehmen, kann das Künftige nur endlich, also erschöpfbar und damit vergänglich sein. Eine vergängliche Vollkommenheit ist aber eine contradictio in adjecto. Kurzum: Wenn es eine Vollkommenheit gibt, dann kann sie nur unendlich sein, und als unendliche muss sie über der Zeit stehen, auch wenn sie in die Zeit eingeht und sich mit dem Endlichen verbindet. Wo sich darum ein Endliches vervollkommnet, muss dieses Endliche mindestens potentialunendlich (pU) und kann nicht nur endlich (E) sein. Soll diese Vervollkommnung möglich und sinnvoll sein, muss sie sich an einer möglichen Vollkommenheit orientieren, andernfalls zielt sie ins Leere. Diese Orientierung kann nur gelingen, wenn es eine Verbindung zwischen dem sich vervollkommnenden und dem vollkommenen Sein gibt und wenn eine Spur von diesem 75
Siehe C. G. Jung (1990).
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Das Leid von Reue, Buße und Sühne
in jenem besteht. Soll die Vervollkommnung zu einem Ende gelangen, ist dies nur dadurch möglich, dass das vollkommene Sein in das sich vervollkommnende Sein eintritt und dieses zu sich erhebt. Dass dies ohne Vorbereitung nicht möglich ist, sondern einer durchgreifenden Läuterung und Reinigung bedarf, lehren alle spirituellen Traditionen. Wie sollte auch das vollkommene Sein in einem noch unreinen Sein vollkommen zur Darstellung kommen können? Nur in einem reinen Wasserspiegel erstrahlt die Sonne des Göttlichen, nicht in einer trüben Seele, in der sie allerdings aufhellend und reinigend wirkt. 76
6.22. Das Leid von Reue, Buße und Sühne; der falsche und der rechte Sinn des Strafleids Vieles kann dem Menschen widerfahren, doch gibt es kaum ein schmerzlicheres Leid als das Gefühl, versagt zu haben – ein solcher Mensch weiß, dass er nicht so gehandelt hat, wie er hätte handeln sollen und können. Leid dieser Art kann nur ein Wesen durchleben, das sich seiner inne und selbstbestimmungsfähig, selbstverantwortlich und trotzdem fehlbar ist. Letztlich bleibt ein versagender Mensch hinter seinem Besten zurück, und eben das schmerzt durchdringend. Doch genau dieser Schmerz ist der Beginn von Umkehr und Selbstberichtigung, da in ihm der Impuls zum Ausdruck kommt: »Das hätte nicht sein dürfen; das möchte ich in Zukunft besser machen.« Das Leid, um das es sich hier handelt, ist das Wiedergutmachungsleid, und dieses trägt den Namen »Reue«, wenn es sich auf das Gefühl bezieht, und trägt den Namen »Sühne«, wenn die Tat folgt. In der Reue meldet sich das bessere Selbst und sein Wunsch, einen Irrweg zu revidieren. Zwar lässt sich Geschehenes nicht ungeschehen machen, doch da es im Felde des Geistes keine radikale Vergangenheit gibt, weil alles »Vergangene« in der Gegenwart mitgeführt (»er-innert«) wird und daher lebendig bleibt, was seine anhaltende Schmerzhaftigkeit bedingt, kann es umgebildet und neu geformt, also aufgehoben und in neuem Sinne bzw. für jetzt und Die noch allzu konkretistische Idee des »Fegefeuers« meint letztlich genau dies: die meist wohl sehr leidvolle (Selbst-)Reinigung des Menschen von seinen selbst bewirkten Entfremdungen von sich und anderen bzw. von den Schäden, die er sich selbst und anderen zugefügt hat. Solches Leiden ist ein Heilleiden.
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Gott und das Leiden
fürderhin »ungeschehen« gemacht werden. Es ist erstaunlich, aber wahr: Das Leben des Geistes ist eine Wirklichkeit, die eine letzte Determination, wie sie aller Vergangenheit eigen ist, nicht kennt. Sein Grundschöpfertum, das wiederum in einer grundtiefen Nichtdeterminiertheit, also in einer echten Seinsfreiheit wurzelt, erlaubt eine Revision von grundsätzlich allem, was je geschah. Was aber, wenn die Einsicht oder der Wille zur Umkehr fehlen? Dann ist die Reue unmöglich, die sowohl die Einsicht, unrecht gehandelt zu haben, als auch die Bereitschaft, sich zu korrigieren, voraussetzt. Ein Wesen, dem beides nicht möglich ist, etwa das Neugeborene, kann nicht irren und Unrecht tun, und daher ist es für Reue und Sühne unzugänglich. Aber auch ein sittlich durchgereifter oder in Gott aufgenommener Mensch kann nicht mehr irregehen und wird von der Reue nicht erreicht. Da der Mensch, seit er aus der unmittelbaren Geborgenheit Gottes gefallen ist, seiner Unvollkommenheit, Endlichkeit und Schwachheit ausgesetzt ist, und er zudem sein Leben als seelisch, geistig und sittlich unreifes Wesen beginnt, ist sein Irregehen nicht nur menschlich, sondern nahezu unausweichlich. Somit steht die Untreue gegen sich und Gott praktisch nicht zur Disposition und damit auch die Reue nicht. Die Reue wird so zu einem Existenzial des Menschseins in der Welt und kennzeichnet seine irdische Existenzform. Im Letzten ist sie zugleich der Ausdruck des Schmerzes, von der wahren Heimat getrennt zu sein, und der Sehnsucht, die wahre Heimat wiederzuerlangen – sie ist die seelische Urgestalt der Umkehr. Wer nicht mehr bereut, der hat sein Bestes, die Wiederherstellung seines »göttlichen« Selbst, aufgegeben – er ist geistig und geistlich tot. Da die Reue nur ein Gefühl ist, das allerdings zur Tat drängt, erfüllt sie ihren Sinn erst, wenn sie zur Tat wird, und das ist die Sühne. Von ihr spricht man, wenn sie bewusst gewählt wird. Kommen die Momente der Auferlegung und Freiwilligkeit hinzu, heißt sie Buße. In der Sühne wird das Reueleid konkret und real. Was aber ist die Sühne genauer? Keineswegs nur ein Ausgleich, etwa im Sinne einer Strafe, die ein Unrecht mit einem neuen Leid ins Gleichgewicht zu bringen versucht. Vielmehr ist alle echte Sühne ein Wiedergutmachungsgeschehen: Hier versucht der Betroffene, den Schaden eines Unrechts aufzuheben und wieder gut zu machen. Die ursprüngliche, die gute und rechte Ordnung soll wiederhergestellt werden. Wo die Schadensbehebung direkt möglich ist, stellt sie den besten Weg der Wiedergutmachung dar. Wo dies nicht möglich ist, bleibt nur die 626 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leid von Reue, Buße und Sühne
Möglichkeit eines anderweitigen Ausgleichs, einer »Entschädigung«, etwa finanzieller Art. Das Minimum an Sühne und zugleich ihr Maximum ist sittlich-geistiger Art, nämlich die Bitte um Verzeihung und Vergebung, die das offene Eingeständnis der Verfehlung voraussetzt. Vor allem muss sich ein Missetäter entschuldigen, und erst dann ist er gefordert, sein Möglichstes zu tun, um den angerichteten Schaden zu beheben. Tut er dies, ist auch der Geschädigte verpflichtet, die Entschuldigung anzunehmen und zu vergeben. Die Verweigerung einer Verzeihung wäre selbst wieder ein Unrecht, da sie das Wiedergut-Machen eines Unheilszustandes verhindern und damit das Schlechte zementieren würde. Da alle Geschöpfe auf Gott hin existieren, also auf das Gute schlechthin, verbietet diese Hinordnung die Verweigerung von Reue und Sühne, von Verzeihung und Vergebung. Recht gesehen, ist die Vergebung die Höchstform der Sühne, was erklärt, dass sie, wo sie gewährt wird, den Betroffenen wie nichts sonst ergreift, erschüttert und den Schmerz der Reue fühlen, genau dadurch jedoch die volle Reinigung und Heilung geschehen lässt. Darum fordert Gott nicht den Ausgleich durch Geld oder Handlung, »Tier- und Brandopfer«, sondern die grenzenlose Vergebung. 77 Sie ist das Allheilmittel in einer allwegs erkrankten Welt, weswegen nichts so sehr wider Gott ist als ihre Verweigerung. 78 Damit erhellt, dass alle Strafe nur dann recht, sittlich und gottgemäß ist, wenn sie nicht gegen das Leid eines Unrechts neues Leid setzt, sondern wenn sie Wiedergutmachung und Sühnung ermöglicht oder wenigstens die Verhinderung neuen Unrechts. Die tiefste »Strafe« ist daher der Schmerz der Reue selbst und seine Umsetzung in die Sühnehandlung, mindestens die Bitte um Vergebung. Wenn sie echt ist, darf nicht zusätzlich bestraft werden, das wäre die Fortsetzung von Unrecht und Leid, die Verbitterung, Hass und Rache im Gefolge hat. Die griechische Mythologie hat die grausige Kette dieser unaufhörlichen Zerstörung wieder und wieder dargestellt, besonders im Atridenmythos. Dieser Weg führt, wie die politische Geschichte des antiken Griechentums beweist, in den Abgrund. 79 Solange der Siehe Altes Testament, Hosea 6, 6. Insofern Gott selbst reine, totale und unendliche Vergebung ist, ist es unmöglich, dass er ein Geistgeschöpf wider dessen Reuewillen verdammt. Alle Verdammnis ist daher Selbstverdammnis, die Gott, wenn sie – zumeist nach langem »Werben« von seiner Seite – unkorrigierbar ist, zulässt. 79 Vgl. den peloponnesischen Krieg 431–404 v. Chr. und seine Folgen, wie sie von Thukydides beschrieben werden. 77 78
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Gott und das Leiden
Mensch von Gott getrennt ist, gibt es keine Alternative zur Umkehr. Erst durch die innige Verbundenheit mit dem göttlichen Leben, die eine innere, in diesem Sinne mystische sein muss, ist der Mensch vor Verfehlung und Unrecht und damit vor dem Schmerz von Reue und Sühne gefeit. Daraus erhellt ein Letztes: Was die Beziehung von göttlichem Sein und Weltsein inklusive der Menschenwelt betrifft, lässt sich erst dann ein annähernd adäquates Bild von Gott zeichnen, wenn das Prinzip der radikalen, letztgültigen und unwiderruflichen Wiedergutmachung zur Anwendung kommt, verbunden mit der entscheidenden Einsicht, dass Gott nur als liebend-barmherzig-vergebender Gott wirklich Gott sein kann. Alle Vorstellungen, die in seine Wesenheit Elemente der Enttäuschung, des Zorns (orgé), der Rache und menschlich verstandenen Strafe hineinmischen, vermenschlichen die Gottheit und verendlichen sie oder setzen sie auf das Niveau einer mythischen Gottheit zurück, die typischerweise durch die innere Ambivalenzeinheit von Lebens- und Todestrieb charakterisiert ist. Erst Umkehr und Vergebung als Prinzip allen werdenden Seins eröffnen den Letztsinn des Leidens und des mit ihm verbundenen Unheils, einen Letztsinn, der darin besteht, alle positiven Kräfte und Mächte aufzuwecken, um das Heil wiederherzustellen. Die gesamte Schöpfung offenbart sich daher in ihrer gewaltigen Selbstgeburt als Weg und Umweg zum Heilwerden in Gott.
6.23. Das stellvertretende Leiden, das Drama der Soteriologie und die Koinonia der Leidenden Nicht jeder, der leidet, hat, wie die Karmalehre unterstellt, ein Unrecht begangen, das er mit seinem Leid sühnen müsste. Da die Inkonsistenz der Karmalehre an früherer Stelle (Kap. 3.11) dargelegt wurde, muss dies nicht erneut aufgezeigt werden. Doch schon die theoretisch unvoreingenommene Betrachtung der Realität beweist, dass viele Leidenden ihr Leid anderen verdanken, man denke an die vielen unschuldig an Aids erkrankten Kinder oder an die Länder in der dritten Welt, deren Ressourcen durch die reichen Nationen ausgeraubt werden. Hier eine Schuld in früheren Erdenleben zu konstruieren, ist infam. Wenn aber solches Leid nicht auf eigene Verschuldung zurückzuführen ist, dann ist es anders zu verstehen und zu deuten. Nur wie? 628 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das stellvertretende Leiden, das Drama der Soteriologie
Die einfachste Antwort wird den Zusammenhang hervorheben, dass die Menschen »in einem Boot« sitzen und ein gemeinsames Grundschicksal auferlegt bekamen, das sie zusammen durchzustehen haben. 80 Als Glieder eines einzigen gigantischen »Lebensleibes« können sie kein Dasein unabhängig vom Rest der Welt führen – was der eine tut, wird alle übrigen betreffen; was andere tun, wird den einzelnen erreichen. Das aber heißt nichts weniger, als dass jedes Leid direkt oder indirekt das Leid aller ist, nicht nur psychologisch durch Identifikation, sondern durch den übergreifenden Wirkzusammenhang der Welt. Was daher ohnehin nicht zu umgehen ist, nämlich dass die Menschen miteinander das Kreuz des Daseins tragen müssen, das sollen sie aus freien Stücken bejahen. Nicht aus Leidenslust, sondern aus Mitgefühl, Lebensklugheit und Bereitschaft, Leid engagiert zu mindern – denn wenn es den einen trifft, den anderen nicht, dann kann es jederzeit sein, dass es den anderen trifft und den einen nicht. Die Hilfe, die einem anderen in Not gewährt wird, ist die Hilfe, die der andere dem einen, wenn er in Not gerät, geben kann: Jeder ist jedem nicht nur zum Leid, sondern jeder jedem auch zu Mitleid und Miterlösung erkoren. 81 Wenn also der blanke Egoismus schon nicht in der Lage ist, die nötige Solidarität aufzubringen, so sollte er wenigstens soviel Klugheit besitzen, um aus Eigennutz hilfsbereit zu sein. Wie die Weltwirtschaftskrisen zeigen, sind die Menschen von einem solchen »lebensklugen Egoismus« weit entfernt. Allerdings reicht der zwischenmenschliche Sinn des Leidens tiefer. Das lehren konkrete Beispiele aus dem Leben, in denen die Stellvertretung von Leid und Sühne von selbst zur Geltung kommt. Lange Zeit hat es eine heftig umstrittene Diskussion darum gegeben, ob das deutsche Volk als ganzes eine Mitschuld am Nationalsozialismus, am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und an der Shoah trage. Manche gingen so weit, diese Frage auf die Nachkriegsgeneration auszuweiten Einer der größten Lehrer der Koinonia im Leid mit ihrem zwischenmenschlichen und übermenschlichen Sinn ist F. Dostojewskij, der seine Anschauungen am breitesten und tiefsten im Roman »Die Brüder Karamasow« entfaltet (1984, 59–81, 2. Band, 6. Buch, III. Aus den Gesprächen und Belehrungen des Starez Sossima). 81 Diesen übergeordnet-universalen Leidens-Mitleids-Mitlerlösungszusammenhang hat wie kein anderer R. Wagner geschaut und in seinen Werken, im höchstem Grade im Parsifal, gestaltet: »Durch Mitleid wissend, der reine Tor«: Der Einzelne wird nur dadurch erlöst, dass sich alle Leidenden gegenseitig miterlösen (und nicht nur die einer Familie oder einer Nation!) und dadurch reif werden, die »Gnade des Gral«, also des göttlichen Lichts zu empfangen. Hierin offenbart sich die große Tiefe einer echten Pathodizee. 80
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Gott und das Leiden
und von einer Mitverantwortung zu reden. Wie schon der ehemalige Bundespräsident Richard v. Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 klarstellte, geht das zu weit: Weder das gesamte Volk in der Nazizeit und noch weniger die Nachkriegsgeneration können im Sinne einer Kollektivschuld belastet werden. Doch was die Folgen betrifft, dürfen sich die Nachgeborenen der Mitverantwortung nicht entziehen. Dies gilt zum einen deshalb, weil die Kinder der Nazigeneration unvermeidlich mittragen müssen, was die Eltern Übles in der Welt angerichtet haben und was auf sie zurückwirkt; zum anderen wurden sie selbst zu Opfern, insofern sie austragen müssen, was die Eltern verdrängt und nicht aufgearbeitet haben. Schließlich und endlich haben die Nachkommen dafür zu sorgen, dass sich nationalsozialistisches Gedankengut nicht erneut ausbreitet, was leider der Fall ist. In Bezug auf die Dynamik und den Sinn des Leids bedeutet dies dreierlei: Erstens muss die schuldlose Nachkriegsgeneration der Deutschen die leidvollen Folgen der Barbarei, z. B. die Traumata und psychischen Erkrankungen jüdischer und anderer Opfer, mittragen, mitleiden und wiedergutzumachen versuchen. Zweitens muss sie sich von den fatalen und leidvollen Prägungen, die sie durch die nazivergiftete Elterngeneration erfuhr, befreien, meist in einem mühsamen »therapeutischen« Selbstklärungs- und Ablösungsprozess. Und drittens muss sie sich bemühen, alle Formen nationalsozialistischen Wiederauflebens im Keime zu ersticken, was ebenfalls sehr schmerzlich, schamvoll und schwierig sein kann und auch noch ist. Alle drei Formen des Leids sind nicht selbst verschuldet, sondern Folgen eines unvermeidlichen Verstrickungszusammenhanges, dem die Menschen, die aus einer Ahnenfolge herauswachsen, nicht entgehen können und dem sie sich stellen müssen. Da die Schuldigen dieser Welt aus inneren und äußeren Gründen nur selten (und wohl eher nie) in der Lage sind, alle Folgen ihrer Untaten in diesem kurzen Leben aufzuarbeiten und wiedergutzumachen, wird zwangsläufig Unerledigtes an die nächste Generation weitergegeben, die dadurch, ob sie will oder nicht, in eine Stellvertreterrolle gerät. Analoges kann jeder tagtäglich erleben, etwa in Familien oder im psychotherapeutischen Prozess, wo es gilt, als Therapeut unerhörtes Leid und erschreckende Destruktivität auszuhalten und mitauszutragen. Leid und Schuld sind nicht nur privat, und wenn an der Sündenfallgeschichte etwas dran ist, dann trifft zumindest zu, dass der Verstrickungs-, Ver630 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das stellvertretende Leiden, das Drama der Soteriologie
blendungs- und Schuldzusammenhang der Menschen universal und rein menschlich nicht zu beheben ist. 82 Immer ist der Mensch gerufen, etwas abzutragen, was nicht ursprünglich seines ist, das macht einen Grundsinn der Geschichte aus, der bisher nicht genügend klar erkannt und gewürdigt wurde und gerade so die Offenheit und Unfertigkeit der Geschichte – auch »nach hinten«! – beweist. Wird dies eingesehen, kann es eine Entlastung und Versöhnung mit dem Unglück der Welt bedeuten und das Gefühl einer grundsätzlichen Solidarität erzeugen. Die Menschen sind alle vom Ursprung her beschädigt, was in der Folge Krankheit nach sich zieht, und sie haben keinen Grund, einander das Leben schwerer zu machen, als es schon ist. Erst recht gibt es keinen Grund, sich besser als andere oder als »Erwählte« zu fühlen. Vor Gott sind alle dem Unheil verfallen und (noch) gottunwürdig, daher umso radikaler erlösungsbedürftig und erlösungsberufen. Stimmt dies, drängt sich der Stellvertretungsgedanke in einer Entschiedenheit und Universalität auf, der alles Innerweltliche übersteigt. Da die gesamte Menschheit unmöglich in der Lage ist, Missetat und Abirrung durchgreifend zu bereinigen, da niemand all das Unheil, Verfehlte, Unerledigte, Fatale, Unrechte und Beschädigte, vor allem insoweit es vergangen ist, wie es von Anfang der Menschheitsgeschichte an in die Welt trat, auf sich nehmen und verwandeln kann, bleibt nur die Möglichkeit, dass auf irgendeine Weise Gott selbst als Herr der Zeit und Geschichte eintritt, Leid und Unheil auf sich nimmt und radikal ins Heile transformiert. Wie sollte er dies tun? Indem er von außen Leid und Unheil wegzaubert? Gewiss, dazu wäre er in der Lage, aber weder würde er auf diesem Wege als Vorbild fungieren noch die Menschen in einem echten Wandlungsprozess mitnehmen. Echte Verwandlung von Leid und Unheil kann nur an einem Leidenden und Unheilverstrickten »existenziell«, leibhaftig und von innen heraus vollzogen werden, was bedeutet, dass sowohl das Negative als auch das Positive, Unrecht, Leid, Tod und Auferstehung von einem Wesen echt und nicht nur zeichenhaft durchlebt werden müssen. Da Gott in seiner reinen Gottheit nicht leiden, sterben und auferstehen kann, muss dies mit einem Geschöpf, und zwar mit einem Menschen geschehen, jedoch nicht mit irgendeinem Menschen, sondern mit einem solchen, der das gesamte Leid und Unheil Auch K. Rahner (2008, 110 ff.) spricht zu Recht von einem universalen, weil ursprünglich entstandenen Schuldzusammenhang.
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Gott und das Leiden
des Kosmos, vor allem die Gottferne und Gottentfremdung der Menschheit zu tragen und durchzutragen in der Lage ist, was nur einem »reinen«, zutiefst gottverbundenen, mehr noch, einem »göttlichen« Menschen möglich ist. Er allein kann radikal, das heißt, bis in die letzte Wurzel des Daseins leiden, sterben, sühnen und wieder, von Gott erhoben, zum vollkommenen Leben auferstehen. Denn nur er hat die gottgetragene und gottgespeiste Kraft, die größte Gottferne zu ertragen und die ungeheuerliche Verwandlung vom schmachvollsten Tod zum herrlichsten Leben durchzustehen. Ein nur im Geringsten unreines, sündenbeschädigtes, auf diese Weise geschwächtes und schwankendes Wesen würde sich in dieser Seinsglut und abgrundtiefen Seinsumschmelzung verlieren und »verbrennen« müssen, was heißt, dass nur der Gottmensch alles Unrechte, Unheile und Beschädigte auf sich zu nehmen und in seiner Person in die Umschmelzung hineinzutragen in der Lage ist – weder der bloße Mensch noch der rein erhabene Gott eignen sich dafür. So sagt K. Berger 83 zu Recht: »Wer zu Gott gehört, muss leiden. Auch andere müssen oft leiden, aber der, der zu Gott gehört, geradezu zwangsläufig. Das ist die Erfahrung der Propheten und Märtyrer, das ist durch die Geschichte hindurch immer wieder die Erfahrung Israels: Gottes Volk muss den Hass der ganzen Welt gegen Gott ertragen. In Jesus ist sein ganzes Volk »konzentriert«, und daher aller Hass der Welt gegen Gott. Wer radikal zu Gott gehört, den kann die Welt nicht ertragen. Der Gegensatz zwischen den Mächtigen in der Welt und Gott ist grundlegend. Deshalb kann der Anständige, der zu Gott gehört, nur leiden, solange die Welt besteht. Daher erweist sich die Zugehörigkeit zu Gott, wenn eine entsprechende Botschaft hörbar wird, ganz sicher vor allem im Leiden. Oder allgemein gesagt, darin, dass einer ohne Rücksicht auf sich selbst die Botschaft von Gott als dem wahren König in der Welt zu sagen wagt, dass er Sorgen um sich, um Nahrung, Kleidung und Gesundheit nicht kennt, dass ihm nur eines wichtig ist: die Wirklichkeit Gottes und ihren Anspruch in der Welt anzumelden.«
Bevor die Idee des Gottmenschentums in Kap. 6.28 und 6.36 philosophisch bedacht wird, sei angemerkt, dass es kaum eine Kultur in der Menschheitsgeschichte gab, in der sie nicht aufgetaucht wäre. Schon dies bezeugt, dass es um Wesentliches geht, das dem Menschsein unverzichtbar ist. Die Erkenntnis, dass der Mensch im Kern einen pUSeinsgehalt besitzt, der wesenhaft auf das aU bezogen ist und erst in diesem sich erfüllt und zum Abschluss kommt, beweist, dass der 83
Siehe K. Berger (2007, 309 f.).
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Das stellvertretende Leiden, das Drama der Soteriologie
Mensch nur von Gott her gedacht und verstanden werden kann. Das ahnt schon der primitive Mensch, und in den Hochkulturen wird dies zur Einrichtung des Gottkönigtums, das exemplarisch für erfülltes Menschsein (und leider oft genug für Größenwahn) steht, weiter entfaltet. Von da ist der Weg nicht weit zur Vorstellung, dass sich Gott in einem einzigartigen Fall mit dem Seinskern eines Menschen so vereinigt, dass dieser von Anfang an, von seiner Erschaffung her zu Gott erhoben und damit vergöttlicht bzw. dass sich Gott im Sinne einer recht verstandenen »Kenosis« zum Geschöpf »erniedrigt«, herabbeugt und sich so vermenschlicht. Dies ist nur mit einem Menschen möglich, der bar aller Gottentfremdung und Sünde blieb, eine »Unmöglichkeit« vor den Menschen, die tragischerweise von den weltund egoverfallenen Menschen aus Angst, Selbstentwertung, Neid und Scham bekämpft und vernichtet werden »muss«. 84 Denn als ständige Anklage ihrer Gottlosigkeit wird das leibhaftige Bild des Gottmenschentums zu einer entlarvenden Unerträglichkeit, die aus der Welt entfernt werden muss. Das Leiden des Gottmenschen (und eines jeden, der zu ihm gehört) wird damit unausweichlich. Mit seiner Treue im Leiden zum Ursprung zeichnet er den Weg vor, den jeder Mensch, gleich wie weit er vom Weg abgekommen ist, gehen muss, aber auch gehen kann, will er zur Glückseligkeit zurückfinden, die sich einstellt, wenn das pU zum aU erhoben bzw. jenes von diesem in seinem Kern durchdrungen, also durchgöttlicht wird. Indem der Gottmensch den leid- und schmachvollen Weg aus der totalen Entwürdigung exemplarisch zurück in die Gotteinheit geht, versöhnt er das Endliche, jedes Endliche, so niedrig, beschädigt und würdelos es sein mag, mit dem Unendlichen und realisiert eine Hoffnung, die durch nichts mehr zuschanden werden kann. In diesem Sinne scheint der Heilige Paulus das Leiden Jesu Christi auszulegen, der in seiner kühnen Weise so weit geht zu sagen, dass Jesus für das Heil der Menschen »zum Fluch geworden« ist (Galater 3, 13) bzw. dass »Gott ihn für uns zur Sünde gemacht hat« (2 Korinther 5, 21). Das sind zweifellos Formulierungen, die hart am Widervernünftigen streifen, so dass zu Recht gefragt werden muss, was sie besagen wollen. Mit H. Merklein 85 und J. Wohlmuth 86 stim84 85 86
Vgl. Markus 12, 1–12 (das Gleichnis vom »Weinberg und seinen Pächtern«). Vgl. H. Merklein (1987, 8) und (1992). Vgl. J. Wohlmuth (1999, 262 ff.).
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Gott und das Leiden
me ich überein, dass es sich hier um eine »Identitätsübernahme« handelt, wie sie klassischerweise im Frühjudentum in der kultischen Identität des Sünders mit dem Opfertier vollzogen wurde. Als Repräsentant der sündigen Menschheit stirbt der Christus den Tod des vom Fluch – eigentlich von der Selbstverfluchung! – getroffenen und dadurch dem Nichts zustrauchelnden sündigen Menschen. Dieser Fluch geht aber m. E. nicht, wie klassischerweise gemeint wird, direkt von Gott, sondern geht von der Widergöttlichkeit des Sündenseins selbst aus, was heißt, dass Jesus nicht die Sünden der Menschen wegnimmt, sondern mit seinem Opfer erstens zeigt, dass die Sünde der eigentliche Tod ist, nicht nur physisch, sondern auch geistig und geistlich (»Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«), und dass zweitens die Rettung nur darin bestehen kann, trotz der Sünde zum Bund mit Gott zurückzukehren, also wie Jesus selbst in Leid, Schande und Tod dem Schöpfer treu zu bleiben. Wer dem Gottmenschen folgen will, muss demnach umkehren, doch mit dieser Umkehr, die den verlorenen Menschen auf das einzig wahre Ziel ausrichtet, beginnt Rettung und wendet sich das Heilsdrama (vgl. die Parabel vom verlorenen Sohn). Darum gilt es, das Kreuz des Gottmenschen auf sich zu nehmen, nicht aus Leidenslust, sondern deswegen, weil dieser nur dann das Kreuz der Leidenden mittragen kann – denn er kommt, wie er selbst sagt, nicht zu herrschen, sondern um zu dienen. Hier wirkt schlimmstes Leid erlösend, aber erst hier. Mit den unüberbietbaren, in den Mund Jesu gelegten Worten des Anselm v. Canterbury lässt sich der Sinn dieses göttlichen Tausches im Heilsdrama auf den Punkt bringen: »Nimm mich und erlöse dich (tolle me et redime te).« 87 Was ist demnach der Sinn des stellvertretenden Leidens? Im religiös-theologischen Zusammenhang, auch im Christentum lautete die Antwort lange Zeit: Der sündenlos-reine Menschensohn, der Gottesknecht, der Messias würde, indem er die Sünden der Welt und ihre leidvollen Folgen auf sich nimmt, den Zorn Gottes besänftigen und dadurch sein vernichtendes Gericht über die Menschen verhindern, etwa in Form einer neuerlichen Sintflut (»Satifaktionslehre«). Nach zwei Seiten hin ist diese Auslegung zurückzuweisen. Zum Ersten ist Gott solcher Affekte wie Gekränktheit, Enttäuschung, Trauer, Zorn, Wut, Reue und Rache unfähig, da sie an Zeitlichkeit und Endlichkeit, weiter an Mangel, Ohnmacht und Erleiden gebunden sind, 87
Siehe Anselm v. Canterbury (1986, II, 20).
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Das stellvertretende Leiden, das Drama der Soteriologie
die in Gott keinen Platz haben. Zum Zweiten kann, wie schon I. Kant in »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« betonte, niemand, auch Gott nicht, einem Sünder seine Sünde regelrecht abnehmen. 88 Da die Sünde zum einen als Akt der Freiheit unabgebbar und daher »von außen« unaufhebbar ist, zum anderen selbst schon insofern ihr eigenes Gericht ist, als sie sich durch den Ungehorsam Gott gegenüber vom Quell des Lebens, der Freude und Glückseligkeit (beatitudo) abschneidet, bleibt ihr die innere »Strafe« in Form von Mangel, Schmerz, Leere und Zerrissenheit, also in Form eines »inneren Tod« nicht erspart. Entsprechend lehren die meisten Religionen trotz aller vorgängigen Vergebung ein letztes Gericht am Ende der Zeiten, in dem alle Schuld offen gelegt, gebüßt und gesühnt, also »wiedergutgemacht« werden muss. Gericht im Sinne von Offenund Klarstellung, von Wiedergutmachung und Verzeihung, von Vergebung und Versöhnung ist, religionsphilosophisch gesehen, unausweichlich, da nur so alles endgültig ins Lot zu bringen ist. Schon das Alltagsleben lehrt unzweideutig, dass Schuld, Verfehlung und Sünde ihre natürlichen Folgen haben, z. B. seelische Schwächung und Spaltung, körperliches Unwohlsein und Krankheit und vor allem zwischenmenschliche Verwerfungen, Entfremdungen und Verstrickungen, die kein Gott dem Menschen erspart. Wenn Christus sagt (Joh. 1, 29), er trage die Sünde der Welt, dann meint dies nicht, dass er den Betroffenen den Schmerz, die innere Störung und das seelische Leid der Sünde abnimmt, sicherlich auch nicht, dass er ihre natürlichen Folgen in der Welt (ohne Mittun der Sünder) beseitigt, sondern er meint etwas viel Grundsätzlicheres: Die Trennung von Gott, die durch die Sünde verursacht wird, ist nicht endgültig und nicht absolut. Würde die Sünde radikal das sein und bleiben, was sie ist, Sein wider und ohne Gott, müsste sie den Sünder und die sündige Welt mit einem Schlag ins Nichts stürzen, was sie insofern verdient, als sie wahrhaftig nichts werden soll, was Jesus realsymbolisch am Kreuz vollzieht und erleidet. Gott trägt die sündige Kreatur trotzdem und lässt sie nicht fallen, da sie nicht nur verwandlungsfähige Sünde, sondern auch Gutes ist, und er schickt den Heiligen, der ihr den Weg Siehe I. Kant (Werke, IV, 2011, 779, ähnlich 729): »Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könnte, er habe nur nötig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugtuung zu glauben, […] um seine Schuld als getilgt anzusehen.« Eine solche mechanistisch anmutende Sündenbehebung entlarvt sich psychologisch als »faule« Vermeidung der Verantwortungsübernahme und ihrer – meist schmerzhaften – Selbstreinigung.
88
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Gott und das Leiden
zurück zu Ihm aus der Gottverlassenheit in die Gottvereinigung weist. Um dies nicht nur in Worten, sondern leibhaftig vorzuleben, muss der Heilige die Gottverlassenheit selbst erleiden, angefangen mit der Verstoßung aus der Menschgemeinschaft und dem bitteren Verrat der Freunde bis hin zur Unterbrechung des lebendigen inneren Kontaktes mit Gott am Kreuz. Wenn Gott seinem geliebten Sohn dies zumutet, dann nicht, um seinen Zorn zu kühlen oder rachsüchtig seine Gerechtigkeit wiederherzustellen – das ist die falsch-anthropomorphe Auslegung der »Satisfaktionslehre« des Anselm v. Canterbury 89 –, sondern um zu zeigen, dass selbst jene Kreatur, die in der unaufhebbaren Finsternis der Gott- und Weltverlassenheit gefangen ist, nicht endgültig verloren ist, sondern, wenn die Treue zu Gott nicht, wie es Jesus am Kreuz vorlebte, bricht, aus dem Tal des Todes ins göttliche Leben zurückgeholt wird. Nicht für die Sünde ist der Gottmensch gestorben, sondern für das Heil der verlorenen Menschen, nicht um des Leidens willen ging er den schweren Weg des Kreuzes, sondern um der Glückseligkeit willen, die er jeder Kreatur wünscht. Und weil er selbst Leid, Qual, Unrecht, Lieblosigkeit und Unheil erlitt, und zwar bis zu einem Äußersten, das kein Mensch je erfahren muss und auch nicht kann, darf jede Kreatur, sie mag noch so tief gefallen sein, die Hoffnung haben, wie dieser Menschensohn von Gott aus dem Tod zum Leben zurückgewonnen zu werden. 90 J. Wohlmuth (1999, 269 ff.) spricht von einer Karikatur, wenn behauptet werde, Anselm v. Canterbury sage in seinem Werk »Cur deus homo?«, »ein unendlich beleidigter Gott verlange rachsüchtig Sühne.« »Dennoch ist für Anselm v. Canterbury klar, dass durch die Sünde nicht Gott selbst betroffen wird«, vielmehr gerät »die Schöpfungsordnung aus den Fugen.« Die Gott geraubte Ehre wieder einzulösen (solvere), bedeutet dann »Genugtuung« (satisfactio), was nicht menschlich verstanden werden darf, sondern Ausdruck dessen ist, dass Gott dies seiner Vollkommenheit, die mit einer im Letzten misslungenen Schöpfung nicht vereinbar ist, »schulde«. 90 Denn nur ein göttliches Wesen kann das radikale Nichts aushalten, ohne zu vergehen. Vgl. »Katechismus der Katholischen Kirche« (1993, 190): »Kein Mensch, selbst nicht der größte Heilige, wäre imstande, die Sünden aller Menschen auf sich zu laden und sich als Opfer für alle darzubringen. Doch kraft der göttlichen Person des Sohnes in Christus, die über alle menschlichen Personen hinausgeht und sie zugleich umfängt, und Christus zum Haupt der ganzen Menschheit macht, kann das Opfer Christi für alle erlösend sein.« Kraft der göttlichen Person und kraft der leidensfähigen Menschlichkeit in Christus. Es ist klar, dass die universale Sündenbefreiung unmöglich wird, wenn Jesus nur noch als Mensch und nicht mehr, wie z. B. bei H. Küng (1993, 88–128), als Messias und Gottessohn gesehen wird, mit der Folge, dass die gesamte Schöpfung gebrochen bleibt und nicht mehr gotteswürdig werden kann. 89
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Das Opferleid – sein Wesen und Sinn
»Indem Christus die Identität der Sünder übernimmt und sein Leben dem von der Tora verhängten Tod überantwortet, eröffnet sich in der stellvertretenden Lebenshingabe, in der der homo peccator stirbt, die Möglichkeit eines neuen Hinzutretens zu Gott. Der Fluchtod Christi ist das von Gott gewährte eschatologische Sühnegeschehen, in dem der Tod des Sünders vollzogen ist und sich dem Sünder gerade im Vollzug des Todes das Heil auftut.« 91
Will die Menschheit überleben und ihrer innersten, letztlich mystischen Bestimmung gerecht werden, muss die Idee der Stellvertretung gemäß den Worten J. Ratzingers, 92 des ehemaligen Papstes, nicht nur für das Christentum, sondern für die gesamte Menschheit ins Zentrum des Bewusstseins rücken und konsequent realisiert werden: »Insgesamt lässt sich sagen, dass die Idee der Stellvertretung eine der Urgegebenheiten des biblischen Zeugnisses ist, deren Wiederentdeckung dem Christentum in der heutigen Weltenstunde zu einer entscheidenden Erneuerung und Vertiefung seines Selbstverständnisses helfen kann.«
6.24. Das Opferleid – sein Wesen und Sinn Während über Jahrtausende hinweg das Opfer die zentrale Kulturund Kulthandlung der Menschheit war, hat der moderne Mensch ein eher zwiespältiges bis ablehnendes Verhältnis zu dieser Kategorie des menschlichen Daseins und Denkens. 93 Dafür gibt es viele Gründe, deren erster der Schwund des religiösen Abhängigkeits- bzw. die Erstarkung des metaphysischen Autonomiegefühls des neuzeitlichen Menschen ist. Der Gedanke, dass es eine weit über ihn hinausgehende Macht gebe, ist ihm zuwider, erst recht und z. T. zu Recht die Zumutung, sich der Repräsentanz jener metaphysischen Macht in der Welt in Gestalt der Kirche oder des Gottkönigtums zu unterwerfen. Hinzu kommt, dass die moderne Psychologie, vor allem die PsychoDas wiederum implizierte, dass Gott selbst unter seinen Möglichkeiten bliebe und sich in seiner Gottheit verfehlte. 91 Siehe H. Merklein (1992, 52). 92 Siehe J. Ratzinger (1974, 137). 93 Vgl. die kulturhistorische Übersicht von I. Clarus (2005). Auch wenn der Gott des alten und neuen Testamentes »Brand- und Schlachtopfer« ablehnt, so verwirft er damit das Opfer keineswegs schlechthin. So erwartet z. B. Jesus vom »reichen Jüngling«, dass er seinen Reichtum hingebe, um ihm zu folgen und die größere Gottesnähe zu leben. Religionsgeschichtlich verwandelt sich hier das »äußere« Opfer in ein »inneres«.
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Gott und das Leiden
analyse neurotische Formen des Opferverhaltens aufdeckte, in denen ein Mensch unbewusst mit Verzicht, Selbstbescheidung und Selbstverleugnung seine Umwelt unter einen Schulddruck setzt und so die Anderen für seine geheimen egoistischen Interessen zu manipulieren sucht. 94 Ein solcher Mensch opfert allerdings nicht, sondern schlägt nur einen Umweg ein, um Gratifikationen zu erzwingen, die er, da er ein schlechtes Selbstwertgefühl hat, nicht auf offenem Wege einzufordern vermag. Schaut man nüchtern in das alltägliche Leben, erkennt man bald, dass ein Leben ohne Opfer unmöglich ist. Tag für Tag sind die Menschen gefordert, etwas, das ihnen wert ist, zu lassen, um etwas anderes, das genauso oder noch mehr wert ist, zu realisieren. Wer hätte sich noch nicht gewünscht, morgens im Bett liegen zu bleiben statt zur Arbeit zu gehen – und doch tut er es und überwindet sich. Und welche Eltern klagen nicht über die Mühsal der Erziehung ihrer Kinder und erfüllen doch, mal gern, mal ungern, ihre Pflicht. Die Frage kann nicht sein, ob es Opfer gibt oder nicht, ob man sie leisten muss oder nicht, sondern die Frage ist, was ein Opfer überhaupt ist und wie es recht vollzogen wird. 95 Und hier muss zunächst eine eigenartige Spannung im Wesen des Opfers gesehen werden. Im Opfer wird zum einen etwas hingegeben, was einen echten Wert darstellt, wenigstens subjektiv für den Opfernden; zum anderen wird genau dadurch eine andere, mindestens gleichhohe, meistens höhere Wertverwirklichung ermöglicht. Diese Dialektik lässt verstehen, warum ein Opfer schwer fällt und schwer fallen muss, eben weil etwas Wertvolles regelrecht zerstört wird und dadurch der Mensch einen wertvollen Teil seiner selbst hingibt und damit die zentrale Opferqualität der Selbstüberwindung realisiert. Genau dieselbe Dialektik macht verständlich, warum ein Opfer nur dann ein echtes Opfer ist, wenn es freiwillig vollzogen wird und nicht unter Zwang, da der höhere Wert, für den ein anderer Wert geopfert wird, nur durch einen freien Akt der Wertzustimmung verwirklicht werden kann. Wenn z. B. ein Vater für sein krankes Kind eine Niere spendet, dann opfert, sprich zerstört er real einen Lebenswert, nämlich ein Stück seines unversehrten Leibes und damit ein Wie man sieht, vollzieht sich hier eine Sondergestalt des nichtsexuellen Sadomasochismus. 95 Vgl. über das Wesen des Opfers von philosophischer Seite B. v. Brandenstein (1983, 305–310). 94
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Das Opferleid – sein Wesen und Sinn
Stück seiner Gesundheit, was gewiss nicht leicht fallen kann (und auch nicht leicht fallen soll!). Doch genau damit rettet er das Leben des Kindes und realisiert so einen höheren Wert. Das Opfer ist also eine Wertverwirklichung durch eine Wertzerstörung, und das frei und durch Einsicht in einer Notlage. Würde jener Vater zur Spende seiner Niere gezwungen oder fehlte ihm die Einsicht, und er würde etwa die Hingabe des Organs nicht als Pendant einer höheren Werterhaltung begreifen, handelte es sich nicht um ein Opfer. Würde dies jemand behaupten, wäre auch ein Diebstahl ein Opfer, obwohl in diesem Fall ein niedrigerer Wert (der Besitzzuwachs auf Seiten des Diebes) auf Kosten einer höheren Werterhaltung (der Verletzung des Eigentumsrechtes des Bestohlenen) realisiert wird. Wenigstens subjektiv muss erstens jene Wertwirklichkeit, die erreicht wird, höher stehen als die, die zerstört wird, und zweitens muss der Akt des Opferns, der Werterhaltung bzw. Wertschaffung durch Wertzerstörung, frei und durch Einsicht vollzogen werden. 96 Damit ist klar, dass beim Opfer nicht Verzicht, Hingabe und Zerstörung im Vordergrund stehen bzw. Selbstzweck sein dürfen, sondern dass es im Dienst einer wenigstens intentionierten und erwarteten höheren oder gleichhohen Wertverwirklichung stehen muss, was z. B. der Fall ist, wenn ein Märtyrer um der Wahrheit oder um der Treue zu Gott, zur Freiheit, zur Gerechtigkeit willen sein Leben hingibt. Da alles Leben nur dadurch möglich ist, dass Kraft, Zeit, Energie und Leben – z. B. der Pflanzen und Tiere – verbraucht wird, gibt es kein Leben ohne Opfer und Zerstörung, so dass sich nicht die Frage aufdrängt, ob man Leben zerstören darf, was unumgänglich ist, sondern die Frage, ob die Zerstörung im Dienst gleichhohen oder höheren Lebens steht. 97 Dies ist z. B. nicht der Fall, wenn Eltern ihre Kinder als Arbeitskraft oder zur Erhöhung ihres Selbstwertgefühles missbrauchen; oder wenn Banker das ihnen anvertraute fremde Geld für riskante Spekulationen und für die Ausschüttung horrender Boni Siehe P. Teilhard de Chardin (1962, 97): »Der Verzicht muss uns über alles, was es in der Welt gibt, hinausführen.« 97 Vgl. H. G. Hasenfratz (1994, 63). In den Brahmanatexten des Hinduismus, der Opferreligion schlechthin, wird explizit gesagt, dass das gesamte Weltgeschehen ein Opfergeschehen sei und nur durch Opferhandlungen aufrechterhalten werde, eine Anschauung, die dem Fragment 9 des Anaximander auffällig ähnlich ist. Das aber bedeutet letztlich nichts weniger, als dass die Welt und damit das eigene irdische Leben zugunsten der Gottheit geopfert werden muss, um am höchsten Seinswert, dem Urseinswert der Gottheit, teilhaben zu können. 96
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Gott und das Leiden
benutzen; oder wenn Politiker nur regieren, um die Macht ihrer Partei zu sichern und zu steigern etc. Diese Überlegungen offenbaren ein Zweites: Auch wenn das Opfer frei vollzogen wird, so ist es nicht das Ergebnis einer spontanen Initiative, sondern die reaktive Antwort auf eine Herausforderung, eine Not, einen Konflikt, ein Unglück oder eine Anmutung. Jener Vater spendet seine Niere nicht aus einer Laune heraus, sondern weil sein Kind keine andere Überlebenschance hat; der Märtyrer gibt sein Leben für seine Überzeugung hin, weil z. B. ein Tyrann die Glaubensfreiheit bedroht. Das heißt allgemein: Die Wertzerstörung, die im Opfer zugunsten einer höheren Wertbewahrung bzw. Wertrealisierung eingegangen wird, erfolgt zwar frei, aber nicht freiwillig, sondern unter Druck, in Not und oft unter äußerem Zwang. Könnte der höhere Wert ohne die Zerstörung des anderen, niedrigeren Wertes erreicht werden, wäre die Vernichtung von diesem widersinnig, wertwidrig und unethisch – von Opfer dürfte nicht die Rede sein. Zum Opfer gehört notwendig die subjektiv erlebte Not- und Zwangslage – ein zweiter Grund, warum das Opfer nicht leicht fallen darf. Weiter gedacht, lässt sich die Situation, die ein Opfer verlangt, als eine Anfrage an die ethische Urteilskraft verstehen, wo es darauf ankommt, die ethischen Wertverhältnisse recht zu bestimmen. Wer unter eine Opferforderung gerät, sollte die Sachlage genau prüfen, da Wertvolles auf dem Spiel steht, das nicht gedankenlos hingegeben werden darf. Da das rechte Opfer auf einem heiklen Verhältnis von Wertbewahrung und Wertzerstörung beruht, muss ein jedes Opfer stets kritisch betrachtet werden. Zu leicht ist es zu missbrauchen und wurde z. B. von Staaten zur Selbsterhaltung (z. B. in der DDR) oder zu Kriegszwecken (z. B. beim Krieg der USA gegen den Irak) missbraucht. Insofern muss jedes Opfer vom Denken begleitet werden, und zwar von einem wertabwägenden und ethisch-kritischen Denken. Ein Opfer, das auf Täuschung, Manipulation und Vorteilsnahme beruht, ist verwerflich und stellt nur ein Scheinopfer dar. Ein Test sollte fragen, ob ein Opfer wirklich weh tut, denn dadurch wird der geopferte Wert in seiner Werthaftigkeit gespürt und anerkannt und nicht leichtfertig hingegeben. Ein Opfer, das zu leicht fällt, muss Zweifel wecken, denn etwas hinzugeben, was der Opfernde sowieso loswerden will (weil er es nicht mehr schätzt oder weil es ihm zuwider ist), ist kein Opfer. Zugespitzt möchte ich sagen, dass zum echten Opfer wenigstens ein Quäntchen an Trauer, Leid und Schmerz ge640 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Opferleid – sein Wesen und Sinn
hört, eben weil ein echter Wert zugrunde geht, der betrauert werden soll. Wenn in archaischen Gesellschaften in einer Trauerklage der Geist eines zu tötenden Tieres mit der Bitte beschworen wird, die unumgängliche Tötung des Jagdtieres zu verzeihen, dann wird hier eine echte Opferhandlung vollzogen: Man würdigt das zu opfernde Tier und tötet es dennoch um den berechtigten Erhalt des eigenen Lebens willen. Das Leid im Opfern sichert so die Würde des Opfers – es ist ein Ausdruck des Wiedergutmachungswunsches für eine unumgängliche, weil vom Leben auferlegte Wertzerstörung. Was aber geschieht mit demjenigen, der einen hohen Wert für einen höheren Wert frei hingibt, dabei um den zu zerstörenden Wert trauert und sich überwindet? Wie I. Clarus 98 richtig sieht, geschehen im Opfer Wandlung und Neugeburt. Der Opfernde opfert etwas von sich, einen Selbstwert, ein Stück eigenen Lebens – aber nicht um dieser Wertzerstörung willen, sondern um eines höheren Wertes und Lebens willen, an dem er teilhat. Diese Teilhabe bedeutet nichts weniger als »Wandlung nach oben«, »Aufstieg«, und zwar seelisch-geistig und sittlich. Mit all diesen Überlegungen erhellt, dass sich Leben – zumal, wenn es sich im Wert steigert –, wie viele erkannten, nicht ohne Hingabe von Lebensgütern realisieren lässt. 99 Höhere Lebenswerte zu verwirklichen, bedeutet nicht notwendig, niedrigere dafür aufzugeben, doch im Letzten ist das summum bonum, der Urwert des göttlichen Lebens, nur dadurch zu erreichen, dass alle anderen, durchaus hohen Werte, der Wert des eigenen Lebens und Glücks eingeschlossen, nachgestellt werden. 100 Genau dies tun alle gotthingegebenen Menschen, allen voran der Gottmensch, der nicht um seiner selbst oder um Gottes willen gekommen ist, sondern dafür, die Menschen zu Gott heimzuführen. Um dies zu erreichen, muss er zum Letzten bereit und befähigt sein, zur Hingabe seines eigenen Lebens und ir-
Vgl. I. Clarus (2005, 164 ff.). Vgl. M. Scheler (1923); vgl. B. v. Brandenstein (1948, 53, »Verspielen des Lebens – Leben als Opfer«. In: »Leben und Tod«). 100 Das ist der Sinn des von Abraham geforderten Opfers seines Sohnes, des Liebsten und Wertvollsten, was er in der Welt hat. Denn da er überzeugt ist, dass Gott selbst dieses Opfer fordert, und zwar nicht aus Grausamkeit und Willkür, sondern um von Abraham zu erfahren, was für ihn das höchste Gut überhaupt, d. h. über alles Welthafte hinaus, ist, wählt Abraham die Übereinstimmung, also letztlich die Vereinigung mit Gott, die höher steht als jedes innerweltliche Gut. 98 99
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Gott und das Leiden
dischen Glückes. Gerade dadurch macht er das höchstmögliche Leben und Glück auch für sich möglich, die Einheit mit Gott, der reine Hingabe und Liebe ist. Das Opfer ist darum unumgänglich mit der Relativierung des eigenen Selbst und dadurch mit dem Opfer der Selbstwichtigkeit verknüpft: Das höchste Glück, die Glückseligkeit in Gott, erhält nur der, der eine eindeutige Wertentscheidung trifft, nämlich die Zustimmung zum absoluten Vorrang der Gottwirklichkeit vor aller übrigen Wirklichkeit, der Wirklichkeit des eigenen Lebens, des eigenen Egos und dessen, was »am tiefsten am Herzen liegt«. 101 Und dass die Hingabe des eigenen Egos schwer fällt, schmerzt und nur mühsam zu erreichen ist, braucht nicht bewiesen zu werden – die gesamte Weltgeschichte stellt nichts anderes als das Ringen um dieses Welt-Ego dar, sei es in individueller oder kollektiver Form. Oder anders ausgedrückt: Die Welt würde ihr Ende und damit ihr höchstmögliches Ziel, ihre erfüllendste Wandlung erreichen, wenn sie das Egosein im Sinne des »verstockten«, d. h. absolut gesetzten, Selbstseinwollens in der Hingabe an Gott opfern könnte und in ihm »alles eins« würde: Sie würde wie Gott. Nichts anderes hat der Gottmensch vorgelebt, in radikaler und einzigartiger Weise. Ist damit der Sinn des Opfers erschöpft? Keineswegs, das lehrt ein Blick in die Religionsgeschichte, die zeigt, dass es eine Fülle von Opfertypen gibt, die nicht aufeinander zurückführbar sind, etwa das Preis-, Bitt-, Lob-, Dank- und Sühneopfer. Die oben eruierte Grundstruktur des Opfers wird trotzdem in allen diesen Formen eingehalten, nur gibt es darüber hinaus Wesensunterschiede. So wird im Bittopfer etwas um einer höheren Hilfe willen hingegeben; so im Preisund Lobopfer eine Gabe dargebracht, um die höhere Wirklichkeit der Gottheit zu ehren; im Dankopfer gleichsam etwas von dem zurückgezahlt, was man einst gnadenhaft erhalten hat; und im Sühneopfer durch eine Opfergabe ein Unrecht, ein Schaden materiell, seelischgeistig oder symbolisch wiedergutgemacht. Immer wird in der Notlage einer unausweichlichen Wertgegenüberstellung, die eine Wahl fordert, ein Wert für einen höheren eingesetzt und zerstört, um zu zeigen, dass das rechte Wertgefüge, die wahre Werthierarchie vom Opfernden gesehen und geachtet wird und dass er bereit ist, einen spürbaren Preis für eine »Schuld« zu 101 Nur in diesem Sinne ist die Bereitschaft Abrahams, sein Liebstes, seinen Sohn Isaak, zu opfern, zu rechtfertigen und zu verstehen. Wäre er nicht dazu bereit, würde er nicht nur seinen Sohn höher stellen als Gottes Wille, sondern auch sein eigenes Ich.
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Die Transformation existenziellen Zwangsleids in freiwilliges Opferleid
zahlen. 102 Wer opfert, weiß, dass er einer höheren Wirklichkeit etwas schuldig ist, letztlich die Gnade des Lebens und der versprochenen Glückseligkeit, die er nicht aufwiegen und zurückgeben, die er aber durch sein Opfer würdigen kann und muss, wenn er im richtigen Seinsverhältnis stehen will. Daher zeitigt der Verlust des Opfergedankens in egoman-manischer Zeit weitaus schrecklichere Folgen, als das heute geahnt wird: In Wahrheit fällt der vom Opfergedanken entfremdete Mensch aus der Wirklichkeit, zumal aus der guten, heilsamen und letztlich beseligenden Wirklichkeit heraus und liefert sich der Entfremdung, der Trennung, der Vereinzelung, dem Unheil, der Angst, dem Egoismus und der Rücksichtslosigkeit aus. Da alles Leben seelisch-geistige Wandlung, Höherentwicklung und Wertsteigerung bedeutet bzw. bedeuten soll, ist es notwendig mit dem Opfer verknüpft und führt, wo die rechte – nicht die neurotische – Opferbereitschaft fehlt, zum Niedergang, zur Dekadenz, zum Wert- und bald auch Seinsverfall. Das rechte Opferleid birgt darum eine unerschöpfliche Heils- und Wachstumskraft und damit eine tiefste Opferfreude. 103
6.25. Die Transformation existenziellen Zwangsleids in freiwilliges Opferleid Mit dieser Sicht des Opfers eröffnet sich eine neue Sinnmöglichkeit des Leidens. Da niemand freiwillig leidet, auch der Neurotiker nicht, 102 So lässt sich das Dilemma auflösen, von dem I. Kant (Werke, IV, 2011, 635 ff.) in seiner Schrift »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen« spricht: Zwar gibt es, wie I. Kant betont, kein (allgemeines) Recht zu lügen, aber es gibt, was I. Kant nicht sieht, das Recht und manchmal sogar die Pflicht, den Wert der Wahrhaftigkeit einem höheren Wert, z. B. dem Wert des Lebens eines zu Unrecht mit dem Tode Bedrohten zu opfern. Da I. Kant in seinem Beispiel weder die Existenz einer Wertordnung mit Höhenunterschieden noch von Wertekonflikten mit einer geforderten Güterabwägung beachtet, bleibt er auf seinem rigoristischen Standpunkt stehen und verneint das Recht, in einem solchen Dilemma zum Schutz eines gleich- oder höherwertigen Gutes zu lügen. Selbstverständlich kann daraus kein prinzipielles Recht zu lügen oder unlautere Verträge abzuschließen, abgeleitet werden, wie I. Kant befürchtet. Analog verhält sich der Fall der Passfälscher im Naziregime, die durch Täuschung, Betrug und Lüge Tausende von Juden retteten. Wer wollte das als unethisch disqualifizieren? 103 Das sieht auch Simone Weil (1952, 165–172) so, die in der Annahme des Unglücks, das widerfährt, eine tiefste Quelle der Freude erblickt (was nicht heißt, dass man das Unglück suchen oder erzwingen soll!).
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Gott und das Leiden
der das Leiden, meist unbewusst, manipulativ einsetzt, sondern in Folge einer Zwangslage, die auferlegt wurde, leidet, stellt jedes Leiden zunächst einen Unwert, eine Wertbedrohung, Wertstörung oder Wertzerstörung dar. Das ist denn auch der letzte Grund, warum der Mensch das Recht hat, Leiden zu verhindern, zu mildern oder aufzuheben. Leiden ist kein positiver Wert an sich, sondern erhält ihn erst in einem größeren Lebenskontext. Was ist dann mit jenen Leiden zu tun, die nicht verhindert, gemildert oder aufgehoben werden können? Sie sind zu tragen, aber nicht nur das. Im Gegensatz zum Tier steht dem Menschen eine weitere Möglichkeit offen, die geistiger Natur ist: Er kann das zunächst sinnlos erscheinende Schicksals- bzw. Zwangsleid durch freie Annahme zu einem kreativen und befreienden Opferleid transformieren. Nur wie? Indem er ihm einen Sinn gibt bzw. einen Sinn darin findet. Dies wird am ehesten dadurch erreicht, dass es gelingt, die Wertstörung bzw. -zerstörung, die das Leiden mit sich bringt, auf einen höheren Wert zu beziehen, der allein durch diese Wertzerstörung ermöglicht wird. Um welchen Wert es sich dabei handelt, kann apriori nicht bestimmt werden; hier gibt es zahllose Möglichkeiten, z. B. die innere Reifung, die das Leid verlangt, die Relativierung des eigenen Ego, das Sichüben in Geduld, Selbstbescheidung und Demut, das wachsende Verständnis für andere Leiden, das Mittragen anderen Leids, die Provokation von sozialem und politischem Engagement, das spirituelle Erwachen usw. Doch schon dadurch, dass ein Leid, das durch die Umstände erzwungen wird, frei angenommen wird, findet eine Belebung, Stärkung und Würdigung der Freiheit des Menschen statt, die einen Wertgewinn darstellt, der die Wertstörung im Leiden transzendiert. 104 Unvermeidliches und dennoch frei angenommenes Leid verändert seinen Charakter, es ist nicht mehr dasselbe und verliert oft durch diesen Akt seinen Stachel. Dies bedeutet keineswegs, sich mit dem Leid resignativ abzufinden, im Gegenteil: Wo Leid gewendet werden kann, soll es mit allen Mitteln bekämpft werden. Für den Quietismus gibt es kein prinzipielles Recht. Doch wo das Leid unabwendbar ist, da zerstört alles Hadern, Klagen und Wüten auf Dauer mehr, als dass es die Lage besserte; da tragen freie Annahme 104 Nach N. Berdjajew (1950) geht es in der Weltgeschichte – entgegen allem depersonalisierenden, sei es individuellen, sei es kollektiven Zwang – um nichts Anderes als um die Erweckung, Entfaltung, Bewahrung und Erfüllung der Freiheit der Person bzw. Personengemeinschaft.
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Möglichkeit und Unmöglichkeit des Gottesopfers
und Opfer zu Erleichterung und Lösung bei: Die durch Selbstüberwindung errungene Wandlung eines würdelosen Zwangsleids in ein würdevolles, weil die Freiheit bezeugendes und sich einem neuen, höheren Wertgeschehen öffnendes Opferleid durchbricht die scheinbare Absolutheit eines unveränderlichen Leidens. 105
6.26. Möglichkeit und Unmöglichkeit des Gottesopfers Die Strukturbestimmung der Wesensgestalt des Opfers hilft, die Frage zu klären, ob Gott sich aufopfern könne, denn keineswegs nur im Christentum wird behauptet, Gott opfere sich für das Heil der Menschen. Wer erkennt, dass im Opfer ein niedrigerer Wert für einen höheren, dadurch erst zu realisierenden Wert hingegeben wird, und zwar im Rahmen einer Zwangs- und Notlage, die eine neue Wertentscheidung verlangt, der sieht, dass Gott unmöglich sich für etwas anderes opfern kann. Wie sollte sich Gott, der die höchstmögliche, immer schon verwirklichte Wertrealität darstellt, für etwas noch Höheres, noch Unrealisiertes und erst durch das Opfer zu Realisierendes hingeben können? Und dies auf dem Hintergrund einer Zwangslage? Das ist sachlich unmöglich. Gott kann nicht in Not geraten, und ebenso wenig kann er auf einen höheren Wert, als er selbst ist, bezogen werden. In anderer Hinsicht mag von einem Gottesopfer die Rede sein, nämlich im Zusammenhang mit dem Gottmenschen. Hier wird jedoch nicht Gott selbst geopfert, sondern das Gotthafte in einem Menschen wird zusammen mit diesem Menschen mitgeopfert. Genau das ist der Fall in Leben und Schicksal des Christus (und vieler anderer gotteinsgewordener Menschen). Nach klassischer Überzeugung ist Christus als Jesus nicht nur Mensch, obschon dies ganz wesentlich und uneingeschränkt, sondern vergöttlichter, also zu Gott erhöhter Mensch. Philosophisch ausgedrückt bedeutet dies, dass er nicht wie Gott einfachhin aU, also immer schon aktualunendlich ist, sondern dass er aktualunendlich wurde, also aktualisiert-unendlich (atU), und zwar durch den aU Gottsohn im Menschen Jesus, der sich als 105 In existenzieller Hinsicht dürfte die freie Annahme der Kreuzigung durch Jesus Christus eine Transformation von Zwangs- in Opferleid darstellen, die kaum zu überbieten ist, zumal sie das Realzeichen dafür ist, dass kein noch so sinnloses und grausames Leid das letzte Wort des Lebens hat.
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Gott und das Leiden
Logos schon im Augenblick der Erschaffung des Geschöpfes Jesus mit dessen innerstem Wesen vereinigte und dieses so vergöttlichte. Dies ist etwas grundlegend Neues und stellt eine Transformation, die ungeheuerste Transformation überhaupt, die möglich ist, dar. Damit ist die Schöpfung überhaupt, in ihrem edelsten Geschöpf, unverlierbar gerettet, unendlich erhoben und ewig geheiligt. Gleich welches Schicksal die »übrige« Schöpfung erfährt, in Christus-Jesus-Logos sind Theodizee und Kosmodizee für jetzt und immer vollendet. Zunächst, wenn auch nicht zeitlich, so doch ontologisch ist Jesus Mensch, also E und pU, das heißt, erschaffen, begonnen, zeitlich, wandelbar und verleibt. Wenn man der christlichen Überzeugung Glauben schenkt, wurde sein geschöpflicher Wesenskern – wohl von Anfang an, wenn auch zunächst nicht manifest sichtbar – vergöttlicht, sprich zu Gott selbst bzw. genauer, zur zweiten Person Gottes, zum Gottsohn, dem Gottlogos erhoben und mit diesem zur völligen Identität vereint. Wenn dies wahrscheinlich schon mit der Erschaffung des Menschen Jesus (im Un- bzw. Tiefenbewusstsein) erfolgte, so wurde es doch im Laufe seines Lebens – wohl auch für ihn selbst – erst allmählich erlebbar, fühlbar, wahrnehmbar und damit vollbewusst klar. Diesen Gottmenschen schickte Gott mit dem Auftrag in die Welt, in der gottlosen Gottferne der Menschen das Kommen von Gottes Reich zu verkünden, in seiner Person erfahrbar zu machen und so die Menschen mit ihrem Ursprung zu verbinden und zu versöhnen. Jesus kam nicht, um zu leiden und in Qualen zu sterben, den Zorn Gottes zu besänftigen oder Rache zu üben, sondern um Erlösung und Glückseligkeit zu bringen: die »frohe Botschaft«. Doch was geschah? Er stieß auf Widerstand, auf Unverständnis, Neid, Unwilligkeit, Unduldsamkeit, Verstocktheit, Hass und Hochmut. 106 Und da wurde klar: Will Jesus seiner Herkunft und seinem Auftrag treu bleiben (statt zu fliehen und nur sich zu bewahren) und diesen gegen alle Ablehnung bezeugen, ist das Leiden unausweichlich und mit ihm der schandhafte Tod. Zwar hätte Gott seinen Gottmenschen, seinen »Sohn« aus dieser Lage herausziehen können, wie es in den Mythen oft geschieht, aber er sah die Folgen voraus und wusste, dass die Wahrheit, wenn sie nicht mit der äußersten Opferbereitschaft bezeugt und vertreten wird, schlimmsten Schaden erleidet, nicht als Wahrheit selbst, die unzerstörbar ist, sondern als Wahrheit in der 106
Vgl. die Parabel von den Weinbergspächtern, Neues Testament, Lukas 20, 9–18.
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Leiden als Vorschein der Durchgeistigung und Heiligung der Schöpfung
Welt und für die Menschen. Ohne den Tod Jesu wäre es, weil der Quellgrund des Alls vergiftet worden wäre, hoffnungslos finster in der Welt geworden, so aber ließ er mit seinem Opferleid und Opfertod einen unvergänglichen Schimmer des göttlichen Lebens in der Welt zurück, der sich als »Eschatologie« formierte. Das Opfer Jesu steht im Dienst der höchstmöglichen Wertbewahrung, nämlich der Rettung und Beseligung der Welt und aller ihrer Geschöpfe, vor allem der Menschen. Insofern Gott die Opferbereitschaft des Menschensohnes, des »leidenden Gottesknechtes« akzeptierte und mittrug, hat er seinen Sohn geopfert, aber nicht von vorneherein, sondern als Antwort auf die Ablehnung, die seine frohe Botschaft bei den Menschen erfuhr (vgl. den Prolog des Johannesevangeliums). Darüber hinaus wusste er in seiner Vorsehung, dass der Opfertod nicht das letzte Wort sein würde, sondern dass in der Überwindung desselben durch die Auferweckung die weltübersteigende Macht der Gottheit in einer Weise zum Vorschein kommen würde, die nicht zu überbieten ist. Jesus bleibt nicht das Opfer, sein Schicksal sind nicht nur Kreuz und Selbstaufgabe (für den Willen des Vaters), vielmehr lässt ihn sein Vater am Ende über alles Leid, über Schmerz, Qual, Unrecht, Bosheit und Tod triumphieren: Ostern. Und das ist es, was Gott will, zuerst und zuletzt, zwischendrin jedoch war er – menschlich gesprochen – genötigt, Leid und Opfer zuzulassen, nicht weil er voll Zorn, ein Sadist oder schwach ist, sondern weil er den Menschen nicht die letzte Hoffnung nehmen, sondern ihnen in einem gewaltigen kosmischen Drama den Weg zurück in die Liebe Gottes weisen wollte. Gottes Bundeszusage war so unbedingt, dass er bereit war, sein Bestes in der Welt, seinen Gottmenschen, und damit das Göttliche und sich selbst in diesem Menschen hinzugeben und so dem Leid, der Ungerechtigkeit und dem Tod auszuliefern. Genau dadurch hat er aber die Vorläufigkeit und Übersteigbarkeit von Leid, Unrecht und Tod ein für allemal offenbar gemacht.
6.27. Leiden als Vorschein der Durchgeistigung und Heiligung der Schöpfung: »Verklärung des Leidens durch das Leiden« Alles Leiden ist zugleich ein Seinsmangel und ein Unwert, jedoch kein absoluter Mangel und Unwert – das wäre nichts –, sondern ein relativer Mangel, eine Privation, damit stets auf ein Gut bzw. auf einen Wert bezogen. Das lehren viele psychische Leiden, die, weil sich 647 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
der Mensch darin noch leibseelisch spürt, dem Verlust des Selbstgefühls vorgezogen werden. Somit ist Leiden Leben, Sichspüren, ein Pulsieren des Herzens, wenn auch vermischt mit Schmerz und Zerrissenheit, mit Leere und Lähmung, mit Last und Erduldung. Vor allem wirkt im Leiden, wie gesehen, ein mächtiger Drang, das Leid, also Mangel, Zerrissenheit und Hemmung zu überwinden und einen Zustand der inneren Klarheit, Einheit, Harmonie, Kraft und Erfülltheit und so des Glücks herzustellen. Wo das auferlegte Leid, das schicksalhafte Zwangsleid, z. B. einer bösartigen Krankheit, eines schmerzlichen Verlustes, der erzwungenen Einsamkeit oder des nicht wiedergutzumachenden Unrechts, zu einem frei angenommenen Opferleid gewandelt wird, da erhebt sich aus dem niederdrückenden Dunkel der Not der Lichtengel der Freiheit und Würde des Menschen. Wohl geschieht dies nicht mit Notwendigkeit, denn Leiden ist ambivalent und kann stets in Verhärtung, Abschließung, Bitterkeit und Bosheit umschlagen, doch bietet es die Chance, sich dem höheren, reicheren, letztlich dem göttlichen Leben zu öffnen. 107 Insofern im Leid Unheil liegt, aber Heil ersehnt wird, antizipiert das Leiden die Heilwerdung und Heiligung des Seins und der Schöpfung überhaupt. Wäre dies nur eine Wunschillusion, bliebe rätselhaft, woher das Leiden überhaupt seinen Grund und seine Dynamik nehmen sollte. Denn dies bedeutete nichts anderes, als dass das Sein im Ganzen und prinzipiell – d. h. unübersteigbar! – mangelhaft, zerrissen, unrecht, krank und wertwidrig wäre, was absurd ist. Da das Sein, wie gesehen, nicht aus und von nichts kommen kann, sondern aus dem Unendlichen kommt (selbst und gerade bei der Annahme einer anfangslosen Welt ohne eine absolute Gottheit), und das Unendliche schon definitionsgemäß nicht beschränkt, also nicht mangelhaft sein kann, muss das Sein im Ganzen bzw. noch besser in seinem Ursprung und in seinem höchsten Seinsrang, wie auch immer man sich dies denkt, vollständig und erfüllt sein. Zudem ist klar, dass die Behauptung, das Sein sei grundsätzlich mangelhaft, leidvoll und krank, einen Maßstab voraussetzt, der unmöglich außerhalb des Seins im Ganzen liegen kann, also ein seiender Maßstab sein muss, nicht ein Nichts oder ein
107 So ist kein Zweifel, dass Menschen wie A. Hitler, J. Stalin u. a. in ihrem Leben, besonders als Kinder viel (und viel zu viel) Not und Gewalt, Demütigung und Gemeinheit erfahren haben, doch wurde all dies für sie nicht zum Anlass, sich für das Gute einzusetzen, sondern sich mit ihrer ganzen Person für das Böse, vielleicht sogar das endgültig Böse zu entscheiden.
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Das reine Leiden als Ort der Gottvereinigung
bloßer Gedanke (der auch ein Seiendes ist und irgendwoher kommen muss), welcher Maßstab, insofern er ein Seiendes ist, notwendig mangellos, leidfrei und gut ist. Ist dies so, dann ist alles Leid und Schlechte auf ein umfassenderes, vollkommeneres und vollkommenstes Sein bezogen, das vielleicht verschleiert, aber nicht nur Chimäre ist. Somit zeigt sich das Leid, vor allem wenn es frei angenommen wird, als Vor- und Durchschein eines größeren Lebens. Diese Transparenz können nur der »Geist«, das Bewusstsein, die eine Art »Licht« und »heller Raum« sind, leisten: Schon im Erleben, Wahrnehmen, erst recht im Verstehen, liebenden Annehmen und tapferen Überwinden des Leids kommt dieses »weitende Licht«, das das Zwielicht des werdenden Seins durchdringt, zur Geltung. Entsprechend muss das Sein geistfähig und geisthaltig sein und muss diaphanisiert werden können. Da sich der Mensch dieses Licht nicht selbst geben kann, vielmehr diese Lichtungsfähigkeit zu eigen und als Mitgift auf den Weg des Lebens mitbekommen hat, muss es einen Seinsgrund dieser »Lichtungspotenz« geben, die über den Menschen hinausliegt und ihn jederzeit zu durchdringen vermag, mehr noch: immer schon partiell durchdringt. 108 Recht besehen, drängt alles im Leben zu dieser Lichtung und Transparenz bzw. ist diese je schon, was insbesondere auf jenes Leid zutrifft, das auf schmerzliche Weise zur Geburtshelferin des Lebens wird. Wer das Leid annimmt und auf ein höheres Sein bezieht, der ist an der Heiligung des Seins beteiligt und bringt seinen letzten Sinn auf den Weg. Welches aber ist dieser Sinn?
6.28. Das reine Leiden als Ort der Gottvereinigung oder das Leiden als »Seinsbrand« in Gott O que ma quille éclate! O que j’aille à la mer! – O bräche doch mein Kiel! O sänk ich in das Meer!« (Le bateau ivre, A. Rimbaud)
Dieser Sinn ist das Ursein selbst und sein ihm einwohnender Sinn – das Sein im Urstand, dort, wo es werdelos in Fülle steht. Annäherung an diesen Ursinn, Berührung und Vereinigung mit diesem Ursein, 108 Siehe N. Berdjajew (1949, 123): »Die Last des Kreuzes zu tragen heißt: das Leiden verklären, indem man es geistig durchlebt.«
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Gott und das Leiden
von der russischen Religionsphilosophie als »Theosis« bezeichnet, sind alles andere als leicht und selbstverständlich. 109 Im Gegenteil ist damit notwendig ein schmerzhafter Such- und Läuterungsprozess verbunden, dem die menschliche Natur, vor allem wenn sie »beschmutzt« und voll Scham ist, unwillkürlich ausweicht. Die Menschen müssen ihn dennoch gehen, wollen sie nicht ihr Selbstsein, das unendlich mehr als das Ichsein ist, verspielen. 110 Wo er durchhält, wird der Mensch am Ende mit einer Freude belohnt, die einem reinen Leiden entspringt, das darin besteht, erleben und erdulden zu lernen, dass die Gottheit selbst in ihm Raum nimmt. 111 Warum eignet diesem Geschehen unausweichlich Leidvolles? Selbst wenn Suche und Läuterung durchlaufen und gelungen sind, geht die Aufnahme der Gottheit, des aU in das pU, über die Fassungskraft des pU Geschöpfes hinaus. Was dabei an schier das Geschöpf sprengender Überfülle erlebt wird, kann nur durch die Gottheit selbst zusammengehalten, gemildert und erträglich gemacht werden. Denn das aU übersteigt das pU um Unendliches, auch wenn das pU natürlicherweise zur Aufnahme des aU berufen und befähigt ist. Trotzdem lässt sich das aU durch das pU nur dadurch »fassen« (oder eigentlich nicht fassen), dass das pU in einem fort »überfließt«, was einem Geschehen überquellender Glückseligkeit entspricht. Insofern dieses Überfließen in gewissem Sinne ein ständiges Nicht-fassen-Können, aber Fassen-Wollen, ja Fassen-Müssen zum Ausdruck bringt, wird es, zumindest anfangs, mit der Angst erlebt, zerreißen, zerbersten oder verbrennen zu können. Wie ein innerer Brand wird diese Überfülle zu einem glückseligen Leiden, das nicht bzw. nur im Falle des Gottmenschen aufhört, der nicht nur durchgöttlicht (daU), sondern vergöttlicht (vaU = atU) wird (bzw. immer schon, d. h. mit seiner Erschaffung, ist), so dass das Gefäß seines pU-Seinsbestandes, weil 109 Siehe N. Berdjajew (1949, 154): »Die Theosis ist die Grundlage der christlichen Mystik des Ostens und bedeutet weder eine mystische Identität mit Gott noch eine Erniedrigung des Menschen und der geschaffenen Welt. Die Theosis vergöttlicht den Menschen, lässt ihn in das göttliche Leben eindringen, ohne das Menschliche auszulöschen.« – Religionsphilosophisch aufschlussreich ist, dass sowohl der orthodoxe Islam als auch der orthodoxe Protestantismus der Theosis kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, gemäß dem Vers von P. Claudel »Ich kann nicht Gott werden, und Er kann nicht Mensch werden« (»Der seidene Schuh«, Dritter Tag, 10. Szene, die den theologisch-mystiktheoretischen Höhepunkt des Dramas darstellt). 110 Vgl. E. Brunner (1958, 51). 111 Zur Begegnung mit Gott aus philosophischer Sicht vgl. B. v. Brandenstein (1954, 121–129).
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Das Leiden des Scheiterns
zum atU geworden, nicht mehr überfließen kann und muss. Im Falle des nicht-vergöttlichten, sondern nur durchgöttlichten Menschen – und das sind alle außer dem einen Gottmenschen – ist es Gott, der das Nicht-Fassen-Können seitens des Geschöpfes fasst und vor dem Zerbrechen oder Verbrennen bewahrt. Daher müssen aller Vereinigung Läuterung, Übung und sachte Berührung vorausgehen, oft über Jahrzehnte. So ungeheuerlich es klingen mag, so ist es doch wahr: Das »Leiden« hört in Ewigkeit nicht auf, doch handelt es sich um ein ewig seliges Leiden, ein endloses Immer-weiter-Hineinsinken in Gott, verursacht vom Erleiden einer unaufhörlichen Begnadung und Beschenkung des pU mit dem aU durch das aU Gottes im daU des Gottmenschen.
6.29. Das Leiden des Scheiterns Aus der Sicht der Gottheit kann das Leben, gleich wie verworren, unvollkommen und falsch es ist, im Letzten nicht scheitern. Rettung und Durchgöttlichung der Welt können, da Gott sich dies selbst »schuldet«, nicht misslingen, es sei denn, sie werden – dann aber nur von einer Auswahl Rebellen – endgültig abgelehnt. Was aber in der Unendlichkeit unmöglich ist, ist in der Endlichkeit dieses kurzen Lebens keineswegs unmöglich: In der Tat ist hier ein »endgültiges« Scheitern nicht nur möglich, sondern häufig. Das Wissen, dass Gott für die Ewigkeit alles »richten und wiedergutmachen« kann, schützt nicht vor dem Schmerz, in diesem Leben in irgendeiner wesentlichen Hinsicht verunglückt zu sein oder versagt zu haben. Denn die Menschen wollen hier schon ihre besten Möglichkeiten gelebt haben. Zwar verdrängen nicht wenige die Bitterkeit des »ungelebten Lebens«, indem sie das Scheitern in eine bloße Sache der Definition umdeuten, die angeblich in ihrem Belieben stehe und das Scheitern als ein Gelingen in anderem Gewande erscheinen lässt. Doch unerbittlich holt der bittere Schmerz des Ungelebten, das unbedingt hätte gelebt werden sollen, ein. Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich Verunglückung, Scheitern und Versagen einstellen: –
Der Scheiternde muss partiell frei und darf nicht in jeder Hinsicht determiniert sein; 651 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
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sein Leben muss ein Ziel haben, das einen größeren Grad an entfalteter und empfangener Fülle als am Anfang aufweist und zum unveräußerlichen Wesensbestand seines Lebens gehört; er muss befähigt sein, auf dieses Ziel mit eigenen Kräften zuzugehen, d. h. sich an seiner Verwirklichung zu beteiligen. Damit dies gelinge, müssen die entsprechenden Möglichkeiten und Mittel, Förderungen und Hilfen verfügbar sein.
Hat der Mensch erhalten, was er zur Selbstvervollkommnung braucht, und unterlässt die Verwirklichung der eigenen Lebensmöglichkeiten, obwohl er nicht daran gehindert worden ist, hat er seine Freiheit nicht ergriffen und ist in dieser Hinsicht – vorläufig oder endgültig – gescheitert. Hierbei sind zwei Fälle zu unterscheiden, ein Scheitern aus Freiheit und ein Scheitern, das schicksalhaft bedingt ist und tragisch genannt zu werden pflegt. Im realen Leben mischen sich beide Varianten, schmerzhaft sind sie beide. Wenn es einem Menschen z. B. aufgrund schwerer Traumatisierungen in Kindheit und Jugend nicht gelingt, einen Menschen zu finden, den er liebt und von dem er geliebt wird, dann wird er, obwohl kein schuldhaftes Versagen vorliegt, dennoch den bitteren Schmerz der Einsamkeit, der Lieblosigkeit und des Scheiterns der eigenen Bemühungen, also der eigenen Unwirksamkeit und des »ungelebten Lebens« mit allen furchtbaren Folgen erleiden müssen, und das umso mehr, je engagierter er versuchte, sich von seinen Altlasten zu befreien und Raum für seine neue Existenz zu schaffen. Setzt man voraus, dass die Liebe zum Wesensbestand bzw. »Ziel« eines erfüllten Lebens gehört, ist ihr Ausbleiben ein schwerer Mangel, der sich nicht schönreden lässt und anzeigt, dass hier etwas »nicht geglückt« ist. Gründet dieser Mangel dagegen in einer selbstgewählten Einstellung, etwa in der Verweigerung, sich mit therapeutischer Hilfe von negativen Prägungen und ihren Fehlverarbeitungen zu befreien, wird aus einem schicksalhaften ein schuldhaftes Scheitern, das schwerer wiegt und einen Menschen seelisch erdrücken kann. Was aber macht, tiefer gefragt, das besonders Bedrückende des Scheiterns, Versagens und Misslingens aus? Ich sehe drei Momente: –
erstens die subjektive Gewissheit des »ungelebten Lebens«, das Gefühl, eine wichtige, im Grunde unverzichtbare, weil den Sinn und Wert des eigenen Lebens ausmachende Lebens- und Selbstwerdungsmöglichkeit vergeben und verpasst zu haben, also z. B. die Chance zu einer guten Tat, zu einer Liebe oder zu einem
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Das Leiden des Scheiterns
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großen Werk aus Angst oder Bequemlichkeit nicht ergriffen zu haben; zweitens das Gefühl der Endgültigkeit, also das Gefühl, für dieses kurze Leben entweder mit Sicherheit oder mit großer Wahrscheinlichkeit keine zweite Chance mehr zu bekommen, was etwa der Fall ist, wenn eine Wiedergutmachung unmöglich wurde, weil der Geschädigte vorzeitig verstarb; und drittens das Erleben, entweder aus eigenem Unvermögen versagt zu haben, also am eigenen Unglück schuldig geworden zu sein, oder im Falle der Schuldlosigkeit vom Schicksal gewissermaßen »abgewiesen« bzw. »verworfen« worden zu sein. Religionen und Denker, die wie der Calvinismus das Erbarmen Gottes am Erfolg festmachen oder die die Sünde tendenziell verabsolutieren wie M. Luther, bedienen sich dieser Kategorie der »Verworfenheit«, die nachweisbar unermessliches Leid, im Grunde völlig unnötig, verursacht hat. 112
Während die Idee der Verwerfung theologisch unhaltbar ist, stellt das Endgültige für dieses Leben durchaus eine Kategorie dar. Und da die Menschen berufen sind, das Beste aus ihrem Leben zu machen, können sie nicht unberührt bleiben, wenn ihnen dies nicht gelingt. Denn nach der hier vertretenen Auffassung, die die Reinkarnation ablehnt bzw. in ihr einen Abwehrmechanismus jener irdischen Endgültigkeit sieht, gibt es auf dieser Erde nachtodlich keine zweite Chance, was bedeutet, dass das Bild, das die Menschen im Irdischen von sich zurücklassen, für alle Ewigkeit bestehen bleibt, selbst wenn es in der Ewigkeit grundlegend korrigiert und ergänzt werden wird. Dass die Menschen auf Erden so und so waren und das und das erreicht bzw. nicht erreicht haben, wird irreversibel sein. Wie kann der Mensch solch einem drohenden oder schon eingetretenen Versagen begegnen? Die wichtigste Erkenntnis der Metaphysik des Leidens ist die tröstliche Mitteilung, dass das letzte und höchste Glück nicht in der Hand der Menschen liegt und somit vor dem Misslingen, Versagen und Scheitern geschützt ist. Wer auf Gott vertraut und sich ihm ganz hingibt, der mag in diesem Leben alles falsch gemacht und das Schönste und Lebendigste dieses Lebens verpasst und verspielt haben, in der Ewigkeit gewinnt er alles wieder, nämlich sein bis dahin ungelebtes Leben und vor allem die Fülle der 112
Vgl. den Film »Das weiße Band«.
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Gott und das Leiden
Gottheit selbst. 113 Wohl enthebt diese Gewissheit nicht der Bemühung, schon in diesem Leben das eigene Potential zu entfalten und den eigenen Lebensaufträgen gerecht zu werden, am Leben in seiner Vielfalt, Breite und Tiefe teilzuhaben, aber zum letzten Maßstab muss dies nicht gemacht werden. Das irdische Misslingen lässt sich so mit Demut und Freude tragen. Denn wem misslingt nicht Entscheidendes auf Erden? Wer würde behaupten wollen, nie versagt bzw. alles, was in ihm steckt, verwirklicht zu haben? Der letzte Maßstab muss sein, jene Hauptaufgabe zu meistern, die dem Einzelnen wie den Völkern gestellt ist, und das kann in manchen Fällen schon darin bestehen, dieses Leben überhaupt durchgehalten zu haben. Darüber hinaus lehrt das Leben, dass im Scheitern ganz unerwartet und unvorhersehbar ein Gelingen liegen kann. Dieses Gelingen zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht vom Scheiternden intendiert und realisiert wurde, sondern sich – scheinbar ohne sein Zutun – fügte. Das ist z. B. der Fall, wenn das Werk eines zu Lebzeiten verkannten Künstlers, man denke an Vincent van Gogh, nach seinem Tod entdeckt wird und, wie man sagt, »Epoche macht«. Ähnliches ist von Philosophen, Mystikern und besonders Mystikerinnen, Dichtern und vielen im Verborgenen tätigen Menschen bekannt. Man denke an B. de Spinoza und die heilige Theresia von Lisieux.
6.30. Das Leiden der Gottferne, der Gottlosigkeit, der Widergöttlichkeit und sein Sinn Gott ist fern, weil der Mensch an seinem ursprünglichen Wesen und Auftrag scheiterte. 114 Was aber ist diese Ferne genau? Apriori ist eines sicher: Total außer Gott kann nichts bestehen, und also kann er nicht »im absoluten Sinne« fern sein. In der Tat, wenn Ferne ein absolutes »Außer-Gott«, ein metaphysisches »Ohne-Gott« meint, dann gibt es keine Ferne. Insofern jedes Seiende direkt oder indirekt von Gott abhängt, kann es ohne Ihn weder entstehen noch bestehen. Die Ferne muss etwas anderes bedeuten – aber was? Wenn man den Menschen im Bild eines Gefäßes bzw. einer Schale denkt, dann nähert man sich der Lösung des Problems an: Gott, der dieses Gefäß als seelisch-geis113 Ich neige dazu, das wunderhafte Ende der Hioberzählung als Gleichnis für die Beschenkung eines verunglückten Lebens mit der göttlichen Fülle zu deuten. 114 Vgl. B. v. Brandenstein (1984, 158–169: »Der moderne Mensch vor Gott«).
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Das Leiden der Gottferne, der Gottlosigkeit, der Widergöttlichkeit
tige Kraft direkt erschaffen und zudem in einen Leib eingeschaffen hat, trägt dieses Gefäß, und zwar in jedem Fall, wogegen offen ist, ob er – im Bilde gesprochen – die Schale nur in Händen hält oder ob er seine Hände in sie hineintaucht und sich am Ende selbst mystischgeheimnisvoll hineinströmen lässt. Beides ist möglich. 115 Und wie zu vermuten, war Letzteres am Anfang der Menschheit, als der Menschengeist noch direkt bei Gott wohnte, in gewissem Umfange der Fall. Die Ferne Gottes meint den Verlust der unmittelbaren Fühlungnahme und Einheit von Mensch und Gott, der Schau von Angesicht zu Angesicht, des Kreislaufs der Liebe. Da dies der Letztsinn des Menschengeistes ist, muss der Verlust dieses »Voll- und Urlebens« einen unsäglichen Schmerz bedeuten. Ohne erlebten Gott sein, heißt vom Ursinn, von der Fülle des Lebens, vom Quellgrund des Seins, vom reinen Licht, von der Kraft und Seligkeit abgeschnitten zu sein, heißt, in eine Wüste, Leere und in einen »unendlichen« Mangel geraten zu sein, der so unerträglich ist, dass der Mensch ihn fast zwangsläufig verdrängt und kompensatorisch durch allerlei Ersatzmittel, letztlich durch alles Welthafte, durch Egoität und Weltdinge, selbst befriedigen muss. Das bedeutet, dass der Mensch erlebnismäßig in der Gottlosigkeit und damit nah an Tod und Nichts lebt. In welcher prekären, geschwächten und gefährdeten Lage er sich damit befindet, liegt auf der Hand. Genau diese Lage provoziert alle Kräfte in ihm, um vom alles zu verschlingen drohenden Nichts weg zurück zum Ursein zu finden, womit die Urbewegung des kosmisch-metaphysischen Dramas begründet ist, jene Urbewegung, die den dynamischen Grundsinn des nichtgöttlichen Seins ausmacht: aus der Widergöttlichkeit – dem Verfallensein an die Welt und an seine Egoität – in die Gottlosigkeit zurück zur Gottvereinigung zu finden, einzeln und gemeinsam mit anderen. Der Sinn des Seins ist ein dramatischer Sinn: Wille, Handlung, Werk, Kampf, Konflikt, Schuld, Schmerz, Leid, Selbstanklage, Reue, Sühne, Reinigung, Hilfe, Erlösung, Erhöhung und schließlich Heimkehr. Noch dauert der Kampf an, doch ist Erlösung versprochen. Auf Heimat darf gehofft werden.
115 Vgl. B. v. Brandenstein (zur mystischen Begegnung: 1954, 121–129; 1984, 9–34: »Der Halt im Sein«).
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Gott und das Leiden
6.31. Der Sinn von Gottes Schweigen und die Sprachen Gottes Salomon sagt: »Der Herr hat geredet, er wolle im Dunkel wohnen.« (1. Könige 8, 12)
Überall, wo die Idee des »deus revelatus«, des sich offenbarenden Gottes auftaucht, taucht die Idee des »deus absconditus«, des verborgenen Gottes auf. Offenbart sich solch ein Gott in Form der Rede, impliziert dies die Möglichkeit der Verbergung in Form des Schweigens. Seine Möglichkeit setzt die Nicht-Identität von Gottheit und Welt voraus, da ein Göttliches, das mit dem Weltsein identisch ist, nicht verborgen sein kann. Nur ein Gott, der gegenüber dem Sein der Welt souverän ist, kann sich verbergen und kann schweigen, kann auf die Welt zugehen oder sich von ihr zurückziehen. Der pantheistische Gottesbegriff schließt dies aus, der hier entwickelte Gottesbegriff schließt diese Möglichkeit ein; ihr liegt eine Notwendigkeit zugrunde. Wenn Gott, wie hier aufgewiesen, ein zeitlos-ewiges, nur präsentes und aktualunendliches Wesen ist, dann kann er von einem pU- oder E-Wesen nicht vollständig erfasst werden, und dementsprechend gibt es einen göttlichen Seinskern, der nicht geoffenbart werden kann. Oder anders: Nur ein Weltwesen, das zu Gott erhoben und nicht nur durchgöttlicht, sondern vergöttlicht würde, nur ein solches Wesen wäre in der Lage, die innerste Seinsmitte der Gottheit, den »Vater« – als den Ursprung des Ursprungs – und seinen Selbstgrund zu erleben, anzuschauen und zu erfassen. Für nicht vergöttlichte pUund E-Wesen bliebe selbst der direkt sich zeigende Gott immer auch verborgen, fern, unerreichbar und damit verschwiegen. Im christlichen Horizont bedeutet dies, dass nur der Gottmensch Jesus Christus die Gottheit und ihren (letzten) Willen, den »Vater«, sein Ursein, durch und durch erkennt und erfasst. Allen übrigen Geschöpfen sind dieser »Vater« und sein Willensgrund in dieser Welt ganz, in der anderen Welt teilweise verborgen. Darum täuschen und überheben sich all jene »Esoteriker«, die glauben zu wissen, was der Wille Gottes sei. Im konkreten Einzelfall diesen zu erkennen, ist wegen der Verborgenheit Gottes, wegen seiner zumeist nur mittelbaren Offenbarung und wegen der Vieldeutigkeit des Weltgeschehens sehr schwer und geht außerdem mit einem schmerzhaften Läuterungsprozess einher, in dessen Verlauf Gottes Wille nur dem offenbar und klar wird, der sich vom Ego mit seinen kleinen Interessen, Wünschen und Ängsten
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Der Sinn von Gottes Schweigen und die Sprachen Gottes
frei gemacht und sich zu einem »großen Selbst« transformiert hat bzw. hat transformieren lassen. Auf dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Verborgenheit entfalten sich weitere Verborgenheiten Gottes und Formen des Schweigens, die nicht absolut und notwendig, sondern relativ und vorläufig sind. Zuerst muss jedoch ein Einwand bedacht werden, der besagt, Gott würde nicht schweigen, vielmehr seien es die Menschen, die ihn aufgrund des Seelenlärms, den sie veranstalten, nicht hören – denn in Wahrheit spreche er ständig zum Menschen. Diese Aussage ist nicht rundweg falsch, aber sie muss differenziert werden, allein deswegen, weil es Gott möglich wäre, den menschlichen Seelenlärm und seine Zerstreutheiten, wenn er wollte, zu übertönen (was er auch manchmal macht). Aber im Allgemeinen will er das nicht. Und das heißt, dass er dazu erziehen will, innerlich still und hörend zu werden, was wiederum nichts anderes bedeutet, als dass die Menschen von ihren Eigensüchteleien, kleinmütigen Sorgen, Ängsten und ihrer Gottvergessenheit frei kommen. Folgt daraus, dass Gott nie schweigt bzw. sich den Menschen nie entzieht, dass er immer da und zugänglich ist? Ja und nein. Denn indirekt ist er immer zugänglich, direkt aber nicht. Insofern die Menschen seine Geschöpfe sind, er sie erschaffen hat, hält und trägt, insofern ist er immer da, genauer, in seinen Spuren da, aber nicht als er selbst. Unmittelbar als er selbst ist er den Menschen primär nicht zugänglich, weil die Menschheit als ganze außerhalb des Reiches Gottes lebt und zudem ihrer Freiheit, aber auch ihrer emanzipierten Gottverlassenheit ausgesetzt wurde. In dieser Hinsicht schweigt Gott – er ist »weg«. Wie aber die Religionsgeschichte lehrt, teilt er sich immer wieder in vielfältigen indirekten und direkten Weisen mit. Die wichtigsten indirekten Formen sind folgende: 116 1.
Wenn Gott den Menschengeist erschafft, dann wählt er ihn aus unendlich vielen nichtergriffenen Möglichkeiten aus; er will genau diesen, und zwar so, wie er ist, mit den von Ihm mitgegebenen Grundmöglichkeiten des Wollens, Handelns, Denkens, Erkennens, Fühlens, Imaginierens und Erinnerns, mit seiner Sensibilität, Einfühlung, seinem Temperament usw. In diesen
116 Zu »kleinen«, alltäglichen Formen der göttlichen Mitteilungen und Hilfestellungen vgl. E. Schick (1938).
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Gott und das Leiden
2.
3.
4.
»Zeichenspuren« offenbart Gott indirekt, was er mit diesem Menschen vorhat und von ihm will. Indem Gott ihn im Weltgeschehen an einen bestimmten Platz, in eine bestimmte Zeit und in eine bestimmte familiäre, soziale, politische und kulturelle Situation stellt, teilt er ihm indirekt und damit vieldeutig mit, was seine Möglichkeiten und Aufgaben, seine Probleme und Schwierigkeiten, seine Prüfungen und Grenzen, die er zu bewältigen habe, sind. Weiter spricht sich Gott indirekt darüber aus, wen er diesem Menschen begegnen lässt, was ihm die anderen Menschen und überhaupt alle pU-Geistkräfte (einschließlich die hinter dem Naturgeschehen stehenden Naturgeistkräfte) zutragen und was nicht. Auch das ist eine vieldeutige und damit nicht eindeutige, allerdings sinnreiche Sprache. Weiter gehören zu den indirekten Mitteilungen jene Einwirkungen, die zwar von Gott her direkt in das Ich bzw. in sein Leben eindringen, aber nicht Gott selbst sind, sondern nur seine göttlichen Wirkungen, z. B. Schickalsschläge, geschichtliche Fügungen, Aufforderungen, Mitteilungen anderer Menschen etc., vor allem jedoch all das, was die Seele direkt und innerlich trifft, z. B. Stärkungen ihres Willens, Erleuchtungen ihres Verstandes, Vertiefungen und Verfeinerungen ihres Gefühls, Intuitionen, Imaginationen, Inspirationen, Visionen, Ahnungen und Einwirkungen in Form menschlicher Worte, also Auditionen. All dies wirkt Gott zwar direkt, aber ohne darin selbst als er selbst gegenwärtig zu werden, was heißt, dass er verborgen bleibt und »schweigt« bzw. nur indirekt »redet«. Da diese Rede nicht Gott selbst ist, bleibt sie meist vieldeutig und muss ausgedeutet werden. Warum aber? Und wieso ist dies ein so mühsamer Prozess, der oft im Vagen stecken bleibt? Insoweit Gott in diesen Fällen nur einwirkt und nicht selbst erscheint, mischt sich in seine Wirkungen das Mitwirken oder wenigstens Geschehenlassen der Geschöpfe – die Gottesmitteilungen, insoweit sie der Mensch »versteht«, sind beeinflusst von seiner Fühl-, Denk- und Vorstellungsweise, seiner Sprache und seinen kulturellen Normen, und eben das bringt für das betreffende Geschöpf die Schwierigkeit mit sich zu unterscheiden, was von Gott, was von ihm als Geschöpf selbst, etwa von seinem »Unbewussten«, oder was von anderen »Geistern« herrührt. Erst die langwierig und leidvoll erlernte, im Wesen nicht abschließbare und selten nur zur vollständigen
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Der Sinn von Gottes Schweigen und die Sprachen Gottes
Gewissheit führende Kunst des Unterscheidens kann hier Klarheit bringen. Die Bibel und der Koran stellen nach ihrem Selbstverständnis die klassischen Formen solcher – indirekten und zumeist vieldeutigen, daher interpretationsbedürftigen und oft durch menschliche Projektionen verzerrten – göttlichen Mitteilungen dar. 117 Im vollen Sinne offenbar wird Gott erst dann, wenn er sich selbst, sprich als Ursubjekt in seinem Selbst- und Ichsein zeigt. Dies geschieht dann, und zwar nur dann, wenn er als Person, Subjekt, Macht und Geist selbst im Menschenich auftaucht, denn weder das Ichsein Gottes noch das Ichsein des Menschen sind objektivierbar, können also nicht, etwa als Vorstellung, Gestalt oder Bild, vergegenständlicht und verdinglicht werden. Wenn das aU Ich Gottes im pU Ich des Menschen direkt erscheint, wird das pU Ich an diesem Punkt durchgöttlicht und zu Gott erhoben, also selbst partiell Gott. Was dies erlebnismäßig bedeutet, kann kaum beschrieben werden, Paulus und viele Mystiker versuchen dies, doch sprengt es alle Vorstellungskraft. Dabei wird nicht das ganze Menschenich erhoben, sondern nur sein Kern. Und auch die Gottheit erscheint nicht total, sondern nur in einem, allerdings unendlichen Aspekt, z. B. als Willenskraft oder als erleuchtende Vernunft oder als Liebe. Nur im Gottmenschen Jesus wird jeder Menschaspekt mit jedem Gottaspekt, also die gesamte Trinität Gottes mit der ganzen trinitarischen Struktur des Menschengeistes verbunden, als Willensperson oder Kraft, als Vernunftperson oder Weisheit und als Gefühlsperson oder Liebe. Dieser Vorgang 117 Dies bedeutet, dass jede biblische bzw. koranische Aussage durch das kulturell geprägte Denken, Begehren und Sprechen des Menschen hindurchgeht und daher verzerrt und verfälscht werden kann, aber keineswegs muss. Bis heute ist es ein Desiderat, dass die göttliche Botschaft immer besser aus den von Menschen verfassten Texten herausdestilliert werde, um so rein wie möglich zu erscheinen. Wenn z. B. im 1. Buch Samuel 15, 1–35 Jahwe durch den Priester Samuel die Ausrottung des Volkes Amalek anordnet: »Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel!«, so stellt dies einen Genozid dar, der, wie dies zu dieser und zu späterer Zeit auch bei anderen Völkern verbreitet war, einer menschlichen Rachephantasie entspringt, die zum Zwecke der Rechtfertigung auf Gott projiziert wird. Nicht nur durch die Weltgeschichte, auch durch die »göttlichen Texte« kämpft sich das Göttliche nur allmählich hindurch und erscheint selten darin – so etwa bei den Propheten, im Hohelied, im Vaterunser, im Magnificat und in vielen Paulus- und Johannestexten – ganz rein. Welche ungeheuren Gefahren und Leiden drohen, wenn Gott durch menschliche Vorstellungen instrumentalisiert wird, zeigt das gegebene Beispiel.
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Gott und das Leiden
kann punktuell oder in begrenzter Dauer oder endlos oder ewig stattfinden. Solange Menschen irdisch gebunden sind, ist die erlebte Dauer dieser unio mystica wohl stets begrenzt, so auch bei Jesus, der aufgrund eines tief sinnhaften Erlösungsgeschehens am Kreuz den totalen Gottesentzug und damit das totale existenzielle Gottschweigen durchleiden muss und erlebnismäßig zum Nur-Menschen, zum Nur-Geschöpf wird. Doch genau dadurch holt er noch das gottloseste Geschöpf, so es denn will, in Stellvertretung heim. Eine besondere Not erhält das Schweigen Gottes immer dann, wenn das Geschöpf dringlichst Hilfe, Rat, Weisung und Klarheit benötigt, diese aber aus undurchschaubaren Gründen nicht erhält. Warum »quält« Gott sein Geschöpf hier? Er quält nicht, sondern er lehrt erstens, dass die Menschen bloße Geschöpfe sind, die ohne seine Hilfe letztlich verloren sind, womit er ihre Demut befördert bzw. ihren Hochmut oder sonst eine widergöttliche Unreinheit offenbar macht und erschüttert. Zweitens erzieht er dazu, nicht allzu früh mit Gott zu rechnen, sondern erst das gesamte persönliche und zwischenmenschliche Potential, die Tiefen der geschöpflichen Freiheit und Kreativität zu aktivieren und zu realisieren, damit nicht das, womit die Geschöpfe begabt sind, unerweckt und ungenutzt bleibe. Würde Gott hier voreilig eingreifen, würde er zwangsläufig (und damit zwangsmäßig) das Potential ihrer Freiheit und gegenseitigen Hilfeverpflichtung vernichten. 118 Kaum jemand hat das besser gesehen und eindringlicher dargestellt als F. Dostojewskij in seiner Parabel vom »Großinquisitor« im Roman »Die Brüder Karamasow«. Schließlich kann es sein, dass Gott durch sein Schweigen, sprich durch seine vorläufige Weigerung zu helfen, zu raten und zu weisen, ein Selbstopfer verlangt: das Opfer des Wunsches, Klarheit zu haben, und das Opfer eines bestimmten Wunsches, z. B. zu erkennen, ob dieser Beruf oder jener, ob die Ehe oder die Ehelosigkeit zu wählen sei. Es kann aber auch sein, dass sein Schweigen den indirekten Aufruf darstellt, den Menschen und seine Lebenssituation – einschließlich seiner Lebensgeschichte und ihrer Muster – zu hinterfragen und selbst zu klären. Gott nimmt es niemandem ab, die selbst- und fremd-
118 So müssen z. B. viele Patienten »unnötig« leiden, weil ihre Ärzte keine Zeit und keine Geduld, keine Einfühlung und kein Interesse haben, sich tiefer in das Krankheitsgeschehen hineinzuarbeiten. Trotzdem sollten die Patienten hartnäckig bleiben, da ihr Leid an diesem Punkt den Sinn hat, die Ärzte aufzurütteln. Es sind die Ärzte, leider, die, um ihrem Arztsein gerecht zu werden, das Leid der Patienten nötig haben.
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Der Sinn von Gottes Schweigen und die Sprachen Gottes
gestrickten Muster anzuschauen und aufzulösen. Unterstützen tut er die Menschen wohl immer, wenn sie ihn darum bitten. Gelingt diese Selbstaufklärung mit Unterstützung anderer Menschen, etwa von Fachleuten, Priestern und Therapeuten nicht, gilt es, sich zu ergeben, das eigenmächtige Erkennenwollen aufzugeben und sich – horchend auf den eigenen weiteren Lebensgang – zu gedulden. Denn die Zeit heilt nicht nur Wunden, sondern lichtet auch so manches Dunkel. Die vielleicht schwierigste Situation hat man vor sich, wenn ein Mensch auf eine existenzielle Fragestellung nur negative Antworten erhält, sprich nur erfährt und erleidet, dass etwas nicht geht. So kenne ich den Fall, dass ein Mensch auf die Frage, ob Gott ihn für die Ehe oder für die zölibatäre Gemeinschaft bestimmt habe, stets nur ein Nein erfährt, also weder bei seinen Versuchen, einen Lebenspartner zu finden, noch bei seinen Versuchen, in eine Gemeinschaft einzutreten, ans Ziel kommt. Ein solches Leben verharrt in quälender Schwebe und verhindert das Fortschreiten auf dem Lebensweg. Und doch kann gerade dies einen tiefen, gottgewollten Sinn haben, da es offenbar macht, wie radikal die Menschen, was das Glücken ihres Lebens angeht, auf Gottes Weisung angewiesen sind. »Weisung« meint hier keine Rede, sondern ein Fügen der Dinge, das leben und voranschreiten lässt, meint gleichsam einen lebendigen Dialog der Dinge mit den Menschen. Wem dies an entscheidender Stelle nicht gewährt wird, der leidet wie Hiob und muss lernen, sich in solch radikaler Orientierungslosigkeit Gott ganz anheimzugeben. Vielleicht ist das die dritte Möglichkeit: der Weg mit Gott als Wegelosigkeit in der Welt, das Schweigen Gottes in der Welt als Gespräch mit ihm in der Seele. Der tiefste Sinn von Gottes Schweigen darf aber wohl darin gesehen werden, dass ihm ein reines Hören entspricht. Während die Menschen oft, wenn sie mit Anderen reden, nur sich selbst hören, ist das Hören Gottes, ohne sich »vorlaut« einzumischen, ganz nah beim Anderen, still, unendlich gütig alles anhörend, zulassend, gewährend – Gottes Schweigen ist hier völlige Selbstzurücknahme. Das Schweigen Gottes ist demnach möglich, und es ist so vielfältig, wie es seine Sprachen sind, das heißt unendlich. Wichtig dabei ist die Unterscheidung der direkten und indirekten Mitteilungen, wobei jene unmittelbar evident sind, diese dagegen mehrdeutig bleiben und die Offenheit des menschlichen Seins anzeigen, aber auch seine Interpretationskunst herausfordern. Nicht selten wird Mut verlangt, einer inneren Intuition, die zwar für sich eindeutig ist, in ihrer Herkunft und ihrem Sinn jedoch dunkel bleibt, zu folgen, vor allem wenn 661 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
sich Bedenken und innere und äußere Widerstände geltend machen. Da das Leben meist nur wenig Aufschub gestattet, muss der Mensch oft ins Ungewisse hinein entscheiden, in der Hoffnung, dass die Entscheidung selbst Licht in das Dunkel bringe, was häufig der Fall ist. Denn nicht immer lässt sich das Lebensfeld vor der Entscheidung so aufhellen, dass diese vollbewusst ausgeführt werden kann. Und darum müssen die Menschen ins Dunkel bzw. Halbdunkel hineingehen, was einen tiefen metaphysisch-spirituellen Sinn hat. Der vielleicht wichtigste Grund für Gottes Schweigen sind nicht nur die Schwächen und Unvollkommenheiten des Geschöpfs, die immer da sind, sondern ist die erworbene »Unreinheit«, das Schändliche und nicht selten Verruchte in ihm. Denn mit dieser Düsterkeit kann sich Gott nicht verbinden. Oder anders: Wenn er sich mit den Menschen verbinden und vereinigen will, dann müssen erst alle faulen und morschen Stellen ausgemerzt bzw. verwandelt werden. Darin liegt es, dass die Ethik für alle höhere Religion unverzichtbar ist, wiewohl Religion – entgegen I. Kants rationalistischer Auffassung – weit mehr ist als jene. Ein verruchter, verlogener, gemeiner und sittlich »schmutziger« Mensch kann unmöglich zum Tempel Gottes werden, da muss erst ausgefegt werden. Die Einrichtung, die dies bewerkstelligt, ist der unerbittlichste Richter, den es gibt: das Leben selbst, in dem sich sowohl das Sprechen als auch das Schweigen Gottes auf der Ebene des Geschöpflichen realisiert, und zwar nach einem Gesetz der höheren, der geistigen Mathematik: Gott vereinigt sich mit seinen Geschöpfen in jenem Maße von Reinheit, das sie verwirklicht haben, was heißt: Je reiner und gottebenbildlicher sie sind, desto rascher, größer, tiefer und umfassender gewährt ihnen Gott die Verbindung und Vereinigung mit ihm. So wie ein Lichtstrahl umso tiefer in ein Gewässer eindringt, je freier von Trübungen es ist.
6.32. Die Einheit der Lebensurgründe in Gott und ihre Diskrepanz im Weltsein als Fundament des Leidens und des Bösen Insofern ein Wesen völlig »unzerstreut« bei sich ist, ist es frei von allem Leidenkönnen und Leidenmüssen, da alles Leiden an ein Passivsein, Getroffen- und Fremdbestimmtwerden gebunden ist und aufgrund seines inneren Dissonanzwesens ein Zerstreut-, Entfremdet- und Zerrissensein anzeigt. Da Gott jenes Sein ist, das nur selbst662 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Die Einheit der Lebensurgründe in Gott und ihre Diskrepanz im Weltsein
bestimmt und in keiner Weise fremdbestimmbar ist, somit jenes Wesen darstellt, das in radikaler Innerlichkeit bei sich und jeder Andersheit vorweg ist, kann er nicht leiden. Der Mensch dagegen ist eines Seins, das zwar substanzial eins, aber irgendwie disparat und »zerstreut« ist, und das in mehreren Hinsichten. Zum Ersten hat er sich nicht selbst erschaffen, sondern wurde als Objekt gesetzt und kann sich erst dann – seinsmäßig, nicht zeitlich später – als Subjekt konstitutieren. Er ist demnach unaufhebbar ein Objekt-Subjekt, gleichsam »sich vorweg« bzw., wie M. Heidegger sagt, »ins Sein geworfen«. 119 Darin gründet eine prinzipielle Passivität, Ohnmacht und »Schwere«, die geistpsychologisch als Willensschwäche imponiert, als ein unaufhebbares Nichtkönnen. Zum Zweiten besitzt der Mensch neben seiner entfalteten Bewusstseinsschicht immer einen potentialen, noch nicht entfalteten, dunklen, im Letzten aus eigener Kraft nicht aufhellbaren Kern, der der innere Grund von Nichtwissen, Unerkennbarkeit, Desorientierung, Irrtum und Verwirrbarkeit ist. Und zum Dritten entfaltet er sich in der Zeit, er ist in ein Nacheinander zerstreut, das er ständig neu sammeln und in seiner Gegenwart »verinnern« muss, ohne damit aus eigener Kraft zu einem Ende zu kommen. 120 Das bedeutet, dass er seine Einheit nie voll ausgestalten, nie ganz abrunden kann, was sich als Mangel des gestaltenden Gefühls und als Sehnsucht nach einer voll empfundenen Selbsthabe manifestiert. Wille, Verstand und Gefühl, diese trinitarische Struktur des geistigen Lebens, die in Gott unendlich und damit seinsgesättigt ist, erweisen sich im Menschen als begrenzt, als »schwach« und verletzbar. Doch nicht nur das: Auch der aktual entfaltete Bewusstseinsbestand des Menschen wird von vielen Polaritäten, Spannungen und Konflikten durchzogen, zuallererst von der nie ganz ausgewogenen Dreieinheit von Wille (Kraft), Verstand (Einsicht) und Gefühl (Gestimmtheit, Lebendigkeit, Affekt, Wunsch). So herrscht einmal diese, ein andermal jene Potenz vor und sucht die anderen Potenzen zu den eigenen Gunsten zu dominieren, zu unterdrücken und zu verbiegen. Wie viele Menschen lassen sich im Erkenntnisleben von ihren Gefühlen und ihrem Willen leiten und »sehen« die Wahrheit gemäß ihren Vgl. M. Heidegger (1979, § 38). Vgl. E. Husserl (1928), der lehrt, dass das menschliche Bewusstsein durch Retention die Vergangenheit mit in die Gegenwart hineinnimmt, durch Protention die Zukunft in die Gegenwart hereinholt bzw. vorwegnimmt. 119 120
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Gott und das Leiden
Wünschen, Interessen und Vorhaben? Wie viele unterdrücken ihre Gefühle und wollen nicht »schwach« wirken, weil dies angeblich die Willensherrschaft über sich selbst infrage stelle? Und wie oft wird der Wille, vernunftgemäß zu handeln, von den »Leidenschaften«, Wünschen und Ängsten vergewaltigt? In Gott dagegen befinden sich die drei Seelen- bzw. Geisteskräfte in einem totalen Gleichgewicht und respektieren einander uneingeschränkt in der jeweiligen Wesensart. Das ist beim Menschen nur approximativ möglich und bleibt eine lebenslange Herausforderung, die mit Leid einhergeht, wenn sie Mühe bereitet oder misslingt, und die in vielen Fällen der Boden ist, aus dem, wenn Ungeduld, Unduldsamkeit und Gewalt oder auch Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Unwille ins Spiel kommen, das Böse sprießt. Daraus folgt, dass der Mensch in jeder Lebenssituation neu bestimmen muss, welche Konstellation der drei Seelenkräfte angezeigt ist, um sie adäquat zum Einsatz zu bringen, was ein hohes Maß an Wachheit, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Klugheit, Differenzierungsvermögen, Selbstvertrauen, Stärke und Tapferkeit voraussetzt, die erst in einem mühsamen Selbstwerdungsprozess entwickelt und erworben werden. Hierbei gilt im Allgemeinen, dass die »Unterbegabungen« aktiv ergriffen, erzogen und entwickelt werden müssen, um ein ausgeglichen-allseitiger Mensch zu werden, was ohne Mühe, Anstrengung und Leid und ohne Abgleitung ins bewusst Destruktive kaum möglich ist. Auch wenn aus dieser geistontologischen Seinsschwäche das Böse keineswegs notwendig entspringt, so ist es doch, wie schon Augustinus und G. W. Leibniz erkannten, seine notwendige Grundlage, ohne die es nicht möglich wäre. Gott ist frei davon, weswegen in seinem Fall, entgegen der Auffassung von J. Böhme, F. W. J. Schelling, G. W. F. Hegel und Ed. Hartmann, kein Platz für Dunkles, Disparates, Potentiales, für Selbstentgegensetzung und Selbstentfremdung ist. Die Disparatheit der geistigen Lebenskräfte im Menschen wird dadurch verschärft, dass sie sich in einem räumlich und zeitlich ausgedehnten Gebilde, dem Leib, entfalten müssen. Der kleine Gott »Mensch« ist, wie der Osirismythos plastisch erzählt, in die materielle Raumzeit verstreut und muss sich, wie die Konzentrationsschwankungen und jedes Erwachen am Morgen beweisen, immer wieder neu zusammenfassen, was die bedeutendste Eigenheit des Ich ist und von I. Kant als die entscheidende Synthesekraft des Bewusstseins erkannt wurde. Als Wille hat er den Leib zu führen und seine Ziele in der Welt durchzusetzen, als Verstand sich in Leib und Welt zu orientieren und 664 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Problem der besten und der schlechtesten aller möglichen Welten
als Gefühl sich in Leib und Welt und im Austausch mit den Anderen zu spüren und auszudrücken, d. h. seelisch lebendig, reagibel und schwingungsfähig zu sein. Und wenn möglich: all dies zur gleichen Zeit. Kann dies überhaupt gelingen? Wohl nicht, zumal stets Unpässlichkeiten, vitale Schwächen und Krankheiten, zwischenmenschliche Belastungen und Störungen nicht ausbleiben und von diesem Ziel ablenken. Nicht nur, dass jede seelisch-geistige Grundkraft als solche endlich, verletzbar und zum Unguten fähig ist; nicht nur, dass sie untereinander in Konflikt geraten können und einander Gewalt antun; nicht nur, dass sie einen aus eigener Kraft niemals überwindbaren potentialen Seinsbestand umfassen, der dunkel und schwer bleibt, nein, sie sind zusammen auch in eine raumzeitlich ausgedehnte Welt verschlagen, in der sie durch Müdigkeit, Schlaf, Krankheit u. v. a. m. immer wieder geschwächt werden und verloren gehen, ja im Letzten, nämlich mit dem Tod, gänzlich ausgelöscht werden. Auch wenn aus all dem das Böse keineswegs zwangsläufig entsteht, so ist es doch nur vermeidbar, wenn sich der Mensch seine Schwachheit eingesteht und von dem Wunsch und Wahn ablässt, »alles im Griff zu haben« und sein Glück allein aus eigener Kraft schaffen zu können.
6.33. Das Problem der besten und der schlechtesten aller möglichen Welten und seine Auflösung Von G. W. Leibniz rührt die Erkenntnis her, dass der allmächtige, allwissende und allgütige Gott von den unendlich vielen möglichen Welten, die sein Bewusstsein umfasst, bei der Schöpfung nur jene auswählt, die die bestmögliche ist, da alles andere mit seiner Vollkommenheit unvereinbar wäre. Gegen diese Sicht erhoben sich schon zu Leibnizens Zeit viele Stimmen, etwa die von F. M. Voltaire. Ihre kritischen Hauptargumente bezogen die »Antileibnizianer« aus den zweifellos zu Recht gegeißelten, oft von den Mächtigen und Reichen verursachten Missständen der gegenwärtigen Welt. Dabei taten sie G. W. Leibniz insofern Unrecht, als dieser keineswegs behauptete, die Welt in ihrem Hier und Heute sei die vollkommenste, was völlig realitätsfern wäre, sondern sagte, dass jene Welt, die am Ende der Zeiten von Gott erlöst, gereinigt und zu ihm erhoben wird, die vollendete sein würde. 121 Und nur in diesem Falle würde zur besten aller 121
Selbst F. M. Voltaire gibt zu, dass die göttliche Vorsehung nicht nur das »gegen-
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Gott und das Leiden
möglichen Welten auch ihr von Kampf, Leid, Not, Übel und Grausamkeit gepflasterter Weg zur erst umkämpften, dann erreichten bzw. geschenkten Vollkommenheit gehören, also ihre Transformation. So und nur so sah es G. W. Leibniz. Gegen ihn wurde jedoch nicht nur empirisch, sondern auch logisch argumentiert. So meinen etwa A. Kreiner 122 und ähnlich G. Streminger, 123 dass der Begriff der bestmöglichen Welt deswegen selbstwidersprüchlich sei, weil zu jeder angenommenen Welt stets eine bessere hinzugedacht werden könne: »Vor allem im Vergleich zur unendlichen Vollkommenheit Gottes sei davon auszugehen, dass zu jeder möglichen Welt immer eine noch bessere gedacht werden kann, da der Abstand zwischen einer unausweichlich endlichen Welt und dem unendlich vollkommenen Gott von keiner wie auch immer beschaffenen endlichen Welt überbrückt werden kann.« 124
Allerdings nicht, denn die Welt ist nicht Gott und kann daher seine Vollkommenheit aus eigener Kraft nicht erreichen, was ihrem Wesen auch zuwider und daher »unvollkommen« wäre. Zum Zweiten ist sie nicht rein endlich, sondern als werdende Welt wesenhaft potentialunendlich und kann jede bloß endliche Vollkommenheit übersteigen, ohne diesen Prozess allerdings aus eigner Kraft abschließen zu können, was A. Kreiner richtig sieht; und drittens wird sie durch Gott am Ende der Zeiten im Kern einer Verunendlichung gewürdigt, indem sie erst im sündenfreien Gottmenschen und dann als ganze von Gott »verunendlicht«, genauer, durchgöttlicht wird, womit ein durch weitere »Verbesserung« nicht überbietbarer Grad an Vollkommenheit erreicht wird. Der Begriff der bestmöglichen Welt wäre nur im Falle einer unabschließbaren, sprich endgültig nur pU-werdenden Welt selbstwidersprüchlich (und so denken sie A. Kreiner und G. Streminger auch), nicht für eine zu Gott erhobene, mit ihm vereinigte und in ihm unendlich erfüllte Schöpfung. Dass Gott selbstverständlich jene Schöpfung unter den unendlich vielen denkbar möglichen Welten auswählt, die er letztlich mit sich vereinigen und dadurch unendlich vervollkommnen kann, ist er seiner Allweisheit, Allgüte und All-
wärtige Wohlbefinden der Menschheit« im Blick haben könne (vgl. die »Préface« zu seinem Gedicht »Poème sur le desastre de Lisbonne«, 1756). 122 Vgl. A. Kreiner (2005, 323 ff.). 123 Vgl. G. Streminger (1992, 76 ff.) 124 Siehe A. Kreiner (2005, 326). Ähnliches sagen zu Recht auch J. B. Lotz/J. de Vries (1969, 278).
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Das Problem der besten und der schlechtesten aller möglichen Welten
macht »schuldig«, was bedeutet, dass in Wahrheit der Begriff der Nicht-Bestmöglichen-Schöpfung selbstwidersprüchlich ist. 125 Dagegen ist der Begriff der schlechtestmöglichen Welt, den A. Schopenhauer 126 auf das Dasein anwendet, erweisbar selbstwidersprüchlich. 127 Denn hier ist stets eine noch schlechtere als die gegebene Welt denkbar, da jede existente Welt in irgendeiner Hinsicht positiv sein muss, damit sie überhaupt bestehen kann. Die schlechtestmögliche Welt könnte darum nur die nichtseiende Welt sein, sprich ein »Nichts«, das als nichts allerdings keine Welt darstellt und darum nicht schlecht sein kann, was auch A. Schopenhauer sieht. Der Begriff der schlechtestmöglichen Welt ist daher inkonsistent und entspringt dem Affekt, hält der Logik des Verstandes jedoch nicht stand. Damit klären sich die Verhältnisse: Die derzeitige Welt liegt in den Wehen und muss reifen, um ihre vielen Mängel zu überwinden – sie ist gewiss nicht die beste aller möglichen Welten. Aber die Welt, die reift, wenn auch unter gewaltigen Kämpfen und Opfern, und die der Gottvereinigung würdig wird (und im Gottmenschen die Vollendung der Schöpfung schon erreicht hat!), diese Welt ist zusammen mit ihrem leidvoll-umkämpften, schlussendlich erlösten und geläuterten, gereinigten und geheilten Weg die beste aller möglichen Welten, besser als jene noch, die von Anbeginn vollkommen, dafür entwicklungsunfähig und unselbständig, unfrei und ein totes »Gestell« wäre. 128 Zur besten aller möglichen Welten gehört ihr Auf-dem125 In allen Religionen lässt sich explizit oder implizit die Idee der erlösten und damit bestmöglich gewordenen Welt auffinden. 126 Siehe A. Schopenhauer (1949, 1. Buch, § 56; ähnlich 1949, 2. Buch, Kap. 46): »Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein musste, um mit genauer Not bestehen zu können. Wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen.« Diese Begründung ist insofern nicht haltbar, als immer ein Schlechteres, wenn auch um ein Minimales, denkbar ist, da ein Endliches stets durch ein kleineres Endliches verringert werden kann, ohne nichts zu werden. 127 Vgl. B. v. Brandenstein (1983, 168–175). 128 Nebenbei: Aus der Erkenntnis, dass die Welt, wenn sie ihr Ende in Gott findet, die beste aller möglichen Welten sein wird, folgt mit logischer Notwendigkeit, dass die Welt zu jedem ihrer vorigen Zeitpunkte nicht besser, als sie zu diesem Zeitpunkt war, sein konnte. Sprich: Sie war für jeden dieser Zeitpunkte »perfekt«, zwar nicht total, aber relativ perfekt. Oder anders gemäß N. D. Walsch (2003, 138): Alles und jedes soll nach der »nächstmöglichen Version der großartigsten Vision davon, was das beinhaltet« erschaffen werden, was bedeutet, dass die vorangegangene Version zu ihrem Zeitpunkt die beste aller möglichen zu diesem Zeitpunkt und nur zu diesem Zeitpunkt war, selbstverständlich bezogen auf die Totalität der Schöpfung, die erst am Ende der Zeiten in Gott aktual wird.
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Gott und das Leiden
Wege-sein, und man erkennt: Während die beste aller möglichen Welten denkbar und vom rechten Gottesbegriff her notwendig ist, ist die schlechtestmögliche Welt undenkbar. Und selbst wenn die Menschen das Leben auf dieser Erde auslöschen sollten, könnte Gott sie zur bestmöglichen Welt umwandeln (und tat er im Gottmenschen schon), was bewiese, dass eine Welt, die sich von Gott abkehrt, zur schlechtestmöglichen Welt wird und ins Nichts fällt. Da der Mensch nicht weiß, welches die bestmögliche Welt ist, ist er, solange die Welt im Werden begriffen ist, aufgerufen, das Gottesbewusstsein zu wecken, diese Schöpfung zu wahren und das Leben nach den Prinzipien der Gerechtigkeit und Güte einzurichten. Die metaphysische Asymmetrie zwischen beiden Möglichkeiten ist evident.
6.34. Problem und Wesen des Schicksals So sehr der Mensch versucht, sein Leben bewusst zu führen und nach selbstgewählten Zielen zu gestalten, so sehr scheitert er mit dem Anspruch, dieses Leben vollständig vorherzusehen und zu kontrollieren. Sowohl individual als auch kollektiv hat die Komplexität der persönlichen, gesellschaftlichen und technischen Verhältnisse in einem Maße zugenommen, das ihre vollständige Dirigierung unmöglich macht. Ähnliches gilt von der Natur, die nicht »in den Griff« zu bekommen ist, obschon der Mensch die Gesetze, nach denen sie funktioniert, immer besser durchschaut. Alles, was den Menschen trifft, ohne dass er es vorhersehen und mitgestalten kann, heißt gemeinhin »Schicksal« und meint eine rätselhaft undurchschaubare und unkontrollierbare Macht, die die subjektive Eigenmacht des Menschen beschränkt, bedrängt, umlenkt oder aussetzt. Ihr Träger wird manchmal als Gottheit, manchmal als Zufall, manchmal als ehernes Gesetz gedacht, so etwa bei den antiken Griechen, die von moira (Schicksalsgesetz), tyche (Zufall) und ananke (Notwendigkeit) sprachen. Der moderne Mensch sieht dagegen im »Schicksal« eine vorrational-mythische Vorstellung und ersetzt sie durch die Natur- und Sozialgesetze, durch Naturkausalität und anonymen Apparat (vgl. die Parabeln von F. Kafka). Die bisherige metaphysische Analyse konnte zeigen, dass hinter dem Naturgeschehen echte Geistkräfte und hinter diesen zuhöchst der Urgeist Gottes wirkt, Kräfte und Mächte, die zwar regelhaft wirken, jedoch – da geistiger Natur und frei – nie ganz durchschaubar 668 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Problem und Wesen des Schicksals
sind und daher für den Menschen Schicksalscharakter haben, was wiederum bedeutet, dass sie über eine für den Menschen rätselhafte Macht verfügen, der er sich im Letzten nur fügen kann. Indirekt und direkt kommt selbstverständlich alles von Gott, da Gott entweder direkt an der Schöpfung mitschafft oder indirekt anderen Kräften das Weltgeschehen, so den Naturgeistkräften und dem Menschen, überlässt, dies aber gemäß seinem absoluten Vorherwissen und Vorherwollen tut. Gottes Wille steht nicht zur Disposition, seine Ziele werden sich verwirklichen, daran können die Geistgeschöpfe nicht rütteln. Hier stößt man auf die letzte Quelle des Anankecharakters des Seins. Trotzdem kann der Mensch, wenn er will, alles, was ihm widerfährt, aus der Hand Gottes entgegennehmen. Ein blindes Schicksal jedenfalls gibt es nicht – blind bzw. teilblind sind nur die Geschöpfe, insbesondere der Mensch, dessen Auge nicht alles umfassen und durchschauen kann. Weitaus wichtiger ist die Erkenntnis, dass Gott der Schöpfer der Welt und jedes einzelnen Geistgeschöpfes ist, was bedeutet, dass Er aus der unendlichen Anzahl der Möglichkeiten genau diese Welt und genau »dich« und »mich« auswählte, also »dich«, »mich« und »uns« wollte, und zwar nicht nur für eine endliche Zeitdauer, nach der »du«, »ich« und »wir« wieder verschwinden, sondern für die Ewigkeit, also für das Leben bei Ihm in totaler Fülle oder, wenn vom Geschöpf abgewiesen, in der immer leerer werdenden Isolation. Hier endet alles Schicksal und geht in innige und lichte Geborgenheit oder in völlige Verzweiflung über. Das Fremde tauscht im ersten Falle den Platz mit dem Vertrauten, mehr noch: mit dem Urvertrauten, im zweiten Falle mit der selbstgewählten Qual, der eisigen Einsamkeit der »Hölle«. Für den einzelnen Menschen nehmen bestimmte Daseinsdimensionen besonderen Schicksalscharakter an: An erster Stelle steht der geografische Ort und damit die Kultur, in die er hineingeboren wird; an zweiter Stelle die Zeit, die seine geschichtliche Stellung bestimmt; drittens sind die Mitmenschen zu nennen, denen er im Verlaufe seines Lebens mit unterschiedlicher Bedeutung begegnet; an vierter Stelle steht sein Leib, der dem Menschen den Zugang zur Welt eröffnet, Grenzen setzt und entsprechend den Menschen mit Krankheit, Altern und Tod bedroht; und last but not least ist die charakterliche Grundstruktur seiner Persönlichkeit zu nennen, die an ihren Träger die Forderung der Realisierung und Befolgung, sowohl in Bezug auf ihre Möglichkeiten als auch in Bezug auf ihre Grenzen, Einseitigkeiten und Neigungen zum Schlechten, Lebenswidrigen und Bösen stellt. 669 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
Nach Aussage des Aristoteles 129 soll das Wertvollste und Wünschenswerteste, die Glückseligkeit bzw. jene Betätigung, die dazu führt, den Menschen leiten. Das bedeutet, dass die Art des »Grundhaften«, die ein Mensch in seinem Leben entdeckt, als erste Antwort Gottes auf seine Frage ist, wer er sei und sein solle, zu was er da sei und was er für eine Aufgabe in dieser Welt verwirklichen solle. Überhört er diesen Anruf aus seinem eigenen Sein oder setzt ihn im Wechselbezug mit der Welt nicht um, droht sein Leben zu scheitern, dann ist es zumindest für die Spanne dieser Existenz seins- und gottungemäß und damit in gewissem Sinne »schicksallos«; es kann nicht »glücken« und ist unselig. Die Nichtigkeit und Kontingenz des Daseins kann nur dadurch, wie bereits mehrfach erörtert, transzendiert werden, dass der Mensch sein Schicksal, sprich den göttlichen Anruf an ihn, so gut er kann, hört und erfüllt. Denn so wird sein Sein einer unendlichen Seite Gottes, wie er es wollte, gemäß. Damit wird dieses Sein inkontingent und wesensnotwendig. 130 Die genannten fünf Dimensionen des Vorbestimmtseins zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Menschen vorgegeben sind – man kann über sie nicht entscheiden, nicht einmal mitentscheiden. Wohl kann man sie annehmen oder ablehnen, bekämpfen oder umformen, weiterbilden oder brachliegen lassen, aber zunächst sind sie vorgegeben. Erschöpft sich darin alle Schicksalhaftigkeit? Keineswegs. Der mächtigste Schicksalsfaktor ist das, was man gemeinhin als das direkte Gegenteil der Vorbestimmtheit fasst: die Freiheit des geistigen Geschöpfes. Warum und wie das? Weil sich der Mensch mit seiner Freiheit selbst bestimmt. Dieses Bestimmen, einmal erfolgt, bestimmt ihn selbst, aus dem innersten eigenen Kern heraus, und zwar unwiderruflich. Wohl kann man einen Entschluss durch einen anderen unwirksam machen oder eingrenzen oder umwandeln, aber dass jener erste Entschluss einmal gefasst wurde und den Entschließenden bestimmt, das ist Tatsache und wird ihm zum Schicksal, oft in einer Weise, dass sich die Folgen des Entschlusses seiner weiteren Freiheit entziehen. So gilt etwa, dass mit einer Entscheidung viele andere möglichen Entscheidungen vernichtet werden; und es gilt, dass die Menschen wohl frei sind in der Entscheidung, aber nicht in den Folgen: Wer sich für einen Beruf, einen Partner, einen Wohnort
129 130
Vgl. Aristoteles (1995, Bd. 3, Kap. 1 und 2). Vgl. ähnlich M. Pulver (1948).
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Problem und Wesen des Schicksals
usw. entschieden hat, kann in der Regel, zumindest nach einiger Zeit, diesen Entschluss nicht folgenlos rückgängig machen, und so zeigt sich, dass es gerade die Freiheit ist, die das Schicksal am tiefsten bereitet. Mit ihr eröffnen, bahnen und legen die Menschen den weiteren Lebensweg fest, und je älter sie werden, desto unerbittlicher. Das trifft nicht nur auf das »äußere« Leben, sondern mehr noch auf das »innere«, das moralische und seelische Leben zu. Wer lügt, gewinnt vielleicht einen Vorteil, innerlich zerrüttet er aber seine menschliche Substanz – und das bindet ihn so sehr, dass es schwer wird, sich aus dieser Fesselung zu befreien. In vielen Fällen braucht es Hilfe, letztlich die göttlich erlösende Hilfe. So groß ist die schicksalsbildende Macht der Freiheit, dass ihr nur Gott beikommen kann. Die Tatsache, dass sich das Meiste im Leben der direkten Selbstmacht entzieht und dass sich das Leben trotzdem gut fügt oder fügen kann, ließe sich als indirekten »Gottesbeweis«, als Indiz dafür, dass das Weltall trotz seiner ungeheuren Freigelassenheit und Fragilität im Ganzen gelingt, lesen. Dies gilt noch mehr für einen Menschen, der sich bewusst für Gott öffnet und seine Sprache zu verstehen lernt, so dass man sagen könnte: »Wo Schicksal war, wird immer mehr Gottes Wille«; »Wo Dunkel war, wird immer mehr Licht«, »Wo Blindheit war, wird immer mehr Evidenz«. Das aber bedeutet im Letzten, dass die ursprüngliche Kontingenz des nicht-göttlichen Seins – sein Nichtseinmüssen und seine Nichtsausgesetztheit – ein Ende findet und gewissermaßen seinsnotwendig wird, wenn das nicht-göttliche Sein, von Gott erhoben, in ihn eingeht. Wohl sind die Menschenwesen kontingent, doch sind sie zur Nicht-Kontingenz bzw. »Schlechthinnigkeit« berufen, die sie allerdings nur erringen und erhalten, wenn sie gottwürdig und gottgemäß werden. Das wiederum gelingt, wenn der Mensch seinen Daseinsauftrag erfüllt und seinen allgemeinmenschlichen und einzigartig individuellen Beitrag zum ganzen Kosmos leistet. Da Leiden an Kontingenz gebunden und das Zeichen dafür ist, dass die Menschen nicht in Gott angekommen sind bzw. (noch) von seinem besten Plan abweichen, muss die Erhebung in die Schlechthinnigkeit der Seinsnotwendigkeit ein Übergang sein, der »vor unerträglicher Glückseligkeit« brennt.
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Gott und das Leiden
6.35. Hiob und der neue Gott: Auflösung anthropomorpher Projektionen Was Hiob an Leid widerfährt, kommt gemäß dem Alten Testament auf indirekte Weise von Gott. Denn Gott lässt zu, dass Satan Hiobs Gottestreue prüft. Obgleich Hiob über diese Prüfung nicht aufgeklärt und daher für ihn der Sinn seines Leidens nicht durchsichtig wird, ahnt er ihn doch, wenn er sagt: »Doch ich weiß: mein Erlöser lebt« (Hiob 19, 25). 131 Sein Glaube, dass hinter seinem grausamen Schicksal Gott stehe und dass Gott entgegen allem ersten Augenschein mit seinem Leiden Gutes beabsichtige, lässt sich nicht erschüttern. Und so erweist sich, dass Hiob durch seine Gottestreue im Leiden gottesund damit erlösungswürdig wird und Satan mit seinem Vorhaben scheitert, worin ein tiefer metaphysischer Sinn liegt. Selbst das vordergründig ungerechte Leiden hat Hiob nicht an der Gerechtigkeit Gottes, so abgründig unverständlich sie für ihn ist, irrewerden lassen, eine Gerechtigkeit, die das Leiden Hiobs zuließ, nicht um ihn für angebliche Verfehlungen zu strafen, sondern um seine Gottestreue zu prüfen, zu vertiefen und ihn dadurch »gottfähiger« und gottaufnahmefähiger werden zu lassen. Damit wird Hiobs Anklage hinfällig, er gibt sie auf. Doch auch sein Weltbild, wonach einem treuen Gottesfreund kein Unheil widerfahren dürfe, wird hinfällig. Von dieser anthropomorphen Projektion lässt Hiob ab, und es zeigt sich, dass die Verbindung von Gott, Unheil und Leid zu keinen Widersprüchen führt: Der allgerechte Gott kann Leid zulassen, kann mit Leid tieferes Heil ermöglichen und dennoch allgerecht sein, letztlich deswegen, weil für Ihn alles Unheil nur vorläufigen Charakter und Er die Macht hat, zu jeder Zeit und wenigstens »am Ende der Zeiten« alles Unrechte durch Rechtschaffung und Barmherzigkeit auszulöschen. 132 Da sich
131 »Erlöser« heißt im Hebräischen »goel« und meint »der nächste Verwandte, der die Pflicht hat, einen Ermordeten zu rächen.« Ruft Hiob demnach in seiner Verzweiflung nach einem »rächenden« Gott oder nach einem Gott, der das Unrecht wiedergutmacht – oder nach einem neuen Messias, wie E. Bloch interpretiert? 132 Das sieht auch Simone Weil (1985, 71–91) so. Allerdings neigt die große Philosophin des Unglücks dazu, in Unglück und Elend nicht, wie Hiob, Zeichen göttlicher Ungnade, sondern im Gegenteil Zeichen göttlicher Gnade zu sehen. In ihrem eigenen Leben versuchte sie daher wiederholt, das Unglück zu erzwingen. So wird sie zu einem »umgekehrten Hiob«, der sich nicht weniger täuscht als Hiob. Denn weder das Glück noch das Unglück sind eindeutige Antworten Gottes auf den Gehorsam bzw. Ungehorsam des Menschen.
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Hiob und der neue Gott: Auflösung anthropomorpher Projektionen
alles Unrechthandeln unmittelbar selbst mit innerem Unfrieden, mit Zwiespalt und Mangel bestraft und zumeist in der Lebenswelt nachteilige Folgen hat, bedarf es keiner zusätzlichen göttlichen Bestrafung, um hier Recht zu schaffen, umso mehr nicht, als solche Bestrafung, wie gesehen, selbstwidersprüchlich ist. Hiob kennt nur den Gott der Allmacht, den Gott der Barmherzigkeit und Güte ahnt er erst nur. Es ist klar, dass Hiob als Kind seiner patriarchalischen, drohend-angsterfüllten, oft genug despotischen Zeit von anthropomorphen Vorstellungen geprägt ist, die er, wie C. G. Jung 133 ausführlich in seinem Hiobbuch darlegt, auf Gott projiziert. 134 Gott ist jedoch weder ein menschlicher Vater noch ein Despot, er hat überhaupt kein Geschlecht und regiert nicht mit Gewalt und Schrecken, sondern mit größtmöglicher Zurückhaltung. In Wahrheit ist er reine Liebe, die so groß ist, dass sie sogar den Hass auf Ihn erträgt. Genau dies wird der Gottmensch Christus leibhaftig vorleben: Liebe, die sich durch nichts beirren lässt; Liebe im Wissen, dass ihre Macht letztlich alles überragt und Not, Tod und alle Gewalt überwinden wird. Das allerdings bedeutet, dass Gott keine Naturgewalt, werde diese als Willkür oder als eisernes Schicksal gedeutet, sein kann, sondern weit über dem Kosmos und seinen Naturgeistkräften, die als die direkten und freien Gestaltungsfaktoren des Naturgeschehens ermittelt wurden, steht.
133 Vgl. C. G. Jung (1993). Die Projektion des despotischen jüdischen »Übervaters« bzw. Königstyrannen auf Gott betont auch L. Marcuse (1972, 24–41). 134 Auch wenn C. G. Jung die vielen Projektionen herausarbeitet, die das Gottesbild belasten, so unterscheidet er doch zu wenig zwischen Gott als Realität und Gott als Vorstellung. Das rührt daher, dass er ein Drittes meint, das sowohl objektive Realität als auch psychische Vorstellung ist, nämlich den Archetypus Gott. Doch auch dieser Archetyp »Gott« muss kritisch hinterfragt werden und kann nicht, wie das C. G. Jung tut, als unverrückbare Realität hingestellt und, wie in seiner Schrift »Antwort auf Hiob«, mit dem realen Gott identifiziert werden. So meint C. G. Jung, dass der reale Gott einmal im Stadium der Unreflektiertheit, also einer noch unreifen »Allwissenheit« gewesen sein soll und außerdem eine »dunkle Seite« besitze, die er irgendwann, z. B. in der »Apokalypse«, als »Zorngott« ausspiele. All dies, stark an J. Böhme erinnernd, ist in Bezug auf Gott als Realität unhaltbar, trifft in Bezug auf Gott als menschliches Konzept jedoch oft zu, muss dann und deswegen aber eben auch als Anthropomorphismus durchschaut und korrigiert werden. Immerhin sieht C. G. Jung, dass Hiob ein Unrecht angetan wurde, das in der Erzählung nicht wirklich überwunden wird.
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Gott und das Leiden
6.36. Theodizee fünfter Teil: die Stellung des Gottmenschen im Sein Dass die Menschen schon immer um ihren Gottglauben rangen und heute immer weniger an ihn glauben, hängt damit zusammen, dass er als unendliches Wesen außerhalb des menschlichen Vorstellungsvermögens liegt. Selbst eine solche Intelligenz wie der Physiker Stephen Hawkins hält die Gottesvorstellung für überflüssig. Und in der Tat, die Kluft zwischen Gott und Mensch ist real unendlich und nur von Gott her so überbrückbar, dass er unmittelbares Erlebnis werden kann. Umso aufschlussreicher ist es, dass alle Kulturen die Notwendigkeit empfanden, ein Brückenwesen einzuführen, das real an beidem Anteil hat, an Gott und an der Menschheit – den Gottmenschen. Ohne ihn wäre die Gottheit ein ewig abstraktes Ding, das niemanden berührte. Das denkbar größte Leid – die unüberbrückbare Getrenntheit vom Urquell und von der Fülle des Lebens – überwindet allein er und wird damit zum Vorbild für die ganze kämpfende und leidende Menschheit auf ihrem schweren Weg zurück-und-vor zum Ursprung. Wie aber soll das gehen? Dadurch, dass sich ein Mensch selbst zu Gott erhebt? Oder dadurch, dass sich Gott in die Larve eines scheinbaren Menschen einhüllt? Beides wurde gedacht und beides ist unhaltbar, da weder das Geschöpf die Machtmöglichkeit hat, sich aus eigener Kraft zur Gottheit zu erheben, noch Gott sich real zu verendlichen vermag. Der dritte Weg ist, wie dargelegt, der einzige Ausweg: die Vereinigung von Geschöpf und Gott durch Gott selbst, eben dadurch, dass jenes durch Gott zu Gott erhoben und so die Verunendlichung eines pU-Wesens zu einem atU-Wesen vollzogen wird. Es ist klar, dass dies mit einem E-Wesen nicht, mit einem pU-Wesen, also mit einem geistigen, wesenhaft unerschöpflichen Geschöpf durchaus möglich ist. Denn dieses strebt schon naturhaft dem Unendlichen zu, während ein E-Ding nicht streben und sich transzendieren kann. Doch nicht jedes pU-Wesen, sondern jenes nur, das ohne allen sittlichen Schaden blieb und sich nicht gegen Gott und seine Ordnung auflehnte, kann zur Gottheit voll und ganz erhoben werden. Denn da in Gott kein Makel möglich ist, kann sich Gott nicht mit einem Geschöpf (total) verbinden, das unrein, unlauter und zwielichtig ist. Die Totalität der Identifizierung und innersten Vereinheitlichung von Gott und Geschöpf ist nur mit einem, dem durch und durch, von Anfang bis Ende lauteren Geschöpf möglich – warum aber mit einem 674 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Theodizee fünfter Teil
Menschen und nicht mit einem »Engel« oder mit sonstigen guten vormenschlichen Geschöpfen? Prinzipiell könnte dies, wenn sündenfrei, auch mit einem anderen, nichtmenschlichen Geistgeschöpf gelingen, doch musste es ein Mensch sein, weil sich in ihm als letztem Sproß des Universums einerseits alle kosmischen Kräfte und Möglichkeiten zu einer geschlossenen Gestalt bündelten und weil er andererseits am weitesten von Gott entfernt steht, gleichsam untergetaucht in die Materie, wo er den Kontakt mit Gott verlor bzw. zunehmend verliert. Niemand mehr als das menschliche Geistgeschöpf hat die »Brücke« zu Gott nötig; niemand mehr als er ist so tief und weit weg von Gott gefallen; niemand mehr als der Gottmensch kann diesen Riss schließen und dadurch selbst die unterste Seinsschicht der Materie mitheiligen. Und genau dies geschah vor zweitausend Jahren, so glauben jedenfalls Millionen von Christen. Der Christushymnus des Paulus im 1. Kolosserbrief (Vers 12–20) zeichnet das großartige Bild dieser Überzeugung: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung […] alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand.« Welche Konsequenz hat dieses Paradigma für die Theodizeeproblematik? Eine alles entscheidende. Sie ist nämlich mit der Gottwerdung des Geschöpfes Jesus real aufgehoben bzw. abgeschlossen. In und als Jesus Christus ist die gesamte Schöpfung in ihrem edelsten Vertreter vollständig erlöst und zu Gott zurückgekehrt, in einer Weise, die nicht zu wiederholen oder zu überbieten wäre. Selbst wenn alle Menschen außer Jesus total scheitern würden und im Nichts versänken, selbst dann wäre die Schöpfung als ganze geglückt, erlöst und heimgekehrt. Was Jesus an Glückseligkeit erfuhr, kann an Intensität und Reinheit nicht überboten, sondern nur noch quantitativ erweitert werden. Nicht nur ergänzen die in Christus Leidenden nach dem Wort des Apostels Paulus, »was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol. 1, 24), sondern auch, was an Glückseligkeit im Gottesglück des Jesus »fehlt«, soll ergänzt werden. Zwar wird dadurch die Vollkommenheit des Gottmenschen Jesus nicht gesteigert – hier ist schon alles Denk- und Seinsmögliche erreicht –, aber die Vollkommenheit der übrigen unter Jesus Christus stehenden Schöpfung wird befördert, und zwar als sein »Leib«. Damit wird erst in Jesus, dann in der übrigen Schöpfung alles Leid in ganzer Tiefe und Breite überstiegen, getilgt und »gerechtfertigt«. Nicht dass das Leid für sich als gut bestimmt würde, aber es wird 675 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Gott und das Leiden
in den Schöpfungs-, Erlösungs- und Heilungsprozess mit all seinen Funktionen, die ihm eigen waren – vor allem mit seiner Selbstbewusstwerdungs-, Dynamisierungs- und Dramatisierungspotenz des Weltprozesses –, hineingenommen und erhält darin seinen relativen Ort. Aber noch einmal: Seit Jesu Auferstehung ist das Weltdrama entschieden – die Schöpfung kann nicht mehr scheitern; sie ist in ihrem besten Exemplar zu Gott in gewissermaßen »geballter Totalität« zurückgekehrt. Und daran änderte sich auch dann nichts, wenn die übrige Schöpfung von Gott abfallen und zu nichts würde. Das ist zwar gänzlich unwahrscheinlich, zumindest in Bezug auf die vormenschliche Natur, die in ihren Geistwesen schon bei Gott ist, von Gott erfüllt und getragen. Nur der Mensch ist noch unreif und muss, Leid erleidend und Leiden schaffend, den Weg der Reifung, sprich der Selbstgeburt in Gott hinein, gehen. Und er kann diesen Weg gehen, da die Brücke im Gottmenschen gebaut und unverrückbar gegeben ist. Alle Tore stehen offen, alle Hände werden gereicht – es liegt nur am Menschen selbst, ob er hindurchgehen und die helfenden Hände ergreifen will. So sah es der Papst Johannes Paul II. in seinem tiefschürfenden Schreiben über den christlichen Sinn des menschlichen Leidens. 135 Diesen Sinn findet die philosophisch-metaphysische Kritik der Theodizeeproblematik bestätigt. Die bisherige Betrachtung mag die Frage aufkommen lassen, ob die Theodizee nicht dadurch vollkommener erfüllt würde, dass Gott alle gefallene Schöpfung und damit alle sündig gewordenen Wesen dem Nichts überließe und nur die sündefreien Geschöpfe bewahrte. Denkbar ist dies (und wurde im Sintflutmythos ins Bild gesetzt), doch das Neue Testament sagt entschieden, dass Gott ein reuiger Sünder mehr am Herzen liegt als ein »Gerechter«. So scheint jene Theodizee 135 Vgl. Johannes Paul II. (1984). Zu wenig Beachtung finden in der Papstschrift zum einen die verschiedenen Arten und Sinnschichten des Leidens – so gibt es unedle und schandhafte Formen des Leidens –, zum anderen die metaphysischen Hintergründe, vor allem das Problem des ursprünglichen Abfalls der Urmenschen von Gott, ihrer Verleiblichung und des damit auferlegten, völlig neuen Daseinsauftrages der Menschen in der Welt. Der Papst sieht den Sinn des Leidens (nur) in Bezug auf die Erlösung, sprich auf einen finalen Sinnzusammenhang bzw. auf einen Erlösungssinn hin: Leid ist da, damit Mitleid, Mitgefühl und samaritanischer Hilfewille zur Förderung der Gemeinschaft der Menschen letztlich als Leib Christi geweckt werden. Das ist zwar fundamental wichtig, genügt aber nicht, um eine Theodizee grundzulegen. Sinn und Unsinn des Leidens verlangen primär die Aufhellung der metaphyischen Verursachung und Genese des Menschengeschlechtes und erst sekundär die Aufhellung ihres möglichen Überwindungssinns.
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Theodizee fünfter Teil
vollkommener zu sein, in der die gefallenen Geschöpfe, wenn sie umkehren, erlöst werden, als jene Theodizee, die alles Makelbehaftete auslöschen und nur das Makellose, also, christlich gesehen, etwa Jesus, Maria und die guten vormenschlichen Geistgeschöpfe übrig lassen würde. Dies beweist, dass Gott nicht nur die Reinheit will – und er will sie –, sondern auch die Fülle mit ihrer ganzen Bandbreite vom Gottmenschen bis zum satanischen, dem Nichts zustürzenden Geschöpf. Das Leid, das nach der durchgreifenden Läuterung und Sühnung im Endgericht übrig bleiben kann, ist das Leid jener bösen Geschöpfe, die sich endgültig von Gott losgesagt und sich für das Böse selbst entschieden haben, die Verbindung mit ihm zurückweisen und dadurch zunehmend der inneren Selbstaushöhlung und Selbstzerreißung entgegenfallen. Ein Trost besteht sogar hier noch: Je leerer und nichtshafter sie werden – und dieser Prozess erfolgt endlos ohne Ende –, desto schwächer wird die Leidensfähigkeit und das innere Selbstempfinden, desto mächtiger werden Dumpfheit, Trägheit, inneres Dunkel und Antriebslosigkeit: die größte, schlimmste, weil metaphysische Depression – schwindendes Leben. Ergo: Während das Leid einst vollständig aus dem »Reich Gottes« getilgt sein wird, scheidet es als Seins- und Weltgröße zwar nie vollständig, aber zunehmend aus. 136 Es wird immer weniger, kleiner und unbedeutender.
136
Vgl. übereinstimmend im Neuen Testament, Off. 20.
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VII. Der metaphysische Sinn des Leidens
7.1. Die ontologische Abkünftigkeit allen Leidens und der vertikale Rückverweis des Leidens Überblickt man die gesamte Seinsstruktur des Leidens, imponiert vor allem ihr Relationscharakter. Unmöglich, dass das Leiden für sich steht und sich genügt, ist es doch durch und durch auf ein anderes, nichtleidendes bzw. nichtleiden-könnendes Sein bezogen. Dafür sorgen vier Komponenten: sein Mangel-, sein Unwert-, sein Ohnmachts- und sein Transzendierungswesen. Alles Leiden brennt gleichsam in seiner Negativität und sucht diese zu überschreiten; alles Leiden will von sich weg, und zwar dorthin, wo es aufhört, also entweder ins Nichts oder in die Fülle des Seins; alles Leiden will sich los werden, kann es aber, wenigstens zunächst, nicht; und alles Leiden leidet, wenigstens subjektiv, unter Wertwidrigem und ersehnt das Wertgute. Weil dies so ist, ist alles Leiden selbstverzehrend, selbstbekämpfend – ein »Hass« auf sich selbst. Doch genau darin offenbart sich eine Kraft, ein Streben, ein aktives Sein, und es erhellt, dass alles Leiden Leben ist, sich selbst inneseiendes und über sich (partiell) verfügendes oder wenigstens verfügenwollendes Leben. Das heißt, dass Leiden das vollere Leben, im Falle irdisch unaufhebbaren Leidens, die totale Fülle des Lebens erstrebt. Da diese Fülle in der Zeit nicht erreichbar ist, eröffnet sich im Leiden eine überzeitliche bzw. zeitlose Transzendenz: Wenn Leiden und Zeit untrennbar zusammengehören, müssen entsprechend Leidfreiheit und Zeitlosigkeit zusammengehören. Gäbe es keine Zeitlosigkeit, könnte das Leiden nicht enden – das Sein im Ganzen wäre, wie es A. Schopenhauer denkt, tragisch, absurd, eine sadistische Qual, die nie endete. Da erkannt wurde, dass das werdende Sein im Letzten ein zeitlos-werdefreies Sein als Seinsquelle voraussetzt, kann das Leiden unmöglich das letzte Wort der Ontologie sein. So ist das Leid, wie in der Einleitung erwähnt, zwar eine gewaltige, aber keine letztgültige Seinsmacht. 679 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der metaphysische Sinn des Leidens
Betrachtet man das Wesen des Mangels genauer, lassen sich drei Momente feststellen, die jene Aussage bestätigen. Damit Mangel sei, muss etwas da sein, dem etwas mangelt, was bedeutet, dass der Mangel einem Seienden inhärent ist. Zweitens ist das, was diesem Seienden ermangelt, wieder ein Seiendes, wenigstens ein potentielles oder ersehntes Seiendes. Und drittens muss es eine Seinsdimension geben, von der her das mangelnde bzw. ersehnte Seiende möglich ist, weil anders der Mangel als Mangel unmöglich wäre. Aller Mangel weist auf ein mangelloses bzw. weniger mangelhaftes Sein hin, das nur dann möglich ist, wenn es eine ermöglichende Seinsquelle gibt, in der letztlich die Fülle des Seins beschlossen ist. Damit erhellt, dass alles Leiden sowohl abkünftig ist, und zwar von leidlosem Sein her, als auch »hinkünftig«, und zwar zu leidlosem Sein hin. Leiden ist Zwischen-Sein, Unterwegssein, ein gespanntes Seil über dem Abgrund des Nichts. Darum gilt mit innerer Notwendigkeit: Wer leidet, verfügt über ein überendliches Seinspotential; er ist ein wesenhaft transzendierendes, jede endliche Grenze zu überschreiten fähiges Wesen. Als solches ist er unerschöpflich und damit unvergänglich. Da auch der Mensch leiden kann, muss er in seinem Seinskern unsterblich sein, trotz seiner leiblichen Sterblichkeit. Ein nur-endliches Wesen könnte nicht einmal den pU Vollzug des Leidens leisten. Leiden schöpft wesenhaft aus einem überendlichen, nicht aber aus einem zeitlos-ewigen Quell. Da solch ein pU Wesen angefangen hat und sich in der Zeit entfaltet, muss es sein Sein einem anderen Sein verdanken, das selbst wieder nicht begonnen haben kann, und dementsprechend muss es ein zeitloses, unbegonnenes, absolut seinsvolles Sein geben, das Ursein schlechthin. Von diesem Ursein her kommt alles werdende Sein, und zu diesem Ursein strebt alles Sein, allem voran das suchende, begehrende, leidende Sein zurück. Leiden ist daher ontologisch unter dem Ursein, ist vertikal abkünftig und, wie gesehen, notwendig im zweiten Seinsrang. Denn weder das Ursein im ersten Seinsrang noch das Seiende im dritten Seinsrang können leiden, da das Ursein ohne Mangel ist und das drittrangige, wesentlich passive Seiende der Dinge und leblosen Prozesse den Akt des Leidens nicht vollziehen, höchstens (wie bei den Pflanzen und Tieren) ausdrücken kann. Nur in den geschöpflichen Objekt-Subjekten ist beides: Aktivität und Mangel, Strebung und Entbehrung – und damit das Über-sich-hinaus-Sein. Aller Mangel ist Mangel an Sein, in einem Sein und durch ein Sein – »durch«, weil es den Mangel aktiv erlebt und vollzieht – zu 680 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der vielfältige Sinnzusammenhang des Leidens
anderem Sein hin. Das gilt nicht nur für das »Zuwenig«, sondern auch für das »Zuviel«, da jedes Zuviel ein Zuwenig verursacht, erstens dadurch, dass – wie im Falle einer Geschwulstbildung – Gesundes verdrängt und evtl. zerstört wird, und zweitens dadurch, dass sich Unordnung, Ungleichgewicht und Disharmonie einstellen. Ordnung ist Sein und Unordnung ist da, wo Ordnung sein sollte, Mangel. Leiden ist darüber hinaus dynamischer Mangel und damit dynamische Unordnung, die Ordnung erstrebt. Ordnung wiederum kann nur sein, wenn es ein Ordnendes, letztlich ein Urordnendes gibt, das in sich ruht und keine Unordnung und kein Leid erfahren kann. Auf diese letzte Ordnungsquelle verweist alles Leiden, und diese Quelle kann nur aktiv, geistig, bewusst, also, wie schon dargelegt, personal sein: Gott. Aller Mangel kommt somit von unten, so wie alle Fülle von oben kommt. Zweimal die Fülle von oben: erstens absolut, da von Gott, und zweitens relativ, da von den schöpferischen Geschöpfen; und zweimal der Mangel von unten, da von ganz unten, von den passiven Dingen, die defekt, beschädigt, schlecht, unnütz, belastend und störend sein können, und vom »Zwischen-Unten«, den Geschöpfen, die so, wie sie ein Zwischen-Oben sind, auch ein Zwischen-Unten darstellen und krank, verletzt, schlecht, gemein und böse sein können. Primär ist immer die Fülle, und der Mangel ist immer sekundär oder tertiär, niemals ursprünglich, was selbstwidersprüchlich wäre. Ein UrMangel ist so unsinnig wie ein Ur-Böses, weil er als partielles Nichtseiendes ontologisch vor allem Seienden bestehen müsste. Vor allem Seiendsein kann weder das reine Nichts noch ein partielles Nichts sein, Letzteres nicht, weil es – als Mangel – immer ein partielles Seiendes ist oder voraussetzt.
7.2. Der vielfältige Sinnzusammenhang des Leidens und die horizontalen Querverweise des Leidens; das Kreuz als Synthese von Vertikalität und Horizontalität Leiden verweist nicht nur nach oben und unten über sich hinaus, sondern auf fast unüberschaubare Weise auch horizontal in die Welt. Kein Leiden fällt vom Himmel, keines bleibt wirkungslos, fast immer zeigt es einen Missstand in der Welt an – Hunger und Unterernährung, schmutziges Wasser und Wasserknappheit, fehlende Hygiene und Medizin, baufällige Unterkünfte, Kriminalität und Krieg, see681 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der metaphysische Sinn des Leidens
lisches Unglück und soziale Ungerechtigkeit, dieses und vieles mehr, das vermeidbar wäre, plagt Milliarden von Menschen und ist, ontologisch betrachtet, ein Problem des »Zwischenseins«, der labilen Gerechtigkeit zwischen den Menschen. Zurück geht diese horizontale Transzendenz des Leidens auf die »Transzendenz« des Bedürfnislebens der Lebewesen. Denn wo ein Bedürfnis ungestillt ist, da weist es über den Bedürfenden hinaus, weil dieser etwas benötigt, was er selbst nicht hat, dessen Existenz er aber als möglich voraussetzt: »Wer Durst hat, weiß um Wasser.« Diese Verweise stellen Sinnverweise dar und sind Sinnzusammenhänge, die anzeigen, was zusammengehört, was nicht, was passend, was unpassend ist, was resoniert, was nicht resoniert. Weder eine Welt, in der alles passt, noch eine Welt, in der nichts passt (eine unmögliche Welt), bietet Raum für das Leiden, sondern nur jene Welt, in der etwas nicht passt, aber passen soll und passen kann, ist »leidfähig«. Leiden ohne ein Sollen bzw. Nichtsollen ist unmöglich, schon in der vormenschlichen Welt. Daher ist die Welt des Leidens in ihrem ontologischen Kern eminent ethisch, was in dem pathischen Hauptsatz zum Ausdruck kommt: Pathisch kann nur eine ethische Welt sein. Von daher rührt weiter, dass eine jede pathische und erst recht pathologische Welt eine herausfordernd-fordernde Welt ist, in der es um die größt- und bestmögliche Ausschöpfung der gegebenen und verborgenen Ressourcen des Lebens geht. Dies bedeutet, dass das Leiden eine potente Welt impliziert, eine Welt, die mehr kann, als sie auf den ersten Blick geben zu können scheint. Erneut stößt der forschende Intellekt auf das Theodizeeargument des pU-Abgrundes der Schöpfung, in dessen Tiefe überendlich viele Möglichkeiten verborgen sind, die nicht nur leben wollen, sondern auch leben sollen, und zwar dann und da, wann und wo sie das Leid mindern helfen. Je größer das Leid, desto größer der Beweis für die unendliche Schöpferkraft des Seins und die Transzendenz der Tiefe: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« 1 In diesem Zusammenhang ertönt oft die Klage, Gott könne das Leid doch mindern, indem er den Menschen ihre berechtigten Bedürfnisse erfülle. Was aber würde geschehen? Dasselbe, was geschehen würde, wenn ein Therapeut seiner Patientin, die sich wegen ihrer Kaufräusche verschuldet hat und zahlungsunfähig wurde, Geld liehe:
Siehe den Anfang der Hymne »Patmos« von F. Hölderlin (1802): »Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott./Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.«
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Die möglichen Zwecke des Leidens und die Instrumentalisierung des Leidens
Ihr wäre der Leidensdruck genommen, ihr wären ihre Bedürfnisse gestillt, aber nur für den Augenblick und ohne dass sich am Fehlverhalten der Patientin etwas geändert hätte. Wenn überhaupt, dann hätte nur der Leidens- bzw. Bedürfnisdruck eine Änderung bewirkt, so bleibt jedoch alles beim Alten mit der Folge, dass die Kaufräusche weitergehen und erneute Verschuldung und Zahlungsunfähigkeit eintreten. Das Spiel beginnt von neuem, und alle Beteiligten erleiden größeren Schaden als zuvor. Dies bedeutet nicht, dass Therapeut bzw. Gott nicht helfen, aufklären, ermutigen und unterstützen. Die Verantwortung des Menschen für sich selbst und seine Besserung liegt dennoch primär bei ihm selbst, andernfalls würde seine Freiheit und mit ihr der personale Wesenskern des Menschen beeinträchtigt. Das kann Gott nicht wollen. Mit diesen vertikalen und horizontalen Verweisen, die sich im Menschen bündeln und »kreuzen«, konstituiert sich eine Mitte des Humanum, die im »Kreuz« das weltlich-überweltliche Symbol sowohl ihres Leidens als auch ihrer Leidensüberwindung findet. Seine Hauptrichtung allerdings weist nach oben bzw. unten, da der Mensch nur in der Transzendenz sein volles Menschsein realisiert. 2
7.3. Die möglichen Zwecke des Leidens und die Instrumentalisierung des Leidens Aufgrund seines selbsttätigen Subjektwesens kann der Mensch wie überhaupt das Geschöpf im zweiten Seinsrang keine Einwirkung rein passiv erleiden, auch von seinem Leib her nicht. Vielmehr gestaltet es noch die massivste Fremdbestimmung entsprechend seiner Eigenart mit, sei dies ein Missbrauch, eine Misshandlung, ein schweres Trauma oder die göttliche Gabe der Erleuchtung und Beseligung. Nichts kann das Subjekt sich selbst erleben lassen und ihm sein Erlebendsein abnehmen. Alle Fremdbestimmung liegt somit in eine Mitbestimmung eingebettet. Wie weit diese geht, ist im Einzelfall nicht zu sagen – sie reicht von der bloßen Hinnahme bis zur völligen Umgestaltung. Diese Wahrheit gilt auch für das Leiden: Sobald an etwas, das erlitten wurde, gelitten wird, ist das Subjekt mit seiner Eigentätigkeit und damit alles, was zu ihm gehört – seine Geschichte, seine Ein2
Vgl. zur Kreuzessymbolik ausführlich K. Hälbig (2007).
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Der metaphysische Sinn des Leidens
stellungen, Perspektiven, Prägungen und Erwartungen –, mit ihm Spiel. Diese unumgängliche Tatsache der dialektischen Wechselbestimmung von Subjekt und Welt eröffnet dem leidenden Subjekt die Möglichkeit, sein Leiden zu deuten, einzusetzen und zu benutzen – ihm im weitesten Sinne einen Zweck zu geben. Das muss zwar nicht sein, aber es ist möglich und vielfach wahrscheinlich. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass das Subjekt als intentionales Wesen sich schwer tut, ein sinn- und zweckloses Geschehen hinzunehmen. Wie ein Fremdkörper, unassimilierbar, läge solch ein Geschehen in seiner Sphäre und bliebe ein ständiger Stein des Anstoßes. Leichter wird dem Subjekt alles Leiden, wenn es ihm einen relevanten Sinn oder Zweck zulegen kann – und also fühlt es sich besonders dann dazu gedrängt, dies zu tun, wenn der Sinn nicht auf der Hand liegt. 3 So gibt es die tiefsitzende Neigung im Subjekt, sich Fremdes zu eigen zu machen und einen Assimlierungs-, Transformations- und Integrationsprozess einzuleiten, der die Introjektion einer Fremdheit in die Eigenwelt vornimmt. Doch auch hier gilt: Notwendig geschieht dies nicht, da es auch möglich ist, das Fremde nicht zu integrieren, sondern weg- oder auszustoßen, zu zerstören oder unassimiliert hinzunehmen (was bei Traumatisierungen oft der Fall ist). Diese Prozesse des Umgangs mit dem Leid-Übel habe ich in meinen medizinischen und philosophischen Dissertationen ausführlich dargestellt. Damit nicht genug, eröffnet die Subjektivität des Leidens die Möglichkeit, Leid für neue Ziele einzusetzen und zu instrumentalisieren. An erster Stelle müssen hier die verschiedenen Formen des »Krankheitsgewinnes« genannt werden. In meiner Phänomenologie des Leidens hatte ich ihre Ordnung analysiert und war auf vier Grundformen gestoßen, von denen zwei – vor allem durch die Arbeiten S. Freuds – allseits bekannt sind, der primäre und der sekundäre Krankheitsgewinn. Der primäre bezeichnet einen Leidens- und Krankheitsumgang, der durch Bildung von Symptomen zur Entlastung des Betroffenen von seinen inneren Konflikten führt. Eine quälende Scham, sich öffentlich zu zeigen, wird z. B. durch Rückzug oder durch ein psychosomatisches Symptom, das jeden Auftritt unmöglich macht, etwa durch einen Schwindel, »bewältigt«, genauer, umgangen. Der sekundäre Leidensgewinn ist dagegen auf die soziale Umwelt gerichtet und bewirkt durch eine entsprechende SymptombilSiehe F. Nietzsche (1994, 809): »Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens.«
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Die möglichen Zwecke des Leidens und die Instrumentalisierung des Leidens
dung mehr Zuwendung, Aufmerksamkeit, Tröstung und Umsorgung, das heißt einen sozialen Gewinn. Dafür muss sich das Symptom allerdings eignen, weshalb körperlich handfeste Symptome vorgezogen werden, da diese von der sozialen Mitwelt leichter akzeptiert werden als diffuse vegetative oder schwer greifbare psychische Beschwerden. Die dritte Instrumentalisierung von Leid ist kognitiver Art und besteht darin, dem Leid einen positiven Wert, eine besondere Bedeutung, z. B. eine Erwähltheit, beizumessen. Auch der alte Weisheitsspruch: »Wen Gott liebt, den züchtigt er« geht in diese Richtung. Dass hier oft Willkür ins Spiel kommt, liegt auf der Hand, doch darf nicht verkannt werden, dass auch diese kognitive Umdeutung – man nennt dies heute »refraiming« – den tiefen Sinn hat, Leiden erträglicher und verständlicher zu machen, letztlich, um es irgendwie zu integrieren. Die vierte Instrumentalisierung ist ein sozialer Akt, der darin besteht, persönliches Leid auf Andere – benachteiligte Menschen, Tiere und magische Objekte – zu übertragen. Paradigmatisch steht hierfür das Sündenbockritual, bei dem einem Schafsbock die Sünden der Menschen rituell-symbolisch auferlegt werden, um ihn in die Wüste und dort in den Tod zu treiben. 4 Auch hier geht es um Befreiung von unerträglichem Leid, nämlich um die Aufhebung von Schuldleid durch Projektion und projektive Identifikation. Im Antisemitismus des 20sten Jahrhunderts erreichte dieser Mechanismus nie gekannte Ausmaße. Überblickt man die vier Formen der Leidinstrumentalisierung, erkennt man, wie sich emotionale, kognitive, praktische und soziale Elemente in verschiedener Gewichtung verbinden. Am emotionalsten dürfte die erste Form sein, der gegenüber bei der zweiten und vierten Form das praktisch-soziale Moment vorherrscht. Unreflektiert-unbewusst sind mehr oder weniger alle vier Formen, am unbewusstesten wahrscheinlich die erste Form; es folgen die zweite, die dritte und vierte. Die zwei letzten können bewusst sein. Gemeinsam ist allen vier Formen der Zweck der Leidensreduktion und die Reduktion des Momentes der Eigenverantwortung, damit eventuell einer perhorreszierten Mitschuld. Daraus lässt sich umgekehrt schließen, dass ein Mensch umso reifer und leidensfähiger ist, als er seinen eigenen Anteil realitätsgerecht und bewusst sehen und annehmen kann bzw. umso unreifer und leidensunfähiger, je mehr er seinen Anteil verdrängen, umdeuten und auf andere Menschen verlagern 4
Vgl. Altes Testament, Lev. 16, 1–28.
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Der metaphysische Sinn des Leidens
muss. Letzteres stellt immer eine mehr oder weniger massive Realitätsverzerrung zum Zweck der Selbstbehauptung dar. 5 Mit diesen Zweckverhältnissen sind keineswegs alle Zweckformen benannt, im Gegenteil, es fehlen die wichtigsten, nämlich die positiven Zwecke des Leidens, die weiter oben herausgearbeitet wurden. Zu ihnen gehören die Erweckung durch das Leiden, die aufrüttelnde Besinnung, die Selbstinfragestellung, die Warnung, die Erschütterung einer Selbstüberhöhung durch das Leiden, die Bewahrung vor schlimmerem Leid, die Korrektur und Umkehr, die Prüfung, die Bereitung für höhere Aufgaben, Sühne und Wiedergutmachung, das Opfer und schlussendlich die anfänglich stets leidvolle Vereinigung des Geschöpfes mit anderen guten Geschöpfen und letztendlich mit der Gottheit. All das ist mit Leid verbunden, wird durch das Leiden angebahnt und muss wohl unterschieden und differenziert bewertet werden. Voreilige Schlüsse und Deutungen sind hier fehl am Platz. Wer aber darf das Leiden in einen Zweckzusammenhang setzen? Sicherlich Gott, da er alles Leid für die Erreichung eines höheren Gutes einsetzen kann – aber der Mensch? Darf er das Leid dazu benutzen, einen anderen Menschen weiterzubringen? Das ist sehr problematisch und muss höchst kritisch betrachtet werden. Und doch: Es geschieht Tag für Tag millionenfach, etwa wenn ein Arzt, um einem Patienten zu helfen, ein Medikament spritzt und dabei Schmerz zufügt oder wenn einem Verkehrssünder eine »bittere« Bußstrafe auferlegt wird. Dass hier strengste Kriterien zur Anwendung kommen müssen, um in gerechter und maßvoller Weise Leid zuzufügen, versteht sich von selbst und sollte im Zweifelsfalle eher unterlassen bleiben. Zusammengefasst wird deutlich, dass menschliches Leid ein vielschichtiges und vieldeutiges, daher prekäres Phänomen ist, das nicht – wie es das berechtigte Anliegen F. Nietzsches war – in naiv-unkritischer Weise bemitleidet werden darf. Wie alles kann auch das Leid missdeutet und missbraucht werden, und demgemäß genügt es nicht, sich nur in Mitgefühl und Mitleid zu üben, sondern mit einer gewissen Distanz hinzusehen und eine Analyse der Leidensumstände und der Leidensgeschichte zu betreiben. Dies wiederum darf nicht in das andere Extrem der Herzenskälte oder des Zynismus umschlagen, was bedeutet, dass die richtige Einstellung zum Leid eine Art Oszilla5
Paradigmatisch stehe hierfür, wie G. Vinnai (2004) eindrucksvoll darstellt, A. Hitler.
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Dynamik und Endsinn des Leidens oder die utopischen Vorverweise des Leidens
tion zwischen Mitgefühl und kühlem Verstand, Nähe und Distanz, zwischen einfühlender Identifikation und überschauender Getrenntheit und schließlich zwischen Dulden und Verändern verlangt, und zwar zur rechten Zeit am rechten Ort im richtigen Maß.
7.4. Dynamik und Endsinn des Leidens oder die utopischen Vorverweise des Leidens Alles Leiden untersteht einer Sinndynamik, die aus seiner Mitte kommt und über das Leidendsein hinausweist. Leiden ohne diese Selbsttranszendierungsdynamik könnte sich nicht konstituieren, sondern löste sich entweder in völlige Passivität oder in tiefste Ergebung auf. Darum inhäriert allem Leiden eine utopische Qualität, letztlich die Sehnsucht nach Heimat und Heil. Doch gerade dies erreicht es, gefangen in sich selbst, nicht und weckt darum alle volitionalen, emotionalen, kognitiven, sozialen und spirituellen Kräfte, die Aufhebung des Leids zu leisten. Sowohl jene Selbsttranszendierungstendenz als auch diese Ressourcenweckung wären allerdings widersinnig, wenn das erstrebte Ziel grundsätzlich illusionär wäre. Wer Letzteres meint, müsste in sich zusammenfallen, da jeder Versuch, das Leid zu überwinden, im Angesicht einer solch radikalen Hoffnungs- und Sinnlosigkeit widersinnig und Selbsttäuschung wäre. Wie ermittelt, ist dies nicht der Fall: Gottes Ursein überwölbt das gesamte kosmische Drama und garantiert in Zusammenwirkung mit seinen Geschöpfen einen erlösenden und beseligenden Abschluss. Hier ist kein Schwanken möglich, dem etwa die neumaterialistische Philosophie E. Blochs 6 nicht entgeht, die an den beiden Felsen Leid und Tod zerschellt. Denn was soll ein »Prinzip Hoffnung«, wenn diese Hoffnung illusionär ist und keine Verankerung im Sein besitzt? E. Blochs Versuch, den Tod in einer Art materialistischen Mystik auszuhebeln, mutet auf dem Hintergrund seines dialektischen Materialismus kurios an, zumal seine göttliche, ewig gebärende Materie schon am Entropiegesetz zuschanden wird. In Wahrheit kann die Hoffnung nur Bestand haben, wenn sie sich von der Fülle des Seins her legitimiert, einer Fülle, die nicht erst werden muss (was, wie gesehen, s. Kap. 2.8., selbstwidersprüchlich ist), sondern immer schon ist und im Hintergrund des Welt6
Vgl. E. Bloch (1974, 1384 ff.).
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Der metaphysische Sinn des Leidens
prozesses steht und die Welt hält, trägt, nährt und verborgen leitet. Und schließlich bereitet die Gottheit in undurchschaubarer Weise alles darauf vor, von der Welt aufgenommen zu werden bzw. sich mit der Geschöpflichkeit in »heiliger Hochzeit« zu vereinigen. 7
7.5. Die dreifache Aufhebung des Leidens in Sein, Sinn und Wert Wo ein Lebewesen leidet, steht dieses Leiden zugleich im Sein und Seinsmangel, im Sinn und Sinnmangel, im Wert und Unwert. In allem Leiden wirkt sich dieser negative Gegensatz grundsätzlich aus. Daneben gibt es einen positiven Gegensatz, der dadurch konstituiert wird, dass aus dem positiv-negativen Wesen des Leidens ein Seins-, Sinn- und Wertstreben, ein wahrer Hunger nach Fülle an Sein, Sinn und Wert entspringt. Da Sein, Sinn und Wert korrelate Größen sind, das eine ohne die anderen nicht sein kann, impliziert jede Seinsrealisierung eine Sinn- und Wertrealisierung. Wer das Leiden in seinem Mangel an Sein aufhebt, der hebt es auch in seinem Mangel an Sinn und Wert auf. Dabei ist das Sein am ehesten auf das Kraftmoment, der Sinn auf das Verstehensmoment, der Wert auf das Gefühls- oder Glücksmoment bezogen. Da jener, der leidet, einen Seins-, Sinn- und Wertmangel erfährt, erfährt jener, der das Leid überwindet, einen Seins-, Sinn- und Wertzuwachs: Wo er zuvor statt Kraft Schwäche, statt Verständnis Dunkel, statt Glück Unglückseligkeit erlebte, da spürt er neue Kraft, neue Einsicht und neues Glück. Was spiegelt sich in dieser ontologischen Dreifalt wider? Nichts anderes als die Grundstruktur des Seins, die im Leiden gemindert oder verletzt ist und in seiner Überwindung wiederhergestellt wird: Alles Leiden erstrebt letztlich nichts anderes als das Wiederaufleben der Grund- und Urstruktur des Seins, sprich die krafterfüllte, sinngeformte und glücksüberquellende Unversehrtheit des Seins, seinen Urstand. Wäre dieser nicht möglich, wäre das Leiden nicht nur eine sadistische Monstrosität, sondern im letzten Grunde unmöglich – es könnte sich nicht konstituieren. Nur wo das Sein in seinem Grund volle Kraft, voller Sinn und volles Glück ist bzw. sein kann, nur da kann jener Mangel überhaupt eintreten, der für das Leiden konstitutiv ist. Erst 7
Vgl. K. Hälbig (2007).
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Unmöglichkeit einer letzten metaphysischen Tragik
die Trinität im Sein trägt das Leiden, leitet es an und eröffnet ihm den Horizont seiner Überwindung. Nur so kann Hoffnung zum Prinzip werden. Erkennt man, wie gezeigt, darüber hinaus, dass die trinitarische Seinsstruktur sowohl den Menschen als auch die Gottheit auszeichnet, kann nicht mehr fraglich sein, wo der Mensch seine Heimat hat und wie er dorthin gelangt. Als Ebenbild der Gottheit ist der Mensch Ebenbild der Trinität von Sein, Sinn und Wert, von Kraft, Vernunft und Liebe, von Macht, Erkenntnis und Gefühl bzw. sollte es, falls dieses trinitarische Ebenbild im Werden begriffen ist, werden. Erreicht der Mensch als werdende Trinität dieses Ebenbild, stellen sich Kraft, Weisheit und Liebe, Stärke, Sinn und Seligkeit, Fundament, Weite und Fülle ein, und alles Leiden muss enden. Wer aber unter den Menschen lebt in der Ebenbildlichkeit Gottes? Unverletzt, ungetrübt, sicher und klar? Wohl niemand. Also überhaupt niemand? Alle Religionen lehren, dass der Mensch Verletzung und Trübung überwinden kann, und das Christentum lehrt darüber hinaus den absolut ungetrübten, den nie aus der Ebenbildlichkeit herausgefallenen Menschen, den Gottmenschen Jesus Christus. An ihm darf sich jeder orientieren, mit ihm sich identifizieren, von ihm sich weisen und ziehen lassen, durch ihn darf jeder Gott sehen und mit Gott eins werden. In Jesus Christus ist die Ebenbildlichkeit des Menschen für alle Zeiten garantiert und gerettet, damit jedoch der Mensch überhaupt und seine Heimat im »Urbild« der Gottheit. Wer leidet und dieses Leid zusammen mit dem Gottmenschen trägt, der arbeitet an der Wiederherstellung seiner Gottebenbildlichkeit, der leidet, als wäre er schon in der Freude: »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht« (Matth. 11, 28–30). Das meint Nachfolge in Jesus Christus.
7.6. Unmöglichkeit einer letzten metaphysischen Tragik bzw. eines Pantragismus des Seins Da Gott gemäß der hier vorgelegten Analyse Ursprung, Ziel und Lenker des Kosmos ist, kann das Drama des Weltseins, gleich wie es ausgeht, nicht scheitern. Diese Hoffnung mindert keineswegs den imma689 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der metaphysische Sinn des Leidens
nent tragischen Charakter der Welt, solange sie unterwegs ist. In dieser Welt erwies sich vor allem der Mensch als »hoffnungslos« überfordert, und die Abgründe seines ständigen Scheiterns, die Sturzbäche der Zerstörung, die er durch die Geschichte jagt, die unschuldigen Opfer, die er himmelhoch unter Mensch und Tier auftürmt, und die Verwüstungen an Hab und Gut, Leib und Leben, die er bis auf den heutigen Tag anrichtet – all dies beweist, dass etwas fundamental aus dem Lot geraten ist, ein Lot, das der Mensch aus eigener Kraft, obwohl er es soll, nicht selbst wieder einzurichten vermag. Damit gilt: So autonom sich der Mensch wähnt und so selbstmächtig er sich gerade heute gebärdet, sein Leben und Schicksal kann er ohne Schaden nicht meistern, individual nicht, kollektiv nicht. Das ist die Lehre der Geschichte. Schaut man genauer hin, ist festzustellen, dass sich der Mensch zu allem in einer unaufhebbaren Unordnung befindet, zu sich selbst, zum Nächsten, zur Natur und vor allem zu Gott, den er ganz aus seinem inneren Blick verloren hat. Diese fundamentale Versehrtheit des Daseins, die R. Guardini in seinem Buch »Der Anfang aller Dinge« (1987) anspricht und der ich weiter nachgegangen bin, kann kein Zufall sein und ist es, da der Mensch nichts anderes durchlebt als die Folgen seines Gottabfalls und seiner angemaßten Selbstvergottung, auch nicht. 8 Es spricht vieles dafür, dass schon vormenschliche Geistwesen von Gott abfielen und dadurch in die Schöpfung manche Störung hineintrugen. Trifft dies zu, könnte es sein, dass durch den Gottabfall des Menschen, des letzten Geistwesens im Kosmos, das Drama des Abfalls seinen Abschluss findet. Dann aber könnte es weiterhin sein, dass mit der Erlösung des Menschen, wie es Paulus andeutet, auch der Gottabfall der vormenschlichen Geistwesen revidiert, geheilt oder doch kompensiert wird. Insofern besäße der menschliche Gottabfall sogar die Funktion, durch seine Überwindung die gesamte Schöpfung mitzuerlösen. Und schließlich wäre denkbar, dass Gott, der selbstverständlich den Abfall des Menschen und seinen Fall in die Inkarnation voraussah, die vormenschliche Welt so einrichtete, dass der Mensch darin, um die Erde zu beseelen und zu vergeistigen, sich zu läutern und den Abfall zu sühnen, mit Vergänglichkeit, Altern, Sterben und Tod, Mühsal, Schwere, Leid und Not, Schmerz und Krankheit, Verlassenheit und Verlorenheit konfrontiert werde. In dieser Sicht müsste nicht, wie es z. B. A. Wenzl (1939, 176 f.) tut, die gesamte Natur als Abfall von Gott gedeutet werden. Das »Fressen und Gefressenwerden«, richtig verstanden, spricht keineswegs gegen die geistige Ausreifung der vormenschlichen Naturgeistkräfte. Immerhin sieht A. Wenzl tief und erahnt die geistige Pluralität des Kosmos mit ihrer Gefahr der »Eigenbegehrlichkeit«. Mit diesen nur noch religionsphilosophisch vermutbaren Dimensionen erhält die Theodizee eine letzte, nahezu unauslotbare kosmogonischeTiefe, die nun wahrlich »kosmisch-universal« ist.
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Unmöglichkeit einer letzten metaphysischen Tragik
Wider alle Düsterkeit gibt es dennoch eine Schar zahlloser positiver Gegenkräfte, so die ganze vormenschliche Natur, die, was ihre geistigen Zweitursachen betrifft, bereits in Gott heimisch geworden ist, aber auch viele Menschen, die von Ehrfurcht vor dem Leben, Mitgefühl für den Anderen, von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, die von Freude über das unendlich Schöne dieses Alls und von echter Liebe für alles Seiende erfüllt sind und Widerstand gegen Hartherzigkeit, Eigensucht, Profitgier, Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit und Zynismus leisten. Wäre dem nicht so, wäre die Erde schon entvölkert und sähe einer Todeswüste gleich. Die Tragödie des Menschseins hält so lange an wie nur einer sich weigert, umzukehren und sich dafür zu bereiten, sein Leben auf Gott zu, angeleitet von seinen weltimmanenten Leitprinzipien, zu leben. Andererseits hat das große Drama sein Ende insofern gefunden, als das Beste des Menschen, der Gottmensch (und seine Jünger), mit Gott eins geworden ist und so die Schöpfung in ihrem vollkommensten Repräsentanten totaliter zum Herrn der Dinge zurückgefunden hat. Selbst wenn die menschliche Welt nach Christus in den endgültigen Untergang taumelte, der Regie in der Schöpfung wäre der Triumph über Sünde, Leid und Tod nicht mehr zu entreißen, womit schon jetzt das Tragische grundsätzlich und in Gänze überwunden ist. 9 Von Gott aus hat es diese Tragik nie gegeben, aus der Sicht vom Menschen quält sie die Zweifelnden bis zum heutigen Tag. Warum? Weil die Menschen die Betroffenen wie die Täter sind und immer noch hoffen, dass die menschliche Geschichte zum Guten ausgehe, aber nicht wissen, ob sie nicht einer Täuschung unterliegen.
Klassische Pantragisten sind die Gnostiker (z. B. Valentinian), A. Schopenhauer, E. v. Hartmann, M. de Unamuno (1913), der späte M. Scheler und J.-P. Sartre. Dagegen betont Plotin (Enneade III 2,5), dass Dynamik und Kampf der Geschichte um Gut und Böse gerade der »Beweis der höchsten Macht, auch das Schlechte gut gebrauchen zu können«, seien. Ähnlich Augustinus (1948, Kap. 100, 82): »Er, der Gute, würde nicht zulassen, dass etwas Schlechtes geschehe, wenn er nicht in seiner Allmacht aus dem Bösen Gutes schaffen könnte.«
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Der metaphysische Sinn des Leidens
7.7. Der Sinn von Ausweglosigkeit, Scheitern und Absurdität: der positiv-spirituelle Sinn einer Selbstvernichtung der Menschheit als äußerster Sinngrund des Leidens Mit dem totalen Scheitern des Menschen in der Geschichte wird die Grenze einer jeden positiven Theodizee erreicht. Sollte die völlige Selbstvernichtung des Menschen auch dann noch einen Sinn ergeben und sich mit der besten aller möglichen Welten vereinen lassen, wäre eine Widerlegung der Theodizee nicht mehr möglich. Und so gilt: Auch wenn kein Mensch weiß, wie die Weltgeschichte endet, und offen bleibt, ob sich die Menschheit selbst auslöscht, so wäre selbst dieser Fall mit der Sinnbestimmtheit des Kosmos vereinbar. Warum? Weil genau dadurch bezeugt würde, was die Wahrheit ist. Worin könnte sie bestehen? Darin, dass der Mensch im Letzten nicht autonom, kein ens a se ist, dass seine Selbstmächtigkeit beschränkt bzw. ihre Absolutsetzung selbstmörderisch ist und geschöpflich-geistiges Leben, was sein Gelingen angeht, auf Anderes und Andere angewiesen ist. Gerade die Selbstvernichtung des Menschen würde die Unumgänglichkeit eines umfassenderen Beistandes für das Gelingen des Lebens offenbaren und nicht nur offenbaren, sondern mit dem totalen Scheitern total notwendig machen. Der selbstvernichtete Mensch bedürfte wie sonst nichts der Hilfe der denkbar mächtigsten Instanz, sprich Gottes, der allein die Fähigkeit besitzt, aus einem verwüsteten Jerusalem ein neues unversehrtes Jerusalem erstehen zu lassen. Nur Er kann dies. Mindestens »um der wenigen Gerechten willen«, wie die Schrift sagt, wird er es tun und hat es schon getan. 10 All dies bedeutet, dass selbst das schlimmstmögliche Scheitern unmöglich das letzte Wort im Seinsgeschehen sein kann, dass Gott um seiner eigenen Allmacht, Allwissenheit und Allgüte willen auch das scheinbar radikalste Scheitern wenden wird. Wann und wie es soweit kommt, weiß niemand. Durchaus ist denkbar, dass der Mensch sich besinnt und wieder von Gott her und auf Gott hin sein Leben führt, was ein ethisch wertvolles Leben impliziert, also das Ernstmachen mit den klassischen Werthaltungen der Ehrfurcht vor dem Leben, der Selbstbeherrschung und Selbstbescheidung, der Maßhaltung und Mäßigung, des Mutes und der Tapferkeit, der Achtung und der Wahrhaftigkeit, der Ehre und des Mitgefühls, der Güte und Liebe. Zweifellos ringt die Menschheit um die Realisierung dieser Werte 10
Siehe Altes Testament, 1. Moses 18, 16–19, 29.
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Das Leiden als Spur größeren Lebens und als Statthalter der Vollendung
und Tugenden, und zweifellos hat sie nicht wenig, obschon unter großen Opfern erreicht, so dass berechtigte Hoffnung besteht, die totale Katastrophe, die droht, abzuwenden. Doch, wie gesagt, selbst deren Eintritt wäre (und ist!) nicht das letzte Wort im kosmischen Drama und könnte es nicht sein. Nicht weil ein deus ex machina eingreifen würde, sondern weil die Natur bereits gottheiligt ist, weil die Menschheit in ihrem Gottmenschen in Gott bereits heimisch wurde, weil viele Gute bereits in Gott angekommen sind, weil viele dort mit Gewissheit noch ankommen werden und weil Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist. 11
7.8. Das Leiden als Spur größeren Lebens und als Statthalter der Vollendung: der individuelle Mensch als zu realisierende »Seite Gottes« So viel ist klar: Leiden ist nicht nur keine bloße Erscheinung von Etwas, das unerkennbar oder »bloßer Schein« wäre, sondern es ist das volle Erleben eines Selbstseins, eines lebendigen Wesens und damit unmittelbar die Selbstvergegenwärtigung eines »Dinges an sich«. 12 Erscheinung und Sein sind hier identisch. Das aber bedeutet, dass es ein Seinsvollzug im zweiten Seinsrang und damit ein Seinsgeschehen ist, das sich intensiver vollzieht als das drittrangige Weltgeschehen. Wo gelitten wird, leidet ein subjektives, ein selbsthaftes Sein, ein Sein aus Freiheit und in Würde, ein »Selbstwesen«. Als Vgl. Neues Testament, Lukas 20, 38. Die Kantische Unterscheidung von Ding an sich selbst und Erscheinung ist schon insofern problematisch, als I. Kant sagt, dass das Ding an sich, sprich die Welt, insofern sie ohne den Wahrnehmenden besteht, erstens gänzlich unerkennbar, zweitens unzeitlich und unräumlich sei und drittens auf das Subjekt der Wahrnehmung einwirke und so das »Chaos der Empfindungen« erzeuge. Dagegen ist zu sagen, dass der Begriff Erscheinung (Phänomen) in Bezug auf etwas, das ganz anders ist und also gar nicht erscheinen kann, seinen Sinn verliert. Denn es fragt sich stets, was denn wem, wie und wodurch erscheine? Zweitens ist es ein Selbstwiderspruch zu behaupten, das Ding an sich sei unerkennbar, und dennoch daran festzuhalten, es existiere, sei zeitlos, unräumlich und wirke auf das Subjekt. Gälte dies, wäre es nicht gänzlich unerkennbar. Denn vom Unerkennbaren kann man nichts aussagen. Und drittens ist das »Chaos der Empfindungen« eine Fiktion, bestenfalls eine Hypothese, sicher kein phänomenaler oder empirischer Tatbestand. Im Gegenteil lehrt das Wahrnehmungsleben unmittelbar das Gegenteil, eben eine hochstrukturierte und sicher nicht vom Menschen originär und apriori gemachte und durchstrukturierte Welt.
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Der metaphysische Sinn des Leidens
Leidensakt ist das Leiden daher nicht nur Mangel und Defekt, sondern Aktivität, Leben, Leben in Widerstand und Kampf, letztlich im Widerstand gegen alle Lebensverneinung. Wer leidet, will leben, und zwar leidlos leben, also will er Leben in Unversehrtheit und Fülle. Alles Leiden ist, wie erkannt, Widerspruch, Revolte, Aufbegehren, also Verneinung, doch stets auf dem Hintergrund einer fundamentalen Lebens- und Selbstaffirmation. Leiden kann nie nur passiv als bloßes Erleiden gefasst werden, Leiden ist eminent aktiv und rückbezüglich, obschon sein Aufbegehren gehemmt und oft vergeblich ist. Damit aber erweist sich Leiden als Vorschein größeren und besseren Lebens, das, gleichgültig ob es kommt oder nicht, kommen soll. Wohl gibt es verworrene, neurotische und gewalttätige Formen des Leidens, Leidensweisen, die sich der Verdrängung, der Lüge und des Unrechts bedienen, doch in allen Leiden ist sowohl ein Moment der Getroffenheit als auch der Betroffenheit, das anzeigt, dass etwas nicht in Ordnung ist und geradegerückt werden muss. Alles Leiden ist Statthalter für ein Leben in Vollendung. Denn leidfrei ist letztlich nur ein gutes, vollkommenes Leben. Da ein solches auf Erden nicht erreichbar ist, transzendieren alle Leiden diese Welt und antizipieren das »Neue Jerusalem«, das heißt die grundhafte Umschaffung der irdischen Verhältnisse, die gemäß der Analyse dieser Arbeit letztlich allein durch Gott, allerdings unter wesentlicher Mitwirkung seiner guten Geschöpfe geleistet werden kann und geleistet werden wird. Umgekehrt bedeutet dies, dass dieses »Reich« so lange nicht (voll) da ist und da sein kann, solange ein empfindsames Wesen ungerechterweise leidet und unglücklich ist. Leiden wird so zum Wegweiser in eine bessere Welt, zum Wegweiser in die noch ausstehende beste aller möglichen Welten. In dieser Perspektive lässt sich die Stellung des Menschen sowohl im Kosmos überhaupt als auch in Bezug auf Gott näher bestimmen. Schon in der empirischen Welt verwirklicht sich in jedem Menschen ein einmaliger Seinsentwurf, der durch keinen anderen vertreten werden kann. Jedes Individuum ist ein einzigartiger »Gedanke Gottes«. Hinzukommt, dass sich im Menschen alle Seinsschichten und Seinsaspekte des Kosmos zusammenfinden und eine tiefste Einheit bilden, von der untersten physikalischen Materieschicht bis zum Selbstbewusstsein des Geistes. Bezogen auf Gott bedeutet dies Entscheidendes: Da Gott unendlich ist, umfasst er unendlich viele Möglichkeiten endlichen geistigen Seins, die in ihm zu reiner Einheit und Innigkeit verschmolzen, in der Welt dagegen 694 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Das Leiden als Spur größeren Lebens und als Statthalter der Vollendung
gleichsam in die Vielheit der geistigen Wesen auseinandergelegt sind. 13 Somit ist jedes geistige Individuum in seiner Potentialunendlichkeit nicht nur allgemein auf das Unendliche der Gottheit bezogen, die es endlos annähert, sondern im Besonderen auf jene unendliche und aus eigener Kraft nicht voll realisierbare Seite Gottes bzw. auf die Vor- und Urgestalt jedes Individuums hingeordnet, in der sich dieses abschließend vollendet und damit seinen Weltauftrag einlöst. 14 Jeder Mensch wird so, wenn aufrichtig erstrebt, mit Gott eins, aber nicht mit dem ganzen Gott, nicht mit Gott in seinem unendlichen inneren Reichtum, sondern »nur« mit einer, allerdings unendlichen Seite Gottes, mit einem vollkommenen »Urbild«, das den individuellen Menschen sowohl mit Gott eins als auch – bei aller innigen und tiefen Einheit – von allen anderen Menschengeistern verschieden sein lässt. Da in dieser Perspektive das erfüllende Seinsziel jedes menschlichen Individuums im Unendlichen liegt, so dass jeder sagen darf, »ich bin Gott«, kann sein Wesen auf dem irdischen Plan niemals voll ermessen und durchschaut werden, sondern bleibt prinzipiell offen. 15 Die Forderung von Max Frisch, sich von einem Menschen niemals ein (fertiges) Bild zu machen, erhält hier ihre letzte Legitimation. Schließlich ist zu bedenken, dass durch den endlosen Austausch der potentialunendlichen Geistkräfte, der die endlose Annäherung aller Geister mit sich bringt, das Wachstum jedes einzelnen Geistes und damit aller einzelnen Geister zusammen idealiter auf die TotaliDies entspricht dem in »de docta ignorantia« (1440) entwickelten Gedanken des Nikolaus Cusanus von der Welt als explicatio dei und Gottes als complicatio mundi. 14 Hier könnte man von einem »individualen Archetyp« sprechen. B. v. Brandenstein (1966, 546, Kap. 406) bezeichnet diesen ewigen göttlichen Vor-Entwurf eines Menschen in seiner »Grundlegung der Philosophie«, Bd. 3, »Die Vorgestalten der Geistgeschöpfe in Gott« als »Vorgestalt« und bestimmt sie als eine individuelle, unendliche Seite Gottes, die der Mensch in der Zeit annähern kann und soll und die keine »Idee«, kein »Bild«, sondern eben Gott selbst »in einer Seite« ist. Ähnliches vertritt Meister Eckhart (1996, 36 ff.) im Traktat »Von der wahren Armut«, wenn er von jenem »Selbst« spricht, »das ich war, als ich nicht war.« Höchstwahrscheinlich meint er damit jenes »Etwas«, das Gott als »vorbildhaftes Wesen« eines Menschen einerseits vor seiner Erschaffung in sich trug, andererseits bei seiner Erschaffung als Seelengrund in sein zeitliches Sein »einfließen« lässt. Nach Meister Eckhart werden die Seelen mit diesem in ihnen immanenten gotthaften Grund nur durch die »unmittelbarste Armut« (1951, 40) eins, die, weil ewig-göttlich, zugleich größtmögliche Fülle ist. Das Selbst jedes Menschen stammt hier also nicht nur von Gott, sondern ist Gott bzw. soll, in seinem irdischen Teil, in Gott aufgehoben werden. Vgl. ähnlich N. D. Walsch (1999, 332). 15 Vgl. O. Loretz (1967, 102). 13
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Der metaphysische Sinn des Leidens
tät Gottes zugeht, allerdings nur als Gesamtgemeinschaft aller Geschöpfe. Was auf diesem Wege entsteht, ist das »Reich Gottes«, die Vielheit der Geister in der Einheit Gottes. Nur der Gottmensch bildet hier die überragende Ausnahme, da er nicht nur mit einer Seite Gottes vereint, sondern zum »ganzen Gott« erhoben ist, also nicht nur einen unendlichen Aspekt der Gottheit repräsentiert, sondern mit allen unendlichen »Möglichkeiten« Gottes eins und so selbst wahrer Gott wird. Während die Menschen »einseitig unendlich«, zur Gottheit nur aus einem Blickwinkel erhoben werden, wird der Gottmensch »allseitig unendlich«, sozusagen unendlich unendlich, und zwar schon mit seiner Erschaffung erhoben. 16 Insofern sich alle Geistindividuen endlos austauschen und darin das »Reich Gottes« bzw., christlich gesprochen, den »Leib Christi« bilden, insofern nähern sie sich, obwohl in ihrem Seinskern durchgöttlicht, endlos der aU Fülle des vergöttlichten Gottmenschen an. Im Seelenkern verewigt, entfalten sich die Geschöpfe zusammen mit der Schöpfung dennoch zeitlich weiter, in einer Zeitlichkeit, die keine Vergänglichkeit und keine Trennung mehr kennt, aber doch jede geistige Individualität bewahrt. Auf diesem Wege – und wohl nur auf diesem – ist die sinnvolle Synthese einer »regressiven Mystik«, also des zeitlos-ruhenden Einsseins in Gott, wie es Plotin und Scotus Eriugena vertreten, mit einer »progressiven Mystik« der endlos-zeitverbunden-überzeitlichen Weiterentfaltung der Schöpfung und damit nicht-endenden Einsenkung in Gott, wie sie z. B. J. G. Fichte und F. Brentano vertreten, vereinbar. 17 Der Rückzug Gottes aus dem Erleben Jesu am Kreuz – »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« – betrifft daher nur dessen psychophysisches, kreatürliches Menschenbewusstsein, nicht seine »Tiefenperson«, seinen metaphysischen Kern, das »transzendentale Ich«, das mit Gott verbunden bleibt, ja das mit der göttlichen Logosperson weiterhin unauflösbar eins ist, was Jesus als Mensch am Kreuz allerdings an dem genannten Punkt nicht mehr (wie sonst) erlebt. Das ist entscheidend, da darin ein letzter Erlösungssinn liegt: Jesus durchlebt die volle, gleichsam gottlose Kreatürlichkeit, um allen Menschen, die ja real »gottlos« sind, die Möglichkeit der Rettung existenziell vorzuleben. So vollzieht Gott als zweite Person in Jesus zwar dessen Leiden und Sterben mit (er ist ja in der Tiefe mit ihm eins), leidet und stirbt aber nicht selbst (was unmöglich ist), sondern überbietet es mit seiner Seinsfülle, was in der Auferstehung dann offenbar wird. Nur so ist es möglich, dass Jesus tatsächlich leidet und doch (in seiner metaphysischen Tiefe) Gott, der alles Leid überragt, bleibt. 17 Vgl. W. Thiede (2009, 232 ff.). – In dieser nachirdischen Weiterentfaltung der Schöpfung werden allerdings keine neuen Geistgeschöpfe mehr erschaffen. Zu J. G. Fichtes »rastloser Mystik« vgl. F. Billicsich (1952, 274). Ähnlich lehrt F. Brentano (1929, 63; vgl. dazu auch F. Billicsich 1959, 76) die Bestmöglichkeit dieser Welt. Doch 16
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Das Leiden als Geburt, Lehre und Weg
In gewissem Sinne darf an diesem, aber nur an diesem Punkt von einer wachsenden, nie zu Ende kommenden »Vergottung« der Schöpfung, also von einer Art »sekundärem Panentheismus« gesprochen werden, in dem alle Geschöpfe, die sich Gott zunehmend angleichen, indem sie ihn »aussprechen«, in das Sein Gottes eingehen, womit die Schöpfung als »werdender Gott« imponiert, die nie – außer in der »Spitze« des Gottmenschen – ganz zum werdelosen Gott wird. 18
7.9. Das Leiden als Geburt, Lehre und Weg Der Weg dorthin gleicht, wie mehrfach angedeutet, einer Geburt. Wieso? Weil alles zeitlich-erlebende Sein im Kern schöpferisch-werdend-schaffendes Sein ist, ein Sein und Wesen, das sich hervorbringt bzw. an seiner Selbstgeburt beteiligt ist. Rein mechanische Kausalität ist ein Gespenst, das nur in den Köpfen der Materialisten existiert, aber keinen realen Bestand hat. Zwar untersteht alles Werden gewissen Bedingungen und Gesetzen, diese geben jedoch nur die Art und Weise, das Wie und Worin des Entstehens an, nicht das Wodurch, den tätigen Grund. Dieser kann nur ein schöpferischer Faktor sein, der, wie bei der Behandlung der Kausalproblematik aufgezeigt, nur als geistiger Schaffensgrund zu denken ist. Zuhöchst schafft die Gottheit, nur muss sie sich, da sie zeitlos existiert und alles ist, was sie sein kann, nicht mehr hervorbringen, wogegen die geschöpflichen Wirkursachen gerade das, was sie sein können, nicht sind und daher gefordert sind, »sich zu erfinden«, sich hervorzubringen, sich zu gebären, tatkräftig, vernunftvoll und leidenschaftlich zu gebären. Dagegen können die Dinge im dritten Seinsrang nur hervorgebracht und gehalten, prozessiert und entwickelt, geformt und gestaltet werden, sie selbst sind wesentlich passiv, woraus folgt, dass nur die Wesen im zweiten Seinsrang gebärda eine absolute Vollkommnung der Welt nicht möglich sei, bestehe ihre Vollkommenheit in ihrer – auch im Jenseits weitergehenden – endlosen Vervollkommnung ins Unendliche, in Gott hinein. 18 Siehe Meister Eckhart (1991, 181, Hrsg. F. Pfeiffer): »Got der wirt da alle creaturen. Gotes sprechen da gewirt got.« In der Übersetzung von J. Quint (1979, 273): »Gott wird Gott, wo alle Kreaturen Gott aussprechen: da wird Gott.« Es ist klar, dass der genannte Panentheismus im Gegensatz zum Panentheismus Meister Eckharts, der mit dem Wesen des Menschen naturhaft verbunden ist, einer freien Gabe Gottes an den Menschen entspringt.
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Der metaphysische Sinn des Leidens
fähig und damit leidensfähig sind. Gebär- und Leidensfähigkeit, potentielle Schöpferkraft und Schmerz sind Korrelate des zweiten Seinsrangs, weil Gott zwar schaffen, aber nicht leiden, die passiven Dinge dagegen weder schaffen noch leiden können. Indem die Geschöpfe ihr Möglichsein in Wirklichsein überführen, werden sie sich selbstangesichtig, erfahren, erkennen sich, sehen, wer sie sind – und man begreift: Alle Geburt ist Lehre, existenzielles Belehrtwerden darüber, wer ich bin, was ich kann und was ich soll bzw. wer ich nicht bin, was ich nicht kann und was ich nicht sein soll. Und all dies in der Zeit und damit auf einem echten Weg. Hervorbringen, Gebären, einen Weg gehen und Erkennen gehören im Leiden zusammen, untrennbar. Warum muss das Gebären jedoch schmerzen? Weil es aus dem Dunklen kommt und meist auf innere und äußere Widerstände stößt. 19 Es soll etwas entstehen, was noch nicht da ist und sich meist nicht problemlos in das schon Gegebene fügt. Alles Gebären geht durch eine Enge, die zerreißen kann und evtl. leiden macht. Altes muss zurücktreten, muss vielleicht aufgegeben, verworfen und zerstört werden; Neues, das noch unbekannt ist, muss verstanden und erprobt werden, und niemand weiß, ob es sich bewährt. Hinzukommen die Konflikte, die unvermeidbar sind, wenn verschiedene Willenspotenzen aufeinandertreffen und sich gegenseitig begrenzen, hemmen, infrage stellen, untergraben, bekämpfen und verletzen. Die Welt ist, wie gesehen, an ihrem vorletzten Grund plural eingerichtet. Ihre Einheit ist prekär, nicht monolithisch, sondern vielschichtig gebaut. 20 Ständig ist sie im Umbau begriffen, da ein jeder Aufbau mit einem Abbau, jede schöpferische Tat mit einer Veränderung, oft mit einer Zerstörung einhergeht. Man denke an Großprojekte (Staudämme, Stuttgart 21) und ihr heute fast unabsehbares Zerstörungspotential. Der so genannte Fortschritt verlangt große Opfer, und die Menschheit muss sich in Zukunft viel mehr als in der Vergangenheit fragen, ob die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.
Vgl. J. G. Fichte (1979, 11 ff.). J. G. Fichte definiert das »schlechthinnige Ich« oder »absolute Subjekt« gerade durch den Widerstand, den ihm das Nicht-Ich bietet. Schon allein diese für den Menschen richtige Kennzeichnung beweist, dass dieses Ich nicht absolut sein kann, was J. G. Fichte insofern zugibt, als er sagt (1979, 13), »Ob und wie A (das Ich, hinzugefügt durch B. W.) überhaupt gesetzt sei, wissen wir nicht.« 20 Vgl. ähnlich N. Hartmann (1964). 19
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Die unvermeidlich katastrophalen Folgen des Gottverlustes für die Menschheit
7.10. Die unvermeidlich katastrophalen Folgen des Gottverlustes für die Menschheit: die »Verkehrtheit der Welt« und noch einmal das Problem der Erbsünde Muss man die Frage nach der Verhältnismäßigkeit nicht auch an Gott richten? War es gerecht und billig, einen einzigen Fehltritt im Paradies der Gottesnähe mit der schreckenvollen Tragödie der Weltgeschichte zu sühnen? Daran zweifeln viele. Doch genau dieses scheinbare Missverhältnis offenbart Größe und Gefahr des Menschseins, geht es doch um nichts weniger als um die Verewigung endlichen Seins, sprich um die Würdigung, zeitlos in ewiger Seligkeit mit Gott und zeitlich-unvergänglich mit den anderen Geschöpfen zu leben und zu wirken. Umgekehrt heißt dies, dass die Abkehr von Gott mit dem Verlust des Lebens und des Glückes überhaupt einhergeht und damit entweder alles endliche Sein ins Nichts stürzt oder in eine folgenschwere Schieflage zu allem gerät, was ist: zu sich, zum Anderen, zur Natur und vor allem zu Gott. Die Weltgeschichte stellt nichts anderes dar als dieses Drama des aus dem Lot geratenen Geschöpfseins. Das aber bedeutet, dass es beim Menschsein immer ums Ganze geht, um das radikal Ganze, gleich wie nebensächlich eine Handlung anmuten mag, weswegen die Erstsünde keine Kleinigkeit, die man übergehen kann, ist, sondern die Aufsspielsetzung des Ganzen, der Totalität. Dies zeigt Gott indirekt an, indem er der Weltgeschichte den Raum eröffnet und sie nicht nur in ihrer ungeheuren Potentialität, sondern auch in ihrer ungeheuerlichen Destruktivität gewähren lässt. Diese Raumeröffnung hat die biblische Genesis drastisch als Vertreibung aus dem Paradies gedeutet, was zwar affektiv verständlich ist, aber nicht die volle Wahrheit trifft. Gott hat nur vollzogen, was die Menschen selbst, wie im Buch Genesis geschildert, wollten: fern von ihm auf sich selbst gestellt sein und ganz im Weltsein aufgehen. Das gewährte er ihnen, wohlwissend, dass die Menschen auf diese Weise gezwungen werden, ihre Kreativität so weit und tief wie möglich auszuschöpfen, um im Hiesigen sich zu finden, zu bestehen und ihre eigene Welt, die Kultur, aufzubauen. Was hierbei entsteht, ist gewaltig, doch trägt alles Menschentun und Menschenwerk seither das Kainsmal der tiefsten ontologischen Versehrtheit und daraus folgenden Verkehrtheit an seiner Stirn. Alle Menschen erfahren mit ihrer Geburt den Schmerz des Daseins, und alle Menschen müssen in tragischem Zwange, um zu leben, sich behaupten, andere ver699 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der metaphysische Sinn des Leidens
drängen und vieles zerstören. Was da alles aus den Fugen geraten ist, beweist nichts so sehr wie das sich durch die ganze Geschichte hindurchziehende Unheilsverhältnis der Geschlechter, darüber hinaus die gewaltsame Beziehung zur vormenschlichen Natur, ihre Ausbeutung und Ausraubung bis zur Selbstzerstörung und überhaupt der Zynismus gegen das Leben. Beides sah die erste Bibel mit großem Scharfblick und schuf dafür unvergängliche Bilder, doch machte sie zu wenig die Chance sichtbar, die auch darin liegt, was vielleicht auf einen verborgenen Pessimismus der Juden verweist. Bei Gott würde der Mensch nicht so tiefgründig schöpferisch sein müssen, wie er es, verlassen von ihm, in der Welt ist. Not macht erfinderisch, nicht das Glück, das gilt auch hier. Denn es sind der Mangel und die Bedrängnis, die die Phantasie und Intelligenz aufreizen, nicht die satte Zufriedenheit und die Spannungslosigkeit. Somit erweist sich die menschliche Existenz als grundhaft ambivalent: zugleich auf menschlichem Wege nicht überwindbare Tragödie und Chance der schöpferischen und erschreckend freigelassenen Freiheit zu sein. So wie die Ureltern das selbstmörderische Wagnis der Gottlosigkeit riskierten, so riskiert Gott mit dem gottlosen Menschen die schwindelerregende, gerade dadurch zur äußersten Schöpferkraft gespannte Freiheit. Die Opfer, die das kostet, sind immens, doch dies ist der Preis der Gottwerdung des Menschen, aller Menschen, auch der, irdisch gesehen, verlorenen und der gesamten Schöpfung überhaupt. 21 An diesem Punkt muss nochmals die Frage nach der Erbsünde und ihrer Berechtigung aufgeworfen werden. Klar ist, dass sie nicht wortwörtlich verstanden werden darf, da eine moralische Untat ohne Verletzung von Wahrheit, Freiheit und Würde nicht vererbt werden kann. Kein Kind auf dieser Welt kommt mit einer aktual dispositionellen Sündigkeit auf die Welt. Aber die Folgen jener Erstsünde, das radikal gottferne In-der-Welt-Sein, die Daseinsgefahr von Anfang an und die Verstricktheit in fremde Schuld, dem ist jedes Kind schon im Mutterleib ausgesetzt. Und was hängt nicht alles an diesen Folgen? Die Schwere des Leibes, seine Verletzlichkeit, sein Altern, Krankheit, Sterben, Tod, Arbeit, Mühe und Mühsal – und vor allem die Tatsache, dass die Menschen den Einflüssen der Welt, der natürlichen wie der soziokulturellen, die vielfältig schuldbeladen sind, ausgeliefert sind. Auf dem Hintergrund der religionsphilosophischen Deutung des AbDenen Gott (in Christus) nachgeht, bis er sie findet, wie die Gleichnisse vom verlorenen Lamm und vom verlorenen Groschen erzählen (Lukas 15, 1–7 und 8–10).
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Ursprung und Sinn des Bösen: Hat »Auschwitz« einen Sinn?
falls von Gott muss man hier nicht nur von einer Erblast, sondern von einer grundhaften Versehrtheit im Sinne einer radikalen Traumatisierung des verleiblichten Menschen sprechen. Nicht dass er von Anfang an böse ist, trifft, wie I. Kant 22 vielleicht meinte, die Wahrheit, sondern dass der Mensch von Anbeginn an belastet, bedroht, geschwächt und durch den Gottesverlust, wie M. Heidegger 23 sagt, in die Nichtigkeit des Daseins geworfen ist und damit schlimmster Angst und Melancholie ausgesetzt wurde. Der Mensch steht nicht mehr unmittelbar in Gott, dem felsenfest-unerschütterlichen Urgrund, sondern auf dem Treibsand der Welt, die wesenhaft kontingent, also nichtseinkönnend (»nichtig«), damit stets schwankend, brüchig und bedrohlich ist – die Menschen stehen also nicht, sie schweben über dem Abgrund. Das ist eine der Grundwahrheiten des christlichen Existenzialismus, die P. Wust (1884–1940) so tief und bitter empfunden und in vielen seiner Werke, z. B. in »Ungewissheit und Wagnis« (1946), niedergeschrieben hat.
7.11. Ursprung und Sinn des Bösen: Hat »Auschwitz« einen Sinn? »Ohne den Schmerz über die ins Böse versunkene Welt würde sich das Bewusstsein nicht läutern und die Geistigkeit nicht wachsen.« (N. Berdjajew 1949, 119)
Nicht nur das Übel, auch das Böse ist eine Mischung aus Sein und Nichtsein, Wert und Unwert, Sinn und Sinnstörung, allerdings auf eine andere Art als das Leiden. Zum Bösen muss eine bewusste Entscheidung hinzukommen, die sich mit Absicht entweder direkt gegen Gott selbst oder gegen seine von anderen Subjekten getragene WerteVgl. I. Kant (1792, 1. Stück, »Über das »radikal Böse« im Menschen«. In: »Die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft«). Möglicherweise meint I. Kant aber auch »nur« einen potentiellen, nichtsdestotrotz radikalen Hang zum Bösen, der mit dem von Gott losgelösten Ichsein gegeben ist, aber als solcher noch nicht wirklich, nicht aktual böse ist, sondern nur zum Bösen geneigt macht. Echt böse wird er, wenn ihn der Mensch frei ergreift und bejaht. Diese Zustimmung wird umso wahrscheinlicher, je tiefgreifender der Verlust der Gottesbindung bzw. die Trübung der sittlichen Vernunft ist. Seit der Inkarnation des Menschengeistes wurde dies zur schaudervollen Tatsache, die einen Beistand aus der Höhe immer dringlicher werden lässt. 23 Vgl. M. Heidegger (1979, § 38). 22
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Der metaphysische Sinn des Leidens
ordnung stellt und z. B. bewusst vermeidet und gleichgültig ist, betrügt und stiehlt, beleidigt und manipuliert, quält und schädigt. Das Böse ist daher nicht nur Mangel, auch nicht nur, im Sinne der privatio boni, nichtseinsollender Mangel, sondern Mangel in einem Sein und Mangel an Sein in einem aktiven, geistigen Sein, wo er nicht sein sollte. Das aber bedeutet, dass dem Mangel des Bösen im Unterschied zum natürlichen Mangel, d. h. zur Trägheit, Begrenztheit, Schwäche, Irr- und Verletzbarkeit allen endlichen Seins, eine Gerichtetheit, eine Intentionalität zu eigen ist, die dem natürlichen Mangel fehlt und die vom volleren Sein wegweist. Der Böse will entweder das Gute nicht oder er will das Destruktive im Guten oder er will direkt die Destruktion, die Zerstörung, den Schaden, das Leid und den Schmerz. Das bedarf der Erläuterung. Der erste Fall liegt vor, wenn das Gute unterlassen wird, z. B. aus Gleichgültigkeit, Resignation oder Zynismus. Hier dominiert die von J. G. Fichte 24 in einer gewissen Phase seines Denkens als Grund des Bösen identifizierte Trägheit, die sehr oft Feigheit und Falschheit nach sich zieht, und identisch mit »Faulheit« ist. An sich ist die Trägheit nicht böse, ist sie doch zunächst nur der Ausdruck für die ontologische Passivität, für das Geworden- und Geschaffensein des geistigen Geschöpfes. Insofern sie zur Wesensausstattung selbsttätiger endlicher Wesen gehört, ist sie nie aufhebbar bzw. wird erst in Gott und durch Gott vollständig überwunden. In ihr spiegelt sich auch das »Nichtsein«, das Augustinus in allem Geschöpflichen als Grundlage für das Böse erkannte, nur darf es nicht als totales, absolutes Nichtsein gedeutet werden, wie das z. B. bei J. G. Fichte und F. W. J. Schelling manchmal der Fall ist. Das Nichts im Geschöpf meint vielmehr seine Nicht-Unendlichkeit, also die Tatsache, dass es einmal nicht war, dann war, dass es sich aus eigener Kraft zwar entwickeln, aber nicht vollständig aktualisieren, also vollenden kann, dass es im irdischen Leben einmal nicht mehr sein wird und dass es vielfältig bedrängt, verletzt, verwirrt und seiner selbst entfremdet werden kann. Kurzum, es meint seine fundamentale Passivität, Affizier- und Affligierbarkeit, seine »Seinsschwere«, die an sich nicht böse ist, aber das Böse ermöglicht. Böse wird die Trägheit erst, wenn sie ein aktives und der Forderung zum Guten widersetzliches Moment erhält und zur Faulheit mutiert. Wir können auch sagen: Sie wird böse, wenn sie selbstVgl. die gute Zusammenfassung der Übellehre und Theodizee von J. G. Fichte bei F. Billicsich (1952, 262–293).
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Ursprung und Sinn des Bösen: Hat »Auschwitz« einen Sinn?
süchtig wird. In diesem Moment gelangt sie in die Verantwortung des geistigen Geschöpfes, und dieses wird, auch in seiner Trägheit, schuldfähig. Somit erweist sich, dass die von J. G. Fichte gemeinte Trägheit nicht die metaphysische Trägheit ist, die fundamentale Passivität und Schwere des Menschen, sondern die ethische Trägheit, jene nämlich, die nicht sein soll und nicht sein muss und doch gewählt wird (wie die »Oblomoverei« im Roman von I. Gontscharow). So gesehen, ist auch die – aktiv gewollte! – Trägheit eine Form der Selbstsucht, die nicht, wie das oft in der Tradition geschehen ist, mit dem Selbstseinwollen, dem Eigen- oder Selbstsein gleichgesetzt werden darf. Während das Selbstseinwollen auch ein Selbstseinsollen ist, das offen sowohl zum Guten als auch zum Bösen ist und vom Guten, ihm zu Diensten zu sein, gerufen wird, will sich das Geschöpf in der Selbstsucht im Sinne der verstockten Eigensucht nur selbst und oft auf Kosten des Wohles Anderer. Der zweite Fall liegt vor, wenn der böse Wille mittels eines Guten, im Guten oder verdeckt durch Gutes die Zerstörung sucht. So kommt ein Politiker nicht umhin, zur Realisierung seiner Ziele Macht zu erstreben und, hat er sie errungen, auszuüben. Darin liegt kein Übel. Will er aber die Macht nur um ihrer selbst willen oder will er die Macht – die positiv ein Können ist und verpflichtet –, um damit zu schaden, dann missbraucht er ein Gut und tut Böses. Ähnlich verhält es sich, wenn ein Politiker vordergründig Gutes tut, um im Verborgenen destruktive Ziele zu verfolgen. Der dritte Fall, der von nicht wenigen Philosophen für unmöglich gehalten wird, da sie meinen, dass der böse Wille immer, wenn auch in irrtümlicher oder verkehrter Weise, ein Gut erstrebt, etwa einen Machtvorteil, ein Vergnügen, eine Selbstaufwertung, liegt vor, wenn direkt und offen die Zerstörung gesucht wird. Hier weidet sich der Böse am Schaden, an der Zerstörung, am Schmerz und Leid anderer, er will das »Nichts« bzw. die Nichtigung direkt und unverstellt, nicht selten sogar, wenn es ihm selbst schadet oder wenn es, wie im Falle A. Hitlers, seinen eigenen Untergang bedeutet. Es ist daher nicht zutreffend, wenn behauptet wird, der böse Wille könne das Böse, da es ein Nihil sei – allerdings immer nur ein Teilnichts – nicht erstreben. Er kann dies sehr wohl, und er kann sich daran weiden. Tut er Letzteres, was allerdings nicht notwendig ist, bedient er sich eines Gutes, nämlich des Genusses, nur in pervertierter Form. Dieser sinnlich noch fühlende Böse steht im Gegensatz zum kalten, gefühllosen Bösen, den man grausam und herzlos nennt. F. Dostojewskij schildert 703 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der metaphysische Sinn des Leidens
solche Figuren, die das Böse weder aufgrund von Macht- noch aufgrund von Genusssucht bloß um seiner Destruktivität willen suchen, wiederholt in seinem Werk. All dies erhellt, dass es das radikal oder rein Böse nicht gibt und nicht geben kann. Selbst der Böse, der nur auf Zerstörung aus ist und diese Wirksamkeit nicht einmal genießt, selbst dieser muss auf seine guten und an sich wertvollen Seinsbestände zurückgreifen, um böse agieren zu können, muss etwa seine Intelligenz, seine Phantasie, seine Willenskraft, seine Klugheit, seine Vorsicht und seine Einfühlung spielen lassen, um sein böses, destruktives Ziel zu erreichen. 25 Noch grundsätzlicher gilt, dass der Böse ursprünglich so, wie er von Gott erschaffen ist, gut, durch und durch gut ist. Doch ist er dies eben nur als Geschaffenes, noch nicht als Subjekt, als das er bestenfalls potentiell gut und eben damit auch potentiell böse ist. Erst das, was er aus seinen guten Seinsressourcen macht, kann böse sein, und entsprechend liegt im Falle des Bösen ein Missbrauch des Guten gegen das Gute vor. Damit ist der ontologische Status des Bösen klargestellt: Es ist unmöglich, das Böse, wie das im Deutschen Idealismus manchmal geschieht, als direkten und positiven Gegensatz zum Guten zu denken, da es vom Guten her lebt, allerdings indem es vom Guten wegstrebt bzw. das Gute direkt zu verletzen oder zu vernichten trachtet. Ein sittlicher Dualismus bzw. Indifferentismus im Sinne F. Nietzsches ist deshalb unhaltbar – es gibt kein »Jenseits von Gut und Böse«. 26 Dadurch wird offenbar, in welcher Weise das Böse an metaphysische Voraussetzungen gebunden ist: Weder Gott noch ein passives Ding können böse sein. Böse kann nur ein geistiges Geschöpf, ein pU Wesen, ein Objekt-Subjekt sein, also ein Wesen mit der Fähigkeit zur Eigenaktivität, zur Eigenbestimmung, ein Wesen mit Freiheit und Bewusstsein, das zugleich unfertig, offen, unbestimmt und bestimmbar ist und sich, was seine Grundrichtung betrifft, selbst entscheidet, hin zu Gott oder weg von Gott, hin zu den letzten Seins- und Lebenswerten oder weg von diesen, sprich ein relatives Ich. Wo Gott solche Wesen erschafft, da wagt er mit deren Freiheit die Möglichkeit des So gesehen, ist die Bestimmung, mit der Augustinus das Böse fasst, nicht ausreichend, denn das Böse ist mehr als »der falsche Gebrauch des Guten« (vgl. »De peccatorum meritis et remissione«, Liber primus, caput XXIX, 57: »Sicut autem bono uti male, malum est«). Hinzukommt, dass der Gebrauch des Guten bewusst gegen das Gute erfolgt. Denn ein falscher Gebrauch könnte auch bloß irrtümlich sein. 26 Siehe F. Nietzsche (1886). 25
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Ursprung und Sinn des Bösen: Hat »Auschwitz« einen Sinn?
Missbrauchs, also des Bösen, sprich die Abwendung von Ihm und die Zuwendung zu weniger Wertvollem oder zur Nichtigung von Wertvollem. Warum tut Gott dies? Könnte er nicht solche Wesen schaffen, von denen er weiß, dass sie nicht abirren? Er könnte, und er tut es auch, etwa im christlichen Raum mit Jesus und Maria. Dennoch erschafft er Geschöpfe, von denen er weiß, dass sie von ihm abfallen, manche sogar endgültig abfallen und nicht mehr zu Ihm zurückkehren werden. Warum? Wozu? Notwendig ist es nicht, aber die Vollständigkeit der Schöpfung gebietet es aus metaphysischen und sittlichen Gründen durchaus. Denn in dieser Hinsicht umfasst die Schöpfung alle moralischen Grade vom Gottmenschen hinunter bis zu Satan. Damit nicht genug, spielt das Böse im Drama der Weltgeschichte eine unverzichtbare dramaturgische Rolle. Mit ihm wird der Kampf ernst, unerbittlich und letztgültig, da es um nichts weniger als um Sein oder Nichtsein in geistig-sittlicher Hinsicht geht. Erst mit dem Bösen steht das Prinzip der Subjektivität selbst auf dem Spiel, da Subjektivität als außermoralisch nicht gedacht werden kann und im sittlichen Wesen seine höchste Ausprägung findet. 27 Hier geht es nicht um bloß praktische Freiheit im Sinne von Macht, sondern um die wertorientierte, die gute oder böse Freiheit, also um jene Freiheit, die sich frei und aus innerstem Bedürfen nach den Seinswerten der Selbstbeherrschung, Tapferkeit und Selbstbescheidung, nach Achtung, Güte und Gerechtigkeit, nach Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, nach Ehrhaftigkeit, Mitgefühl und Liebe richtet. Gott will, dass sich die Freiheit des Menschen zum Guten selbst durchringe und den Neigungen zum Bösen, Gemeinen und Schändlichen frei und kraftvoll entsage. Freiheit muss sich, um gottähnlich zu werden, binden. Wie ernst würden die Menschen das Gute nehmen, wenn das mögliche oder tatsächliche Böse sie nicht zur Stellungnahme nötigte? Um das zu erreichen, geht Gott sehr weit und riskiert das Äußerste, den Abfall der Menschheit von Ihm. Warum? Weil nur so für die Menschen die letzte Wahrheit deutlich wird, dass ohne Gott und wider seine Seins- und Lebenswerte das Leben ins Nichts stürzt und alle Freiheit verkümmert. Paradigmatisch mag dafür der Zweite Weltkrieg stehen, der Millionen von Menschen grausam in den Tod gerissen hat. Gerade hier Vgl. I. Kants »Metaphysik der Sitten« (1797) und die »Kritik der praktischen Vernunft« (1788).
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Der metaphysische Sinn des Leidens
erhebt sich immer wieder die Klage, warum Gott das zugelassen habe und sein auserwähltes Volk dem Untergang preisgab? Darauf ist zu sagen, dass er keineswegs den totalen Untergang zuließ, vielmehr zusammen mit den Guten bewirkte, dass die Gegenkräfte den Sieg über das faschistische Regime davontrugen und das Volk der Juden vor der totalen Auslöschung bewahrt blieb.28 Dennoch, die Opferzahlen waren hoch – zu hoch? Wer nach dem Sinn von Auschwitz fragt, darf unter Sinn nicht nur einen Nutzen- bzw. Zwecksinn verstehen, sondern muss sich den Gesamtsinn, sprich den geschichtlichen Gesamtzusammenhang dieser Katastrophe vor Augen führen, und da gilt als Erstes: »Auschwitz« als Realsymbol der Shoah fiel nicht zusammenhanglos vom Himmel, sondern ist das geschichtlich konsequente – nicht notwendige, d. h. jederzeit grundsätzlich abwendbare! – Ergebnis einer lange angebahnten historischen Entwicklung. 29 Auf der einen Seite wuchsen seit Beginn der Neuzeit die technischen Mittel und Waffenarsenale weltweit ins Unermessliche an, während auf der anderen Seite die egoistische, gewaltbereite und gewalttätige Gesinnung mehr und mehr die Oberhand gewann: Nationalismus, Militarismus, Imperialismus, Kolonialismus, Chauvinismus, Antisemitismus und Kapitalismus zusammen mit weltweitem Elend und weltweiter Ausbeutung gingen ein Amalgam ein, das explodieren musste, und es explodierte spätestens seit dem 19. Jahrhundert mehrmals, am Ende mit den zwei Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise. 30 Wäre es nicht geschichtswidrig und künstlich gewesen, wenn Gott Krieg und Holocaust verhindert hätte? Er hätte es tun können, aber dann hätte er die gesamte menschenverachtende Vorgeschichte, die sich über Jahrhunderte – vielleicht sogar seit Beginn der HochHier darf der religiöse Mensch – wie z. B. die große Beterin Edith Stein es tut – darauf vertrauen, dass sein Gebet, das Unheil möge nicht sein ganzes Unmaß ausschöpfen, erhört werde. 29 Zur Sinnhaftigkeit der Geschichte vgl. J. Rüsen (2001, 181–212, 279 ff.). 30 Über die Fülle der Bedingungen für die zwei Weltkriege und besonders für den Nationalsozialismus und überhaupt für das Kontinuierliche und Nichtkontinuierliche in der deutschen Geschichte vgl. die entsprechende Literatur, z. B. C. Graf v. Krockow (1990), G. Vinnai (2004: gute Zusammenfassung der Bedingungen des Ersten Weltkriegs, 11–26), H. W. von der Dunk (2004), G. Knopp (2005), I. Kershaw (2009), V. Ullrich (2013), C. Clark (2015) und sehr differenziert, kritisch und tiefsehend T. Nipperdey (1986: »Nachdenken über die deutsche Geschichte«, besonders »1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte«, 187–205), der vor allem die tragischen Verstrickungen der deutschen Geschichte sieht. 28
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Ursprung und Sinn des Bösen: Hat »Auschwitz« einen Sinn?
kulturen – 31 über Jahrtausende erstreckte, Lügen strafen müssen. In der Konsequenz hätte das bedeutet, dass selbst die schlimmste Menschenverachtung in ihren unvermeidlichen Folgen verhindert würde und als Menschenverachtung unerkannt und folgenlos bliebe. Das aber bedeutet, dass jeder tun und lassen kann, was er will, gleich, wie schlimm es ist, was er tut: Die üblen Folgen werden von einem deus ex machina in wunderbarer Weise weggezaubert. Gott ist aber kein deus ex machina, auch wenn sich das viele wünschen; Gott ist ein Wesen, das nicht von außen kommt, sondern von innen empfangen werden will, nämlich über den Weg der inneren Öffnung und Zuwendung, über Glaube, Vertrauen, Gehorsam, Mut und Liebe zu ihm und zum Leben. 32 Wo das nicht stattfindet, und das fand in der Neuzeit zunehmend nicht mehr statt, da kommt Er nicht, da zwingt er den Menschen nicht von außen, sondern überlässt ihn den Konsequenzen seines Handelns, damit der Mensch aus ihnen lerne. Dass Unschuldige dafür büßen müssen, ist hart, ist jedoch die Folge der Koinonia der Leidenden und der Preis der sich von Gott und von der Humanität abwendenden Freiheit. Ohne Auschwitz hätte die Menschheit diese Lehre nicht begriffen, im Gegenteil gewinnt man eher den Eindruck, dass sie nicht einmal durch Auschwitz auf den rechten Weg kommt, sondern weiterhin dem Zerstörungswerk des Egoismus, der Rücksichtslosigkeit, der Ausbeutung und Gemeinheit frönt. Selbst Genozide blieben seither nicht aus. Muss noch Schlimmeres geschehen als Auschwitz? Selbst die Juden haben nicht daraus gelernt und verletzen mit ihrem hochgerüsteten Staat die Menschenrechte. Wer sonst als sie, die soviel Leid erfuhren, müsste wissen, was es bedeutet, keine Heimat zu haben, Land zu rauben und in ein Lager eingepfercht zu werden? Nein, auch sie bestreiten vielen Menschen das Recht, in Frieden auf eigenem Boden zu leben, auch sie folgen dem Geist der Zwietracht, des Unrechts und der Menschenverachtung. 33 Das betrübt und könnte verzagen lassen. Ist der Mensch durch nichts, durch kein noch so großes Unheil belehrbar? Nicht umsonst lehren die Apokalypsen aller Zeiten und Zonen, dass das Vgl. ähnlich L. Mumford (1963). Siehe J. W. v. Goethe (1969, 357: »Goethes Werke«, Hamburger Ausgabe, Bd. 1): »Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,/Im Kreis das All am Finger laufen ließe!/Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen,/Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,/So dass, was in Ihm lebt und webt und ist,/Nie seine Kraft, nie Seinen Geist vermisst.« 33 Vgl. G. Jasper (1954). 31 32
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Der metaphysische Sinn des Leidens
Schlimmste, wogegen Auschwitz bloß ein kurzer böser Traum ist, noch aussteht. 34 Mögen sie nicht recht behalten. Auf die Frage nach dem Sinn von Auschwitz muss geantwortet werden, dass nicht nur kein Sinn vorliegt, sondern dass Auschwitz in eine unübersehbare Fülle von klimatischen, materiell-ökonomischen, historischen, politischen, soziologischen, psychologischen, geistesgeschichtlichen und metaphysischen Sinnzusammenhängen eingebettet ist, die vielfach sehr destruktiv, und zwar folgerichtig destruktiv sind und entsprechend verstanden, wenn auch nicht gebilligt werden können. 35 Schließlich und endlich weist, und gerade im Falle von Auschwitz, ein jeder Sinnmangel, Unsinn oder Widersinn nicht nur auf eine konstitutionelle Sinnschwäche zurück, sondern auch über sich auf einen volleren Sinn hinaus, da er sich als Un- und Widersinn anders nicht konstituieren und erst recht nicht hinterfragt werden kann. Je größer der Widersinn, desto drängender die Sehnsucht nach einem alle mögliche Sinndestruktion überbietenden Höchst- und Letztsinn, der, wo er Realität wird, alle mögliche Selbstverständlichkeit verliert und auf dem Hintergrund des Grauens umso mehr leuchtet und staunen macht.
7.12. Hiob und Jesus oder der geschichtlich-metaphysische Sinn des Judentums: das alte Zion und das neue Jerusalem In der christlichen Religionsphilosophie wurde Hiob wiederholt als Vorläufer oder Präfiguration von Jesus gedeutet: 36 Beide erleiden ein ungerecht-schmachvolles Schicksal, beide bleiben ihrem Gott durch Der schon seit Langem absehbare, eher früher als später, eher schneller als langsamer eintretende Klimakollaps wird den »düsteren Abgrund« der menschlichen Natur zum Vorschein bringen und zu regelrechten Klimakriegen führen, in denen die mächtigeren Nationen die schwächeren erpressen und – etwa mittels Geoengineering – ihren wenig weitsichtigen Vorteil erzwingen werden. 35 Vgl. Z. Baumann (1992, 15. ff.). Vgl. auch die Zusammenstellung der Erklärungsversuche für »Auschwitz« durch G. Heinsohn (1995: »Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt«), wobei mir Heinsohns Erklärungsversuch, wonach A. Hitler mit der Shoah die jüdische Ethik von der Unantastbarkeit des Lebens ausrotten wollte, nicht ausreicht. Weit differenzierter erscheint die Analyse von G. Vinnai, der auch die unbewussten Tiefen und tragischen Verstrickungen A. Hitlers und der Deutschen auslotet. 36 Vgl. K. Hälbig (2011, 227), in dessen Ausdeutung Hiob bzw. sein Leidensweg zahlensymbolisch als Vier (Welt, Erde, Zeit, Raum) erscheint, die erst in der Quint-Es34
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Hiob und Jesus oder der geschichtlich-metaphysische Sinn des Judentums
alle Not und allen Zweifel hindurch treu, und beide werden am Ende ihrer Leiden erlöst. Der radikale Unterschied besteht darin, dass Hiob sich nur als Mensch verstand, der nicht einmal den Status eines Propheten, geschweige eines jüdischen Messias besaß. Jesus dagegen agiert aus einer einzigartigen Gottverbindung heraus, die nach christlichem Verständnis darin besteht, Gottes Sohn und Gott selbst zu sein. Damit erhält sein Daseinsauftrag eine ganz andere Dimension als im Falle Hiobs. Dessen Schicksal bleibt nur ein einzelnes Ereignis, das bestenfalls symbolisch-exemplarischen Charakter für die Menschen überhaupt hat, während Jesus real für die verlorenen Sünder und die gesamte Menschheit eintritt und sie vor dem hoffnungslosen Absturz in das Nichts rettet: »Christi Menschenwesen ist in den Mitvollzug dieser (göttlichen) Existenz aufgenommen, denn der ganze Christus spricht dieses »Ich bin«. Damit ist die Schöpfung der Macht des Nichts entrissen, aus der Preisgegebenheit in die ewige Hut des Gottesdaseins gehoben.« 37
Hiobs Leiden hat keinen Stellvertretungscharakter, wenigstens nicht explizit, das Leiden Jesu dagegen verlangt diesen mit Nachdruck. Letztlich hebt Hiob die Trennung von Gott nicht auf, selbst am Ende seines Leidens nicht, während Jesus in der Auferstehung mit Gott eins wird und dadurch die menschliche Existenz als eine, die radikal der Not, dem Leiden und dem Tod anheimgegeben ist, im dreifachen Sinne G. W. F. Hegels aufhebt. Vor allem bringt Jesus ein neues Gottesbild zu den Menschen: Während der Jahwe in der Hiobdichtung – nicht im gesamten Alten Testament! – ein Gott der Allmacht und des Zorns ist, dessen Weisheit und Liebe immer wieder von Zorn, Kränkung und Rache durchkreuzt wird, ist der Abba Jesu ein zwar allmächtiger, aber zugleich allliebender, allerbarmender und allweiser Gott, weniger ein strenger Vater, eher ein inniger Freund. Dieser Wandel im Gottesbild (nicht in Gott!) hat sich in der jüdischen Weisheitsliteratur, die zwischen Hiob und Jesus entstanden war, vorbereitet, und zweifellos greift Jesus auf sie zurück. Doch geht er weiter und zeigt das ganz intime, gefühlvolle senz (Fünf) als der Mitte des Lebens (paradiesischer Lebensbaum, Gottnähe, Gott selbst, Überzeit) vollendet wird. Dies wiederum wiederhole sich, nun aber real, im Leidens- und Kreuzweg Christi, dessen Herzwunde als Quelle des Lebens und Tor zum Leben Gottes die Gespaltenheit und Gebrochenheit des Menschen überwinde. Hier wird nun das »Kreuz« zum alles Unheil und Leid überwindenden Lebensbaum. 37 Siehe R. Guardini (1939, 112).
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Der metaphysische Sinn des Leidens
Bild einer Gottesbeziehung, die weder vor noch nach Jesus jemals im Judentum erreicht wurde. All das ändert religionsphilosophisch nichts an der einzigartigen Stellung des Judentums im Werden der Religionen und der Religiosität überhaupt auf dieser Erde. Denn nur über die Juden kam – wenn man vom kurzen und kulturell nicht durchdringenden Monotheismus des Pharao Echnaton absieht – der Mono Theos, der sich in absolut freier Souveränität Materie und Geschöpf gegenübersetzt, explizit in die Welt. Nur über dieses kleine, oft und oft verfolgte, aber auch selbst »irregehende« Volk, das eingekeilt war zwischen den Großmächten der Antike, wurde die Geschichtlichkeit des Seins überhaupt und des Mensch-Gottgeschickes im Besonderen als Grundprinzip erkannt. 38 Und nur dieses Volk fand zur Idee des Messias, der ein leidender und verschmähter Knecht Gottes ist und gerade so die Verlorenheit der Menschheit aufwiegt – eine Idee, die selbst im Judentum nicht allgemein zum Tragen, sondern erst im Christentum zur vollen Entfaltung kam. 39 Diese Einschränkung hat ihren tieferen Grund darin, dass das Judentum stets – über die geforderte mütterliche Abstammung, die Beschneidung der Männer und die Erwartung der Wiederkunft des Messias in Jerusalem – an das jüdische Volk und das jüdische Land gebunden blieb und kultursoziologisch keinen uniVgl. W. Eichrodt (1968, Teil 1, 4). Ähnliches arbeitet z. B. N. Berdjajew (1949, 35 ff.) heraus und betont – wie W. Benjamin und E. Bloch u. a. –, dass durch die Geschichtlichkeit von Gottes Wirken in der Menschenwelt die Zukunft im Volke Israel zur dominanten Zeitkategorie wurde, mit der Folge, dass das »Reich Gottes« (und damit die Seligkeit) durchaus irdisch gedacht wurde, was als Keim der Säkularisierung in der Religion selbst und seiner Entfaltung bei jüdischen Atheisten wie K. Marx, S. Freud, E. Bloch, W. Benjamin u. a. angesehen werden kann. Andererseits meint N. Berdjajew, dass das jüdische Denken durch seine eschatologische Tendenz in Gefahr geriet, die Zukunft zu verabsolutieren, und sich dadurch in einen Selbstwiderspruch verstrickt. Dieser bestehe darin, dass der Messias zwar kommen wird und kommen muss, aber nicht kommen darf, weil jeder in der Gegenwart erscheinende Messias seinen Zukunftsstatus verliere und damit allzumenschlich werde, ganz im Sinne des biblischen Satzes, dass der Prophet im eigenen Lande nichts gilt. Vgl. zur »Geschichtlichkeit Gottes« B. v. Brandenstein (1984, 188–195). 39 W. Eichrodt (1968, IX) spricht vom »Charakter des Unfertigen« der alttestamentarischen Religion mit einem »mächtigen vorwärtstreibenden Zug«, der sich »nach einer höheren Lebensgestalt ausstreckt« und sich daher gegen alle starre Systematisierung wehrt. Das gewaltige jüdische Erbe von Dynamik, Dramatik und unerschöpflicher Kreativität, das den abendländischen Geist befruchtete, wurzelt in dieser ahasverischen »Unfertigkeit«, die nichts weniger ist als der Ausdruck des pU-Wesens des Menschen (und der gesamten Schöpfung überhaupt). 38
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Hiob und Jesus oder der geschichtlich-metaphysische Sinn des Judentums
versalen, weltumspannenden Charakter annahm, also zwar eine Hochreligion, aber keine Weltreligion darstellt. Der Gott der Christen dagegen war – gegen die von Petrus anfänglich unterstützten Judenchristen! – immer ein All-Gott, ein universaler Gott für alle und jeden, wodurch das Christentum notwendig zur Weltreligion wurde. 40 Das bedeutet wiederum nicht, dass mit dem Aufkommen des Christentums die geschichtliche Mission der Juden beendet worden wäre, ganz im Gegenteil. In Wahrheit gerieten sie wie nie zuvor – auch durch das Christentum selbst! – immer tiefer in die Rolle des verfolgten Gottesknechtes und mussten bitterstes Unrecht bis zur versuchten totalen Auslöschung erleiden. Hier eröffnet sich nach M. Susman (1872–1966) die große Sendung des Judentums, die darin besteht, ein Platzhalter für die Wahrheit zu sein, dass es in dieser Welt keine letztgültige Heimat gibt und geben kann, dass die Menschen, grundsätzlich der Lebensgefahr ausgesetzt, stets unterwegs sind und am Ende nicht verhindern können, individual wie kollektiv vernichtet zu werden, sei es durch sich selbst, sei es durch die Natur. 41 Das jüdische Volk wird dadurch zur Nation, die, wie N. Berdjajew sagt, das Thema des welthistorischen Menschheitsgeschickes als erste anschlug, ein Geschick, das hiesig nur tragisch enden kann und überhistorisch gelöst werden muss. 42 Auf diesem Hintergrund kann es J. Assmann (2003, 164) sieht die Differenz zwischen jüdischem und christlichem Monotheismus darin, dass sich das Judentum vom Heidentum durch »Selbstausgrenzung« definiere, während das Christentum »sich die Aufhebung der Selbstausgrenzung zum Programm gemacht und sich den Völkern geöffnet« habe. Ähnlich spricht P. Sloterdijk (2007) von einem »souveränistischen Separatismus mit defensiven Zügen«. So besitzt das Judentum zwar die Potenz zu einem von allzumenschlichen Projektionen gereinigten universalen Gottesbild, doch konnte es diese Potenz nie ganz aktualisieren. Erst mit dem von Jesus eingeführten, wohl in der Religionsgeschichte einzigartigen Gebot der Feindesliebe wurde die wahre Universalität erreicht. Vgl. A. Toynbee/J. Cogley (1968, 17–20), die die jüdische Religion als Stammesreligion mit universalen Ideen einstufen. 41 Siehe N. Sachs (1959, 13): »An Stelle von Heimat/halte ich die Verwandlungen der Welt –.« 42 Siehe N. Berdjajew (1949, 171 ff.): »Das Thema vom welthistorischen Geschicke des Menschen ist das Thema von der Befreiung des schöpferischen menschlichen Geistes aus dem Schoße der Naturnotwendigkeit, aus dieser natürlichen Abhängigkeit und Knechtschaft unter den niederen Elementarprinzipien« – damit auch die Befreiung von Furcht und Angst, von Schwäche und Bosheit und damit wiederum die Befreiung zur gottgemäßen Souveränität des Geistes. N. Berdjajew geht so weit zu behaupten, dass ohne die Möglichkeit der Freiheit zum Bösen, die erst durch die reale Gottferne und die Versunkenheit in die Natur realisiert wurde, keine Welt40
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Der metaphysische Sinn des Leidens
nicht verwundern, dass die Staatsbildung Israels auch unter Juden höchst umstritten war. Denn die Frage drängte sich auf, ob das jüdische Volk seiner metaphysischen Mission, die noch vom Reformjudentum in seinem »Philadelphia-Programm« 1869 in Grundsatz 2 und 5 hervorgehoben wird, gerecht werden kann, wenn es einen Staat gründet oder ob es, gewiss aus einer Lage der Bedrängnis heraus, seine Freiheit zugunsten des Götzen der Macht aufgibt. 43 H. Arendt tendiert mit einem gewissen Bedauern in ihrem berühmten Gespräch 1964 mit G. Gaus zu dieser Ansicht, die von S. Ben-Chorin (1988, 173) sogar noch zugespitzt wird, wenn er sagt, dass das Volk Israel über seine Staatsgründung »den Auftrag, das Licht der Völker zu sein, oft ganz vergessen« habe. 44 Warum aber ließ Gott die Shoah und Auschwitz zu? Etwa, wie es manchmal – so auch bei E. Stein 45 – heißt, um die Juden für ihre Abtrünnigkeit von ihrem Glauben zu strafen? Gegen diese uralte Erklärung muss mit Entschiedenheit zweierlei eingewandt werden: Selbst wenn die Juden ihrem Gott untreu geworden wären – und viele westeuropäisch-assimilierte Juden haben zweifellos ihren Väterglauben aufgegeben und sind den westlichen Macht-, Nutz- und Vergnügungswerten gefolgt –, so wäre doch eine Bestrafung in der Weise, wie es der Holocaust vornahm, völlig unverhältnismäßig und widersinnig gewesen. 46 Denn wie sollte jemand durch Folter und Mord zu Besinnung und Umkehr gebracht werden? Zweitens muss hervorgehoben werden, dass der weitaus größere Teil der ermordeten Juden aus Osteuropa kam, wo unter den so genannten »Ostjuden« geschichte möglich gewesen wäre. Denn die Weltgeschichte ist nach N. Berdjajew der Kampf um die Befreiung aus der Natur und die Rückkehr zu Gott. Diese Denkfigur lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. 43 Der jüdische Pianist und Dirigent D. Barenboim, Versöhner zwischen Palästinensern und Juden, sagt am 26. 7. 2018, 35 in »DIE ZEIT« als Reaktion auf das ausgrenzende neue »Nationalitätengesetz«: »Ich schäme mich heute, ein Israeli zu sein.« 44 Im Übrigen wird hier eine frappante Ähnlichkeit zwischen der jüdischen und der deutschen Staatswerdung sichtbar: Beide Völker verloren mit der Erringung ihrer staatlichen Macht ihre geistige und religiöse Hochkultur und gerieten in eine fatale Selbstverhärtung, der es nur noch um Machterhalt oder gar Machterweiterung ging. 45 Vgl. H. Graef (1963, 129/152/248). Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. 10. 2017, Nr. 42, 41 berichtet die Jüdin Deborah Feldmann, dass sie mit der Auffassung erzogen wurde, der Holocaust sei die berechtigte Strafe für die nicht gläubig genug lebenden bzw. assimilierten Juden gewesen, eine Strafe, zu deren Ausführung Gott die Deutschen zum Werkzeug genommen habe. Diese Auffassung ist kein Einzelfall. 46 Das betont auch G. Mann (1960, 17) unzweideutig.
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Hiob und Jesus oder der geschichtlich-metaphysische Sinn des Judentums
der Chassidismus blühte, eine mystisch vertiefte Form der jüdischen Religiosität. Nicht die Mehrzahl der ungläubigen, sondern die Mehrzahl der gläubigen Juden, die schließlich sogar den aussichtslosen Aufstand gegen die Nazis wagten, hat es getroffen! 47 Damit fällt jene dem Wesen Gottes strikt widerstreitende Erklärung in sich zusammen: Weder strafte Gott überhaupt, noch strafte er im Besonderen einige abtrünnige Juden. Warum aber dann diese Ungeheuerlichkeit? 48 Betrachtet man die Geschichte des Antisemitismus und z. B. die Invektiven M. Luthers gegen die Juden, muss man feststellen, dass der Holocaust auf der Linie der bis zur babylonischen Gefangenschaft und bis zur ägyptischen Versklavung zurückgehenden Judenverfolgung liegt. Offenbar ließ Gott es zu, dass ein Volk, das sich von den anderen Völkern entschieden durch seinen monotheistischen Glauben absetzte, durch fast seine gesamte Geschichte hindurch verfolgt werde, ein Volk, das allein durch seine Existenz und sein Bild vom Dasein die Mächtigen dieser Welt reizte. Verstärkt wurden die Juden ab dem 19. Jahrhundert zum Stein des Anstoßes, da – neben vielen anderen Gründen 49 – ihre »pure Existenz« (selbst ein Mythos!) die Verherrlichung der Nation und des Staates infrage stellte. So eigneten sie sich als Projektionsfläche aller nur erdenklichen Hass-, Neid-, Angst- und Insuffizienzgefühle – sie wurden zum allgemeinen Sündenbock für die unerträglichen eigenen Befindlichkeiten der mächtigeren Völker, die die fundamentale Ohnmacht des Menschseins in ihrem Selbstbild nicht ertrugen. Um das eigene Schuldigund Schwachsein nicht empfinden zu müssen, wurde es auf die Juden übertragen, um es dort auszulöschen. 50 Wie absurd und realitätsfremd diese Projektion war, erhellt der Umstand, dass die meisten deutschen Juden entschieden national, bürgerlich und konservativ dachten, also mit dem Deutschtum voll identifiziert und bereit waren, für ihre Nation im Krieg Dienst zu tun. Hinzukamen der Anspruch der traditionellen Juden, das auserwählte Volk zu sein, was im Zuge einer nationalistischen Zeit zwangsläufig zu Ärger, Neid und Hass führt, und weiter der Vorwurf Vgl. S. Friedländer (2017). Siehe Paulus, »Römerbrief« 11, 32: »Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen.« 49 Vgl. G. Manns (1960) kluge und differenzierte Studie. 50 Die psychoanalytische Lehre nennt diesen psychischen Abwehrmechanismus »projektive Identifikation«. 47 48
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Der metaphysische Sinn des Leidens
der Christen, die Juden hätten ihren Gottmenschen, ihren Messias Jesus, ermordet und hätten seitdem in verstockter Weise die Gottund Messiasnatur des Jesus von Nazareth abgelehnt. Zwar hat ein Teil der Juden unter Pontius Pilatus die Kreuzigung Jesu betrieben bzw. billigend in Kauf genommen, und ebenso verweigern die traditionellen Juden bis heute, Jesus die Messiaswürde zuzuerkennen, und leider haben diese beiden Tatsachen an der Verfolgung der Juden ihren Anteil, aber daraus abzuleiten, Gott strafe mit dieser Verfolgung die Juden, ist eine ungerechtfertigte Übertragung menschlicher Motive auf göttliches Handeln. Der Mensch kann die Motive Gottes nur schwer und unsicher kennen, sicher ist jedoch, dass das Schicksal des jüdischen Volkes Entscheidendes über die Natur des Menschen offenbart, über seine abgrundtiefe Gefährdetheit und Gefährlichkeit, über seine Unduldsamkeit und Grausamkeit, also letztlich über seine unendliche Gottferne, die nichts anderes ist als Ferne von Mitgefühl, Erbarmen und Liebe. Das geschichtliche Dasein der Juden beweist, dass diese Welt Gott nicht angenommen hat, wie es im Johannes-Prolog heißt, dass diese Welt »finster« und zu allem Ungeheuerlichen fähig ist, dass sie ein Abgrund ist an Möglichkeiten, leider auch an entsetzlichen Möglichkeiten – und genau das soll, wie Jesus immer wieder sagt, offenbar werden. Und so verstehe ich die Aufgabe der Juden vor ihrer Staatsgründung: offenbar zu machen, wie das Grundverhältnis von Gott und Mensch beschaffen ist. Und wie ist es beschaffen? Verheerend entfremdet, darum ohne alles das, was Gott im Wesen ausmacht: Güte, Liebe, Mitgefühl, Geduld, Treue und Rücksicht. Folgerichtig herrschen in der Welt die Gegenwerte: Hartherzigkeit, Rücksichtslosigkeit, Macht- und Besitzgier, Vergnügungssucht auf Kosten anderer, Unbesonnenheit und Gemeinheit. Sicher nicht allein, sonst wäre menschliches Leben schon erloschen, aber doch sehr mächtig. Die jüdische Geschichte ist eine Geschichte der Gott-Mensch-Entfremdung – nicht der Juden oder nicht nur, sondern der ganzen Menschheit. Darum wird das »Judenproblem« so lange ungelöst bleiben, solange das Gott-Mensch-Verhältnis nicht im Lot ist – und das wird bis zum Ende der Geschichte andauern, wo durch eine Tat Gottes das alte vom neuen Jerusalem abgelöst wird. Paulus 51 jedenfalls sieht es so und hält Siehe Paulus, »Römerbrief« 9, 1 – 11, 36 (Die endgültige Rettung Israels) bzw. 11, 25: »Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben.«
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Der Höchstsinn des Leidens
die Lösung des Judenproblems erst mit der Wiederkunft Christi für möglich: Die »gute Endlösung der Juden« fällt mit dem Ende der Geschichte und ihrer frei angenommenen Transformation in das »Reich Gottes« zusammen.
7.13. Der Höchstsinn des Leidens: das freiwillige Opfer und die Unmöglichkeit eines Gottesopfers Da das Leiden in sich einen Mangel an Sein, Sinn und Wert birgt und deswegen dynamisch über sich hinaus auf ein Mehr an Sein, Sinn und Wert strebt, eignet ihm ein Strukturzusammenhang, der sich dem Wesen des Opfers annähert. In einem früheren Kapitel (6.24) wurde gezeigt, dass das Opfer jenes Leid ist, bei dem freiwillig, aber in der Not des Herzens ein geringeres Sein für ein höheres Sein hingegeben und zerstört wird. Solange ein Leid nur zwanghaft erlitten wird, kann es kein Opfer sein. Sobald der Betroffene es jedoch um eines höheren Gutes willen bejaht, wandelt sich dasselbe und wird zum Opferleid. Insofern kann jedes Leid zum Opferleid transformiert werden, auch ein vergebliches oder gescheitertes Leben, und es kann dies, weil der Mensch, solange er seiner selbst mächtig ist, die Möglichkeit zu dieser Transformation besitzt, die stets eine Selbsttransformation und Selbststeigerung des Opfernden einschließt. Das bedeutet, dass es in der Hand des Menschen liegt, ein lebensfeindliches und wertwidriges Leid dadurch zu adeln und zu erhöhen, dass er bewusst ein unvermeidliches Leid um eines höheren oder wenigstens gleichwertigen Seins willen auf sich nimmt. So und nur so kann das Leid, diese Verletzung des Lebens, schöpferisch, konstruktiv und lebensstiftend wirken. Ein solcher Fall liegt vor, wenn ein Arzt seinen wohlverdienten Urlaub opfert, um Menschen in der dritten Welt zur Verfügung zu stehen, oder wenn ein Mensch ein Organ opfert, damit ein anderer Mensch weiterleben kann. Wohl wird in beiden Fällen reales und wertvolles Sein zerstört, aber um eines größeren Seins willen, das anders nicht erhalten oder erreicht werden kann. Somit besteht immer die Möglichkeit, dem Leiden seinen lebensfeindlichen Stachel zu ziehen und es durch freie Annahme und Hingabe für Größeres zu überwinden. Der letzte und höchste Sinn des Leidens, der völlig in unserer Hand liegt, steht darum im Dienst des Lebens und der größeren Fülle des Seins, nicht in seiner bloß tapferen Duldung oder resignativen Bejahung, wie es der Stoizismus, 715 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Der metaphysische Sinn des Leidens
der Existenzialismus oder der Quietismus A. Schopenhauers 52 lehren. Jenen Zusammenhang haben viele großen Geister und Philosophen gesehen, weil sie erkannten, dass anders Leben nicht möglich ist. Denn alles Wachsen und Weitergehen ist mit Loslassen und nicht selten mit einer Zerstörung von Wertvollem verbunden, schon im Alltag erleben die Menschen dieses »Stirb und werde« ohne Unterlass. Immer wieder müssen sie etwas hingeben, um etwas anderes zu realisieren, sei es Zeit, Kraft, Gut oder Geld, sei es Gesundheit und Wohlergehen, ja Sympathie und Freundschaft. Paradigmatisch möge dafür die Erziehung von Kindern genannt werden, deren physisches, psychisches und geistig-soziales Wachstum ohne Erbringung großer Opfer von Seiten der Eltern und der Gesellschaft unmöglich ist. Leben und vor allem höheres Leben ist ohne Opfer demnach unmöglich. Insofern dem Opfer ein Leidmoment eignet, ist Leiden darum ein integraler Bestandteil höheren Lebens. Gilt dies auch von Gott? Nein. Denn da es Höheres als ihn nicht gibt, kann er kein echtes Opfer erbringen. Entsprechend kann Gott, wie gesehen, nicht Mangel leiden und demgemäß überhaupt nicht leiden, auch nicht im echten Sinne mitleiden. Aber leidet er nicht, wie das Christentum lehrt, in seinem Gottmenschen Jesus, in dem Menschen, mit dem er sich einzigartig vereint? »In ihm – nur in ihm; in ihm aber auch wirklich – darf man sagen, Gott habe Schicksal erfahren, habe gelitten und sei gestorben; und ebenso, Jesu Menschlichkeit sei heilig und ewig, stehe in der Herrlichkeit des Vaters […]« 53
Hier handelt es sich zweifellos um einen Grenzfall – nur, so ist zu fragen, hat Gott in diesem Fall wirklich als er selbst gelitten und ist als er selbst gestorben? 54 Oder sollte man nicht genauer sagen, Gott war zwar mit Jesus vereint, aber nicht (total) zum Menschen geworden, sondern sei mit Jesus durch Leid und Tod hindurchgegangen, habe Leid und Tod mitgetragen, mitgefühlt und mitüberwunden, ohne selbst zu leiden und zu sterben? An früherer Stelle (Kap. 6.8.) hatte ich den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl eingeführt, der darin besteht, dass Mitleid tatsächlich den Mangel des Leids erleidet, das Mitgefühl nicht. Und so ist es: Gott fühlt erbarmend mit, doch er leidet dabei weder einen Mangel noch einen Schaden. Und so Vgl. H. J. Adriaanse (1995, 61–67). Siehe R. Guardini (1939, 112). 54 Was bedeutete, dass Gott, wie F. Nietzsche behauptete, tot ist, vernichtet, untergegangen, verschwunden, was schon seine Zeitlosigkeit verwehrt. 52 53
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Der Höchstsinn des Leidens
würde ich auch im Falle Jesu sagen, Gott habe hier (als »Gottsohn«, Logos) nicht selbst, jedenfalls nicht real mitgelitten und sei mitgestorben, sondern habe in Jesus dessen Leiden und Tod mitgetragen, mitgefühlt und mitüberwunden. Da er dies mit seiner göttlichen Fülle tat, hat er Leid und Tod immer schon überstiegen und aufgehoben, auch im Menschen Jesus, mit dem er eins war und nach christlicher Auffassung immer schon, d. h. vom Punkt seiner Erschaffung an, eins ist. Nur in sehr menschlicher Weise kann man daher sagen, Gott habe gelitten und sei gestorben, recht betrachtet, ist das nicht haltbar, da Gott auch in Jesus Gott blieb und nicht bloßer Mensch wurde, andernfalls wäre Jesus Christus nicht göttlicher Natur und hätte nicht auferstehen können! Wie dem auch sei, in Jesus hat der Mensch gelitten und dies vor allem am Kreuz, wo er von Gott in einer Radikalität und Tiefe verlassen wurde, die kein anderer Mensch erfahren kann. 55 Im Unterschied zu allen anderen Menschen hat er jedoch nicht nur gelitten, sondern von Anfang an dieses Leid als freiwilliges Opfer auf sich genommen und für den höheren Wert der Erlösung der Menschheit vor Gott hingetragen. Gott hat in Jesus nicht gelitten und ist in ihm nicht gestorben, sondern Gott hat in Jesus prinzipiell alles mögliche Leid für alle Zeiten mitgetragen, überboten, erlöst und überwunden. Gleich was die Menschheit an Üblem anrichtet und noch anrichten wird, die Schöpfung ist mit Jesus gerettet und geheiligt – hier gibt es für alle, die zustimmen, keinen Weg zurück. Obgleich sich Gott selbst nicht opfern kann, weil er sich für ein höheres Gut, als er selbst ist, nicht hingeben kann – ist er nicht wenigstens in der Lage, so fragt sich, ein weltliches Gut einem anderen, höheren weltlichen Gut aufzuopfern, z. B. den Menschen Jesus für die gesamte Menschheit? Ja und nein. Ja, weil Gott in der Tat den Menschen Jesus dem Leiden und dem Tod überantwortet, um damit die Menschheit als ganze zu erlösen. Nein, weil er nur das irdische Leben, Glück und Wohlergehen des Menschen Jesus hingibt, nicht Jesus ganz und gar, nicht in seiner metaphysischen Existenz, nicht in seiner endgültigen Glückseligkeit. Im Gegenteil lässt Gott den leiblichen Menschen Jesus im Irdischen wiederauferstehen und gibt ihn so auch in seiner irdischen Leiblichkeit nicht auf, sondern bewahrt und erneuert ihn. Damit wird das Opfer in gewisser Weise rückgängig gemacht. Bei einem echten und vollen Opfer ist das nicht der Fall, da wird ein 55
Das sieht auch E. Stein so. Vgl. H. Graef (1963, 282 ff.).
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Der metaphysische Sinn des Leidens
Gut für ein anderes, höheres Gut endgültig zerstört. Das jedoch bedeutet nichts weniger, als dass Gott letztlich überhaupt nichts zerstört, auch nicht opfert, sondern selbst das, was er oder jemand in seinem Namen opfert, wiederherstellt, wiedergutmacht, wieder dem Leben zuführt. Wie auch anders? Ist er doch als Gott Leben pur, Urleben, Leben in Totalität, aus dem nichts endgültig herausfallen kann, nichts außer demjenigen, der dies endgültig will. Das aber ist kein Opfer, sondern das ist radikale Gott- und Lebensverneinung.
7.14. »Eritis sicut Deus« 56: das letzte Bild des Menschen und eine kurze Metaphysik der Geschichte »Wer zu Gott will, muss Gott werden.« (Angelus Silesius)
Da es die religionsphilosophische und durch die metaphysische Analyse nahegelegte Auffassung dieser Arbeit ist, dass der große dramatische Leidens-, Läuterungs- und Kulturprozess der Menschheit, dessen Zeuge, Mitbetroffene und Mitschöpfer die Menschen sind, nur deshalb anheben konnte, weil die ersten Menschen als »überirdische Geistwesen« aus der Nähe und Verbundenheit mit Gott herausgefallen waren und entsprechend, wie N. Berdjajew 57 hervorhebt, der irdischen Geschichte eine »himmlische« vorausging, stellt sich die Frage: Warum fielen sie aus dieser Nähe der reinen Glückseligkeit überhaupt heraus? Die Urkunde des Alten Testamentes sagt: aus Ungehorsam. Aber warum wurden sie ungehorsam? Weil sie sich verführen ließen. Wovon? Die Schrift sagt, vom Versucher, der »Schlange«, die den Menschen nichts weniger anbot als »zu werden wie Gott«: Eritis sicut deus. Hier stellen sich zwei Fragen: Wofür steht die »Schlange«? Und: Wie kann man Gott werden? Die erste Frage ist verschieden beantwortet worden und muss an diesem Punkt offen gelassen werden. Prinzipiell kann man in der »Schlange« ein objektives metaphysisches Wesen, »Satan« z. B., sehen oder den symbolisierten Hang zu Unbesonnenheit, Selbstsucht, Naivität, Torheit und Neugier in einem jeden Menschen. Dieser Hang wiederum wäre entweder als Prä56 57
Siehe Altes Testament, Genesis 3, 1–24: »Ihr werdet sein wie Gott.« Vgl. N. Berdjajew (1950).
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»Eritis sicut Deus«
disposition des individuellen Geistes – was nicht mit Prädetermination verwechselt werden darf – zu verstehen, d. h. als etwas, das noch nicht bzw. nur potentiell wertwidrig ist, oder als Struktur der »bösen« bzw. inhumanen gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu bösen Handlungen drängen, verführen und nötigen. Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes kann darüber hinaus auch Gott »versuchen«, d. h. den Hang zum Bösen reizen, was in der Regel als Prüfung der Treue gedeutet wird. Wie aber wird der Mensch Gott gleich? Wenn er einzig und allein auf sich selbst stehen will, in absoluter Autonomie, sowohl der Kraft als auch dem sittlichen Urteil nach; und wenn er niemanden und nichts, an dem er sein Leben ausrichten müsste, über sich anerkennt, sondern alles Maß sich selbst zu geben bzw. selbst das Maß aller Dinge zu sein, beansprucht. Ist das jedoch möglich? Nein, denn es ist Gott, der sowohl Sein und Leben als auch Maß des Rechtseins, Maß von gut und böse und Maß der Vollendung gibt. Nach der hier entwickelten Religionsphilosophie maßten sich die Urmenschen vor ihrem In-der-Welt-Sein an, in ausschließlich selbstbezogener Autonomie auf sich zu stehen und damit ohne Bezug auf Gott rein aus sich »erkennen«, d. h. »gut« sein, zu wollen. Im Bilde: Sie erhoben den Anspruch, vom Baume der »Erkenntnis« zu essen, ohne sich – sich selbst damit relativierend – auf Gott als letzte ontologische und ethische Instanz zu beziehen, und dennoch unsterblich bleiben zu wollen, d. h. sich weiter vom »Baum des Lebens« – von Gottes Zuwendung, Nähe und Anschauung – zu nähren. 58 Vor der Unmöglichkeit dieses Begehrens hatte sie Gott gewarnt: Wer vom Baum der »Erkenntnis« isst, also Gottes Weisung und Weisheit missachtet, der muss sterben, man könnte auch sagen, der kann vom Baum des Lebens nicht mehr essen, der kann Gottes Sein nicht mehr unmittelbar schmecken. Und so geschah es: Die Menschen aßen und gerieten unter die Macht des Todes, womit sie das – in Wahrheit nur zum Teil – erreichten, was sie erstrebt hatten: ohne Gott zu sein und allein auf dem Boden ihrer Freiheit das Leben zu beurteilen und zu führen. Daraufhin zog sich Gott von ihnen zurück und »vertrieb« sie aus dem »Garten Eden«, sprich aus seiner Nähe und direkten VerVgl. F. Weinreb (2002: »Die Erzählung von den zwei Bäumen«); ebenso K. Hälbig (2011, 67–106).
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Der metaphysische Sinn des Leidens
bundenheit in die Welt von Arbeit und Mühsal, Schmerz und Leid, Not und Tod, wo sie sein durften »wie Gott« – um den Preis der überforderten Freiheit und um den Preis des Todes. Diese Erzählung wurde in dieser Arbeit um den Gedanken erweitert, dass die Menschen – noch bei Gott lebend – in ihr Weltwirken und Werk, das vormenschliche Primatenwesen, so vernarrt waren, dass sie sich mit ihm innigst zu vereinigen wünschten, um so miteinander als Mann und Frau ein Fleisch und ein Blut zu werden. Auch diese »große Liebesaffäre« des In-der-Welt-Seins, die größte der Seinsgeschichte, wurde ihnen gewährt: Sie wurden leibhaftig Mensch, in Wahrheit jetzt erst Mensch, nicht mehr reiner Geist bzw. Geist mit einem geistlichen Leib, sondern die verschmolzene Einheit zweier Seinsränge, was Sterblichkeit, Leidensfähigkeit, Krankheit, Verletzung, Hunger, Kälte, Altern, Kampf, Not, Schuld und Tod, aber auch Fortpflanzung, Erotik, Vergemeinschaftung und Kulturation nach sich zog. Diese Verleiblichung ist es, die eine neue kosmische Dimension eröffnet: Ein Ding im dritten Seinsrang, der Leib, wird mit einem Wesen im zweiten Seinsrang, mit der personalen Geistseele, gleichsam verschweißt, amalgamiert. Ein Leib ein individualer Geist, nicht mehr nur der Leib als Ausdruck einer Gattungsseele wie beim Tier, sondern eine durch Raum und Zeit individualisierte, umgrenzte und getrennte Seele, wie sie bis dahin nicht möglich war. Somit wurde das Fundament für Hominisation und Kulturation gelegt: Schon um zu überleben, musste der Mensch beginnen, die Natur zu »zähmen« – allem voran seine eigene triebhaft-leibliche Natur – und für seine Zwecke umzubauen. Darüber hinaus errichtet er auf den Naturgrundlagen eine neue Welt, die sich mit der Zeit immer mehr an übernatürlich-zeitlosen Maßstäben orientiert und so das göttliche Leben im Rahmen der vergänglichen Welt zu manifestieren sucht. Denn überall, wo Gerechtigkeit, Achtung, Rücksicht, Güte, Mitgefühl, Nachsicht, Vergebung, Wahrhaftigkeit, Weisheit und Liebe zur Geltung kommen, beginnt das irdisch-materielle Sein von innen heraus zu leuchten und durchgöttlicht zu werden. Gelingt dies, erhebt sich der Mensch zum »kleinen Gott der Welt«, der zu sein er als »Ebenbild der Gottheit« berufen ist. Andererseits lehrt die Erfahrung, dass der Mensch immer wieder scheitert und den widergöttlichen Versuchungen – Egoismus, Ignoranz, Rücksichtslosigkeit, Lüge, Betrug, Gemeinheit – verfällt bzw. umgekehrt: Nur dort, wo es ihm gelingt, wieder auf die göttlichen, »ins Herz geschriebenen« 720 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
»Eritis sicut Deus«
Weisungen zu hören, da erst wird der Mensch wieder gottebenbildlich und vermag die irdische Welt zu durchgöttlichen. Handelt er dagegen wie seine Ureltern und meint, ohne Gott und an Gott vorbei reüssieren zu können, erhält all sein Tun und Werk dämonisch-satanischen Charakter und zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Auf diesem Hintergrund beginnt das »sicut eritis deus« zu schillern und offenbart eine dreifache Sinndynamik. Am Anfang der metaphysischen Menschheitsgeschichte steht es für die Selbstüberhebung des Menschen, die zur Trennung von Gott und zur irdischen Individualisierung des Menschen in Raum und Zeit führt. Darauf folgt die historisch-irdische Menschheitsgeschichte, die sich so vollzieht, als gäbe es Gott nicht und als müsste der Mensch, ganz auf sich gestellt, das Leben meistern und sich aus der Natur zum Selbstbewusstsein, zur Naturbeherrschung und dann zum Dienst am Leben herausarbeiten. 59 Da diese selbstgewählte »Gottwerdung« scheitert und insofern tragisch ist, wie J. Bernhart 60 sagt, wird zunehmend offenbar, dass der Mensch nicht ohne Gott auskommt und sich seiner wahren Herkunft neu besinnen muss (vgl. die Anamnesislehre von Platon, die jüdischen Propheten, alle großen spirituellen Meister). Zu diesem Erwachen nötigt ihn wie sonst nichts das unermessliche Leiden (vgl. Wagners Amfortas, das Sinnbild des versehrten Menschen überhaupt). Erkennt der Mensch unter der Leitung des Gottmenschen in einer dritten Phase seine Geschöpflichkeit und darin seine Berufung, zu Gott zurückzukehren und mit ihm eins zu werden, erhält das »sicut eritis deus« in diesem dreiphasigen Geschichtsprozess einen neuen und doch alten Sinn: zu werden wie Gott, aber nicht in der Weise der Autonomisierung und Abtrennung von Gott, Natur und Mitmenschen, sondern in der Weise der Gott- und Menschheitsvereinigung, d. h. der universalen Schicksals-, Leidens- und Liebeskoinonia. 61 Die Schlange hat recht: Die Menschen sollen werden wie Gott, Was, tiefer gesehen, eine Illusion ist. Vgl. J. Bernhart (1917). 61 Auch N. Berdjajew (1950) umreißt in dieser Weise den ontologischen Rahmen seiner dreiphasigen Geschichtsmetaphysik. In Anlehnung an das Subjekt-Objekt- bzw. Person-Natur-Paradigma lässt sich das Schema in folgende Unterstadien untergliedern: 1. Im Urbeginn Leben bei Gott (das Subjekt beim Übersubjekt); 2. Versenkung und Versunkenheit des Subjektes in die Natur, in die bloße Dingwelt (Identität von Subjekt und untersubjektiver, objekthafter Natur; Schlaf des Geistes; Subjektlosig59 60
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Der metaphysische Sinn des Leidens
und Gott hilft dabei, aber nicht durch Selbstvergöttlichung, sondern dadurch, dass sie sich auf Gott ausrichten, sich ihm öffnen, sich für ihn, so gut es geht, bereiten und sich von ihm zu sich in umfassender und trennungsfreier Gemeinschaft erheben lassen. 62 Damit nicht genug, übererfüllt Gott den Menschen ihre Wünsche: Einstmals wollten sie als Mann und Frau ganz eins werden, was im Anbeginn tragischerweise mit der Abkehr von Gott verbunden war. Kehren die Menschen zu Gott zurück, heiligt er nicht nur die irdische Vereinigung der Geschlechter, vorzüglich in der Ehe, sondern er verbindet sie, wenn sie nach dem Tode als Paar vor ihn treten in einer Weise, die hiesig unvorstellbar ist, nämlich derart, dass er sie auch seelisch-geistig eins werden lässt und so das letzte Sinnziel der keit); 3. Erwachen des subjektiven Geistes in der Natur mit animistisch-dämonistischer Beseelung der Natur (teils als Projektion der eigenen Geistigkeit, teils als Erahnung des subjektiven Hintergrundes der Natur); 4. Mit Bewusstwerdung des freien Personenkerns, besonders bei den großen Führerpersönlichkeiten erfolgt die Vergöttlichung der Naturmächte (Polytheismus); 5. Mit der Anamnesis des göttlichen Ursprunges im Platonismus, Judentum und im Christentum wird die Natur entgöttlicht, erst wieder dämonisiert, dann bald (so in der Neuzeit) ganz zum Nurobjekt verdinglicht, das dem Subjekt jetzt gegenübergestellt und als Objekt technisch manipuliert werden kann (Subjekt-Objekt-Spaltung); 6. In der späten Neuzeit erfährt das menschliche Subjekt eine Vergöttlichung mit der Folge des »Todes Gottes« und der radikalen Unterwerfung und Beherrschung der Natur und der Menschheit unter die Macht- und Genussziele des Menschen. Reine Immanenz, der Mensch als Gott der Technik; 7. Tragische Selbstverdinglichung des Subjektes, vermittelt durch die selbstbezügliche Anwendung der Technik auf den Menschen; »l’homme machine« (Kritik M. Heideggers und T. W. Adornos an der »Technomorphie«); Zeit des Nihilismus und der Selbstvernichtungsversuche der Menschheit; 8. Neues Erwachen zur Wahrheit der schöpferischen Geschöpflichkeit des Menschen; Erkenntnis der Dreirangigkeit und Dreifaltigkeit des Seins; Natur als Kunstwerk geistiger Zweitursachen, die sich in ihren Naturgebilden tiefinnerlich ausdrücken (Subjekt-Objekt-Einheit); der Mensch als höchstmögliche Ausformung und Einheit zweier Seinsränge; Vergeistigung der Technik und neuer universaler Gotteskult; weltumfassende Religion als weiterentwickeltes und gereinigtes Christentum mit Gottmenschentum für alle in dem einen kosmischen Leib des einen Gottmenschen; »neues Mittelalter und Theosis« (N. Berdjajew); totale Vergeistigung des Leibobjektes und totale Verleiblichung des Geistsubjektes (als ideales Ziel). Alles das zu denken als mühsame Arbeit des Geistes aus der Natur, mit der Natur und in der Natur über die Natur hinaus. 62 Siehe K. Rahner (1980, 42): »[…] uns selbst Gott als Antwort geben.« – Den positiven Sinn, der im Rat der Schlange, zu werden wie Gott, liegt, sah und betonte schon die gnostisch-frühchristliche Sekte der Ophiten, doch geriet sie dadurch in die Einseitigkeit, den ursprünglich negativen Aspekt der Revolte gegen Gott auszublenden und die »Schlange« nur als positives Werkzeug auf dem Weg zum Heil und zur Vereinigung mit Gott aufzufassen. Vgl. W. Windelband (1957, 221, Fußnote 241).
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Liebe, die »Minneeinheit«, erfüllt. In dieser »androgynen Menscheneinheit« verlieren sie keineswegs ihre einzigartige Persönlichkeit, sondern bleiben Mann und Frau, aber zu einer innigsten geistseelischen Einheit, die irdisch unmöglich ist, verschmolzen. 63 Entscheidend für den Menschen ist, dass Gott das, was einst Sünde oder Anlass der Sünde war, nicht verwirft, sondern aufgreift und über alle möglichen kreatürlichen Maße verwandelt und erfüllt: Die Menschen dürfen sein wie Gott, sie dürfen in einem lichten Leib ohne alle Naturunterwerfung leben, und sie dürfen mit dem Geliebten in einer Weise eins werden, wie es menschlich, irdisch und leiblich unmöglich ist, was bedeutet, dass sie mit dieser »Aufhebung der Geschlechtertrennung unter Bewahrung der Geschlechterdifferenz« der übergeschlechtlichen Gottheit noch ebenbildlicher werden. Und so gilt: Alles, was einst schlecht und böse war, wird nicht nur gut, sondern mehr als gut, d. h. neu gut, unaussprechlich gut. Damit offenbart das zwischenzeitliche Leid einen Übersinn an Leben, Güte und Glück, und alle Theodizee hat sich durchgeklärt, nicht nur theoretisch, sondern existenziell. Der Mensch wollte alle Erkenntnis, und zwar ohne Gott; er wollte alle Lebenskraft, und zwar ohne Gott; er wollte einen Leib, aber ohne Gott; und er wollte die innigste Liebe zu seinem Gefährten, jedoch ohne Gott – und was ereignet sich, wenn Gott das letzte Wort spricht? Der Mensch erhält alle Erkenntnis, und zwar von Gott; er empfängt einen geistlichen, von Last, Schwere und Zwang freien Leib, und zwar geheiligt von Gott; er erhält alles Leben, und zwar von Gott; und er erhält alle Liebe, und zwar von Gott. Ja er bekommt noch viel mehr, nämlich Gott selbst, den Urquell und die Fülle von Erkenntnis, Leben und Liebe – und somit die Kraft aller Leidüberwindung. Insofern trifft es K. Rahner, 64 wenn er sagt: »Es gibt kein seligeres Licht, das die finstere Abgründigkeit des Leides erhellt, als Gott selbst.«
Vgl. E. Benz (1955: »Adam, der Mythus vom Urmenschen«), darin die glänzende Einleitung. Der moderne Philosoph des gemäßigten, nicht hermaphroditisch missverstandenen Androgynismus ist F. v. Baader. Nach ihm ist der spirituelle Zweck der Ehe die »wechselseitige Wiederherstellung« des verlorenenen »inneren Himmels- oder Engelsbildes von Mann und Frau« (1991, 90). 64 Siehe K. Rahner (1980, 43). 63
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Der metaphysische Sinn des Leidens
Auf dem Hintergrund dieser metaphysischen Anthropologie eröffnet sich der Blick auf die letzte ontologische Möglichkeit und Berufenheit des Menschen. Da er allein aus sich nicht verstehbar ist, sondern nur in der Polarität seiner Natur-, Gemeinschafts- und Gottentsprungenheit begriffen werden kann, müssen der Mensch und sein Daseinssinn sowohl in seiner Stellung zum Bios als auch zur Sozialität als auch in seiner Hinordnung auf Gott bestimmt werden. Welche Rolle er im Naturganzen und in der Kultur einnimmt, wurde dargelegt, doch in Bezug auf Gott bleibt ein Letztes zu klären. Deutlich hierbei wurde bereits, dass sich das pU-Sein des Menschen nur im aU Gottes vollenden kann, was heißt, dass der Mensch Gott werden muss, um voll und ganz Mensch zu sein. Bedeutet dies, dass alle Menschen total Gott und damit völlig unterschiedslos identisch werden? Wäre dem so, würde, was auch C. S. Lewis 65 sieht, die gesamte Schöpfung in ihrer endlosen Differenzierung aufgehoben und sinnlos werden. Dass sie eine Geschichte hatte, dass sich Individuen und Kollektive darin zur Glückseligkeit hin durchkämpften, all das würde nichtig und verschwinden. Darüber hinaus wurde deutlich, dass Gott mit seinen unendlich vielen »Seiten« nur mit einem einzigen Geschöpf, mit dem absolut makellosen Gottmenschen, in jeder Hinsicht identisch werden kann, dieses pU-Geschöpf vollständig zu sich erhebt und im Unendlichen voll aktualisiert (atU). Alle anderen Geschöpfe mit ihren Makeln, Sünden und Gebrechen sind dazu, auch nach ihrer Heilung und Heiligung, nicht in der Lage. Bleiben sie also von der Gotterfüllung ausgeschlossen? Keineswegs, nur erfolgt sie anders. Nach einem meist langwierigen und wohl tief schmerzhaft-bitteren Läuterungs-, Heilungs- und Heiligungsprozess erhebt Gott auch sie zu sich und vereinigt sich mit ihnen. Doch vereinigt er sich nicht total, d. h. mit allen seinen unendlich vielen Seiten (wie er das im Falle des Gottmenschen tut), sondern – bezogen auf das jeweilige Geschöpf – mit nur einer Seite, aber einer Seite, die real unendlich ist. 66 Jedes Geschöpf wird so zu Gott, ein-seitig zu Gott, der sich mit diesen Geschöpfen nicht allumfassend, sondern nur im Kern verbinVgl. C. S. Lewis (1991, 147 ff.). Das betont auch C. S. Lewis (1991, 153): »Und was könnte der Sinn dieser Heimlichkeit (dass jedes Geschöpf einen Namen erhält, den nur Gott und eben dieses Geschöpf kennen) sein? Doch wohl dies, dass jeder der Erlösten einen bestimmten Zug im Antlitz der göttlichen Schönheit besser erkennen und zu rühmen vermag als irgendein anderes Geschöpf.«
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»Eritis sicut Deus«
det und sie »bloß« durchgöttlicht, nicht vergöttlicht. Das bedeutet, dass es für jedes Geschöpf eine unendliche »Vorlage«, ein unendliches »Vorbild«, einen »unendlichen Genius« 67 gibt, nämlich Gott selbst, doch nur in einer Seite, mit der das einzelne Geschöpf identisch werden soll. Erstrebt es diese Vor-Gestalt, wird es von Gott geleitet und unterstützt und »am Ende der Zeiten« endgültig dazu erhoben und damit vereinigt, mit der Folge, dass jedes solches Geschöpf in seinem Seinskern (nicht in seiner Seinsperipherie) zur vollständigen Ruhe und Erfüllung gelangt. 68 Dann ist es endgültig vereinigt mit Gott, sein individuales Ich ist Gott, aber eben nur in einer, allerdings unendlichen Seite, was einer partiellen Aktualisierung ins Unendliche = Von diesem Punkt her und erst von ihm erweist sich, dass jeder Mensch ein »Genie« ist bzw. dazu »unendlich« berufen und befähigt ist, auch wenn er seine Genialität in diesem Leben nicht zu realisieren vermag. Sie liegt trotzdem in ihm und wird einmal offenbar. Vgl. zur vollen »Entbergung« allen potentialen Seins Jesus und das Lampengleichnis in Markus 4, 21–25. 68 In der späten kleinen Schrift »Das Ende aller Dinge« beschäftigt sich auch I. Kant (1969, 89–104) mit diesem Problem. Dabei sagt er viel Wertvolles und Tiefes, gerät aber, da nach ihm die Ratio nur im Endlichen agieren kann, in Antinomien. Einerseits erkennt er, dass Geist und Leben im Kern sinnlos sind, wenn sie sich nach dem Tod in der Zeit ohne Ende endlos fortsetzen und nicht zur Ruhe, das heißt zur innersten Befriedung und Zufriedenheit, kommen. Das ist zweifellos wahr. Andererseits meint er, dass der Übergang eines zeitlichen Wesens in ein ewiges Wesen selbstwidersprüchlich sei und erkennt nicht, dass solchen Übergang nicht dieses zeitliche Wesen selbst leisten, dass aber der ewige Gott das Geschöpf aus der Zeit in seine Ewigkeit heben kann, und zwar dadurch, dass er sich mit seinem gereinigten Daseinskern vereint. Es ist durchaus beides möglich, und keineswegs schließen sich Zeit und Ewigkeit in jeder Hinsicht gegenseitig aus: Im Kern kann der Mensch verewigt und durchgöttlicht sein, und zugleich entfaltet er sich in der »Peripherie« seines Seins weiter in der Zeit (die mit der irdischen nicht identisch ist). Diese zeitliche Weiterentfaltung sieht zwar I. Kant, aber er konstruiert eine ganz eigenartige Antinomie, indem er behauptet, dass der moralische Fortschritt in der Zeit, da der Folgezustand besser als der vorangegangene Zustand sei, nichts anderes darstelle als den Fortgang von einem größeren Übel zu einem geringeren Übel, was angeblich dem Wesen des Lebens bei Gott widerspreche. Das ist Sophistik, weil der Fortgang von Gutem zu Besserem und noch Besserem nicht als Übel, Leid und Unzufriedenheit gedeutet werden kann. Wer wächst nicht vielmehr in der Freude, wenn er immer wissender, sicherer, weiser und liebender wird? Die Verbindung von Ewigkeit und Zeit kann der Mensch ansatzweise schon im hiesigen Dasein erfahren: Manchmal ist der Mensch innerlich ganz ruhig, gefasst, unveränderlich, z. B. voller Liebe, voller Dankbarkeit und voller Glück, obwohl er gleichzeitig in der Welt vielfältig agiert. Warum kann I. Kant dies nicht sehen? Weil er, wie viele Protestanten, z. B. auch S. Kierkegaard, die mystische Vereinigung der Gottheit mit dem Menschen ablehnt und dadurch das höchste Seinsziel des Menschen vergibt. 67
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Der metaphysische Sinn des Leidens
patU entspricht. Damit wird die dynamisch-bewegte pU Vielfalt und pU Weiterentfaltbarkeit der Schöpfung gewahrt und doch im Kern der Geistgeschöpfe mit Gott und mit der ganzen kosmischen Geistergemeinde vereinigt und beruhigt. Dies offenbart den letzten Sinn alles Seienden: Ruhe im Gottsein plus endlos weitere Entfaltung im Gottwerden, heißt In-Gott-Sein plus Sich-endlos-Annähern an Gott, und zwar als Einzelner in ungetrennter Gesamtgemeinschaft. Hätte es auf dem Hintergrund der Seinsfülle und Seinshoheit Gottes weniger sein dürfen? Wohl kaum. Und wie wäre anders der Anspruch eingelöst worden, dass der Mensch das Ebenbild der Gottheit sei; wie, dass sich Gott nur so als vollkommener Schöpfer, Erlöser und Heilender realisierte? Alle Theodizee löst sich nur dann auf, wenn sich das nichtgöttliche Sein in Gott vollkommen vollendet und die höchste Spitze der Seinspyramide erreicht, aber differenziert und seinsgerecht, was bedeutet, dass alles geschöpfliche Sein (außer den endgültig Gefallenen) seinen Kontingenzstatus verliert und mit und in Gott schlechthinnig, »seinsnotwendig« wird, also auf diese Weise nicht mehr nicht und nicht mehr mangelhaft sein kann. In allen anderen Seinskonzeptionen bleibt das Sein unendlich weit hinter sich zurück und wäre als ganzes und in sich unendlich seinsmangelhaft, was selbstwidersprüchlich ist. 69 Als Ganzes kann das Sein nicht mangelhaft sein, da ein Mangel nur Sinn in Bezug auf ein Mehr an Sein hat. Mehr Sein, als das Ganze des Seins (zeitlich, räumlich, intensiv) umfasst, kann es logischerweise nicht geben. Und dementsprechend ist das natürliche Seinsziel alles desjenigen Seienden, das sich entwickelt und auf dem Wege ist, das Ganze und jene Fülle des Seins, die nicht nichtsein kann. Zusammengefasst: Der einzelne Mensch wird Gott und damit in seinem Wesenskern ewig, zeitlos, nicht-mehr-kontingent, aber nur im Kern und da in einer unendlichen Seite – mit seinem individuellen Genius –, was ihn einerseits relativiert, ihm andererseits die Möglichkeit eröffnet, mit den anderen in Gott vollendeten Geschöpfen in einen zeitlichen, aber zeitlich unbegrenzt-unvergänglichen Austausch einzutreten und so in die unendliche Unendlichkeit Gottes pU endlos hineinzuwachsen. Die Weltgeschichte geht demnach nur im Kern zuende, und dies vor allem in ihrem gottmenschlichen ReDer Pantheismus sieht zwar die Einheitsmöglichkeit von Geschöpf und Gottheit, er übereilt sich aber, greift zu rasch voraus und behauptet aus Ungeduld die Einheit schon jetzt. Darin wird er vom Leid und Übel in der Welt widerlegt.
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präsentanten, als ganze schreitet sie fort, ohne Ende ins Unendliche hinein, immer weiter sich vertiefend, erweiternd, intensivierend, ein unendliches Freudenfest, ein nüchtern-heiliger Rausch am himmlischen Tisch des immer reicher werdenden Lebens. In diesem offenunendlichen Zeithorizont schrumpft die historisch-irdische und so leiderfüllte Zeit zunehmend zusammen, da sie als vergangene in ihrer irdischen Erstreckung notwendig endlich bleibt und relativ zur endlos dauernden, leidfreien Zeit »im Himmel« immer kleiner und bedeutungsloser wird. Auch das ist ein gewichtiges Argument für die Theodizee, das beim Heiligen Paulus gefunden werden kann: »Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll« (Römer 8, 18). 70
7.15. Grad und Fassungskraft: die Ordnung der unerlösten und der erlösten Schöpfung Wenn, wie im letzten Kapitel gezeigt, jedes geistige Individuum erhalten und nach einem Prozess der Reinigung und Läuterung erlöst und gotterfüllt wird, dann fragt sich, ob nicht nur die Vielfalt der Geschöpfe, sondern auch ihre graduelle Verschiedenheit, wie sie im irdischen Leben gegeben ist, bestehen bleibt. Die Antwort ist sowohl ein Ja als auch ein Nein. Ein Nein nämlich, weil die nichtseinsollenden Mängel des »alten Jerusalem« mit seinen »alten Adams und Evas« in all ihren Gradabstufungen, abgesehen von den Geschöpfen, die sich endgültig aus der Gottgemeinschaft ausgeschlossen haben, überwunden, beseitigt und geheilt werden. Folgt daraus aber, dass alle Geschöpfe im »neuen Jerusalem« gleich mächtig, weise, begabt, kreativ, willensstark, gefühlstief und liebesfähig sind? Dass sie sich also gar nicht mehr voneinander unterscheiden? Keineswegs. Im Gegenteil bleibt eine graduelle Ordnung der Geschöpfe erhalten und gewahrt, da anders die charakteristische Individualität mit ihrer indivi-
Siehe ähnlich Meister Eckhart (1979, 159 ff., Predigt 2): »Besäße ein Mensch ein ganzes Königreich oder alles Gut der Erde […] und würde der ärmsten Menschen einer […] und gäbe ihm dann Gott soviel zu leiden, wie er je einem Menschen gab, und litte er alles dies bis an seinen Tod, und ließe ihn dann Gott einmal nur mit einem Blick schauen, wie er in dieser Kraft ist: seine Freude würde so groß, dass es an allem diesem Leiden und an dieser Armut immer noch zu wenig gewesen wäre.«
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duellen Geschichte, die Vielfalt der Schöpfung, ihre Gemeinschaftlichkeit, ihre innere Kommunikation und ihr endloses Weiterwachsen verloren gingen. Aber bedeutet dies nicht eine Ungerechtigkeit, nicht auch, dass manche Geschöpfe glückseliger sind als andere? Denn ein universal begabter und von Gott entsprechend erfüllter Mensch wie Leonardo da Vinci oder Goethe, wie Platon oder Plotin, wie Meister Eckhart oder Teresa von Aquila müsste doch über ein weitaus größeres Kraft-, Geist- und Glücksgefühl verfügen als ein einfaches, weniger oder scheinbar wenig begabtes Geistgeschöpf. Das mag so scheinen, trifft aber nicht zu. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich das Bild des Gefäßes verwenden: Gleich wie groß oder klein ein Gefäß, ein Krug, eine Schale ist, wenn sie ganz mit Wasser oder Wein gefüllt werden, sind sie voll, und zwar ganz voll. Und so verhält es sich mit den Geschöpfen: Sind sie gereinigt und in Liebe ganz Gott zugetan, wird sie Gott, gleichgültig wie groß oder klein ein bestimmtes Gefäß ist, mit seiner Liebe ganz und gar füllen, ja mehr noch, sie so sehr mit seiner Kraft, Weisheit und Liebe beschenken, dass sie dauerhaft überquellen. So erhält dann ein Mozart zwar mehr an Gottes Sein (wohl aber auch nur in gewissen Hinsichten) als ein »einfacher«, musikalisch unbegabter Mensch, aber beide sind vollständig erfüllt und daher auch vollständig glückselig. Auf diese Weise bewahrt Gott das Individuum und ist doch allen gegenüber gleichermaßen gerecht und gemäß ihrer Seinsfassungskraft gnadenvoll. Dass das eine Gefäß weniger Fassungskraft hat als das Andere, tut an der erlebten Fülle und Glückseligkeit eines jeden keinen Abbruch, jedes Gefäß erhält alles, was es fassen kann und noch mehr. Und trotzdem bleibt die Ordnung nach Graden erhalten, so dass alle Individuen ihre Besonderheit bewahren, vertiefen und verschenken können. 71 Darüber hinaus spielt die individuelle Sündengeschichte in diese Ordnung der Geister hinein. Zwar werden, außer bei den Selbstverdammten, alle sittlichen Schäden geheilt, doch Heilung bedeutet nicht totales »Nichtsein« der Vergehen, so, als wären sie nie gewesen.
Siehe Hugo von St. Viktor (1961, 35–36): »Soviel liebe Ihn, wie du kannst! Dein Können soll dir Maß sein. Je mehr du liebst, umso mehr hast du. Und je mehr du hast, umso glückseliger bist du. Dehne dich also und weite dich, soviel du kannst, auf dass ganz ausgefüllt werde, was in dir ist, auch wenn nicht ganz erfasst wird, was in Ihm ist […] Alles erfüllt Er in dir und überströmt in sich. Wenn es am Gefäße nicht mangelt, so ist des Öles genug. Dein Herz ist das Gefäß, die Liebe ist Sein Öl. Solange du das Gefäß hälst, lässt Er nicht ab, das Öl hineinzugießen.«
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Grad und Fassungskraft
Eine Spur oder »Narbe« bleibt zurück, und eben diese bestimmt die Aufbauordnung der Geister wesentlich mit. Ein sündenloses Geschöpf wie Maria kann da von der göttlichen Seinsfülle viel mehr und tiefer fassen als ein Mensch, der viel Böses begangen hat. Denn auch Reue, Sühne, Wiedergutmachung, Heilung und Heiligung löschen diese Wahrheit nicht aus; es bleibt gewissermaßen eine geringere »Dehnbarkeit des geschöpflichen Seins« zurück. Mit den Sündenwunden, die sich das Geschöpf aus Freiheit selbst schlägt, meist sich und anderen zugleich, dürfen nicht die traumatischen Wunden vermengt werden, die nicht der Freiheit der Betroffenen, also ihrem innersten Kern entspringen, sondern, wie im Falle von körperlichem und seelischem Missbrauch, Gewaltanwendung und Folter, die Folgen äußerer Einwirkungen und Widerfahrnisse sind. Da sie den innersten, den sittlichen Selbstkern des Geschöpfes nicht getroffen haben, was unmöglich ist, sind sie auch vollständig, sozusagen narbenfrei ausheilbar. Man muss also eine metaphysische Stufenordnung der angeboren verschiedenen Fassungskraft (1), eine ethische Stufenordnung der jeweiligen Sündenlast und ihrer Spuren (2) und eine pragmatisch-interaktive Stufenordnung der Traumata (3) unterscheiden. Die Verwechslung dieser drei verschiedenen, graduell gestuften Ordnungen hat in der Tradition oft eine Klärung des Übelproblems verhindert. Der alte Satz, das Übel würde aus der Perspektive des Ganzen, sub specie aeternitatis, seinen Platz und Sinn erhalten, ist zwar richtig, muss aber ergänzt werden, erstens durch den Gedanken, dass niemals Übel und Böses, auch vom Ganzen her gesehen, in sich gut sind oder vom Ganzen her ihr Übelsein verlieren, und zweitens, dass ihre letzte Funktion – nicht die vorletzte als Reiz, Widerstand, abhebende Folie und (Durchgangs-)Stufe – nur darin bestehen kann, dass sie als »Gegenganzheit« (H. Driesch) bessere und beste Gegenkräfte wecken, von denen sie überwunden, aufgehoben und geheilt werden. Da diese zwei Gedanken sowohl den Kampf mit dem Übel als auch die Reifung der besseren Potentiale der Schöpfung implizieren, ist es möglich, und zwar nur so, dass eine übelbehaftete Welt besser sein kann als eine übelfreie. Das Übel oder gar das Böse als Nichts, als minder Gutes, anders Gutes, vorläufig Gutes, scheinbar Gutes oder einseitig Gutes relativieren zu wollen, geht daher nicht an und ist mit einer echten Patho- und Theodizee, die das Nihilistische nicht beschönigt, unvereinbar. Der im Destruktiven und Bösen wesenhaft bestehende negative Gegensatz darf unter keinen Umständen, wie dies z. B. bei Plotin, G. W. F. Hegel u. a. zu729 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
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weilen der Fall ist, mit einem positiven oder polaren Gegensatz gleichgesetzt oder vertauscht werden. Tritt die Schöpfung einstmals in die letzte Phase ihrer Seinsgeschichte ein, wird nicht nur Gerechtigkeit in durchgreifender Weise walten, sondern es wird auch jedes Geschöpf gemäß seiner Lebensgeschichte und seiner Fassungskraft gotterfüllt und glückselig werden, so dass sowohl die Individualität voll gewürdigt als auch die Vielfalt der Schöpfung voll erhalten bleibt, und doch alle eins sind im Einen.
7.16. Zusammenfassende Kritik der Theodizeekritiker Die Klärung von Stellung und Sinn des Leidens im Weltganzen ermöglicht es, das Sonderproblem der Theodizeefrage, des Zusammenhanges von Gott, Übel, Bösem und Leid, zu beantworten. Zunächst sind zwei Tatsachen festzuhalten: Auf der einen Seite ist es empirisch gewiss, dass es Übel und Leid in der Welt gibt, wirklich gibt und d. h., dass sie weder durch eine »positive« bzw. euphemistische noch durch eine ontologisch-privative Weise wegerklärt werden können. Auf der anderen Seite konnte mit logisch-metaphysischer Gewissheit erschlossen werden, dass ein vollkommenstes Wesen, das allmächtig, allgütig und allwissend ist, existiert. Diese Einsicht enthebt der Nötigung, aus dem Bestehen des Leids über die Existenz Gottes rätseln zu müssen, was bedeutet, dass die Tatsache des Leids allein nicht darüber entscheidet, ob Gott bzw. wie Gott existiert. Die klassischen Widerlegungsversuche der Theodizeegegner, von »Epikur«, F. M. Voltaire, A. Schopenhauer, H. Jonas 72 bis G. Streminger, die aus der Gewissheit des Leids die Unmöglichkeit eines allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gottes beweisen wollen, werden damit hinfällig und erweisen sich als voreilige, wenig tiefe und allzumenschliche Kurzschlüsse. 73
H. Jonas (1994) »löst« das Theodizeeproblem, indem er Gott zwar die Allgüte und Allwissenheit belässt, die Allmacht aber abspricht und ihn für ohnmächtig erklärt. Dabei bedenkt er u. a. nicht, dass schon Allgüte und Allwissenheit als solche »allmächtige« Potenzen und ohne Allmacht nicht zu denken sind. 73 Auch wenn F. M. Voltaire einen nur begrenzt mächtigen Gott lehrt, so weiß er doch: »Il y a un Être nécessaire, éternelle, source de tous les êtres, existera-t-il moins parceque nous souffrons?« (Dial. d’Evh. II; II, 1999). 72
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Das Erste und Wichtigste, was das Leid zeigt, ist, dass Gott wohl allmächtig, aber unmöglich allwirksam ist, sprich, dass er nicht alles, was ist und entsteht, selbst direkt bewirkt, sondern dass er Macht und Wirksamkeit, damit auch Intelligenz und Kreativität an von ihm erschaffene Subjektgeschöpfe delegiert. Wäre Gott das einzige Wirkprinzip in der Welt, wie ihn zuweilen der Islam, aber auch viele Christen denken, könnte es weder das Übel noch das Leid geben, da Gott nichts Mangelhaftes bewirken kann, mit der Folge, dass die Welt zu jedem Zeitpunkt endgültig bzw. absolut vollkommen gewesen wäre, frei von Störung, Mangel, Übel, Bösem und Leid, frei von Missbildungen, Krankheiten und moralischen Fehlern, allerdings dann auch frei von allem personalen Werden. Das Problem ist daher nicht, ob Gott angesichts von Übel und Leid existiert, sondern wie ihrer beider Zusammenhang zu denken ist. Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn die Struktur der Wirklichkeit, von der Übel und Leiden, Schuld und Sünde ein Teil sind, aufgedeckt und somit Metaphysik betrieben wird. Stellung und Sinn des Leids rein erkenntnistheoretisch, phänomenologisch oder ethisch bestimmen zu wollen, kann nicht gelingen, da Leid und Übel weder nur Begriffe noch nur bloß subjektive Erscheinungen und auch nicht bloße Wertbestände, sondern volle und echte Wirklichkeiten bzw. Zustände von Wirklichkeiten, insbesondere von Lebewesen sind. Mehr noch zeigte sich, dass die Möglichkeit des Leidens streng an die Existenz von erlebensfähigen und partiell freien Wesen, von Subjekten bzw. Wesenheiten im zweiten Seinsrang, gebunden ist, daher weder Gott noch den passiven Dingen zukommen kann. Aus der Tatsache des Leids ist darum nicht auf die Unmöglichkeit der Existenz Gottes, sondern mit Notwendigkeit auf die Existenz zweitrangiger Wesen, auf bewusste und selbstaktive, begrenzt freie und kreativschöpferische Geschöpfe zu schließen. 74 Und da der Mensch als ZweitAllein dies beweist, dass derjenige, der die (partielle) Willensfreiheit des Menschen leugnet, wie z. B. A. Schopenhauer und G. Streminger, der Möglichkeit zu leiden den Boden entzieht. Völlig unfreie Wesen können nicht leiden. Die angebliche »Handlungsfreiheit«, die A. Schopenhauer und G. Streminger vertreten, ist nur eine Scheinfreiheit, da sie nach A. Schopenhauer und G. Streminger angeblich von den Trieben, Motiven und vom Charakter des Betreffenden vollständig determiniert ist. Wenn ein Theodizeekritiker wie G. Streminger, der die Willensfreiheit des Menschen negiert, mit viel Verve Gott im Angesicht des Leidens ablehnt und dafür das Unmaß des Leidens ins Feld führt, dann wirkt dies auf dem Hintergrund des Wissens, dass Leiden ohne begrenzte Freiheit unmöglich ist, komisch. Im Übrigen sieht er nicht,
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ursache nicht die vormenschliche Welt erschaffen hat, in dieser Welt aber viele vom Menschen nicht verursachte Defekte, Verirrungen, Kämpfe, Missbildungen, Verletzungen und Krankheiten bzw. allenthalben »Versuch, Irrtum und Kompromiss«, »Suchen und Finden« vorkommen, kann die physische Welt nicht direkt durch Gott erschaffen, sondern muss von nicht-menschlichen Subjektwesen im zweiten Seinsrang, also von »Naturgeistkräften« geschaffen worden sein, die ihrerseits von Gott erschaffen wurden. Das ist das wichtigste Ergebnis der hier entwickelten Patho- und Theodizee. Dies bedeutet für Gott, dass er direkt zwar jene Geschöpfe erschafft (und in bestimmter Weise in Raum und Zeit zusammenstellt), alles weitere Wirken jedoch weitgehend diesen selbst überlässt, vor allem ihre Entscheidung für und gegen ihn, für und gegen das Leben, für und gegen das Gute und Wahre, Edle und Schöne, Freie und Heilige. Zwar enthebt ihn dies nicht der Verantwortung für das, was seine Geschöpfe tun werden, aber er vollführt nicht deren Fehler und Schlechtigkeiten, weiß allerdings apriori darum und berücksichtigt sie im Gesamtplan seiner Schöpfung, deren Ziel die Reifung der Geschöpfe, die Entfaltung der gesamten Schöpfung und die Aufhebung aller Mängel »am Ende der Zeiten« ist. 75 Dies impliziert auch die von Gott anerkannte und von wenigen Geschöpfen frei gewählte Möglichkeit, sich endgültig von ihm und seiner Seinsordnung abzuwenden, also im »radikal Bösen« zu verbleiben, allerdings um den Preis der endlosen Selbstausgrenzung und Selbstzerrüttung. Diese zusammenfassende Stellungnahme ermöglicht eine genauere Kritik an allen bisherigen Versuchen, das Theodizeeproblem zu lösen. Am Anfang muss die Bemerkung stehen, dass es in der mir bekannten Philosophie- und Religionsgeschichte unterblieben ist, ohne metaphysische bzw. religiöse Vorentscheidung rein aus der Sache heraus das Wesen von Leid und Übel bis auf seine letzten Momente phänomenologisch und begriffslogisch zu bestimmen. Diese Aufgabe hatte ich in meiner ersten Arbeit zur »Phänomenologie und Ontologie des Leidens« zu leisten versucht und hoffe, dass die Lösung dass er mit der Willensfreiheit die Verantwortlichkeit des Menschen, an der G. Streminger – wie schon A. Schopenhauer – festhält, aufhebt. 75 Analog, obschon unendlich rangtiefer, agieren Eltern, wenn sie ihren Kindern manches Übel zumuten und nicht wegnehmen, weil sie weiter sehen und die Notwendigkeit des Leids für die Reifung beachten. Gott übersteigt diesen Zusammenhang um ein Unendliches bis zum letzten Seinsernst, der jenseits von Tod und Glück liegt und das ewige Leben des Geschöpfes im Blick hat.
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hinreichend und befriedigend ist. Ohne dieses Wissen ist eine jegliche Kosmo-, Patho- und Theodizee zum Scheitern verurteilt, und soweit ich sehe, trifft dies auf alle derartigen Versuche, sowohl die affirmativen als auch die negativen Theodizeen, zu. 76 Der zweite Punkt betrifft die Frage nach Existenz und Wesen eines vollkommenen Seins. Wäre es tatsächlich so, dass ein solches Wesen nicht existierte oder dass es, wie I. Kant meint, theoretisch nicht erkannt werden könnte oder dass es apersonal wäre, bliebe allerdings die Frage nach Stellung und Sinn des Leids im Kosmos ein Rätsel und für fühlende, »existenzielle« Wesen eine vitale und geistige Monstrosität. Denn da ein Wesen im zweiten Seinsrang unmöglich direkt-kausal aus dem dritten Seinsrang, etwa aus der Materie hervorgehen kann, hinge es ontologisch ohne die Existenz eines Schöpfers in der Luft und mit ihm das Leid, das, wie gesehen, an solche Wesen geknüpft ist. Damit wird ein entscheidender Mangel der meisten negativen Theodizeen berührt: Sie wissen nicht um das Bestehen der drei Seinsränge der Wirklichkeit, des ersten Ranges des göttlichen, absolut unbedingten bzw. nur selbstbedingten Urseins, des zweiten Seinsranges der partiell freien, bedingt-selbstbedingenden Geschöpfe und des dritten Seinsranges der passiv-unfreien, nur-bedingten Nur-Objekte (Wirkungen und Werke). Ohne die Einsicht in diese Grundstruktur aller Wirklichkeit ist eine Lösung des Leid- bzw. Theodizeeproblems unmöglich. Damit hängt eine weitere Grundfrage zusammen, die nämlich, wer oder was das Werden und Entstehen der kosmischen Dinge bewirkt, sprich die Frage nach der Kausalität. Wie gesehen (Kap. 4.2.), antwortet die Neuzeit hierauf mit der mechanischen bzw. transeunten Kausalvorstellung, die inkonsistent und unzureichend ist, weil sie alles Werden auf nur-bedingte Dinge und Prozesse zurückführt. Wer ein deterministisch-mechanistisches Weltbild wie D. Hume, A. Schopenhauer und G. Streminger vertritt, der müsste zeigen, wie darin so etwas wie Leid überhaupt möglich sein soll. In Wahrheit ist es darin unmöglich. Leid impliziert, wie gezeigt, ein Mindestmaß an Freiheit,
Viele Theodizeen, etwa die von Augustinus und Thomas v. Aquin, setzen den christlichen Glauben voraus und können daher, wiewohl in ihnen zahllose tiefe Einsichten bezüglich des Übels – weniger allerdings des Erleidens als Widerfahrnis und des Leidens als Akt! – enthalten sind, philosophisch nicht befriedigen. Eine differenzierte und gerecht wägende Darstellung sowohl der augustinischen als auch der thomasischen Theodizee gibt F. Billicsich (1955, 221–286).
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andernfalls ist es nicht erlebbar, wird nicht »inne« und kann sich als echtes Erleben nicht vollziehen. Das Bestehen solch »relativer« Freiheit impliziert andererseits, dass Gott in seiner Allmacht nicht allwirksam ist, sondern Macht abgibt und delegiert, was das Feld für Irrtum, Verwirrung, Verstrickung, Schuld, Versagen und Leid, aber selbstverständlich auch für Freiheit, Kreativität, Reue, Wiedergutmachung und Liebe freigibt. Erkennt man zudem, dass auch das Naturgeschehen auf geschöpflicher Freiheit beruht und nicht nur das menschliche Wirken relativ frei ist, eröffnet sich eine entscheidende Lösung für das Theodizeeproblem. Zwei Gespenster lösen sich auf: das Gespenst, Gott wirke selbst alles Übel und Böse in der Welt, und das Gespenst der mechanistischen Natur. Vielmehr wird offenbar, dass der Kosmos das Werk von suchenden und experimentierenden, irrenden und korrigierenden, konkurrierenden und kämpfenden, reifenden und schließlich reifen Wesen ist. Alle monistischen Philosophien, die nicht imstande sind, das Leid zu verorten, scheitern an den Tatsachen des Werdens, der Pluralität und Rivalität, des Suchens, Kompromissemachens, Erprobens und Findens im kosmischen Geschehen, die das Fundament für die Phänomene des Konfliktes und Ringens, der Polarität und Ergänzung, der Störung und Verletzung, des Irrtums und der Verwirrung, des Triumphes und des Größenwahns – und vor allem des Leidens, Scheiterns und des Reifens bilden. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass die Naturgesetze nicht den Status logischer oder mathematischer Notwendigkeit besitzen, sondern dass sie frei gesetzte und errungene Regeln des Weltwirkens sind, die auch eine andere Form haben könnten und die nicht absolut mathematisch streng bestimmt sind, sondern, wenn stabil und reif geworden, um einen idealen Wert oszillieren, sprich schwanken und streuen. 77 Die Heisenbergsche Wahrscheinlichkeitstheorie der Natur bestätigt diesen Befund: Naturgesetze sind nicht, wie noch I. Kant meinte, identisch mit logischen oder mathematischen Denkgesetzen, bei denen es in der Tat weder ein Schwanken noch ein Streuen gibt,
Dieser ideale Wert kann ein rein mathematisches Gesetz sein, wie dies z. B. P. Plichta (2012) behauptet, nach dessen Untersuchungen der reale physische Kosmos, vor allem der Aufbau der Atome bzw. des Periodensystems gemäß dem »Primzahlencode« geordnet ist, was aufgrund der Natur der Primzahlen eine gewisse Plausibilität erheischt. Die bekannten Naturgesetze stellen jedoch keine reinen mathematischen Gesetze dar.
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sondern sind Regeln, die zugleich vom »Zufall« gezeichnet sind und ihn dennoch »bändigen«. Erst diese Eigenart macht sowohl freies Naturgestalten als auch Leiden in der Natur möglich, andernfalls wäre darin kein Platz dafür. 78 Da die Quellen des Naturgeschehens »Naturgeistkräfte« sind, d. h. unerschöpflich wirkfähige Geistkräfte, eröffnet sich eine weitere Dimension der Ermöglichung von Übel und Leid: der pU-Seinsabgrund der Geschöpfe und damit ihre in der Tat unausschöpfbare Tiefe, Wirksamkeit und Entwicklungsfähigkeit, und zwar, da frei und wertbezogen, sowohl im Guten wie, wenn sie sich aus Verwirrung oder Hochmut dafür entscheiden, im Schlechten. Da eines der höchsten Ziele des Universums die Offenbarung der Fülle des Seins bzw. der »Wahrheit« ist, ist es Gottes Wille, dass seine geistigen Geschöpfe ihren möglichst gesamten, bis ins Unbegrenzte reichenden Seinsbestand, also ihr »Eigen-Selbst« realisieren und manifestieren, einen Seinsbestand, der alles Vorläufige, Unreife, Dunkle, Fragwürdige, Rücksichtslose, Egoistische, Törichte, Unbesonnene, Halbgeistige und Lieblose umfasst. Denn nur dadurch, dass dies Fragwürdige offenbar wird, kann das Gute darin in seiner Wertigkeit, Fülle, Echtheit und Zuverlässigkeit voll offenbar werden. Innere Kämpfe, inneres Ringen und damit Leiden, verbunden mit entsprechenden äußeren Konflikten, Kämpfen und Kriegen, werden so unausweichlich und ermöglichen das, was der letzte Sinn des Kosmos ist: zu reifen, d. h. echt, stark und rein für das Edle und Wahre, Gütige und Achtungsvolle – kurz für die Vereinigung mit Gott, dem Unendlichen, zu werden. Wird erkannt, dass Reifen und Zeitlichkeit untrennbar zusammmengehören, und weiter, dass das Reifen der Zukunft bedarf, kann es nicht fraglich sein, dass die Schöpfung in ihrem Jetztzustand (bzw. in der Vergangenheit) unmöglich die beste aller möglichen Welten ist, sondern dass ihre Vervollkommnung nur in der Zukunft liegen kann. 79 »Theodizeen«, die wie die von F. M. Voltaire (im Roman
Noch I. Newton und G. W. Leibniz vertreten die Meinung, die Naturgesetze kämen direkt von Gott, wobei sie allerdings – entgegen I. Kant – sehen, dass diese Gesetze nicht denselben ontologischen Status wie die logischen Gesetze haben. 79 Für diesen Zeitpunkt ist sie so, wie sie ist, allerdings die beste aller möglichen Welten, was bedeutet, dass sie relativ auf das Ende hin »perfekt« ist. Dies wiederum impliziert ihre Weiterentwicklung auf das Ende hin. 78
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»Candide«), P. Bayle 80 und D. Hume 81 die Zukunft und den pUSeinsabgrund der Geschöpfe ausblenden, können daher dem Weltgeschehen und dem Leid darin nicht gerecht werden. G. W. Leibniz wusste es besser, indem er erkannte, dass die Welt nicht nur der Zukunft bedarf, um die Bestmögliche zu werden, sondern dass sie erst in Gott vollkommen wird, enthoben der Zeit und vereinigt mit der Ewigkeit. Die Ewigkeit kann in der Tat nicht mehr werden und reifen, wenigstens im Kern nicht, sie muss geschenkt werden, sie ist immer »Gabe«. Soweit die Vereinigung der Geschöpfe mit Gott und miteinander nicht umfassend ist (und sie wird außer im Fall des Gottmenschen nicht total), soweit geht die Reifung weiter – nur im Kern sind die Geistsubjekte ewig erfüllt und beruhigt. Damit nicht genug, bedarf es über die Kenntnis der Dreirangigkeit des Seins, der Kausalität aus Freiheit, der pluralen geschöpflichen Freiheit in der Welt und der Abgründigkeit der zu Bewusstwerdung und Reifung berufenen Zwischenwesen hinaus der Einsicht, dass das Sein nicht nur in Rängen, sondern innerhalb der Ränge auch in Gradabstufungen geordnet ist. Was heißt dies? Das bedeutet, dass Gott nicht nur eine schlicht vollkommene, sondern eine vollständig-vollkommene Weltordnung will, in der alles mögliche Sein in allen Gradabstufungen wenigstens exemplarisch repräsentiert ist. Das schließt, wenigstens zeitweise, Seinsgrade ein, die in sich mangelhaft und sogar fehlerhaft sind und sich dem Nichts annähern. Sowohl das Schwache und Armselige als auch das Schlechte und Böse erhalten so ihren Platz im Ganzen, der zwar eine lokale Unvollkommenheit beinhaltet, der aber, universal gesehen, die Welt als Ganze vervollständigt und auf diese Weise vervollkommnet. Das sahen Platon, Augustinus, Boethius, Thomas v. Aquin, G. W. Leibniz und G. W. F. Hegel, die hierin mit ihrer weiten und objektiven Geistigkeit tiefer blickten als F. M. Voltaire u. a., die die Welt ausschließlich aus einer »Froschperspektive« betrachten. Zwar darf dieser »Optimismus« nicht so weit gehen, das Schlechte, Üble und Böse positiv wegzuerklären – sie bleiben schlecht, übel und böse. Vgl. »Dictionnaire historique et critique« (Rotterdam, 1997). In diesem Werk versucht P. Bayle (z. B. im Artikel »Pyrrho«) wie später I. Kant, die Unfähigkeit der Ratio aufzuzeigen, metaphysische Probleme wie die Theodizeefrage zu lösen. Ähnlich wie der Pyrrhonismus vertritt P. Bayle einen radikalen Skeptizismus. Hiervon weicht I. Kant entschieden ab, der eine »Metaphysik der Sitten« im Rahmen einer Philosophie der praktischen Vernunft für möglich hält. 81 Vgl. »Dialoge über natürliche Religion«, besonders Teil X-XII (1779). 80
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Aber sie erhalten ihren Platz und werden so relativiert. Im Übrigen darf erwartet werden, dass alles Schlechte und Üble voll überwunden wird und nur jenes Böse endlos bestehen bleibt, das sich aus Freiheit definitiv gegen Gott und sein Reich entschieden hat. Entgegen Augustinus ist anzunehmen, dass die Anzahl der endgültig bösen Geister recht gering (und exemplarisch ausgewählt) ist und nicht als »massa damnata« ins Zahllose geht bzw. die Zahl der Guten übersteigt. 82 Andererseits geht es nicht an, Origenes und seiner »Apokatastasislehre« 83 zu folgen, die besagt, dass alles Böse im Letzten beseitigt und Gott alle bösen Geister, Satan eingeschlossen, zum Guten überreden oder sie mit seiner »Liebe« überwältigen würde. Wahrscheinlicher scheint, dass sich einige wenige Böse von Gott endgültig abwenden, ohne dass Gott ihre Freiheit antastet, worin eher Großmut und Weisheit als Schwäche und Schlechtigkeit zum Ausdruck kommen. Wie auch immer, eine Schöpfung, in der das endgültig Böse, d. h. der freie und unerschütterliche Entschluss gegen Gott, vorkommt, scheint vollständiger und darum vollkommener als eine »nur-gute«, sozusagen naiv-gute Schöpfung zu sein, die so täte, als könnte das Böse nicht sein und stellte letztlich keine Gefahr dar. Das Gegenteil ist der Fall. Indem Gott dem endgültig Bösen, d. h. dem Bösen aus entschlossener und entschiedener Freiheit, einen Platz in der Schöpfung gewährt, offenbart er sowohl die unermessliche Größe und Macht der Freiheit, die er seinen Geschöpfen verleiht, als auch die schwindelerregende Gefahr, die von dieser Freiheit ausgeht. Genau dadurch erhält das Böse einen tiefen Sinn und eine bedeutende Funktion: Es warnt die guten, gottzugewandten Geschöpfe unentwegt und ohne Unterlass – und d. h. bis in alle Ewigkeit! – davor, ihre Freiheit als kostbares, immer gefährdetes und gefährdendes Gut zu sehen und zu gebrauchen. Denn auch in der Gottvereinigung, in der selbstverständlich Gott die volle Führung übernimmt, geht die Freiheit des Menschen keineswegs verloren oder wird von Gott keineswegs erdrückt. Die Möglichkeit des endgültig Bösen weckt und steigert sowohl die »Bangigkeit« vor der Abgründigkeit der Freiheit als auch die Ehrfurcht vor der unendlich schützenden Kraft Gottes. Einen zuletzt zu erwähnenden Mangel, mit dem auf die »Ethik des Leidens« vorausgegriffen wird, ist in der überwiegend hedonisti82 83
Daran glauben noch M. Luther und I. Kant. Vgl. zu »Apokatastasis panton« J. C. Janowski (2009, 233–267).
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schen oder eudämonistischen Einstellung vieler Theodizeekritiker zu sehen. Oft scheint es, als sähen sie in der Leid- und Schmerzfreiheit, im angenehmen oder glücklichen Leben den höchsten Daseinswert, an dem sich Gott gleichsam vergreift. Zwar ist das Angenehme und mehr noch das Glück ein echter Wert, sogar ein so genannter Endwert, sprich ein Wert, der für sich geschätzt und genossen wird (im Gegensatz etwa zum Mittelwert des Nutzwertes), doch höchste Werte sind weder das Angenehme noch das Glück. Und um diese höchsten Werte geht es Gott in der Hauptsache, oft um den Preis des Leidens, des Lebens und des hiesigen Glücks. Das genauer darzulegen und zu begründen, ist allerdings Sache einer »Ethik des Leidens«, die von mir bereits konzipiert ist und in den nächsten Jahren ausgeführt werden soll.
7.17. Ein letztes Wort: die äußere und innere Schönheit der leidenden Schöpfung Wer sich die Mühe gemacht hat, den langen und beschwerlichen Gang durch diese Arbeit mitzugehen, wird womöglich den Eindruck bekommen haben, dass der Autor ein unverbesserlicher Schwarzmaler, Missanthrop und Pessimist ist. Das ist keinesfalls der Fall. Doch war es, um die Stellung des Leidens – und darin des Übels und des Bösen – im Kosmos einer Lösung näher zu bringen, nötig, jenen Standpunkt einzunehmen, den erzwungenermaßen viele Menschen ertragen müssen, den Standpunkt jenes Leidens, das aussichtslos erscheint und mit der Zerstörung von Lebensvertrauen, Lebenssinn und Selbstverwirklichung einhergeht, einzunehmen. Denn nur, wenn auch dieses »sinnloseste« Leid seinen Platz im Ganzen findet, darf das Patho- und Theodizeeproblem als im Grundlegenden gelöst akzeptiert werden. Darum habe ich mich hier bemüht. 84 Diese Radikalität bedeutet auf der anderen Seite keineswegs, dass der Autor blind für die zahllosen Schönheiten dieser Welt ist. 85 »Platz« heißt nicht »Rechtfertigung des Übels«, sondern Verstehen der Bedingungen seiner Möglichkeit und der Bedingung der Möglichkeit seiner Aufhebung. 85 Vielleicht eine der innigsten, tiefsten und schönsten Realisierungen der Pathodizeeproblematik im Felde der Dichtung fand ich im Drama »Der seidene Schuh« von P. Claudel im Dialog zwischen dem Vizekönig und Dona Musica. Dort wird gesagt, dass sich alle Unordnung den unempfänglichen Ohren verdanke, alles Schöne, alle Freude, alle Harmonie, alles Glück dagegen dem empfänglichen Ohr. 84
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Ein letztes Wort
Im Gegenteil, Reisen in viele Länder haben ihm gezeigt, welche Paradiese diese Schöpfung birgt, und in Wahrheit ist die vormenschliche Welt in der Vollendung schon weit vorgeschritten, der gegenüber die Menschen, die ihre Gestalt und ihr Maß im Ganzen noch suchen, weit zurückfallen. Man führe sich solche Naturwunder wie den Atomkern, einen Kristall, eine Orchidee, einen Flamingo, die Insel La Gomera, das Wadi Rum, Andalusien, das Rote Meer, den Kaukasus, Sylt, die Grand Canyons, weiter die großen Kulturwerke wie Chartres, Petra und die Pyramiden von Gizeh vor Augen, um das Staunen darüber zu lernen, was an Zauber, Schönheit und Größe in dieser Welt möglich ist. Viele alttestamentarische Psalmen besingen in seltener Auserlesenheit diese »Schöpfungsperlen«. Erst recht kann die Welt der sich im Wunderwerk des Leibes 86 ausdrückenden und den Leib verklärenden Schönheiten, der seelischen und sittlichen Vollkommenheiten, ergreifen und faszinieren, so etwa das unschuldige, grenzenlos offene Lächeln eines Säuglings, die Sanftmut einer gütigen, einfühlsamen Seele, die energische Tat eines hilfreichen Menschen, der Mut eines tapferen Streiters für die Wahrheit, die reine Innerlichkeit und sanfte Tiefe einer unschuldigergeben leidenden Seele und die sich ineinander webenden Blicke und Worte zweier Liebenden – man denke nur an das »Hohelied der Liebe« des Alten Testamentes. Hätten sich die Menschen mit ihrem Kulturschaffen in die Natur eingefügt, ohne diese fortwährend zu zerstören, und würden sie sich nicht immer wieder gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen – weil sie meinen, es sei nicht genug für alle da, und außerdem immer wieder ihre Einheit über ihre Differenzen vergessen –, könnte diese Welt ein fortwährendes Fest sein und das erreichen, wozu sie berufen ist: ein Vorschein des »Paradieses«, d. h. der Welt in Gott, zu sein. In diesem »Vorschein« dürfte selbst der bitterste Feind des Lebens, der Tod, zum Anlass für die größte Freude werden, jener Freude, die gewahr wird, dass der Tod das Tor zum allerreichsten und vollkommen bürdefreien Leben ist. Da dies an manchen Orten dieser Welt für eine befristete Zeit gelingt bzw. gelungen ist, werden die Hoffnung und der Wille gestärkt, diesem Ziel weiter entgegenzuschreiten. Darum dürfen Pessimismus, Misanthropie und Schwarzmalerei nicht einmal in den übelGerade das Gehirn ist als Datenverarbeitungsorgan ein Gebilde, in dem sich eine gewaltige, wenn auch nicht unendliche Intelligenz offenbart.
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sten Zeiten die Oberhand gewinnen, zumal die Zukunft offen steht und alles Gewesene überbieten kann. Wie die Welt aussieht, wenn sie dereinst von ihrem Schöpfer in direkte Regie genommen und »in seine Höhe und Obhut gehoben« wird, vermag niemand vorauszusehen, gewiss aber wird sie die beste aller möglichen Welten sein, frei von Schmerz, Leid, Qual, Trauer und Angst, voll von Frieden, Freude, Dankbarkeit und Schönheit, von Leichtigkeit, Austausch und unerschöpflicher Kreativität, und all das als Ergebnis eines mühe- und leidvollen, kämpfereichen und reifenden Entwicklungsweges des Universums. Diese Welt vorzuzeichnen, war nicht die Aufgabe dieser Studie, sondern kann nur, wenn überhaupt, von Künstlern geleistet werden. Die Natur und nicht wenige Kulturwerke des Menschen, die für die »Ewigkeit« sind, haben dies schon getan. Als abschließender Hauptsatz einer jeden Theodizee möge darum der »dynamische« Ausspruch von Teilhard de Chardin dienen, der besagt: »Für Gottsucher ist noch nicht alles unmittelbar gut, aber alles ist fähig, gut zu werden: »Omnia convertuntur in bonum.« 87
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Siehe P. Teilhard de Chardin (1962, 86).
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Namenregister
Adam, K. 204 Adama v. Scheltema, F. 490–491 Adriaanse, H. J. 716 André, H. 271, 348, 377 Andrén, G. 604 Angehrn, E. 32 Angelus Silesius 141, 170, 593, 718 Arendt, H. 518, 712 Anselm v. Canterbury 634, 636 Arnauld, A. 357 Aristoteles 31–32, 39–42, 45–47, 52– 54, 57, 61, 66, 73, 75, 78, 86, 107– 108, 124, 129, 131, 134, 156, 159, 171, 200, 208, 211, 219, 223, 232, 239, 245, 268, 271, 294–295, 198, 301–302, 342, 345, 347–348, 377, 397, 442, 444, 551, 670 Assmann, J. 303, 711 Augustinus, A. 37, 47, 86, 136, 139, 166, 185–186, 188–189, 196, 204, 233, 237, 239, 240, 245–246, 252, 255, 283, 301, 393, 399, 456, 551– 552 Avicenna 294 Baader, F. v. 407, 412, 421, 723 Balthasar, H. U. v. 411, 584 Baricco, A. 387 Barth, K. 242, 244 Bauer, J. 348, 520 Baumann, Z. 708 Bavink, B. 27, 424, 427, 431 Becher, E. 229, 271, 294, 345, 347, 355 Ben-Chorin 712 Benz, E. 42, 427, 450, 723
Berdjajew, N. 140–141, 163, 180, 230, 431, 438, 577, 644, 649–650, 701, 710–711 Berger, B. 326 Berger, K. 632 Berger, L. B. 326 Bergson, H. 79–80, 91, 136, 163 Bernhard von Clairvaux 580, 585 Bernhart, J. 37, 292, 389, 559, 577, 602, 721 Bertalanffy, L. v. 347, 365, 474 Beurlen, K. 347 Bhagavadgita 279 Billicsich, F. 65, 135, 138, 163–164, 192, 231–232, 237, 246, 303, 389– 390, 417, 421, 549, 696, 702, 733 Bloch, E. 208, 228, 284, 545, 570, 596, 672, 687, 710 Blüchel, K. G. 223 Blumenberg, H. 164, 325, 485 Bonhoeffer, D. 413, 421 Brandenstein, B. v. 11, 31–34, 38, 40, 45–46, 48, 50, 53, 54, 57, 62, 65–66, 69, 79, 85, 107, 110, 119, 121, 125, 129–130, 137, 156, 162, 168–169, 172, 207, 211, 219–220, 222, 231, 254, 256, 265, 271–272, 285, 288– 289, 291, 294–295, 308, 316, 324, 330, 339, 345–348, 354–355, 370, 377, 384, 388, 421–423, 427, 429– 430, 443, 450, 476, 500, 502, 506, 522–523, 427, 429–430, 443, 450, 476, 500, 502, 506, 524, 540, 560, 566, 571, 582, 586, 592, 601, 606, 638, 641, 650, 654–655, 667, 695, 710
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Namenregister Brentano, F. 31, 44, 112, 125, 203, 292, 696 Breyer, T. 262 Brod, M. 448 Brueck, M. v. 273 Brugger, W. 75 Brunner, E. 273, 650 Buber, M. 462 Buddha 482, 547, 576 Buytendijk, F. J. J. 271, 377 Byung-Chul, H. 415, 434, 476, 488, 499, 502–503 Campanella, T. di 566, 569–570 Camus, A. 35, 167, 223, 300, 325, 402, 439, 536, 545, 572, 596 Capelle, W. 187 Cassirer E. 473, 477, 570 Chardin, T. de 491, 571, 639–740 Childe, G. 489 Cioran, E. 167, 392 Clark, C. 706 Clarus, I. 637, 641 Cogley, J. 711 Cope, E. D. 347 Count, W. 377, 379 Davies, P. 161 Deissler, A. 140 Dempf, A. 40 Detel, W. 40 Deutschmann, C. 494–495 Diels, H. 400 Dietzfelbinger, K. 290 Dionysios Areopagita 242, 245, 551 Dobzhansky, T. 377 Dostojewskij, F. 203, 310, 400–401, 469, 525, 529, 532, 599, 620, 629, 660, 703 Drewerman, E. 141, 411, 421, 423– 425, 427, 431, 566–567, 572–574 Dreyfus, H. 302 Driesch, H. 136, 286, 377, 729 Driver, P. M. 316 Dubos, R. 494 Dürckheim, K. Graf 43, 52, 475
Eddie Baker, M. 231, 246 Eggers, F. 377 Ehrenberg, A. 415 Eibl-Eibesfeldt, I. 254 Eichrodt, W. 202, 315, 317, 345, 422, 710 Eißfeldt, O. 314, 592 Eliade, M. 279, 482 Elias, N. 481 Enard, W. 376, 478 Engels, F. 178, 181, 284, 472–473, 492, 506, 710 Epiktet 149, 231 Epikur 53, 134, 142, 149, 274, 568, 582, 730 Eraßme, R. 13, 474 Eucken, R. 250 Fetz, R. L. 33, 169, 348 Feuerbach, L. 74–75, 181 Fichte, J. G. 31, 36, 68–69, 79, 84, 92, 128, 134, 147, 153, 161, 189–190, 194, 326, 329, 372, 390, 407, 497, 538, 696, 698, 702–703 Foucault, M. 402 Frankl, V. 86, 137, 285, 524 Freud, S. 71, 151, 285–286, 290, 326, 356, 398, 414, 435, 437, 445, 472– 473, 481, 498–499, 542–543, 558, 684, 710 Friedländer, S. 713 Frielingsdorf, K. 577, 583 Fromm, E. 285, 499 Fuchs, T. 154, 260, 326, 415 Fuhrmans, H. 181 Futuyama, D. J. 364 Gabriel M. 33, 73, 329 Gebser, J. 279, 487–488, 490 Gehlen, A. 254, 471–473, 500 Geyer, C.-F. 37, 303 Glasenapp, H. v. 279 Göcke, B. P. 180 Goethe, J. W. v. 32, 246, 278, 356, 437, 488, 500, 514, 543, 599, 600, 618, 707, 728
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Namenregister Grabner-Haider, A. 180, 405, 488– 489 Graef, H. 712, 717 Grassé, P.-P. 374, 376 Grasset, L. 376 Greenblatt, S. 408 Grefe, C. 492 Grube, A. 164 Gruen, A. 573, 581 Guardini, R. 400, 408, 410–411, 413, 420–427, 431, 474, 592, 690, 709, 716 Günther, K. 377
Hoerster, N. 35, 37, 164, 198, 233 Hobbes, T. 461, 549 Hoffmann, U. 476 Holzhey-Kunz, A. 59 Hösle, V. 34, 79 Hugo von St. Viktor 551, 728 Hüther, G. 352, 397 Husserl, E. 30–32, 44–45, 57, 66, 69, 79–80, 110, 112, 125, 188, 262, 327
Habermas, J. 30, 472, 537 Hälbig, K. 203, 407, 413, 417, 422, 426, 683, 688, 708, 719 Halfwassen, J. 40, 48, 68, 303, 549 Hartmann, N. 33, 44–46, 50, 66, 69, 79, 98, 112, 150, 153, 169, 211, 261, 293, 295, 323, 330, 346–349, 363, 442, 444, 480, 502, 698 Hasenfratz, H.-P. 279, 639 Hegel, G. W. F. 31, 37, 47–48, 66, 75– 78, 91, 96, 128, 137, 138, 141, 162– 163, 169, 180–181, 189, 194, 200, 208, 221, 231, 271, 301, 309, 315, 358, 372, 388, 390, 407, 423, 466, 503, 506, 516, 536, 545, 583, 602, 664, 709, 729, 736 Heidegger, M. 178–180, 182, 194, 221–222, 232, 289, 325, 356, 499, 542 Heimsoeth, H. 166, 388, 536 Hellpach, W. 180 Heldt, H. W. 293 Hengstenberg, H.-E. 374 Henry, M. 58, 60, 224, 269, 391, 498, 598 Herodot 519 Herrmann, J. 471 Herzog-Dürck, J. 229 Hessen, J. 36, 49, 66, 185, 212, 294, 309, 348, 420, 497, 537 Hick, J. 206, 427 Hierzenberger, G. 279, 498 Hillard, G. 600
Jablonka, E. 338, 348, 364, 374, 377 Jäger, W. 200–201 Jaeggi, R. 58 Jaenecke, H. 504 James, W. 294 Janßen, H.-G. 142, 303 Jantsch, E. 169, 180, 320, 388 Janowski, J. C. 737 Janus, L. 488 Jasper, G. 707 Jaspers, K. 66, 228, 230, 532, 545, 572 Jenner, G. 481, 539–540 Joas, H. 537 Johannes Paul II. 676 Johannes Scotus Eriugena 301 Jonas, H. 37–38, 67, 162, 164, 169, 251, 325, 347, 355, 400, 510, 589– 590 Jung, C. G. 180, 228, 285, 288, 413, 423, 437, 580, 624, 673 Junker, R. 38
Illies, J. 38 Isler, K. 462 Iwer, L. 257, 415
Kant, I. 27, 30–31, 37, 39, 41–47, 53, 62–64, 66–69, 71–72, 74–75, 78– 79, 82–83, 89–90, 95, 98–134, 151, 154, 156, 158, 172–178, 182, 184, 194, 197, 210–211, 219, 224, 237, 249, 261, 263, 267–268, 283, 294– 295, 297, 301–302, 305, 307, 320– 322, 326–329, 397, 402, 405, 409, 414, 423, 453, 456, 491, 505, 532, 538, 580, 635, 643, 662, 664, 693, 701, 705, 725, 733–737
763 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Namenregister Kegel, B. 337 Kershaw, I. 230, 706 Kessler, H. 351, 501 Kierkegaard, S. 59, 134, 138–139, 147, 148, 232, 413, 512, 542, 545, 572, 725 Kipp, F. A. 169, 341, 347 Klages, L. 434 Knopp, G. 708 Koltermann, R. 38 Koreck, K. 207, 301 Koslowski, P. 36, 583–584, 592 Krampf, W. 30 Kreimendahl, L. 75 Kreiner, A. 36–37, 159, 161–162, 190, 196, 206–207, 209, 221, 239, 243–244, 273, 298, 454, 586, 589, 666 Krockow, C. Graf von 706 Küng, H. 180, 636 Kutschera, U. 364 Laak, D. v. 482 Lamb, H. H. 509 Lamb, M. J. 338, 348, 364, 374, 377 Lange, A. 364 Lanczkowski, G. 268 Landmann, M. 254, 475, 486, 509, 515 Lehmen, A. 75 Leibniz, G. W. 12, 31–32, 35, 37–38, 47, 66, 78, 80, 108, 119, 131, 134, 187, 192, 203, 211, 223, 233, 237, 239, 246, 268, 294–295, 300–302, 305–306, 333, 341–342, 345, 393– 396, 399, 423, 453, 459, 473, 524, 552, 556, 587, 590, 664–666, 735– 736 Lenk, H. 477 Levinas, E. 224 Lévi-Strauss, C. 480, 505 Lewis, C. S. 422, 431, 724 Liepe, W. 181 Lippert, P. 447 Loos-Frank, B. 369 Lorenz, K. 254, 320
Loretz, O. 695 Lotz, J. B. 30, 33–34, 40, 48, 55, 75, 408, 666 Lotze, H. 80, 294 Lübbe, H. 35 Lückert, H.-R. 466 Lütkehaus, L. 77 Lucius, R. 369 Mann, G. 712–713 Marcic, R. 467, 485 Marcuse, L. 673 Margulis, L. 333, 348 Marquard, O. 37, 298 Marx, K. 178, 181, 284, 472–473, 492, 506, 710 Mayr, E. 364, 374, 377 Meier, H. 364 Meister Eckhart 138, 164, 170, 256, 418, 464, 466–467, 496–497, 530, 548, 562, 585, 598, 608, 695, 697, 727–728 Merleau-Ponty, M. 261 Merklein, H. 633, 637 Micali, S. 157, 415 Miller, R. L. 377 Monod, J. 325, 374, 380, 392 Moser, T. 205 Müller, A. 492 Müller, W. F. 484 Mumford, L. 482, 707 Nagel, T. 152 Neuner, J. 204, 424, 426 Nicole, P. 357 Nida-Rümelin, J. 149, 151 Nietzsche, F. 66, 100, 137, 194, 260, 270, 325, 350, 488, 516, 532, 538, 548–549, 572, 597, 600, 684, 686, 704, 716 Novalis 333, 597 Occam, W. 67 Olson, E. C. 377 Otto, R. 577 Overhage, P. 38, 169, 316, 347, 354, 371, 377, 379, 386–388, 407, 421
764 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Namenregister Pailin, D. A. 161 Parmenides 179, 181, 199–201, 259, 553, 589 Pascal, B. 27, 31, 223, 300, 325, 392, 497, 576 Pauler, A. v. 79, 114, 125 Pavé, A. 376 Peters, D. S. 351 Pichler, H. 51, 75 Pico della Mirandola 435, 440, 500 Piechulla, B. 293 Pieper, J. 125 Pinker, S. 540 Pivčević, E. 32 Planck, M. 221, 341 Platinga, A. 228, 294–295, 449 Platon 31, 37, 40, 47, 53, 65–66, 78, 108, 129, 134–138, 159, 180, 182– 183, 188, 199, 219, 221, 237, 242, 245, 249, 265, 268, 273, 294–295, 301–303, 330, 345, 399, 405, 412, 414, 426, 430, 439, 463, 486–487, 514, 516, 536–539, 588, 599, 620, 721–722, 728, 736 Plessner, H. 271, 403, 477 Plichta, P. 65, 734 Plotin 37, 65, 136–137, 161, 239, 273, 294, 301–303, 393, 399, 412–414, 455, 544, 549, 550–553, 544, 691, 696, 728–729 Plumpe, W. 492 Portmann, A. 302, 316, 324, 347–348, 377, 379 Prigogine, I. 292, 353, 372, 388 Pulver, M. 670 Quine, W. V. O. 104 Raffaeli, M. 570 Rahner, K. 196, 229, 407, 421, 431, 568–569, 602, 631, 712, 722–723 Ratzinger, J. 205, 424, 609, 637 Reichholf, J. H. 471, 481 Rensch, B. 377 Ribeiro, D. 479 Ricoeur, P. 196 Riedl, R. 332, 399, 480, 713
Roos, H. 204, 424, 426 Rothacker, E. 289, 347, 477, 501, 512 Rüsen, J. 706 Ruland, L. 448 Sachs, N. 711 Safranski, R. 165, 597 Sandvoss, E. 102 Sartre, J.-P. 66, 92, 93, 150, 162, 170, 178–179, 325, 499–500, 519, 545– 546, 572, 596, 691 Schaik, C. v. 462 Scheler, M. 44–45, 49, 66, 69, 112, 141, 170, 180, 236, 261, 266, 302, 309 Schelkle, K. H. 250 Schell, H. 182 Schelling, F. W. J. 134, 140, 163, 180– 181, 189, 194, 200, 221, 333, 347, 372, 407, 578, 583, 664, 702 Schenk, R. 584 Scherer S. 38 Schick, E. 657 Schmidt-Biggeman, W. 37, 303 Schmitt, H. 350 Schmitz, H. 28, 262 Schmoll, H. 504 Schönberger, R. 185, 239 Schopenhauer, A. 192, 203, 240, 246– 247, 260, 414, 421, 465, 499, 547, 613, 617, 667, 679, 691, 716, 730– 733 Schrenk, F. 370 Schumann, H. 492 Schweidler, W. 28, 88 Schweitzer, A. 505, 599 Simmel, G. 141, 465, 472, 482, 495 Simpson, G. G. 377 Sloterdijk, P. 349, 432, 471, 477 Sölle, D. 584, 585 Spaemann, R. 95, 183, 185–190, 408, 413, 416, 419, 421–423 Sparn, W. 303 Spinoza, B. de 31, 41, 47, 66, 75, 78, 164, 166, 208, 211, 231, 246, 259, 275, 283, 295, 298, 469, 654 Spork, P. 338
765 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .
Namenregister Spranger, E. 401, 506 Sri Aurobindo 140 Stegmüller, W. 218, 219 Steiner, R. 48, 164, 273, 278, 280 Stieglecker, H. 213 Storch, V. 364 Strasser, P. 28 Strawson, P. 80 Streminger, G. 36–37, 166, 192, 246, 298–299 Sudbrack, J. 568, 569 Susman, M. 141, 711 Swinburne, R. 80, 298, 566 Tarnas, R. 488, 490 Thiede, W. 180, 251, 252, 294, 451, 583 Thies, C. 390 Thomas v. Aquin 31, 40, 47, 56, 66, 78–80, 84, 100, 124, 130, 134, 139, 160–161, 182, 189, 195, 200, 232, 239, 240, 242, 245, 348 Thomas, S. P. 364 Tolstoi, L. 401, 406 Tomasello, M. 478, 488 Tournier, P. 228 Toynbee, A. 488, 508, 560, 711 Treeck, T. v. 492 Troll, W. 347 Ullrich, H. 471 Ullrich, V. 706 Ulrich, F. 230 Unamuno, M. de 691 Vinnai, G. 706, 708, 686 Virillo, P. 494 Vollmert, B. 379
Von der Dunk, H. W. 706 Vries, J. de 80, 294 Wabbel, T. D. 419 Wachter, D. v. 349, 430 Waldenfels, B. 260, 262 Walsch, N. D. 409, 667, 262 Wandruszka, B. 10, 29, 145, 186, 288, 368, 431, 483, 510, 524, 606 Weber, A. 389 Weil, S. 601 Weinreb, S. 719 Weizsäcker, C. F. v. 31, 156, 195, 322, 341, 345, 352, 359, 437, 537 Welsch, U. 364 Welsch, W. 471, 478, 480–481, 501 Welte, B. 139 Wenzl, A. 345, 355, 420, 690 Wesel, U. 480–481 Wetz, F. 164 Whitehead, A. N. 31, 163–164, 196, 200, 301, 589 Wiehl, R. 67 Willmann, O. 68, 82, 101–102, 119, 124, 129 Wilson, E. O. 500 Windelband, W. 76, 166, 210–212, 303–307, 550, 722 Wink, M. 364 Wohlmuth, J. 633, 636 Wolff, C. 31, 41, 75, 78, 104, 134 Whorf, B. L. 523 Wundt, W. 80 Wundt, M. 31, 39, 41 Wust, P. 228, 270–271, 515, 597, 701 Zahrnt, H. 166 Zander, H. 273
766 https://doi.org/10.5771/9783495820988 .