Loyalitäten, Identitäten und Interessen: Deutsche Parlamentarier im Lettland und Polen der Zwischenkriegszeit [1 ed.] 9783737005623, 9783847105626, 9783847005629


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German Pages [218] Year 2016

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Loyalitäten, Identitäten und Interessen: Deutsche Parlamentarier im Lettland und Polen der Zwischenkriegszeit [1 ed.]
 9783737005623, 9783847105626, 9783847005629

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Benjamin Conrad

Loyalitäten, Identitäten und Interessen Deutsche Parlamentarier im Lettland und Polen der Zwischenkriegszeit

Mit 18 Abbildungen

V& R unipress Mainz University Press

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0562-6 ISBN 978-3-8470-0562-9 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0562-3 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Mainz University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Koordinationsausschusses des FSP Historische Kulturwissenschaften der Universität Mainz. T 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Die Fotografie zeigt die Abgeordneten der Saeima 1925, dem letzten Jahr der I. Legislaturperiode. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Kriegsmuseums Lettlands/Latvijas Kara muzejs, Riga (www.karamuzejs.lv). Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

für Margarete

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Fragestellung und Begriffsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Forschungsstand, methodische Überlegungen und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11

2 Lettland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wahlen und deutsches Parteiwesen 1919–1934 . . . . . . . 2.3 Die deutschen Abgeordneten in den Parlamenten Lettlands 2.3.1 Partizipation im Parlament . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Vertretung im Parlamentsvorstand . . . . . . . . . . 2.3.3 Wahl des Staatspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Regierungsbeteiligungen und Opposition . . . . . . . 2.4 Politikfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Loyalitätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Schulwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Sprachenfrage und Kulturautonomie . . . . . . . . . 2.4.4 Agrarfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.5 Kirchliche Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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25 25 28 41 41 56 59 64 76 76 81 84 88 91 95

3 Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Wahlen und deutsches Parteiwesen 1918–1935 . . . . . . 3.3 Die deutschen Abgeordneten in den Parlamenten Polens 3.3.1 Partizipation im Parlament . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Vertretung im Parlamentsvorstand . . . . . . . . . 3.3.3 Wahl des Staatsoberhaupts . . . . . . . . . . . . . .

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99 99 102 114 114 126 128

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15

8

Inhalt

3.3.4 Haltung gegenüber der Regierung, Staatshaushalt 3.4 Politikfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Loyalitätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Schulwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Sprachenfrage und Kulturautonomie . . . . . . . 3.4.4 Agrarfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Kirchliche Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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131 138 138 141 148 151 154 157

4. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Statistischer Anhang . . . . . . . II. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . III. Abbildungen . . . . . . . . . . . . IV. Quellen- und Literaturverzeichnis

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171 171 182 183 199

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

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Vorwort

Dank einer § 96-Maßnahme des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) konnte das Projekt »Loyalitäten, Identitäten und Interessen« 2011–2013 am Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz realisiert werden. Zusammen mit dem Sammelband »Parlamentarier der deutschen Minderheiten im Europa der Zwischenkriegszeit«, erschienen 2015 im Droste Verlag Düsseldorf in der Reihe »Parlamente in Europa« der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, stellt die vorliegende Monografie das wesentliche Ergebnis des Projekts dar. Zum Gelingen des Projektes hat zuallererst Prof. Dr. Hans-Christian Maner, Mainz, beigetragen. Von der Antragstellung bis zum Manuskriptabschluss hat er sich unermüdlich und weit über das normale Maß hinaus für meine Forschungen begeistert und eingesetzt. Ebenso war das Gelingen auch Prof. Dr. Jan Kusber, Mainz, ein ausgesprochen wichtiges Anliegen. Mit beiden gemeinsam konnte 2013 die mit dem Projekt verbundene Tagung zu einem Erfolg geführt werden. Die Ergebnisse dieser Tagung sind in dem oben genannten Sammelband nachzulesen. Die wichtigste Stütze bei der Umsetzung des Projektes war Dr. Svetlana Bogojavlenska, Mainz. Sie ist nicht nur eine der profundesten Kennerinnen der modernen Geschichte Lettlands in Deutschland, sondern auch stets bereit, ihr umfangreiches Wissen zu teilen. Vor Ort war das Interesse für meine Forschungen am stärksten am Historischen Institut der Universität Lettlands in Riga zu spüren, wo mich Prof. Dr. E¯riks Je¯kabsons, Prof. Dr. Ilgvars Misa¯ns und Dr. Ja¯nis K ¸ eruss zu Gesprächen empfingen. Wichtige Hinweise gaben auch Prof. Dr. Leo Dribins, Prof. Dr. Inesis Feldmanis und Dr. Arturs Zˇvinklis, alle Riga. Ebenfalls unterstützten Dr. Peter Wörster, Dokumentesammlung des HerderInstituts Marburg, und Detlef Henning, M.A., Nordost-Institut Lüneburg, das Vorhaben. Dieses Buch wurde – wie fast alle meine Schriften – von Susan Eckardt sowie dazu von Raphaela Kasprzok Korrektur gelesen, wobei alle noch verbliebenen

10

Vorwort

Fehler meiner Unaufmerksamkeit geschuldet sind. Schlussendlich konnte dank eines Zuschusses der neuen »Mainz University Press« dieses Werk bei V& R unipress erscheinen. Allen Genannten gilt mein herzlicher Dank! Benjamin Conrad Mainz, im März 2016

1

Einleitung

1.1

Fragestellung und Begriffsdefinitionen

»Ich bin ein polnischer Bürger und stütze mich auf die Verfassung unseres Staates, ich sage deutlich: u n s e r e s Staates […]« entgegnete der deutsche Parlamentarier Artur Kronig am 21. Juni 1924 auf Zwischenrufe polnischer Abgeordneter, die ihn für die deutsche Polenpolitik verantwortlich gemacht hatten und in ihm einen Repräsentanten des Deutschen Reiches sahen. Nachdem ein weiterer Zwischenrufer bemängelt hatte, dass seine Rede aber nicht die eines loyalen Bürgers gewesen wäre, erwiderte Kronig, der sich immerhin im November 1918 freiwillig zur polnischen Armee gemeldet hatte und bis zum Offizier befördert worden war : »Ich bin sehr wohl ein loyaler Bürger, sogar viel loyaler als Sie und andere, weil Sie sich nicht von den Prinzipien des Staates, sondern vom Prinzip des Nationalismus leiten lassen und damit den Staat zu Grunde richten werden.«1 Die in diesem Zitat aufgeworfene Frage nach der Loyalität der deutschen Minderheit als imaginäres Kollektiv gehörte zu den oft erörterten Fragestellungen. Wurde die Loyalität der deutschen Minderheit der Zwischenkriegszeit vor allem von polnischen Historikern während der Volksrepublik abgestritten,2 so bemühten sich umgekehrt deutsche Historiker, ebendiese Loyalität prinzipiell nachzuweisen.3 Weil die meisten Autoren selbst Zeitzeugen der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs gewesen waren, dürfte bei manchem Werk nicht nur das Erkenntnisinteresse im Vordergrund gestanden haben, 1 I. Sejm, 134. Sitzung (21. 06. 1924), S. 10. Wortlaut der Zitate im Original: »Ja jestem obywatelem polskim i opieram sie˛ na Konstytucji naszego Pan´stwa, mjwie˛ wyraz´nie: n a s z e g o Pan´stwa, […].« »Owszem jestem lojalnym obywatelem, nawet wie˛cej lojalnym niz˙ Pan i inni, bo Panowie kieruja˛ sie˛ nie zasadami pan´stwowemi, lecz zasada˛ nacjonalizmu i tem zgubicie pan´stwo.« Balling, Handbuch, S. 207. 2 So Ajnenkiel, Historia, S. 139. Zum Nationsbegriff Anderson, Erfindung der Nation, S. 14–17. 3 So Heike, Deutschtum, S. 88f. Ders., Minderheit, S. 423–438. Ebenso in englischer Sprache Horak, Poland, S. 107.

12

Einleitung

sondern auch die Rechtfertigung der Politik des eigenen Staates. Wer als polnischer Historiker die diskriminierenden Maßnahmen der polnischen Regierung als eher gerechtfertigt ansah, der benötigte a priori – vor allem aus der Schlussperspektive des Jahres 1939 – eine illoyale Minderheit. Wer als deutscher Historiker vor allem die minderheitenfeindliche Politik der polnischen Regierung für das schlechte Verhältnis verantwortlich machte, postulierte eine grundsätzlich dem polnischen Staat gegenüber aufgeschlossene deutsche Minderheit. Diese Forschungen blieben, wie jüngst Ingo Eser konstatierte, ohne konsensuales Ergebnis.4 Als Ausweg aus dieser unbefriedigenden Loyalitätsdebatte wird von der neueren Forschung das Fragen nach Chancen und Möglichkeiten, also nach integrativen und desintegrativen Faktoren, vorgeschlagen.5 Dieser Ansatz, dem auch diese Studie folgt, ist deshalb überzeugend, weil die Frage einer Identifikation mit dem Staat über einen Zeitraum von 20 Jahren in der Zwischenkriegszeit Wandlungen unterlag, die es zu herausarbeiten gilt. Des Weiteren schafft der Ansatz die Möglichkeit, in Teilen den kollektiven Zugriff auf Nationalitäten aufzubrechen, der jahrzehntelang die Forschung dominierte. Anstatt Kollektive wie »die Deutschen« in Lettland oder Polen zu verabsolutieren, muss die Perspektive auf Strömungen und Gruppierungen sowie auf einzelne, prägende Akteure gerichtet werden, ohne dabei den zeitgenössisch ausgesprochen wichtigen Loyalitätsbegriff als Ganzes außer Acht zu lassen. An diesem Punkt möchte die nachfolgende Studie ansetzen. Sie versteht sich als Beitrag zur Erforschung der fragilen Zwischenkriegszeit. Dieser in der Forschung nach wie vor von erheblichen Kontroversen geprägte Zeitabschnitt6 weist nach wie vor eine ganze Reihe von Forschungslücken auf. Typisch ist auch eine gewisse Ignoranz der Regionen Ostmittel- und Südosteuropa in vergleichenden internationalen Forschungen, sei es zur Demokratie,7 zur Sozialgeschichte oder zum Nationalismus.8 Der Fokus des vorliegenden Werkes liegt auf den Loyalitäten, den Identitäten und den Politikfeldern der deutschen Parlamentarier im Polen und Lettland der Zwischenkriegszeit, kombiniert mit der Frage, inwiefern diese Felder einem Wandel unterworfen waren. Eine Vertretung der deutschen Minderheiten durch 4 Eser, Schulwesen, S. 15. Ähnlich bereits 1992 Kotowski, Lojalizm, S. 63. 5 Eser, Schulwesen, S. 16f. Seewann, Mehrheits- und Minderheitsstrategien, S. 23. Vgl. zu Polen und seinen Parlamentariern der Minderheiten auch Stach, Minderheitenpolitik, S. 407f. 6 Vgl. allein die 2015 im deutschsprachigen Raum erschienen ganz unterschiedlichen Rezensionen zum Synthetisierungsversuch von Tooze, Sintflut. 7 Vgl. als Beispiel den Sammelband Müller, Tooze, Normalität, in dem unter zwölf europäischen Fallbeispielen im zweiten Kapitel lediglich der Tschechoslowakei stellvertretend für die ostmitteleuropäischen Länder Platz eingeräumt wird. 8 So Iriye, Osterhammel, Geschichte der Welt, Bd. 5. Raphael, Theorien.

Fragestellung und Begriffsdefinitionen

13

Abgeordnete bestand in Lettland 1918–1934 und in Polen im Sejm 1919–1935. Trotz der sehr unterschiedlichen Größe dieser beiden damals in unmittelbarer Nachbarschaft befindlichen Staaten lässt die gleiche prozentuale Größe der jeweiligen deutschen Minderheit, die gleiche Situation der eher ungewollten Zugehörigkeit zum neuen Staat, eine ähnlich starke Abwanderung der deutschen Bevölkerung – die verbliebenen Deutschen waren nur ein Teil derjenigen, die 1914 im jeweiligen Gebiet gewohnt hatten – und die Tatsache, dass die Deutschen im jeweiligen Vorgängerstaat aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die herrschende Oberschicht bildeten oder mitbildeten, einen Vergleich sinnvoll erscheinen. Einerseits waren die Jahre ab 1918 sowohl in Polen als auch in Lettland von einer für den ostmitteleuropäischen Raum noch nie gekannten Demokratisierung geprägt. Andererseits barg die auf den Ersten Weltkrieg folgende Pariser Ordnung Herausforderungen in sich, die in beiden Staaten nach eher kurzen Zeiträumen die demokratischen Systeme zusammenbrechen ließen. Dies geschah entweder allmählich, wie in Polen 1926–1930, oder auf einen Schlag, wie in Lettland 1934.9 Ziel dieses Buches ist die Untersuchung einer Gruppe, die sich durch ihre politische Leitungsfunktion auszeichnete. Die Mitglieder dieser Gruppe einte die Konfrontation mit einer neuen politischen Ordnung. Ihr gemeinsames politisches Ziel bestand darin, den Grundsatz – nach Paul Schiemann, dem Vorsitzenden der deutschen Fraktion in Lettland – »cuius regio, eius natio«10 zu verhindern, mit anderen Worten gegen die Durchsetzung des für Ostmitteleuropa atypischen, aber von vielen Nationalisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts angestrebten homogenen Nationalstaates politisch vorzugehen.11 Loyalität, so wird gerade in der jüngsten Forschung betont, bedeutete in der Zwischenkriegszeit nicht eine positive Grundhaltung gegenüber dem Staat, sondern lediglich die Unterordnung unter die herrschenden Verhältnisse und den Verzicht darauf, diese mit Gewalt zu ändern.12 Mit Peter Haslinger wird dieser Loyalitätsbegriff der Einhaltung bestehender Gesetze und der Akzeptanz der staatlichen Souveränität auch in diesem Buch verwendet. Diese Loyalität darf nicht mit »Patriotismus«, also einer über das Einhalten von Gesetzen weit hinausreichenden positiv-aktivistischen Grundhaltung zum Staat, verwechselt werden – obwohl gerade Letzterer in der Erforschung erhebliche Probleme nach 9 Kaelble, Wege, S. 51–58. Wirsching, Verfassung, S. 375–378. 10 Zit. nach Garleff, Minderheitenvertreter, S. 121. Ähnlich Hiden, Verband, S. 298f. 11 Vgl. zur vermeintlichen, faktisch aber unzutreffenden Universalität des Nationalstaatsgedankens Gellner, Nationalismus, S. 20–31, 79–81. Vgl. grundsätzlich zur Problematik der Unfähigkeit von Parlamenten im 19. und 20. Jahrhundert nationale Konflikte zu lösen Prunk, Rangus, Ohnmacht. 12 Eser, »Loyalität«, S. 19–22. Ders., Schulwesen, S. 16. Luchterhandt, Legalität, S. 186.

14

Einleitung

sich zieht, da er auch nur vorgetäuscht werden konnte.13 Wichtige Forschungsfelder in diesem Bereich sind die Erforschung eines Wandels von Loyalitäten und die symbolische Zurschaustellung oder Nichtzurschaustellung derselben, auch unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen staatlichen Minderheitenpolitik.14 Gerade die Erforschung der symbolischen Manifestation von Geisteshaltungen hat in jüngster Zeit in der Forschung zurecht an Bedeutung gewonnen.15 Trotz gewisser Einschränkungen ist diese Loyalitätsdefinition in Kombination mit der Erforschung der Identitäten der Abgeordneten erfolgversprechend, da sie auf die zeitgenössisch benutzten Schemata rekurriert.16 Mit Jürgen Straub wird der schwierig zu konturierende, schemenhaft bleibende Begriff der Identität17 im Singular als »[…] jene Einheit und Nämlichkeit einer Person [aufgefasst], welche auf aktive, psychische Synthetisierungs- oder Integrationsleistungen zurückzuführen ist, durch die sich die betreffende Person der Kontinuität und Kohärenz ihrer Lebenspraxis zu vergewissern sucht.«18 Die Frage der Identität ist im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eng mit dem Konzept der Nationalität verknüpft. Bei aller Fragwürdigkeit, Staatsbevölkerungen vorrangig nach diesem Kriterium zu unterteilen und den Betroffenen damit ein nicht notwendigerweise vorhandenes dementsprechendes Bewusstsein zu unterstellen,19 herrschte im Hinblick auf die Nationalität bei den deutschen Parlamentariern – anders als bei anderen Nationalitäten – eine klare Selbstzuschreibung: Sowohl die einzelnen Abgeordneten als auch ihre Fraktionen und Parteien traten stets mit dem Zusatz »deutsch« auf. In Lettland gab es dazu noch eine individuelle Note, da sich die Parlamentarier für die Erstellung des Registers einer Nationalität (tautı¯ba) zuordnen mussten. Dieser Forderung kamen alle deutschen Abgeordneten nach und gaben konsequent »Deutscher« (va¯cietis) an.20 13 Eser, Schulwesen, S. 16. Haslinger, Loyalitäten, S. 47–49. 14 Luchterhandt, Legalität, S. 192f. Schulze Wessel, Loyalität, S. 2f, 9, 11. 15 Vgl. dazu, auch mit dem Hinweis auf Forschungsdesiderate im osteuropäischen Raum Schulz, Wirsching, Parlament, S. 13f, 16–20. Haas, Wende, S. 39–42. 16 Vgl. die Loyalitätsdiskussion bei Wachtsmuth, Gesicht, S. 364f. 17 Vgl. zur Definitionsproblematik Hösler, Identität, S. 186–189. Straub (Hg.), Erzählungen. Assmann, Friese (Hg.), Identitäten. 18 Straub, Identität, S. 75. 19 Vgl. zu dieser Problematik Brubaker, Ethnizität, S. 16–19. Hösler, Identität, S. 201–210. 20 Vgl. Latvijas Tautas Padomes stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js. Latvijas Satversmes Sapulces stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js. I.–IV. Saeima. Die gesamte Arbeit orientiert sich an diesen Angaben, auch bei den anderen Nationalitäten. Dies hat zur Konsequenz, dass der orthodoxe Erzbischof Lettlands, Ja¯nis Pommers, als Lette geführt wird. Pommers gehörte in seiner Zeit meist Gruppen oder Fraktionen der russischen Abgeordneten an, vertrat die Interessen der orthodoxen Russen Lettlands und wurde allgemein auch als »russischer« Abgeordneter wahrgenommen. Da diese Arbeit allerdings vorrangig den Sprachgebrauch und die nationale Selbstzuschreibung als Maßstab nimmt, wird Pommers, anders als in den Werken Wachts-

Forschungsstand, methodische Überlegungen und Vorgehensweise

15

Von Identitäten muss deshalb im Plural gesprochen werden, weil die Kategorie »deutsch« keinesfalls zur Beschreibung des hier behandelten Personenkollektivs ausreicht. Die gewählten Abgeordneten unterschieden sich, wie zu zeigen sein wird: Für einige galt die Loyalität nahezu ausschließlich der deutschen Volksgruppe als dem genannten imaginären Kollektiv, weshalb Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Staat manchmal Worthülsen blieben und sich zudem Verweigerungshaltungen zeigten. Sehr wohl gab es unter den 47 gewählten Abgeordneten – allesamt Männer – aber auch hybride Loyalitäten zwischen eigener Volksgruppe und dem Staat, die sich vor allem bei oppositioneller Haltung zum aufkommenden Nationalsozialismus zeigen sollten. Eine vollständige Untersuchung der Politik der Parlamentarier unter Berücksichtigung des nunmehr seit gut 20 Jahren in der Forschung geführten Identitätsdiskurses würde den Rahmen der hier vorliegenden Studie sprengen. Deshalb beschränkt sie sich auf den Teil der Identität, die sich in parlamentarischen Reden zeigte. Eine genauere prosopografische Erforschung unter Zuhilfenahme von Ego-Dokumenten und anderen Quellen aus den Nachlässen, Partei- und Vereinsarchiven sowie den Überlieferungen staatlicher Einrichtungen, die hier nur kursorisch erfolgen konnte, stellt ein Desiderat der Forschung dar. Im Bereich der Identität der Parlamentarier als solcher stehen Fragen im Vordergrund, die das Selbstverständnis betrafen. Welchen Stellenwert genoss eine Parlamentswahl und mit welchen Strategien nahmen deutsche Parteien und Gruppierungen an Wahlen teil? Wie verhielten sie sich im Parlament gegenüber Wahlen in Ämter innerhalb der Legislative sowie der Exekutive? Welche vorrangigen Politikfelder lassen sich aufgrund ihrer Aktivitäten benennen?

1.2

Forschungsstand, methodische Überlegungen und Vorgehensweise

Grundlegend für die politische Geschichte der Deutschbalten in Lettland ist das 1951–1953 erschienene, dreibändige Werk »Von deutscher Arbeit in Lettland 1918–1934« von Wolfgang Wachtsmuth und darin besonders der dritte, abschließende Band.21 Wachtsmuth war von 1920–1934 vom ersten bis zum letzten Tag in der Verwaltung des deutschen Bildungswesens (V. d.Bw.) Lettlands tätig, seit 1929 als Leiter ebendieser V. d.Bw. Das Manuskript für sein Werk fertigte er muths und Garleffs als Lette geführt, da er bei seiner Volkszugehörigkeit stets »Lette« (latvietis) angab und stets das Lettische – seine Muttersprache – gebrauchte. 21 Zit. als Wachtsmuth, Gesicht.

16

Einleitung

1936–193922 noch in Lettland an. Die Drucklegung erfolgte jedoch trotz mehrmaliger Anläufe während des Krieges nicht mehr. Das 1951–1953 erschienene Werk stellt eine verkürzte Ausgabe dar. Die erhaltenen Manuskripte der ausführlichen Fassung verwahrt die Dokumentesammlung des Herder-Instituts in Marburg.23 Entgegen Wachtsmuths Annahme, dass ein 1939 in Riga zurückgelassenes Manuskript »verloren« wäre,24 ist auch dieses zumindest in seinem politikhistorischen Teil, inventarisiert im Historischen Staatsarchiv Lettlands unter dem aus der Sowjetzeit stammenden Titel »Abriss über die Tätigkeit des Komitees in der Zeit der Wahlen des bourgeoisen Lettland (dt.)«25, der interessierten Öffentlichkeit zugänglich. An Wachtsmuths quellenreichem Werk, das sich sowohl aus seiner regelmäßigen Partizipation an den politischen Entscheidungen – so war er 1920–1934 regelmäßig bei den Sitzungen des »Ausschusses der deutsch-baltischen Parteien« (A.P.) zugegen –26 als auch aus seinem Quellenstudium der Jahre 1936–1939 speist, wird die Geschichtswissenschaft auch künftig nicht vorbeikommen. Aufgrund seiner eigenen Tätigkeit in der V. d.Bw. und seinem Amt als Vorstandsmitglied der »Deutsch-baltischen Volksgemeinschaft« – worauf noch eingegangen wird – muss Wachtsmuths Werk jedoch in Teilen als Traditionsquelle eingeordnet werden. So begreift Wachtsmuth die Entstehung der Republik Lettland als Ergebnis der »baltischen deutschen Katastrophe«27, gemeint ist die Niederlage der Landeswehr in der Schlacht von Wenden im Juni 1919. Zudem kommt sein Werk aufgrund seiner eher ablehnenden Haltung gegenüber der parlamentarischen Demokratie28 und der Unterstellung eines insgeheim beständig verfolgten nationalistischen Programms durch die Letten, insbesondere bei Ka¯rlis Ulmanis,29 zu Urteilen, die überprüft werden müssen. Darüber hinaus kürzte er für die dreibändige Ausgabe der 1950er Jahre die Zeit 1933–1934 stark.30 Das Werk Wachtsmuths ist demnach bei aller Leistung des Autors mit Zurückhaltung zu lesen, ebenso manche Publikationen anderer Autoren. So 22 23 24 25

26 27 28 29 30

Wachtsmuth, Wege, S. 252–254. Herder-Institut, Depositum Wachtsmuth. Wachtsmuth, Erinnerungen, S. 253. Obzor o dejatel’nost’ komiteta v period vyborov burzˇ. Latvii (nem.) [fortan: Wachtsmuth, Manuskript], in: Latvijas valsts ve¯stures arhı¯vs [fortan: LVVA], f. 2626, a. 1, l. 44. Der in den 1980er Jahren von einem sowjetischen Archivar vergebene Titel deutet auf die Unkenntnis des 1951–1953 in Köln erschienenen Werkes von Wachtsmuth hin. Sitzung des Ausschusses der deutsch-baltischen Parteien (12. 03. 1931), in: Herder-Institut, Depositum Wachtsmuth, Protokollnotizen Schoelers [fortan: DWPS], Sign. 3, 1931, S. 7. Wachtsmuth, Wege, S. 229. Wachtsmuth, Gesicht, S. 85. Vgl. Wachtsmuth, Volksgemeinschaft, S. 75. Vgl. ebenso Protokoll der Sitzung des Hauptvorstandes der Db. Volksgemeinschaft (07. 05. 1934), in: IKGN, Sammlung. Vgl. Wachtsmuth, Gesicht, S. 68–71. Kause, Schiemann, S. 38.

Forschungsstand, methodische Überlegungen und Vorgehensweise

17

rechtfertigte Jürgen v. Hehn noch 1957 den Putsch des 15. Mai 1934 ganz im Sinne Ulmanis’ als »Antwort des Bauernbundes auf die Unfähigkeit der politischen Parteien und der Saeima, die Staatskrise durch eine rechtzeitige Reform zu beenden.«31 Die notwendige wissenschaftliche Distanz hielt dagegen die 1976 erschienene Dissertation von Michael Garleff ein.32 Dieses Werk ist in vielerlei Hinsicht, v. a. in der Bearbeitung der schweren Auseinandersetzungen im Bereich des kirchlichen Lebens, als Standardwerk einzuordnen. Problematisch an Garleffs Werk, das immerhin den Untertitel »Die parlamentarische Tätigkeit der deutschbaltischen Parteien in Lettland und Estland« trägt, ist allerdings, dass Garleff die Stenogramme der lettischen Parlamente nicht zur Kenntnis nahm, teilweise aufgrund der damaligen politischen Situation und der schlechteren technischen Möglichkeiten auch nicht zur Kenntnis nehmen konnte. Garleff stützt sich daher auf Wachtsmuth, die »Rigasche Rundschau« und nach Deutschland mitgenommene Nachlässe. Zwar sind die »Rigasche Rundschau«, die wichtigste deutsche Zeitung Lettlands mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren, sowie die »Libausche Zeitung«, das zweitgrößte deutschsprachige Presseerzeugnis mit 2.000 Exemplaren, von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit.33 Aufgrund der Beschränkung bei der Quellenauswahl unterliefen Garleff jedoch Fehler, so bei der Nationalitätenzählung: Anstatt aus den Stenogrammen die Selbstzuschreibungen baltkrievs, krievs, latvietis/latviete, lietavietis, va¯cietis und zˇids (Weißrusse, Russe, Lette/ Lettin, Litauer, Deutscher und Jude) zu übernehmen, legt Garleff nur dann eine nichtlettische Nationalität zugrunde, wenn in einem Partei- oder Fraktionsnamen explizit auf eine solche Nationalität Bezug genommen wird.34 Abgeordnete wie der russische Kommunist Leonid Ersˇov oder der weißrussische Sozialdemokrat Vladimir Pigulevskij, für deren politische Richtung nur eine übernationale, lettlandweite Partei bestand, wurden so von Garleff unzutreffend als Letten eingestuft. Wie in Lettland hatten auch für Polen zunächst Zeitzeugen einschlägige Werke verfasst, für die an dieser Stelle stellvertretend der Sozialdemokrat Otto Heike genannt sei.35 Zu den ersten historiografischen Werken gehörten im Anschluss die Studien des 1968 aus der Volksrepublik Polen emigrierten Paweł

31 Hehn, Lettland, S. 39. 32 Zit. als Garleff, Politik. Genau den gleichen Themenzuschnitt bietet in polnischer Sprache Topij, Mniejszos´c´. Einzelstudien jüngeren Datums lieferten u. a. Bernhard Böttcher, Raimonds Ceru¯zis, Detlef Henning, John Hiden und Hele¯na Sˇimkuva. 33 Topij, Mniejszos´c´, S. 276f. 34 Vgl. dazu die entsprechende Tabelle bei Garleff, Politik, S. 164. 35 Zit. als Heike, Deutschtum. Ders., Arbeiterbewegung. Ders., Minderheit.

18

Einleitung

Korzec aus den 1970er Jahren über die Minderheitenblöcke.36 Weitere Forschungsarbeiten mit Bezug zum Thema leisteten Richard Blanke, Albert S. Kotowski, Beata Lakeberg und zuletzt Ingo Esers umfangreiche Studie über das deutsche Schulwesen in Polen.37 Im 21. Jahrhundert sind gleich zwei Gesamtdarstellungen der Arbeit der deutschen Parlamentarier 1919–1935 in polnischer Sprache vorgelegt worden. Die erste erschien im Jahr 2000 aus der Feder Janusz Fałowskis mit dem Titel »Parlamentarzys´ci mniejszos´ci niemieckiej w Drugiej Rzeczypospolitej« (Die Parlamentarier der deutschen Minderheit in der Zweiten Republik). Es handelt sich dabei um ein chronologisch verfasstes Werk mit einem ausgesprochen gelungenen tabellarischen Anhang. Das zweite Werk ist eine 2014 von Przemysław Hauser vorgelegte Studie mit dem Titel »Przedstawiciele mniejszos´ci niemieckiej w parlamencie II Rzeczypospolitej« (Die Vertreter der deutschen Minderheit im Parlament der II. Republik). Dieses unterteilt nach Legislaturperioden und geht dann Einzelfragen nach. Hauser begründet die Notwendigkeit einer zweiten Monografie nach nur 14 Jahren damit, dass das Werk Fałowskis fast ausschließlich polnische Quellen zur Kenntnis genommen habe.38 Das Werk Hausers ist zeitlich parallel zu dem hier vorliegenden Werk entstanden. Trotz eines kurzen Zusammentreffens der beiden Autoren am 26. Juni 2012 in der Adam-Mickiewicz-Universität zu Posen, der Heimatuniversität Hausers, sind beide Bücher in wechselseitiger Unkenntnis und damit voneinander unabhängig entstanden. Obwohl beide Autoren nicht derselben Generation angehören, zeigt sich, dass sich die früher so markanten Unterschiede in der Bewertung der Vergangenheit zwischen polnischen und deutschen Autoren nivelliert haben. Gesamtdarstellungen zu osteuropäischem deutschen Minderheiten-Parlamentarismus gibt es nur in wenigen Bereichen: Von erheblicher Bedeutung für den statistisch-biografischen Zugang ist das 1991 erschienene zweibändige Handbuch der deutschen Parlamentarier von Mads Ole Balling, das nur geringe 36 Zit. als Korzec, Block 1922. Ders., Zweiter Block. 37 Manche Studien enthalten grobe Fehler. So behauptet Chu, Minority, S. 80, dass bei der Wahl zum Verfassungsgebenden Sejm 1919 acht deutsche Abgeordnete gewählt worden wären, wobei sechs aus Pommerellen erst nach der Übergabe der Abtretungsgebiete im Sejm hätten mitarbeiten dürfen. Dies suggeriert dem Leser, dass schon vor Abtritt Pommerellens, also zu einem Zeitpunkt, als das Gebiet noch zum Deutschen Reich gehört hat, die Wahl zum Verfassungsgebenden Sejm stattgefunden hätte. Zutreffend ist dagegen, dass am 26. Januar 1919 nur zwei deutsche Abgeordnete aus Zentralpolen gewählt worden waren, während diejenigen sechs aus Pommerellen erst in einer Nachwahl am 2. Mai 1920 bestimmt wurden, also Monate nach der im Januar und Februar 1920 erfolgten Übergabe des Gebiets an Polen. 38 Zit. als Fałowski, Parlamentarzys´ci. Hauser, Przedstawiciele, S. 10. Stach, Minderheitenpolitik, S. 406, betont zurecht, dass daneben vier andere neuere Studien über die jüdischen und ukrainischen Abgeordneten Forschungslücken in erheblichem Ausmaße geschlossen haben – wenn auch nur in polnischer Sprache.

Forschungsstand, methodische Überlegungen und Vorgehensweise

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Fehler aufweist und deshalb breite Rezeption in der Forschung gefunden hat.39 Einen ersten Schritt, die statistisch-biografischen Zugänge Ballings vergleichend zu verwerten, stellt der in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Buch 2015 erschienene Tagungsband zu Möglichkeiten und Strategien deutscher Parlamentarier in der Zwischenkriegszeit dar.40 2010 war zudem ein von Dieter Nohlen und Philip Stöven herausgegebenes Sammelwerk mit dem Ziel der Auflistung aller Wahlen auf nationaler Ebene weltweit erschienen, das allerdings nur im Lettland-Teil – von gewissen Mängeln abgesehen – verwendbar ist.41 Der Abschnitt über Polen ist dagegen von einer Ignoranz des Parteiwesens der Minderheiten geprägt, so dass sich eine Zitation verbietet.42 Als zentraler Quellenkorpus dieses Werkes werden die Stenogramme der beiden Parlamente herangezogen, da diese – wie auch nicht anders zu erwarten – für die Erforschung des deutschbaltischen Parlamentarismus in beiden Ländern von erheblichem Quellenwert sind. Damit schließt dieses Buch eine Forschungslücke, da die Stenogramme für Lettland bislang trotz ihrer Bedeutung lediglich von Wachtsmuth und für Polen nur von Korzec und Fałowski benutzt worden sind. Bereits Wachtsmuth erkannte methodisch den Wert einer Wortmeldungszählung und fertigte eine solche – mit Fehlern – an, um sie aber schlussendlich in der gekürzten dreibändigen Ausgabe nur an einer eher unbedeutenden Stelle in sein Werk einfließen zu lassen.43 Unkritisch wurde seine Statistik bei Garleff und Topij zitiert.44 Das zentrale Problem an Wachtsmuths Zählung stellt die Tatsache dar, dass er jede freie Wortmeldung einfach, einen Redebeitrag als Gesetzesreferent – also als Abgeordneter, der vor dem Plenum im Auftrag eines Ausschusses ein Gesetzesprojekt einbrachte – dagegen nur je einmal pro Sachthema zählte. Diese Schlechterstellung der Gesetzesreferate erklärt er nicht. Sie wäre auch sachlich kaum zu begründen, da beide Formen der Wortmeldung sowohl nur aus einem Satz als auch aus einer längeren Rede bestehen konnten. Da bei Gesetzesreferaten die Benutzung des Lettischen Pflicht war, zeigt aber gerade dieser Teilaspekt des lettischen Parlamentarismus den Spracherwerb der Minderheitenabgeordneten und ist daher über die vorgetragenen Inhalte hinaus von erheblichem Quellenwert. Zudem machte Wachtsmuth unbegründete Ausnah39 Zit. als Balling, Handbuch. 40 Conrad, Maner, Kusber (Hg.), Parlamentarier. In diesem Sammelband wurden die deutschen Parlamentarier in Polen vollständig und die in Lettland weitgehend außen vor gelassen, da sie in dieser Monografie abgehandelt werden. 41 Zit. als Pabriks, Valtenbergs, Latvia. 42 Materska-Sosnowska, Poland. 43 Wachtsmuth, Gesicht, S. 245. Die vollständige Statistik findet sich in Wachtsmuths unveröffentlichtem, langem Manuskript, vgl. Just, Arbeit, Bd. I, S. 716–721. 44 Garleff, Politik, S. 196. Topij, Mniejszos´c´, S. 118.

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Einleitung

men: Das Gesetzesreferat Alslebens während der II. Saeima, bestehend aus zwei Wortmeldungen,45 zählte er als zwei Reden. Die hier vorliegende Studie liefert dagegen durch eine nahezu vollständige statistische Auswertung aller Stenogramme beider Länder zahlreiche neue Informationen. Zu den erhobenen Daten zählen die Wortmeldungen vor dem Parlament – in Lettland verbunden mit Art des Auftritts und der Wahl der Sprache –, die Partizipation in Ausschüssen und im Parlamentsvorstand, das Abstimmungsverhalten bei Präsidentenwahlen und bei Abstimmungen über Regierungen. Für Polen lässt sich zusätzlich noch die Teilnahme sowie das Verhalten bei namentlichen Abstimmungen erheben.46 Ein – wenn auch geringfügiges – quellenkritisches Problem ist, dass die Qualität der Stenogramme beider Länder, vor allem in Lettland, in den ersten Monaten nach der Staatsgründung nicht das gleiche Niveau wie beispielsweise das der »Verhandlungen des Reichstags« erreicht. Die Abbildungen 1 und 12 vermitteln einen Eindruck, warum dies so war : Die beengten Verhältnisse aus den Anfangstagen des lettischen und polnischen Parlamentarismus erinnern daran, dass weder in Riga noch in Warschau ein von vornherein für Parlamentszwecke vorgesehenes Gebäude vorhanden war. In Lettland kam als praktisches Problem die Dreisprachigkeit hinzu, die anfangs dazu führte, dass auf Deutsch oder Russisch gehaltene Beiträge nur als kurze Zusammenfassung, nicht aber dem Wortlaut nach, in lettischer Sprache abgedruckt wurden.47 Die Defizite wurden durch die Verwaltungen der Parlamente erkannt und beseitigt, wobei dieser Professionalisierungsschub in Polen nur wenige Monate benötigte. In Lettland erfolgte er dagegen schrittweise über die Jahre. Das Stenogramm als Quelle kennt noch andere Grenzen: Selbstverständlich waren in beiden Parlamenten das Abstimmungsverhalten mit Ausnahmen geheim. Dennoch war es Brauch, dass Zeitungen – gerade in Lettland, wo durch die Person Paul Schiemanns eine enge Verbindung zwischen Parlament und Presse bestand – die Leserschaft in der Presse über das Verhalten sowohl der deutschen als vielfach auch der anderen Abgeordneten informiert hielten. Deshalb muss der Quellenkorpus Stenogramm wieder und wieder wechselseitig mit dem Quellenkorpus Presse abgeglichen werden. Begrifflich werden in diesem Buch die aus der deutschen parlamentarischen Tradition stammenden Termini »Fraktion« für eine Parlamentsfraktion und »Gruppe« für einen parlamentarischen Zusammenschluss, der die Mindestzahl an Abgeordneten für eine Fraktionsbildung nicht erreichte, verwendet. Diese 45 II. Saeima, IV. Session, 16. Sitzung (30. 11. 1926), S. 762f, 765f. 46 Für Polen zählte jüngst auch Hauser, Przedstawiciele, S. 90, 215, 279f, 348, wenn auch nicht immer gründlich. 47 Vgl. Conrad, Mehrsprachige Parlamente, S. 118–121, bes. S. 121. Die dort genannten geringen methodischen Einschränkungen gelten ebenso für dieses Werk.

Forschungsstand, methodische Überlegungen und Vorgehensweise

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strenge Begriffswahl erleichtert dem Leser die Vergleichbarkeit und Lesbarkeit. Im zeitgenössischen Lettisch existierte zwar der Fraktionsbegriff, aber die parlamentarischen Zusammenschlüsse der Abgeordneten waren nicht verpflichtet, diesen zu übernehmen. So nannten sich die Fraktionen apvienı¯ba und savienı¯ba (Bund, Vereinigung), bloks, frakcija, organiza¯cija oder partija. Ganz ähnlich in Polen, wo ebenfalls die Begriffe frakcja, klub oder zwia˛zek (Bund) ohne jedweden Bezug zur Fraktionsgröße kursierten. Ein weiteres begriffliches Problem ist die Verwendung des klassischen Linksrechts-Schemas, da Minderheitenparteien oft als außerhalb desselben stehend betrachtet wurden. Bezüglich der Sitzordnungen verursachte dies manchmal eine bemerkenswerte Mobilität: Während die deutsche Fraktion im ersten SejmGebäude in Warschau 1922–1927 fast ganz links saß (Abb. 13), so fand sie im neuen Sejm-Gebäude 1928–1930 fast ganz rechts Platz (Abb. 17). Konträr zu der oben genannten Wahrnehmung durch die Mehrheitsnationalität war zeitgenössisch allerdings innerhalb der deutschen Minderheiten sehr wohl eine Selbstverortung innerhalb des Links-rechts-Schemas zu beobachten. So wurden beispielsweise diejenigen Deutschbalten, die der Republik Lettland ablehnend gegenüberstanden, in den Jahren der Staatsgründung »altbaltisch« oder »rechts« genannt, während diejenigen Deutschbalten, die sich auf die Grundlage der Republik stellten, als »jungbaltisch« oder »links« bezeichnet wurden.48 Auf Grundlage der Forschungen Rogers Brubakers bezieht diese Studie im Sinne des von ihm postulierten Triadic Nexus auch die außenpolitische Konstellation teilweise mit ein. In diesem Nexus ist neben dem Staat und seiner Minderheit als dritte Kraft ein anderer Staat – sofern vorhanden – einzubeziehen, in dem die Minderheit die Mehrheitsnationalität darstellt. Im Falle der deutschen Minderheiten in Lettland und Polen handelt es sich bei diesem staatlichen Akteur um das Deutsche Reich, das trotz seines erheblichen Machtverlustes durch den Versailler Vertrag derjenige Staat war, der »seine« Minderheiten in beiden Ländern am stärksten unterstützte. Die Sowjetunion konnte und wollte dagegen nur sehr bedingt Einfluss auf die russischen, weißrussischen und ukrainischen Minderheiten in beiden Staaten nehmen. Beide Staaten, vor allem aber Polen, waren dabei nationalisierende Staaten im Sinne eines dynamischen Prozesses – bei allen Unterschieden der Entwicklung im Detail.49 Diese Gesamtkonstellation bedeutete wiederum, dass die aus der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ererbten Konfliktfelder im Kontext der Nationsbildung vollumfänglich weiter bestanden, nun48 Garleff, Politik, S. 21–25. Wachtsmuth, Gesicht, S. 27. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 36f. 49 Brubaker, Nationalism, S. 55–69. Hroch, Studies, S. 201f. Seewann, Mehrheits- und Minderheitsstrategien, S. 15f.

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Einleitung

mehr verlagert auf die internationale Ebene zwischen dem Deutschen Reich einerseits und Lettland oder Polen auf der anderen Seite. Typischerweise handelte es sich bei den Konfliktfeldern um Fragen der Grenzen des nationalen Staates, der Schul- und Amtssprachen, der Besetzung des öffentlichen Raums durch Straßen- und Ortsnamen sowie durch Denkmäler und andere ikonografische Elemente. Dazu kam der Kampf um die Deutungshoheit im Bereich der Geschichtsschreibung.50 Weitgehend ausgeklammert bleibt in diesem Werk hingegen die bereits gut erforschte internationale Ebene bezüglich der Beteiligung deutscher Abgeordneter an Petitionen und Anfragen an den Völkerbund. Dieses Themenfeld ist vor allem für Polen relevant, da es mit 318 von 1.237 solcher Verfahren international am stärksten betroffen war. Gegen Lettland gab es dagegen lediglich 25 Prozesse.51 Die Studie behandelt zuerst Lettland, dann Polen. Nach knappen Einführungen werden das jeweilige deutsche Parteiwesen, des Weiteren die Partizipation in den Parlamenten und Parlamentspräsidien, schließlich das Verhalten bei Präsidentenwahlen und bei Regierungsbildungen diskutiert. Anschließend folgt im Bereich der Interessen und Politikfelder nach parlamentarischen Erörterungen der Loyalitätsfrage eine Beschäftigung mit der Politik der deutschen Abgeordneten in den Politikfeldern Schulwesen, Sprachenfrage und Kulturautonomie, Agrarfrage und kirchliche Angelegenheiten. Die unterschiedlichen Grade der Integration sowie der Mitarbeitsmöglichkeiten der deutschen Parlamentarier in Lettland und in Polen lassen sich so aufzeigen. Die untersuchten Themen begründen sich aus dem Quellenkorpus: Es handelt sich um solche, die die deutschen Abgeordneten selbst häufig aufgriffen. Jedes der beiden Hauptkapitel schließt mit einem ausführlichen Schluss, aus dem einige pointierte Beobachtungen in den knappen Vergleich am Ende einfließen. Die gewonnenen statistischen Daten ließen für Lettland auch eine vollständige Untersuchung aller Parlamentarier der nationalen Minderheiten zu. Da die Laufzeit des Projekts »Loyalitäten, Identitäten und Interessen« zeitlich eng begrenzt war und zudem das Projekt explizit die deutschen Abgeordneten erforschen sollte, konnte eine solche Untersuchung im Rahmen dieser Monografie nicht geleistet werden und bleibt ein Desiderat der Forschung, auch wenn für die russische Minderheit Lettlands eine Untersuchung, die sich mit den russischer Parlamentariern beschäftigt, in russischer Sprache bereits vorliegt.52 Für Polen müssten die Daten über die anderen Nationalitäten zunächst aus 50 Vgl. dazu ausführlich Hroch, Europa der Nationen, S. 109–234. 51 Sierpowski, Mniejszos´c´, S. 84f. Vgl. dazu generell Bamberger-Stemmann, Nationalitätenkongreß. Dyroff, Völkerbundsbeschwerde. Michaelsen, Nationalitäten-Kongreß. Seewann, Mehrheits- und Minderheitsstrategien, S. 16f. 52 Fejgmane Russkie. Vgl. zudem Bogojavlenska, Parlamentarier.

Forschungsstand, methodische Überlegungen und Vorgehensweise

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den Stenogrammen erhoben werden. Diese könnten die bereits vorliegenden Untersuchungen über die jüdischen und ukrainischen Abgeordneten vergleichend ergänzen.53 Es ist auch gefordert worden, aus den Untersuchungen der Abgeordneten der einzelnen Minderheiten eine gemeinsame Geschichte der Minderheiten in der II. Polnischen Republik zu schreiben. Obwohl ein solches Vorhaben auf den ersten Blick logisch erscheint, nutzten auch alle jüngst erschienenen Studien polnischer Provenienz weiter die Nationalität als Trennlinie. Warum dies beibehalten worden ist, zeigt ein Blick in die Studien zu anderen Nationalitäten: Deutsche Abgeordnete kommen namentlich, wenn überhaupt, nur sporadisch vor. Eine allzu große wechselseitige Verflechtung war trotz vieler inhaltlicher Übereinstimmung und Zusammenarbeit von Fall zu Fall also nicht gegeben.54

53 Diese sind: Fałowski, Mniejszos´c´ z˙ydowska. Rudnicki, Z˙ydzi. Szumiło, Ukrain´ska Reprezentacja. 54 Fałowski, Mniejszos´c´ z˙ydowska, S. 14, 55, 148. Rudnicki, Z˙ydzi, S. 129, 168, 251, 324. Szumiło, Ukrain´ska Reprezentacja, nennt keinen deutschen Abgeordneten namentlich.

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Lettland

2.1

Einführung

Hatte es auf dem Gebiet des späteren Lettland mit Ausnahme Lettgallens und des Gebiets von Illuxt nach der russländischen Volkszählung von 1881 noch 135.120 deutschsprachige Personen (11,3 %) gegeben, so wies die amtliche Volkszählung Lettlands 1920 nur noch 58.113 (3,6 %) Deutsche aus. Zwar gingen nahezu alle Staaten Ostmitteleuropas in der Zwischenkriegszeit dazu über, Nationalitäten nicht ausschließlich subjektiv durch Befragung ermitteln zu lassen, sondern sie in Zweifelsfällen »objektiv« – dabei fast immer zu Ungunsten der Minderheiten – festzulegen. Trotz Berücksichtigung dieser Tatsache belegt die lettische Statistik klar, dass der Erste Weltkrieg und der ungewisse Status des Baltikums der Jahre 1918–1920 zu einem Exodus geführt hatten. Zwar wuchs die Anzahl der Deutschen durch Rückwanderung bis 1925 wieder auf 70.964 (3,8 %) an, anschließend war sie allerdings erneut rückläufig. Am 11. Februar 1930 lebten gemäß der amtlichen Statistik 69.855 Deutsche in Lettland. Damit waren die Deutschen nach den Letten (73,4 %), Russen (12,5 %) und Juden (5,0 %) mit einem Anteil von 3,7 % die viertgrößte Nationalität. Zum 12. Februar 1935 verminderte sich die Anzahl auf offiziell 62.144 Deutsche (3,2 %).55 Eindeutiges Zentrum der Deutschen in Lettland war die Hauptstadt Riga, in der bis in die 1880er Jahre die Deutschsprachigen in der Mehrheit gewesen waren. 1930 lebten hier amtlich noch 44.105 Deutsche. Dies waren 11,7 % aller Einwohner Rigas und knapp zwei Drittel aller Deutschen Lettlands. Das restliche Drittel wohnte in Libau, in anderen Städten Kurlands, Livlands und Semgallens und zu einem geringen Teil auch in Dörfern. Trotz einer relativen Konzentration im Westen und im Zentrum Lettlands stellten die Deutschen mit Ausnahme der in der Zeit Katharinas II. gegründeten Gemeinde Hirschenhof in Livland, in der 55 Bevölkerungsstatistik Lettlands, S. 10f. Handrack, Bevölkerungsentwicklung, S. 35. Topij, Mniejszos´c´, S. 53–56. Wachtsmuth, Gesicht, S. 209, 350, der für 1881 allerdings 134.070 deutschsprachige Personen nennt.

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Lettland

1930 amtlich 1.535 von 1.787 Einwohnern Deutsche waren (85,9 %), in der Zwischenkriegszeit nirgends mehr die absolute Mehrheit der Bevölkerung.56 Der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung Lettlands war 1930 mit 4,3 % etwas höher als der Anteil der Deutschen mit 3,7 %. Diese Diskrepanz erklärt sich dadurch, dass deutlich mehr Personen, die bei den Nationalitäten zu den Juden und Letten gezählt wurden, Deutsch als Sprache angaben, als umgekehrt Personen deutscher Nationalität als Sprache eine andere als die deutsche angaben.57 Auf diesen Aspekt wird zurückzukommen sein, wenn es um die Wahlergebnisse der deutschen Listen geht.58 Bei Ausrufung der Republik Lettland am 18. November 1918 war nur eine linksliberale Minderheit der politisch aktiven Deutschbalten bereit, sich auf die »politische Plattform« des Volksrats Lettlands (Latvijas Tautas Padome) zu stellen, die angebotenen Sitze in diesem ernannten Vorparlament einzunehmen59 und sich an der provisorischen Regierung von Ka¯rlis Ulmanis zu beteiligen. Maßgeblicher Exponent dieser »jungbaltischen« Orientierung war die »Deutsch-baltische Fortschrittliche Partei« (DbFP). Insgesamt übernahmen die Jungbalten vom 2.–4. Dezember 1918 sieben der acht für die Deutschen reservierten Sitze im Volksrat und zwei der drei angebotenen Ämter in der Regierung Ulmanis.60 Die »altbaltische« Mehrheit der politisch aktiven Deutschbalten blieb der auf Basis des Selbstbestimmungsrechts der größten Nationalität proklamierten neuen Republik Lettland mindestens skeptisch und abwartend, wenn nicht ablehnend und weiter einen baltischen Einheitsstaat befürwortend, gegenüber. Allerdings war das Erreichen dieses Ziels nach dem Zusammenbruch Deutschlands sehr unwahrscheinlich geworden. Die konservativen Altbalten beteiligten sich demnach nur sehr gering am neuen lettischen Staat, indem sie über den deutschbaltischen Lehrerverband das dritte Regierungsamt und gleichzeitig das achte deutsche Mandat im Volksrat stellten. Unter Verweis auf 56 Handrack, Bevölkerungsentwicklung, S. 35. Topij, Mniejszos´c´, S. 53–56. Wachtsmuth, Gesicht, S. 281. 57 Lamey, Minderheiten, S. 11. Vgl. auch Topij, Mniejszos´c´, S. 67. 58 Vgl. dazu Kap. 2.2. 59 Die Gesamtzahl der vorgesehenen Mitglieder des Volksrats betrug bei den ersten beiden Sitzungen vom 18.–19. November 1918 40, von der dritten bis zur sechsten Sitzung vom 2.– 6. Dezember 1918 100 Mitglieder, vgl. Libausche Zeitung (21. 11. 1918), S. 2 und Wachtsmuth, Gesicht, S. 50. Ab der siebten Sitzung vom 12. Mai 1919 waren es 102 Mitglieder, vgl. Volksrat, Feierliche Sitzung (18. 11. 1918), S. 7; II. Session, 1. Sitzung (12. 05. 1919), S. 71. Die Zahl der Mitglieder des Volksrats trifft weder eine Aussage darüber, ob diese Mandate auch tatsächlich vergeben wurden noch darüber, ob die ernannten Mitglieder oder deren Ersatzmitglieder anwesend waren. 60 Volksrat, Sitzung (02. 12. 1918), S. 18f. Libausche Zeitung (07. 12. 1918), S. 1f. Garleff, Politik, S. 22, 36. Rosenberg, Deutschtum, S. 61–64. Wachtsmuth, Gesicht, S. 53, 58f, 377. Vgl. Conrad, Loyalität, S. 36–38.

Einführung

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die ökonomische Bedeutung der Deutschen versuchten die Altbalten um Arthur Reusner im November 1918 und wieder in den ersten Monaten des Jahres 1919 mehrmals – nachdem die Regierung Ulmanis vor der Roten Armee in das weiterhin deutsch besetzte Libau hatte fliehen müssen –, eine privilegierte Stellung der Deutschbalten innerhalb des lettischen Staates zu erreichen.61 Diesem Ansinnen einer altbaltisch-lettischen Verständigung setzte der Putsch des Stoßtrupps der baltischen Landeswehr vom 16. April 1919 ein vorläufiges Ende, in dessen Zusammenhang Ulmanis als Regierungschef für abgesetzt erklärt wurde. Stattdessen erklärte sich eine Regierung aus Deutschbalten und Letten zur Exekutive. Dieser Regierung stand zunächst kurzzeitig der Deutschbalte Oskar Borkowsky vor, ab dem 10. Mai 1919 dann der Lette Andrievs Niedra. Vorübergehend feierte diese Regierung Erfolge, da Niedra nach der Eroberung Rigas durch die Landeswehr am 21. Mai dort Einzug halten konnte. Nach der Niederlage der Landeswehr in der Schlacht von Wenden vom 19.–23. Juni gegen die vereinigten estnisch-nordlettischen Truppen brach die Regierung Niedra allerdings auseinander, und dies noch bevor am 3. Juli 1919 der Waffenstillstand von Strasdenhof den Kampfhandlungen ein Ende setzte.62 Niedra selbst ging ins Exil nach Polen. Erst jetzt und zu einem Zeitpunkt, als das deutschbaltisch-lettische Verhältnis bereits Schaden genommen hatte, akzeptierte auch der die Altbalten vertretende Deutschbaltische Nationalausschuss die Republik Lettland. Der wieder amtierende Ulmanis traf eine Vereinbarung mit dem Nationalausschuss und berief zwei Deutsche ins Kabinett. Das Verhältnis der beiden Nationalitäten blieb aber auch weiterhin gespannt. Einen Höhepunkt erreichten diese Spannungen, als Einheiten der »Westrussischen Befreiungsarmee« unter dem sich selbst Graf von Avalov nennenden Pavel Bermondt – dieser Armee gehörten viele Reichsdeutsche und Deutschbalten an – im Oktober und November 1919 versuchten, den jungen lettischen Staat im Namen der weißen Bewegung Russlands zu zerstören. Aufgrund der vielfältigen Verbindungen Bermondts nach Deutschland erklärte die lettische Regierung symbolisch am 26. November 1919 Deutschland den Krieg.63 Diese Maßnahme wurde auch von liberalen deutschen Volksratsmitgliedern, wie Paul Schiemann, gutgeheißen.64 Faktisch wurde die Kriegserklärung vom Deutschen Reich allerdings nicht angenommen und schon am 15. Juli 61 Ceru¯zis, Faktors, S. 57–75. Dribins, Minorita¯tes, S. 54. Henning, Autonomie, S. 55. Wachtsmuth, Gesicht, S. 33–41, 57–59, 75–78. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 35f, 39–41. 62 Garleff, Politik, S. 24f. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 41f. 63 Der Außenminister Lettlands, Zigfrı¯ds Anna Meierovics, an den Reichsaußenminister Hermann Müller (26. 11. 1919), in: Latvijas Valsts ve¯stures arhı¯vs (weiter LVVA), f. 2574, a. 4, l. 93, Bl. 124. Ceru¯zis, Faktors, S. 83–86. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 46f. 64 Schiemann, Kriegszustand mit Deutschland, in: Rigasche Rundschau (24. 11. 1919), abgedruckt in: Donath, Schiemann, Bd. II, Heft 1, S. 149.

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Lettland

1920 wurden wieder diplomatische Beziehungen geknüpft.65 Nach dem Rückzug der Sowjets aus Lettgallen – dem Osten Lettlands – beendeten der Friede von Moskau mit Sowjetrussland 1920 und die nachfolgende internationale Anerkennung die Staatswerdung Lettlands.

2.2

Wahlen und deutsches Parteiwesen 1919–1934

Die politisch interessierten Deutschbalten begannen ab dem Juli 1919 mit der Gründung und Organisation politischer Parteien. Diese führten teilweise Vorläuferparteien aus der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs fort. Die bereits genannte linksliberale, vormals jungbaltische DbFP spielte dabei nur noch bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Parlament 1922 eine Rolle. Zur dominierenden linksliberalen, ebenfalls vormals jungbaltisch orientierten politischen Kraft wurde die ab August 1919 von Paul Schiemann geleitete »Deutschbaltische Demokratische Partei« (DbDP).66 Weiter rechts existierte in der zweiten Jahreshälfte 1919 nur noch die vormals altbaltische »Deutsch-baltische National-liberale Partei« (DbNlP), die sich ab dem Jahreswechsel 1919/1920 »Deutsch-baltische Reform-Partei« (DbRP) nannte. Dazu trat noch die zu Beginn des Jahres 1920 neu gegründete konservative »Deutsch-baltische Volkspartei« (DbVP) hinzu,67 die von lettischen Sozialdemokraten »Partei der Barone«68 genannt wurde. Die Vorbereitungen auf die Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung (Satversmes Sapulce), im Deutschen Konstituante genannt, begannen im Februar 1920, als DbDP, DbFP, DbRP und DbVP in Riga den »Ausschuss der deutschbaltischen Parteien« (A.P.) als Dachverband ins Leben riefen. Diesem schloss sich auch die »Deutsch-baltische Einigungspartei« (DbEP) an, die als einzige der fünf deutschen Parteien Lettlands ihren Sitz nicht in Riga, sondern in Libau hatte und die Interessenvertretung der Deutschen im westlichen Kurland beanspruchte.69 Zunächst lohnt ein genauer Blick auf das deutschbaltische Parteiwesen. Dabei ist zu klären, inwiefern – trotz ihrer Eigenbezeichnungen – überhaupt von Parteien gesprochen werden kann. Gegen eine Einordnung als Wahlvereine – die 65 Wittram, Geschichte, S. 216. 66 Öffentliche mit anschließender interner Parteiversammlung der Baltischen deutschen demokratischen Partei (10. 08. 1919), in: LVVA, f. 4985, a. 1, l. 3, Bl. 43. 67 Garleff, Politik, S. 31–42. 68 Volksrat, VIII. Session, 1. Sitzung (08. 03. 1920), S. 798. Wortlaut des Zitats im Original »Baronu partija!« 69 Garleff, Politik, S. 42f, 45–52. Rimscha, Schiemann, S. 51. Wachtsmuth, Gesicht, S. 104–117, 134–139. Conrad, Loyalität, S. 48.

Wahlen und deutsches Parteiwesen 1919–1934

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es ab den 1920er Jahren außerhalb Rigas und Libaus in den kleinen Städten mit relevantem deutschen Bevölkerungsanteil gab – spricht, dass regelmäßig, vor allem unabhängig von Wahlen, Parteiversammlungen stattfanden. Deshalb sollten diese Parteien als politische Klubs mit einer Mitgliederzahl von einigen hundert bis zeitweilig über tausend Mitgliedern bei einem Kern von einigen Dutzend aktiven Mitgliedern bezeichnet werden. Sie dienten Parlamentariern und den Mitgliedern als Forum des gegenseitigen Austauschs. Diese zutreffende Charakterisierung stammt von Wolfgang Wachtsmuth.70 Wachtsmuth sprach den deutschbaltischen Parteien nur 1918–1922 Bedeutung für die deutschbaltische Politik zu. Danach seien sie unwichtig gewesen, da sich der »baltisch-deutsche Boden […] für ein Parteileben nach westlichem Muster als nicht geeignet erwiesen«71 hätte. Zutreffend an dieser Einordnung bleibt, dass die Deutschbalten immer geschlossen zur Wahl antraten, wenn auch aus wahltaktischen Gründen 1931 zwei Listen eingereicht wurden. Es dominierte also nach außen hin der Vorrang der nationalen Zugehörigkeit vor der politischen Orientierung. Zudem wurde allein die Wahlliste 1920 ausschließlich nach Parteiproporz erstellt, wodurch 1920–1922 die einzige Legislaturperiode war, in der alle fünf Parteien mindestens einen Parlamentarier stellten. Ab 1922 besaßen die Parteien zwar weiter das Vorschlagsrecht, allerdings waren neben der Parteizugehörigkeit auch der Beruf und die regionale Herkunft zu Kriterien geworden, wodurch nicht immer jede Partei im Parlament vertreten war.72 Große Verbreitung in der deutschsprachigen Forschung hat in diesem Zusammenhang auch eine auf Wachtsmuth zurückgehende These gefunden: Die Letten hätten ebenfalls einen Bedeutungsverlust der deutschbaltischen Parteien gesehen und deshalb nur 1918–1922 die deutschbaltische Parteienlandschaft im Parlamentsregister genannt,73 während die deutschbaltischen Parlamentarier 1922–1934 dagegen alle als Mitglieder einer gar nicht existenten »Deutsch-baltischen Partei Lettlands« (Latvijas va¯cu baltiesˇu partija) eingeordnet wurden.74 Diese These basiert auf einem Irrtum: Im Saeima-Register 1922–1934 werden die Abgeordneten ungeachtet ihrer Eigenbezeichnung »nach Fraktionen«75 aufgeführt und nicht nach Parteien. Weil ja alle deutschen Abgeordneten eine Fraktion bildeten, ist die gemeinsame Aufführung im Parlamentsregister logisch 70 Wachtsmuth, Gesicht, S. 128. 71 Wachtsmuth, Gesicht, S. 107, 128, 170, 384f, 389. Zitat auf S. 128. Ebenso Rimscha, Schiemann, S. 51. 72 Wachtsmuth, Gesicht, S. 128f, 388. – Vgl. Tabelle 1 im Anhang. 73 Vgl. Latvijas Tautas Padomes stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js, S. 8–10. Latvijas Satversmes Sapulces stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js, S. 9f. 74 Wachtsmuth, Gesicht, S. 106, 130. Unkritisch übernommen von folgenden Werken: Balling, Handbuch, S. 138. Blum, Studentenschaft, S. 144. Garleff, Deutschbalten, S. 495. Ders., Minderheiten, S. 109. Rimscha, Schiemann, S. 51. 75 Vgl. u. a. I. Saeima, I. Session, S. 7f. Wortlaut des Zitats im Original »pe¯c frakcija¯m«.

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zwingend und nicht etwa Ausdruck einer lettischerseits vorgenommenen Wertung. Die beiden Parlamentsregister76 für die Jahre 1918–1922 sind anders als die der Saeima von 1922–1934 nicht zeitgenössisch, sondern nachträglich 1925 durch die Verwaltung der Saeima angefertigt worden, was auch am Wechsel von der Frakturschrift in den Original-Stenogrammen der Jahre 1918–1922 zur Lateinschrift in den Registern von 1925 leicht erkennbar ist. Bei der nachträglichen Erstellung dieser Register verwandten die Bearbeiter die gleiche Ordnung »nach Fraktionen«, wie sie 1925 bei der Saeima üblich war, übersahen dabei aber, dass die Stenogramme der Jahre 1918–1922 die Redner aber nicht nach Fraktionen, sondern tatsächlich nach Parteien nannten. Deshalb scheiden die beiden Register für 1918–1922 als unzuverlässige Sekundärquelle an dieser Stelle aus, wodurch Wachtsmuths These in sich zusammenbricht. Im Übrigen ist in den amtlichen Wahlergebnissen von 1920–1931 im Lettischen durchweg von den deutsch-baltischen Parteien im Plural die Rede.77 Ein weiterer Schwachpunkt der Argumentation Wachtsmuths ist, dass sie keine Erklärung für die Stabilität des deutschbaltischen Parteiwesens über die gesamte parlamentarische Periode bietet. Die fünf bis sechs Parlamentarier gehörten stets mindestens drei verschiedenen Parteien an. Ihren absoluten Höhepunkt erreichte die parteipolitische Ausdifferenzierung der deutschen Fraktion sogar erst in ihrer allerletzten Zusammensetzung vom 20. Oktober 1933 bis zum Putsch des 15. Mai 1934. In dieser Zeit gehörte jeder der sechs Parlamentarier einer anderen Partei an.78 Unterhalb der stets nach außen hin demonstrierten Einigkeit der deutschen Volksgruppe war die politische und soziale Gesinnung doch von erheblichen Unterschieden sowie von persönlichen Rivalitäten geprägt. Gerade Wachtsmuth nannte einen wichtigen Grund für die Stabilität des Parteiwesens in seiner Zersplitterung: Parteivorsitzender einer deutschbaltischen Einheitspartei wäre zweifelsohne Schiemann geworden, der als Vorsitzender sowohl der Parlamentsfraktion 1920–1933 als auch des A.P. 1922–1933 – beides mit Unterbrechungen –79 ohnehin schon wichtigster deutschbaltischer Politiker war. Eine Einheitspartei hätte seine Stellung noch verstärkt und somit aus Sicht der DbVP76 Latvijas Tautas Padomes stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js. Latvijas Satversmes Sapulces stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js. 77 Allein im amtlichen Wahlergebnis für 1922 ist alternierend von den »deutschen Parteien« (Va¯cu partijas), den »vereinigten deutschen Parteien« (Apvienota¯ va¯cu partijas) und den »deutsch-baltischen Parteien Lettlands« (Latvijas va¯cu baltiesˇu partijas) die Rede, vgl. Skujenieks, Ve¯lesˇanu izna¯kumi, S. 6, 10, 22, 92f. Aufgrund dieser Varianz sollte den zeitgenössischen lettischen Quellenbegriffen keine größere Bedeutung für die Interpretation beigemessen werden. 78 Vgl. dazu Tabelle 1 im Anhang. 79 Balling, Handbuch, S. 139.

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Mitglieder einer weiteren Marginalisierung konservativer Sichtweisen in der deutschbaltischen Politik Vorschub geleistet. Somit bildeten die sich in Riga und Libau Parteien nennenden kleinen Klubs mit einigen hundert Mitgliedern die politische Willensbildung besser ab als eine Sammelpartei. Auch wenn die Parteien im Laufe der 1920er Jahre deutlich an Einfluss einbüßten, behielten sie bis zuletzt ihre Parteibüros bei. Selbst die im Herbst 1933 neu gegründete »Baltische Landespartei« (BLP) eröffnete in Riga ein Büro, was eher ein Zeichen der Kontinuität denn des Wandels war.80 Subjektiv ist daher auch die Einschätzung Wachtsmuths, dass die 1933 von rechts eingebrachte Forderung nach einer Sammelpartei als »[…] Endpunkt einer Entwicklung, […] deren Richtung vorgezeichnet war«81 anzusehen ist. Auf diese Behauptung wird in diesem Kapitel noch einmal Bezug genommen. Das letzte von Wachtsmuth angeführte Argument zum Bedeutungsverlust der Parteien betraf die abnehmenden Mitgliederzahlen. In der Tat belegen diese eine massive Verringerung des Zuspruchs. So zählte die DbDP 1920 1.679, 1924 hingegen nur noch 479 Mitglieder. Die Entwicklung verlief in den anderen Parteien ähnlich.82 1923 bedauerte Schiemann, dass »von 18.000 erwachsenen Deutschbalten in Riga […] nur 4.000 einer Partei […]«83 angehören würden. Allerdings sind diese Mitgliederzahlen für parlamentarische Demokratien der Zwischenkriegszeit in Bezug zur Referenzgruppe von 40.000–45.000 erwachsenen Deutschbalten enorm hoch. Selbst die stark verringerte Mitgliederzahl der DbDP von 1924 ist mit einem Anteil von über 1 % der Referenzgruppe noch eher hoch. Die Äußerung Schiemanns und das Werk Wachtsmuths belegen vielmehr, welche illusorische Erwartungshaltung beide Zeitgenossen an ein parteipolitisches Engagement der Bevölkerung hatten. Schon ein Vergleich mit den lettischen Parteien zeigt, dass unter der Gesamtbevölkerung Lettlands die Mitgliedschaft in Parteien ausgesprochen niedrig war. So wies die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Lettlands (LSDSP, Latvijas socia¯ldemokra¯tiska¯ stra¯dnieku partija) als eine der beiden großen lettischen Parteien 1927 lediglich 3.000 Mitglieder auf.84 In Korrektur der Sichtweise Wachtsmuths war also die Bereitschaft der Deutschbalten, einer Partei beizutreten, in der Anfangsphase der parlamentarischen Demokratie überaus hoch, normalisierte sich nach den

80 Stegman, Erinnerungen, S: 173. Wachtsmuth, Gesicht, S. 118–122, 128–131, 140, 376. Zu den Parteibüros vgl. die im Quellenverzeichnis unter Fircks, Schiemann und Schoeler genannten verschiedenen »Jahrbücher des baltischen Deutschtums in Lettland und Estland«. 81 Wachtsmuth, Gesicht, S. 131. 82 Wachtsmuth, Gesicht, S. 115, 128. 83 Zit. nach Just, Arbeit, Bd. I, S. 317. 84 Libausche Zeitung (05. 04. 1927), S. 1.

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massiven Parteiaustritten in der ersten Hälfte der 1920er Jahre lediglich und blieb dabei aber dennoch deutlich über dem Landesdurchschnitt. Zudem fusionierten 1921 in Bauske erstmalig Ortsgruppen der deutschbaltischen Parteien zu einem stadtweiten Wählerverband, ein Vorgang, der sich 1924 auch in Goldingen, Mitau und anderen kleinen Städten wiederholte. Diese Vereinigungen wurden vom A.P. im Sinne einer Sammlung ausdrücklich gutgeheißen. Sie bedeuteten aber, dass viele der vormaligen Parteimitglieder in diesen Städten nun Angehörige der Wählervereine wurden.85 Somit ist nicht jeder Parteiaustritt mit politischem Desinteresse gleichzusetzen. Das am 19. August 1919 durch den Volksrat verabschiedete Wahlrecht zur 150-köpfigen Konstituante sah eine Gliederung Lettlands in fünf Wahlkreise vor, nämlich Kurland, Lettgallen, Livland, Riga und Semgallen. Diese Einteilung war 1919 zunächst auf heftige Kritik der deutschen Abgeordneten – insbesondere Schiemanns – gestoßen. Dieser hatte ein nicht unterteiltes Wahlgebiet sowie das Listenwahlprinzip favorisiert, da er zu recht vermutete, dass durch die Wahlkreiseinteilung deutsche Kandidaten beispielsweise im Wahlkreis Lettgallen aufgrund der zahlenmäßig schwachen deutschen Bevölkerung dort keine Aussichten auf einen Mandatsgewinn hatten, diese Stimmen also nicht zählen würden. Der Volksrat nahm das Gesetz dennoch in voller Kenntnis der Einwände an.86 Im Juni und Juli 1922 wurde es auf die auf 100 Mitglieder verkleinerte Saeima übertragen.87 Hoffnungen aus der DbDP, die bei der Wahl zur Konstituante am 17./18. April 1920 bis zu acht der zu vergebenden Sitze erwartet hatte,88 erfüllten sich nicht: Die deutschbaltische Liste erzielte als vierstärkste politische Kraft 32.256 Stimmen (4,5 %) und sechs von 150 Mandaten.89 Der Mandatsanteil sank damit von 7,8 % während des Volksrats auf 4 % um knapp die Hälfte. Gewählt wurden Wilhelm v. Fircks (DbVP), Peter Kluge (DbFP), Egon Knopp (DbEP), Edwin Magnus (DbRP), Arthur Reusner (DbVP) und Paul Schiemann (DbDP). Reusner legte allerdings auf Bitten des A.P. bereits am 7. Mai 1920 sein Mandat nieder,90 ohne je gesprochen zu haben. Sein Nachfolger wurde am 27. Mai der aufgrund

85 Wachtsmuth, Gesicht, S. 132. 86 Rigasche Rundschau (02. 08. 1919), in: Donath, Schiemann, S. 46–48. Volksrat, IV. Session, 5. Sitzung (19. 08. 1919), S. 213–218. Wachtsmuth, Gesicht, S. 378f. 87 Konstituante, V. Session, 50. Sitzung (09. 06. 1922), S. 1785. 88 Protokoll der Sitzung des A.P. (07. 04. 1920), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 6, Bl. 13. Wachtsmuth, Gesicht, S. 383. 89 O. V., Wehleschanu resultati, S. 6–8. 90 Konstituante, I. Session, 4. Sitzung (07. 05. 1920), S. 20. Wachtsmuth, Gesicht, S. 385, nennt falsch den 12. Mai 1920.

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seiner Rolle als Leiter des deutschen Schulwesens und seiner Kenntnisse des Lettischen als unverzichtbar geltende Karl Keller (DbDP).91 Bei der ersten Wahl zur Saeima am 7./8. Oktober 1922 erzielte die deutschbaltische Liste entgegen den diesmal niedrigen Erwartungen von vier Sitzen92 einen Zuwachs um fast 10.000 auf 42.088 Stimmen (5,3 %). Damit war sie unter allen Parteien zwar auf den sechsten Platz zurückgefallen, konnte aber sechs von 100 Mandaten erzielen.93 Dieser Erfolg war maßgeblich auf eine vollständige Ausschöpfung des deutschbaltischen Wählerpotentials – 1922 war in einer Kartothek mit der Sammlung der Anschriften der deutschen Wähler begonnen worden –94 in Kombination mit Rückwanderung von Deutschen nach Lettland zurückzuführen. Abgeordnete blieben Fircks (DbVP), Keller (DbDP), Knopp (DbEP) und Schiemann (DbDP). Neu traten John Karl Hahn (DbEP) und Manfred v. Vegesack (DbVP) hinzu. In dieser Legislaturperiode erreichte das deutschbaltische Parteiwesen im Parlament seine größte Konzentration: DbDP, DbEP und DbVP waren mit je zwei Abgeordneten vertreten, während DbFP und DbRP außen vor blieben.95 Eine Niederlage erlitt die deutschbaltische Liste bei der zweiten Saeima-Wahl vom 3./4. Oktober 1925, als sie trotz 42.248 Stimmen (5,1 %) und dem vierten Platz unter allen Parteien nur vier Mandate erzielte.96 Bei dieser Wahl zeigten sich erstmalig die Härten des Wahlrechts, da durch die Wahlkreisaufteilung zahlreiche Stimmen für die deutsche Liste keinen Erfolgswert hatten. Parlamentarier blieben Fircks (DbVP), Hahn (DbEP), Keller (DbDP) und Schiemann (DbDP). Vegesack und Knopp mussten ausscheiden. Etwas gemildert wurde der Misserfolg dadurch, dass es den deutschbaltischen Wählern im Wahlkreis Riga durch 2.864-faches Panaschieren gelungen war, auf der Liste des »Bündnisses für Frieden, Ordnung und Produktion« (MKRA, Miera, ka¯rtı¯bas un razˇosˇanas apvienı¯ba) den auf dem eigentlich aussichtslosen zwölften Platz befindlichen Deutschen Alfred Alsleben auf den ersten Platz vorrücken zu lassen. Da die MKRA mit 14.736 Stimmen (1,6 %) als fünfzehntstärkste politische Kraft zwei Mandate erhalten hatte, zog Alsleben in die Saeima ein. Trotz Morddrohungen 91 Konstituante, I. Session, 5. Sitzung (27. 05. 1920), S. 25. Pabriks, Valtenbergs, Latvia, S. 1137. Topij, Mniejszos´c´, S. 112. Wachtsmuth, Gesicht, S. 384–386. 92 Protokoll der Sitzung des A.P. (29. 08. 1921), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 6, Bl. 119. 93 Skujenieks, Ve¯lesˇanu izna¯kumi, S. 10. 94 Protokoll des erweiterten A.P. (05. 01. 1922), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 2. 95 Schiemann, Tätigkeit, S. 19. Balling, Handbuch, S. 138f. Pabriks, Valtenbergs, Latvia, S. 1138. Topij, Mniejszos´c´, S. 113. Wachtsmuth, Gesicht, S. 387–390. Es herrscht in der Literatur Uneinigkeit über die Parteizugehörigkeit Vegesacks. Nach Wachtsmuth, Gesicht, S. 389, von dem auszugehen ist, dass er als Zeitzeuge die Dinge richtig in Erinnerung hatte, war Vegesack DbVP-Mitglied und wechselte 1925 zur DbRP. Balling, Handbuch, S. 136, 139, ordnet ihn hingegen schon ab 1922 der DbRP zu. 96 Skujenieks, Ve¯le¯ˇsanas 1925. gada¯, S. 10.

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gegen ihn und seine Frau schloss er sich am 6. November 1925 der deutschen Fraktion an. Dadurch gab es fünf deutsche Abgeordnete, wobei Alsleben kaum hervortrat und nur zwei Mal als Gesetzesreferent vor der Saeima sprach – wodurch er allerdings zum einzigen deutschen Abgeordneten wurde, der vor der Saeima ausschließlich Lettisch sprach.97 Bei der dritten Wahl zur Saeima am 6./7. Oktober 1928 konnte die deutschbaltische Liste als fünftstärkste Kraft mit 43.352 Stimmen (4,7 %) wieder sechs Mandate erzielen,98 was einen enormen Erfolg darstellte. Verantwortlich dafür war die wesentlich bessere Organisation und eine Reform des Wahlrechts: So konnte auf eine Kandidatur im aussichtslosen Wahlkreis Lettgallen verzichtet und dortige Wähler gebeten werden, ihre Stimme im Wahlkreis Semgallen abzugeben, wodurch in diesem ein Stimmenzuwachs möglich war. Ebenso wurden gezielt kleinere Gruppen von Wählern in andere Wahlkreise transportiert, um möglichst viele nicht zählende Reststimmen zu vermeiden. Der einen deutschen Liste kam schlussendlich auch die starke Zersplitterung des lettischen, russischen und jüdischen Parteiwesens zu Gute, die viele nicht zählende Reststimmen produzierte.99 Abgeordnete blieben Fircks (DbVP), Hahn (DbEP) und Schiemann (DbDP). Neu traten Woldemar Pussull (DbVP), Lothar Schoeler (DbRP) und Werner Westermann (Wählerverband Mitau, WvM) hinzu. Keller, der 1918–1928 ununterbrochen Parlamentarier gewesen war, und Alsleben hatten auf eine neuerliche Kandidatur verzichtet. Krankheitsbedingt hatte Schiemann 1930 die Niederlegung seines Mandats angeboten, was Fraktion und A.P. lange ablehnten.100 Schließlich legte er mit Billigung des A.P. am 10. März 1931 sein Mandat doch nieder, um das Fehlen einer deutschen Stimme bei der am 23. März 1931 stattfindenden Abstimmung über das Domkirchengesetz zu vermeiden.101 Sein Nachfolger wurde Walther Sadowsky (DbDP). Dieser leistete zwar keinen Redebeitrag vor der Saeima und seine Stimme war auch am 23. März 1931 nicht ausschlaggebend. Sehr wohl kam es aber nach Wiedervorlage des Domenteignungsgesetzes aufgrund eines Volksbegehrens am 22. Juli 1931 auf seine Stimme an.102 97 Fircks, Jahresrückblick 1926, S. 23f. II. Saeima, I. Session, 2. Sitzung (06. 11. 1925), S. 9; IV. Session, 16. Sitzung (30. 11. 1926), S. 762f, 765f. Skujenieks, Ve¯le¯sˇanas 1925. gada¯, S. 10f, 148f. Pabriks, Valtenbergs, Latvia, S. 1138, 1143. Topij, Mniejszos´c´, S. 113. Wachtsmuth, Gesicht, S. 394–398. Pabriks, Valtenbergs, Latvia, S. 1128, nennen Alslebens Partei falsch »Miera ka¯rtı¯bas un razˇ¯ıbas apvienı¯ba« (Bündnis für Frieden, Ordnung und Fruchtbarkeit). 98 Skujenieks, Ve¯le¯sˇanas 1928. gada¯, S. 18. Pabriks, Valtenbergs, Latvia, S. 1139. 99 Schiemann, Jahresrückblick 1929, S. 22. Balling, Handbuch, S. 138. Topij, Mniejszos´c´, S. 114. Wachtsmuth, Gesicht, S. 404f. 100 Protokoll der deutschen Fraktion (29. 09. 1930), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 10, Bl. 7. 101 Vgl. dazu Kap. 2.4.5. 102 III. Saeima, VIII. Session, 14. Sitzung (10. 03. 1931), S. 521; 18. Sitzung (23. 03. 1931), S. 696;

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Bei der vierten und letzten Saeima-Wahl der Zwischenkriegszeit am 3./ 4. Oktober 1931 erzielte die Liste der deutschbaltischen Parteien als achtstärkste Kraft 38.805 Stimmen und fünf Mandate. Dazu kam die »Rigaer deutsche Liste für Livland« (Rı¯gas va¯cu saraksts Vidzemei) an 26. Stelle mit 6.138 Stimmen und einem Mandat. Zusammen entfielen also 44.943 Stimmen (4,7 %) auf die deutschen Listen, womit die sechs Sitze gehalten werden konnten. Bei dieser Wahl wurde das Verschieben von Stimmen weiter perfektioniert: Über 10.000 deutschbaltische Wähler waren im Vorfeld kontaktiert worden und wurden am Wahltag zur Stimmabgabe in andere Wahllokale transportiert, vor allem von Riga nach Livland, weshalb auch die rein formale deutsche Konkurrenzkandidatur im Wahlkreis Livland überhaupt eingereicht worden war.103 Abgeordnete blieben Fircks (DbVP), Hahn (DbEP), Pussull (DbVP), Schoeler (DbRP) – der über die Liste im Wahlkreis Livland einzog – und Westermann (WvM). Dazu trat wieder der genesene Schiemann (DbDP) hinzu. Im Oktober 1933 legten Fircks und Schiemann ihre Mandate alters- und krankheitsbedingt nieder. Ihre Nachfolger wurden in der Sitzung vom 20. Oktober 1933 der in die Saeima zurückkehrende Keller (DbDP) sowie Helmuth Stegman von der neu gegründeten BLP.104 In dieser letzten Zusammensetzung erreichte, wie bereits erwähnt, die Diversifikation der deutschbaltischen Parteien im Parlament mit sechs Parteien bei sechs Abgeordneten ihr Maximum. Mit der Auflösung von Parlament und Parteien am 15. Mai 1934, nur Wochen vor dem regulären Ende der Legislaturperiode, endete die Tätigkeit der deutschen Parlamentarier. Insgesamt war die Entwicklung der Anzahl an deutschen Parlamentsmandaten sehr stabil und unterschied sich beispielsweise von der Entwicklung in der Rigaer Stadtverordnetenversammlung. Hier sank die Anzahl an deutschen Abgeordneten von 21 von insgesamt 90 in den Jahren 1920–1922 auf 13 von 100 in den Jahren 1931–1934 ab. Dies war selbstverständlich auch der starken Zuwanderung von Letten geschuldet. Dennoch ist zu konstatieren, dass die absolute Anzahl an Stimmen für die deutschen Listen in Riga 1925 ihr Maximum erreichte.105 Die absolute Anzahl an deutschen Stimmen bei den Parlamentswahlen wuchs dagegen beständig an. Gaben 1920 32.256 Wähler der deutschen Liste ihre IX. Session, 48. Sitzung (22./23. 07. 1931), S. 1824. Balling, Handbuch, S. 139. Garleff, Politik, S. 146. Wachtsmuth, Gesicht, S. 403. 103 Skujenieks, Ve¯le¯ˇsanas 1931. gada¯, S. 18f. Pabriks, Valtenbergs, Latvia, S. 1139f. Balling, Handbuch, S. 138, Topij, Mniejszos´c´, S. 113, und Wachtsmuth, Gesicht, S. 422, nennen abweichend zusammen 45.098 Stimmen, wobei diese Zahl nicht dem amtlichen Wahlergebnis entstammt. 104 IV. Saeima, I. Session, Inhaltsverzeichnis, S. 9f; VII. Session, 2. Sitzung (20. 10. 1933), S. 147, 154f. Balling, Handbuch, S. 139. Kause, Wende, S. 38, nennt falsch für den Rücktritt Schiemanns den 30. Juni 1933. 105 Kre¯slin¸sˇ, Rı¯gas pilse¯tas domes ve¯le¯sˇanas, S. 76–78. Topij, Mniejszos´c´, S. 116.

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Stimme, so waren es 1922 42.088, 1925 42.248, 1928 43.352 und 1931 44.943. Gleichzeitig wurden amtlich zunächst 58.097 (1920), dann 70.964 (1925), 69.855 (1930) und schließlich 62.144 (1935) Deutsche gezählt.106 Zu Beginn der 1920er Jahre stiegen also sowohl die Anzahl der Deutschen in Lettland als auch die Anzahl der Wähler der deutschen Liste, was sich hauptsächlich aus der Rückwanderung Deutscher erklärt. Die Divergenz der Zahlenreihen ab Mitte der 1920er Jahre zwischen weiter steigender Wählerzahl für die deutschen Listen einerseits und sinkender Anzahl Deutscher andererseits ist dagegen bislang nur sehr unzureichend erforscht worden. Der erste Baustein einer Erklärung besteht darin, dass die Statistik Lettlands bei der Nationalitäten- und Sprachzählung alle Einwohner losgelöst von der Staatsangehörigkeit und damit vom Wahlrecht erfasste. Von den Deutschen müssen also diejenigen, die nicht die lettische Staatsangehörigkeit hatten, herausgerechnet werden. 1920 waren dies 21 % gewesen. Bis 1930 sank dieser Anteil auf 13 % ab.107 Die Anzahl der Wähler deutscher Nationalität stieg also über die 1920er Jahre hinweg an. Des Weiteren gaben vermutlich die lettischen Volkszählungen die Entwicklung der Deutschen in gewissem Ausmaß zu ihren Ungunsten verzerrt wieder, während die Wählerzahlen eindeutig sind. Die ebenfalls erhobene Zahl der Deutschsprachigen war auch – wie bereits genannt – beständig höher, was als weiteres Indiz der Fehlerhaftigkeit der Nationalitätenzählung gewertet werden kann. Ferner überzeugte die deutsche Liste auch nichtdeutsche Wähler, deren Größe das Statistikamt Lettlands für die Wahl 1925 mit mindestens 5.000 bezifferte. Warum diese für die deutsche Liste stimmten, ist unerforscht.108 Wie aufgrund seiner Bevölkerungsstruktur nicht überraschend war das livländische Hirschenhof mit 90 % 1925 die einzige Gemeinde, in denen die deutsche Liste die absolute Mehrheit gewinnen konnte. Dazu kamen vier kurländische Gemeinden, in denen mit 24–34 % relative Mehrheiten erzielt werden konnten. Diese Einzelbeispiele dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutschbaltische Liste in allen Landgemeinden zusammen weniger als 1 % erzielte. In den Städten erzielte sie dagegen als zweitstärkste Kraft 1925 hinter der Sozialdemokratie 11 %.109 106 Wachtsmuth, Gesicht, S. 209. 107 Topij, Mniejszos´c´, S. 69. 108 Libausche Zeitung (20. 10. 1922), S. 1. Skujenieks, Ve¯le¯ˇsanas 1925. gada¯, S. 21. Dribins, Deutschbalten, S. 280. Topij, Mniejszos´c´, S. 115. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass bei der Berechnung der Nichtdeutschen, die für die deutsche Liste votierten, das Statistikamt Lettlands, vgl. Skujenieks, Ve¯le¯ˇsanas 1925. gada¯, S. 21, von 85–90 % Wählern deutscher Nationalität ausgeht, die für die deutsche Liste stimmten, während Wachtsmuth, Gesicht, S. 390, von nahezu 100 % ausgeht. 109 Skujenieks, Ve¯le¯sˇanas 1925. gada¯, S. 22f, 76.

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Über die Hälfte der Wähler der deutschen Liste wohnten, wie bereits genannt, in der Hauptstadt Riga. Hier erzielte die Liste 1920, also lange bevor die angesprochenen wahltaktischen Verschiebungen einen erheblicher Teil der Wählerschaft nicht mehr am Wohnort abstimmen ließen, als insgesamt zweitstärkste und hinter der Sozialdemokratie stärkste bürgerliche Kraft 1920 21 %. Im Zentrum Rigas konnten in drei der vier altstädtischen sowie in den Wahlbezirken Albertstraße (Alberta iela), Nikolaistraße (Nikolaja iela, heute Krisˇja¯n¸a Valdema¯ra iela) und Petersholmer Straße (Pe¯tersalas iela) Stimmenanteile von 40–46 % erzielt werden.110 An dieser Stelle zeigt sich noch einmal überdeutlich, dass die Deutschbalten als altständische Minderheit an genau der Stelle, an dem sich die Tätigkeit der Legislative und Exekutive Lettlands entfaltete, weit überproportional vertreten waren. Die fünfte Wahl zur Saeima hätte am 6./7. Oktober 1934 stattfinden müssen. Aus Gründen der Kontinuität erhielt die Saeima-Wahl am 5./6. Juni 1993 Jahrzehnte später die Bezeichnung »fünfte Wahl«. Auf die wichtige Frage, wie sich ein Antritt der deutschbaltischen Liste 1934 gestaltet hätte, ist Wachtsmuth in seinem gedruckten Werk, wie einleitend genannt, nur kursorisch eingegangen. Er arbeitet richtig heraus, dass sich die zur Auslagerung der Kulturarbeit aus dem A.P. am 7. November 1923 gegründete »Zentrale der Deutsch-Baltischen Arbeit«, die sich ab 1926 »Deutsch-Baltische Volksgemeinschaft in Lettland« nannte, zu Beginn der 1930er Jahre zunehmend politisiert hatte. Zusätzlich leisteten die seit den 1920er Jahren bestehenden lokalen Wählerverbände einen Beitrag zu der bereits angesprochenen Schwächung der Parteien und zur Entstehung eines Dualismus in der Führung der deutschbaltischen Volksgruppe zwischen Parlamentsfraktion und A.P. einerseits sowie der Leitung der Volksgemeinschaft andererseits.111 Schiemann und Fircks bekämpften zu Beginn der 1930er Jahre entschlossen das aufkommende nationalsozialistische Gedankengut, doch änderte die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten im Deutschen Reich 1933 auch innerhalb der Deutschbalten in Lettland die Machtverhältnisse. Dazu kam die Bitte der jüdischen Gemeinschaft um eine öffentliche Distanzierung der Deutschbalten vor dem Antisemitismus der neuen Machthaber in Deutschland, die das Präsidium der Deutschbaltischen Volksgemeinschaft nicht erbringen wollte.112 Durch den Verlust des politischen Rückhalts durch Deutschland war aus Perspektive des Triadic Nexus insbesondere für den Liberalen Schiemann dieselbe Situation eingetreten, den die russischen Abgeordneten Lettlands, die mit 110 O. V., Wehleschanu resultati, S. 28. 111 Wachtsmuth, Gesicht, S. 170f. Ebenso Taube, Deutschbalten, S. 65f. 112 Protokoll der Sitzung des Präsidiums der Db. Volksgemeinschaft (08. 04. 1933), in: IKGN, Sammlung.

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Ausnahme Leonid Ersˇovs keine Kommunisten waren, 1919–1934 nie anders gekannt hatten: Der Hauptstaat der jeweiligen Nationalität vertrat eine gänzlich andersgeartete politische Ideologie. Verschärfend kam hinzu, dass sich die neuen Machthaber im Deutschen Reich – anders als die der Sowjetunion – in die innerdeutschbaltischen Angelegenheiten einmischten: Schon im Februar und März 1933 wurde Schiemann seine seit 1919 unangefochtene mediale Wirkungsmöglichkeit durch Aufkauf der Mehrheitsanteile der »Rigaschen Rundschau« durch das Auswärtige Amt Deutschlands genommen. Der A.P. setzte dem keinen Widerstand entgegen.113 Schnell tauchten Forderungen nach einem Rücktritt Schiemanns auch als Abgeordneter auf, da, so seine Kritiker, »durch seine Ideologie die deutsche Fraktion nicht den richtigen Weg gegangen sei.«114 Nur wenige Monate später fühlte sich die Leitung der Volksgemeinschaft bereits stark genug, gegen die Fraktion den entscheidenden Schlag zu führen: Sie verlangte am 24. September 1933 die Auflösung der Parteien und des A.P. zu Gunsten eines allgemeinen Wählerverbandes der Deutschen Lettlands für die Wahl 1934 und bis dahin die enge Abstimmung der Arbeit der Fraktion mit dem Vorsitzenden ebenjener Einheitspartei. In Streitfällen hätten sich die Abgeordneten verpflichten sollen, nach dem Führerprinzip den Anordnungen des Parteivorsitzenden Folge zu leisten.115 Wachtsmuth, der sich auch schon in den Jahren zuvor für einen Ausbau der Befugnisse der Volksgemeinschaft engagiert hatte, trug als Vorstandsmitglied der Volksgemeinschaft diese Forderung mit und unternahm in seinem Werk später den Versuch, dies zu rechtfertigen.116 Dabei waren die Vorstandsmitglieder der Volksgemeinschaft selbst keine Nationalsozialisten, wohl aber politisch rechtsstehend. Sie sahen in der Konjunktur des Nationalsozialismus nun die Gelegenheit gekommen, vor allem Schiemann, aber auch Fircks – der sich oft hatte vorhalten lassen müssen, die konservativen Positionen nicht entschieden genug vertreten zu haben – auszuschalten.117 Verantwortlich für den Zustand, dass die Konservativen die Volksgemeinschaft zum Instrument der Durchsetzung ihrer Interessen machen konnten, war die geringe demokratische Verankerung dieses Vereins. Bei den vier Delegiertenwahlen in Riga 1927, 1929, 1931 und 1933 bewegte sich die Wahlbeteiligung in 113 Hehn, Umsiedlung, S. 51. Kause, Widerstand, S. 201–206. Ders., Wende, S. 38. Ders., Schiemann, S. 33f. 114 Protokoll der DbDP-Generalversammlung (12. 05. 1933), in: LVVA, f. 4985, a. 1, l. 3, Bl. 99. 115 Wilhelm v. Rüdiger an den Hauptvorstand der Deutschbaltischen Volksgemeinschaft (25. 08. 1933), in: LVVA, f. 3235, a. 3, l. 150, Bl. 143, 150f. Protokoll der Sitzung des Hauptvorstandes der Db. Volksgemeinschaft (19. 09. 1933), in: IKGN, Sammlung. Protokoll des Delegiertentages des Verbandes »Deutschbaltische Volksgemeinschaft in Lettland« (24. 09. 1933), S. 10. Wachtsmuth, Gesicht, S. 130f, 170f. 116 Wachtsmuth, Volksgemeinschaft, S. XVII, 124. 117 Just, Arbeit, Bd. I, S. 330–349. Wachtsmuth, Gesicht, S. 122.

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einem Spektrum von maximal 1.328 Wählern,118 während bei den Wahlen zur Saeima 1922–1931 in Riga zwischen 25.000 und 30.000 Wähler der deutschen Liste ihre Stimme gaben. Bei diesem geringen Rückhalt der Volksgemeinschaft unter den Deutschbalten war es ein leichtes, hier Einfluss zu gewinnen, um nach der Übernahme der Leitung der Volksgemeinschaft einen aus demokratischer Perspektive völlig ungerechtfertigten Führungsanspruch über die Deutschbalten Lettlands zu formulieren. Die lettischen Behörden hatten im Juni 1933 der nationalsozialistischen »Nationalpartei der deutschen Balten« unter Erhard Kroeger die staatliche Anerkennung verweigert. Zugelassen wurde am 16. Oktober 1933 aber eine rechte Parteineugründung aus dem Umfeld der Volksgemeinschaft. Dabei handelte es sich um die bereits genannte, im Ton gemäßigte, Teilelemente des NS-Gedankenguts mit deutschbaltischen Traditionen vermengende BLP unter Leitung Stegmans, der gleichzeitig Syndikus der Volksgemeinschaft war.119 Einen schnellen Erfolg erzielte die BLP schon vier Tage nach ihrer Gründung, als Stegman, der aufgrund seiner früheren DbVP-Mitgliedschaft auf der Kandidatenliste von 1931 gestanden hatte, zu Schiemanns Nachfolger in der Saeima wurde. Paradoxerweise erreichte der neue BLP-Abgeordnete durch sein Mandat das genaue Gegenteil des geplanten Ziels einer deutschen Einheitspartei, nämlich den bereits erwähnten Höhepunkt der parteipolitischen Zersplitterung der Deutschen in der Saeima. Mit dem gleichzeitigen Ausscheiden Fircks’ und Schiemanns hatten sich Volksgemeinschaft und BLP aber immerhin endgültig der beiden langjährigen politischen Anführer der Deutschbalten entledigt.120 Trotz dieser Zwischenerfolge ging die Entwicklung im Hinblick auf die von Volksgemeinschaft und Landespartei geforderte »Erneuerung« des Deutschbaltentums nur allmählich voran. Ihre sofortige Selbstauflösung lehnten die deutschbaltischen Parteien nämlich ab. Dies wurde von der BLP zunächst akzeptiert, da sie die Aufnahme in den A.P. beantragte. Dem Antrag wurde am 23. November 1933 entsprochen.121 Zuvor hatte Schoeler, der in der Nachfolge Schiemanns Fraktionsvorsitzender geworden war, in einem Artikel in der »Riga am Sonntag« zum 15. Jubiläum der Staatsgründung Lettlands die Forderung der Volksgemeinschaft als dem »Zeitgeist« geschuldet benannt, was von Stegman als Absage an eine Einheitspartei aufgefasst wurde. Allerdings entgegnete Schoeler, 118 Wachtsmuth, Volksgemeinschaft, S. 134–136. 119 Protokoll des Delegiertentages des Verbandes »Deutschbaltische Volksgemeinschaft in Lettland« (24. 09. 1933), S. 26. Garleff, Politik, S. 44. Hehn, Umsiedlung, S. 48f, 206f. Stegman, Erinnerungen, S. 173f. Wachtsmuth, Gesicht S. 124f. 120 IV. Saeima, VII. Session, 2. Sitzung (20. 10. 1933), S. 147, 154f. Garleff, Politik, S. 193f. 121 Der Geschäftsführer des Ausschusses der deutschbaltischen Parteien, Stavenhagen, an die Deutsch-baltischen Wählerverbände und Parteien (23. 11. 1933), in: DWPS, Sign. 3, 1933, S. 27.

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einen rücksichtsvolleren Kurs gegenüber den Parteien fahren zu wollen, um die Mitglieder so von der Notwendigkeit des Aufgangs in einer deutschen Einheitspartei zu überzeugen.122 Bis zum Februar 1934 hatten sich alle Parteiführungen – die DbDP nur sehr zögerlich – zur Fusion entschlossen.123 Deshalb reichte Schoeler im März 1934 einen Antrag auf Registrierung eines »Rigaer Deutschbaltischen Wählerverbandes« beim Innenministerium Lettlands ein. Da die neue Partei nach dem berufsständischen Prinzip geführt werden sollte, beschied das Innenministerium aufgrund mangelnder innerparteilicher Demokratie allerdings am 23. April abschlägig.124 Verhandlungen deutschbaltischer Politiker mit Vertretern der lettischen Regierung, mittels welcher Änderungen im Statut des Wählerverbandes eine Registrierung zu erreichen gewesen wäre, waren bis zum Putsch des 15. Mai 1934 offenbar noch nicht ganz abgeschlossen. Allerdings brachte die »Rigasche Rundschau« am 12. Mai 1934 eine unbestätigte Meldung, die Registratur sei durch das Innenministerium vorgenommen worden.125 Wie wenig dieser Auflösungsprozess zumindest mit der Basis der DbDP rückgekoppelt war, illustriert eine der letzten Ausschusssitzungen dieser Partei am 4. April 1934 in Riga. Keller nannte die Auflösung der Parteien »kein Unglück« und befürwortete den Wählerverband. Dies stieß auf energischen Widerspruch der anwesenden Mitglieder, die mittlerweile nur noch wenig Bereitschaft zu einem Aufgehen in dem geplanten deutschen Wählerverband aufgrund der zu erwartenden Dominanz der Volksgemeinschaft erkennen ließen.126 Schwere Auseinandersetzungen bis hin zu Spaltungstendenzen in der deutschen Saeima-Fraktion zog auch die Frage der Aufstellung deutscher Kandidaten für die Parlamentswahl 1934 und die mögliche Einbindung von KroegerAnhängern mit sich.127 Zunächst hatten im Februar 1934 Hahn, Pussull, Schoeler, Stegman und Westermann eine neuerliche Kandidatur angekündigt, Keller nicht. Zudem war es gelungen, den Vorsitzenden des Landeswehrvereins, Wolfert v. Rahden, als Vertreter der Landwirtschaft – und sehr wahrscheinlich auch mit dem Gedanken einer Öffnung nach rechts – von einer Kandidatur zu überzeugen. Nach dem Scheitern der Wählerverbandsregistrierung bot Schoeler

122 Riga am Sonntag (18. 11. 1933), S. 1. Just, Arbeit, Bd. I, S. 349–351. 123 Protokoll der DbDP-Ausschusssitzung (08. 02. 1934), in: LVVA, f. 4985, a. 1, l. 5, Bl. 88. Protokoll der DbVP-Ausschusssitzung (14. 02. 1934), in: LVVA, f. 1882, a. 1, l. 14, Bl. 1. 124 Le¯mums [Beschluss] (23. 04. 1934), in: DWPS, Sign. 3, 1934, S. 41. Just, Arbeit, Bd. I, S. 352. 125 Rigasche Rundschau (12. 05. 1934), S. 2. 126 Protokoll der DbDP-Ausschusssitzung (04. 04. 1934), in: LVVA, f. 4985, a. 1, l. 5, Bl. 89. Hiden, Defender, S. 211. 127 Fraktionssitzung (19. 04. 1934/08. 05. 1934), in: DWPS, Sign. 3, 1934, S. 38, 45. Stegman, Erinnerungen, S. 174.

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am 27. April 1934 seinen Rücktritt vom Amt des Fraktionsvorsitzenden an, der allerdings abgelehnt wurde.128 Eine endgültige Entscheidung über die Zusammensetzung der Liste fiel nicht mehr.129 Wird allerdings von den maximal zu erwartenden sechs Mandaten und den dafür aufgebotenen Kandidaten Hahn, Pussull, Rahden, Schoeler, Stegman und Westermann ausgegangen, so ist zu konstatieren, dass diese Liste personell sowohl Kontinuität als auch einen Rechtsruck bedeutete – mithin also die gewohnte deutschbaltische Politik der Einbindung aller relevanten politischen Kräfte unter veränderten Rahmenbedingungen fortgesetzt wurde. Von den 15 deutschen Abgeordneten der Jahre 1920–1934 verstarben noch während der Zeit des Parlamentarismus in Lettland Knopp und Fircks im Jahr 1933, in den nachfolgenden Jahren der Ulmanis-Diktatur zudem Kluge (1937), Keller (1939) und Pussull (1939). Reusner war bereits unmittelbar nach der Niederlegung seines Mandats 1920 nach Deutschland emigriert, wo er 1940 starb. Im Zuge der Umsiedlung der Deutschbalten 1939–1941 emigrierten mit Ausnahme Schiemanns, der eine persönliche Loyalitätserklärung an Ulmanis abgegeben hatte und 1944 in Riga starb, acht noch lebende ehemalige Abgeordnete nach Deutschland oder ins deutsch besetzte Polen. Noch während des Krieges starben 1941 Alsleben eines natürlichen Todes in Posen und 1945 Hahn mutmaßlich beim Untergang des früheren KdF-Schiffes »Wilhelm Gustloff« in der Ostsee. Schoeler starb 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Magnus lebte nach dem Kriegsende in Wien, wo er 1974 starb. Die übrigen vier verbrachten ihre letzten Lebensjahre in der Bundesrepublik, wo Sadowsky 1956, Westermann 1959, Vegesack 1966 und zuletzt Stegman 1983 verstarben.130

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2.3.1 Partizipation im Parlament 1918–1934 gab es für Parlamentarier vier Möglichkeiten, vor dem Parlament zu sprechen. Diese waren erstens die freie Rede zu einem Tagesordnungspunkt, zweitens die Rede als Gesetzesreferent, der einen Gesetzentwurf einbrachte, drittens die Rede als Mitglied des Parlamentsvorstands und schließlich viertens die Rede als Regierungsmitglied. Bei der weiteren Betrachtung werden hier die

128 Präsidialsitzung des A.P. (26. 04. 1934), Fraktionssitzung (27. 04. 1934), in: DWPS, Sign. 3, 1934, S. 42, 44. Just, Arbeit, Bd. I, S. 356. 129 Just, Arbeit, Bd. I, S. 356. 130 Balling, Handbuch, S. 143–153.

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dritte und vierte Möglichkeit ausgeklammert, da beiden ein eigenes Unterkapitel gewidmet ist. Die freie Rede zu einem Tagesordnungspunkt war 1918–1934 stets in lettischer, deutscher und russischer Sprache möglich. Diese Praxis war ursprünglich ein Entgegenkommen an die nichtlettischen Volksratsmitglieder gewesen, deren Mitarbeit aufgrund ihrer geringen Lettischkenntnisse – bei den Deutschen mit Ausnahme Karl Kellers –131 sich ansonsten nahezu unmöglich gestaltet hätte. Da die lettische Regierung zur Stabilisierung ihrer fragilen Machtbasis die Minderheiten für die neue Republik Lettland zu gewinnen suchte, war die – in Osteuropa sonst dauerhaft nur in der Tschechoslowakei übliche – Heranziehung der früheren Amtssprachen Deutsch und Russisch als zusätzliche Arbeitssprachen der Parlamente ein wichtiges Signal der Toleranz.132 Mit der Mehrsprachigkeit des Parlaments wurde in Riga 1918–1934 somit ein ganz anderer Weg als in der St. Petersburger Duma 1906–1917 beschritten, in der alle Mitglieder stets Russisch und dies auch noch ohne Manuskript hatten sprechen müssen, was selbst muttersprachliche Abgeordnete mitunter vor Probleme gestellt hatte.133 Allerdings wurde von den Minderheitenparlamentariern erwartet, dass sie das Lettische erlernten. So hinderten Abgeordnete mittels einer Abstimmung am ˇ akste an der Lesung einer Einlei18. August 1919 Parlamentspräsident Ja¯nis C tung zu einem Gesetzentwurf in deutscher Sprache.134 Zudem hatten nur im Volksrat 1918–1920 die Mitglieder das Recht auf eine direkte Übersetzung ins Russische bei Sachverhalten, die spontan in die Sitzung eingebracht worden waren. Dies trug der Tatsache Rechnung, dass die Abgeordneten in solchen Fällen keine Möglichkeit gehabt hatten, sich vorzubereiten. Von dieser Möglichkeit wurde im Volksrat durchaus Gebrauch gemacht.135 Die Geschäftsordnung der Konstituante vom 12. Oktober 1920 ermöglichte diese direkten Übersetzungen ins Russische nicht mehr. Am 27. März 1923 erfolgte die vollständige Lettisierung des Schriftverkehrs im Parlament.136 Übrig von der ursprünglichen Sprachenvielfalt blieb bis 1934 die Möglichkeit 131 Wachtsmuth, Gesicht, S. 60f, 385. Ders., Wege, S. 198. 132 Berent, Sprachenfrage, S. 34. Conrad, Loyalität, S. 37f, Wachtsmuth, Gesicht, S. 264f. Vgl. zur Tschechoslowakei Conrad, Mehrsprachige Parlamente. 133 Usmanova, Revolutionsrhetorik, S. 167. 134 Volksrat, IV. Session, 5. Sitzung (18. 08. 1919), S. 197. 135 Latvijas Tautas Padomes ka¯rtibas [sic] rullis [Geschäftsordnung des Volksrats Lettlands] (23. 08. 1919), in: Likumu un valdı¯bas rı¯kojumu kra¯jums (1919), Nr. 138. Volksrat Lettlands, II. Session, 1. Sitzung (12. 05. 1919), S. 93; IV. Session, 6. Sitzung (23. 08. 1919), S. 243; VI. Session, 12. Sitzung (10. 12. 1919), S. 664. Berent, Sprachenfrage, S. 34. 136 Satwersmes Sapulzes kahrtibas rullis [Geschäftsordnung der Konstituante] (12. 10. 1920), in: Likumu un valdibas rikojumu kra¯jums (1920), Nr. 219. Saeimas ka¯rtı¯bas rullis [Geschäftsordnung der Saeima] (27. 03. 1923), in: Likumu un Ministr¸u kabineta noteikumu kra¯jums (1923), Nr. 34. Berent, Sprachenfrage, S. 34.

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der freien Rede zu einem Tagesordnungspunkt in deutscher oder russischer Sprache. Eine explizite Rechtsgrundlage für die Sprachenvielfalt wurde auch später in keiner der vier Geschäftsordnungen der lettischen Parlamente geschaffen, wohl legten aber die letzten beiden vom 27. März 1923 und 10. April 1929 immerhin implizit Deutsch und Russisch als Nebenarbeitssprachen des Parlaments fest. Beide sahen in Fällen, in denen in diesen beiden Sprachen gesprochen worden waren, eine Einreichung der Rede durch den Redner beim Büro der Saeima vor, welches für das Stenogramm entweder eine Übersetzung oder zumindest eine Zusammenfassung auf Lettisch anzufertigen hatte. Im Stenogramm wurde ein Hinweis auf die Originalsprache und das Vorliegen einer Übersetzung eingedruckt.137 Mit dieser Regelung von 1923 wurde eine Praxis institutionalisiert, die weitgehend schon seit 1918 so angewandt worden war. Wortmeldungen als Mitglied des Parlamentspräsidiums oder als Gesetzesreferenten waren nur auf Lettisch gestattet. Auch dies war eine Konvention, die in diesem Fall auf der Tatsache fußte, dass nur das Lettische Gesetzessprache war. Insgesamt traten die deutschen Abgeordneten 1.129-mal mit Wortmeldungen – wiederum ohne solche als Mitglieder des Parlamentsvorstands – vor den Parlamenten auf, davon 649-mal im ersten Fall mit freier Rede. In 619 Fällen wählten die Parlamentarier dabei das Deutsche (95 %), in 30 Fällen das Lettische (5 %) und nie das Russische. An dieser Stelle bestätigt sich die Einschätzung Wachtsmuths, dass »grundsätzlich deutsch (mit ganz wenigen Ausnahmen) gesprochen wurde.«138 In ihrer Absolutheit falsch ist dagegen die Erinnerung Stegmans, wonach »nie ein Deutscher als Vertreter seiner Volksgruppe nicht deutsch gesprochen«139 hätte. Bei den 30 Äußerungen auf Lettisch handelte es sich fast immer um kurze Äußerungen bei konkreten Gesetzeslesungen. Die Verwendung des Lettischen erfolgte also situativ, eine tiefere Symbolik hatte sie nicht – ganz anders als beispielsweise bei der bewusst auf Lettisch gehaltenen Loyalitätserklärung im Namen der russischen und jüdischen Volksgruppen durch den russischen Abgeordneten Aleksandr Bocˇagov vor dem Volksrat am 13. Juli 1919.140 Bei Wachtsmuth fehlt hingegen, wie bereits einleitend erwähnt, eine Würdigung der Tatsache, dass die deutschen Parlamentarier als Gesetzesreferenten 480 Wortbeiträge leisteten und dabei dem Usus nachkamen, das Lettische zu gebrauchen. Werden zu diesen die 30 freien Wortmeldungen hinzuaddiert, so erfolgten 510 oder 45 % aller Wortmeldungen deutscher Parlamentarier 1918– 1934 auf Lettisch. Bereits Stegman erkannte in seinen Memoiren das Problem 137 Saeimas ka¯rtı¯bas rullis [Geschäftsordnung der Saeima] (27. 03. 1923); (10. 04. 1929), in: Likumu un Ministr¸u kabineta noteikumu kra¯jums (1923), Nr. 34; (1929), Nr. 58. 138 Wachtsmuth, Gesicht, S. 265. 139 Stegman, Erinnerungen, S. 161. 140 Volksrat, III. Session, 1. Sitzung (13. 07. 1919), S. 97f.

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der symbolisch wichtigen, aber die Chancen für die Durchsetzung politischer Ziele vermindernde Benutzung des Deutschen, weil einige Abgeordnete lettischer Nationalität vor allem in den 1930er Jahren das Deutsche zunehmend als störend empfanden.141 Dabei spielte der aufkommende Nationalismus eine große Rolle. Des Weiteren hatten auch viele Letten jüngeren und mittleren Alters das Deutsche aufgrund der Zurückdrängung durch die zarische Administration in den 1880er und 1890er Jahren nicht mehr erlernt. Trotz womöglich auch schon zeitgenössisch geführter Diskussionen innerhalb des Kreises der deutschen Parlamentarier hielten diese an ihrem Gewohnheitsrecht fest, vor dem Plenum bei freier Wahl grundsätzlich das Deutsche zu benutzen, letztmalig durch Stegman am 8. Mai 1934.142 Mit Ausnahme des Agrariers Ivan Kornil’ev, der 1928–1934 freiwillig Lettisch sprach, verhielten sich die Abgeordneten russischer Nationalität durch Verwendung des Russischen analog. Es dominierte also die Symbolik des Gebrauchs der Muttersprache, selbst wenn dies Nachteile bei der Verständlichkeit und möglicherweise auch beim Erreichen politischer Ziele nach sich zog. Nachdem Verhandlungen des bereits genannten, die Altbalten repräsentierenden Baltischen Deutschen Nationalausschusses vom 22.–24. November 1918 mit Ka¯rlis Ulmanis keine Einigung hervorgebracht hatten, erklärten sich zwei jungbaltische Gruppierungen, nämlich die DbFP und der Jungbaltenbund, Ende November und Anfang Dezember 1918 bereit, die Republik Lettland auf Basis der »Politischen Plattform« des Volksrats vom 18. November 1918 anzuerkennen.143 Die Geschichte der deutschen Parlamentarier im lettischen Parlament begann mit dem Eintritt von fünf DbFP-Mitgliedern, nämlich Wilhelm Baum, Oskar Grosberg, Alexander v. Klot, Eduard v. Rosenberg und Wilhelm Schreiner, am 2. Dezember 1918 zu Beginn der 3. Sitzung des Volksrats. Zu diesem Zeitpunkt tagte der Volksrat im Saal der Rigaer Stadtverordnetenversammlung (Abb. 1).144 Diesen fünf folgten auf der 4. Sitzung am 4. Dezember 1918 weitere drei Mitglieder, nämlich zwei des Jungbaltenbundes – sehr wahrscheinlich Peter Kluge und Oskar Schönhoff –145 sowie Keller (DbDP). Dadurch wurden binnen 141 Stegman, Erinnerungen, S. 161. Gelegentlich vermerkt das Protokoll 1934 auch Zwischenrufe bei Reden auf Deutsch oder auf Russisch, die die Redner zum Gebrauch des Lettischen aufforderten, so IV. Saeima, VIII. Session, 11. Sitzung (06. 03. 1934), S. 425; IX. Session, 5. Sitzung (04. 05. 1934), S. 128; 6. Sitzung (08. 05. 1934), S. 162. 142 IV. Saeima, IX. Session, 6. Sitzung (08. 05. 1934), S. 162. 143 Wachtsmuth, Gesicht, S. 49–59. 144 Volksrat, Sitzung (02. 12. 1918), S. 18. Rigasche Zeitung (03. 12. 1918), S. 6. 145 Während die fünf DbFP-Mitglieder des Volksrats aufgrund der Nennung im Stenogramm bekannt sind, ist dies bei den beiden Mitgliedern des Jungbaltenbunds nicht der Fall. Die Stenogramme der drei Sitzungen vom 4.–6. Dezember 1918 nennen lediglich die Anzahl der anwesenden Deutschen. Aufgrund der Vereinigung des Jungbaltenbunds mit der DbFP im Mai 1919 schlägt zudem das 1925 erstellte Register alle Mitglieder des Jungbaltenbunds der

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dreier Tage alle acht für die Deutschen vorgesehenen Mandate vergeben, während von den für die anderen Minderheiten vorgesehenen zwölf Mandaten am 2. Dezember 1918 zunächst nur drei an jüdische Politiker vergeben werden konnten.146 Damit war die paradoxe Situation entstanden, dass die deutsche Minderheit nur 16 Tage nach der Proklamation der Republik Lettland sowohl in der Legislative als auch in der Exekutive verglichen mit ihrer Kopfzahl völlig überrepräsentiert war, während die Mehrheit der deutschen Bevölkerung diese Republik gar nicht anzuerkennen bereit war.147 Zwar erkannte am 8. Dezember 1918 als vorläufig letzte Partei auch die zögerliche DbDP die lettische Staatlichkeit an,148 doch war dies für das Mandat des DbDP-Mitglieds Keller nicht mehr ausschlaggebend. Kellers Mandat rührte aus der Tatsache, dass er sich auf Bitten der Leitung des deutschen Schulwesens bereit erklärt hatte, das von Ulmanis von vornherein für einen Deutschen vakant gehaltene Amt eines Gehilfen – dies entspricht dem Stellvertreter – des Bildungsministers zu übernehmen. Dieses Amt war mit dem Mandat im Volksrat verbunden. Keller war dabei nur zweite Wahl, da der ursprünglich vorgesehene Nationalliberale Wolfgang Wachtsmuth – ebenjener spätere Autor – die Übernahme des Amtes abgelehnt hatte. Wachtsmuth begründete dies in seinen Erinnerungen mit mangelnder Sprachkenntnis.149 Sicher hatte aber auch seine ablehnende Haltung gegenüber der Republik Lettland eine Rolle gespielt. Bis 1929 bestand im Parlament Lettlands kein spezielles Fraktionsrecht, wohl aber fand von Anfang an der Begriff »Fraktion« (frakcija) für einen Zusammenschluss verschiedener Abgeordneter mit gleicher politischer Zielrichtung im Parlament Gebrauch. Auch ein einzelner Abgeordneter konnte 1918–1929 eine Fraktion bilden. In den Sitzungen im Dezember 1918 und Mai 1919 bildeten alle fünf bzw. acht deutschen Parlamentarier eine deutsche Fraktion. Mit abnehmender Tendenz fanden sich im Dezember 1918 zwei bis sechs Deutsche zu

146 147 148 149

DbFP zu, vgl. Latvijas Tautas Padomes stenogramu satura ra¯dı¯tajs, S. 8. Von allen 28 deutschen ordentlichen oder Ersatzmitgliedern waren laut Wachtsmuth, Gesicht, S. 55, drei, nämlich Kluge, Schönhoff und Alfred Seeberg, 1918–1919 Mitglieder des Jungbaltenbundes. Im Register des Volksrats werden von diesen Kluge und Schönhoff als ordentliche und Seeberg als Ersatzmitglied geführt, vgl. Latvijas Tautas Padomes stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js, S. 8. Ebenso waren beide am 12. Mai 1919 und 13. Juli 1919 anwesend, auf letzterer Sitzung als ordentliche Mitglieder, vgl. Volksrat, II. Session, 1. Sitzung (12. 05. 1919), S. 71; III. Session, 1. Sitzung (13. 07. 1919), S. 96f. Daher ist die Mitgliedschaft Kluges und Schönhoffs auch schon für 1918 anzunehmen. Volksrat, Sitzung (02. 12. 1918), S. 18. Wachtsmuth, Gesicht, S. 50, 59. Topij, Mniejszos´c´, S. 24. Protokoll der Allgemeinen [sic] Versammlung der Demokratischen Partei Russischer Staatsbürger Deutscher Nationalität resp. der Baltischen Deutschen Demokratischen Partei in Riga (08. 12. 1918), in: LVVA, f. 4985, a. 1, l. 3, Bl. 38. Wachtsmuth, Gesicht, S. 53. Wachtsmuth, Wege, S. 157f. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 39.

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den Sitzungen ein. Wichtigster deutscher Abgeordneter in diesen ersten Tagen des Parlamentarismus in Lettland war Wilhelm Schreiner, der bereits am 2. Dezember 1918 als Vorsitzender der deutschen Fraktion in Erscheinung trat.150 Er leistete sechs der sieben Wortmeldungen deutscher Mitglieder im Dezember 1918. Trotz der bereits eingangs angesprochenen Erleichterungen für die deutschen Abgeordneten durch Benutzung der deutschen Sprache und der Möglichkeit der Übersetzung ins Russische taten sie sich Zeitungsberichten zufolge schwer, den doch ganz überwiegend in lettischer Sprache stattfindenden Verhandlungen zu folgen.151 Aufgrund der sich verschlechternden militärischen Lage im Krieg gegen die Sowjets blieb die 6. Sitzung des Volksrats am 6. Dezember 1918 die zunächst letzte. Im Volksrat gab es neben den ordentlichen auch noch Ersatzmitglieder, die jederzeit bei einer Sitzung im Falle der Abwesenheit eines ordentlichen Mitglieds teilnehmen konnten und auch in Ausschüsse delegiert werden konnten. Dies spielte eine Rolle auf der 7. Sitzung des Volksrats in Libau am 12. Mai 1919, der ersten seit dem 6. Dezember 1918. Zweck der Sitzung war die Delegitimierung der Putschisten-Regierung Niedra. Dabei waren DbFP und der in ihr im selben Monat aufgehende Jungbaltenbund mit sieben Mitgliedern in voller Stärke präsent, davon waren wohl vier Ersatzmitglieder. Erneut trat Schreiner als Fraktionsvorsitzender und einziger deutscher Redner auf.152 Mit der 8. Sitzung am 13. Juli 1919 nahm der Volksrat in Riga seine ordentliche Tätigkeit wieder auf. Erstmalig tagte er 1919 in dem in den 1860er Jahren errichteten Ritterhaus gegenüber der Jakobikirche, wodurch auch symbolisch der Machtwechsel von der deutschbaltischen Oberschicht hin zur mehrheitlich von den Letten geführten neuen Republik Lettland vollzogen wurde. Lediglich im Oktober 1919 kam es nochmals zu einer kurzen Unterbrechung, als aufgrund des bereits erwähnten Angriffs der Bermondt-Armee der Volksrat in die Stadt Wenden in Livland ausweichen musste.153 Die Mandatszahl der Minderheiten änderte sich noch mehrmals. Sie über150 Volksrat, Sitzung (02. 12. 1918), S. 32. Das Protokoll selbst benennt Schreiner nicht namentlich als Vorsitzenden der Fraktion, wohl aber Zeitungsberichte, so Baltijas Wehstnesis (05. 12. 1918), S. 2. Jaunais Wahrds (05. 12. 1918), S. 2. Zudem wird in der Literatur behauptet, Schreiner wäre am 4. Dezember 1918 auch zum Vorsitzenden des Ausschusses für Minderheitenfragen gewählt worden, so Dribins, Deutschbalten, S. 284. Garleff, Politik, S. 114. Im Volksratsprotokoll, das Schreiner falsch als Steinert benennt, wird allerdings die Lettgallerin Valerija Seil als Vorsitzende des Ausschusses aufgeführt, vgl. Volksrat, I. Session, 3. Sitzung (04. 12. 1918), S. 46; 5. Sitzung (06. 12. 1918), S. 67f. 151 Topij, Mniejszos´c´, S. 24. Wachtsmuth, Gesicht, S. 60f. 152 Volksrat, II. Session, 1. Sitzung (12. 05. 1919), S. 81, 93. Libausche Zeitung (13. 05. 1919), S. 1. 153 Volksrat, V. Session, 4. Sitzung (11. 10. 1919), S. 387; 7. Sitzung (31. 10. 1919), S. 396. Libausche Zeitung (17. 07. 1919), S. 2. Stegman, Erinnerungen, S. 160. Hiden, Defender, S. 48, nennt falsch den 15. Juli 1919 für die Wiederaufnahme der Arbeit des Volksrats.

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schritt dabei auch die ursprünglich 1918 vorgesehene Zahl von 20 Minderheitenabgeordneten,154 zuletzt betrug sie ab dem 9. Dezember 1919 wohl 23 von 102 (Tabelle 1). Die Zahl von acht Sitzen für die deutschen Parteien änderte sich allerdings nie. Die jüdischen Parteien stellten ab dem 13. Juli 1919 sechs, die Russen vier Mitglieder. Am 11. August 1919 wurde jedoch die Anzahl der jüdischen sicher und die der russischen Abgeordneten sehr wahrscheinlich ebenso um je zwei auf acht und sechs erhöht.155 Zwei Litauer waren am 12. Mai 1919 anwesend, danach verlieren sich allerdings ihre Spuren. Bronisław Nagujewski wurde am 9. Dezember 1919 zum Vertreter der polnischen Minderheit bestimmt.156 Angesichts der Tatsache, dass die DbFP nach der Vereinigung mit dem Jungbaltenbund über sieben der acht Mandate verfügte, erklärte sie sich Anfang Juli 1919 zur Abgabe zweier Mandate bereit, nämlich diejenigen Baums und Klots. An beider Stelle traten neu Heinrich v. Brümmer (DbNlP) und Paul Schiemann (DbDP) hinzu. Die Tatsache, dass der durch seine Tätigkeit in der Niedra-Regierung höchst belastete Brümmer – er war u. a. Innenminister gewesen – nur drei Wochen nach dem Zusammenbruch ebendieser Regierung Niedra einen Sitz im Volksrat erlangen konnte, zeigt einerseits die Offenheit des politischen Systems Lettlands. Andererseits stellte seine Anwesenheit für die deutschen Interessen eine Belastung dar, da Brümmer im Volksrat wiederholt Zielscheibe lettischer Angriffe wurde.157 Diese Angriffe wiederum dürften einer der Gründe gewesen sein, weshalb Brümmer am 3. November 1919 sein Mandat zu Gunsten Alfred v. Roennes (DbNlP) aufgab. Diese Abgabe markierte wiederum den Auftakt zu einer ganzen Serie von Mandatstauschen: Bereits am 24. November 1919 gab der eben erst eingetretene Roenne seinen Sitz an Karl v. Broecker (DbNlP, nach dem Namenswechsel DbRP) weiter. Nach schweren inneren Querelen übergab der 154 Wachtsmuth, Gesicht, S. 50. 155 Volksrat, IV. Session, 2. Sitzung (13. 08. 1919), S. 142. Die Zahl der jüdischen und russischen Mitglieder ergibt sich dabei aus der Zahl der anwesenden Vollmitglieder. Aufgrund von Diskrepanzen im Stenogramm und dem 1925 angefertigten Register bleibt v. a. bei den Russen ein Rest an Unsicherheit. Definitiv falsch ist die Zahl von 150 Mitgliedern des Volksrats bei Garleff, Politik, S. 89, und Wittram, Schulautonomie, S. 258. 150 war die Zahl der Mitglieder der Konstituante. Ebenso falsch ist die Zahl von 183 Sitzen bei Pabriks, Valtenbergs, Latvia, S. 1111. Diese Zahl bezieht sich auf alle Personen, die 1918–1920 einmal Mitglieder des Volksrats gewesen waren. 156 Volksrat, II. Session, 1. Sitzung (12. 05. 1919), S. 71; VI. Session, 11. Sitzung (09. 12. 1919), S. 630. Kre¯slin¸ˇs, Maza¯kumtautı¯bu jauta¯jums, S. 64f. 157 Volksrat, III. Session, 1. Sitzung (13. 07. 1919), S. 96; 2. Sitzung (15. 07. 1919), S. 101, 110; V. Session, 8. Sitzung (03. 11. 1919), S. 405; 11. Sitzung (08. 11. 1919), S. 450. Wachtsmuth, Gesicht, S. 89, nennt als Zeitpunkt für die Mandatsübernahme Schiemanns falsch den August 1919. Rosenberg, Deutschtum, S. 104, nennt falsch Fircks ebenfalls Mitglied des Volksrats.

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DbFP-Vorsitzende Rosenberg am 8. Dezember 1919 seinen Sitz an Wilhelm Deubner (DbFP). Eine weitere Veränderung ergab sich am 19. Januar 1920, als Oskar Schönhoff (DbFP) seine Mitgliedschaft zu Gunsten Oskar Katterfelds (DbFP) beendete. Nur vier Tage später, am 23. Januar 1920, schied wiederum Broecker (nunmehrige DbRP) aus. Sein Nachfolger wurde der vormalige Justizminister Edwin Magnus (DbRP).158 Ganz zum Schluss änderte sich auch noch zweimal der Verteilerschlüssel der deutschen Parteien: Am 8. März 1920 gab Katterfeld (DbFP) aufgrund einer unter Druck zustande gekommenen Vereinbarung innerhalb des A.P. sein Mandat auf. Sein Nachfolger wurde Woldemar Pussull für die bislang nicht vertretene DbVP. Damit waren DbFP mit vier, DbDP mit zwei sowie DbRP und DbVP mit je einem Mitglied vertreten. Bei der 59. und letzten Sitzung des Volksrats am 18. März 1920 gab Magnus (DbRP) sein Mandat an Paul Engelmann (DbVP) weiter.159 Dadurch war die DbVP für diese Sitzung durch zwei Mitglieder, die DbRP dagegen gar nicht mehr vertreten. Diese erheblichen personellen Diskontinuitäten stellten für die Arbeit der deutschen Mitglieder insgesamt eine Belastung dar, da diese Wechsel nicht nur Fraktionen und das Plenum, sondern auch jedes Mal die Ausschüsse betrafen. Trotz der Änderungen im Verteilerschlüssel 1919 und 1920 spiegelte die Sitzverteilung der deutschen Volksratsmitglieder kaum die politische Gesinnung der Deutschbalten wider. Die DbFP behielt, verursacht durch ihr frühzeitiges Bekenntnis zur Republik Lettland, stets einen überproportional hohen Mandatsanteil. Dieser wurde auch durch die zweimalige Verminderung ihrer Mandate von sieben auf fünf (Juli 1919) und von fünf auf vier (März 1920) lediglich reduziert, nicht aber beseitigt.160 Zwar vertraten Schreiner und Rosenberg – die beiden wichtigsten DbFPAbgeordneten – engagiert und ohne Zurückhaltung deutschbaltische Interessen, wie sich in den Debatten um die Gerichts- oder Schulsprachen unschwer zeigen lässt.161 Dennoch wirkten die Auseinandersetzungen der Vormonate so stark nach, dass 1919–1920 keine deutsche Fraktion bestand – eine Tatsache, die aufgrund der unsauberen Verwendung des Fraktionsbegriffs und dem zu diesem 158 Volksrat, V. Session, 8. Sitzung (03. 11. 1919), S. 405; VI. Session, 3. Sitzung (24. 11. 1919), S. 499; 10. Sitzung (08. 12. 1919), S. 610; VII. Session, 1. Sitzung (19. 01. 1920), S. 679; 3. Sitzung (23. 01. 1920), S. 711. Roenne trat noch 1920 zur DbDP über, vgl. Wachtsmuth, Gesicht, S. 107, 359. 159 Volksrat, VIII. Session, 1. Sitzung (08. 03. 1920), S. 798; 5. Sitzung (18. 03. 1920), S. 897. Garleff, Politik, S. 42, nennt für den Eintritt Pussulls den 12. Februar 1920, wobei dies das Datum der Vereinbarung über den Mandatstransfer im A.P. darstellt, vgl. dazu Wachtsmuth, Gesicht, S. 138f. 160 Vgl. dazu die Tabelle bei Conrad, Loyalitäten, S. 53. 161 Volksrat, I. Session, 5. Sitzung (06. 12. 1918), S. 62; VI. Session, 3. Sitzung (24. 11. 1919), S. 509, 511.

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Zeitpunkt wenig formalisierten Parlamentarismus Lettlands keine Beachtung gefunden hat.162 Stattdessen bestand ab dem 13. Juli 1919 im Volksrat faktisch eine DbFP-, eine DbDP-, eine DbNlP- bzw. ab 1920 DbRP- und ab 1920 zusätzlich eine DbVP-Fraktion. Erstmals war diese Spaltung bei der Besetzung der Ausschussmitglieder am 15. Juli 1919 relevant,163 auf die noch eingegangen wird. Vor allem konkurrierten die DbFP- und die DbDP-Fraktionen um die politische Führungskompetenz der deutschbaltischen Volksgruppe im Volksrat. Zu Antipoden dieser Auseinandersetzungen wurden DbDP-Partei- und Fraktionschef Schiemann und DbFP-Partei- und Fraktionschef Rosenberg. Beide stellten von Juli bis Dezember 1919 mit 15 und 13 Äußerungen auch das Gros der Wortmeldungen deutscher Mitglieder. Erst nach dem Ausscheiden Rosenbergs aufgrund parteiinterner Kritik an seiner negativen Haltung gegenüber Ministerpräsident Ulmanis, die auch im Volksrat am 5. Dezember 1919 offen zur Sprache kam,164 näherten sich die deutschen Mitglieder einander an. Zuletzt kam es zwischen Schiemann und Schreiner zu einer offenen Meinungsverschiedenheit über eine von den lettischen Radikaldemokraten eingebrachte Anfrage in der Sitzung vom 19. Januar 1920 über Kriegsgräuel in Wolmar.165 Im Zuge der bereits in Kapitel 2.2 genannten Gründung des A.P. als Dachverband aller Parteien im Februar 1920 endete der parlamentarische Dissens der deutschen Fraktionen ganz. Schiemann, der als Chefredakteur der »Rigaschen Rundschau« auch außerhalb des Parlaments die politische Meinungs- und Willensbildung maßgeblich prägte,166 war zum uneingeschränkt wichtigsten deutschen Politiker geworden. Über die Bedeutung der deutschen Mitglieder des Volksrats urteilte Wachtsmuth eigenartig und nicht überzeugend. Wie er richtig herausarbeitet, gab es 28 deutsche Mitglieder, davon 17 ordentliche und elf Ersatzmitglieder. Wachtsmuth charakterisierte ohne Begründung 23 von diesen als »mehr hervorgetreten«167. Werden allerdings die 58 Wortmeldungen deutscher Mitglieder des Volksrats im Plenum als Maßstab genommen, so stechen nur vier Personen hervor: Schiemann mit 22, Rosenberg mit 13, Schreiner mit elf und Keller mit vier Rede162 So sprechen sowohl Keller, Parlamentsfraktion, S. 162, 165, als auch Wachtsmuth, Gesicht, S. 380, auch für 1919–1920 von einer »deutschen Fraktion«. Andererseits hat Wachtsmuth, Gesicht, seine eingangs gezeigte Schiemann-Fotografie mit »Dr. jur. Paul Schiemann, Vorsitzender der deutschen Parlamentsfraktion 1920–1933« unterschrieben und damit der Tatsache Rechnung getragen, dass Schiemann zwar auch 1919–1920 schon Abgeordneter gewesen war, aber in Ermangelung einer deutschen Gesamt-Fraktion nur Vorsitzender der DbDP-Fraktion gewesen war. 163 Volksrat, III. Session, 1. Sitzung (15. 07. 1919), S. 100–103. 164 Volksrat, VI. Session, 9. Sitzung (05. 12. 1919), S. 600, 609. Wachtsmuth, Gesicht, S. 105. 165 Volksrat, VII. Session, 1. Sitzung (19. 01. 1920), S. 678f. 166 Wachtsmuth, Gesicht, S. 112, 119f. 167 Wachtsmuth, Gesicht, S. 375.

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beiträgen. Weitere fünf Mitglieder hatten zusammen acht Wortmeldungen. Acht ordentliche und alle elf Ersatzmitglieder meldeten sich dagegen nie zu Wort. Aufgrund der geringen Anzahl an Wortmeldungen könnte selbst Keller der Status als hervorgetretenes Mitglied aberkannt werden. Allerdings ist zu beachten, dass Keller bei den Verhandlungen des für alle Minderheiten ausgesprochen wichtigen Schulautonomie-Gesetzes zweimal das Lettische gebrauchte.168 Daher ist die Einordnung Kellers als bedeutend trotz der geringen Redenzahl gerechtfertigt. Insgesamt waren die Deutschen sowohl absolut als auch relativ während des Volksrats vor den Juden und Russen die vor dem Plenum aktivste Gruppe der Minderheitenparlamentarier. Den 58 Wortmeldungen deutscher Mitglieder – dies entsprach 7,6 Redebeiträgen pro Jahr und Mandat – standen nämlich nur 35 Reden der sechs, ab August 1919 acht jüdischen (4,8) und zwölf der vier, ab August 1919 wohl sechs russischen Mitglieder (2,3) gegenüber (Tabelle 6). Die litauischen und polnischen Mitglieder meldeten sich nie zu Wort. Bei der Neubesetzung aller zwölf Ausschüsse am 15. Juli 1919 zeigte sich, dass die Zersplitterung der deutschen Abgeordneten in drei Fraktionen die Partizipation nicht lähmte: Bei 132 Mitgliedern aller Ausschüsse wurden 38 von Mitgliedern der Minderheiten eingenommen (29 %). Davon fielen wiederum 16 an die Deutschen (2,0 Mitgliedschaften pro Mandat), zwölf an die Juden (2,0) und zehn an die Russen (2,5). Bei der Sitzverteilung in den Ausschüssen erreichten die deutschen Fraktionen eine Konzentration in den Schlüsselausschüssen Verfassung, Kriegswesen, Finanzen und Budget, Nationalitätenfragen sowie Agrargesetzgebung. In diesen stellten die DbFP-, DbDP- und DbNlP-Fraktionen zusammen je 15–20 % der Mitglieder. Umgekehrt wurde den russischen Abgeordneten dafür zugestanden, in verhältnismäßig mehr Ausschüssen präsent zu sein.169 Somit belegt die Verteilung wiederum die Stellung der deutschen Abgeordneten als primus inter pares unter den Minderheiten. Nach der Aufstockung der jüdischen und russischen Abgeordneten im August 1919 waren die deutschen Parlamentarier auch im Verhältnis diejenigen, die sich am stärksten in Ausschüssen engagierten. Mit Beginn der Konstituante änderten sich zahlreiche Rahmenbedingungen, die bis zum Schluss der parlamentarischen Periode anhielten. Dazu gehörte fortan eine geschlossene deutsche Fraktion – wobei die politische Linie grundsätzlich vom A.P. vorgegeben wurde. Innerhalb des A.P. dominierten allerdings wiederum die Parlamentarier, die mitunter die anderen A.P.-Mitglieder auf diesem Wege in ihre Entscheidungen einbanden. Die enge personelle Ver168 Volksrat, VI. Session, 8. Sitzung (02. 12. 1919), S. 588f; 10. Sitzung (08. 12. 1919), S. 618f. Vgl. dazu Kap. 2.4.2. 169 Volksrat, III. Session, 2. Sitzung (15. 07. 1919), S. 100–103.

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quickung des A.P. mit der Fraktion wurde auch durch den gemeinsamen Geschäftsführer beider Einrichtungen, Kurt Stavenhagen (DbVP), deutlich. Mit Ausnahme des frühen Wechsels von Reusner zu Keller 1920 entfielen nun die ständigen Mandatswechsel aus der Zeit des Volksrats. Vorsitzender der Fraktion wurde trotz der Tatsache, dass er als entschiedener Liberaler nicht die Mehrheit der Deutschbalten repräsentierte, Schiemann. Zu seinem Stellvertreter bestimmten die Fraktionsmitglieder Wilhelm v. Fircks. Trotz der hohen Divergenz der politischen Ansichten Schiemanns und Fircks’ einte beide eine hohe Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft, was in der Fraktion eine grundsätzliche Harmonie entstehen ließ, die eine fruchtbare politische Arbeit ermöglichte.170 Die sechs deutschen Parlamentarier behielten 1920–1922 zusammengerechnet sowohl absolut als auch relativ ihre Position als eifrigste Redner vor dem Plenum. Den 110 Wortmeldungen deutscher Abgeordneter (7,3 pro Abgeordneter und Jahr) standen lediglich 37 der acht jüdischen (1,9) und 15 der vier russischen (1,5) Parlamentarier gegenüber. Aktivste deutsche Abgeordnete waren Schiemann und Fircks mit 42 und 36 Äußerungen. Bei der Zugehörigkeit in Ausschüssen lagen die deutschen Parlamentarier mit elf (1,8 Mitgliedschaften pro Abgeordneter) genau im Schnitt. Die russischen Abgeordneten lagen mit 2,3 vorne, die jüdischen mit 1,5 hinten. 1920–1921 bestand für die deutschen, jüdischen und russischen Abgeordneten der Konstituante der »Ausschuss der Minoritäten Lettlands« (A.M.) als Dachorganisation unter Vorsitz Schiemanns. Die Geschäftsführung unterlag dem früheren Volksratsmitglied Oskar Grosberg (DbFP). Bei der Besetzung der Ausschüsse schlossen sich die Minderheitenabgeordneten kurzzeitig auch zu einer technischen Minderheitenfraktion zusammen, um mehr Ausschusssitze zu erreichen. Nach einer anfangs intensiven Zusammenarbeit der Minderheitenparlamentarier erlahmte das Interesse der meisten jüdischen und russischen Abgeordneten, weshalb das Büro des A.M. am 1. Mai 1921 zum Büro des ausschließlich die deutschen Parteien vereinigenden A.P. wurde. Am 1. Oktober 1921 löste die deutsche Fraktion den A.M. ganz auf, nachdem der jüdische Abgeordnete Jakob Hellmann (Zeire Zion) am Vortag in der Konstituante für die Einführung des 22. Juni in Erinnerung an die Schlacht von Wenden 1919 als Feiertag gestimmt hatte.171 Insgesamt lassen sich Volksrat und Konstituante 1918–1922 zu einer ersten Phase der Partizipation deutscher Abgeordneter zusammenführen. Im Schnitt meldete sich jeder deutsche Parlamentarier pro Jahr im Plenum 7,6 bzw. 7,3-mal 170 Balling, Handbuch, S. 145, 152. Hiden, Defender, S. 48f. Topij, Mniejszos´c´, S. 94. Wachtsmuth, Gesicht, S. XIV, 101, 117–123, 125–127, 140, 146. Ders., Wege, S. 228–230. 171 Rigasche Rundschau (01. 10. 1921), S. 1. Hiden, Defender, S. 68. Wachtsmuth, Gesicht, S. 356–370. Weiss, Nationalitätenprobleme, S. 175.

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zu Wort, jeweils gerechnet auf die Mandatszahl. Dadurch waren die Deutschen klar diejenigen Abgeordneten der Minderheiten, die sich am häufigsten einbrachten. Die ordentliche Tätigkeit der Saeima begann 1922. Zeitgenössisch wurde von deutscher Seite das Parlament Lettlands über viele Jahre »Landtag« genannt, ehe zusätzlich als Synonym zu Beginn der 1930er Jahre auch der lettische Begriff Eingang in den deutschen Sprachgebrauch fand.172 Schon ab 1922 beherrschten alle deutschen Parlamentarier das Lettische so gut, dass sie in der Lage waren, Gesetzesreferate zu halten. Dies stellte für die Partizipation einen enormen Fortschritt dar, zumal alle Deutschen – wenn auch mit recht unterschiedlicher Intensität – diese Möglichkeit nutzten. Während der I. Saeima stieg die Anzahl an Wortmeldungen deshalb von 110 auf 297 an. Dabei sind Äußerungen Knopps als II. Gehilfe des Parlamentssekretärs nicht mit eingerechnet, um die Validität der Statistik gegenüber den anderen Minderheiten zu wahren. 153 Wortmeldungen entfielen auf Gesetzesreferate, 144 auf freie Redebeiträge, davon 140 auf Deutsch. Aktivster Abgeordneter war nun Knopp mit 92, wobei dieser, genauso wie Hahn mit 58 und Vegesack mit 53 auf ihre hohen Zahlen durch meist kurze Äußerungen als Gesetzesreferenten kamen. Fircks und Schiemann schnitten mit 49 und 33 Reden oberflächlich betrachtet schlecht ab, hielten aber viele längere Reden auf Deutsch. Insgesamt stieg die durchschnittliche Anzahl an Wortmeldungen deutscher Parlamentarier 1922–1925 auf 16,5 pro Jahr und Abgeordneter. Damit lagen die Deutschen erneut weit vor den sechs Juden mit 134 (7,4), den drei Russen mit 73 (8,1) und dem Polen Jan Wierzbicki mit 19 Wortmeldungen (6,3). Insgesamt wiesen die Zahlen aber bei allen vier Minderheiten deutlich nach oben. Vor allem die Deutschen und Juden zeigten große Bereitschaft, als Gesetzesreferenten Verantwortung zu übernehmen. Im Bereich der Ausschüsse waren die deutschen Abgeordneten aber nun erstmalig numerisch hinten: Zu Beginn der Legislaturperiode nahmen die je sechs Deutschen und Juden je elf Sitze in Ausschüssen ein (1,8 pro Abgeordneter), die drei Russen dagegen sechs (2,0) und Wierzbicki vier.173 Allerdings muss Knopps Tätigkeit als II. Gehilfe des Parlamentssekretärs sowie die Tatsache, dass die deutschen Abgeordneten noch etwas stärker in wichtigeren Ausschüssen vertreten waren, berücksichtigt werden. Während der II. Saeima 1925–1928 stiegen fast alle Werte nochmals an. Die fünf deutschen Abgeordneten meldeten sich 279-mal zu Wort, was einem Schnitt von 18,6 pro Jahr und Parlamentarier entsprach. Eindeutig aktivster Abgeordneter war Hahn mit 177 Redebeiträgen, davon 152 als Gesetzesreferent. Ihm 172 Wachtsmuth, Gesicht, S. 376. 173 I. Saeima, I. Session, 1. Sitzung (07. 11. 1922), S. 4; 2. Sitzung (10. 11. 1922), S. 26; 5. Sitzung (20. 11. 1922), S. 38, 43–47; 8. Sitzung (13. 12. 1922), S. 99f; 9. Sitzung (09. 01. 1923), S. 120.

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folgten Fircks mit 56 und Schiemann mit 36, während Keller und Alsleben mit acht und zwei am unteren Ende blieben – die Verteilung war also eine ausgesprochen disparate. Mit Ausnahme der russischen Abgeordneten nahmen auch die Beiträge der Parlamentarier der anderen Minderheiten zu: Die fünf Juden leisteten 165 (11,0), die vier Russen 88 (7,3) und die beiden Polen 87 (14,5) Wortbeiträge. Zum vierten Mal in Folge waren die deutschen Parlamentarier damit diejenigen, die sich quantitativ und qualitativ am meisten im Parlament äußerten. In der II. Legislaturperiode übernahm Hahn den Vorsitz des Finanzausschusses.174 Die ohnehin schon geringe Zahl an deutschen Parlamentariern in Ausschüssen nahm mit durchschnittlich 1,6 Mitgliedschaften pro Abgeordneter sogar noch etwas weiter ab. Von den anderen Minderheiten kamen die Polen auf 3,0, die Juden auf 2,4 und die Russen auf 1,3, wobei von diesen Meletij Kallistratov zum I. Gehilfen des Parlamentssekretärs gewählt worden war.175 In der III. Saeima 1928–1931 wurde mit Verabschiedung der Geschäftsordnung vom 10. April 1929 in § 185 erstmalig ein explizites Fraktionsrecht eingeführt. Für die Bildung einer Fraktion waren fortan drei Abgeordnete nötig,176 was die sechsköpfige deutsche Fraktion allerdings vor kein Problem stellte. Erstmalig ergaben sich für die deutschen Parlamentarier bei den Wortmeldungen geringfügig rückläufige Werte. Insgesamt gab es 270 Wortmeldungen, was bei sechs Abgeordneten 15,0 Redebeiträge pro Jahr und Abgeordneter entspricht. Die Verteilung war in dieser Legislaturperiode weniger disparat: 96mal äußerte sich Schoeler, davon in 61 Fällen als Gesetzesreferent. Westermann trat 50, Fircks 44, Pussull 33, Hahn 29 und Schiemann 20-mal vor das Plenum, der 1931 nachgerückte Sadowsky dagegen gar nicht. Nur bei Westermann überwogen die Gesetzesreferate. Wiederum bleiben Äußerungen Hahns als I. Gehilfe des Parlamentssekretärs außer Betracht. Im Bereich der Ausschüsse stieg die Beteiligung der Minderheiten auf 2,2 Mitgliedschaften pro Abgeordneter. Einmalig waren sie in allen 21 Ausschüssen tätig. Am stärksten engagierten sich wiederum die Polen mit 3,5, dann die Juden mit 2,6 Mitgliedschaften. Unterdurchschnittlich war das Engagement des Weißrussen Vladimir Pigulevskij mit 2,0, das der Russen mit 1,8 und das der Deutschen mit 1,7.177 Auffällig ist zudem, dass aufgrund der zunehmenden Erkrankung Schiemanns dieser im Parlament nun weniger in Erscheinung trat. Nach seinem Ausscheiden übernahm Fircks am 10. März 1931 den Vorsitz der 174 Schiemann, Jahresrückblick 1927, S. 25. Topij, Mniejszos´c´, S. 118. 175 II. Saeima, I. Session, 1. Sitzung (03. 11. 1925), S. 10; 2. Sitzung (06. 11. 1925), S. 25f; 3. Sitzung (10. 11. 1925), S. 27–32. 176 Saeimas ka¯rtı¯bas rullis [Geschäftsordnung der Saeima] (10. 04. 1929), in: Likumu un Ministr¸u kabineta noteikumu kra¯jums (1929), Nr. 58. 177 III. Saeima, I. Session, 1. Sitzung (06. 11. 1928), S. 8; 2. Sitzung (09. 11. 1928), S. 23–40.

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Fraktion. Dieser erklärte explizit, die Politik Schiemanns fortführen zu wollen.178 Verglichen mit den anderen Minderheiten lösten 1928–1931 die beiden Polen mit 148 Wortbeiträgen (24,7) die deutschen Parlamentarier erstmalig in qualitativer Hinsicht als diejenigen ab, die sich am häufigsten einbrachten. Die sechs russischen Abgeordneten meldeten sich in 133 (7,4), die fünf jüdischen in 108 (7,2) und Pigulevskij in 17 Fällen (5,7) zu Wort. Die ersten drei Saeima-Legislaturperioden 1922–1931 markieren die zweite Phase der Partizipation deutscher Abgeordneter. In dieser Phase nahmen die deutschen Deputierten sowohl über freie Äußerungen als auch als Gesetzesreferenten mit hoher Intensität am Parlament teil. Ihre Rolle als führende Minderheitenfraktion unterstrichen die Deutschen dabei durch die Tatsache, dass sie sich nach wie vor immer quantitativ und mit einer Ausnahme auch immer qualitativ am meisten einbrachten. Ergänzt wird diese Dominanz noch durch die zweimalige Stellung eines Gehilfen des Parlamentssekretärs in der I. und III. Legislaturperiode durch die deutsche Fraktion.179 Lediglich im Bereich der numerischen Ausschussmitgliedschaften waren die deutschen Parlamentarier eher im unteren Segment zu finden. Gänzlich anders gestaltete sich die dritte Phase der Partizipation deutscher Abgeordneter während der IV. Saeima 1931–1934. Die Wortmeldungen der sechs deutschen Parlamentarier brachen auf 115 ein, davon 93 freie Wortmeldungen und nur noch 22 als Gesetzesreferenten. Dies senkte die durchschnittliche Wortmeldung pro deutschen Abgeordneten auf 7,0, den insgesamt niedrigsten Wert für alle sechs Legislaturperioden 1918–1934. Die anderen Nationalitäten teilten diese Entwicklung nicht: Die beiden polnischen Abgeordneten sprachen in 102 (18,5), die sechs russischen in 267 (16,8180) und die drei jüdischen in immerhin 76 (9,2) Fällen. Somit büßte die deutsche Fraktion 1931–1934 ihre langjährige parlamentarische Vorrangstellung gegenüber den anderen Minderheiten ein. Für diese Entwicklung waren vor allem die inneren Konflikte unter den Deutschbalten verantwortlich. Diese erreichten nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 eine nie gekannte Schärfe und wirkte sich auf die parlamentarische Tätigkeit lähmend aus. Dazu kam aufgrund der minderheitenfeindlichen Politik der Regierungen Skujenieks und Bl¸odnieks ein zurückgehendes Interesse, sich mittels der Übernahme von Gesetzesreferaten für den Staat einzusetzen. Während die russischen Abgeordneten die geringeren Einflussmöglichkeiten durch zunehmende Reden fast ausschließlich in 178 Balling, Handbuch, S. 152. Wachtsmuth, Gesicht, S. 133. 179 Vgl. dazu Kap. 2.3.2. 180 Hierbei ist miteingerechnet, dass Leonid Ersˇov aufgrund der Verhaftung der kommunistischen Abgeordneten am 22. November 1933 der Saeima nicht mehr angehörte, vgl. IV. Saeima, VII. Session, 10. Sitzung (21./22. 11. 1933), S. 530.

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russischer Sprache kompensierten, reagierte die deutsche Fraktion mit Passivität. Ferner machte sich wiederum die Abwesenheit Schiemanns, der letztmalig am 10. Februar 1933 vor der Saeima sprach,181 aufgrund seiner erneuten Krankheit bemerkbar. Diese Entwicklung war zu Beginn der Legislaturperiode 1931 nicht abzusehen gewesen. Vielmehr hatten sich von den anderen Minderheitenabgeordneten ungewöhnlich wenige für Sitze in Ausschüssen beworben, so dass der Durchschnittswert für alle Parlamentarier der Minoritäten auf 1,6 Mitgliedschaften pro Deputierter absank. Die deutsche Fraktion war nun einem Wert von 1,7 erstmalig seit dem Volksrat überdurchschnittlich vertreten. Spitzenreiter blieben die beiden Polen mit 2,5, gefolgt von den Juden mit 2,3, während die Russen nur einen Wert von 0,8 erreichten.182 Die Mitglieder der deutschen Fraktion wählten im Anschluss an die Wahl vom 3./4. Oktober 1931 nach dem Ende der halbjährigen Abwesenheit Schiemanns diesen erneut zum Vorsitzenden der Fraktion und Fircks wieder zu seinem Stellvertreter. Mit dem Ausscheiden beider am 20. Oktober 1933 wechselte auch die Fraktionsführung: Neuer Vorsitzender wurde Lothar Schoeler (DbRP). Ihm stand Woldemar Pussull (DbVP) als Stellvertreter zur Seite.183 Dadurch hatte sich auch in der Fraktionsleitung die Abkehr vom Liberalismus niedergeschlagen. Die deutsche Fraktion gehörte 1920–1934 zu den politischen Gruppierungen mit allerhöchster Fraktionsloyalität. Es gab lediglich zwei formale Fraktionswechsel, nämlich den Übertritt Alslebens von der MKRA zur deutschen Fraktion während der 2. Sitzung der II. Saeima am 6. November 1925184 und den Schoelers von der formal konkurrierenden zweiten deutschen Liste in Livland noch vor Beginn der IV. Legislaturperiode 1931. Austritte aus der deutschen Fraktion gab es nie. Diese Geschlossenheit war tief in den Strukturen der Fraktion, des A.P. und der Parteien verankert und wurde aufgrund einiger Vorfälle im Zusammenhang mit als unglücklich empfundenen Pressegesprächen Hahns 1931 nochmals verschärft. So mussten Kandidaten noch im selben Jahr eine Selbstverpflichtung für den Fall der Wahl unterschreiben, die den Fraktionswechsel verbot.185

181 182 183 184 185

IV. Saeima, V. Session, 4. Sitzung (10. 02. 1933), S. 149f. Fraktionssitzung (11. 11. 1931), in: DWPS, Sign. 3, 1931, S. 43. Balling, Handbuch, S. 145, 147, 149, 152. Wachtsmuth, Gesicht, S. 169. II. Saeima, I. Session, 2. Sitzung (06. 11. 1925), S. 9. Verpflichtungs-Schreiben, welches alle Kandidaten der Deutschen Liste zu unterschreiben haben (1931), in: DWPS, Sign. 3, 1931, S. 27. Balling, Handbuch, S. 153. Wachtsmuth, Gesicht, S. 414–417. Vgl. auch Just, Arbeit, Bd. I, S. 327.

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2.3.2 Vertretung im Parlamentsvorstand Der Vorstand der lettischen Parlamente bestand 1918–1931 aus je sechs Personen, nämlich dem Parlamentspräsidenten, den beiden Gehilfen des Parlamentspräsidenten, dem Parlamentssekretär und den beiden Gehilfen des Parlamentssekretärs. 1931–1934 gab es keinen II. Gehilfen des Parlamentssekretärs mehr.186 Nachdem der Parlamentsvorstand aufgrund der sprachlichen Situation 1918–1922 ausschließlich aus Letten bestanden hatte, erreichten die Minderheiten ab 1922 eine Beteiligung am Parlamentsvorstand. Ihnen wurde grundsätzlich entsprechend ihrer numerischen Stärke im Parlament eines der beiden Ämter des Gehilfen des Sekretärs – also unten in der Hierarchie – zugebilligt.187 Zu Beginn der I. Legislaturperiode verständigten sich die Minderheiten auf Egon Knopp (DbEP) als gemeinsamen Kandidaten für das Amt des II. Gehilfen des Parlamentssekretärs. Knopp wurde am 7. November 1922 mit 65 Stimmen ohne Gegenkandidaten gewählt.188 Zu Knopps Aufgaben gehörte hauptsächlich das Verlesen von Artikeln bei Gesetzentwürfen vor dem Plenum.189 Zu Beginn der II. Legislaturperiode verständigten sich die Minderheiten auf den russischen Altgläubigen Meletij Kallistratov als Kandidaten für das Amt des I. Gehilfen des Parlamentssekretärs. Die Kandidatur wurde im Namen der Minderheitenabgeordneten von Paul Schiemann zum 3. November 1925 eingereicht. Kallistratov erhielt ohne Gegenkandidaten 73 Stimmen.190 Zu Beginn der III. Legislaturperiode einigten sich die Minderheiten auf John Karl Hahn (DbEP) als gemeinsamen Kandidaten, wiederum für den Posten des I. Gehilfen des Parlamentssekretärs. Erneut war es Schiemann, der Hahn im Namen der Minderheiten vorschlug. Er erhielt am 6. November 1928 84 Stimmen, wiederum ohne Gegenkandidaten.191 Die Aufgaben Hahns entsprachen denjenigen Knopps, wobei er seltener zum Einsatz kam als 1922–1925 Knopp. Eine Schlüsselrolle spielte Hahn allerdings in der Sitzung am 22. Juli 1931 bei der Auszählung der Stimmen über das Domenteignungsgesetz,192 als er eine falsche Stimmkartenzählung des Parlamentssekretärs Ja¯nis Breiksˇs (DC, Demokra¯tis186 Latvijas Tautas Padomes stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js, S. 3. Latvijas Satversmes Sapulces stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js, S. 3. Zur Anzahl der Präsidiumsmitglieder 1922–1934 vgl. die jeweiligen Inhaltsverzeichnisse der Sessions-Stenogramme. 187 Schiemann, Tätigkeit, S. 24. 188 I. Saeima, I. Session, 1. Sitzung (07. 11. 1922), S. 4. 189 So I. Saeima, VI. Session, 22. Sitzung (19. 12. 1924), S. 870–873; VII. Session, 11. Sitzung (24. 02. 1925), S. 506–538. 190 II. Saeima, II. Session, 1. Sitzung (03. 11. 1925), S. 7f. 191 III. Saeima, I. Session, 1. Sitzung (06. 11. 1928), S. 7f. Schiemann, Jahresübersicht 1930, S. 5. Stegman, Erinnerungen, S. 161, irrt, als er Hahn auch für 1933–1934 noch ein Mitglied im Saeima-Präsidium nennt. 192 Vgl. dazu Kap. 2.4.5.

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kais centrs) bemerkte. Ohne diese Aufmerksamkeit Hahns hätte die Vorlage als angenommen gegolten, obwohl sie eigentlich abgelehnt worden war. Besonders pikant war dabei, dass Breiksˇs den vorliegenden Antrag selbst eingebracht hatte.193 Die Wahlen des Parlamentsvorstandsmitglieds der Minderheiten liefen 1922, 1925 und 1928 nach fast demselben Schema ab: Die Minderheiten verständigten sich auf einen Kandidaten, der danach von Paul Schiemann vorgeschlagen und ohne Gegenkandidaten gewählt wurde. Dabei zeigt sich auch hier, dass die deutsche Fraktion primus inter pares war : Nicht nur, dass bei den drei ersten Malen in zwei Fällen ein Deutscher zum Zuge kam, sondern auch die Tatsache, dass Schiemann als Vorschlagender für alle Minderheiten auftrat, zeigt diesen Einfluss. Die anwachsende Anzahl an Stimmen für die Kandidaten der Minderheiten von zunächst 65 (1922), dann 73 (1925) und schlussendlich 84 Stimmen (1928) illustrieren, dass die Übernahme des Amtes im Parlamentspräsidium auch für eine größer werdende Mehrheit der Abgeordneten lettischer Nationalität selbstverständlich war oder wurde. 1931 änderte sich schlagartig die bisherige Gepflogenheit in diesem Bereich: Wie gewohnt einigten sich die Minderheiten auf einen Kandidaten, dieses Mal auf den Polen Jan Wierzbicki. Dieser war seit 1922 Abgeordneter und hatte vom 4. Februar 1928 bis zum 1. Juli 1931 das Amt des Gehilfen des Innenministers bekleidet.194 Gegen Wierzbicki nominierte die Fraktion der christlich-katholischen Bauern Lettgallens, die als drittstärkste Fraktion zuvor bei der Wahl des II. Gehilfen des Präsidenten nicht zum Zuge gekommen war, mit Lukass Ozolin¸ˇs einen Gegenkandidaten. Schiemann appellierte am 3. November 1931 an die Saeima, die bislang geübte Praxis, den Minderheiten mit 17 von 100 Deputierten einen der Plätze im Parlamentspräsidium zu gewähren, beizubehalten.195 Im Anschluss erklärte allerdings der Sozialist Felikss Ciele¯ns (LSDSP), dass seine Fraktion zwar grundsätzlich den Minderheiten ein Amt im Präsidium zubilligen, sich aber an Wierzbicki als Mitglied der polnischen Union stören würde, da ein Mitglied seiner Partei im Wahlkampf Bestechungen vorgenommen hätte. Bei der Wahl entfielen auf Wierzbicki 32 und auf Ozolin¸sˇ 24 Stimmen, wodurch keiner gewählt wurde. Im 2. Wahlgang erzielten Wierzbicki 34 und Ozolin¸sˇ 22 Stimmen, worauf Letzterer ausschied. Im 3. Wahlgang entfielen auf Wierzbicki als alleinigem Kandidaten 30 Stimmen, wodurch auch er ausschied.196 193 Libausche Zeitung (24. 07. 1931), S. 1. Garleff, Politik, S. 149. 194 Je¯kabsons, Prawnicy. 195 IV. Saeima, I. Session, 1. Sitzung (03. 11. 1931), S. 8f. Die von Schiemann genannte Zahl von 17 Abgeordneten der Minderheiten zeigt seine Orientierung an der offiziellen Nationalitäteneinordnung gemäß dem Saeima-Stenogramm. 196 IV. Saeima, I. Session, 1. Sitzung (03. 11. 1931), S. 9–11.

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Nach diesen schweren Niederlagen beantragte Schiemann eine Pause von 15 Minuten, die gewährt wurde. Danach schlugen die beiden Mitglieder der orthodox-altgläubigen Fraktion, der Lette Ja¯nis Pommers, der gleichzeitig Erzbischof der orthodoxen Kirche Lettlands war, und der Russe Ivan Kornil’ev, den russischen Abgeordneten Leontij Sˇpoljanskij vor. Gegen diesen wurde von lettischer Seite eingewandt, dass er kaum Lettisch beherrschen würde. Sˇpoljanskij scheiterte mit 26 Stimmen. Daraufhin nominierte Schiemann für den 5. Wahlgang den Juden Simon Wittenberg, der mit 39 Ja- und 45 Nein-Stimmen scheiterte. Nach dieser erneuten Niederlage zerfiel die bislang demonstrierte Einigkeit der Minderheitenparlamentarier : Während Schiemann die Vertagung der Wahl beantragte, nominierten Pommers und Sˇpoljanskij für einen sechsten Wahlgang Kornil’ev. Der Antrag Schiemanns wurde angenommen.197 Bei der nachfolgenden Sitzung am 10. November 1931 erläuterte Schiemann nochmals die Position der Minderheiten. Er erneuerte aufgrund der Anzahl der Deputierten der Minderheiten den Anspruch auf einen der Plätze im Parlamentspräsidium und ordnete die Vorgänge am 3. November 1931 als einen Angriff der lettischen Mehrheitsnationalität auf die Minderheiten ein. Selbst wenn die Argumentation der Sozialdemokraten bezüglich Wierzbicki und aufgrund der Sprache gegen Sˇpoljanskij als statthaft angesehen würde, so wäre mit Wittenberg ein Kandidat abgelehnt worden, der das Lettische sehr gut beherrschte. Danach nominierte Schiemann erneut den bereits eine Woche zuvor von Pommers und Sˇpoljanskij vorgeschlagenen Kornil’ev für den 6. Wahlgang. Kornil’ev scheiterte mit 24 Stimmen ohne Gegenkandidaten. Direkt im Anschluss nominierte Schiemann Timofej Pavlovskij, Abgeordneter der russischen Altgläubigen. Pavlovskij erzielte im nun 7. Wahlgang ohne Gegenkandidaten mit 54 Stimmen eine qualifizierte Mehrheit.198 Die Ereignisse des 3. und 10. November 1931 werfen ein Schlaglicht auf das sich verschlechternde Klima zwischen den lettischen und nicht-lettischen Abgeordneten. Die Tatsache, dass die Kandidaten der Minderheiten zunächst zwei Wahlgänge mit und anschließend fünf Wahlgänge ohne Gegenkandidaten benötigten, um das ihnen bislang vorbehaltlos zugestandene Amt eines der beiden Gehilfen des Sekretärs besetzen zu können, zeigt, dass es zu einer Demonstration der Macht im Parlament gekommen war. Schiemanns zweimalige Appelle verhallten dabei zunächst ungehört. Zwar entschieden sich mutmaßlich die Sozialisten im 7. Wahlgang zur Wahl Pavlovskijs, dennoch war erheblicher politischer Schaden entstanden. Die Beteiligung von Minderheitenabgeordneten im Parlamentspräsidium in Lettland bildet wie in einem Brennglas den Stand der Integration und Desinte197 IV. Saeima, I. Session, 1. Sitzung (03. 11. 1931), S. 11f. 198 IV. Saeima, I. Session, 2. Sitzung (10. 11. 1931), S. 16f.

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gration ab. Während die Minderheiten in den ersten beiden Parlamenten 1918 und 1920 noch keine Berücksichtigung fanden, erhielten sie 1922 erstmals entsprechend ihrer Stärke einen Platz. 1925 und 1928 konnte dieser Platz sowohl in der Hierarchie, vor allem aber bei den Stimmen für die Kandidaten der Minderheit gesteigert werden. 1931 ließ die große Mehrheit der lettischen Abgeordneten dagegen erst vier Minderheitenkandidaten in sechs Wahlgängen ins Leere laufen, ehe ein fünfter die Gnade der Sozialisten – weiterhin aber nicht zahlreicher anderer Abgeordneter lettischer Nationalität – fand.

2.3.3 Wahl des Staatspräsidenten 1918–1922 hatte Lettland keinen Staatspräsidenten. Als Staatsoberhaupt fungierten die Präsidenten des Volksrats und der Konstituante. Hierfür war bereits ˇ akste, der 1922 zu einem der Mitbegründer des DC im November 1918 Ja¯nis C wurde, bestimmt worden, zu einem Zeitpunkt also, als die Minderheiten noch ˇ akste wurde am 1. Mai 1920 mit 83 Stimmen auch zum nicht vertreten waren. C Präsidenten der Konstituante gewählt. Sein Gegenkandidat war der Dichter Ja¯nis Plieksˇa¯ns, genannt Rainis (LSDSP), auf den 48 Stimmen entfielen.199 Die Verfassung Lettlands beschränkte das Amt des Staatspräsidenten auf repräsentative Aufgaben. Seine Wahl auf drei Jahre nahm die Saeima vor. Vorschläge Schiemanns, den Präsidenten mit stärkeren Befugnissen vom Volk wählen zu lassen,200 waren nicht mehrheitsfähig. Die 1. Wahl des Staatspräsidenten fand deshalb unmittelbar nach der Konstituierung der I. Saeima am ˇ akste wurde mit 92 Stimmen – ohne Gegenstimmen – 14. November 1922 statt. C auf Vorschlag des DC ohne Gegenkandidaten gewählt.201 Bei der 2. Präsidentenwahl am 6. November 1925 nominierten die Sozialisten ˇ akste (DC) erneut Rainis (LSDSP), während der Lettische Bauernbund gegen C Ka¯rlis Ulmanis (LZS, Latviesˇu zemnieku savienı¯ba) vorschlug. Dies führte zu einer fast exakten Drittelung der Stimmen, auf Rainis entfielen 33, auf Ulmanis ˇ akste 29 Stimmen. Für den 2. Wahlgang erzwang die LSDSP den 32 und auf C Rückzug ihres Kandidaten Rainis. Dadurch wurde für den 2. Wahlgang ein ˇ akstes vermieden, was wiederum eine Konkurrenz mögliches Ausscheiden C Rainis’ mit Ulmanis’ im 3. Wahlgang bedeutet hätte. Für diesen Fall befürchteten ˇ akste entfielen die Sozialisten eine Niederlage Rainis’. Ihre Taktik ging auf: Auf C 202 im 2. Wahlgang nun 60, auf Ulmanis nur 31 Stimmen. 199 Latvijas Tautas Padomes stenogramu satura ra¯dı¯ta¯js, S. 3. Konstituante, I. Session, 1. Sitzung (01. 05. 1920), S. 3. 200 Konstituante, IV. Session, 4. Sitzung (27. 09. 1921), S. 1364f. 201 I. Saeima, I. Session, 3. Sitzung (14. 11. 1922), S. 32–34. 202 II. Saeima, I. Session, 2. Sitzung (06. 11. 1925), S. 22–25.

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ˇ akstes am 14. März 1927 machte noch in derselben LegislaturpeDer Tod C riode die 3. Präsidentenwahl notwendig. Drei kleinere Parteien unter Führung des DC nominierten Pe¯teris Jurasˇevskis (DC), während der Bauernbund mit zwei kleineren Parteien Alberts Kviesis (LZS) vorschlug. Im 1. Wahlgang entfielen am 5. April 1927 auf Kviesis 44 und auf Jurasˇevskis 41 Stimmen. Im 2. Wahlgang wurde allerdings Kviesis als alleiniger Kandidat nicht gewählt, da auf ihn nur 45 Ja-Stimmen entfielen.203 Damit endete die dritte Präsidentenwahl ohne dass ein Kandidat gewählt worden wäre. Zwei Tage später begann die 4. Präsidentenwahl. Der Bauernbund hielt an Kviesis (LZS) fest, während das DC den vormaligen Ministerpräsidenten Voldema¯rs Za¯muels (DC) präsentierte. Im 1. Wahlgang entfielen auf Za¯muels 44 und auf Kviesis 43 Stimmen, im 2. Wahlgang auf beide 47 Stimmen und im 3. Wahlgang auf beide 43 Stimmen. Da dieser Fall in der Wahlordnung nicht geregelt worden war, beschloss der Ältestenrat, beide Kandidaten als durchgefallen zu betrachten. Für die noch am selben Tag folgende 5. Präsidentenwahl zogen die linksbürgerlichen Parteien den Kandidaten Za¯muels zurück. An seiner Stelle präsentierten die Sozialisten Frı¯drihs Vesmanis (LSDSP) als neuen Kandidaten, während der LZS an Kviesis weiter festhielt. Im 1. Wahlgang entfielen 47 Stimmen auf Kviesis und 39 auf Vesmanis, im 2. Wahlgang waren es 47 für Vesmanis und 44 für Kviesis, wodurch Letzterer ausschied. Im 3. Wahlgang entfielen schließlich auf Vesmanis 45 Stimmen, wodurch er nicht gewählt war. Für die 6. Präsidentenwahl am 8. April 1927 präsentierte das DC als neuen Kandidaten Gustavs Zemgals (DC), der ohne Gegenkandidaten im 1. Wahlgang mit 73 Stimmen gewählt wurde.204 Zemgals amtierte 1927–1930. Zur 7. Präsidentenwahl am 8. April 1930, bei der Zemgals nicht mehr kandidierte, nominierte der Bauernbund erneut Alberts Kviesis (LZS), die Sozialisten den Saeima-Präsidenten Pauls Kalnin¸ˇs (LSDSP) und die Kommunisten Ernests Miezis. Im 1. Wahlgang erreichten Kviesis 47, Kalnin¸sˇ 36 und Miezis sechs Stimmen. Im 2. Wahlgang entfielen auf Kviesis 47, auf Kalnin¸ˇs 32 und auf Miezis fünf Stimmen. Nachdem Miezis damit ausgeschieden war, votierten 46 Abgeordnete im 3. Wahlgang für Kviesis und 33 für Kalnin¸ˇs. Nachdem damit auch Kalnin¸ˇs ausgeschieden war, verfehlte Kviesis im 4. Wahlgang mit 49 JaStimmen knapp die erforderliche absolute Mehrheit.205 Noch am Abend des 8. April 1930 erfolgte die 8. Präsidentenwahl. Für den 1. Wahlgang nominierten Bauernbund und Sozialdemokraten mit Kviesis und Kalnin¸ˇs dieselben Kandidaten wie am Morgen. Kviesis erhielt 46 und Kalnin¸ˇs 36 203 II. Saeima, V. Session, 19. Sitzung (05. 04. 1927), S. 731–734. 204 II. Saeima, V. Session, 20. Sitzung (07. 04. 1927), S. 747–754; 21. Sitzung (08. 04. 1927), S. 758–760. 205 III. Saeima, V. Session, 27. Sitzung (08. 04. 1930), S. 964–968.

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Stimmen. Im 2. Wahlgang erhielt Kviesis 48 und Kalnin¸ˇs wieder 36 Stimmen. Nachdem Kalnin¸ˇs damit erneut ausgeschieden war, blieb für den 3. Wahlgang wiederum nur Kviesis übrig, der allerdings mit 49 Ja- und 41 Nein-Stimmen erneut knapp die absolute Mehrheit verfehlte. Tags darauf traten zur 9. Präsidentenwahl wiederum Kviesis und Kalnin¸ˇs an. Im 1. Wahlgang erzielte Kviesis 47 und Kalnin¸sˇ 36 Stimmen, im nachfolgenden 2. Wahlgang entfielen auf Kviesis wiederum 47 und auf Kalnin¸sˇ 35 Stimmen. Nach dem Ausscheiden Kalnin¸ˇss wurde Kviesis im 3. Wahlgang mit 55 Stimmen gewählt.206 Die Präsidentenwahlen 1927 und 1930 offenbarten eine erhebliche Dysfunktionalität des politischen Systems Lettlands: Weil die Kandidaten und der Parlamentspräsident bei Präsidentenwahlen nicht abstimmten und oft noch ein oder zwei Abgeordnete fehlten, stimmten in der Regel nur 94–97 der 100 SaeimaAbgeordneten. Da diese sich obendrein noch enthalten konnten, während gleichzeitig an Bewerber der Anspruch gestellt wurde, eine absolute Mehrheit von mindestens 51 Stimmen unter den gesetzlichen Saeima-Mitgliedern erreichen zu müssen, endeten 1927 und 1930 die 3., 4., 5., 7. und 8. Präsidentenwahl ohne Ergebnis. Diese Dysfunktionalität war schon bei den Präsidentenwahlen 1927 so offensichtlich, dass die Nationale Union (Naciona¯la¯ apvienı¯ba) am 8. April 1927 zwischen der 5. und 6. Präsidentenwahl einen Antrag auf Änderung der Verfassung einreichte. Der Antrag hatte eine Verlängerung der Amtsdauer auf fünf Jahre, die Volkswahl des Präsidenten und eine Stärkung des Präsidenten durch das Recht zur Auflösung der Saeima zum Ziel. Während die LSDSP-Fraktion durch den Antrag eine Einführung faschistischer Elemente – wobei hier zeitgenössisch offenbar jedwede Stärkung der Exekutive als »faschistisch« begriffen wurde – durch die Hintertür befürchtete und ihn deshalb nicht einmal durch den entsprechenden Ausschuss beraten lassen wollte, befürworteten LZS und Schiemann – da dies seinen Intentionen während der Konstituante entsprach – eine Diskussion. Der Antrag wurde anschließend allerdings abgelehnt.207 Zur 10. Präsidentenwahl am 4. April 1933 nominierte der Bauernbund Kviesis zur Wiederwahl. Die Sozialdemokraten traten erneut mit Kalnin¸sˇ an. Als einzige präsentierten die Kommunisten mit Mik¸elis Bite einen neuen Kandidaten. Schon im 1. Wahlgang wurde Kviesis aufgrund der bürgerlichen Mehrheit mit 52 Stimmen gewählt, während für Kalnin¸sˇ 25 und für Bite neun Abgeordnete votierten.208 Die Forschung hat dem Verhältnis der Minderheiten zu den Präsidenten206 III. Saeima, V. Session, 28. Sitzung (08. 04. 1930), S. 969–974; 30. Sitzung (09. 04. 1930), S. 1016–1019. 207 III. Saeima, V. Session, 21. Sitzung (08. 04. 1927), S. 753–758. 208 IV. Saeima, V. Session, 17. Sitzung (04. 04. 1933), S. 651–654.

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wahlen in Lettland bislang keine Aufmerksamkeit gewidmet. Sie zeigen eine Selbstbeschränkung der Minoritäten: Weder nominierten ihre Parlamentarier jemals eigene Kandidaten noch unterstützen sie die Nominierung von Kandidaten lettischer Parteien. Damit signalisierten sie, dass die Position des ersten Mannes im Staat der lettischen Nationalität vorbehalten sein sollte. Dieses Signal sollte an anderer Stelle Partizipationsmöglichkeiten – so bei den wichtigeren Regierungsbildungen – offenhalten. Bei den mehrtägigen Wahlen 1927 und 1930 hatte diese Strategie den zusätzlichen Reiz, dass sich die Abgeordneten lettischer Nationalität gegenseitig Blockaden vorwarfen, während die Minderheiten unscheinbar blieben und nur wenig Angriffsfläche boten. Es überrascht deshalb nicht, dass die einzige Wortmeldung eines Deutschen im Zusammenhang mit den Präsidentenwahlen ein Beitrag Schiemanns zur Unterstützung der Verfassungsreform am 8. April 1927 war. Sehr wohl beteiligten sich aber immer sämtliche Deutsche mit der krankheitsbedingten Ausnahme Schiemanns 1933 an allen Wahlgängen.209 Freilich hat die Zurückhaltung der deutschen Abgeordneten zur Folge, dass die Frage ihres Abstimmungsverhaltens nicht immer ganz klar ist, weil nicht auszuschließen ist, dass zumindest Einzelne ungültig stimmten. 1920, 1922 und ˇ akste.210 Eine Unter1925 wählten alle oder fast alle Deutschen den Liberalen C stützung Zemgals im 9. Wahlgang 1927 ist sehr wahrscheinlich. 1930 und 1933 unterstützen die deutschen Parlamentarier Kviesis.211 Im Oktober 1933, als Lettland durch die Weltwirtschaftskrise schwer gebeutelt war, brachte der Bauernbund einen hauptsächlich von Ulmanis ausgearbeiteten Entwurf einer Verfassungsänderung ein. Künftig sollte der Präsident von allen Nicht-Empfängern staatlicher Unterstützung, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten, auf fünf Jahre gewählt werden, das Parlament jederzeit auflösen und dann sechs Monate mit der Neuausschreibung von Wahlen warten können. Dem Präsident allein hätte auch das Recht zur Bestellung der Regierung zugestanden. Die Rechte der in ihrer Größe halbierten, anstatt drei nun auf vier Jahre gewählten Saeima wären auch an anderen Stellen stark eingeschränkt worden.212 Diese Vorschläge ähnelten vielfach der Verfassungsänderung von 1926 in Polen und der nachfolgenden, vielfach mit Zwang erfolgten Etablierung der Sanacja209 IV. Saeima, V. Session, 17. Sitzung (04. 04. 1933), S. 654. Die Anwesenheit der Abgeordneten ist im Protokoll für jeden Wahlgang vermerkt. 210 Vgl. dazu Rigasche Rundschau (15. 11. 1922), S. 1; (07. 11. 1925), S. 5. Libausche Zeitung (07. 11. 1925), S. 1. 211 Vgl. dazu Libausche Zeitung (15. 03. 1927), S. 1; (10. 04. 1930), S. 1; (05. 04. 1933), S. 1 und Rigasche Rundschau (10. 04. 1930), S. 1; (05. 04. 1933), S. 1, die zwar das Abstimmungsverhalten der deutschen Parlamentarier nicht nennen, aber Sympathien äußern, ebenso Stegman, Erinnerungen, S. 164. 212 Rigasche Rundschau (24. 10. 1933), S. 7. Hehn, Lettland, S. 29, der allerdings falsch eine geplante Amtsdauer des Präsidenten von sechs Jahre nennt.

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Herrschaft,213 ohne dass diese Reformen dort eine Wirtschaftskrise verhindert oder wenigstens gemildert hätten. Eine Zustimmung der Saeima-Abgeordneten zu einer solch weitgehenden Selbstentmachtung des Parlaments war daher von vornherein kaum zu erwarten – zumal mit einer Kandidatur Ulmanis’ nach einer Annahme zu rechnen war, die Reform also auf seine Wünsche zugeschnitten war. Für die deutsche Fraktion erinnerte der neue Fraktionsvorsitzende Schoeler in der Saeima am 7. November 1933 daran, dass sein Vorgänger Schiemann bereits erfolglos versucht habe, Dysfunktionalitäten des politischen Systems Lettlands zu beseitigen. Gleichzeitig betonte er, dass aufgrund der durch die europäische Entwicklung mittlerweile auch in Lettland sichtbaren minderheitenfeindlichen politischen Strömungen ein Missbrauch der Reform möglich wäre. Dennoch plädierte Schoeler dafür, dem Vorhaben mit Abstrichen eine Chance zur Verwirklichung einzuräumen. Nach einer längeren Debatte, die zwei Sitzungen in Anspruch nahm, überwies die Saeima am 10. November den Entwurf in den öffentlich-rechtlichen Ausschuss.214 Als Ulmanis im März 1934 erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, war durch die Beratungen des öffentlich-rechtlichen Ausschusses bereits klar, dass die Reform nur in Teilen mehrheitsfähig war. Das Plenum der Saeima reduzierte die Reform Anfang Mai 1934 noch weiter. Nur die Verlängerung der Amtsdauer des Staatspräsidenten von drei auf fünf und der Saeima von drei auf vier Jahre waren mehrheitsfähig. Schoeler befürwortete unter erneuter Berufung auf Schiemann dieses Ansinnen. Weitergehende Reformanträge der deutschen Fraktion, wie die Abschaffung der Immunität der Parlamentarier oder der Einführung eines Staatsgerichtshofes – beide eingebracht von Helmuth Stegman (BLP) –, fanden keine Mehrheit.215 Alle anderen Vorschläge Ulmanis’ und des Bauernbundes wären wohl auf der für den 18. Mai 1934 um 17 Uhr einberufenen Saeima-Sitzung – die dann wegen des Putsches nicht mehr stattfinden konnte – in dritter Lesung abgelehnt worden.216

213 Vgl. dazu Kap. 3.2. 214 IV. Saeima, VII. Session, 6. Sitzung (07. 11. 1933), S. 340–342; 7. Sitzung (10. 11. 1933), S. 414. Rigasche Rundschau (08. 11. 1933), S. 5. Hehn, Lettland, S. 31f. 215 IV. Saeima, IX. Session, 3. Sitzung (03. 05. 1934), S. 58–60; 5. Sitzung (04. 05. 1934), S. 128; 6. Sitzung (08. 05. 1934), S. 162. Rigasche Rundschau (04. 05. 1934), S. 9. Stegman, Erinnerungen, S. 166. 216 IV. Saeima, IX. Session, 9. Sitzung (15. 05. 1934), S. 256. Rigasche Rundschau (09. 05. 1934), S. 5. Hehn, Lettland, S. 38f.

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2.3.4 Regierungsbeteiligungen und Opposition Ganz im Gegensatz zu der Zurückhaltung, die sich die deutschen Abgeordneten in der Frage des Staatsoberhaupts auferlegt haben, steht die Wichtigkeit, die sie den Regierungsbildungen beimaßen. Bereits bei der Bildung der ersten provisorischen Regierung Lettlands am 19. November 1918 unter Ka¯rlis Ulmanis (LZS), bestehend aus dem Bauernbund und bürgerlichen Parteien, war das Amt des Gehilfen des Bildungsministers für die deutsche Minderheit freigehalten worden. Dieses Amt wurde, wie genannt, auf Bitten der Leitung des deutschen Schulwesens am 3. Dezember 1918 durch Karl Keller (DbDP) eingenommen. Aufgrund der Verhandlungen Ulmanis’ mit der DbFP hatte diese bereits einen Tag zuvor zusätzlich zwei andere Ämter in der Regierung übernommen, nämlich das des Staatskontrolleurs durch Eduard v. Rosenberg und das des Gehilfen des Handels- und Industrieministers durch Alexander v. Klot.217 Bereits während der Sitzung am 2. Dezember 1918, in der die ersten fünf Deutschen Mitglieder des Volksrats Lettlands wurden, kam es zu einem Misstrauensvotum gegen die Regierung Ulmanis’, das allerdings scheiterte. Die Deutschen stimmten für die Regierung.218 Diese konnte sich aufgrund der sich ständig verschlechternden militärischen Lage nicht dauerhaft etablieren. Zum Jahreswechsel 1918/1919 flüchtete sie vor der Roten Armee von Riga nach Libau. Die deutschen Regierungsmitglieder nahmen danach nicht mehr an der Regierungsarbeit teil.219 Offiziell verloren sie ihre Ämter allerdings erst mit dem Rücktritt Ulmanis’ am 30. Juni 1919, woran sich noch bis zur Neuwahl der Regierung am 15. Juli 1919 eine geschäftsführende Wahrnehmung der Ämter anschloss. Zuvor hatte die deutsche Fraktion des Volksrats, wie genannt, am 12. Mai 1919 eine Resolution unterstützt, die die nach dem Putsch des 16. April gebildete Regierung unter Niedra als illegitim und Ulmanis als rechtmäßigen Ministerpräsidenten Lettlands einstufte.220 Nach dem Zusammenbruch der Niedra-Regierung und Ulmanis’ Rücktritt am 30. Juni 1919 bildete Letzterer im Juli 1919 erneut eine Regierung. Dieser sollten nach Verhandlungen Ulmanis’ mit dem altbaltischen Deutschbaltischen Nationalausschuss – der zwischenzeitlich aufgrund des für die Republik Lettland positiven Kriegsverlaufs diese anzuerkennen bereit war – drei Deutsche als Minister angehören. Noch bevor die neue Regierung gebildet worden war, er217 Volksrat, Sitzung (19. 11. 1918), S. 15. Libausche Zeitung (21. 11. 1918), S. 2; (07. 12. 1918), S. 1f. Rosenberg, Deutschtum, S. 69–71. Topij, Mniejszos´c´, S. 24. Wachtsmuth, Gesicht, S. 59. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 38f. 218 Volksrat, I. Session, 3. Sitzung (04. 12. 1918), S. 44f. Libausche Zeitung (07. 12. 1918), S. 2. 219 Be¯rzin¸ˇs, Dokumenti, S. 89–144. Dribins, Deutschbalten, S. 283. Rosenberg, Deutschtum, S. 72. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 40. 220 Libausche Zeitung (17. 07. 1919), S. 2. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 43.

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zwangen die lettischen Parteien allerdings die Abgabe eines der drei für die Deutschen vorgesehenen Ministerämter an die jüdische Minderheit. Zudem musste Reusner, der zu diesem Zeitpunkt Präsident des Nationalausschusses war, auf ein Ministeramt verzichten, da er von Ulmanis politisch als zu rechtsstehend betrachtet wurde. Umgekehrt wurde auch der bisherige Staatskontrolleur Rosenberg ohne sein Wissen durch den Nationalausschuss und Ulmanis ausgebootet. Am 15. Juli 1919 bestätigte der Volksrat die zweite Regierung Ulmanis. Dieser gehörten neben Robert Erhardt (parteilos) als Finanz- und Edwin Magnus (DbNlP) als Justizminister mit Paul Mintz (Jüdische Nationaldemokratische Partei) als Staatskontrolleur und Ja¯nis Ze¯bergs als Handels- und Industrieminister zwei den Deutschbalten wohlgesonnene Personen an. Die deutschen Fraktionen – offenbar auch die nichtberücksichtigte DbFP – stimmten für diese Regierung.221 Bei der Verlesung der zukünftigen Ministerliste am 13. Juli 1919 im Volksrat wurde Erhardt, Magnus und Mintz der Applaus verweigert.222 Diese symbolische Verweigerung spiegelte die 1918–1919 aufgetretenen Belastungen im deutschbaltisch-lettischen Verhältnis wider. Erhardt und Magnus bemühten sich redlich, nicht als Interessenvertreter der deutschen Nationalität aufzutreten, sondern mit überparteilichem und übernationalem Amtsverständnis Vertrauen zu schaffen und die Konsolidierung des lettischen Staates voranzutreiben.223 Zugleich gelang mit der Verabschiedung der Schulautonomie, auf die noch eingegangen wird, die Durchsetzung eines für die Minderheiten fundamentalen Gesetzes. Den Integrationsbemühungen Erhardts und Magnus’ waren allerdings Grenzen gesetzt: Zum einen verfügten beide wie die Abgeordneten zu diesem Zeitpunkt nur über geringe Kenntnisse des Lettischen. Um dennoch Übernationalität zu demonstrieren, nutzte Erhardt – der 1907–1912 Mitglied der Duma Russlands gewesen war – deshalb vor dem Volksrat das Russische.224 Diese symbolische Geste änderte am Sprachdefizit der deutschen Minister indes nichts. Zum anderen war für Ulmanis die Regierungsbeteiligung der beiden Deutschbalten keine Herzensangelegenheit, sondern vielmehr eine vorübergehende taktische Maßnahme wegen der nach wie vor starken reichsdeutschen Militär- und Freikorpspräsenz. Nach der Abwehr des Angriffs der BermondtArmee und dem Abzug der reichsdeutschen Truppen im Dezember 1919 sah 221 Volksrat, III. Session, 1. Sitzung (13. 07. 1919), S. 96, 99; 2. Sitzung (15. 07. 1919), S. 121. Garleff, S. 25. Rimscha, Niedra, S. 324. Rosenberg, Deutschtum, S. 97–100. Topij, Mniejszos´c´, S. 42f. Wachtsmuth, Gesicht, S. 83, 95f, 377. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 45. 222 Volksrat, III. Session, 1. Sitzung (13. 07. 1919), S. 99. Vgl. zu Mintz auch Bogojavlenska, Lehrerunion, S. 63f. 223 Wachtsmuth, Gesicht, S. 115. Garleff, Politik, S. 28. 224 Volksrat, IV. Session, 7. Sitzung (25. 08. 1919), S. 255. Sˇelochaev, Duma, S. 716f.

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Ulmanis mittels eines erneuten Rücktritts des Kabinetts die Gelegenheit gekommen, den ihm lästigen Einfluss der Deutschbalten zu beschneiden.225 Nachdem das Kabinett Ulmanis seinen Rücktritt erklärt hatte, kündigte DbFP-Fraktions- und Parteichef Rosenberg am 5. Dezember 1919 im Volksrat die Wahl eines anderen Kandidaten an der Stelle Ulmanis’ an, sollte sich ein solcher finden. Bei dieser Erklärung dürften auch persönliche Empfindlichkeiten Rosenbergs eine bedeutende Rolle gespielt haben. Mit seiner Meinung blieb er völlig allein: Im Namen der vier anderen DbFP-Mitglieder des Volksrats widersprach Kluge noch auf derselben Sitzung. Im Anschluss legte Rosenberg, wie in Kapitel 2.3.1 bereits genannt, sein Mandat nieder und zog sich aus der Politik zurück.226 Am 10. Dezember 1919 wählte der Volksrat zum dritten Mal Ulmanis’ zum Ministerpräsidenten Lettlands. Bei der Kabinettsbildung wurde die Anzahl der Minister der Minderheiten von drei auf zwei vermindert, wodurch Magnus als Justizminister ausscheiden musste. Gleichzeitig weigerte sich Ulmanis, den Deutschbaltischen Nationalausschuss weiter als Gesprächspartner zu akzeptieren. Die deutschen Parteien besaßen keine Möglichkeit, dieser Beschränkung ihres Einflusses entgegenzuwirken. Weil immerhin Erhardt als Finanzminister und auch Mintz als Staatskontrolleur ihre Arbeit fortsetzen durften, blieben die deutschen Fraktionen weiter Teil der Regierungskoalition und sprachen sich auch – Schiemann uneingeschränkt und Kluge mit Zurückhaltung – für das neue Kabinett Ulmanis aus. Erhardt, der bislang keiner Partei angehört hatte, trat der DbDP bei, um seine Verbundenheit mit der deutschbaltischen Politik zu verstärken.227 225 Dribins, Deutschbalten, S. 289. Garleff, Politik, S. 24. Wachtsmuth, Wege, S. 176. 226 Volksrat, VI. Session, 9. Sitzung (05. 12. 1919), S. 600, 609. Libausche Zeitung (11. 12. 1919), S. 1. Rosenberg, Deutschtum, S. 110–113. Wachtsmuth, Gesicht, S. 102. Aufgrund seiner pro-lettischen, jungbaltischen Gesinnung ist das Wirken Baron Rosenbergs in Wachtsmuths Schrift ausgesprochen negativ beurteilt worden. Diese Interpretation erscheint umso plausibler, wenn Rosenbergs 1928 erschienene Erinnerungen studiert werden, die von Eitelkeiten und persönlichen Angriffen gegen Dritte durchsetzt sind. Andererseits gehört Rosenberg zu den Deutschbalten mit Weitblick und dies aus streng demokratischer Perspektive. So war ihm nicht nur 1917–1919 klar, dass der Versuch der Deutschbalten mit Hilfe des reichsdeutschen Militärs gegen die estnische und lettische Mehrheitsnationalität einen baltischen Gesamtstaat errichten zu wollen, mindestens erhebliches Konfliktpotential barg. Des Weiteren monierte er 1928 auch die undemokratische, für Autoritäten anfällige Binnenstruktur der Deutschbalten Lettlands ebenso, wie er »Herrn Ulmanis als für einen demokratischern Staat viel zu monarchisch veranlagten Mann« charakterisierte, vgl. Rosenberg, Deutschtum, S. 112. Beide Beobachtungen nahmen Entwicklungen der 1930er Jahre vorweg. 227 Volksrat, VI. Session, 10. Sitzung (08. 12. 1919), S. 621; 11. Sitzung (09. 12. 1919), S. 644–647; 12. Sitzung (10. 12. 1919), S. 665. Garleff, Politik, S. 28. Wachtsmuth, Gesicht, S. 101f. Bei Topij, Mniejszos´c´, S. 117, wird das Ausscheiden Magnus’ durch einen Druckfehler falsch ans Jahresende 1929 gesetzt.

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Schwer wog für die deutsche Fraktion und den mittlerweile ins Leben gerufenen A.P., dass sich Erhardt immer mehr in seiner Arbeit als Finanzminister behindert sah, obwohl er für Lettland mit der Ausarbeitung des Gesetzes über die Währungsreform – die den Ersatz des Rubels durch den lettischen Lat vorsah – ein ungemein wichtiges Gesetzesvorhaben vorantrieb. Am 11. März 1920 reichte Erhardt – offiziell wegen gesundheitlicher Probleme – seinen Rücktritt ein. Auf die deutschen Mitglieder im Volksrat hatte dies keinen Einfluss mehr, da dieses Vorparlament nur eine Woche später seine Tätigkeit mit der 59. Sitzung schloss, nicht ohne zuvor das noch von Erhardt unterschriebene Gesetz zur Einführung des Lat verabschiedet zu haben.228 Obwohl alle vier deutschbaltischen Parteien die weitere Beschickung des Kabinetts Ulmanis auch von sich aus ablehnten, erschütterte selbst das Ausscheiden Erhardts ihre grundsätzlich aktivistische Haltung nicht.229 Am 18. Juni 1920 bestätigte die Konstituante die vierte Regierung Lettlands, die gleichzeitig die erste demokratisch legitimierte Regierung in der Geschichte Lettlands war. Die deutsche Fraktion stimmte, wie Paul Schiemann bereits am 17. Juni angekündigt hatte, für diese Regierung. Ihr gehörte mit Mintz, der weiter als Staatskontrolleur und später als Arbeitsminister amtierte, noch ein Nichtlette an.230 Dieses Kabinett regierte fast genau ein Jahr bis zu Demission. Am 17. Juni 1921 stellte Zigfrı¯ds Meierovics (LZS) der Konstituante ein neues Kabinett vor, das auf breiter Basis aus Liberalen, rechten Sozialdemokraten (MP, Mazinieku Partija) und dem Bauernbund bestand. Da die Regierung ausschließlich aus Letten bestand und im Vorfeld ein negativer Ton gegenüber den Minderheiten angeklungen war, kritisierte Schiemann die Regierung scharf und kündigte eine Enthaltung an – was den Gang in die Opposition bedeutete.231 Nach Konstituierung der I. Saeima 1922 dauerte es Wochen, bis eine neue Regierung zustande kam. Die deutsche Fraktion sagte Meierovics ihre Unterstützung für eine Regierungsbildung bei einer minderheitenfreundlichen Regierungspolitik zu.232 Meierovics musste jedoch sein Amt abgeben: Am 25. Januar 1923 stellte Ja¯nis Paul¸uks (parteilos) der Saeima ein neues Kabinett der großen Koalition vor, bestehend aus LSDSP, MP, LZS, DC und kleineren Parteien. Da die Minderheiten nun nicht einbezogen waren, verweigerte Schiemann 228 Volksrat, VIII. Session, 5. Sitzung (18. 03. 1920), S. 911. Libausche Zeitung (12. 03. 1920), S. 1; (18. 03. 1920), S. 1; (20. 03. 1920), S. 1. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 49. 229 Rigasche Rundschau (März 1920), in: Donath, Schiemann, S. 241. Protokoll der Sitzung des A.P. (14. 04. 1920), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 6, Bl. 16. 230 Konstituante, I. Session, 11. Sitzung (17. 06. 1920), S. 173–176; 12. Sitzung (18. 06. 1920), S. 231. 231 Konstituante, III. Session, 35. Sitzung (15. 06. 1921), S. 1249; 36. Sitzung (17. 06. 1921), S. 1274f, 1292. 232 Präsidialsitzung des A.P. (27. 11. 1922), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 169.

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Paul¸uks kurzlebigem Kabinett die Zustimmung und kündigte wiederum eine Enthaltung an.233 Nur ein halbes Jahr später präsentierte als Nachfolger erneut Meierovics (LZS) der Saeima am 26. Juni 1923 ein Kabinett, das aus den gleichen Parteien wie zuvor bestand. Trotz vorangegangener Gespräche der deutschen Fraktion mit Meierovics234 verweigerte Fircks aufgrund des Streits um die Rigaer Jakobikirche in der Saeima dem neuen Kabinett die Zustimmung und kündigte eine erneute Enthaltung an. Der Regierung wurde mit 51 Stimmen das Vertrauen ausgesprochen.235 Nach Meierovics’ Demission stellte Voldema¯rs Za¯muels (DC) am 25. Januar 1924 der Saeima eine neue Regierung vor, die von den Fraktionen der Mitte und der Rechten getragen und von den Sozialisten toleriert wurde. Auch diese Regierung traf auf die Kritik Schiemanns, die deutsche Fraktion enthielt sich erneut der Stimme.236 Die letzte Regierung der Legislaturperiode, bestehend aus LZS, DC, MP und der lettgallischen Bauernpartei, präsentierte Hugo Celmin¸ˇs (LZS) der Saeima am 16. Dezember 1924. Schiemann erklärte, dass sich die deutsche Fraktion der Regierung trotz unpräziser Versprechungen in der Minderheitenpolitik aufgrund der gefahrvollen Lage – gemeint war der erfolglose Putsch der Kommunisten am 1. Dezember 1924 in Estland – anschließen würde. Die neue Regierung erhielt mit 49 Stimmen eine Mehrheit.237 Gleichzeitig endete damit die dreieinhalbjährige Zeit der deutschen Fraktion in der Opposition. Nach der Wahl zur II. Saeima erhielt erneut Za¯muels (DC) den Auftrag zur Regierungsbildung. Er präsentierte dem Parlament am 22. Dezember 1925 eine Mitte-Links-Regierung, die mit 47 gegen 49 Stimmen abgelehnt wurde. Die deutsche Fraktion stimmte dabei erneut gegen Za¯muels. Direkt im Anschluss ˇ akste (DC) den Auftrag zur Regierungsbildung an Ulmanis vergab Präsident C (LZS). Dessen Regierung, bestehend aus fünf Bauernparteien und der Nationalen Union, wurde noch am selben Tag mit 48 zu 42 Stimmen bestätigt. Schiemann hielt eine Rede zur Rechtfertigung der Unterstützung Ulmanis’ durch die deutsche Fraktion, in der er vor allem die größere inhaltliche Schnittmenge in Wirtschaftsfragen herausstellte.238 Die Regierung Ulmanis hatte allerdings nur wenige Monate Bestand. Ihr folgte eine Koalition unter Arturs Alberings (LZS), in der die Nationale Union 233 234 235 236

I. Saeima, I. Session, 11. Sitzung (25. 01. 1923), S. 140, 154f, 175f. Präsidialsitzung des A.P. (26. 06. 1923), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 229. I. Saeima, II. Session, 21. Sitzung (26. 06. 1923), S. 561, 571f, 602. Vgl. dazu Kap. 2.4.5. Protokoll der Plenarsitzung des A.P. (23. 01. 1924), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 289. I. Saeima, IV. Session, 4. Sitzung (25. 01. 1924), S. 120, 141f. 237 Präsidialsitzung des A.P. (16. 12. 1924), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 371. I. Saeima, VI. Session, 21. Sitzung (16. 12. 1924), S. 782f. 238 II. Saeima, I. Session, 9. Sitzung (22./23. 12. 1925), S. 173, 190f, 217–219, 230. Wertheimer, Parteien 1927, S. 57f.

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durch das DC ersetzt wurde. Nach den negativen Erfahrungen mit der Minderheitenpolitik der Vorgängerregierung kündigte Schiemann bei der Vorstellung der neuen Regierung am 4. Mai 1926 die Nichtteilnahme der deutschen Fraktion bei der Vertrauensabstimmung an.239 Im Oktober 1926 schien doch noch ein Einstieg in die Regierungskoalition bevorzustehen, als es Schiemann kurzzeitig zu gelingen schien, eine erneute enge Kooperation der Abgeordneten der Minderheiten zu erreichen. Nachdem die Regierung Alberings am 19. Oktober eine Vertrauensabstimmung gewonnen hatte und die Kooperative der Minderheiten noch vor ihrer offiziellen Konstitution wieder zerfallen war, zerschlug sich diese Option allerdings wieder.240 Kurz vor Jahresende 1926 demissionierte das Kabinett Alberings. Nachdem die LSDSP an einer Regierungsbildung gescheitert war, versuchte der vor der Saeima stets Deutsch sprechende Mordechaj Nurok von der zionistischen Misrachi-Bewegung eine Linkskoalition unter Beteiligung der Minderheiten zu erreichen. Die deutsche Fraktion sicherte die Wahl einer solchen Regierung ˇ akste allerdings schlussendlich Marg‘ ers zu.241 Zum Nachfolger designierte C Skujenieks (MP), der am 17. Dezember 1926 eine Regierung aus MP, LSDSP, DC und kleineren Parteien vorstellte. Diese Mitte-Links-Regierung traf auf keine Sympathien der deutschen Fraktion. Fircks kündigte die erneute Nichtteilnahme an der Vertrauensabstimmung an.242 Nachdem sich durch die Ratifizierung des deutsch-lettischen Handelsabkommens vom 22. Oktober 1926243 das Verhältnis der beiden Staaten gebessert hatte, erörterte 1927 der deutsche Gesandte in Riga, Adolf Köstel, mit dem Auswärtigen Amt in Berlin Möglichkeiten, die deutsche Fraktion zu einem Regierungseintritt zu bewegen. Das Auswärtige Amt lehnte eine entsprechende Einflussnahme aber ab, um den Eindruck zu vermeiden, die deutsche Fraktion würde von Deutschland aus gesteuert.244 Nach der Demission Skujenieks’ am 13. Dezember 1927245 war kurzzeitig wiederum Nurok und ab dem 28. Dezember 1927 Schiemann von Präsident Zemgals mit der Regierungsbildung beauftragt. Schiemann gelang es allerdings nicht, die vom DC geforderte Zahl von 54 Ab-

239 II. Saeima, III. Session, 11. Sitzung (04. 05. 1926), S. 396, 411. Wertheimer, Parteien 1927, S. 58f. 240 II. Saeima, IV. Session, 3. Sitzung (19. 10. 1926), S. 304. Bogojavlenska, Parlamentarier, S. 89–92. Garleff, Politik, S. 168. 241 Libausche Zeitung (14. 12. 1926), S. 1; (15. 12. 1926), S. 1. Wertheimer, Parteien 1927, S. 67. 242 II. Saeima, IV. Session, 21. Sitzung (17. 12. 1926), S. 991, 1029f, 1041f. Schiemann, Jahresrückblick 1927, S. 23. Ders., Jahresübersicht 1928, S. 31. 243 II. Saeima, IV. Session, 4. Sitzung (22. 10. 1926), S. 333. Ceru¯zis, Minderheit, S. 71. 244 Ceru¯zis, Minderheit, S. 72. 245 II. Saeima, VII. Session, 17. Sitzung (13. 12. 1927), S. 744.

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geordneten für eine Koalition zu erreichen, weshalb er den Auftrag am 31. Dezember 1927 zurückgab.246 Dass Schiemann nicht versucht hat, mit einer durchaus möglichen, sehr knappen Mehrheit den Versuch einer Regierungsbildung zu unternehmen, ist ihm als politische Weitsicht ausgelegt worden.247 Allerdings bleibt zu bedenken, dass er damit eine Chance vergab, ein weit über Lettland hinausreichendes politisches Signal zu setzen, zumal die Regierung ohnehin nur zehn Monate bis zur Wahl der III. Saeima im Oktober 1928 hätte überdauern müssen. Zudem waren knappe Mehrheiten in Lettland an der Tagesordnung. So bekam Pe¯teris Jurasˇevskis (DC), der später den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hatte, am 21. Januar 1928 von der Saeima auch nur mit 51 Stimmen das Vertrauen ausgesprochen.248 Seine Regierung währte bis zum Ende der Legislaturperiode. Immerhin zeigen die Aufträge zur Regierungsbildung an Nurok und Schiemann, dass im politischen System Lettlands in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Ministerpräsidenten nichtlettischer Nationalität denkbar waren. Zudem eröffnete Schiemanns gescheiterter Regierungsauftrag den Minderheiten die Tür zu einer erneuten personellen Regierungsbeteiligung. Schon Anfang Dezember 1927 hatte Edwin Magnus (DbRP) dem A.P. signalisiert, zu einer Rückkehr in sein 1919 ausgeübtes Amt als Justizminister bereit zu sein.249 Dem Kabinett Jurasˇevskis gehörte Magnus neben Ministern des LZS, des DC und zweier lettgallischer Parteien auch tatsächlich in dieser Position an. Zudem wurde am 4. Februar 1928 der bereits erwähnte Pole Jan Wierzbicki zum Gehilfen des Innenministers ernannt. Leontij Sˇpoljanskij, der in der Saeima die Vereinigung russischer Kommunalbediensteter vertrat, übernahm das Amt des II. Gehilfen des Landwirtschaftsministers. Erwartungsgemäß sprach sich Schiemann am 21. Januar 1928 im Namen der deutschen Fraktion für dieses Kabinett aus.250 Nach der Wahl der III. Saeima kam es verhältnismäßig schnell zu einer Neuauflage der Regierung, wobei allerdings Magnus dem A.P. Ende Oktober 246 Libausche Zeitung (28. 12. 1927), S. 1; (29. 12. 1927), S. 1; (31. 12. 1927), S. 1. Dribins, Deutschbalten, S. 292. Lamey, Minderheiten, S. 18. Sˇimkuva, Minderheitenpolitik, S. 72. 247 Dribins, Deutschbalten, S. 292. Hiden, Defender, S. 154. 248 II. Saeima, VIII. Session, 2. Sitzung (21. 01. 1928), S. 120. 249 Präsidialsitzung des A.P. (08. 12. 1927), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 9, Bl. 12. Wertheimer, Parteien 1930, S. 61, gibt an, Schiemann habe während seiner Sondierungen vom 28.– 31. Dezember 1927 nie die Übernahme des Amtes des Ministerpräsidenten angestrebt, sondern lediglich Magnus den Weg in das Amt des Justizministers ebnen wollen. Dies belegt Wertheimer bedauerlicherweise nicht. 250 II. Saeima, VIII. Session, 1. Sitzung (20. 01. 1928), S. 9; 2. Sitzung (21. 01. 1928), S. 96. Libausche Zeitung (01. 12. 1928), S. 1. Lamey, Minderheiten, S. 18. Je¯kabsons, Prawnicy. Lamey, Minderheiten, S. 18f, und Sˇimkuva, Minderheitenpolitik, S. 72, vergessen beide Wierzbicki in ihren Aufzählungen der Minister und Gehilfen der Minderheiten.

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1928 mitgeteilt hatte, nicht mehr für das Amt des Justizministers zur Verfügung zu stehen.251 Am 30. November 1928 konnte Hugo Celmin¸ˇs (LZS) ein Kabinett mit denselben Parteien, erweitert noch um die Nationale Union, der Saeima präsentieren. Magnus’ Nachfolger im Amt des Justizministers war Balduin Düsterlohe (DbRP). Sˇpoljanskij und Wierzbicki behielten ihre Ämter als Gehilfen. Düsterlohes Amtszeit währte nur kurz: Aufgrund eines Herzleidens wurde er am 16. Januar 1929 im gegenseitigen Einvernehmen entlassen. Zu seinem Nachfolger nominierte Celmin¸sˇ wiederum einen Deutschbalten, nämlich Bernhard v. Berent (DbRP).252 Berent, der zeitweilig auch als Gehilfe des Kriegsministers amtierte, trat am 26. November 1929 zurück. Dieser Rücktritt erfolgte unmittelbar nach der Verabschiedung des Landeswehrgesetzes und wurde von der deutschen Fraktion veranlasst, die ihrerseits vier Tage zuvor die Koalition verlassen hatte. Ein Regierungswechsel erfolgte allerdings nicht, da die deutsche Fraktion ankündigte, kein Misstrauensvotum gegen die Regierung mittragen zu wollen, um nicht die Linke unterstützen zu müssen.253 Da ein Weiteramtieren Celmin¸sˇs ohne die deutschen Deputierten aber nicht möglich war, blieb die deutsche Fraktion faktisch Teil der Regierungskoalition. Erst die Befürwortung des Antrags der Übereignung des Domes an die Garnisonsgemeinde254 durch den LZS führte am 20. Februar 1931 zum definitiven Austritt der deutschen Fraktion aus der Regierungskoalition, worauf Celmin¸sˇ am 3. März seinen Rücktritt einreichen musste.255 Die zweite Regierung Celmin¸sˇ war 1928–1931 die am längsten amtierende Lettlands während der parlamentarischen Periode. Diese Regierung wies mit Berent auch den letzten deutschen Minister Lettlands auf. Die beiden Gehilfen Sˇpoljanskij und Wierzbicki verblieben dagegen auf ihren Posten, wobei Sˇpoljanskij bei einer Kabinettsumbildung im März 1930 durch den Russen Stepan Kirillov ersetzt wurde.256 Zu Celmin¸sˇs Nachfolger wählte das Parlament mit 51 251 Präsidialsitzung des A.P. (29. 10. 1928), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 36, Bl. 28. 252 Protokoll der Sitzung des A.P. (15. 01. 1929/25. 01. 1929), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 36, Bl. 37, 40. III. Saeima, II. Session, 1. Sitzung (22. 01. 1929), S. 8f. Schiemann, Jahresübersicht 1930, S. 6. Lamey, Minderheiten, S. 18, der allerdings das Datum des Rücktritts Düsterlohes falsch mit dem 6. Januar 1929 benennt. Wertheimer, Parteien 1930, S. 67. 253 Protokoll der Sitzung des A.P. (20. 10. 1929), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 36, Bl. 48. III. Saeima, IV. Session, 11. Sitzung (26. 11. 1929), S. 532. Libausche Zeitung (28. 11. 1929), S. 1. Fircks, Jahresüberblick 1931, S. 6f. Hiden, Defender, S. 163, der allerdings Düsterlohe und Berent verwechselt. Wachtsmuth, Manuskript (ca. 1939), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 44, Bl. 216. Wertheimer, Parteien 1930, S. 71. 254 Vgl. dazu Kap. 2.4.5. 255 III. Saeima, VIII. Session, 10. Sitzung (20. 02. 1931), S. 393–396. Präsidialsitzung des A.P. (12. 02. 1931), in: DWPS, Sign. 3, 1931, S. 3. Präsidialsitzung des A.P. (18. 09. 1930/26. 02. 1931), in: Garleff, Politik, S. 199. Ders., Politik, S. 139–142. 256 Lamey, Minderheiten, S. 18.

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Stimmen am 24. März 1931 wiederum Ulmanis, der damit zum sechsten Mal Ministerpräsident wurde. Er amtierte mit einer Koalition aus LZS, Nationaler Union und zahlreicher kleinerer Parteien. Fircks kündigte die Wahl der Regierung aufgrund der Wirtschaftskrise an, obwohl sich die deutsche Fraktion nicht an der Bildung der Regierung beteiligen wollte. Aufgrund der Auseinandersetzung um den Rigaer Dom schlug sie auch ein Angebot Ulmanis’ vom April 1931 aus, das Amt eines Gehilfen ohne Aufgabenbereich – für das Ulmanis Fircks vorgesehen hatte – zu besetzen, was einen offiziellen Regierungseintritt bedeutet hätte.257 Wie schon 1929–1931 führte die deutsche Fraktion damit ihren Schlingerkurs fort, offiziell nicht, faktisch aber sehr wohl Teil der Regierungskoalition zu sein. Nachdem im August 1931 eine Wegnahme des Doms auf parlamentarischem Wege zunächst vermieden worden war, entschied sich die deutsche Fraktion für einen Verbleib in der Regierungskoalition bis zum bevorstehenden Ende der Legislaturperiode.258 Das sechste Kabinett Ulmanis war das letzte während der parlamentarischen Periode, in dem Politiker der Minderheiten Ämter einnahmen, nämlich unverändert der Pole Wierzbicki als Gehilfe des Innenministers bis zum 1. Juli 1931 und zuletzt Sergej Trofimov – der Nachfolger Kirillovs – als II. Gehilfe des Landwirtschaftsministers. Trofimov amtierte bis zum Dezember 1931.259 Die Wahl zur IV. Saeima endete mit einem Rechtsruck: Erstmalig bekamen die bürgerlich-agrarischen lettischen Parteien die absolute Mehrheit im Parlament. Im Wahlkampf hatten nationalistische Töne in dem von der Weltwirtschaftskrise getroffenen Land ein bislang nicht gekanntes Ausmaß angenommen.260 Eine Teilnahme an der Regierungskoalition wurde durch die deutsche Fraktion kurzzeitig noch als möglich erachtet.261 Als sich jedoch eine Regierungsbildung durch den auf eine minderheitenfeindliche Politik umgeschwenkten Skujenieks – der auch eine neue Rechtspartei, die »Progressive Vereinigung« (PA, Progresı¯va¯ apvienı¯ba), gegründet hatte – abzeichnete, ging die deutsche Fraktion, wie von Schiemann in der Saeima-Sitzung am 4. Dezember 1931 angekündigt, in die Opposition und stimmte erstmalig gegen eine Regierung.262 In den folgenden eineinhalb Jahren musste sich die deutsche Fraktion schwere Angriffe auf die Schulautonomie durch Bildungsminister Atis 257 III. Saeima, VIII. Session, 19. Sitzung (24. 03. 1931), S. 748, 764, 768. Garleff, Politik, S. 146. Topij, Mniejszos´c´, S. 118. 258 Präsidialsitzung des A.P. (20. 06. 1931), in: Garleff, Politik, S. 200. Vgl. auch Garleff, Politik, S. 150. 259 Je¯kabsons, Prawnicy. Lamey, Minderheit, S. 18f. 260 Hehn, Lettland, S. 16f. 261 Fraktionssitzung (02. 11. 1931), in: DWPS, Sign. 3, 1931, S. 35. 262 IV. Saeima, I. Session, 10. Sitzung (04. 12. 1931), S. 334, 352f.

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K ¸ enin¸ˇs (DC) erwehren. Am 21. Juni 1932 scheiterte ein Misstrauensantrag Schiemanns gegen K ¸ enin¸ˇs knapp mit 40 gegen 38 Stimmen.263 Die Unzufriedenheit der deutschen Parlamentarier mit der Regierungspolitik und insbesondere mit Bildungsminister K ¸ enin¸ˇs wog so schwer, dass Schiemann selbst nach der Demission Skujenieks’ am 3. Februar 1933 die von Staatspräsident Kviesis offerierte Regierungsbeteiligung ausschlug, wobei aus der DbRP auch positive Signale für den Fall eines Ausscheidens K ¸ enin¸ˇss kamen.264 Als dieser jedoch auch dem am 22. März 1933 präsentierten neuen Kabinett unter ¯ dolfs Bl¸odnieks (LJSP) angehörte, stimmte die deutsche Fraktion, wie von A Fircks in der Sitzung angekündigt, erneut gegen die Regierung.265 Nach dem Rücktritt K ¸ enin¸sˇs am 16. Juni 1933266 begann sich das Verhältnis der deutschen Fraktion zur Regierung wieder ins Positive zu wandeln. Einen Beitrag zur Zerstörung des Parlamentarismus in Lettland leistete die deutsche Fraktion, als sie nach dem Sturz Bl¸odnieks am 16. März 1934 neuerlich Ulmanis ihre Stimme gab. Zwar waren die Putsch-Pläne Ulmanis’ nicht bekannt, allerdings hätte das Bestehen des Bauernbundes auf den Posten des Ministerpräsidenten sowie des Innen- und Kriegsministers stutzig machen müssen, während er erstmalig seit 1928 das Landwirtschaftsministerium preisgab. Insgesamt kam Ulmanis mit seinem siebten Kabinett mit Unterstützung aller Parlamentarier der Minderheiten auf 50 von 93267 möglichen Stimmen. Erstmalig hatte es übrigens bei einer Regierungserklärung keine Äußerung eines deutschen Abgeordneten gegeben.268 Die deutsche Fraktion hielt auch weiter zu Ulmanis, als sich Anfang Mai 1934 die Putsch-Pläne nicht mehr geheim halten ließen und in der Saeima am 4. Mai durch die LSDSP-Fraktion zur Sprache kamen. Mit dem Putsch Ulmanis’ vom 15. Mai 1934 endete die Zeit der parlamentarischen Regierungen in Lettland. Die nachfolgende Regierung bleibt außer Betracht, auch wenn ihr mit Wilhelm Munter ein deutschstämmiger Außenminister 1936–1940 angehörte.269 In der Frage der Regierungsbeteiligungen der deutschen Fraktion gehen die 263 IV. Saeima, III. Session, 34. Sitzung (21. 06. 1932), S. 1427–1429. 264 Protokoll der DbRP-Ausschusssitzung (08. 02. 1933/24. 03. 1933), in: LVVA, f. 5612, a. 1, l. 3, Bl. 5, 8. 265 IV. Saeima, V. Session, 14. Sitzung (22. 03. 1933), S. 549, 557, 584. Garleff, Politik, S. 179. 266 IV. Saeima, VI. Session, 16. Sitzung (16. 06. 1933), S. 658. 267 Aufgrund des Verbots der siebenköpfigen Arbeiter- und Bauern-Fraktion am 22. November 1933. 268 Schoeler, Jahresbericht 1934, S. 11. IV. Saeima, VII. Session, 19. Sitzung (16. 03. 1934), S. 799, 840. Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Ausschusses der deutschbaltischen Parteien (16. 03. 1934), in: DWPS, Sign. 3, 1934, S. 29. Garleff, Politik, S. 187. Hehn, Lettland, S. 43. Topij, Mniejszos´c´, S. 357. 269 Rigasche Rundschau (05. 05. 1934), S. 5. Libausche Zeitung (15. 07. 1936), S. 1. Hehn, Lettland, S. 44f. Zu Munter vgl. Treijs, Munters, und Wachtsmuth, Wege, S. 214f.

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Bewertungen der Historiografie auseinander. Dies beginnt bei der Zählung: Während manche Werke eine deutsche Beteiligung an bis zu 15 der 18 Regierungen Lettlands und damit einen umfassenden Einfluss behaupten,270 so waren es tatsächlich nur zehn von 18 Regierungen, die von der deutschen Fraktion mitgetragen wurden. Folgendes Muster bei Regierungsbeteiligung und Opposition lässt sich erkennen: Waren die deutsche oder andere Minderheiten personell im Kabinett vertreten (1918–1921, 1928–1931) oder handelte es sich um eine bürgerlich-agrarische, den Minderheiten eher positiv gesonnene Regierung (1924–1926, 1934), so unterstütze die deutsche Fraktion diese Kabinette. Handelte es sich um bürgerlich-agrarische Kabinette, die den Minderheiten eher negativ gegenüber standen (1924, 1926, 1931–1934) oder um solche mit sozialdemokratischer Beteiligung (1921–1924, 1926–1928), so trug die deutsche Fraktion diese nicht mit. Das Votum der deutschen Fraktion bei Regierungen deckte sich somit eng mit dem bei den Präsidentenwahlen. Der Einfluss der deutschen Fraktion auf die Regierungsgeschäfte war geringer, als es die Zahl von zehn Regierungsbeteiligungen vermuten lässt. Bei den acht Regierungen, die von der deutschen Fraktion nicht mitgetragen wurden, war der Beschluss von gegen die Minderheiten gerichteten Gesetzen von vornherein zu erwarten. Beispiele hierfür waren der Streit um die Jakobikirche 1923, die Namensgesetzgebung 1927 oder die schwere Auseinandersetzung mit K ¸ enin¸ˇs um die deutsche Schule 1931–1933. War die deutsche Fraktion an der Regierungsbildung beteiligt, so schützte dies im Umkehrschluss nicht grundsätzlich gegen als negativ empfundene Gesetze. Vielmehr fielen die Landreform 1920 oder das Landeswehrgesetz 1929 in die Zeiten deutscher Regierungsbeteiligung. Selbst die Besetzung eines Ministeramtes wie das des Finanzministers 1919– 1920 durch Robert Erhardt schützte die zahlreichen deutschen Gläubiger nicht davor, dass sie durch das federführend von ihm ausgearbeitete Gesetz zur Einführung des Lat durch die Entschuldung vieler Letten Nachteile erlitten.271 Deshalb muss der Einfluss der deutschen Fraktion auf die Regierung in den zehn Fällen der Regierungsbeteiligung insgesamt als mäßig eingestuft werden, wie es bei einem Anteil von 4–8 % an deutschen Abgeordneten auch nicht anders zu erwarten sein konnte. Im Falle einer Regierungsbeteiligung konnte die deutsche Fraktion maximal einen Anteil von einem Achtel der Abgeordneten der Regierungsfraktionen stellen. Allerdings lässt sich erst durch eine Kombination der geringen Größe der 270 Hierbei ist zu beachten, dass Sˇimkuva, Germanija, S. 90, und Topij, Mniejszos´c´, S. 124, von 15 direkten oder indirekten Beteiligungen an der Regierung sprechen. Bei Dribins, Deutschbalten, S. 292f, werden hieraus 15 Regierungsbeteiligungen. 271 Zu einer ähnlichen Bewertung, wenn auch auf Grundlage von Wachtsmuths Werk, kommt Hehn, Umsiedlung, S. 8f. Auf zahlreiche der genannten Politikfelder geht Kap. 2.4 genauer ein.

Die deutschen Abgeordneten in den Parlamenten Lettlands

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deutschen Fraktion mit den erheblichen Teilerfolgen ihrer Arbeit ein realistisches Bild der Regierungs- und Oppositionsarbeit generieren: Die deutsche Fraktion zeichnete sich erstens durch einen enormen Aktivismus im Sinne des Wunsches einer Beteiligung am Staat aus, die sie mit Ulmanis, Celmin¸sˇ und Jurasˇevskis zu verwirklichen suchten. Selbst in sechs der acht Fälle (1921–1924, 1926–1928), in denen sie nicht an der Regierung beteiligt war, wurde meist durch Enthaltung und Nichtteilnahme am Vertrauensvotum über die Regierung grundsätzlich die Bereitschaft signalisiert, an den Regierungsgeschäften mitzuwirken. Mit Sicherheit spielte dabei auch der Aspekt eine Rolle, durch weniger scharfe Oppositionspolitik eine restriktivere Minderheitenpolitik vermeiden zu wollen. Zudem konnte nahezu jede Regierungspartei während einer Opposition der deutschen Fraktion bei der nächsten Regierungsbildung wieder ein Koalitionspartner sein. Lediglich während der Regierungen Skujenieks und Bl¸odnieks 1931–1933 wurde die Minderheitenpolitik als so negativ wahrgenommen, dass sich die deutsche Fraktion erstmalig vollständig als Oppositionsfraktion begriff, um dann nach dem Sturz K ¸ enin¸sˇs 1933 wieder allmählich zu dem bewährten Politikmuster zurückzukehren. Die deutsche Fraktion zeichnete sich zweitens durch eine enorme Fixierung auf die bürgerlich-agrarischen Parteien Lettlands aus und verweigerte sich grundsätzlich Koalitionen mit beiden sozialdemokratischen Parteien. Dabei waren Letztere ohnehin selten an der Macht: Schon die rechtssozialdemokratische MP war nur sporadisch an Regierungen beteiligt. Die sozialistische LSDSP stellte zwar in guter parlamentarischer Tradition als stärkste Fraktion mit Frı¯drihs Vesmanis (1922–1925) und Pauls Kalnin¸sˇ (1925–1934) den SaeimaPräsidenten, befand sich aber außer 1923–1924 und 1926–1928 stets in der Opposition und scheiterte bei allen Präsidentenwahlen. Die Abgrenzung der deutschen Abgeordneten nach links erklärt sich aus ihrer sozialen Herkunft und dürfte mit den Zielen der Wähler mit Sicherheit große Übereinstimmung gehabt haben. Allerdings verschloss dieser Kurs grundsätzlich die Möglichkeit eines nationalen Ausgleichs mit den in dieser Frage zumindest in den 1920er Jahren konzessionsbereiteren Sozialisten. Dies ist umso überraschender, weil die Zusammenarbeit der V. d.Bw. um Keller und Wachtsmuth mit Bildungsminister Rainis (LSDSP) 1926–1928 positiv und von wechselseitigem Vertrauen geprägt war.272 Über viele Jahre hinweg stieß das konsequente Bemühen der deutschen Fraktion um die bürgerlich-agrarischen Parteien auf Resonanz. Gerade diese in Osteuropa für Nationalismus anfälligen Gruppierungen standen in Lettland lange für eine vergleichsweise liberale Minderheitenpolitik, auch wenn wieder und wieder auch hier nationalistische Zwischentöne zu hören waren. Umgekehrt 272 Wachtsmuth, Wege, S. 196. Ders., Gesicht, S. 250f.

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gewannen die bürgerlich-agrarischen Parteien durch die Minderheitenfraktionen, insbesondere die deutsche, oft die gewünschte parlamentarische Mehrheit ohne die linken Parteien einbinden zu müssen. Ab 1931 schwenkten die bürgerlichen Parteien dann auf einen nationalistischeren Kurs um. So war es eine Ironie der Geschichte, dass es 1934 mit Ulmanis gerade derjenige Politiker war, den die deutschen Parlamentarier stets unterstützt hatten, der die Abschaffung der Demokratie und der Schulautonomie betrieb. Dies war von der deutschen Fraktion weder intendiert noch vorausgeahnt worden. Dass sich die deutschbaltische Politik – nachdem der Putsch Ulmanis’ zunächst begrüßt worden war – daher schon bald den zuvor oft kritisierten Parlamentarismus zurückwünschte, überrascht wenig.273 Die deutsche Fraktion zeichnete sich drittens, wie auch generell, durch ihre Geschlossenheit und Verlässlichkeit in der Frage der Regierungsbildung aus. Aus ihrer Sicht erschien es obskur, dass die russischen Abgeordneten Sˇpoljanskij und Kirillov jeweils als Gehilfen des Landwirtschaftsministers 1928–1931 Regierungsämter einnahmen, während gleichzeitig Meletij Kallistratov als Abgeordneter der russischen Altgläubigen ebendiese Gehilfen in der Aussprache zu den Regierungserklärungen am 30. November 1928 und 24. März 1931 unfähig oder faul nannte.274 Dabei übersahen die deutschen Abgeordneten, dass sie sich in der glücklichen Position befanden, die sozial und konfessionell recht homogene deutschbaltische Bevölkerung Lettlands zu vertreten, während sich bei der ausgesprochen unterschiedlichen und auch mehr als doppelt so großen russischen Bevölkerung die Ausdifferenzierung auch auf die Vertretung in der Saeima auswirkte.

2.4

Politikfelder

2.4.1 Loyalitätsfrage Am 4. Dezember 1918 bekannte sich Wilhelm Schreiner (DbFP) während der Aussprache zur Regierungserklärung von Ulmanis zur Republik Lettland. Würde die Regierung die Interessen der Minderheiten respektieren, würden die Deutschen mit voller Kraft am Aufbau eines freien Lettland mitwirken.275 Noch wichtiger war allerdings Schreiners Bekenntnis zur Republik Lettland auf der Sitzung am 12. Mai 1919. Diese war zwar von der erst kurz zuvor durch den Putsch des 16. April 1919 an die Macht gekommene Regierung Niedra verboten 273 Wachtsmuth, Wege, S. 239f. 274 Libausche Zeitung (01. 12. 1928), S. 1; (25. 03. 1931), S. 1. Garleff, Politik, S. 157. 275 Volksrat, I. Session, 3. Sitzung (04. 12. 1918), S. 44. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 37f.

Politikfelder

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worden. Trotz dieses Verbots versammelten sich 68 ordentliche oder Ersatzmitglieder im Libauer Rathaus. Dies war die bislang höchste Teilnehmerzahl an einer Sitzung des Volksrats überhaupt. Schreiner sprach sich, wie bereits genannt, im Namen der DbFP gegen Niedra aus. Stattdessen forderte er unter der Losung »Vorwärts für unser Land« eine Zusammenarbeit aller Nationalitäten unter Führung der Letten, was mehrfachen Applaus nach sich zog.276 Weniger einfach gestaltete sich die Situation nach dem Zusammenbruch der Niedra-Regierung und der Rückkehr des Volksrats und der Regierung Ulmanis nach Riga. Auf der ersten Sitzung nach diesen Ereignissen, am 13. Juli 1919, gelang es den deutschen Abgeordneten nicht, eigenständig Akzente zu setzen. Dies blieb Aleksandr Bocˇagov vorbehalten, der als Vorsitzender der an diesem Tag neu eingetretenen russischen Abgeordneten ein Bekenntnis zur Republik Lettland im Namen der russischen und jüdischen Bevölkerung in lettischer Sprache vorlas. Die beiden neuen deutschen Mitglieder, Schiemann (DbDP) und Brümmer (DbNlP), schlossen sich in deutscher Sprache der Erklärung Bocˇagovs an.277 Den Schritt, einmal symbolisch die Integrationsbereitschaft auch sprachlich durch Gebrauch des Lettischen zu unterstreichen, unternahmen deutsche Parlamentarier auch später nicht. So hielt Schiemann seine mit teilweisen Versöhnungsbotschaften gespickte Rede nach dem einjährigen Streit um den Dom am 17. November 1931 wiederum ausschließlich in deutscher Sprache, während umgekehrt Ja¯nis Terin¸ˇs in einer Erwiderung auf einzelne Passagen in Schiemanns Rede auf Deutsch Bezug nahm.278 Neben der bereits genannten Tatsache, dass den beiden deutschen Ministern Erhardt und Magnus sowie Mintz am 13. Juli 1919 bei der Verlesung der Ministerliste der Applaus verweigert wurde, zeigte auch die Wahl der Ausschussmitglieder zwei Tage später noch einmal klar die damaligen Konfliktlinien: Dreimal rief Fricis Menders (LSDSP) von seinem Sitzplatz aus, dass die Sozialdemokraten alle Kandidaten außer Brümmer wählen würden. Als ehemaliger Minister der Putschisten-Regierung Niedra galt Brümmer, wie bereits erwähnt, als diskreditiert.279 Die weitere Parlamentsarbeit war nur wenig von Loyalitätsdebatten geprägt. 1919 gelang eine allmähliche Stabilisierung, zu der auch das Verhindern des Überlaufens der deutschbaltischen Landeswehr an Bermondt im Herbst 1919 beitrug. Hieran wirkte Fircks als Leiter des Nationalausschusses maßgeblich mit. 1920 verschlechterte sich das deutschbaltisch-lettische Klima deutlich, wobei die Konstituante dennoch am 7. August 1920 das den Deutschbalten 276 Volksrat, II. Session, 1. Sitzung (12. 05. 1919), S. 71, 81, 93–95. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 43. 277 Volksrat, III. Session, 1. Sitzung (13. 07. 1919), S. 97f. 278 IV. Saeima, I. Session, 4. Sitzung (17. 11. 1931), S. 87f, 93f. 279 Volksrat, III. Session, 2. Sitzung (15. 07. 1919), S. 101. Vgl. auch Conrad, Loyalität, S. 45.

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überaus entgegenkommende Amnestiegesetz annahm. Besagtes Gesetz amnestierte nahezu alle Unterstützer der Regierung Niedra, also auch die Soldaten der Landeswehr. Zwischen den lettischen und deutschen Parlamentariern war nämlich ein Konsens darüber hergestellt worden, dass 1918–1919 der Prozess der Staatsbildung noch nicht abgeschlossen gewesen war, mitunter also der Einsatz für die konkurrierende altbaltische Staatsidee nicht als Hochverrat anzusehen sei.280 Entscheidend für die Einordnung des Jahres 1920 als eines der schwierigen, ja sogar das schwierigste zwischen Deutschbalten und Letten,281 war aber nicht das Amnestiegesetz, sondern die in hoher Geschwindigkeit durchgeführte Agrarreform. Erst nach deren Durchführung kam es nach 1920 zu einer allmählichen Beruhigung. Schon im Januar 1921 äußerten sich die A.P.-Vorstandsmitglieder auf einem Straßenfest verhalten positiv über den neuen lettischen Staat. Drei Monate später erhob der A.P. die Eroberung Rigas am 22. Mai 1919 zum landesweiten, identitätsstiftenden Gedenktag der Deutschbalten in Lettland. Dieser neuen Tradition wurde lettischerseits insofern Rechnung getragen, als dass – trotz vieler Einwände im Hinblick auf die Rolle der Landeswehr bei der Staatsgründung Lettlands – deutsche Staatsangestellte an diesem Tag arbeitsfrei bekommen konnten. Ohnehin war die Leitung des deutschen Schulwesens aufgrund der Schulautonomie befugt, an diesem Tag schulfrei zu geben.282 Konkurrierend legten Regierung und Konstituante allerdings am 30. September 1921 in Erinnerung an den Sieg der vereinigten estnischen und nordlettischen Truppen in der Schlacht von Wenden 1919 den 22. Juni als Staatsfeiertag fest. Dies stieß auf scharfen Widerspruch der deutschen Parlamentarier, die demonstrativ aus dem Parlament auszogen. Schiemann kritisierte die lettische Parlamentsmehrheit dafür, einen »dies odii« zwischen Bürgern Lettlands zu einem Feiertag erklärt zu haben. Die bereits angesprochene Befürwortung des Antrags durch den Abgeordneten Jakob Hellmann (Zeire Zion) führte zur Auflösung des A.M. durch die deutsche Fraktion noch am 1. Oktober 1921.283 Gleichzeitig gaben die deutschen Abgeordneten allerdings der radikalen Forderung eines Teils der Deutschbalten nicht nach, sich aus der Konstituante gänzlich zurückzuziehen. Diesen radikaleren Forderungen verlieh Paul v. Sokolowsky – 1919 Justizminister der Regierung Niedra – eine Stimme, indem er behauptete, dass »[…] die Letten so stark verrusst sind, dass an eine Verstän-

280 Garleff, Deutschbalten, S. 487. Wachtsmuth, Gesicht, S. 161–164. 281 Wachtsmuth, Gesicht, S. 157–159. 282 Protokoll der Sitzung des A.P. (18. 04. 1921), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 6, Bl. 92. Böttcher, Kriegerdenkmäler, S. 101–105. Ceru¯zis, Minderheit, S. 74. Topij, Mniejszos´c´, S. 128. 283 Konstituante, IV. Session, 6. Sitzung (30. 09. 1921), S. 1462–1464. Rigasche Rundschau (01. 10. 1921), S. 1. Topij, Mniejszos´c´, S. 128. Wachtsmuth, Gesicht, S. 369.

Politikfelder

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digung mit ihnen schlechterdings gar nicht zu denken ist.«284 Dieser Sichtweise verschlossen sich die Parlamentarier. Trotz der Erregung um die Enteignung der Jakobikirche beruhigten sich die Verhältnisse bis 1923. Zum 5. Geburtstag Lettlands am 18. November 1923 kamen deutsche Fraktion, A.P. und Verwaltung des deutschen Bildungswesens zweier Bitten lettischer Parlamentarier und der Regierung nach, nämlich zum einen in den deutschen Schulen Wappen der Republik Lettland aufzuhängen und zum zweiten die deutschen Schüler anlässlich des Jubiläums als äußeres Zeichen der Verbundenheit mit der Republik Lettland die Nationalhymne in lettischer Sprache singen zu lassen.285 Selbstverständlich nahmen die deutschen Parlamentarier auch an der Festsitzung der Saeima am 18. November 1928 zum 10. Jahrestag der Gründung Lettlands teil. Justizminister Magnus äußerte vor dem Ministerkabinett die Hoffnung auf eine Vertiefung der Zusammenarbeit der Nationalitäten in Lettland.286 Das entscheidende Ersatzkonstrukt zur Vermeidung einer offenen Identifikation mit der Republik Lettland war der bereits einleitend erwähnte Heimatgedanke. Dieser Gedanke kursierte schon unmittelbar nach der allgemeinen Anerkennung Lettlands durch die Deutschbalten im Sommer 1919.287 Er wurde aus dem Kreis der Parlamentarier maßgeblich von Fircks propagiert, der ihn 1933 folgendermaßen charakterisierte: »Wir haben an die Heimat dasselbe Recht, wie das Mehrheitsvolk, ja häufig sogar lokal ein größeres Altersrecht. Wir haben aber dadurch ein ganz besonderes Recht, weil ohne uns die Heimat schon längst im Slavensumpfe untergegangen wäre.«288 Der Heimatgedanke, sicher nicht allerorten mit der rassistischen Konnotation Fircks’, fand allgemeine Resonanz und tauchte wiederholt in Reden deutschbaltischer Parlamentarier auf – so 1932 in einer Rede Schiemanns gegen die minderheitenfeindliche Haltung des Ministerpräsidenten Marg‘ ers Skujenieks (PA).289 Nach der Einschätzung von Wachtsmuth war allein der anationale Heimatgedanke identitätsstiftend, zur Republik Lettland hätte es keine Loyalität gegeben.290 Diese sicher nicht von ungefähr kommende Bemerkung Wachtsmuths wird durch die parlamentarische Tätigkeit der deutschbaltischen Deputierten aber nicht voll widergespiegelt. Es gab Faktoren, die eine Teilidentifikation mit 284 285 286 287

Protokoll der Sitzung des A.P. (29. 10. 1921), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 6, Bl. 147. Präsidialsitzung des A.P. (18. 10. 1923/15. 11. 1923), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 253, 261. Rigasche Rundschau (19. 11. 1928), S. 1. Böttcher, Kriegerdenkmäler, S. 93. Volksrat, IV. Session, 6. Sitzung (23. 08. 1919), S. 238. Rigasche Rundschau (Nov. 1919), in: Donath, Schiemann, S. 141. 288 Wachtsmuth, Manuskript (ca. 1939), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 44, Bl. 195f. 289 IV. Saeima, II. Session, 2. Sitzung (23. 02. 1932), S. 72f. Rigasche Rundschau (24. 02. 1932), S. 1f. Hiden, Voice, S. 692. Wachtsmuth, Gesicht, S. 178f. 290 Wachtsmuth, Gesicht, S. 365. Vgl. auch Saagpakk, Darstellung, S. 62–66.

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der Republik Lettland ermöglichten: So war es aufgrund der geografischen Lage den Deutschbalten in Lettland nicht möglich, eine revisionistische Politik mit dem Ziel eines Anschlusses an das Deutsche Reich zu betreiben. Demnach war jedwede politische Tätigkeit für die »Heimat« nur über die Organe und Institutionen Lettlands möglich – ein Weg, den wiederum vor allem Schiemann propagierte.291 Dazu schützte die Republik Lettland die »Heimat« vor einer Zugehörigkeit zur Sowjetunion, was von den Deutschbalten nahezu einhellig als positiv angesehen wurde.292 Zudem brach nach der Enteignung der Jakobikirche 1923 eine sechs Jahre währende Zeit an, in der es zu keinen als einschneidend empfundenen Desintegrationsmaßnahmen gegen die Deutschbalten mehr kam. Kurz vor Einsetzen der Weltwirtschaftskrise waren es aber dennoch die Auseinandersetzungen um die Entstehung Lettlands, mit denen das erneute Auseinanderleben der deutschen Minderheit und der lettischen Mehrheitsnationalität begann: Zum 10. Jahrestag der Eroberung Rigas durch die Landeswehr wurde am 22. Mai 1929 nach einer Festrede Schiemanns auf dem Rigaer Waldfriedhof ein Gedenkstein mit der Inschrift »Den Toten der Baltischen Landeswehr« und Tafeln mit Totenlisten enthüllt. Dieser aufgrund der Zielrichtung des Nationalausschusses und der Landeswehr 1918/1919 nicht unproblematische Versuch einer konkurrierenden Gedenkkultur zu den Letten, deren politische Vertreter und Öffentlichkeit stattdessen die Schlacht von Wenden am 22. Juni 1919 zelebrierten, währte nur bis zum 9. Juni 1929, als Unbekannte das Landeswehr-Denkmal sprengten.293 Zwar wurde dieser Anschlag durch Präsident Kviesis scharf verurteilt und auch lettisches Staatsgeld für den Wiederaufbau zugesagt – das allerdings später durch den Landeswehr-Verein nicht abgerufen wurde.294 Das durch die Sprengung initiierte desintegrative Signal295 und seine Konsequenzen ließen sich aber nicht mehr aus der Welt schaffen. Im selben Zusammenhang standen Unterschriftensammlungen für eine Änderung des erst im Mai 1928 von der Saeima verabschiedeten Kriegerlandgesetzes, die am 22. Juni 1929 von lettischen Aktivisten begannen. Ihr Ziel war, die Soldaten der Landeswehr von der bevorzugten Landzuteilung auszuschlie-

291 Rimscha, Schiemann, S. 53–55. 292 Wachtsmuth, Gesicht, S. 178f. 293 Rigasche Rundschau (10. 06. 1929), S. 1. Bericht des Hauptvorstands der Deutschbaltischen Volksgemeinschaft über das Jahr 1929 (Anf. 1930), in: LVVA, f. 5921, a. 1, l. 50, Bl. 8. Hehn, Umsiedlung, S. 39. Topij, Mniejszos´c´, S. 128. Wittram, Geschichte, S. 226, 228. Ceru¯zis, Minderheit, S. 82, datiert die Sprengung falsch auf einen Sonntag, den 7. Juni 1929, der allerdings kein Sonntag, sondern ein Freitag war. 294 III. Saeima, außerordentliche Session, 1. Sitzung (16. 08. 1929), S. 14. Protokoll der Präsidialsitzung der Deutschbaltischen Volksgemeinschaft (08. 05. 1930), in: LVVA, f. 5921, a. 1, l. 51, Bl. 7. Böttcher, Kriegerdenkmäler, S. 120–123. Ceru¯zis, Minderheit, S. 85f. 295 Protokoll der DbDP-Generalversammlung (23. 04. 1930), in: LVVA, f. 4985, a. 1, l. 3, Bl. 89.

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ßen, was das Klima weiter zu verschlechtern drohte.296 Im November 1929 warnte Schiemann im Vorfeld der Verabschiedung dieses »Landeswehrgesetzes«, dass »die Annahme des Initiativantrags durch den Landtag das Fundament unserer bisherigen Zusammenarbeit zerstören [würde].«297 Die Annahme des Landeswehrgesetzes durch die Saeima am 22. November 1929 mit 51 gegen 39 Stimmen298 und dem direkt folgenden Austritt der deutschen Fraktion aus der Regierungskoalition leiteten das endgültige Auseinanderdriften zwischen der deutschbaltischen Minderheit und der Republik Lettland ein.

2.4.2 Schulwesen Bereits in der Gründerzeit Lettlands wurde die Schulfrage grundsätzlich geregelt. Noch im November 1918 hatten deutsche Bildungspolitiker in Lettland mit Vorbereitungen für ein Gesetz über deutsche Schulen begonnen, die auf Planungen aus dem Ersten Weltkrieg aufbauten. Trotz der Wirren im Lettischen Unabhängigkeitskrieg trieben besagte Bildungspolitiker, vor allem Karl Keller, unterstützt durch den neuen Justizminister Edwin Magnus, auch nach dem Ende der Niedra-Zeit ihre Pläne voran. Die allgemeinen Umstände der Zeit noch vor der internationalen Anerkennung Lettlands waren günstig.299 Im August 1919 schlossen sich die russischen und jüdischen Abgeordneten dem Vorhaben mit eigenen Autonomieprojekten an. Gegen den anfänglichen Widerstand der deutschen Abgeordneten bekam das ursprünglich deutsche Vorhaben so einen allgemeinen Charakter. Durch den Einsatz Kellers, der zwei Mal auf Lettisch vor dem Volksrat sprach, sowie Schiemanns und Magnus’ gelang es den Minderheitenpolitikern, dem »Gesetz über die Einrichtung der Minderheitenschulen in Lettland« am 8. Dezember 1919 ohne Gegenstimme bei 18 Enthaltungen zur Annahme zu verhelfen. Kern des Gesetzentwurfes war für die deutsche Bevölkerung die Installation der bereits genannten Verwaltung des Deutschen Bildungswesens (V. d.Bw.), der alle deutschsprachigen Schulen unterstehen sollten. Der von den deutschen Abgeordneten zu wählende Leiter des Bildungswesens unterstand direkt dem Bildungsminister mit dem Recht, in allen Schul- und Kulturangelegenheiten an den Sitzungen des lettischen Kabinetts mit beratender Stimme teilzunehmen.300 296 Rigasche Rundschau (26. 05. 1928), S. 6. Böttcher, Kriegerdenkmäler, S. 108f. 297 Protokoll der DbDP-Generalversammlung (07. 11. 1929), in: LVVA, f. 4985, a. 1, l. 3, Bl. 86. Vgl. hierzu auch Kap. 2.4.4. 298 III. Saeima, IV. Session, 10. Sitzung (22. 11. 1929), S. 531. Böttcher, Kriegerdenkmäler, S. 123f. 299 Garleff, Politik, S. 82–86, 90. Wachtsmuth, Schule, S. 41–49, 54f. 300 Volksrat, VI. Session, 8. Sitzung (02. 12. 1919), S. 588f; 10. Sitzung (08. 12. 1919), S. 618–621.

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Erster Chef der deutschen Bildungsverwaltung war vom 1. Januar 1920 bis zum 31. Dezember 1928 Karl Keller (DbDP), der damit eine Doppelfunktion als Abgeordneter und Leiter des Schulwesens ausübte. Zu seinem Nachfolger wurde am 1. Januar 1929 Kellers bisheriger Gehilfe Wolfgang Wachtsmuth (DbRP), der diese Position bis zur Aufhebung der Schulautonomie und der damit einhergehenden Auflösung der V. d.Bw. am 17. Juli 1934 innehatte. Anders als Keller war Wachtsmuth kein Parlamentarier. Keller und Wachtsmuth bemühten sich stets um ein gutes Verhältnis zum jeweiligen Bildungsminister. Zu den Erfolgen ihrer Arbeit zählte, dass Schulfragen – auch aufgrund der Autonomieregelung – eher selten Stoff für politische Auseinandersetzungen lieferten.301 Darüber hinaus war die Arbeit des V. d.Bw. insgesamt von hoher personeller Kontinuität und von geringen internen Auseinandersetzungen geprägt, ganz im Unterschied übrigens zu den Anfangsjahren seines russischen Pendants.302 Da es auch Minderheitenschulwesen für die Russen, Weißrussen, Polen, Juden – für diese sowohl mit Deutsch als auch mit Hebräisch, Jiddisch oder Russisch als Unterrichtssprachen – gab,303 wurde die Schulautonomie zu einer der zentralen Integrationsfaktoren im Lettland der Zwischenkriegszeit. Die Anzahl der Schüler deutscher Schulen stieg von 8.192 in 45 Schulen im Schuljahr 1919/20 auf 12.168 in 102 Schulen im Schuljahr 1923/24 an. Danach waren die Schülerzahlen mit kleineren Unterbrechungen generell rückläufig, erreichten aber noch im Schuljahr 1931/32 11.440 Schüler in 104 Schulen. Danach wurde der Rückgang stärker, im Schuljahr 1933/34 gab es noch 10.465 Schüler in 99 deutschsprachigen Schulen.304 In diesem Schuljahr besuchten 1.073 von 1.163 (92 %) deutschen Gymnasiasten eins der neun deutschsprachigen Gymnasien.305 Nachdem sich die Zusammenarbeit des V. d.Bw. mit den ersten Bildungsministern Ka¯rlis Kasparsons (1918–1920), Juris Pla¯k¸is (1920–1921), vor allem aber mit Longı¯ns Ause¯js (1921) und Aleksandrs Dauge (1921–1923) überwiegend problemlos gestaltet hatte,306 versuchte sich 1923 erstmalig Pauls Gailı¯tis (LZS) an einer Einschränkung der Schulautonomie: Am 5. Februar 1923 nahm er ohne

301 302 303 304 305 306

Gesetzestexte auf Deutsch bei Lamey, Minderheiten, S. 22–32. Bogojavlenska, Lehrerunion, S. 57–59. Garleff, Politik, S. 88f. Ders., Autonomiemodelle, S. 153. Hiden, Defender, S. 55. Topij, Mniejszos´c´, S. 212f. Wachtsmuth, Schule, S. 48f. Ders., Wege, S. 177–179. Wittram, Schulautonomie, S. 258f. Sˇimkuva, Minderheitenpolitik, S. 73, nennt falsch den 8. Dezember 1918 als Datum der Verabschiedung der Schulautonomie. Wachtsmuth, Schulpolitik, S. 355. Ders., Wege, S. 200f. Vgl. dazu Bogojavlenska, Lehrerunion, S. 59–61. Bobe, Ebreji, S. 204–212. Henning, Volksgruppe, S. 47. Ders., Autonomie, S. 56. Wachtsmuth, Gesicht, S. 351–353. Just, Arbeit, Bd. II, S. 1220. Hehn, Umsiedlung, S. 11. Henning, Volksgruppe, S. 50. Just, Arbeit, Bd. II, S. 1220. Lamey, Minderheiten, S. 41–47. Protokoll der Sitzung des A.P. (05. 09. 1921), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 6, Bl. 123.

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jedwede Konsultation den Verwaltungen der Minderheitenschulen das Recht zur Schulinspektion. Intensive Gespräche der Minderheitenabgeordneten unter ˇ akste und anderen lettischen Politikern, beLeitung Kellers mit Präsident C wirkten eine substantielle Entschärfung der Verordnung Gailı¯tis’.307 Unter den nachfolgenden Bildungsministern arbeitete die V. d.Bw. vor allem mit Edmunds Ziemelis (LJSP) 1925–1926 und 1928–1931 sowie mit Rainis (LSDSP) 1926–1928 hervorragend zusammen. Gerade in der Zeit Rainis’ konnte sogar ein Ausbau der Rechte der deutschen Minderheit erreicht werden: Zum 1. April 1927 wurden wieder deutsche Schulinspektoren zugelassen. Am 24. Mai 1927 erlangte das Rigaer Herder-Institut – mit etwa 300 Hörern in jenem Jahr – die staatliche Anerkennung als private deutsche Hochschule. Als Gesetzesreferent trat dabei vor der Saeima Schiemann in Erscheinung.308 Existentiell gefährdet war die Schulautonomie in der Amtszeit des Bildungsministers Atis K ¸ enin¸sˇ 1931–1933 unter den Ministerpräsidenten Skujenieks und Bl¸odnieks. Anders als Gailı¯tis, der eine Einschränkung der Schulautonomie erstrebte, suchte K ¸ enin¸sˇ diese bis zur Unkenntlichkeit auszuhöhlen und sie damit faktisch abzuschaffen. Schon vor der Bildung der Regierung Skujenieks hatte sich der A.P. aufgrund der bei der Wahl 1931 entstandenen bürgerlichen Mehrheit in der Saeima Gedanken gemacht, ob über die Hintertür von allgemeinen Einsparmaßnahmen durch eine neue Regierung nicht die Aushöhlung der Schulautonomie drohe.309 Schon wenige Tage nach Amtsantritt ließ K ¸ enin¸sˇ am 30. Dezember 1931 mit Wirkung zum 1. Januar 1932 das Schulinspektionsrecht der Minderheiten aufheben. Eine weitere Verordnung vom 9. Juni 1932 betraf die Überprüfungen der Lettisch-Kenntnisse der Lehrer.310 Da die Schulautonomie den Kern der Minderheitenrechte der Deutschen in Lettland ausmachte, verstanden die deutschen Parlamentarier das Vorgehen K ¸ enin¸ˇss als »Kulturkampf«311. Dieser wog so schwer, dass sich die deutsche Fraktion nun erstmalig dezidiert als Opposition begriff. Wie bereits genannt, scheiterte ein Misstrauensantrag gegen K ¸ enin¸ˇs am 21. Juni 1932 knapp mit 38 gegen 40 Stimmen.312 Dies hielt vor allem Fircks, Hahn, Schiemann und Schoeler 307 Schiemann, Tätigkeit, S. 21. Garleff, Politik, S. 91–94. Hiden, Defender, S. 90f. Wachtsmuth, Wege, S. 180f, 195–197. Topij, Mniejszos´c´, S. 214, datiert den Vorgang falsch ins Jahr 1922. 308 II. Saeima, VI. Session, 17. Sitzung (24. 05. 1927), S. 540–547. Gesetzestext auf Deutsch bei Lamey, Minderheiten, S. 47–49. Garleff, Politik, S. 94. Topij, Mniejszos´c´, S. 215, 236. Wachtsmuth, Wege, S. 196, 203, 211. Wittram, Geschichte, S. 224, 232. 309 Präsidialsitzung des A.P. (19. 11. 1931), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 10, Bl. 23. 310 Präsidialsitzung des A.P. (22. 01. 1932), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 11, Bl. 1. Hehn, Umsiedlung, S. 40. Topij, Mniejszos´c´, S. 218. Wachtsmuth, Gesicht, S. 285–297. Wittram, Geschichte, S. 230. 311 Wachtsmuth, Wege, S. 204, 215. 312 IV. Saeima, III. Session, 34. Sitzung (21. 06. 1932), S. 1427–1429.

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nicht davon ab, in einer konzertierten Aktion gemeinsam mit Wachtsmuth K ¸ enin¸ˇs zu bekämpfen. Der im Kern erfolgreiche Widerstand gegen K ¸ enin¸ˇss Politik 1931–1933 war der letzte Erfolg der deutschen Fraktion im Bereich des Schulwesens. Doch schon zum Jahresende 1933 drohte der Schulautonomie neue Gefahr, diesmal von ungewohnter Seite: Aufgrund des NS-Regimes und deren Einflüsse auf die Deutschbalten trat die LSDSP nun auch nicht mehr für die Rechte der Deutschen ein. Es blieb jedoch dem Ulmanis-Regime vorbehalten, die Schulautonomie aller Minderheiten am 17. Juli 1934 aufzuheben.313

2.4.3 Sprachenfrage und Kulturautonomie Von Anfang an war eine dreisprachige Republik Lettland mit Lettisch, Deutsch und Russisch als Amts- und Gerichtssprachen sowie die Einführung einer Kulturautonomie für die deutsche Bevölkerung Ziel deutschbaltischer Politik. In den später konkreter ausgearbeiteten Forderungen Schiemanns war Deutsch in Kurland, Livland, Riga und Semgallen sowie Russisch als Amtssprache in Lettgallen und Riga vorgesehen.314 Als erstes dieser Politikfelder beschäftigte sich der Volksrat am 6. Dezember 1918 mit der Gerichtssprache. Hierbei forderte der Vorsitzende der deutschen Fraktion, Wilhelm Schreiner (DbFP), die gleichberechtigte Zulassung des Deutschen und Russischen, während schon zu Beginn der Sitzung lettische Parlamentarier das Lettische »Staatssprache«315 genannt hatten. Ebendiese Staatssprache wurde noch am selben Tag vom Volksrat grundsätzlich als Gerichtssprache festgelegt, wobei zusätzlich Deutsch und Russisch zur Anwendung kommen konnten.316 Die aus der österreichischen Sozialdemokratie stammende Idee der Kulturautonomie, zu dessen weiterer theoretischer Fundierung und Verbreitung Schiemann einen Beitrag leistete, war für solche Staaten entwickelt worden, in denen Minderheiten nicht regional begrenzt siedelten, eine territoriale Autonomie somit ausschied. Alle Staatsbürger einer bestimmten Nationalität sollten in einem nationalen Kataster registriert werden und ihre kulturellen und schulischen Belange über eine eigene Körperschaft einschließlich einer reprä313 Schiemann, Jahresbericht 1933, S. 5. Schoeler, Jahresbericht 1934, S. 10f. Feldmanis, Entwicklung, S. 62. Garleff, Politik, S. 99f. Hehn, Lettland, S. 34f. Schlau, Sozialstruktur, S. 103. Sˇimkuva, Minderheitenpolitik, S. 74. Topij, Mniejszos´c´ S. 218–221. Wachtsmuth, Wege, S. 203–210, 240. 314 Rigasche Rundschau (26. 07. 1919/29. 07. 1919), in: Donath, Schiemann, S. 30, 36–39. Protokoll des erweiterten A.P. (05. 03. 1922), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 34. 315 Volksrat, I. Session, 5. Sitzung (06. 12. 1918), S. 58, 62. Zitat auf S. 58, Wortlaut im Original »walsts waloda«. 316 Volksrat, I. Session, 5. Sitzung (06. 12. 1918), S. 61–63. Wachtsmuth, Gesicht, S. 262.

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sentativen Versammlung der jeweiligen Nationalität regeln können.317 In einem ersten Anlauf versuchten die deutschen Parlamentarier 1918–1919 eine Kulturautonomie über den Ausschuss für Nationalitätenfragen des Volksrats einzubringen. Diesem Ausschuss stand ab August 1919 Paul Schiemann (DbDP) vor. Das Vorhaben verlief jedoch nicht erfolgreich, da die Abgeordneten lettischer Nationalität erhebliche Vorbehalte gegen eine Kulturautonomie hegten. Immerhin gelang es den Abgeordneten der Minderheiten im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Schulautonomie im Dezember 1919 zu erreichen, dass ebendiese Schulautonomie als Provisorium auf dem Weg zu einer Kulturautonomie angesehen werden sollte.318 Gleichzeitig wurden dennoch Deutsch und Russisch nach der Konsolidierung der Republik Lettland 1919 immer weiter aus den staatlichen Institutionen und dem öffentlichen Leben verdrängt. So verordnete die Regierung bereits 1919 die Dominanz des Lettischen auf Plakaten und Firmenschildern. Aufgrund einer weiteren Regierungsverordnung von 1920 wurden in Riga die dreisprachigen russisch-deutsch-lettischen durch einsprachig lettische Straßenschilder ersetzt. Im August 1920 verordnete Justizminister Ru¯dolfs Be¯nuss den Widerruf der Zulassung für alle Rechtsanwälte, die das Lettische bis zum Dezember 1920 nicht beherrschen würden. Die Parlamentarier der deutschen und der anderen Minderheiten erreichten in diesem Bereich allerdings mehrmalige Aufschübe. Schlussendlich endete in Lettland der Gebrauch des Deutschen und Russischen vor Gericht durch Anwälte am 1. September 1923. Privatpersonen durften vor Gericht weiter die deutsche oder russische Sprache gebrauchen.319 Aufgrund dieser Entwicklung erschien aus Perspektive der deutschbaltischen Politik ein zweiter Anlauf zu einer gesetzlichen Regelung dringend geboten, weshalb die deutsche Fraktion während der Konstituante 1921–1922 einen Doppelvorstoß für eine Kulturautonomie unternahm: Zunächst zielten die Bemühungen darauf ab, in den Verfassungsentwurf Artikel aufnehmen zu lassen, die die Ausarbeitung sowohl eines Sprachgesetzes mit dem Ziel des Schutzes der Minderheitensprachen als auch eines Kulturautonomiegesetzes festlegten. Dies gelang am 7. Februar 1922. Gleichzeitig begann die deutsche Fraktion 1921 die Erarbeitung eines konkreten Gesetzentwurfs, der am 25. März 1922 bei Parlaˇ akste eingereicht wurde. Parallel reichten die jüdischen und mentspräsident C zwei divergierende russische Abgeordnetengruppen ebenfalls eigene Entwürfe

317 Garleff, Politik, S. 104–106. Hiden, Dimension, S. 168–172. Ders., Verband, S. 299. Willoweit, Minderheitenrecht, S. 44. 318 Volksrat, I. Session, 5. Sitzung (06. 12. 1918), S. 67f. Garleff, Politik, S. 114. 319 Protokoll des erweiterten A.P. (13. 01. 1922), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 7. Ascher, Gerichtssprache, S. 81. Schiemann, Tätigkeit, S. 22. Wachtsmuth, Gesicht, S. 258–264.

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ein, die – mit Ausnahme eines der konkurrierenden russischen Entwürfe – von jeweils allen Minderheitenabgeordneten unterschrieben worden waren.320 Nachdem die Konstituante am 15. Februar 1922 den ersten Teil der Verfassung Lettlands über die Ausgestaltung des politischen Systems mit den Stimmen aller Minderheitenabgeordneten angenommen hatte,321 wurde der zweite Teil der Verfassung, in der sich die beiden Artikel über Sprachen- und Kulturautonomie befanden, durch die Konstituante am 5. April 1922 gegen die Stimmen der Minderheitenparlamentarier abgelehnt.322 Somit war die Konstituante Lettlands eine der ganz wenigen verfassungsgebenden Versammlungen Ostmittel- und Südosteuropas, die ihre Arbeit nicht vollendete. Die Verfassung, die nun ausschließlich aus dem ersten Teil vom 15. Februar 1922 bestand, wies somit weder einen Grundrechtekatalog noch einen Schutz der Minderheiten auf. Somit stand die deutsche Fraktion nach dieser nur partiellen Verfassungsgebung in Sachen Kulturautonomie und Sprachengesetz vor einem Scherbenhaufen. Eine der Folgen war, dass der eingereichte Antrag auf ein Kulturautonomiegesetz ohne verfassungsmäßige Grundlage keine Aussicht auf Erfolg mehr hatte.323 Deshalb gingen staatliche Maßnahmen gegen die deutsche und russische Sprache weiter. 1921 begann die Libauer Stadtverwaltung, amtliche Formulare nur noch auf Lettisch zu drucken. Im selben Jahr wurden bei den Bediensteten der Stadt Riga und bis 1923 auch bei den Staatsbediensteten Sprachprüfungen angeordnet, in denen Angehörige der Minderheiten Kenntnisse des Lettischen nachzuweisen hatten. Aufgrund von vielfältigen Bemühungen der deutschen Fraktion konnte allerdings erreicht werden, dass Befürchtungen, die sprachliche Lettisierung der Verwaltung könnte sich zu einer ethnischen Lettisierung ausweiten, nicht bewahrheiteten: Von den etwa 800 deutschen Rigaer Kommunalbediensteten wurden etwa 10 % aufgrund des nicht bestandenen Sprachtests entlassen. Der Test an sich wurde vom A.P. als einfach eingestuft.324 320 Entwurf eines Gesetzes über die national-kulturelle Selbstverwaltung der deutschen Volksgemeinschaft und den Gebrauch der deutschen Sprache in Lettland (März 1922), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 48–52. Garleff, Politik, S. 114–116. 321 Konstituante, V. Session, 14. Sitzung (15. 02. 1922), S. 469. Libausche Zeitung (16. 02. 1922), S. 1. 322 Rigasche Rundschau (06. 04. 1922), S. 1. Garleff, Politik, S. 116. Ders., Autonomiemodelle, S. 151. Hiden, Defender, S. 83f. 323 Garleff, Politik, S. 116, und Topij, Mniejszos´c´, S. 124, sehen einen Teilerfolg der deutschen Fraktion durch die Annahme des Teils des deutschen Kulturautonomiegesetzes bezüglich der Sprachgesetzgebung. Dabei handelte es sich allerdings nur um eine Annahme im entsprechenden Ausschuss, die keinerlei Gesetzeskraft erlangte, vgl. Keller, Parlamentsfraktion, S. 164. 324 Protokoll der Sitzung des A.P. (12. 09. 1921), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 6, Bl. 126. Protokoll der Präsidialsitzung des A.P. (09. 01. 1922), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 6. Wachtsmuth, Gesicht, S. 266–271.

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In der I. Saeima nahm die deutsche Fraktion den dritten Anlauf in Sachen Kulturautonomie: Am 15. Dezember 1923 beantragte sie diese erneut, diesmal war eine genaue Regelung des Schulwesens in den Entwurf integriert worden. Trotz der Tatsache, dass die deutsche Fraktion den Gesetzentwurf als Verhandlungsgegenstand bei der Bildung der Regierung Celmin¸sˇ einbrachte und der Antrag – wie seine Partneranträge der jüdischen, polnischen und russischen Abgeordneten – Zuspruch bei einigen lettischen Abgeordneten fand, führten Angriffe von Seiten der lettischen Rechten zu einem Rückzug des deutschen Antrags durch Schiemann Ende April 1925, also nur wenige Wochen, nachdem am 5. Februar 1925 der estnische Riigikogu die Kulturautonomie für Estland verabschiedet hatte. Trotz manch späterer innerlettischer und auch der europäischen Diskussion blieb es dabei.325 Die deutschen Fraktionsmitglieder hatten 1918–1925 lange als Vorzug eines allgemeinen Sprachengesetzes gesehen, nicht jede Verordnung der Staatsorgane auf eine mögliche Einschränkung für die deutsche und russische Sprache überprüfen zu müssen. Nach dem Scheitern des dritten Anlaufs zu einem Kulturautonomiegesetz 1925 institutionalisierte sich nun allerdings das in der Praxis seit 1918 nie anders gehandhabte Gewohnheitsrecht, dass Deutsch und Russisch faktisch Amtssprachen Lettlands im Verkehr mit der deutsch- und russischsprachigen Bevölkerung waren.326 1925 begannen beim Bildungsministerium Beratungen über eine einheitliche Schreibweise der Vor- und Familiennamen. Zwar gelang es den beteiligten deutschen Abgeordneten Keller, Knopp und Fircks auch hier nicht, die Deutschen Lettlands vor einem Eingriff zu bewahren, da das am 15. Februar 1927 angenommene Gesetz für alle Staatsangehörige die lettisierte Schreibweise in Lateinschrift vorschrieb. Die deutschen Parlamentarier – allen voran Fircks – hatten aber erreicht, dass es den Bürgern offenstand, in öffentlichen Dokumenten in Klammern eine nicht-lettische Schreibweise beifügen zu lassen und in dieser auch unterschreiben zu dürfen.327 Das Gesetz von 1927 schlug sich übrigens nicht in den Stenogrammen des Parlaments nieder. Während des Volksrats und der Konstituante 1918–1922 325 Präsidialsitzung des A.P. (31. 03. 1925/20. 11. 1925), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 8, Bl. 16, 24. Fircks, Jahresrückblick 1926, S. 21f. Bogojavlenska, Parlamentarier, S. 86f. Garleff, Politik, S. 111, 117–120. Hiden, Verband, S. 300f. Topij, Mniejszos´c´, S. 201–205. Kotowski, Staatsräson, S. 186, nennt für die Einführung der Kulturautonomie in Estland falsch das Jahr 1920. Wertheimer, Parteien 1930, S. 67, nannte noch in seinem 1930 erschienen Werk die politische Verfasstheit der deutschen Minderheit in Lettland vorläufig und zwar bis zur »Schaffung eines [deutschen, B.C.] Nationalrats.« 326 Wachtsmuth, Gesicht, S. 265f, 279. 327 Präsidialsitzung des A.P. (31. 01. 1927), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 9, Bl. 1. II. Saeima, V. Session, 6. Sitzung (04. 02. 1927), S. 199, 206, 208, 210f; 7. Sitzung (15. 02. 1927), S. 266. Henning, Volksgruppe, S. 50. Wachtsmuth, Gesicht, S. 275f.

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wurden diese aufgrund eines Beschlusses des Volksrats in Frakturschrift gesetzt,328 wobei die deutschen Abgeordneten lettisiert als P. Schimans, Barons E. Rosenbergs oder H. fon Brümmers geführt wurden. Mit Aufhebung des Adelsstands 1920 entfielen die Adelstitel. Ab der I. Saeima 1922 wurden die Protokolle entsprechend der lettischen Rechtschreibreform und in Lateinschrift angefertigt, so waren Fircks und Schiemann fortan Vilhelms Firkss und Pauls Sˇ¯ımanis. John Karl Hahn wurde 1922–1927 als Jons Ha¯ns, 1927–1934 dagegen als Dzˇons Ha¯ns geführt. In den amtlichen Wahlergebnissen wurden die deutschen Kandidaten noch 1925 als einzige Nationalität von der Lettisierung ausgenommen.329 Die Situation der fehlenden Regelung der Amtssprachen Lettlands endete in der Zeit des zunehmenden Nationalismus am 18. Februar 1932 mit dem per Notverordnung durch Ministerpräsident Marg‘ ers Skujenieks (PA) eingeführten – restriktiven – Sprachengesetz. Deutsch und Russisch waren fortan neben Lettisch nur noch dort zweite Amtssprachen, in denen der Anteil der jeweiligen Nationalität auf Basis der Volkszählung von 1930 50 % überstieg. Damit wurde das Deutsche außerhalb der Gemeinde Hirschenhof überall abgeschafft. Gegen dieses Gesetz erhob Schiemann stellvertretend für alle Minderheitenparlamentarier vor der Saeima am 23. Februar 1932 schärfsten Protest und betonte das gemeinsame Recht auf die Heimat. Es wurde dennoch in derselben Sitzung mit 49 zu 42 Stimmen angenommen.330 Zwar gelang es Schiemann im Nachgang am 1. März 1932, das Gesetz zur Umarbeitung – versehen mit einem eineinhalbmonatigen Moratorium – in den öffentlich-rechtlichen Ausschuss zu überweisen. Dort wurde sein sofortiges, unverändertes Inkrafttreten allerdings am 4. März, wenn auch denkbar knapp, mit sieben gegen sechs Stimmen beschlossen.331 1935 schaffte das Ulmanis-Regime Deutsch als Amtssprache auch in Hirschenhof ab. Dasselbe Schicksal traf andernorts auch das Russische.

2.4.4 Agrarfrage Das Agrarwesen, in dem 1925 noch 18 % der berufstätigen Deutschbalten – meist in gehobenen Positionen – tätig waren,332 gehörte zu den wichtigsten Politikfeldern der deutschen Parlamentsfraktion. Schon mit dem Gesetz zur Einführung des Lat vom 18. März 1920 zeigte sich deutlich die Konkurrenz des gesamtstaatlich-lettländischen mit dem partikularistisch-deutschbaltischen Gedanken: In diesem Gesetz wurden gegenüber Grundbesitzern gemachte 328 329 330 331 332

Volksrat, I. Session, 5. Sitzung (06. 12. 1918), S. 66. Skujenieks, Ve¯le¯ˇsanas 1925. gada¯, S. 148. IV. Saeima, II. Session, 2. Sitzung (23. 02. 1932), S. 70–85. Wachtsmuth, Gesicht, S. 280–282. IV. Saeima, II. Session, 3. Sitzung (01. 03. 1932), S. 127–131. Wachtsmuth, Gesicht, S. 283f. Topij, Mniejszos´c´, S. 71.

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Schulden bis auf einen kleinen Teil erlassen. Dies führte im Volksrat zur Ablehnung des Gesetzes durch die deutschen Fraktionen, obwohl es, wie genannt, unter Finanzminister Robert Erhardt (DbDP) ausgearbeitet worden war.333 In den mit Zusammentritt der Konstituante beginnenden Beratungen eines Landreformgesetzes nahm die deutsche Fraktion, vertreten durch Fircks, Kluge und Schiemann im Agrarausschuss, intensiv teil. Mit Rückendeckung der Minderheitenfraktion brachte Fircks im Mai und Juni 1920 einen eigenen Entwurf ein. Dieser wurde allerdings von nahezu allen lettischen Fraktionen zurückgewiesen. Sowohl für den LZS als auch die lettische Linke war ein Eingehen auf die Vorschläge Fircks’ aus prinzipiellen Erwägungen heraus nicht möglich. Noch während der Beratungen über die Landreform erfolgte durch die Konstituante am 29. Juni 1920 die Aufhebung des Adelsstandes und der Ritterschaften sowie die Sozialisierung des Eigentums der Ritterschaften.334 Parlamentarisch bemühten sich Schiemann und vor allem Fircks – der sich allein neunmal vor dem Plenum zu Wort meldete –, nachdem die Geschlossenheit der Minderheitenfraktion erreicht worden war, um Tuchfühlung mit dem LZS, um die als besonders negativ empfundene Agrarpläne der lettischen Linken abzuwenden.335 Schlussendlich nahm die Konstituante am 16. September 1920 mit Unterstützung der deutschen Fraktion mit Ausnahme Fircks’ das Agrarreformgesetz nach dem Entwurf des LZS an. Durch die darin vorgesehenen Enteignungen verloren die deutschbaltischen Großgrundbesitzer etwa 97 % ihres Eigentums. Eine Entschädigung war vorgesehen, deren genaue Regelung durch ein später zu verabschiedendes Gesetz erfolgen sollte.336 Die Unterstützung der deutschen Fraktion für die LZS-Landreform sorgte für viele Irritationen. Sie lag pragmatisch darin begründet, dass der Konstituante ein noch radikaleres Projekt der LSDSP-Fraktion vorlag. Mit der Unterstützung der Landreform, die durch den LZS initiiert worden war, konnte einer völligen Enteignung vorgebeugt und die Entschädigungsregelung erreicht werden. Weil der konservative Teil der Deutschbalten – der das Gros der deutschen Landbesitzer darstellte – diese Reform dennoch nachvollziehbarerweise auf das schärfste ablehnte, wurde gerade diese Gruppe für antilettische, aber auch antidemokratische Argumente leicht empfänglich.337 333 Volksrat, VIII. Session, 5. Sitzung (18. 03. 1920), S. 911. Libausche Zeitung (20. 03. 1920), S. 1. Dribins, Deutschbalten, S. 294. Wachtsmuth, Gesicht, S. 69, 159. 334 Topij, Mniejszos´c´, S. 148–153. Wachtsmuth, Gesicht, S. 216, 303–307. Wittram, Geschichte, S. 216. 335 Konstituante, I. Session, 23. Sitzung (25. 08. 1920), S. 586–589, 612–616; 30. Sitzung (07. 09. 1920), S. 826f; 31. Sitzung (08. 09. 1920), S. 850f, 861; 32. Sitzung (09. 09. 1920), S. 866, 870, 872, 879f. 336 Konstituante, I. Session, 36. Sitzung (16. 09. 1920), S. 1058. Scupin, Wirtschaftsgesetze, S. 9. Topij, Mniejszos´c´, S. 154–156. Wachtsmuth, Gesicht, S. 216, 297. 337 Hehn, Umsiedlung, S. 4. Taube, Deutschbalten, S. 65f. Wachtsmuth, Gesicht, S. 300.

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Auch die weitere Beteiligung der deutschen Parlamentarier in der Agrarfrage wurde durch die lettische Mehrheit im Parlament erschwert. Zwar war Fircks beständig Mitglied des Agrarausschusses. In dem während der I. Saeima gesondert eingerichteten Zentralen Landeinrichtungsausschuss, der für die Umsetzung der Landreform zuständig war, wurde jedoch der von den Minderheiten vorgesehene Manfred v. Vegesack am 9. Januar 1923 sehr deutlich nicht gewählt. Da dem Ausschuss fünf Mitglieder angehören sollten und es in diesen Fällen nach der bisherigen Praxis den Minderheitenfraktionen zusammen zustand, ein Mitglied zu benennen, stellte die Entscheidung der Saeima gegen Vegesack einen Affront dar, den Schiemann direkt nach der Wahl scharf kritisierte.338 1920–1924 erfolgte trotz lebhafter Diskussionen keine Regelung der Entschädigungsfrage. Als diese am 3. April 1924 in zweiter und am 14. April 1924 in dritter Lesung schlussendlich erfolgte, riss sie neuerlich Gräben auf: Der LSDSP gelang es, in der Saeima mit einer Verspätung von vier Jahren doch noch ihr Politikziel einer entschädigungslosen Enteignung durchzusetzen. Im Vorfeld beider Abstimmungen hatte die deutsche Fraktion nach einer ausgesprochen kritischen Rede Schiemanns den Plenarsaal bereits unter Protest verlassen – ein für die pragmatisch arbeitenden Deutschen eher ungewöhnliche Maßnahme. Eine Eingabe des ehemaligen deutschen Großgrundbesitzes an den Völkerbund, verantwortet von Fircks und Vegesack, den vormals adligen Abgeordneten der Jahre 1922–1925, hatte 1926 keinen Erfolg. Das zuständige Komitee des Völkerbunds mochte in den Enteignungen ausschließlich eine politische, nicht aber eine gegen die deutsche Nationalität in Lettland gerichtete Maßnahme erkennen.339 Kleinere Erfolge der deutschen Fraktion, wie im Bereich der Flurbereinigung, bei der Fircks sogar als Gesetzesreferent auftrat,340 konnten das vergiftete Klima nur in sehr geringem Ausmaß beruhigen. Mit der Verabschiedung des Landeswehrgesetzes am 22. November 1929, von Schiemann ein »Ausnahmegesetz […] [mit] offen minderheitenfeindlicher Tendenz«341 bezeichnet, brachen die Konflikte wieder auf. Durch dieses Gesetz wurden die deutschen Lettlandkämpfer von der bevorzugten Landverteilung ausgeschlossen, weil ihr primäres Kampfziel nicht die Erhaltung der Republik Lettland gewesen wäre. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 1.200 Deutsche in den Genuss der bevorzugten Land338 I. Saeima, I. Session, 9. Sitzung (09. 01. 1923), S. 120. 339 I. Saeima, IV. Session, 21. Sitzung (03. 04. 1924), S. 763, 768; 26. Sitzung (14. 04. 1924), S. 961. Bericht v. Fircks’ an den A.P. (09. 04. 1924), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, BL. 323. Schiemann, Jahresrückblick 1925, S. 16f. Topij, Mniejszos´c´, S. 159–161. Wachtsmuth, Gesicht, S. 342– 349. 340 II. Saeima, III. Session, 14. Sitzung (14. 05. 1926), S. 515f, 729–731. Wachtsmuth, Gesicht, S. 345. 341 Rigasche Rundschau (23. 11. 1929), S. 1.

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zuteilung gekommen. Trotz der Tatsache, dass die deutsche Fraktion zu diesem Zeitpunkt Regierungsfraktion und Berent Justizminister war, und sie von zahlreichen Abgeordneten aller anderen Minderheiten unterstützt wurde, konnte die Verabschiedung dieses Gesetzes nicht verhindert werden, was den bereits angesprochenen Rückzug aus der Koalition zur Folge hatte.342

2.4.5 Kirchliche Angelegenheiten Obwohl die lettische Bevölkerung überwiegend und die Deutschen Lettlands mit 95–97 % fast ausschließlich protestantischer Konfession waren, ergaben sich auch zweimal auf dem Feld der kirchlichen Angelegenheiten Streitfelder, die für die deutschen Parlamentarier von Bedeutung waren. 1921 lancierte die lettische Regierung das Projekt eines Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Lettland. Dabei sollte die direkt neben dem Parlamentsgebäude gelegene deutsche evangelische Petrikirche und das russisch-orthodoxe AleksejKloster dem zu gründenden Bistum in Riga übergeben werden – ein Ansinnen, das eine schwere Krise zwischen den Parlamentariern der deutschen und russischen Minderheit einerseits wie auch zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche Lettlands und der Regierungskoalition andererseits auslöste. Am 16. Juni 1921 wurde das Konkordat mit den entsprechenden Bestimmungen unterzeichnet.343 In den nun folgenden Beratungen des Rechtsausschusses der Konstituante über eine Ratifizierung, in denen es erweitert auch um Nutzungsrechte des lettischen evangelischen Bischofs im bisher ausschließlich den deutschen Protestanten unterstehenden Rigaer Dom ging, bemühte sich die deutsche Fraktion mit viel Einsatz um einen Erhalt der Jakobikirche und des Doms für die Protestanten insgesamt und für die Deutschen insbesondere. Es konnte – trotz der Ratifizierung des Konkordats am 19. Juli 1922 durch die Konstituante – zwar eine Vertagung erreicht werden, doch wurde das Gesetzesvorhaben einschließlich der Domfrage 1923 erneut in die Saeima eingebracht. In der Sitzung am 23. März 1923, die sich fast ausschließlich der Kirchenfrage widmete, wiesen Karl Keller, Wilhelm v. Fircks und Paul Schiemann auf den eminent nationalen Charakter des Vorgangs hin, der die konfessionelle Ebene längst verlassen hatte. Die Saeima verabschiedete das Gesetz noch in derselben Sitzung.344 342 Präsidialsitzung des A.P. (05. 03. 1929/16. 10. 1929/20. 10. 1929), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 36, Bl. 44, 47f. III. Saeima, IV. Session, 11. Sitzung (22. 11. 1929), S. 529–531. Rigasche Rundschau (23. 11. 1929), S. 1. Ceru¯zis, Minderheit, S. 73. Wachtsmuth, Gesicht, S. 345. 343 Garleff, Politik, S. 130–133. Topij, Mniejszos´c´, S. 255. 344 I. Saeima, I. Session, 23. Sitzung (23. 03. 1923), S. 623–625, 635f, 639. Wittram, Kirche, S. 98f.

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Aufgrund eines Formfehlers – die obligatorische Ausschussberatung vor der ˇ akste Verabschiedung im Plenum hatte gefehlt – verweigerte Staatspräsident C (DC) am 5. April 1923 die Ausfertigung des Gesetzes und verwies es an die Saeima zurück. Deshalb wurde es am 20. April 1923 nochmals ausführlich beraten, was den Konflikt weiter anheizte: Fircks und Schiemann standen für die deutsche Position nochmals energisch ein, wobei Schiemann für seine scharfe Wortwahl einen Ordnungsruf durch den Präsidenten der Saeima, Frı¯drihs Vesmanis (LSDSP), erhielt.345 Als Aleksandr Bocˇagov die vorangegangene Verständigung der meisten lettischen Fraktionen über das Gesetz als »dunkle Machenschaften«346 einstufte, entzog ihm Vesmanis das Wort, wobei nachfolgend P[tr Koreckij die Ausführungen Bocˇagovs in gemäßigtem Ton weiterführte. Das Gesetz wurde noch am 20. April 1923 erneut angenommen. Bereits zwei Tage später begannen deutsche Komitees mit der Sammlung von Unterschriften für ein Volksbegehren mit dem Ziel einer Einfrierung der konfessionellen Zugehörigkeit von Kirchen auf dem Stand von 1914. 143.577 Personen unterschrieben die Initiative, wodurch eine Mobilisierung weit über die deutsche Bevölkerungsgruppe hinaus erreicht werden konnte. Erwartungsgemäß lehnte die Saeima trotz der Fürsprachen von Vegesack und Fircks sowie von anderen Minderheitenparlamentariern und einigen lettischen Abgeordneten am 10. Juli das Volksbegehren ab.347 In dem aufgrund dieser Ablehnung notwendig gewordenen Volksentscheid – dem ersten in der Geschichte Lettlands – konnten die Unterstützer des Kirchenschutzgesetzes am 1./2. September 1923 200.040 Ja- gegen 5.500 NeinStimmen gewinnen. Dies stellte zwar einen Achtungserfolg dar, allerdings wäre für die Gültigkeit die Teilnahme der Hälfte aller Wähler, mitunter also 481.629 Personen, erforderlich gewesen. Damit gab die deutsche Fraktion die Jakobikirche endgültig verloren, zumal die Kirche selbst bereits am 10. Juni 1923 durch die Polizei in Besitz genommen worden war.348 Nach 1923 gab es über viele Jahre hinweg ein gedeihliches Leben der Protestanten in Lettland. Hierfür setzten sich die beiden Bischöfe, der Lette Ka¯rlis Irbe, der 1920–1925 auch Abgeordneter für die Splitterpartei »Christlich-Nationale Union« (Kristı¯ga¯ nacionala¯ savienı¯ba) war, und der Deutsche Peter 345 I. Saeima, II. Session, 4. Sitzung (20. 04. 1923), S. 114f, 130–134, 146. Garleff, Politik, S. 135. 346 I. Saeima, II. Session, 4. Sitzung (20. 04. 1923), S. 144. Wortlaut des Zitats im Original. »[…] tumsˇais darbs…« 347 I. Saeima, II. Session, 4. Sitzung (20. 04. 1923), S. 152; 29. Sitzung (06. 07. 1923), S. 856; 31. Sitzung (10. 07. 1923), S. 907–909, 950–952. Stegman, Erinnerungen, S. 160, datiert das Gesetz falsch auf den 20. April 1924. 348 Zahlenangaben nach Schiemann, Tätigkeit, S. 20. Ebenso bei Garleff, Politik, S. 137. Wittram, Geschichte, S. 218. Geringfügig abweichende Zahlen in der Rigaschen Rundschau (13. 09. 1923), S. 1. Vgl. auch Garleff, Politik, S. 137f. Poelchau, Evangelisch-lutherische Kirche, S. 158. Wittram, Kirche, S. 99.

Politikfelder

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Harald Poelchau, nachhaltig ein. Erst 1931 gab es eine erneute schwere Auseinandersetzung, die sich, wie schon bei der Jakobikirche, nicht aus kirchlichen, sondern aus politischen Gründen entfaltete: 1930 verlangte die Garnisonsgemeinde, die überwiegend aus lettischen Offizieren bestand, eine Mitverwaltung am Dom. Nachdem Gespräche der deutschen, lettischen und Garnisonsgemeinde 1930/1931 keine Ergebnisse gezeitigt hatten, verlangte Letztere am 8. Januar 1931 die Übereignung der Domkirche.349 Stellvertretend für die Garnisonsgemeinde brachten der frühere Ministerpräsident Marg‘ ers Skujenieks (PA) und Ja¯nis Breiksˇs (DC) am 20. Februar 1931 einen entsprechenden Gesetzesantrag ein. Mit ihrer Bitte um Ablehnung des Antrags stand die deutsche Fraktion fast völlig allein da: Mit 46 gegen neun Stimmen verwies die Saeima nach einem Rededuell Fircks’ mit Breiksˇs den Antrag in den öffentlich-rechtlichen Ausschuss. Gemeinsam mit der deutschen Fraktion hatten – bei Abwesenheit Schiemanns – nur vier andere Parlamentarier der Minderheiten gestimmt.350 Diese Tatsache löste den bereits angesprochenen endgültigen Rückzug der deutschen Fraktion aus der Regierung Celmin¸sˇ aus, in dessen Folge dieser am 3. März 1931 zurücktreten musste. Zuvor hatte die deutsche Fraktion einen ersten Teilerfolg errungen: Ein von Woldemar Pussull (DbVP) am 27. Februar 1931 eingereichter und begründeter Antrag auf Überprüfung des Gesetzesantrags Skujenieks’ und Breiksˇs’ durch den öffentlich-rechtlichen Ausschuss binnen zwei Wochen wurde mit 40 gegen 22 Stimmen angenommen.351 Dort gelang es Pussull eine Mehrheit von einer Ablehnung des Gesetzentwurfs zu überzeugen, da die Autonomie der evangelisch-lutherischen Kirche 1928 gesetzlich geregelt worden war. Bei der SaeimaSitzung am 23. März 1931 trat Pussull als Gesetzesreferent des öffentlichrechtlichen Ausschusses auf, der eine Ablehnung befürwortete. Dem schloss sich die Saeima mit 28 gegen 18 Stimmen bei 32 Enthaltungen an.352 Gleichzeitig vereinigten sich die deutsche und die lettische Domgemeinde am 30. und 31. März 1931, was eine Konzession der deutschen an die lettische Domgemeinde war. Dennoch beruhigte sich mit der Abstimmungsniederlage vom 23. März und der Vereinigung der Domgemeinden die Lage nicht: Die Befürworter einer Übereignung des Domes an die Garnisonsgemeinde um Skujenieks und Breiksˇs hatten bereits am 26. März mit dem Sammeln von Unterschriften für ein Volksbegehren begonnen, das erfolgreich zu Ende gebracht

349 350 351 352

Ceru¯zis, Faktors, S. 108. Garleff, Politik, S. 138. Wittram, Kirche, S. 95. III. Saeima, VIII. Session, 10. Sitzung (20. 02. 1931), S. 393–396. Garleff, Politik, S. 141. III. Saeima, VIII. Session, 11. Sitzung (27. 02. 1931), S. 421. Garleff, Politik, S. 142. III. Saeima, VIII. Session, 18. Sitzung (23. 03. 1931), S. 666–696. Topij, Mniejszos´c´, S. 258. Laut Garleff, Politik, S. 145, stimmten alle Russen mit Ausnahme des abwesenden Sˇpoljanskij gegen den Antrag Breiksˇs’. Allerdings war auch Ersˇov abwesend.

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Lettland

werden konnte, was eine Wiedervorlage des Gesetzentwurfs vor die Saeima am 30. Juni 1931 bedeutete.353 Am 22. Juli 1931 lehnte die Saeima auch dank des unermüdlichen Einsatzes der deutschen Abgeordneten sowohl den Gesetzentwurf Skujenieks’ und Breiksˇs’ mit 41 gegen 24 Stimmen bei 17 Enthaltungen als auch einen am 10. Juli eingereichten, etwas gemäßigteren, aber von Pussull in Teilen als verfassungswidrig eingestuften Gesetzantrag der Christlich-Nationalen Vereinigung mit 40 gegen 32 Stimmen bei sechs Enthaltungen ab. Bei der Auszählung der Stimmen über den ersten Gesetzentwurf kam es zu der bereits angesprochenen, von Breiksˇs als Parlamentssekretär zu verantwortenden fehlerhaften Zählung. Diese hätte, so sie Hahn als I. Gehilfe des Parlamentssekretärs nicht erkannt hätte, zu einer Annahme des Gesetzentwurfs geführt.354 Der nun nach der Ablehnung des Gesetzesentwurfes Skujenieks’ und Breiksˇs’ aufgrund des erfolgreichen Volksbegehrens erforderliche Volksentscheid wurde durch Staatspräsident Alberts Kviesis (LZS) auf den 5. und 6. September 1931 terminiert. Die deutsche Fraktion empfahl den Wählern die Abstinenz, um das Plebiszit an mangelnder Beteiligung scheitern zu lassen. Dies gelang: Mit 388.981 gingen weit weniger als die für eine Gültigkeit erforderlichen 608.957 Wähler zur Abstimmung.355 Einen Profit schlug die deutsche Fraktion nicht aus diesem Erfolg: Per Notverordnung wurde am 29. September 1931 durch Ulmanis eine den Besitz des Doms nicht tangierende Änderung der Verwaltung des Doms erlassen, die einen Domkirchenrat mit lettischer Mehrheit vorsah.356 Gegen zwei Anträge Schiemanns überwies die IV. Saeima am 17. November 1931 mit ihrer breiten bürgerlichen Mehrheit und den Sozialisten mit 71 und 68 gegen zweimal 15 Stimmen der Parlamentarier der Minderheiten die Notverordnung nach einer emotionalen, von zahlreichen Beschuldigungen geprägten Debatte in den öffentlich-rechtlichen Ausschuss. Dass Irbe am 10. November 1931 aufgrund der beständigen politischen Eingriffe von seinem Amt als Bischof der lettischen evangelischen Kirche zurückgetreten war, spielte in der Parlamentsdebatte kaum eine Rolle – wodurch noch einmal der eminent politischnationale, nichtkirchliche Charakter der Auseinandersetzung deutlich wurde.357 Nach dieser erneuten Niederlage gab die deutsche Fraktion die Auseinander353 III. Saeima, IX. Session, 34. Sitzung (30. 06. 1931), S. 1222f. Garleff, Politik, S. 146f. 354 III. Saeima, IX. Session, 48. Sitzung (22./23. 07. 1931), S. 1797–1835. Libausche Zeitung (24. 07. 1931), S. 1. Garleff, Politik, S. 149f, der allerdings die Ablehnung des Antrags der Christlich-Nationalen Vereinigung mit 40 gegen 38 Stimmen verkürzt wiedergibt. 355 Zahlenangaben nach Rigasche Rundschau (24. 09. 1931), S. 5. Pabriks, Valtenbergs, Latvia, S. 1135, nennt 390.883 Wähler. 356 Garleff, Politik, S. 150–152. 357 IV. Saeima, I. Session, 4. Sitzung (17. 11. 1931), S. 87–94. Fircks, Jahresüberblick 1932, S. 5. Garleff, Politik, S. 152–154, der allerdings das Datum falsch wiedergibt und ein falsches Abstimmungsergebnis aus der Rigaschen Rundschau (19. 11. 1931), S. 7, übernimmt.

Zusammenfassung

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setzung um die Domkirche endgültig verloren, da sich nach der Regierungsbildung durch Skujenieks im Dezember 1931 die bereits angesprochene Auseinandersetzung auf dem Gebiet des Schulwesens anbahnte.

2.5

Zusammenfassung

Die in Lettland eng miteinander verknüpfte Frage der Loyalitäten und der Identitäten gliedert sich parlamentarisch in fünf Phasen: Zunächst in die sehr kurze Phase in der Zeit des Befreiungskriegs 1918–1919, danach in die Zeit von 1919–1923, in der es vor allem um die Bewahrung von Rechten in zahlreichen Bereichen ging und in der die deutschen Parlamentarier überwiegend defensiv agierten. Es folgte eine sechsjährige Phase des deutschen Aktivismus bei relativer politischer Stabilität 1923–1929. Die vierte Phase von 1929–1933 markiert den Beginn des neuerlichen deutschbaltisch-lettischen Auseinanderlebens und war wiederum vom defensiven Aktivismus gegen einen möglichen Rechteabbau gekennzeichnet. 1933–1934 wurde diese eigentlich fortbestehende Situation von den schweren inneren Auseinandersetzungen innerhalb der Deutschbalten Lettlands überlagert. Am kürzesten, nämlich parlamentarisch nur fünf Sitzungen, währte die erste Phase 1918–1919. Aufgrund des frühzeitigen Bekenntnisses der DbFP und des Jungbaltenbundes zur Republik Lettland nahmen diese beiden Gruppen bis auf einen alle Sitze im Volksrat ein und nannten sich dem Staat gegenüber loyal. Sie begannen dabei unverzüglich mit der Einbringung von Interessen der deutschen Bevölkerung. Nach dem endgültigen Zusammenbruch gesamtbaltischer Pläne im Juni 1919 begann parlamentarisch die Zeit einer wachsenden, bis 1920 abgeschlossenen Integration nahezu aller relevanten deutschen politischen Strömungen in Lettland in den Parlamentarismus. Schon 1918–1919 bildete sich dabei die vielfach zu beobachtende Situation heraus, dass die deutschen Parlamentarier die Speerspitze aller Abgeordneten der Minderheiten darstellten. Dies währte bis zu Beginn der 1930er Jahre. Als primus inter pares besetzten sie vorranging den für die Minderheiten ausgehandelten Posten im Parlamentspräsidium, hatten fast immer die meisten und anteilig meisten Wortmeldungen und reichten die Anträge für die Schul- und Kulturautonomie – die die anderen Minderheitenparlamentarier als Vorlage benutzten – ein. Dazu beteiligten sie sich am meisten mit Personal an den Regierungen. Nach Wachtsmuth leitete sich dieses Tragen des »Abwehrkampfes« gegen die Letten von der Bodenständigkeit der Deutschen und der jahrhundertelangen deutschbaltischen Tradition ab. Nicht etwa Loyalität gegenüber

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Lettland

der Republik Lettland, sondern Loyalität gegenüber der Heimat seien ausschlaggebend gewesen.358 Diese Einschätzung reflektiert allerdings nicht die unterschiedlichen Zeitabschnitte und politischen Strömungen. Bei linksbürgerlichen Deutschbalten wie Schiemann ist bis in die 1930er Jahre von einer intrinsischen Loyalität auszugehen, die zwar naturgemäß kein lettischer Patriotismus sein konnte, aber doch eine erhebliche Identifikation mit der neuen Republik Lettland bedeutete. Schiemann war dabei bewusst, dass gerade die Deutschen erhebliche Einbußen beim Besitzstand und Einfluss hinnehmen mussten, sollten sie einen angemessenen Platz in der neuen Republik beanspruchen wollen. Deshalb waren die Anfangsjahre 1919–1923, in denen Schiemann schon wichtigster Politiker der Deutschen Lettlands war, für die Deutschbalten ausgesprochen schwierige Jahre. Einen erheblichen Beitrag dazu, dass Teile der politisch interessierten Deutschbalten nicht zu einer Fundamentalopposition wurden – entsprechende öffentliche Forderungen gab es mindestens bis 1921 –, leistete der konservative Baron Fircks als stellvertretender Fraktionsvorsitzender. 1923 fand die zweite Phase ihren Abschluss. In ihr hatte sich die deutsche Fraktion sowohl mit den Ergebnissen der Wahlen an sich als auch mit konkreter Politik, wie dem Gesetz zur Einführung des Lat, der Agrarreform, der Festlegung des nationalen Feiertags, der Verfassungsgebung und zum Schluss mit der Wegnahme der Jakobikirche, schmerzhaft an ihre neue Situation als Vertreter einer nationalen Minderheit anzupassen. Allerdings konnten auch nicht zu verachtende Erfolge, wie die Schulautonomie oder das Amnestiegesetz erreicht werden. 1923–1929 beruhigte und normalisierte sich das Verhältnis der deutschen Minderheiten zum lettischen Staat. In diesen Jahren erreichte die politische Integration der deutschen Parlamentarier auch ihren Höhepunkt. Die deutsche Fraktion war oft an der Regierung beteiligt, stellte 1928–1929 den Justizminister, während Schiemann 1929 als stellvertretender Delegierter Lettland beim Völkerbund vertrat.359 Diese Zeit, in der Lettland auch wirtschaftlich prosperierte, war die einzige, in der es der deutschen Fraktion gelang, den Abbau von Besitz und Rechten ins Gegenteil zu verkehren. Mit der Aufhebung der allgemeinen Schulinspektoren und der staatlichen Anerkennung des Herder-Instituts 1927 als deutsche private Hochschule wurden erstmalig neue Rechte gewonnen, auch wenn die insbesondere von Schiemann forcierte Idee der Kulturautonomie nicht umgesetzt werden konnte. In dieser Zeit konnten Keller und Wachtsmuth als Leiter des deutschen Schulwesens auch das ihnen immer wichtige Ziel, die 358 Rigasche Rundschau (12. 01. 1920), in: Donath, Schiemann, S. 188f. Wachtsmuth, Gesicht, S. 355, 364f. 359 Wertheimer, Parteien 1930, S. 67f. Garleff, Deutschbalten, S. 495.

Zusammenfassung

97

deutschen Schulen nicht zu einem Politikum werden zu lassen, am besten erreichten. Ein schwer lösbares Problem für die Politikvermittlung blieb die von den deutschen Abgeordneten bei der lettischen Mehrheit verortete negative Einstellung gegenüber den Deutschen. Durch diese Stimmung waren die Abgeordneten gezwungen, Erfolge zu verschweigen – da sich so mit den lettischen Fraktionen und der Regierung leichter Kompromisse schließen ließen. Misserfolge mussten dagegen breit kommuniziert werden, um in der deutschbaltischen Öffentlichkeit Entrüstung hervorzurufen. Dies dürfte sich auf die Einstellung der deutschbaltischen Wählerschaft zur Republik Lettland insgesamt nicht günstig ausgewirkt haben. Die konkurrierenden Erinnerungskulturen der Letten und der Deutschbalten, vor allem die Identifikation Letzterer mit der politisch nicht unumstrittenen Landeswehr, die zum 10. Jahrestag der Eroberung Rigas 1929 eine nicht gekannte Intensität annahm, riefen auf Seiten der politisch interessierten Letten Unverständnis und Argwohn hervor.360 Mit der Sprengung des Landeswehrdenkmals und dem Landeswehrgesetz begann 1929 ein Prozess der neuerlichen Entfremdung der Deutschen von den Letten, der die vierte Phase einläutete. Besonders mit dem Wahlerfolg der bürgerlichen Parteien Lettlands bei der IV. Saeima-Wahl vom Herbst 1931 – von Schiemann »nationalistische Welle«361 genannt – nahm diese Auseinandersetzung an Schärfe zu. Hierbei waren es bei weitem nicht neue Politiker, die die deutschbaltische Volksgruppe drangsalierten. Vielmehr nahmen lettische Politiker, die sich in den 1920er Jahren versöhnlich gegeben hatten, oftmals u. a. als wahltaktischen Gründen nun eine minderheitenfeindliche Position ein. Ein prominentes Beispiel hierfür war Marg‘ ers Skujenieks, der sich als rechter Sozialdemokrat in seiner ersten Amtszeit 1926–1928 gegenüber den Deutschen freundlich gezeigt hatte, 1931–1933 in seiner zweiten Amtszeit dann aber entschieden eine Politik der Beschränkung der Rechte der Minderheiten, v. a. der deutschen, durchführte.362 Eine zweite Herausforderung erwuchs in dieser Phase gleichzeitig durch die sich selbst »Erneuerer« nennenden Konservativen und Rechten, die im Fahrwasser des in Deutschland aufstrebenden Nationalsozialismus einen Rechtsschwenk der deutschbaltischen Politik erzwingen wollten. Fircks und Schiemann stellten sich entschieden gegen diese Tendenzen,363 aber nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten in Deutschland wurden beide Schritt für Schritt aus der deutschbaltischen Politik herausgedrängt. Schon zeitgenös360 361 362 363

Wachtsmuth, Gesicht, S. 156. Böttcher, Kriegerdenkmäler, S. 147–151. Schiemann, Jahresbericht 1933, S. 5. Wachtsmuh, Gesicht, S. 399f. Kause, Widerstand, S. 201–203. Ders., Schiemann, S. 33f. Hiden, Defender, S. 196–200. Wachtsmuth, Gesicht, S. 171.

98

Lettland

sisch wurde das schlussendliche zeitgleiche Ausscheiden Fircks’ und Schiemanns im Oktober 1933 als Zäsur begriffen.364 Nicht zuletzt bei der Unterstützung der nur durch die deutsche Fraktion möglich gewordenen Ministerpräsidentschaft Ulmanis’ von März bis Mai 1934 zeigte sich, dass die deutschen Parlamentarier nach diesem Ausscheiden Fircks’ und Schiemanns in ihrer Tätigkeit aufgrund der zunehmenden Stärke der deutschbaltischen Konservativen und Rechten 1933–1934 innerlich paralysiert waren365 und ihnen im Verhältnis zu den anderen Fraktionen der politische Weitblick abhandengekommen war. Nachdem die deutsche Fraktion nach dem Rücktritt K ¸ enin¸sˇs im Juni 1933 die bislang schwerste Auseinandersetzung um den Erhalt der Minderheitenrechte weitgehend erfolgreich abgeschlossen hatte, war die erneute Unterstützung Ulmanis’ kaum verständlich, auch wenn mittlerweile neben PA und DC auch die Sozialisten auf einen deutschfeindlichen Kurs umgeschwenkt waren: Ulmanis’ Sympathien für das nationalsozialistische Deutschland, das er zur Kur 1933 besucht hatte, war den deutschen Abgeordneten nicht verborgen geblieben, auch wenn er diese Sympathien öffentlich dementierte. Die Verfassungsreform, die Ulmanis im Herbst 1933 eingebracht hatte, die sich eher zu Ungunsten der Rechte der Minderheiten ausgewirkt hätte,366 hätte vielmehr zu größter Vorsicht mahnen müssen – trotz der Krise, in der sich Lettland zu Beginn der 1930er Jahre befand und der zweifelsohne vorhandenen Reformbedürftigkeit seines politischen Systems.

364 Protokoll der Sitzung des Hauptvorstandes der Db. Volksgemeinschaft (23. 10. 1933), in: IKGN, Sammlung. Schoeler, Jahresbericht 1934, S. 13. 365 Kause, Schiemann, S. 34. 366 Hehn, Lettland, S. 31. Rauch, Krise, S. 149. Stegman, Erinnerungen, S. 164.

3

Polen

3.1

Einführung

Anders als der erst am 18. November 1918 proklamierte lettische Staat war ein neues Polen bereits im Laufe des Ersten Weltkriegs als Vasall der Mittelmächte am 5. November 1916 ins Leben gerufen worden. Mit der Bitte Deutschlands und Österreich-Ungarns um Waffenstillstand vom 3. Oktober 1918 begann sich dieser Vasall zu emanzipieren, ehe Ende Oktober und Anfang November Österreich-Ungarn als Teilungsmacht zusammenbrach und die deutschen Besatzer in Kongresspolen von polnischer Seite entwaffnet wurden. Der aus deutscher Haft nach Warschau zurückgekehrte Jjzef Piłsudski übernahm als Staatschef die Macht in der neuen Republik Polen und ließ am 28. November 1918 Wahlen zum Verfassungsgebenden Sejm (Sejm Ustawodawczy) für den 26. Januar 1919 ausschreiben. Anders als in Lettland sollte es somit in Polen kein ernanntes Parlament geben. Das Wahlgebiet sollte neben fast allen Teilen Kongresspolens und Galizien das preußisch-deutsche Teilungsgebiet ohne den größten Teil des Ermlands umfassen. Dazu sollten Masuren, Oberschlesien und die Kreise Groß Wartenberg, Namslau, Bütow, Lauenburg und Stolp-Stadt und -Land hinzukommen. Für diese Gebiete des Deutschen Reichs waren insgesamt 112 von 524 Mandaten vorgesehen (Abb. 9).367 Wäre die Wahl tatsächlich so abgehalten worden, so wäre mit allein etwa 60 deutschen Abgeordneten aus den Gebieten des Deutschen Reichs zu rechnen gewesen, da das von Piłsudski ausgeschriebene Wahlgebiet weit über die Grenzen des mehrheitlich polnischen Sprachraums hinausreichte. Allerdings befand sich das Wahlgebiet in Deutschland größtenteils nicht unter polnischer Kontrolle. Der Vorgang, Wahlen auf dem Gebiet eines fremden Staates auszuschreiben, erklärt sich aber aus der Erwartungshaltung, diese Gebiete – oder 367 Dekret o wyborach do Sejmu Ustawodawczego [Dekret über die Wahlen zum Verfassungsgebenden Sejm] (28. 11. 1918), in: Dziennik Praw Pan´stwa Polskiego [künftig DzPPP] 18 (1918), poz. 47. Vgl. auch Conrad, Umkämpfte Grenzen, S. 95.

100

Polen

zumindest große Teile – davon durch die Pariser Friedenskonferenz zugesprochen zu bekommen. Am 26. Januar 1919 stand diese Konferenz allerdings erst in den Anfängen. Zwar befand sich der größte Teil der Provinz Posen als Konsequenz des seit dem 27. Dezember 1918 andauernden Großpolnischen Aufstands in polnischen Händen, allerdings hatte der polnische Oberste Volksrat in Posen aus einer Reihe von Gründen auf die Durchführung der Wahl verzichtet. Bei der Wahl am 26. Januar 1919 konnten 291 der 524 vorgesehenen Mandate vergeben werden. Für diejenigen Gebiete, in denen keine Wahl stattfinden konnte, wurden Kooptationen durchgeführt, allerdings auf Basis der Nationalität: 16 noch lebende, 1912 gewählte polnische Abgeordnete des Reichstags und 28 1911 gewählte polnische Abgeordnete des Wiener Reichsrats aus Ostgalizien wurden mit gleichen Rechten zum Sejm zugelassen. Somit umfasste dieser bei seiner Konstituierung am 10. Februar 1919 335 Abgeordnete.368 Aus dem Teschener Schlesien wurden am 14. März 1919 sechs weitere Polen kooptiert. Aufgrund der schwierigen Entstehungsgeschichte der Zweiten Polnischen Republik mit ihren lange unklaren Grenzen wurden 1919–1920 insgesamt fünf Nachwahlen durchgeführt. Die neu gewählten Parlamentarier repräsentierten entweder bislang noch nicht vertretene Territorien oder ersetzten zu großen Teilen die kooptierten Deputierten aus den früher zu Deutschland gehörigen Gebieten. Große Gebiete Polens waren jedoch im Verfassungsgebenden Sejm nie oder nicht durch demokratisch gewählte Abgeordnete vertreten. In Ostgalizien und im Teschener Schlesien wurden keine Wahlen zum Ersatz der kooptierten Deputierten angesetzt. Die überwiegend weißrussisch und ukrainisch besiedelten späteren Wojewodschaften Nowogrjdek, Polessien und Wolhynien waren überhaupt nicht vertreten, obwohl die Möglichkeit einer Wahl zumindest für Personen polnischer Nationalität in der Wahlordnung vom 28. November 1918 vorgesehen war.369 Das erst ab 1922 zu Polen gehörende Wilna-Gebiet war ab dem 24. März 1922 über 20 durch den früheren Sejm Mittellitauens bestimmte Abgeordnete vertreten, die allesamt Polen waren, weil überwiegend nur die polnische Bevölkerung an der Wahl ebenjenes Sejm Mittellitauens teilgenommen hatte. Im erst im Juni 1922 an Polen gefallenen Ostoberschlesien wurde

368 Dekret o wyborach do Sejmu Ustawodawczego [Dekret über die Wahlen zum Verfassungsgebenden Sejm] (28. 11. 1918), in: DzPPP (18) 1918, poz. 47. Dekret (07. 02. 1919), in: Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej [fortan: DzURP] 14 (1919), Poz. 193. Verfassungsgebender Sejm, 1. Sitzung (10. 02. 1919). 369 Dekret o wyborach do Sejmu Ustawodawczego [Dekret über die Wahlen zum Verfassungsgebenden Sejm] (28. 11. 1918), in: DzPPP 18 (1918), Poz. 46. Rothschild, East Central Europe, S. 46f.

Einführung

101

aufgrund der ohnehin für den 5. November 1922 terminierten Wahl zum I. Sejm keine Nachwahl mehr anberaumt.370 Im Hinblick auf die Nationalität waren anfänglich von 335 Abgeordneten 322 Polen (96,1 %), elf Juden (3,3 %)371 und zwei Deutsche (0,6 %). Durch die Nachwahlen und die Kooptation im Teschener Schlesien erhöhte sich die Abgeordnetenzahl auf zuletzt 431, davon 412 Polen (95,5 %), elf Juden (2,6 %) und acht Deutsche (1,9 %). Somit blieben die nationalen Minderheiten, die nach dem Ende der Grenzfindung 1922 über 30 % der Bevölkerung ausmachten, stark unterrepräsentiert. Dies hatten die Minderheiten in geringem Maß auch mitzuverantworten, da die meisten Deutschen die Nachwahl in Posen am 1. Juni 1919 und die nichtpolnische Bevölkerung die Wahl zum Sejm Mittellitauens am 8. Januar 1922 aufgrund der mangelnden Rechtmäßigkeit beider Wahlen ganz überwiegend boykottiert hatten. Entscheidend für die geringe Repräsentanz der Minderheiten im Verfassungsgebenden Sejm war aber die Nichtabhaltung von Wahlen durch die polnischen Behörden, vor allem im Osten Polens. Die Nichtrepräsentanz der anderen Minderheiten wurde durch den deutschen Abgeordneten Ervin Hasbach vor dem Verfassungsgebenden Sejm am 1. Oktober 1921 kritisiert.372 Abgestellt wurde dieser Zustand jedoch erst mit dem Zusammentritt des ersten vollständig frei gewählten Sejm am 28. November 1922. Die sich als deutsch begreifende Bevölkerung in Polen, fortan Deutsche genannt, dürfte nach Abschluss des Grenzfindungsprozesses 1922 noch bei gut einer Million gelegen haben. Für den 10. Dezember 1931 zählte die amtliche Volkszählung noch 741.000 Deutschsprachige (2,3 %), Schätzungen gehen allerdings für diesen Zeitraum von 784.000 (2,4 %) oder von noch höheren Zahlen aus.373 Eine exakte Quantifizierung ist allerdings nicht mehr möglich, dies sowohl aufgrund des methodisch problematischen Vorgehens der polnischen Behörden, die polnische Hauptnationalität stärken zu wollen, als auch aufgrund der bereits angesprochenen Tatsache, dass Nationalität ein Konstrukt ist, sich also nicht notwendigerweise jeder mit einer solchen identifizieren musste. Sicher ist, dass auch die Deutschen in Polen – wie in Lettland – einem Schrumpfungsprozess unterworfen waren. Dieser Schwund hatte allerdings, wie die deutsche Fraktion schon zeitgenössisch feststellte, seinen Höhepunkt bereits 370 Vgl. zu den Grenzziehungen Conrad, Umkämpfte Grenzen, S. 180, 273f. 371 Einschließlich des PPS-Fraktionsmitglieds Ignacy Schiper, vgl. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 32. Rudnicki, Z˙ydzi, S. 28f. 372 Verfassungsgebender Sejm, 249. Sitzung (01. 10. 1921), S. 44f. Korzec, Block 1922, S. 198. Blanke, Orphans, S. 55, nennt falsch Mai 1920 als Termin der Nachwahl in Posen. 373 Drugi powzsechny spis ludnos´ci, S. 15. Hauser, Przedstawiciele, S. 14. Kotowski, Polens Politik, S. 123f. Für 1927 vermeldet Wertheimer, Parteien 1927, S. 86, rd. 1.600.000 Deutsche als »der Wahrheit am nächsten«, während 1930 »zuverlässige Berechnungen und Schätzungen« 1.139.000 Deutsche ergeben hätten, vgl. Wertheimer, Parteien 1930, S. 97. Beide Zahlen sind mit Sicherheit überhöhtes Wunschdenken.

102

Polen

in der Zeit unmittelbar vor der Übergabe der an Polen abzutretenden Gebiete 1919–1920 oder direkt nach dem Verlust der Kontrolle über die Gebiete durch das Deutsche Reich aufgrund des bis 1922 wirksamen Optionsrechts erreicht.374 Die Deutschen wohnten einmal in den drei vormals zu Deutschland und Österreich gehörenden Wojewodschaften Pommerellen, Posen und Schlesien und dazu noch in den vor 1914 zu Russland gehörenden Gebieten Kongresspolen und Wolhynien. Die Galiziendeutschen waren dagegen zahlenmäßig unbedeutend und nur auf dem Höhepunkt der Repräsentanz der Deutschen im Sejm 1928–1930 parlamentarisch vertreten.

3.2

Wahlen und deutsches Parteiwesen 1918–1935

Als erste deutsche Partei im neuen polnischen Staat gründeten Deutsche und einige Juden im Hinblick auf die ausgeschriebene Wahl zum Verfassungsgebenden Sejm in Lodz375 im Dezember 1918 die »Deutsche Volkspartei« (DVP). Die DVP, die ein Wahlverein blieb, trat in den Wahlkreisen Konin, Kutno, LodzStadt und -Land sowie Łukjw an. Die Wahl am 26. Januar 1919 erbrachte 51.224 Stimmen (1,1 %) und zwei Mandate. Eins davon ging an Josef Spickermann in Lodz-Stadt, das andere an Ludwig Wolff in Lodz-Land. An den verschiedenen Nachwahlen des Jahres 1919 beteiligte sich nur einmal eine deutsche Liste, nämlich im Wahlkreis Białystok am 15. Juni, in dem sie allerdings nur 303 Stimmen (0,3 %) erhielt.376 Im Zuge des im Versailler Vertrags am 28. Juni 1919 vereinbarten und im Januar und Februar 1920 vollzogenen Abtritts großer Teile der Provinzen Posen und Westpreußen von Deutschland an Polen erfolgte hier eine Umorganisation des deutschen Parteiwesens: Die Deutschnationale Volkspartei und die Deutsche Volkspartei des Deutschen Reiches vereinigten sich zur »Deutschen Partei – Vereinigung des deutschen Volkstums in Polen« (DP). Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die sich ab dem 8. August 1919 »Deutsche Sozialdemokratische Partei Polens« (DSP) nannte, und der Deutschen Demokratischer Partei arbeiteten in der »Zentralarbeitsgemeinschaft der politischen Parteien« (ZAG) zusammen. Im Wahlkreis Berent einigten sich DP und ZAG im Vorfeld der für den 2. Mai 1920 in Pommerellen ausgeschriebenen Nachwahl 374 Boysen, Optionen, S. 184–186. Kozen´ski, Minoranze, S. 117. Lakeberg, Minderheitenpresse, S. 39. Sammartino, Border, S. 96–106. Wojciechowski, Minderheit, S. 5f. 375 Dies ist die zeitgenössische Bezeichnung im Deutschen für die im Polnischen Łjdz´ genannte Stadt. 376 Balling, Handbuch, S. 182. Chu, Minority, S. 123. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 17–21, 384. Hauser, Przedstawiciele, S. 25–29. Heike, Minderheit, S. 168. Vgl. generell zu den Wahlen in Polen die aufschlussreiche Studie von Zloch, Nationalismus, S. 35–94, 253–273.

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zum Sejm auf eine gemeinsame Liste, während im Wahlkreis Graudenz beide konkurrierend gegeneinander antraten.377 Bei dieser Nachwahl am 2. Mai 1920 erzielten die deutschen Listen zusammen 96.677 Stimmen (28,4 %) und errangen sechs der 20 zu vergebenen Mandate. Davon entfielen im Wahlkreis Berent 22,3 % der Stimmen auf die Einheitsliste, wodurch DP und ZAG je ein Mandat errangen. Im Wahlkreis Graudenz erzielte die DP 27,2 % der Stimmen und vier Mandate, die ZAG ging mit 6,0 % leer aus. Abgeordnete wurden Ernst Barczewski (DP, Wahlkreis Berent), Karl Daczko (DP, Graudenz), Ervin Hasbach (DP, Graudenz), Gustav Heike (DP, Graudenz), Albrecht Lüdecke (DP, Graudenz) und der Liberale Johann Splett (ZAG, Berent).378 Das deutsche Parteiwesen bestand, ähnlich wie in Lettland, ganz überwiegend aus Honorationenparteien. Hier bestand eine klare Kontinuitätslinie zum ostelbischen Parteiwesen aus der Zeit von vor 1914. Zudem bestand aufgrund von Misstrauen gegenüber polnischen Behörden auch kein Interesse daran, über kleine, vertraute Zirkel hinausgehende Organisationen aufzubauen, vor allem, wenn es sich um solche Parteien und Gruppierungen handelte, die vom Deutschen Reich verdeckte finanzielle Unterstützung erhielten.379 Das deutsche Parteiwesen in Polen veränderte sich in den nunmehrigen polnischen Wojewodschaften Pommerellen und Posen dahingehend, dass alle dem Konservatismus und Liberalismus zuzurechnenden Parteien, einschließlich Teilen der ZAG, in dem am 8. Mai 1921 in Bromberg gegründeten Deutschtumsbund zur Wahrung der Minderheitenrechte (DtB) aufgingen. Der DtB stand unter Führung Eugen Naumanns und Kurt Graebes und war über das politische hinaus eine Gesamtorganisation der Deutschen in Pommerellen und Posen. Lediglich die sozialdemokratische DSP blieb diesem Zusammenschluss fern.380 Im früheren Kongress- und nunmehrigen Mittelpolen organisierten sich die 377 Balling, Handbuch, S. 182f. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 21–28. Bei Bierschenk, Volksgruppe, S. 25 und Heike, Minderheit, S. 168 findet sich eine unzutreffende Charakterisierung der Wahl von 1920 mit dem Ziel eines Nachweises, dass sich die deutschen Wähler nicht an Parteien orientiert hätten. Grundlage dafür ist die falsche Behauptung, die ZAG hätte alle deutschen Parteien umfasst, während die DP ein Zusammenschluss deutscher Vereine und Volksräte ohne Parteibindung gewesen wäre. Sodann wird ausschließlich das Ergebnis des Wahlkreises Graudenz herangezogen, um zu »beweisen«, dass sich die deutschen Wähler für eine überparteiliche Repräsentanz und gegen Parteien als Träger der politischen Willensbildung entschieden hätten. 378 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 384. Hauser, Przedstawiciele, S. 37. Balling, Handbuch, S. 182f. Chu, Minority, S. 80, behauptet falsch, die Wahl in Pommerellen hätte schon 1919 stattgefunden, wozu bereits in Kap. 1 dieses Buches eine Bemerkung gemacht worden ist 379 Chu, Minority, S. 69, 71. Eser, Schulwesen, S. 184. Ders., Entnationalisierung, S. 85. 380 Balling, Handbuch, S. 183f. Chu, Minority, S. 71f. Hauser, Mniejszos´c´ w Wielkopolsce, S. 39. Ders., Przedstawiciele, S. 19. Lakeberg, Minderheitenpresse, S. 44. Stolin´ski, Klub, S. 316.

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bürgerlichen Deutschen nach dem Zerfall der DVP 1921 im »Bund der Deutschen Polens« (BdDP), dem allerdings nach dem Vereinsrecht von den Behörden die Registratur verweigert wurde. Zusätzlich entstand am 19. Januar 1922 für Mittelpolen die »Deutsche Arbeitspartei« (DAP) als neue sozialdemokratische Kraft. Sie gründete sich ohne Notwendigkeit der Registratur von vornherein als politische Partei. Die DAP konnte auf kommunaler Ebene beträchtliche Erfolge erzielen und war in einigen Städten unter dem Namen DSAP noch bis weit in die 1930er Jahre an den Magistraten beteiligt.381 Von der deutschen Provinz Oberschlesien, in der am 20. März 1921 ein Volksentscheid stattgefunden und der Völkerbund am 20. Oktober 1921 eine Teilung des Abstimmungsgebiets angeordnet hatte,382 wurden im Juni 1922 bei Vollzug der Teilung einige östliche und südliche Gebiete Teil Polens. Diese wurden mit dem polnisch gewordenen Teil des zuvor österreichischen Teschener Schlesiens zur Autonomen Wojewodschaft Schlesien vereinigt.383 Hier bestanden ab 1922 drei deutsche Parteien: Die Parteiorganisationen des Zentrums und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands benannten sich am 21. Dezember 1921 und 26. März 1922 in »Katholische Volkspartei« (KVP) und »Deutsche Sozialdemokratischen Partei Polnisch-Oberschlesiens« (DSP/O384) um, während sich die übrigen bürgerlichen Parteien im August 1922 zu einer neuerlichen »Deutschen Partei« (DP/O385) zusammenschlossen.386 Für Oberschlesien war als parteiübergreifende Organisation zudem der »Deutsche Volksbund für Polnisch-Schlesien« von enormer Bedeutung, der bei den Wahlen zum Sejm allerdings nicht selbst antreten konnte.387 Im Vorfeld der Wahl zum I. Sejm vereinbarten sechs deutsche Parteien und Vereinigungen, nämlich DtB, DSP, BdDP, DAP, KVP und DP/O, am 17. August 381 Statuten des »Bundes der Deutschen Polens« (1921), in: AAN, zesp. 474, 3869, S. 202–205. Balling, Handbuch, S. 185–188. Hauser, Mniejszos´c´ w Polsce, S. 38. Heike, Arbeiterbewegung, S. 82–84. Ders., Minderheit, S. 174, 188, 220. Samus´, Łjdz´, S. 152–159. Walicki, Niemcy w samorza˛dzie Łodzi, S. 359–376. 382 Vgl. dazu Conrad, Fälschung, S. 103–118. 383 Ustawa konstytucyjna zawieraja˛ca statut organiczny Wojewjdztwa S´la˛skiego [Verfassungsgesetz, das Verfassungsstatut der Wojewodschaft Schlesien beinhaltend] (15. 07. 1920), in: DzURP 73 (1920), poz. 497. Os´wiadczenie Rza˛dowe [Regierungserklärung] (20. 06. 1922), in: DzURP 56 (1922), poz. 503. 384 Das Parteikürzel der Deutschen Sozialdemokratischen Partei Polnisch-Oberschlesiens war DSP. Sie führt aber zur Unterscheidung von der Deutschen Sozialdemokratischen Partei Polens (DSP) in dieser Arbeit das Kürzel DSP/O. 385 Das Parteikürzel der Deutschen Partei war DP. In dieser Arbeit wird sie aber zur Unterscheidung von der Deutschen Partei – Vereinigung des deutschen Volkstums in Polen (DP) mit DP/O abgekürzt. 386 Balling, Handbuch, S. 185–187, 748–751. Hauser, Przedstawiciele, S. 20. Heike, Minderheit, S. 175f. Kotowski, Polens Politik, S. 72f. Stolin´ski, Klub, S. 317f. 387 Hauser, Przedstawiciele, S. 20f. Heike, Minderheit, S. 176f.

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1922 gemeinsam mit den meisten jüdischen, ukrainischen, weißrussischen und russischen Parteien und Vereinigungen Polens ein Zusammengehen im »Block der nationalen Minderheiten« (BMN, Blok Mniejszos´ci Narodowych). Initiatoren des Blocks waren Hasbach und Izaak Grünbaum, der Vorsitzende der jüdischen Gruppe im Verfassungsgebenden Sejm und späterer erster Außenminister Israels. Einzig die Führung der DSP/O entschloss sich zu einer Listenverbindung mit der »Polnischen Sozialistischen Partei« (PPS, Polska Partia Socjalistyczna), die für die DSP/O allerdings keine Mandate einbrachte.388 Der Hauptgrund für den Abschluss dieser Listenverbindungen lag im neuen Wahlrecht: Das Gros der 444 Mandate, nämlich 372, wurden über 64 Wahlkreise mit je vier bis 14 Mandaten vergeben. In Gebieten mit polnischer Bevölkerungsmehrheit wurden mehr Mandate vergeben als in solchen mit nichtpolnischer Bevölkerungsmehrheit. Diese Ungleichheit war von ihren Initiatoren, den Abgeordneten der polnischen Nationaldemokratie (ND, Narodowa Demokracja), im Sejm offen angesprochen und mit der höheren Loyalität der Bevölkerung polnischer Nationalität begründet worden.389 Zudem erfolgte die Vergabe der Mandate, wie schon 1919, nach dem d’Hondt’schen Höchstzahlverfahren, das kleine Parteien benachteiligt. Zwar wurden ab 1922 über die Staatsliste zusätzlich 72 Sitze vergeben, allerdings nahmen an der Verteilung von Mandaten nur solche Listen teil, die mindestens sechs Mandate in den Wahlkreisen erzielt hatten.390 Somit überwogen in Sachen Wahlrecht für Minderheitenparteien klar die Nachteile, was Daczko am 9. Mai 1922 vor dem Sejm bemängelte.391 Die Gründung des BMN stellte daher einen logischen Schritt zur Minimierung der Nachteile des Wahlrechts dar. Vor allem im Osten Polens profitierte der BMN sogar seinerseits von der durch das Wahlrecht vorgesehenen Bevorzugung größerer Parteien.392 Die Vorteile des BMN zeigt ein an dieser Stelle vorweggenommener Vergleich: Während beim ersten BMN 1922 nur 76.576 von 480.570 (15,9 %) und beim zweiten BMN 1928 sogar nur 66.195 von 562.886 (11,8 %) der für die deutschen Kandidaten relevanten Stimmen durch das d’Hondt-Verfahren bei der Mandatsverteilung in den Wahlkreisen weggefallen waren, hatten 1930,

388 Balling, Handbuch, S. 180, 185, 751. Breyer, Rogall, Deutsche im polnischen Staat, S. 390. Nach Chu, Minority, S. 129, nahm die DSP/O gar nicht an der Wahl teil. 389 Verfassungsgebender Sejm, 306. Sitzung (10. 05. 1922), S. 19–22. Ordynacja wyborcza do Sejmu [Wahlordnung zum Sejm] (28. 07. 1922), in: DzURP 66 (1922), poz. 590. Wertheimer, Parteien 1927, S. 89. Korzec, Block 1922, S. 203f. Blanke, Orphans, S. 59. Breyer, Parlamentarismus, S. 69. 390 Korzec, Block 1922, S. 203. Vgl. zu den Nachteilen des d’Hondt-Verfahrens für kleinere Parteien Schindler, Datenhandbuch, S. 598–602. 391 Verfassungsgebender Sejm, 305. Sitzung (09. 05. 1922), S. 34–37. 392 Breyer, Parlamentarismus, S. 70f.

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als die Deutschen separat kandidierten, 115.250 von 307.696 Stimmen (37,5 %) keinen Erfolgswert bei der Mandatsverteilung.393 Der BMN erzielte bei der Wahl am 5. November 1922 in ganz Polen 15,1 % und 66 Mandate. Von diesen entfielen 17 auf deutsche Kandidaten. Damit war die deutsche Nationalität mit einem Anteil von 3,8 % unter den Parlamentariern etwa entsprechend ihrer numerischen Stärke unter der Gesamtbevölkerung vertreten. Von diesen 17 Deputierten waren 13 direkt gewählt, während vier Sitze über die Staatsliste errungen wurden. Nach Parteien erhielt der DtB sechs Mandate, die KVP und die DAP je drei, die DP/O und der BdDP je zwei und die DSP eins. Am erfolgreichsten von den für die Deutschen relevanten BMN-Listen war diejenige in der Wojewodschaft Schlesien, weil hier neben den Deutschen viele von der polnischen Statistik als »Polen« eingeordnete Wähler BMN wählten. Dieser erzielte 100.517 der Stimmen (28,4 %) und fünf Sitze. Gewählt wurden Eugen Franz (KVP, Wahlkreis Kattowitz), Otto Krajczyrski (KVP, Königshütte), Robert Piesch (DP/O, Teschen), Johannes Rosumek (DP/O, Kattowitz) und Karl Wlodasch (KVP, Königshütte).394 An zweiter Stelle folgte die Liste in der Wojewodschaft Pommerellen, auf die jedoch nur 51.964 Stimmen (15,3 %) entfielen, was den Verlust von vier der sechs Mandate bedeutete. Karl Daczko (DtB, Wahlkreis Graudenz) blieb Abgeordneter, zu ihm trat Berthold Moritz (DtB, Staatsliste). An dritter Stelle folgte die Liste der Wojewodschaft Posen mit 113.003 Stimmen (14,0 %) und vier Parlamentariern, nämlich Kurt Graebe (DtB, Bromberg), Joseph Klinke (DtB, Staatsliste), Eugen Naumann (DtB, Samter) und Artur Pankratz (DSP, Staatsliste).395 Auch in Mittelpolen konnten die gemischtnationalen BMN-Listen erhebliche Erfolge verbuchen: Jakob Karau (BdDP) zog als Abgeordneter für den Wahlkreis Włocławek, Artur Kronig (DAP) für Lodz-Stadt, August Utta (DAP) für LodzLand und Josef Spickermann (BdDP), diesmal für Konin, ein. Über die Staatsliste kam noch Emil Zerbe (DAP) aus Lodz hinzu. Östlichster deutscher Abgeordneter war Otto Somschor (DtB), der ein Mandat im Wahlkreis Łuck in Wolhynien erzielte.396 Bis auf Daczko und Spickermann waren alle Abgeordneten neu im Parlament, dies vor allem aufgrund der Niederlage der deutschen Liste in 393 Alle Berechnungen auf Basis von Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 385–394. 394 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 389. Hauser, Przedstawiciele, S. 97f. Balling, Handbuch, S. 180, 185. Rzepeccy, Sejm i Senat 1922–1927, S. 261–270. Kotowski, Polens Politik, S. 65, datiert die Wahl falsch auf den November 1923. Ders., S. 125, nennt 89 Parlamentarier für den BMN, doch handelte es sich dabei um die Gesamtzahl aller Parlamentarier der Minderheiten; ebenso falsch Blachetta-Madajczyk, Klassenkampf, S. 119, und Chu, Minority, S. 128, die 87 Abgeordnete nennen. 395 Balling, Handbuch, S. 184. Rzepeccy, Sejm i Senat 1922–1927, S. 235, 237, 242, 245, 255, 257, 357, 375f. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 385, 387. 396 Rzepeccy, Sejm i Senat 1922–1927, S. 157, 161, 170, 173, 175, 177, 180, 182, 329f, 357, 376. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 391, 393. Balling, Handbuch, S. 184, 186.

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Pommerellen. Insgesamt vertraten mit fünf Abgeordneten aus Schlesien, vier aus Posen und zwei aus Pommerellen nunmehr elf statt wie bisher sechs Abgeordnete die ehemaligen Reichsgebiete und deutschsprachigen Gebiete Österreichs. Mittel- und Ostpolen waren nunmehr durch sechs statt zwei Abgeordnete vertreten. Aufgrund zweier Eingriffe des polnischen Staates in die deutsche Parteienlandschaft blieb diese nicht stabil: Schwer wog das Verbot des Deutschtumsbundes (DtB) am 6. August 1923 wegen unterstellter Staatsfeindlichkeit. Das DtB-Verbot wurde mit der nicht unbegründeten Behauptung der Finanzierung des Bundes durch Reichsstellen begründet. Zu einem Prozess gegen seine Funktionäre kam es jedoch jahrelang nicht, was von Pankratz am 6. Mai 1925 vor dem Sejm als antideutsche Willkür aufgefasst wurde.397 Erst im Frühjahr 1930 fand der Prozess statt. Dabei wurden nur geringe Strafen verhängt. In einem separaten Prozess wurde gegen Graebe nach Aufhebung seiner Immunität am 12. November 1930 eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten verhängt, noch vor Vollzug wurde er allerdings 1934 im Zuge des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts amnestiert.398 Als Ersatzorganisation für den DtB gründeten die deutschen Parlamentarier noch 1923 in Bromberg als Notlösung die »Deutsche Vereinigung im Sejm und Senat für Posen, Netzegau und Pommerellen« (DV), die weder Verein noch Partei war. Zum DtB-Verbot kam die Nichtregistrierung des BdDP in Mittelpolen hinzu, die allerdings weniger schlimm wog: Als Ersatz gründeten seine Mitglieder am 1. Juni 1924 den »Deutschen Volksverband« (DVV) als politische Partei.399 Zum Vorsitzenden des DVV wurde Utta gewählt, der sich 1923 mit der DAP überworfen hatte und aus dieser ausgetreten war.400 Im Bereich der Sozialdemokratie kam es zu einem Konzentrationsprozess: Zunächst hatten sich 1923 DSP und DSP/O unter Vorsitz Pankratz’ vereinigt, ehe sich diese vereinigte DSP und die mittelpolnische DAP in Kattowitz am 9. August 1925 zur »Deutschen Sozialistischen Arbeitspartei« (DSAP) zusammenschlossen. Allerdings war diese Vereinigung nur deklaratorischer und nicht organisatorischer Natur : Nachdem der PPS-Vorstand im Vorfeld der Wahl zum II. Sejm im Falle einer Listenverbindung mit der DSAP zwei sichere Mandate angeboten 397 I. Sejm, 202. Sitzung (06. 05. 1925), S. 103f. Vgl. auch II. Sejm, 15. Sitzung (02. 06. 1928), S. 59; 21. Sitzung (11. 06. 1928), S. 86. Blanke, Orphans, S. 73. Hauser, Przedstawiciele, S. 119–122. 398 Eser, Schulwesen, S. 326f. Heike, Minderheit, S. 426f. Kotowski, Polens Politik, S. 65. Balling, Handbuch, S. 224. 399 Balling, Handbuch, S. 184, 187–189. Blanke, Orphans, S. 74. Hauser, Przedstawiciele, S. 124. Heike, Minderheit, S. 174, 198. Stolin´ski, Klub, S. 318. Nach Lakeberg, Minderheitenpresse, S. 44, wurde die DV erst 1924 gegründet. 400 Balling, Handbuch, S. 209. Chu, Minority, S. 128. Hauser, Przedstawiciele, S. 21.

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hatte, beschloss der DSAP-Vorstand anstelle eines neuerlichen Zusammengehens im Rahmen des BMN von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Dieser Listenverbindung verweigerten sich allerdings wiederum einige DSAP-Mitglieder um Pankratz in Posen und Pommerellen. Sie reaktivierten die DSP mit dem Ziel einer Zusammenarbeit mit der DV in einem neuen BMN. Grund hierfür war die nicht unbegründete Ansicht, dass bei der agrarisch geprägten Struktur Pommerellens und Posens sozialdemokratische deutsche Kandidaten nur in Verbindung mit der DV Aussicht auf ein Mandat hatten.401 Zuvor hatte der Mai-Putsch des Jahres 1926, in dessen Rahmen Piłsudski und seine Anhänger auf die politische Bühne zurückkehrten und die Regierung Witos stürzten, eine einschneidende Änderung des politischen Systems Polens eingeleitet. Der Putsch wurde von deutscher Seite erstmalig durch Kronig am 16. Juli 1926 ein solcher genannt.402 Wlodasch nannte ihn dagegen am 14. Dezember 1926 euphemistisch »Mairevolution«.403 Die spätere Eigenbezeichnung des Regimes, »Sanacja« (Heilung), verwandte im Parlament von deutscher Seite erstmalig Piesch am 26. Januar 1927.404 Nachdem das Sanacja-Regime am 28. November 1927 den Sejm aufgelöst hatte, entstanden Ende 1927 und Anfang 1928 als politische Organisation des Regimes der »Parteilose Block der Zusammenarbeit mit der Regierung« (BBWR, Bezpartyjny Blok Wspjłpracy z Rza˛dem), der bei der für den 4. März 1928 angesetzten Wahl zum II. Sejm stärkste politische Kraft wurde. Parallel zum BBWR konstituierte sich ein zweiter BMN. Ihm gehörten die fünf deutschen Parteien DV, DSP, DVV, die sich seit 1927 »Deutsche Katholische Volkspartei« (DKVP) nennende KVP sowie die DP/O an. Für die deutsche Fraktion zeigte sich Naumann als BMN-Vorsitzender verantwortlich. Der Wahlkampf 1927/1928 war bereits von Einschüchterungen der Staatsmacht gekennzeichnet, auch wenn noch wenig direkte Manipulationen erfolgten.405 Bei der Wahl erzielten die deutschen Kandidaten ihre größten Erfolge: Der BMN erzielte trotz weiterer Minderheitenparteien und Repressionen durch das 401 Balling, Handbuch, S. 183–185, 750f. Blachetta-Madajczyk, Klassenkampf, S. 48–53. Hauser, Przedstawiciele, S. 21. Heike, Arbeiterbewegung, S. 85f. Ders., Minderheit, S. 176. Stolin´ski, Klub, S. 318. Die formelle Wiedergründung der DSP erfolgte erst nach der Wahl im Juni und Juli 1928. 402 I. Sejm, 292. Sitzung (16. 07. 1926), S. 34, ebenso durch Piesch, vgl. 301. Sitzung (23. 09. 1926), S. 27. Mehr zum Mai-Putsch: Hetherington, Unvanquished, S. 549–583. Rothschild, Piłsudski’s Coup d’Etat. 403 I. Sejm, 309. Sitzung (14. 12. 1926), S. 17, ebenso durch Piesch, vgl. 312. Sitzung (26. 01. 1927), S. 79. Wortlaut des Zitats im Original: »rewolucji majowej«. 404 I. Sejm, 312. Sitzung (26. 01. 1927), S. 79. 405 Breyer, Rogall, Deutsche im polnischen Staat, S. 391f. Hauser, Przedstawiciele, S. 219. Kazet, Ugrupowania, S. 114–116. Korzec, Zweiter Block, S. 98f, 105f. Wertheimer, Parteien 1930, S. 113–116. Zur Sichtweise des Wahlkampfes durch die deutsche Fraktion vgl. die Rede Uttas im II. Sejm, 5. Sitzung (31. 03. 1928), S. 8f. Balling, Handbuch, S. 183, 185, 188f.

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Regime als drittstärkste politische Kraft 12,6 % und 55 Mandate, von denen 19 auf deutsche Kandidaten entfielen. Vor dem BMN war die PPS mit 13 % zweitstärkste Kraft geworden und hatte 64 Mandate erzielt, von denen zwei auf die DSAP entfielen. Zusammen gab es also 21 deutsche Abgeordnete.406 Damit war die deutsche Nationalität mit einem Anteil von 4,7 %, verglichen mit ihrer numerischen Stärke unter der Bevölkerung, im Parlament klar überrepräsentiert. In der Wojewodschaft Schlesien wurde der BMN mit 175.113 Stimmen (31,1 %) und sechs von 17 Mandaten vor dem BBWR stärkste politische Kraft. Gewählt wurden Eugen Franz (DKVP, Wahlkreis Teschen), Bernhard Jankowski (DKVP, Königshütte), Otto Krajczyrski (DKVP407, Kattowitz), Hugo Nowak (DKVP, Königshütte), Robert Piesch (DP/O, Teschen) und Johannes Rosumek (DP/O, Kattowitz).408 In der Wojewodschaft Pommerellen konnte die Stimmenanzahl auf 64.784 (15,2 %) gesteigert werden, was drei Mandate bedeutete, die an Nordewin v. Koerber (DV, Wahlkreis Graudenz), Wilhelm Spitzer (DV, Thorn) und Anton Tatulinski (DV, Dirschau) – für den auch kaschubische Wähler stimmten –409 fielen. In der Wojewodschaft Posen wurden 121.842 Stimmen (13,7 %) und sechs Mandate erzielt. Diese gingen an Walther Birschel (DV, Bromberg), Kurt Graebe (DV, Staatsliste), Berthold Moritz (DV, Samter), Eugen Naumann (DV, Staatsliste), Artur Pankratz (DSP, Bromberg) und Berndt v. Saenger (DV, Gnesen).410 In Mittelpolen konnten über den BMN noch drei deutsche Mandate erzielt werden. Jakob Karau (DVV) wurde erneut im Wahlkreis Włocławek, August Utta (DVV) in Lodz-Land und erstmalig Julian Will (DVV) in Konin gewählt. Ein weiteres deutsches Mandat erzielte der BMN im Wahlkreis Lemberg-Land. Hier zog Ferdinand Lang (DV) in den Sejm ein. Von den beiden DSAP-Abgeordneten

406 Balling, Handbuch, S. 180. Korzec, Zweiter Block, S. 107. Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933, S. 12. Breyer, Rogall, Deutsche im polnischen Staat, S. 392, nennen falsch insgesamt 23 deutsche Abgeordnete. Hasbach, Volksgruppe, S. 263 und Kozen´ski, Minoranze, S. 118, nennen falsch nur 19 Abgeordnete, also nur die Zahl der deutschen BMN-Abgeordneten. 407 Ob Krajczyrski zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied der DKVP war, nennt Balling, Handbuch, S. 231, nicht, zumal der Lebenslauf Krajczyrskis ohnehin Lücken aufweist. Allerdings ist auch kein Wechsel zur DP oder zur DSP/O bekannt. Eine Kandidatur als Parteiloser erscheint unwahrscheinlich. 408 Eser, Entnationalisierung, S. 94. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 389. Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933, S. 82–86. 409 Bericht des Chefs der Abteilung für öffentliche Sicherheit der Wojewodschaft Pommerellen an die politische Abteilung des polnischen Außenministeriums (29. 03. 1928), in: AAN, zesp. 322, 4896, S. 23. 410 Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933, S. 66–74, 78f, 133f, 139. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 385, 387.

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wurde Artur Kronig im Wahlkreis Lodz-Stadt direkt gewählt, während Emil Zerbe über die PPS-Staatsliste ins Parlament einzog.411 Insgesamt verteilten sich die 21 Mandate auf die Parteien damit wie folgt: DV neun, DKVP vier, DVV drei, DSAP und DP/O je zwei Sitze sowie DSP einen Sitz. Die Wahl von 1928 war diejenige, die am meisten Kontinuität zur vorangegangenen Legislaturperiode ermöglichte, da zwölf der 17 Abgeordneten von 1922– 1927 weiter dem Parlament angehörten. Lediglich Klinke – dieser auf Anweisung des Primas von Polen unter Bezugnahme auf das kanonische Recht von 1917 –, Somschor, Spickermann und Wlodasch waren ausgeschieden. Daczko, der erneut nominiert worden war, starb vor der Wahl am 28. Januar 1928 in Konitz.412 Aufgrund der erhöhten Stimmenzahl gewannen die BMN-Listen in Pommerellen, Posen und Schlesien je ein bis zwei Mandate hinzu, wodurch Pommerellen nun mit drei, Posen und Schlesien sogar mit je sechs Abgeordneten vertreten waren. Gegen diese 15 Deputierten hatten die zentral- und ostpolnischen Gebiete mit nun noch vier deutschen BMN-Abgeordneten an Einfluss verloren. Selbst wenn die beiden DSAP-Mandate miteingerechnet werden, ist die Erhöhung der deutschen Mandate von 17 auf 21 ausschließlich auf den Erfolg in Pommerellen, Posen und Schlesien zurückzuführen.413 Die II. Legislaturperiode, für dessen amtliches Nachschlagewerk die Gebrüder Rzepecki 1928 in Erwartung einer fünfjährigen Legislaturperiode den Titel »Sejm i Senat 1928–1933« (Sejm und Senat 1928–1933) vergeben hatten,414 wurde von Präsident Mos´cicki am 30. August 1930 für aufgelöst erklärt. Die oppositionellen Abgeordneten waren dem zunehmenden Machtanspruch des SanacjaRegimes trotz der Stärkung der Exekutive 1926 noch zu zahlreich. Nach der Parlamentsauflösung behauptete das Regime ein Ende der Immunität und ließ etwa 70 oppositionelle Abgeordnete inhaftieren, darunter war mit Tatulinski kurzzeitig auch ein Deutscher.415 Im Vorfeld der für den 16. November 1930 ausgeschriebenen Wahl zum III. Sejm Polens ging die Staatsmacht mit Einschüchterung und massiven Eingriffen in den Wahlablauf gegen Oppositionslisten vor. Bei den Minderheiten kam deshalb kein dritter BMN zustande. Stattdessen traten DV, DSP, DVV, DKVP und DP/O zusammen unter unterschiedlichen Sammelbezeichnungen an. PPS, die Bauernparteien, darunter die konservative »Polnische Volkspartei-Piast« (PSL»Piast«, Polskie Stronnictwo Ludowe) sowie ihr linker Widerpart, die »Polnische 411 Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933, S. 31f, 36–41, 105f, 133, 138. Blachetta-Madajczyk, Klassenkampf, S. 168. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 391, 394f. 412 Balling, Handbuch, S. 195, 217. Navarro, Ban, S. 113f. 413 Chu, Minority, S. 82, nennt falsch 16 Abgeordnete aus Pommerellen, Posen und Schlesien. 414 Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933. 415 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 286. Roos, Demokratie, S. 31. Strobel, Idee, S. 49. O. V., Niemcy, S. 481.

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Volkspartei-Befreiung« (PSL-»Wyzwolenie«), und andere schlossen sich unter Einschluss der DSAP zur »Zentrumslinken« (Centrolew) zusammen, um die autoritäre Herrschaft Piłsudskis zu bekämpfen.416 Die Repressionen des Regimes bis hin zur Aufforderung einer offenen Stimmabgabe,417 die bereits angesprochenen Konsequenzen des Wahlrechts und wenige – erfolglose – deutsche pro-Sanacja-Listen führten zu einer Verminderung der Anzahl der deutschen Parlamentarier von 21 auf fünf. Am erfolgreichsten waren die deutschen Listen, die insgesamt 307.696 Stimmen erzielten, wiederum in der Wojewodschaft Schlesien mit 126.823 Stimmen (20,9 %) und drei Mandaten. Abgeordnete blieben Eugen Franz (DKVP, Wahlkreis Teschen), Bernhard Jankowski (DKVP, Königshütte) und Johannes Rosumek (DP, Kattowitz). In Posen erzielten die deutschen Listen 114.760 Stimmen (12,0 %) und zwei Mandate. Gewählt wurden Kurt Graebe (DV, Bromberg) und Eugen Naumann (DV, Samter), wobei Naumann das Mandat nicht annahm. Für ihn rückte Berndt v. Saenger (DV) nach.418 In Pommerellen wurden, nachdem die deutsche Liste im wichtigsten Wahlkreis Graudenz für ungültig erklärt worden war, noch 34.275 Stimmen (7,8 %) erzielt. Dies genügte nicht zur Erlangung eines Mandats. Im Wahlkreis Włocławek in Mittelpolen war die deutsche Liste ebenso für ungültig erklärt worden. Im Wahlkreis Lodz-Stadt waren die deutschen Kandidaten eine Listenverbindung mit den Zionisten eingegangen, die aber für die deutsche Seite keine Mandate einbrachte. Die deutschen Kandidaten in den Wahlkreisen Lodz-Land und Konin erzielten ebenfalls keine Mandate. Schlussendlich erbrachte die Teilnahme der DSAP an der Zentrumslinken ebenfalls keinen Sitz.419 So blieb es bei den drei Mandaten aus Schlesien und zwei aus Posen, wodurch auch keine weiteren Mandate über die Staatsliste erzielt wurden. Alle fünf Sitze gingen an erfahrene Abgeordnete. Von vornherein bestand bei der Wahl zum IV. Sejm im September 1935, bei der nach der neuen Aprilverfassung von 1935 statt 444 nur noch 208 Abgeordnete zu wählen waren, aufgrund der restriktiven neuen Wahlordnung vom Juni 1935420 nur geringe Aussicht auf die Repräsentanz eines Deutschen im Sejm. Senator Hasbach war es zwar gelungen, mit dem Regime ein deutsches Mandat im neuen Wahlkreis Kattowitz-Königshütte auszuhandeln, allerdings reichten gleich drei konkurrierende deutsche Gruppierungen für die Vorwahlen Kandi416 Blachetta-Madajczyk, Klassenkampf, S. 179. Heike, Minderheit, S. 201. 417 Der deutsche Außenminister Julius Curtius an den Generalsekretär des Völkerbunds, Eric Drummond (27. 11. 1930), in: AAN, zesp. 474, 3900, S. 115. 418 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 296, 386, 388, 390, 392. Heike, Minderheit, S. 201. Nach Balling, Handbuch, S. 180, entfielen auf die deutschen Listen 309.713 Stimmen. 419 Balling, Handbuch, S. 180. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 386, 388, 392. 420 III. Sejm, 145. Sitzung (25. 06. 1935), S. 98–100.

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daten – darunter Jankowski – ein, von denen schlussendlich keiner zum Zuge kam. Deshalb rief die DV zunächst zum Boykott, wenig später allerdings zur Wahl des BBWR auf. Ganz im Zuge der offiziellen Freundschaft zwischen dem Deutschen Reich und Polen riefen deutsche Organisationen schließlich bei der Wahl zum V. Sejm im November 1938 zur Wahl der neuen Staatsliste »Lager der nationalen Einheit« (OZN, Objz Zjednoczenia Narodowego) auf. Dieses Engagement erfolgte ungeachtet der Tatsache, dass deutsche Parlamentarier anders als ihre jüdischen und ukrainischen Kollegen seit 1935 im Sejm nicht mehr präsent waren.421 Anders als Lettland besaß Polen 1922–1939 mit dem 111-köpfigen Senat eine zweite Parlamentskammer, die in dieser Darstellung, da es kein Pendant in Lettland gab, überwiegend außen vor bleibt,422 hier aber kurz geschildert werden soll: Bei der ersten Senatswahl am 12. November 1922 erzielten die deutschen Listen trotz Ungültigkeit der Liste in der Wojewodschaft Pommerellen 291.504 Stimmen (5,2 %) und fünf Mandate. Senatoren wurden Georg Busse (DtB, Wahlkreis Posen), Hasbach (DtB, Posen), Kurt Mayer (DP/O, Schlesien), Karl Stüldt (BdDP, Lodz) und Thomas Szczeponik (KVP, Schlesien). Nach dem Tod Szczeponiks am 30. Januar 1927 rückte Artur Gabrisch (DP/O) nach. Bei der zweiten Senatswahl am 11. März 1928 erzielten die deutschen Listen 329.850 Stimmen (5,1 %) und erneut fünf Sitze. Senatoren wurden Barczewski (DV, Pommerellen), Busse (DV, Posen), Hasbach (DV, Posen), Eduard Pant (DKVP, Schlesien) und Spickermann (DVV, Lodz).423 Die dritte Senatswahl am 23. November 1930 war – verglichen mit der SejmWahl einen Sonntag davor – von den Eingriffen der Staatsmacht weit weniger betroffen. Auf die deutschen Listen entfielen 236.471 Stimmen (3,5 %), was drei Mandate bedeutete. Senatoren blieben Busse (DV, Posen), Pant (DKVP, Schlesien) und Spickermann (DVV, Lodz). Allerdings erzwangen die Führungen der deutschen Parteien eine Übergabe des Mandats Spickermanns an Utta (DVV). Bei der vierten und fünften Senatswahl – unter einem restriktiven, nichtallgemeinen Wahlrecht – 1935 und 1938 wurden keine deutschen Senatoren mehr gewählt. Allerdings waren unter dem Drittel der Senatoren, die nicht gewählt, sondern von Präsident Mos´cicki ernannt wurden, 1935 mit Hasbach und Rudolf Wiesner sowie 1938 mit Hasbach und Max Wambeck je zwei Vertreter der Deutschen Polens.424 Ein Blick auf die Senatoren zeigt, dass einige ehemalige

421 Heike, Minderheit, S. 205, 209–212. Kotowski, Polens Politik, S. 230f. Grünberg, Niemcy, S. 29, nennt falsch auch für 1935–1938 fünf deutsche Abgeordnete. 422 Vgl. zum Senat Hauser, Przedstawiciele, passim. Die im Senat Polens verhandelten Themen unterschieden sich kaum von denen im Sejm. 423 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 396. Balling, Handbuch, S. 184–191. 424 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 397, 399. Balling, Handbuch, S. 185–192.

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Sejm-Abgeordnete, wie Hasbach, Barczewski, Spickermann und Utta, hier ihre politische Karriere fortsetzen konnten. Eine Rolle spielte zudem der Sejm der bereits genannten Autonomen Wojewodschaft Schlesiens. Besagte Autonome Wojewodschaft war die einzige autonome Region Polens und, wie schon bei den Sejm-Wahlen, diejenige Region, in der die deutschen Parteien die größten Erfolge feierten. Schon bei der ersten Wahl am 27. September 1922 entfielen 14 der 48 Mandate auf deutsche Listen, davon sechs auf die KVP, sechs auf die DP/O und zwei auf die DSP/O. Bei der zweiten Wahl zum Sejm am 11. Mai 1930 konnte die Mandatszahl auf 16 gesteigert werden; davon zehn für die DKVP, fünf für die DP/O und eins für die DSAP. Bei der dritten Wahl am 23. November 1930 kam es, wie schon eine Woche zuvor bei der allgemeinen Sejm-Wahl, zu Einflussnahme seitens der Staatsmacht, sodass nur noch neun Mandate erzielt werden konnten, davon fünf für die DKVP, zwei für die DP/O und zwei für die DSAP. Nach der vierten Wahl vom 8. September 1935 waren keine deutschen Abgeordneten mehr vertreten.425 Vier Parlamentarier des Sejm Schlesiens, nämlich Jankowski, Mayer, Pant und Szczeponik, waren gleichzeitig oder wurden später Sejm-Abgeordnete oder Senatoren in Warschau. Von den 32 deutschen Abgeordneten des Sejm der Zwischenkriegszeit ist das Schicksal Spletts und Krajczyrskis nicht bekannt. Bis 1935 waren in Deutschland der emigrierte Wolff (1923) und in Polen Daczko (1928), Somschor (1931) und Klinke (1932) verstorben. In den letzten Jahren des Sanacja-Regimes starben Barczewski (1937), Franz (1937), Karau (1938) und Rosumek (1938), allesamt in Polen. Neben Wolff emigrierten Graebe, Heike, Splett und Wlodasch im Laufe der Zwischenkriegszeit ins Deutsche Reich. Im September 1939 wurden die von den polnischen Behörden in Gewahrsam genommenen Moritz und Naumann entweder von diesen ermordet oder kamen auf Märschen zu Tode, während Hasbach, Kronig, Lang, Pankratz und Zerbe ihre Inhaftierungen überlebten.426 Während des Zweiten Weltkriegs traten Hasbach, Piesch, Saenger, Spickermann, Tatulinski und Wlodasch der NSDAP bei, Koerber, Lang und Spitzer der SS. Eines natürlichen Todes im besetzten Polen starben der zuletzt ebenfalls in nationalsozialistisches Fahrwasser geratene Utta (1940) sowie Nowak (1942), Friese (1943) und Lüdecke (1944). Im besetzten Polen nahm sich Will 1941 in Schwetz das Leben, während Koerber bei 1943 bei einem Unfall in Alt-Blumenau ums Leben kam. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg starben Wlodasch (1946) und Spickermann (1947) in der SBZ. Ihre letzten Lebensjahre verbrachten 425 Balling, Handbuch, S. 745–751. Heike, Minderheit, S. 180f. Vgl. zur Verabschiedung des Statuts der Autonomen Wojewodschaft Schlesien Verfassungsgebender Sejm, 164. Sitzung (15. 07. 1920), S. 12–21. 426 Alle Angaben nach Balling, Handbuch, S. 195–241.

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Kronig (gest. 1953) und Heike (1962) in der DDR. In der Bundesrepublik starben Graebe (1952) – der sich als bayerischer Landesvorsitzender der rechtsextremen Deutschen Gemeinschaft bis zuletzt politisch betätigt hatte –, Piesch (1954), Lang (1959), Tatulinski (1959), Birschel (1960), Hasbach (1970), Spitzer (1973), Pankratz (1975) und zuletzt Berndt v. Saenger – der in der Landsmannschaft Weichsel-Warthe des Bundes der Vertriebenen eine wichtige Rolle gespielt hatte – 1978. Als einziger ehemaliger deutscher Abgeordneter erhielt Zerbe, der sich 1939–1945 ununterbrochen im Untergrund versteckt gehalten hatte, als bekannter NS-Gegner 1945 seine polnische Staatsangehörigkeit erneuert. Er starb 1954 in seiner Heimatstadt Lodz.427

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3.3.1 Partizipation im Parlament Die beiden am 26. Januar 1919 gewählten Abgeordneten Josef Spickermann und Ludwig Wolff traten ihr Mandat mit der ersten Sitzung des Verfassungsgebenden Sejm am 10. Februar 1919 an. In den ersten beiden Legislaturperioden 1919– 1927 tagte der Sejm im früheren Alexander-Maria-Institut (russ. Aleksandrijskij Marijskij Institut), einer 1915 aufgelösten Frauenerziehungsanstalt.428 Beide Abgeordnete schlossen sich keiner polnischen Fraktion an, sondern firmierten als deutsche parlamentarische Gruppe unter dem Namen »Klub der Deutschen Volkspartei« (Klub Niemieckiego Stronnictwa Ludowego).429 Spickermann und Wolff erlangten damit bei Weitem nicht den Fraktionsstatus, der 1919–1922 mindestens zwölf Abgeordnete erforderte. Dadurch waren sie auch von der Teilnahme an Ausschüssen ausgeschlossen. Aufgrund einer Sonderregelung für die zehnköpfige jüdische Gruppe, die trotz der ebenfalls zu geringen Abgeordnetenzahl zu den Ausschüssen zugelassen worden war, bestand von jüdischer Seite auch keine Notwendigkeit, eine gemeinsame jüdischdeutsche Fraktion zu bilden. Es war den insgesamt 13 Minderheitenabgeordneten – unter Zurechnung des PPS-Fraktionsmitglieds Ignacy Schiper – ohne Unterstützung von Abgeordneten polnischer Nationalität nicht möglich, Anträge oder Anfragen, für die 15 Abgeordnete, oder gar Dringlichkeitsanträge, für die sogar 30 Abgeordnete erforderlich waren, zu stellen.430 427 Alle Angaben nach Balling, Handbuch, S. 195–241. Ajnenkiel, Historia, S. 139. 428 Verfassungsgebender Sejm, 1. Sitzung (10. 02. 1919). Heike, Minderheit, S. 168, nennt falsch den 9. Februar 1919 als Datum der ersten Sitzung. 429 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 398. Heike, Deutschtum, S. 71. 430 Verfassungsgebender Sejm, 2. Sitzung (14. 02. 1919), S. 30, 34. Tymczasowy regulamin 1919, S. 7. Tymczasowy regulamin 1921, S. 7. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 32, 46.

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Die erste Phase der deutschen parlamentarischen Gruppe im Verfassungsgebenden Sejm währte von der 1. bis zur 94. Sitzung am 4. November 1919. Die Gruppe hatte dabei keinen Vorsitzenden,431 allerdings war Spickermann der dominierende der beiden Parlamentarier. Spickermann sprach zwei-,432 Wolff einmal vor dem Sejm,433 was bei einer Abgeordnetenzahl von zwei als häufig zu werten ist. Beide Abgeordnete verband eine hohe Übereinstimmung in Sachfragen: Bei allen neun namentlichen Abstimmungen stimmten sie stets einheitlich ab. Aufgrund einer Erkrankung hatte Wolff mit Wirkung zum 6. November 1919 sein Mandat aufgegeben,434 was die zweite Phase der deutschen parlamentarischen Gruppe einleitete. Für Wolff rückte Oskar Friese nach, der bis zur 154. Sitzung am 8. Juni 1920 mit Spickermann einer der beiden deutschen Deputierten war. Weiterhin gab es keinen Vorsitzenden.435 Beide sprachen in dieser Phase nie vor dem Sejm. Bei den drei namentlichen Abstimmungen in dieser Phase stimmte Spickermann einmal, Friese nie ab.436 Die dritte Phase der deutschen Gruppe im Verfassungsgebenden Sejm begann mit dem Eintritt der sechs in Pommerellen nachgewählten deutschen Abgeordneten in der 154. Sitzung am 8. Juni 1920 und der damit verbundenen Erhöhung der Mandatszahl auf insgesamt acht.437 Sie dauerte bis zum Ende der Legislaturperiode mit der 342. Sitzung am 27. November 1922.438 Schon kurz nach diesem Eintritt unterbrach der Krieg gegen Sowjetrussland die Arbeit des Sejm vom 24. Juli bis zum 24. September 1920. In dieser Zeit übernahm der Staatsverteidigungsrat ROP (Rada Obrony Pan´stwa) die Rolle eines Notparlaments. Elf seiner 19 Mitglieder waren Vertreter des Parlaments, allerdings bedurfte es wiederum des Fraktionsstatus’, um ein Mitglied entsenden zu können, wodurch die deutsche Gruppe nicht vertreten war.439

431 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 398. Tomaszewska, Aneksy, S. 285. 432 Verfassungsgebender Sejm, 11. Sitzung (07. 03. 1919), S. 471–473; 54. Sitzung (24. 06. 1919), S. 12f. 433 Verfassungsgebender Sejm, 82. Sitzung (31. 07. 1919), S. 42–44. 434 Verfassungsgebender Sejm, 95. Sitzung (06. 11. 1919), S. 2. Balling, Handbuch, S. 204, Heike, Deutschtum, S. 71, sowie Ders., Minderheit, S. 168, nennen den 1. November 1919, wobei es sich dabei um das Datum der Abgabe der Rücktrittserklärung handelt. 435 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 398. Tomaszewska, Aneksy, S. 286. 436 Die Uneinigkeit Frieses und Spickermanns im Vergleich mit Spickermann und Wolff ist deshalb lediglich als Tendenz zu werten, da ein direkter Vergleich aufgrund der unterschiedlichen Sachfragen unmöglich ist. 437 Verfassungsgebender Sejm, 154. Sitzung (08. 06. 1920), S. 3. Horak, Poland, S. 102, und Rothschild, East Central Europe, S. 47, nennen falsch sieben deutsche Abgeordnete. 438 Verfassungsgebender Sejm, 342. Sitzung (27. 11. 1922). Balling, Handbuch, S. 177, nennt falsch den 27. September 1922 als letzten Sitzungstermin. 439 Ustawa o utworzeniu Rady Obrony Pan´stwa [Gesetz über die Bildung des Staatsverteidi-

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Zum Vorsitzenden der Gruppe, die sich nunmehr »Klub der deutschen Vereinigung« (Klub Zjednoczenia Niemieckiego) nannte, wurde Ervin Hasbach.440 Verglichen mit den anderen deutschen Fraktionen und Gruppen sticht diejenige der Jahre 1920–1922 durch ihre Uneinigkeit und geringe Redneranzahl vor dem Plenum aus. Zwar beteiligte sich jeder Abgeordnete an mehr als der Hälfte der insgesamt 76 namentlichen Abstimmungen – die Beteiligung lag insgesamt bei 64 % –, doch waren Wortmeldungen vor dem Parlament rar. Spickermann sprach sechs-, Hasbach drei- und Karl Daczko, Friese sowie Albrecht Lüdecke je einmal. Ernst Barczewski, Gustav Heike und Johann Splett meldeten sich nie zu Wort. Mit Sicherheit spielten mangelnde Kenntnisse des Polnischen bei den 1920 nachgewählten Abgeordneten eine Rolle. Hasbach, Daczko und Lüdecke waren des Polnischen mindestens so gut mächtig, dass es ihnen möglich war, vorgefertigte Schriftstücke vorzutragen. Barczewski, der als Pastor im masurischen Soldau tätig war, beherrschte die Sprache ebenfalls. Splett hingegen wurde aufgrund eines nicht bestandenen Polnisch-Tests von der Wahlfähigkeit bei der Kommunalwahl im Dezember 1921 ausgeschlossen.441 Die Zeit vom 8. Juni 1920 bis zum Ausschluss Frieses aus der Gruppe am 27. Januar 1922, auf den noch eingegangen wird, war die einzige in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus im Polen der Zwischenkriegszeit, in der die Abgeordneten in der Mehrzahl der namentlichen Abstimmungen, nämlich in 21 Fällen, uneinheitlich abstimmten. 17-mal wurde einheitlich votiert, fünfmal waren alle Abgeordneten abwesend. Ausschlaggebend für diese Uneinheitlichkeit waren ausnahmslos Meinungsverschiedenheiten zwischen Friese und Spickermann einerseits und den Parlamentariern aus Pommerellen andererseits, beispielsweise in der Frage, ob ein Senat als parlamentarisches Oberhaus errichtet werden sollte, wofür sich die Deputierten aus Pommerellen einsetzten.442 Die Probleme der Gruppe blieben nicht verborgen: Am 16. August 1921 fand in der deutschen Botschaft in Warschau ein erstes allpolnisches Treffen von 36 Repräsentanten der deutschen Volksgruppe statt. Ein Thema dieser Konferenz war die Passivität der Parlamentariergruppe. Eine Änderung trat jedoch nicht ein, zumal sich auch die außerparlamentarischen Vertreter der Deutschen aus den ehemaligen Reichsgebieten und aus Mittelpolen misstrauten.443 Vielmehr

440 441 442 443

gungsrates] (01. 07. 1920), in: DzURP 53 (1920), poz. 327. Verfassungsgebender Sejm, 166. Sitzung (24. 07. 1920), 167. Sitzung (24. 09. 1920). Tomaszewska, Aneksy, S. 282. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 398. Tomaszewska, Aneksy, S. 287, behauptet falsch, es hätte keinen Vorsitzenden gegeben. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 25, 42. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 46f. Chu, Minority, S. 73f.

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schloss die Gruppe am 27. Januar 1922 Friese gegen dessen Willen aus. Dieser Schritt dürfte für die anderen Abgeordneten der Gruppe einmal die Konsequenz aus dem schon länger schwelenden Gegensatz gewesen sein. Bei Friese, dem Wankelmütigkeit vorgeworfen worden war, spielte auch dessen propolnische Haltung in der evangelisch-augsburgischen Kirche eine Rolle. Ein anschließender Versuch Frieses, sich der neuen DAP anzuschließen, scheiterte. Er spielte politisch nach 1922 keine Rolle mehr.444 Während Friese nun ungebunden stimmte, passte Spickermann sein Abstimmungsverhalten an die anderen sechs – mit einer Ausnahme –445 an. Diese Verhaltensänderung Spickermanns prägte auch das Gesamtbild: Bei namentlichen Abstimmungen nach dem 27. Januar 1922 stimmte die deutsche Gruppe – ohne Berücksichtigung Frieses – in 26 Fällen einheitlich und nur in zwei Fällen uneinheitlich ab.446 In der Legislaturperiode 1919–1922 ergingen dreimal gegen deutsche Abgeordnete Anträge durch die polnische Justiz auf Aufhebung der Immunität. Im ersten Fall sollte Friese aufgrund eines Zeitungsartikels vor Gericht unter dem Vorwurf der Aufhetzung deutscher gegen polnische Protestanten im Zusammenhang mit einer Kirchenwahl im Jahr 1919 der Prozess gemacht werden. Der Antrag wurde sowohl vom Mandatsprüfungsausschuss als auch vom Plenum einhellig am 21. Januar 1921 abgelehnt. Der Referent des Ausschusses, Stanisław Majewski (ND), ordnete Frieses Artikel als legitime Interessenvertretung der deutschen Protestanten ein und verwies auf die historische Toleranz Polens in kirchlichen Angelegenheiten.447 Umstrittener waren hingegen zwei Anträge auf Aufhebung der Immunität Spletts und Daczkos. Splett wurde der Vorwurf gemacht, auf einer Versammlung in Neustadt/Westpr. im Februar 1921 zum Widerstand gegen Beamte aus anderen Teilen Polens aufgerufen zu haben. Gegen Daczko wurde vorgebracht, auf einer Versammlung in Wirsitz im April 1921 die herrschenden administrativen Zustände in Polen mit den Worten »lieber unter russischer Herrschaft als unter polnischer« kritisiert zu haben. In beiden Fällen entschieden sich Mandatsprüfungsausschuss und Sejm gegen eine Aufhebung der Immunität, obwohl der

444 Hauser, Przedstawiciele, S. 68, 80f. Es kursieren andere Daten über den Ausschluss Frieses. Balling, Handbuch, S. 205 und Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 398, nennen den 29. Januar 1922. Balling, Handbuch, S. 182, 191, nennt – sich widersprechend – auch den 22. Januar 1922. 445 Verfassungsgebender Sejm, 329. Sitzung (25. 07. 1922), Anhang, S. 1–3. Dabei stimmten Friese und Spickermann für das Recht des Wojewoden, eins der sechs Mitglieder in jedem Kreiswahlausschuss seiner Wojewodschaft bestimmten zu dürfen. 446 Bei fünf Abstimmungen fehlten alle deutschen Abgeordneten. 447 Verfassungsgebender Sejm, 201. Sitzung (21. 01. 1921), S. 9–11. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 28.

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Referent des Ausschusses, Alojzy S´winiarski (National-Christliche Arbeiterfraktion), beide Vorgänge dem Grunde nach für strafbar hielt.448 Wie in dieser ersten Legislaturperiode kaum anders zu erwarten, kooperierte die deutsche Gruppe 1919–1922 am stärksten mit der jüdischen, mit der die größte programmatische Schnittmenge bestand. Mehr noch als die deutsche hatte die jüdische Gruppe unter gegen sie gerichtete Äußerungen zu leiden. NDAbgeordnete, wie der Jesuit Kazimierz Lutosławski, propagierten offen Antisemitismus und Judenfeindlichkeit im Sejm.449 Nachdem durch den Eintritt der deutschen Abgeordneten aus Pommerellen 1920 die Zahl der deutschen und jüdischen Parlamentarier auf insgesamt 19 angewachsen war, überschritten beide Gruppen zusammengerechnet die Untergrenze von 15 Abgeordneten für Anträge, was die Arbeitsmöglichkeiten im Sejm etwas verbesserte. Zu den weiteren Kooperationspartnern gehörte die PPS-Fraktion, da diese, wie ihr lettisches Pendant, den Anliegen der Minderheiten mit einer gewissen Offenheit begegneten.450 Mit der 1. Sitzung der I. Legislaturperiode erlangten die 17 deutschen Abgeordneten am 28. November 1922 den später auf elf Abgeordnete abgesenkten Fraktionsstatus und überschritten zudem die für einen Antrag erforderlich Grenze von 15 Abgeordneten.451 Somit war eine immerhin mögliche Vereinigung der auf der gemeinsamen BMN-Liste gewählten Vertreter der Minderheiten nicht nötig. Dies zeigt erneut, dass der BMN lediglich Mittel zum Zweck war, möglichst viele Minderheitenvertreter in den Sejm zu bekommen. Ansonsten bestanden ab 1922 viel zu geringe Schnittmengen sowohl bei den inhaltlichen Zielen als auch bei der parlamentarischen Taktik. So konnte die große Mehrheit der jüdischen Vertreter aufgrund der Siedlungsstruktur der Juden als eher städtische Bevölkerungsgruppe kaum anders als politisch auf eine integrative Partizipation am Staat zu setzen, während die Vertreter der geschlossen im Südosten der Republik siedelnden Ukrainer vielfach eine über die Interessenvertretung der ukrainischen Bevölkerung hinausgehendes Engagement in der Republik Polen gar nicht wünschten.452 Die Eigenbezeichnung der Fraktion blieb weiter Klub der deutschen Verei448 Verfassungsgebender Sejm, 277. Sitzung (13. 01. 1922), S. 12–15. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 28f. Hauser, Przedstawiciele, S. 52f. 449 Verfassungsgebender Sejm, 309. Sitzung (16. 05. 1922), S. 26. Korzec, Block 1922, S. 198, 201. 450 Chojnowski, Mniejszos´ci, S. 599. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 31f, 37–40. Jelin´ski, Polityka, S. 83–91. Korzec, Block 1922, S. 198, 206. 451 I. Sejm, 1. Sitzung (28. 11. 1922). Regulamin 1923, S. 15, 37. Tomaszewska, Aneksy, S. 327, nennt falsch nur 16 deutsche Abgeordnete. 452 Rudnicki, Z˙ydzi, S. 158f. 1928–1930 waren die ukrainischen Abgeordneten mehrheitlich stärker auf eine Integration in den polnischen Staat ausgerichtet, vgl. Szumiło, Ukrain´ska Reprezentacja, S. 43–138.

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nigung. Zum Vorsitzenden wählten die Abgeordneten Eugen Naumann, zu stellvertretenden Vorsitzenden Joseph Klinke, Spickermann und August Utta sowie zum Sekretär Daczko.453 Die Häufigkeit an Wortmeldungen nahm, verglichen mit der vorangegangenen dritten Phase während des Verfassungsgebenden Sejm, wieder deutlich zu. Allerdings waren die 83 Wortmeldungen vor dem Plenum ausgesprochen ungleich verteilt: Die Sozialdemokraten Utta und Artur Kronig leisteten mit 24 und 15 zu zweit fast die Hälfte der Beiträge. Eine kleine Gruppe, bestehend aus Jakob Karau, Robert Piesch, Otto Somschor und Emil Zerbe, bildete mit 5–10 Wortmeldungen das Mittelfeld, die restlichen Abgeordneten hielten drei oder weniger, Klinke und Berthold Moritz sogar gar keine Reden. Die Beteiligung bei namentlichen Abstimmungen sank auf 54 % und unterlag anders als 1920–1922 einer erheblichen Spreizung. Vier Abgeordnete nahmen an mehr als zwei Drittel aller Voten teil, allen voran Klinke mit 242 von 298, gefolgt von Karau mit 228, Naumann mit 212 und Daczko mit 207 Teilnahmen. Es folgt ein großes Mittelfeld, Schlusslicht waren Kurt Graebe, Artur Pankratz und Piesch mit 86, 89 und 91 Teilnahmen, also an weniger als einem Drittel der Abstimmungen. Graebe, Moritz und Pankratz beteiligten sich auch nicht an der Arbeit in Ausschüssen, während Kronig, Somschor, Spickermann, Wlodasch und Zerbe in je zwei Ausschüssen Mitglied waren, Daczko sogar in drei Ausschüssen.454 Wie schon bei den Wortmeldungen zeigt auch die Analyse der Sitzverteilung in den Ausschüssen, dass die Abgeordneten aus Kongresspolen und Wolhynien überproportional häufig zum Einsatz kamen: Diese sechs Parlamentarier stellten zehn (1,7 Ausschüsse pro Deputierter), die elf aus Pommerellen, Posen und Schlesien dagegen genau elf Ausschussmitglieder. Bei Letzteren kompensierte das höhere Engagement Daczkos und Wlodaschs die Passivität Graebes, Moritz’ und Pankratz’. Bei mindestens 224 von 298 namentlichen Abstimmungen votierte die Fraktion geschlossen (75 %), in 63 Fällen ergaben sich abweichende Voten (21 %), bei zwölf Abstimmungen nahmen entweder alle Fraktionsmitglieder nicht teil oder die Daten sind unvollständig. Die abweichenden Voten folgten nahezu keinem Muster. Lediglich beim Landreform- und Siedlungsgesetz von 1925, das allein in der zweiten Lesung aufgrund von 611 Änderungsanträgen455 453 Rzepeccy, Sejm i Senat 1922–1927, S. 237, 474. 454 Stolin´ski, Niemcy, S. 29. 455 Vgl. dazu Poprawki do przedłoz˙onego przez Komisje˛ Reform Rolnych projektu ustawy o parcelacji i osadnictwie [Änderungsanträge zum durch den Landreformausschuss eingebrachten Entwurf des Landreform- und Siedlungsgesetzes] (1925), in: Sejm RP, okres I, Druk Nr 2045. Insgesamt wurden bei der Nummerierung der Änderungsanträge 603 Ziffern vergeben, wobei allerdings neun Ziffern, wie 287 und 287a, doppelt vergeben worden waren, während gleichzeitig Ziffer 555 nicht vergeben worden war.

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84 namentliche Abstimmungen erforderte,456 lassen sich einige Gegensätze zwischen den sozialdemokratischen Abgeordneten Kronig, Pankratz und Zerbe sowie dem früheren Sozialdemokraten Utta einerseits und dem Rest der Fraktion andererseits feststellen. Diese waren allerdings punktueller und nicht fundamentaler Natur, da bei der Schlussabstimmung am 20. Juli 1925 alle 14 von 17 teilnehmenden deutschen Abgeordneten, darunter auch Kronig, Pankratz und Utta, gegen das Gesetz stimmten.457 Wie bereits 1919–1922 blieb der Plenarsaal des Sejm weiterhin im ehemaligen Alexander-Maria-Institut, wobei dieser sich als ungeeignet erwies, weshalb im Laufe der Legislaturperiode mit einem Anbau begonnen wurde. Alle 17 deutschen Abgeordneten mussten in der dritten von 20 Reihen von links zwischen den Abgeordneten der PPS- und der jüdischen Fraktion hintereinander Platz nehmen. Zusätzlich zu dieser ungünstigen Anordnung war diese Reihe eine mit Säulen, so dass hinter jedem dritten deutschen Abgeordnete eine Säule abtrennte (Abb. 12–13). Wie schon 1921–1922 kam es zu Anträgen, die Immunität deutscher Abgeordneter aufheben zu lassen. Der erste derartige Antrag wurde gegen Naumann durch die ND-Fraktion noch 1922 gestellt. Der Mandatsprüfungsausschuss beantragte deshalb am 19. März 1924 die Aufhebung der Immunität Naumanns mit dem Zweck der Überprüfung seiner polnischen Staatsangehörigkeit durch das Bezirksgericht Bromberg. Jan Marweg (ND) stellte dabei als Referent vor dem Sejm fest, dass nach der Meinung des Ausschusses Naumann deutscher Staatsangehöriger wäre. Eine Gegenrede erreichte zwar, dass aufgrund der unklaren Mehrheitsverhältnisse beim Aufstehen eine Abstimmung durch Durchschreiten der Türen – dem »Hammelsprung« – erforderlich wurde, doch ging diese mit 151 zu 132 Stimmen zu Gunsten einer Aufhebung der Immunität Naumanns aus. Allerdings blieb er vorläufig weiter Abgeordneter. Die gegen Naumann erhobenen Vorwürfe bestätigten sich später nicht.458 In drei anderen Fällen bestätigte der Sejm die Immunität deutscher Abgeordneter, so im Falle Somschors, gegen den der Vorwurf erhoben worden war, 1922 zur Nichterfüllung des Wehrdienstes aufgerufen zu haben.459 Am 18. Dezember 1924 verweigerte sich der Sejm einem Antrag des Justizministers auf Aufhebung der Immunität Graebes wegen Siegelbruchs im Zusammenhang mit gesperrten Räumen des deutschen Schulvereins und des DV in Bromberg. Trotz einer Gegenrede Marwegs schloss sich das Plenum der Sichtweise der Mehrheit des Mandatsprüfungsausschusses an und bestätigte die Immunität. Im Falle 456 Vgl. die Anhänge zu I. Sejm, 231. Sitzung (10. 07. 1925), 232. Sitzung (11. 07. 1925), 233. Sitzung (13. 07. 1925), 234. Sitzung (14. 07. 1925), 235. Sitzung (15. 07. 1925). 457 I. Sejm, 239. Sitzung (20. 07. 1925), S. 29f. 458 I. Sejm, 112. Sitzung (19. 03. 1924), S. 45–52. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 87–90. 459 I. Sejm, 31. Sitzung (24. 03. 1923), S. 55f. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 90f.

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Pankratz’, dem der Straftatbestand der Gewaltdarstellung auf einer Versammlung vorgeworfen worden war, sprach mit Kronig ein Fraktionskollege im Namen des Mandatsprüfungsausschusses auf derselben Sitzung am 18. Dezember 1924 zugunsten Pankratz’, worauf dessen Immunität vom Sejm ebenfalls bestätigt wurde.460 Die Verfassungsänderung des Sanacja-Regimes von 1926, die im Vorfeld von den Fraktionen der Minderheiten abgelehnt worden war, führte zu einer Begrenzung der Sitzungsperioden des Sejm auf fünf Monate im Jahr, was sich bereits 1926–1927 stark auswirkte. Nachdem der Sejm schon vom 30. September bis zum 13. November 1926 suspendiert gewesen war,461 schloss die Regierung Piłsudski am 25. März 1927 die Sitzungsperiode.462 Die nächste Sitzungsperiode begann am 20. Juni 1927.463 Am 20. September 1927 wurde der Sejm durch Piłsudski für 30 Tage und nochmalig am 3. November bis zum 28. November 1927 unter zahlreichen Protestrufen suspendiert.464 Am 28. November 1927 wurde der Sejm schließlich durch Staatspräsident Ignacy Mos´cicki ganz aufgelöst. Die nächste Sitzung fand daher erst nach der II. Wahl, nämlich am 27. März 1928, statt (Abb. 18).465 Damit hatte die Sanacja von März 1927 bis März 1928 durch Beendigung der Sitzungsperiode, Suspension oder Nichteinberufung für insgesamt neun Monate die parlamentarische Arbeit blockiert. In der II. Legislaturperiode des Sejm von 1928–1930 bestand die deutsche Fraktion aus 19 Abgeordneten unter dem neuen Namen »Deutscher parlamentarischer Klub« (Niemiecki Klub Parlamentarny). Fraktionsvorsitzender blieb Eugen Naumann, zu stellvertretenden Vorsitzenden wurden Eugen Franz und August Utta, zum Sekretär Kurt Graebe gewählt.466 Letzterer delegierte seine Aufgabe zeitweilig an Julian Will.467 Dazu kamen mit Kronig und Zerbe die beiden Parlamentarier der deutschen sozialistischen Gruppe, die keinen Vorsitzenden hatte. Sie nahm den Namen »Fraktion der deutschen sozialistischen Abgeordneten« (Frakcja Niemieckich Posłjw Socjalistycznych) an. Da seit 1922 die Möglichkeit zur technischen Fraktionsbildung bestand, d. h. zur temporären Vereinigung von Gruppen, die die Fraktionsbildungsgrenze von elf Abgeord-

460 I. Sejm, 172. Sitzung (18. 12. 1924), S. 13–18, 41–43. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 91–94. 461 I. Sejm, 305. Sitzung (30. 09. 1926); 306. Sitzung (13. 11. 1926). Ajnenkiel, Historia, S. 125. Polonsky, Politics, S. 182f. 462 I. Sejm, 328. Sitzung (25. 03. 1927), S. 61f. 463 I. Sejm, 329. Sitzung (20. 06. 1927). 464 I. Sejm, 339. Sitzung (20. 09. 1927), S. 4; 340. Sitzung (03. 11. 1927), S. 6. 465 II. Sejm, 1. Sitzung (27. 03. 1928). 466 Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933, S. 214f. 467 Kurt Graebe an Julian Will (05. 01. 1929), in: APB, zesp. 2448, 217.

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neten unterschritten, konnten sich auch die beiden Sozialisten an Ausschüssen beteiligen.468 Mit insgesamt 34 Wortmeldungen auf den 86 Sitzungen erreichte die Redetätigkeit einen neuen Höhepunkt. Wird nach Fraktion und sozialistischer Gruppe differenziert, so entfielen auf die Fraktion 27 Reden und auf die Gruppe sieben, davon vier auf Zerbe und drei auf Kronig. Somit war die sozialistische Gruppe der Jahre 1928–1930 im Parlamentarismus Polens der Zwischenkriegszeit diejenige deutsche Fraktion oder Gruppe mit den häufigsten Wortmeldungen. Aber auch die Zahl von 27 Reden der Fraktion übertraf denjenigen der vorangegangenen Legislaturperiode. Erneut waren die Redeanteile allerdings sehr ungleich verteilt: Utta hielt allein 13 der 27 Reden, ihm folgten Robert Piesch und Wilhelm Spitzer mit je drei Reden. Sechs Abgeordnete hielten eine oder zwei Reden, während zehn nie vor dem Sejm sprachen. Die Beteiligung an den nur 19 namentlichen Abstimmungen sank auf insgesamt 38 %. Differenziert lag die Teilnahme der Fraktion bei 34 %, die der sozialistischen Gruppe dagegen bei 74 %, da Kronig und Zerbe bei je 14 Abstimmungen anwesend waren. Die beiden Sozialisten stimmten auch stets einheitlich ab. Bei den Abgeordneten der Fraktion nahm Anton Tatulinski in 14, Utta in zwölf sowie Lang und Will an zehn Abstimmungen teil. Bei den übrigen Fraktionsmitgliedern blieb die Teilnahme bei weniger als der Hälfte, Koerber nahm an keiner teil. 13-mal stimmte die Fraktion geschlossen, vier Mal gar nicht, je einmal stimmten Utta und Tatulinski gegen die Mehrheitsmeinung der Fraktion. Die Fraktion stellte 22 Anfragen und acht Anträge, die sozialistische Gruppe drei Anfragen und zwei Anträge.469 1928 hätte die deutsche Fraktion aufgrund ihrer Stärke auch erstmalig das Anrecht auf die Stellung eines Ausschussvorsitzenden gehabt, und zwar konkret auf den Vorsitz des Verkehrsausschusses. Allerdings verzichtete sie mangels geeignetem Personal darauf, wohingegen die beiden anderen Fraktionen der Minderheiten dieses Recht wahrnahmen. Der Vorsitz des Verkehrsausschusses ging stattdessen an einen Abgeordneten des BBWR.470 Im zwischenzeitlich fertiggestellten, halbrunden neuen Plenarsaal nahmen die 19 Abgeordneten – im Gegensatz zu 1922–1927 – fast ganz rechts zwischen der nationalen und der jüdischen Fraktion Platz. Mit Ausnahme des vordersten Sitzes saßen die 19 Parlamentarier der deutschen Fraktion nun immer zu zweit hintereinander. Die Spaltung der deutschen Parlamentarier in Fraktion und sozialistische Gruppe zeigte sich in der Sitzordnung besonders deutlich: Die 468 Regulamin 1925, S. 38. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 398. Tomaszewska, Aneksy, S. 330. Dies., S. 330, nennt falsch sechs deutsche sozialistische Abgeordnete. 469 Tomaszewska, Aneksy, S. 340. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 286. 470 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 248f. Tomaszewska, Aneksy, S. 319–321.

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beiden Sozialisten Kronig und Zerbe saßen genau gegenüber links außen in der PPS-Fraktion (Abb. 17).471 Über das Verhältnis der sozialistischen Gruppe zur Fraktion bemerkte Graebe 1929 in einem Brief an den Generalsekretär des Deutschen Auslands-Instituts in Stuttgart, dass beide das Ziel der Kulturautonomie aufgegeben hätten und generell gegen die deutsche Fraktion eingestellt wären. Sie hätten sich zudem »vom Deutschtum abgewandt« und wären teilweise auch privat zum Gebrauch des Polnischen übergegangen.472 Diese Bemerkungen Graebes waren teilweise polemisch und übertrieben. Gerade die Kulturautonomie hatte im PPS-DSAPProgramm von 1928 einen wichtigen Platz eingenommen – worauf später noch eingegangen wird. Bei Zerbe dürfte die Identifikation mit der deutschen Nationalität geringer ausgeprägt gewesen sein,473 dennoch ist von ihm bekannt, dass er noch 1946 bei der Beerdigung eines Genossen öffentlich die deutsche Sprache benutzte.474 Mit Sicherheit trug die Existenz der sozialistischen Gruppe, die aus Lodzer Deutschen bestand, nicht zu einer Vertiefung des Verhältnisses der Deutschen Mittelpolens zu denen aus den westlichen Wojewodschaften bei. Interessant ist der Sprachgebrauch Kronigs und Zerbes 1928–1930: Beide wechselten zwischen Reden, die stark mit sozialistischen Floskeln gestückt waren,475 und solchen, in denen sie in Nationalitätenfragen Probleme der Deutschen erörterten, hin und her. In letzteren Beiträgen wurde auf klassenkämpferische Rhetorik weitgehend verzichtet.476 1928–1930 zog die SanacjaHerrschaft die Pausen zwischen den Sitzungsperioden immer weiter in die Länge, so zunächst vom 19. Juni bis zum 31. Oktober 1928, später vom 25. März bis zum 5. Dezember 1929 und erneut ab dem 29. März 1930.477 Am 30. August 1930 erfolgte die bereits erwähnte Auflösung des II. Sejm durch Präsident Mos´cicki. Der aus fünf Abgeordneten bestehenden deutschen Gruppe der III. Legislaturperiode 1930–1935, die weiter die seit 1928 übliche Eigenbezeichnung Deutscher parlamentarischer Klub verwandte, stand Eugen Franz vor. Von der auf 30 verdoppelten Grenze für Anträge war die deutsche Gruppe nun sehr weit entfernt, eine Beteiligung an Ausschüssen erlaubte die bereits durch die deut-

471 Vgl. Ajnenkiel, Historia, S. 161. 472 Kurt Graebe an den Generalsekretär des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart, Fritz Wertheimer (08. 08. 1929), in: APB, zesp. 2448, 24, S. 4–7, Zitat auf S. 5. 473 Blachetta-Madajczyk, Klassenkampf, S. 290. 474 Heike, Arbeiterbewegung, S. 121. 475 Vgl. dazu II. Sejm, 19. Sitzung (08. 06. 1928), S. 29–32; 39. Sitzung (22. 01. 1929), S. 30–32. 476 Vgl. dazu II. Sejm, 47. Sitzung (07. 02. 1929), S. 21–25; 75. Sitzung (07. 02. 1930), S. 24–26, 90f. 477 II. Sejm, 25. Sitzung (19. 06. 1928); 26. Sitzung (31. 10. 1928); 61. Sitzung (25. 03. 1929); 62. Sitzung (05. 12. 1929); 86. Sitzung (29. 03. 1930).

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schen Sozialisten 1928 angewandte technische Fraktionsbildung.478 Trotz der widrigen politischen Situation war diese Legislaturperiode mit 23 Reden diejenige, in denen deutsche Parlamentarier, gerechnet auf ihre Anzahl, am häufigsten vor dem Parlament auftraten. Die Verteilung war erneut disparat: Bernhard Jankowski sprach neun-, Franz sechs- und Johannes Rosumek sowie Berndt v. Saenger je viermal. Graebe meldete sich dagegen neuerlich nie zu Wort. Die Redefreudigkeit ist deshalb überraschend, weil in der vorangegangenen Legislaturperiode lediglich Saenger mit zwei und Rosumek mit einer Wortmeldung überhaupt vor dem Plenum gesprochen hatten. Im Bereich der Reden führte die Tatsache, dass die deutsche Gruppe aus Abgeordneten bestand, die 1928–1930 eher passiv waren, also nicht zu Inaktivität. Vielmehr füllten die Abgeordneten die entstandene Lücke so gut es möglich war, wobei aufgrund der regionalen Herkunft die Erörterung von Problemen Oberschlesiens einen wichtigen Rang einnahm.479 Zehn Mal nutzte das Regime den Abschluss von Sitzungsperioden oder Suspendierungen zur zeitweiligen Ausschaltung des Parlaments, nämlich vom 21. März bis zum 23. April 1931, vom 28. April bis zum 1. Oktober 1931, vom 7. November bis zum 10. Dezember 1931, vom 18. März bis zum 3. November 1932, vom 3. November bis zum 6. Dezember 1932, vom 29. März bis zum 3. November 1933, vom 3. November bis zum 11. Dezember 1933, vom 13. März bis zum 6. November 1934, vom 6. November bis zum 11. Dezember 1934 und schließlich vom 28. März bis zum 6. Juni 1935.480 Unter Zurechnung einer jährlichen Weihnachts- und Neujahrspause von etwa einem Monat tagte der III. Sejm zwischen der ersten Sitzung am 9. Dezember 1930 und der 148. Sitzung am 28. Juni 1935481 in etwa drei Fünftel der Zeit nicht regelmäßig. Aufgrund des zunehmend zur Farce verkommenen Parlamentarismus und den geringen Einflussmöglichkeiten behielten die fünf deutschen Abgeordneten, die schon 1928–1930 zu den weniger Aktiven gehört hatten, im Bereich der Beteiligung an den insgesamt 26 namentlichen Abstimmungen der Legislaturperiode ihre Passivität dagegen nicht nur bei, sondern blieben sogar im Schnitt noch mehr abstinent: Die Beteiligung sank auf 15 %, bei 17 der 26 Abstimmungen war überhaupt kein deutscher Abgeordneter zugegen. Der aktivste 478 Regulamin 1930, S. 39. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 398. Tomaszewska, Aneksy, S. 331. 479 III. Sejm, 11. Sitzung (07. 02. 1931), S. 82–84; 79. Sitzung (04. 02. 1933), S. 26; 88. Sitzung (16. 02. 1933), S. 61; 112. Sitzung (07. 02. 1934), S. 28–30. 480 III. Sejm, 25. Sitzung (21. 03. 1931), S. 34; 26. Sitzung (23. 04. 1931), S. 3; 28. Sitzung (28. 04. 1931); 29. Sitzung (01. 10. 1931), S. 3; 38. Sitzung (07. 11. 1931); 39. Sitzung (10. 12. 1931), S. 3; 69. Sitzung (18. 03. 1932), S. 21; 70. Sitzung (03. 11. 1932), S. 3; 71. Sitzung (06. 12. 1932), S. 1; 102. Sitzung (29. 03. 1933), S. 30; 103. Sitzung (03. 11. 1933), S. 3; 104. Sitzung (11. 12. 1933), S. 3; 123. Sitzung (12. 03. 1934); 124. Sitzung (06. 11. 1934), S. 1; 125. Sitzung (11. 12. 1934), S. 1; 143. Sitzung (28. 03. 1935), S. 6; 144. Sitzung (08. 06. 1935). 481 III. Sejm, 1. Sitzung (09. 12. 1930); 148. Sitzung (28. 06. 1935).

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Abgeordnete war noch Jankowski mit acht Beteiligungen, wohingegen Saenger nie votierte. In den sechs Fällen, in denen mehr als ein Parlamentarier abstimmte, wurde einheitlich abgestimmt. Nach der Statistik Tomaszewskas stellte die deutsche Gruppe auch keine Anfragen mehr und nur zwei Anträge.482 Das Auftreten der deutschen Gruppen und Fraktionen war 1919–1935 weitgehend diszipliniert und keineswegs destruktiv. Als Vergleichsmaßstab lässt sich die ukrainische – ab 1928 ukrainisch-weißrussische – Fraktion heranziehen: Deren Abgeordnete hatten 1922 keinen Kandidaten für den Parlamentsvorstand nominiert und versuchten in Einzelfällen, den Amtseid auf Ukrainisch abzugeben483 oder vor dem Sejm Ukrainisch zu sprechen.484 Dagegen leisteten die 17 (1922), 21 (1928) und fünf (1930) deutschen Abgeordneten stets ohne Störung die Amtseide auf Polnisch.485 Aufgrund der Tatsache, dass im Deutschen Reichstag Polnisch niemals Parlamentssprache gewesen war, traten die deutschen Abgeordneten auch in der Sprachenfrage behutsam auf. So überrascht es nicht, dass ein Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung des Sejm mit dem Ziel, dass es »den Abgeordneten nichtpolnischer Nationalität frei stünde, sich in Wort und Schrift der Sprache ihrer Nationalität zu bedienen«486 am 21. Dezember 1929 nicht etwa durch einen deutschen, sondern einen ukrainischen Abgeordneten, nämlich Volodymyr Zahajkevycˇ, den Vizemarschall des Sejm, in polnischer Sprache eingebracht wurde. Diesen Antrag stellte Zahajkevycˇ selbstverständlich im Namen aller Vertreter der nationalen Minderheiten. Er blieb ohne Erfolg.487 Demnach stellte die Zitation eines Artikels der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« durch Rosumek am 11. Februar 1931 im Zusammenhang mit dem Aufbau des polnischen Minderheitenschulwesens im Kreis Flatow eine absolute Ausnahme dar.488 Ein weiteres Mittel des Protests, dem sich die deutschen Abgeordneten im Sejm wenig bedienten, war der kollektive Auszug aus dem Parlament. Die ukrainischen und weißrussischen Parlamentarier zogen dagegen am 15. und 17. Juli 1925 zweimal bei den Lesungen des Landreformgesetzes demonstrativ 482 Tomaszewska, Aneksy, S. 341. 483 I. Sejm, 1. Sitzung (28. 11. 1922), S. 6, 16; 4. Sitzung (14. 12. 1922), S. 4; II. Sejm, 1. Sitzung (27. 03. 1928), S. 7. 484 I. Sejm, 6. Sitzung (16. 01. 1923), S. 18; 146. Sitzung (09. 07. 1924), S. 47f. II. Sejm, 5. Sitzung (31. 03. 1928), S. 5. 485 I. Sejm, 1. Sitzung (28. 11. 1922), S. 5–15; 2. Sitzung (01. 12. 1922), S. 5, 8; 3. Sitzung (02. 12. 1922), S. 2; 6. Sitzung (16. 01. 1923), S. 9; II. Sejm, 1. Sitzung (27. 03. 1928), S. 9–22; 3. Sitzung (29. 03. 1928), S. 2; III. Sejm, 1. Sitzung (09. 12. 1930), S. 5–7; 3. Sitzung (16. 12. 1930), S. 7. 486 II. Sejm, 65. Sitzung (21. 12. 1929), S. 14. Wortlaut des Zitats im Original: »Posłom niepolskiej narodowos´ci wolno posługiwac´ sie˛ w mowie i pis´mie je˛zykiem ich narodowos´ci.« 487 II. Sejm, 65. Sitzung (21. 12. 1929), S. 34f. Wertheimer, Parteien 1930, S. 120. 488 III. Sejm, 14. Sitzung (11. 02. 1931), S. 16.

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aus dem Sejm aus.489 Trotz der unterschiedlichen parlamentarischen Vorgehensweisen gab es zwischen den deutschen und den ostslawischen Abgeordneten durchaus Empathie. Dies zeigte sich beispielsweise am 14. Dezember 1925: Nachdem Zwischenrufer – wie so oft – wiederholt eine Rede Artur Kronigs mit Äußerungen zur deutschen Polenpolitik unterbrochen hatten, machte Serhij Chruc’kyj mit einem eigenen Zwischenruf empört darauf aufmerksam, dass Kronig »nicht der Botschafter Deutschlands ist, […]. Das ist ein polnischer Bürger.«490

3.3.2 Vertretung im Parlamentsvorstand Während der Legislaturperiode des Verfassungsgebenden Sejm 1919–1922 war die deutsche Parlamentariergruppe mit ihren zwei, später acht Mitgliedern nicht im Parlamentsvorstand vertreten. Die Entsendung eines Vertreters war den Fraktionen vorbehalten, für deren Bildung – wie genannt – zwölf Parlamentarier erforderlich waren.491 In der I. Legislaturperiode wurde der 25-jährige Emil Zerbe als zweitjüngster Abgeordneter gleich zu Beginn der ersten Sitzung am 28. November 1922 in den vorläufigen Parlamentsvorstand unter Altersmarschall Kazimierz Brownsford berufen. Zu seinen Aufgaben gehörten während der ersten drei Sitzungen die Verlesung von Anfragen und die Vereidigung der Parlamentarier, darunter auch der anderen 16 Mitglieder der deutschen Fraktion.492 1922 stand der deutschen Fraktion erstmalig das Recht zur Nominierung eines Vertreters im Parlamentsvorstand zu. Nominiert wurde August Utta. Dieser wurde nach der Wahl des Sejmmarschalls und den fünf Vizemarschällen als einer von acht Sekretären des Parlaments am 2. Dezember 1922 per Akklamation gewählt.493 Utta trat als Sekretär 1922–1927 vor dem Plenum insgesamt 18 Mal in Erscheinung, sowohl zur Verlesung von Anfragen als auch assistierend bei der Lesung von Gesetzen. Noch bei der 340. und schließlich letzten Sitzung der Legislaturperiode am 3. November 1927 vereidigte Utta einen neuen Abgeordneten auf die Republik Polen, ehe der Stellvertretende Ministerpräsident Kazimierz Bartel mittels einer neuerlichen Ermächtigung Mos´cickis und 489 I. Sejm, 235. Sitzung (15. 07. 1925), S. 4, 237. Sitzung (17. 07. 1925), S. 29. 490 I. Sejm, 260. Sitzung (14. 12. 1925), S. 37. Wortlaut des Zitats im Original: »To nie ambasador niemiecki, […] To jest obywatel polski.« 491 Verfassungsgebender Sejm, 2. Sitzung (14. 02. 1919), S. 30, 34. 492 I. Sejm, 1. Sitzung (28. 11. 1922), S. 4–16; 2. Sitzung (01. 12. 1922), S. 2–8, 15f; 3. Sitzung (02. 12. 1922), S. 2, 4f. 493 I. Sejm, 3. Sitzung (02. 12. 1922), S. 3f.

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Piłsudskis das Parlament vertagen ließ.494 Die 18 Auftritte als Sekretär des Sejm untermauerten die ohnehin bereits durch die 24 Reden errungene Position Uttas als deutscher Abgeordneter, der vor dem Plenum am häufigsten auftrat. Trotz der enormen Rolle Uttas in der I. Sejm-Legislaturperiode und seines Wechsels von den Sozialdemokraten zum DVV schied er bei der Konstituierung des II. Sejm aus seinem Amt aus. Zu seinem Nachfolger bestimmte die neue deutsche Fraktion im März 1928 Josef Karau. Bei der Sitzung am 28. März 1928 musste bei zehn Kandidaten erstmalig auch über alle neun zu wählenden Parlamentssekretäre einzeln abgestimmt werden. Karau erhielt bei 62 Nein-Stimmen und 131 Enthaltungen oder ungültigen Stimmen 207 Ja-Stimmen, was den 9. und letzten zu vergebenden Platz bedeutete.495 In seiner zweijährigen Amtszeit kam Karau mit insgesamt 15 Auftritten – mit den Aufgaben Verlesungen von Anfragen, Anträgen, Gesetzentwürfen und der Vereidigung neuer Abgeordneter – wesentlich häufiger als 1922–1927 Utta zum Einsatz, darunter wiederum letztmalig bei der 86. und letzten Sitzung der Legislaturperiode am 29. März 1930.496 Bei der Wahl des Sejmmarschalls hatte die deutsche Fraktion gemeinsam mit den anderen Minderheiten, der PPS und anderen polnischen Fraktionen einen Tag vor der Wahl Karaus, am 27. März 1928 ein politisches Zeichen gesetzt: Gegen den Kandidaten der neuen Staatspartei BBWR, den Ministerpräsidenten von 1926, Kazimierz Bartel, hatten sie den stellvertretenden Ministerpräsidenten von 1920–1921, Ignacy Daszyn´ski (PPS), als Gegenkandidaten aufgestellt. Dieser konnte sich schon im zweiten Wahlgang mit 206 von 397 Stimmen durchsetzen, worauf einige Regierungsmitglieder und BBWR-Abgeordnete den Plenarsaal verließen.497 Daszyn´ski bemühte sich letztlich erfolglos, einen weiteren Demokratieabbau in Polen zu verhindern. Da die deutsche Parlamentariergruppe 1930–1935 mit fünf Abgeordneten wie schon 1919–1922 den Fraktionsstatus verfehlte, verlor sie auch die Möglichkeit zur Entsendung eines Mitglieds in den Parlamentsvorstand. Obwohl die Tätigkeit Uttas und Karaus 1922–1930 die höchsten Positionen waren, die deutsche Politiker auf gesamtstaatlicher Ebene in der Legislative jemals erreichten und beide ihre Tätigkeit gewissenhaft ausführten, dürfte die integrative Wirkung sehr begrenzt gewesen sein. Allerdings war der deutschen Fraktion die Wahrnehmung des eingeräumten Rechts, einen Sekretär bestimmen zu dürfen, sowohl 1922 als auch 1928 andererseits so wichtig, dass sie es wahrnahm. Hätte die 494 I. Sejm, 340. Sitzung (07. 11. 1927), S. 6. 495 II. Sejm, 2. Sitzung (28. 03. 1928), S. 5. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 248, nennt falsch den 27. März 1928 als Tag der Wahl Karaus. 496 II. Sejm, 86. Sitzung (29. 03. 1930), S. 3. 497 II. Sejm, 1. Sitzung (27. 03. 1928), S. 25. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 249. Friszke, Daszyn´ski, S. 84f.

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Fraktion dem Amt keine Bedeutung beigemessen, hätte sie es, wie die ukrainische Fraktion 1922, ebenso gut boykottieren können.498

3.3.3 Wahl des Staatsoberhaupts Die erste freie Wahl eines Staatsoberhaupts Polens fand am 20. Februar 1919 statt: Die Abgeordneten bestätigten einstimmig Piłsudski ohne Gegenkandidaten in seinem Amt als Staatschef,499 das er bereits seit dem 22. November 1918 ohne demokratische Grundlage ausgeübt hatte. Wolff war bei dieser Abstimmung aufgrund eines Urlaubs abwesend.500 Ob Spickermann zugegen war und für Piłsudski stimmte, ist nicht bekannt, aber wahrscheinlich. Der politische Konsens, der 1919 zwischen dem Belweder-Lager um Piłsudski und der polnischen Rechten um die Nationaldemokratie erzielt worden war, hielt nur bis zum Ende des Polnisch-Sowjetischen Kriegs 1920. Mehr und mehr entfremdeten sich beide Lager, wodurch Polen 1921–1922 in einen politischen Machtkampf geriet, von dem im nachfolgenden Kapitel noch einmal die Rede sein wird. Einen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung markierte ein gemeinsames Misstrauensvotum der drei rechten und konservativen Fraktionen, mit dem Piłsudski am 26. Juli 1922 zum Rücktritt als Staatschef gezwungen werden sollte. Bei dieser Abstimmung stimmte die zu diesem Zeitpunkt siebenköpfige deutsche Gruppe geschlossen gegen das Misstrauensvotum. Der fraktionslose Friese enthielt sich entweder oder stimmte nicht mit. Insgesamt sprach der Sejm Piłsudski mit 206 zu 186 Stimmen das Vertrauen aus.501 Damit war die Auseinandersetzung allerdings nur für wenige Monate vertagt, da das Ende der Amtszeit Piłsudskis als Staatschef nahte. Die Wahl des nun den Titel »Präsidenten« tragenden Staatsoberhaupts erfolgte durch die 555-köpfige Nationalversammlung (Zgromadzenie Narodowe), der Vereinigung aller am 5. und 12. November 1922 gewählten Abgeordneten von Sejm und Senat. In dieser stellten die deutschen Deputierten 22 Mitglieder (4,0 %). Nachdem Piłsudski am 4. Dezember 1922 aufgrund der beschränkten Rechte des Präsidentenamts eine Kandidatur definitiv ausgeschlossen hatte, nominierten die Fraktionen der Minderheiten für den ersten Wahlgang fünf Tage später den Linguisten Jan 498 Tomaszewska, Aneksy, S. 310, 327. 1928–1930 stellte die ukrainisch-weißrussische Fraktion dagegen mit dem bereits genannten Volodymyr Zahajkevycˇ einen der fünf Vizemarschälle. Dies war das höchste Amt, das ein Angehöriger der Minderheiten in der Legislative im Polen der Zwischenkriegszeit erreichte, vgl. Tomaszewska, Aneksy, S. 311. 499 Verfassungsgebender Sejm, 3. Sitzung (20. 02. 1919), S. 56. 500 Verfassungsgebender Sejm, 3. Sitzung (20. 02. 1919), S. 51. Breyer, Rogall, Deutsche im polnischen Staat, S. 386, behaupten falsch, Wolff wäre anwesend gewesen. 501 Verfassungsgebender Sejm, 330. Sitzung (26. 07. 1922), S. 22, Anhang.

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Baudouin de Courtenay – einen minderheitenfreundlichen Polen – als Kandidaten. Dieser wurde mit 103 Stimmen zwar immerhin Drittplatzierter der fünf Kandidaten. Allerdings wurde damit deutlich, dass Baudouin de Courtenay keinerlei Unterstützung über die Abgeordneten der Minderheiten hinaus genoss. Denn die 103 Stimmen entsprachen nicht einmal der Gesamtzahl der Mitglieder der Minderheiten in der Nationalversammlung in Höhe von 116.502 Deshalb unterstütze die große Mehrheit der Minderheitenparlamentarier ab dem zweiten Wahlgang den Kandidaten der linken Bauernpartei PSL-»Wyzwolenie«, Gabriel Narutowicz. Dieser konnte sich im fünften Wahlgang mit 289 Stimmen (56,0 %) gegen den Kandidaten der ND mit den Stimmen aller Bauernparteien durchsetzen.503 Am 16. Dezember 1922, am dritten Tag seiner Amtszeit, wurde Narutowicz von einem polnischen Nationalisten ermordet. Zuvor waren gegen ihn von Seiten der Rechten zahlreiche Schmähbehauptungen in Umlauf gebracht worden, zu denen auch der »Vorwurf« gehörte, von den Minderheiten – insbesondere den Juden – gewählt worden zu sein. Die Ermordung Narutowiczs löste schweres Entsetzen unter den Vertretern der Minderheiten aus.504 Auch bei den nachfolgenden Präsidentschaftswahlen stimmten die Parlamentarier der Minoritäten stets gegen den Kandidaten der Rechten und verhalfen so am 20. Dezember 1922 Stanisław Wojciechowski (PSL-»Piast«), der 298 Stimmen (57,4 %) erhielt, zur Wahl. Nach Wojciechowskis Rücktritt nach dem Mai-Putsch stimmten sie bei der darauffolgenden Präsidentenwahl am 31. Mai 1926 geschlossen für Piłsudski, den Anführer der Putschisten, auf den 292 Stimmen (60,2 %) entfielen. Dieser nahm allerdings die Wahl nicht an, weshalb tags darauf, am 1. Juni 1926, erneut gewählt wurde. Nach Angaben Graebes 502 Breyer, Parlamentarismus, S. 71. Korzec, Block 1922, S. 212–215. Tomaszewska, Aneksy, S. 307. 503 Tomaszewska, Aneksy, S. 307. Breyer, Parlamentarismus, S. 72. I. Sejm, 42. Sitzung (02. 06. 1923), S. 93. 504 Blanke, Orphans, S. 59f. Breyer, Parlamentarismus, S. 71–73. Breyer, Rogall, Deutsche im polnischen Staat, S. 386. Korzec, Block 1922, S. 218. Nałe˛cz, Narutowicz, S. 43–48. Eser, Schulwesen, S. 205, behauptet falsch, Narutowicz wäre der Kandidat der PPS gewesen. Materska-Sosnowska, Poland, S. 1472, datiert die Ermordung Narutowiczs falsch ins Jahr 1921. Die Argumentation der polnischen Rechten, Narutowicz könnte als von Abgeordneten nichtpolnischer Nationalität gewählter Präsident keinerlei Legitimität beanspruchen, ist in der Geschichtsforschung vielfach diskutiert und besprochen worden. Zur Durchsichtigkeit der Argumentation der polnischen Rechten reicht an dieser Stelle der Verweis darauf, dass der Nationaldemokrat Wojciech Tra˛mpczyn´ski am 14. Februar 1919 mit 155 gegen 149 Stimmen, die auf den als Antisemiten bekannten Wincenty Witos (PSL-Piast) entfielen, zum ersten Sejmmarschall gewählt worden war. Zünglein an der Waage zugunsten Tra˛mpczyn´skis war 1919 die zehnköpfige jüdische Gruppe, was aber selbstverständlich niemanden dazu veranlasste, dem aus dem eigenen Lager stammenden Tra˛mpczyn´ski die Legitimität abzusprechen, vgl. Verfassungsgebender Sejm, 2. Sitzung (14. 02. 1919), S. 33. Rudnicki, Z˙ydzi, S. 33.

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stimmten dabei die Sozialdemokraten Kronig, Pankratz und Zerbe im ersten Wahlgang für den PPS-Fraktionsvorsitzenden Zygmunt Marek, der 56 Stimmen erhielt. Die anderen 19 Abgeordneten und Senatoren stimmten für den Kandidaten der Putschisten, Ignacy Mos´cicki, auf den 215 Stimmen entfielen. Im entscheidenden zweiten Wahlgang wurde Mos´cicki mit 281 Stimmen (58,3 %) gewählt, darunter waren alle 22 deutschen Stimmen.505 Wird davon ausgegangen, dass die Minderheitendeputierten 1922–1926 in den entscheidenden Wahlgängen – wenn sie wählten – nahezu geschlossen Narutowicz, Wojciechowski, Piłsudski und Mos´cicki gewählt haben, so entfielen unter den Abgeordneten polnischer Nationalität in zwei Fällen sicher mehr Stimmen für die Kandidaten der Rechten, nämlich auf Maurycy Zamoyski (9. Dezember 1922) und Kazimierz Morawski (20. Dezember 1922). In einem weiteren Fall, nämlich Adolf Bnin´ski (1. Juni 1926), ist dies möglich. Weil aber viele ukrainische und weißrussische Abgeordnete die Abstimmung boykottierten,506 ist dies nicht mehr definitiv festzustellen. Lediglich Piłsudski erreichte am 31. Mai 1926 auch unter den Mitgliedern polnischer Nationalität eine Mehrheit gegen Bnin´ski. Somit stellen die Präsidentschaftswahlen in Polen eine Ausnahme dar : Die ansonsten eher einflusslosen Abgeordneten und Senatoren der Minderheiten waren aufgrund der Spaltung der Abgeordneten polnischer Nationalität 1922– 1926 das Zünglein an der Waage. Dieses Faktum hat in der Historiografie ganz unterschiedliche Bewertungen hervorgerufen. So charakterisieren deutsche Autoren sie als »verhängnisvoll«507. Abgesehen von den Vorgängen um die Ermordung Narutowiczs brachte den Abgeordneten der Minderheiten die Mitwahl polnischer Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 1922 und 1926 weder einen Akzeptanzbonus noch wirkte sie sich negativ aus. Bei der folgenden und letzten Präsidentschaftswahl am 8. Mai 1933, bei dem noch acht Deutsche Mitglied der 555-köpfigen Nationalversammlung waren (1,4 %), ist das deutsche Abstimmungsverhalten nicht klar : Angeblich hätten sich die Deutschen enthalten.508 Nach dem amtlichen Endergebnis gab es allerdings gar keine Enthaltungen: Mos´cicki erhielt bei seiner Wiederwahl 332

505 Kurt Graebe an den Generalsekretär des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart, Fritz Wertheimer (08. 08. 1929), in: APB, zesp. 2448, 24, S. 28–30. Wertheimer, Parteien 1930, S. 101. Tomaszewska, Aneksy, S. 308f. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 100, 123. Wrjbel, Wojciechowski, S. 54. 506 Kurt Graebe an den Generalsekretär des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart, Fritz Wertheimer (08. 08. 1929), in: APB, zesp. 2448, 24, S. 29. 507 Breyer, Rogall, Deutsche im polnischen Staat, S. 386. 508 Ajnenkiel, Historia, S. 175.

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Stimmen, elf waren ungültig, 212 Abgeordnete fehlten, darunter die ukrainischen und weißrussischen Deputierten.509

3.3.4 Haltung gegenüber der Regierung, Staatshaushalt Die deutschen Parlamentarier waren 1919–1935 prinzipiell stets Mitglieder von Oppositionsgruppen und -fraktionen. Schon am 12. November 1918 hatte Piłsudski eine Regierungsbeteiligung von Juden an der neuen polnischen Regierung abgelehnt,510 was die Haltung der Mehrheit der polnischen Politiker bereits vorwegnahm. Deshalb waren, ganz anders als in Lettland, zu keinem Zeitpunkt in der Zwischenkriegszeit Angehörige der Minderheiten Polens Regierungsmitglieder.511 Zwar waren Regierungsbeteiligung der Minderheitenfraktionen nicht kategorisch ausgeschlossen, dennoch kam es nie zu mehr als Sondierungsgesprächen.512 Dennoch stimmten die deutschen Gruppen und Fraktionen nicht stets gegen alle Regierungen Polens, sondern suchten mit ihren bescheidenen Möglichkeiten Einfluss auszuüben. In den Jahren 1919–1920, als die deutsche Gruppe nur aus zwei Abgeordneten bestand, äußerten sich die deutschen Parlamentarier parlamentarisch nicht zu ihrem Verhältnis zu den Regierungen Paderewski (Januar bis Dezember 1919) und Skulski (Dezember 1919 bis Juni 1920). Des Weiteren gab es auch keine Äußerungen der achtköpfigen Gruppe nach Eintritt der sechs Abgeordneten aus Pommerellen gegenüber der kurzlebigen Regierung Grabski (Juni bis Juli 1920). Eine Unterstützung Władysław Grabskis wäre aufgrund dessen Zugehörigkeit zur ND eigentlich auszuschließen, aufgrund des Kriegszustands mit den Sowjets aber dennoch denkbar. 1920–1922 war die deutsche Gruppe eher regierungstragend. Grund für diese Haltung war zunächst die schwere Krise Polens im Polnisch-Sowjetischen Krieg. Am 24. Juli 1920 kündigte Josef Spickermann an, dass die deutsche Gruppe der neuen Regierung Witos (Juli 1920 bis September 1921) ihr volles Vertrauen aussprechen würde – was mehrmaligen Beifall des Plenums nach sich zog.513 Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg kam es zu dem bereits angesprochenen Machtkampf zwischen dem Belweder-Lager um Piłsudski und der Rechten unter Führung der ND. Da das Belweder-Lager als das kleinere Übel 509 510 511 512

Monitor Polski 105 (1933), Nr. 127. Tomaszewska, Aneksy, S. 309. Michael, Davidstern, S. 99. Eser, Schulwesen, S. 205. So berichtet Wertheimer, Parteien 1927, S. 87, von einer Vereinbarung Grabskis 1922 mit der jüdischen Fraktion über eine Teilnahme an der Regierungskoalition, die aufgrund des Antisemitismus der polnischen Rechtsparteien nicht umgesetzt werden konnte. 513 Verfassungsgebender Sejm, 166. Sitzung (24. 07. 1920), S. 20.

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schien, setzte die deutsche Gruppe ihren Kurs, die Regierung teilweise oder ganz zu unterstützen, fort. So war das Verhältnis der Deutschen zu der aus Technokraten bestehenden Regierung Ponikowski (September 1921 bis Juni 1922) zwar verbal im Plenum des Sejm negativ.514 Da diese Regierung politisch aber gegen die ND gerichtet und auf Mehrheiten von Fall zu Fall angewiesen war, kam es vor allem am Anfang doch zu Unterstützung durch die deutsche Gruppe.515 Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung des Belweder-Lagers mit der ND fanden auch die Kabinette S´liwin´ski (Juni bis Juli 1922) und Nowak (Juli bis Dezember 1922) die Zustimmung der deutschen Parlamentarier. Eine Ausnahme stellte lediglich Friese dar, der am 7. Juli 1922 gegen Artur S´liwin´ski (PPS) stimmte, während die sieben Mitglieder der deutschen Gruppe ihm das Vertrauen aussprachen. Da der Antrag der National-Christlichen Arbeiterfraktion auf Absetzung mit 201 zu 195 Stimmen denkbar knapp angenommen wurde, musste S´liwin´ski nach nur zehn Tagen im Amt zurücktreten.516 Die erste völlig freie Wahl vom 5. November 1922 ließ die Anzahl der Abgeordneten der Minderheiten von zuletzt 19 von 431 im Verfassungsgebenden Sejm auf 89 von 444 anwachsen,517 also eine Größenordnung, die wesentlich stärker die Bevölkerungsstruktur widerspiegelte. Daher wurden unterschiedliche Konzeptionen in Sachen Regierungsbildung erörtert: Die ND verlangte bei der Regierungsbildung eine freiwillige Neutralisierung der Minderheiten durch Stimmenthaltung bei Abstimmungen über Regierungen. Dieses Ansinnen lehnten die Minderheitenparlamentarier ab.518 Innerhalb der polnischen Bauernparteien kamen Diskussionen auf, die 37 Abgeordneten der Ukrainer, Weißrussen und Russen an der Regierung zu beteiligen. Die Versuche der ukrainischen Abgeordneten Serhij Chruc’kyj und Marko Luckevycˇ, den Amtseid auf Ukrainisch zu leisten519 oder vor dem Sejm Ukrainisch zu sprechen,520 sowie der durch Branislau˘ Tarasˇkevicˇ, dem Vorsitzenden der weißrussischen Fraktion, am 23. Januar 1923 erhobene Vorwurf der Unterdrückung der Weißrussen durch Polen521 zeigten jedoch schnell, dass gerade bei diesen slawischen Minderheiten keine Bereitschaft zur Mitarbeit vorhanden war. Einige Minderheitenparlamentarier, insbesondere aus der jüdischen Fraktion, brachten als Ausweg eine Regierungskoalition der Minderheiten 514 Verfassungsgebender Sejm, 249. Sitzung (01. 10. 1921), S. 44–48; 274. Sitzung (16. 12. 1921), S. 13f; 303. Sitzung (05. 05. 1922), S. 87–95. 515 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 33. Hauser, Przedstawiciele, S. 60–63. 516 Verfassungsgebender Sejm, 326. Sitzung (07. 07. 1922), S. 57, Anhang; 333. Sitzung (03. 08. 1922), S. 37. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 35f. Hauser, Przedstawiciele, S. 64f. 517 Korzec, Block 1922, S. 212. Tomaszewska, Aneksy, S. 327f. 518 Korzec, Block 1922, S. 213. 519 I. Sejm, 1. Sitzung (28. 11. 1922), S. 6; 4. Sitzung (14. 12. 1922), S. 4. 520 I. Sejm, 6. Sitzung (16. 01. 1923), S. 18. 521 I. Sejm, 10. Sitzung (23. 01. 1923), S. 28–40.

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mit der PPS und den Bauernparteien ins Gespräch. Dies war die gleiche Konstellation, die auch Narutowicz am 9. Dezember 1922 ins Präsidentenamt gebracht hatte. Eine solche Koalition wurde wiederum von den Sozialisten abgelehnt, da diese die Minderheitenfraktionen als politisch zu bürgerlich und zu instabil begriffen. Zudem übte die ND Druck auf die polnische Linke und Mitte aus.522 Die zweite Entwicklung war die Auflösung des Belweder-Lagers. Wie bereits beschrieben erschütterte – nachdem Piłsudskis Amtszeit als Staatschef ausgelaufen war – die Ermordung Narutowiczs am 16. Dezember 1922 das Vertrauen der Minderheiten in eine gütliche Entwicklung des Staats schwer. Im Anschluss führte die deutsche Fraktion ihren Kurs der teilweisen Unterstützung der Regierungen Polens einstweilen fort: Mit ihren Stimmen trug die deutsche SejmFraktion am 23. Januar 1923 dazu bei, dass dem neuen Ministerpräsident Władysław Sikorski (Dezember 1922 bis Mai 1923) das Vertrauen ausgesprochen wurde.523 Diese Entscheidung erfolgte vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise, in der sich Polen zu diesem Zeitpunkt befand. Weder war die deutsche Fraktion mit der Politik Sikorskis einverstanden, was Spickermann an ebenjenem 23. Januar 1923 vor dem Sejm feststellte, noch war Sikorski gegenüber der deutschen Fraktion offen. Er kritisierte vielmehr den DtB allgemein als staatsfeindlich. Besonders monierte Sikorski, dass Graebe eine militärische Beförderung durch das Reichswehrministerium angenommen hatte, nachdem er bereits polnischer Staatsbürger geworden war.524 Deshalb stellte ein Lob Otto Somschors gegenüber Sikorski am 7. Februar 1923 wegen dessen Minderheitenpolitik, verbunden mit der Ankündigung einer Zustimmung der deutschen Fraktion zum Budget,525 auch nur eine Momentaufnahme dar. Dieses Lob Somschors war verfrüht, weil Sikorski im April 1923 Maßnahmen zur »Entdeutschung« – im Sinne einer auf Auswanderung der Deutschen orientierten Politik eine Stufe unterhalb der ethnischen Säuberung – der Wojewodschaften Pommerellen und Posen ankündigte. Schon am 15. März 1923 hatte Naumann als Fraktionsvorsitzender, unterbrochen von zahlreichen Zwischenrufen, Sikorski schwere Verstöße gegen den Versailler und den Minderheitenschutzvertrag vorgeworfen. Diese Einschätzung bekräftigte Kronig am 26. Mai 1923. Am selben Tag reichte Sikorski aus Gründen, die nichts mit der deutschen Fraktion zu tun hatten, seinen Rücktritt ein.526 522 Korzec, Block 1922, S. 213f. 523 I. Sejm, 10. Sitzung (23. 01. 1923), S. 92; 13. Sitzung (07. 02. 1923), S. 51. Polonsky, Politics, S. 113f. 524 I. Sejm, 10. Sitzung (23. 01. 1923), S. 4–12, 89. Blanke, Orphans, S. 73. 525 I. Sejm, 13. Sitzung (07. 02. 1923), S. 51–53. 526 I. Sejm, 24. Sitzung (15. 03. 1923), S. 49–51; 40. Sitzung (26. 05. 1923), S. 9–25, 63f. Chu,

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Wenige Tage zuvor hatten die Parteiführungen der National- und Christdemokraten mit der konservativen Bauernpartei PSL-Piast vom 17. Mai 1923 in Warschau im Lanckorona-Pakt vereinbart, dass Regierungsämter ausschließlich Personen polnischer Nationalität vorbehalten sein sollten.527 Dieser Pakt ließ aus Sicht der Minderheitenfraktionen daher keinen Zweifel an der minderheitenfeindlichen Einstellung der beteiligten Parteien aufkommen. Von nun wich der vorher geführte Kurs der teilweisen Unterstützung von Regierungen einer klar oppositionellen Haltung: Die deutsche Fraktion lehnte geschlossen die Regierungserklärung des nachfolgenden Ministerpräsidenten Witos (PSL-Piast, Mai bis Dezember 1923) ab, genau wie die Abgeordneten der anderen Minderheiten.528 Nach dem DtB-Verbot stimmte die deutsche Fraktion noch zwei Mal geschlossen bei Vertrauensfragen gegen Witos529 und ebenso gegen dessen Nachfolger Grabski (ND, Dezember 1923 bis November 1925).530 Diesem Kabinett gehörte ab November 1924 Stanisław Thugutt (PSL-»Wyzwolenie«) als Vizepremier und Minister ohne Geschäftsbereich an. Thugutt war speziell für Minderheitenfragen zuständig. Angesichts des nationalistischen Charakters der Regierung konnte er allerdings keine Verbesserungen erreichen und reichte bereits im Mai 1925 enttäuscht seinen Rücktritt ein. Bei der Wahl der Regierung Skrzyn´ski (Partei der nationalen Rechten, November 1925 bis Mai 1926) enthielt sich die deutsche Fraktion der Stimme, knüpfte aber später an ihre oppositionelle Haltung wieder an.531 1923–1926 wurden Aussprachen zu Regierungserklärungen zu gern genutzten Möglichkeiten der deutschen Fraktion, die Regierung zu attackieren. Lediglich in der Wortwahl nahmen die Abgeordneten Akzentuierungen vor.532 Vorerst letztmalig wurde ein solcher Angriff durch Kronig am 26. April 1926 vorgenommen. Dieser stellte gleichzeitig die letzte Wortmeldung eines deutschen Abgeordneten vor dem Mai-Putsch dar.533 Nach dem Mai-Putsch erhielt der erste neue Ministerpräsident Kazimierz Bartel (Mai bis September 1926) Unterstützung durch die deutsche Fraktion, die sich allerdings insgesamt uneinheitlich und unentschlossen zeigte: Utta lehnte

527 528 529 530 531 532

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Minority, S. 67. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 107f. Kotowski, Polens Politik, S. 98–100. Polonsky, Politics, S. 115f. Stolin´ski, Klub, S. 319, nennt falsch den 23. Juni 1923 als Datum der Rede Kronigs. Blanke, Orphans, S. 62. Chojnowski, Koncepcje, S. 33. Eser, Schulwesen, S. 205. I. Sejm, 42. Sitzung (02. 06. 1923), S. 99, Anhang. I. Sejm, 72. Sitzung (17. 10. 1923), S. 69, Anhang; 79. Sitzung (16. 11. 1923), S. 46f, Anhang. I. Sejm, 90. Sitzung (21. 12. 1923), S. 13, 29, Anhang. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 113. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 121. Polonsky, Politics, S. 143. I. Sejm, 63. Sitzung (03. 08. 1923), S. 42; 72. Sitzung (17. 10. 1923), S. 29; 116. Sitzung (07. 04. 1924), S. 29f; 134. Sitzung (21. 06. 1924), S. 10; 166. Sitzung (04. 12. 1924), S. 40; 202. Sitzung (06. 05. 1925), S. 102–108; 256. Sitzung (26. 11. 1925), S. 17–19; 260. Sitzung (14. 12. 1925), S. 41, 285. I. Sejm, 285. Sitzung (26. 04. 1926), S. 39f. Stolin´ski, Klub, S. 320.

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am 6. Juli 1926 – als erster deutscher Parlamentarier nach dem Putsch vor dem Sejm sprechend – die von Bartel vorgeschlagene Verfassungsänderung zur Stärkung der Exekutive und zur Begrenzung der Sessionen des Sejm ab. Als Grundsatzrede nach dem Mai-Putsch ist eine Wortmeldung Kronigs vom 16. Juli 1926 anzusehen, in der er den Putsch auch als solchen benannte. In dieser Rede verband Kronig scharfe Kritik an der bisherigen Minderheitenpolitik Polens mit einem Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie. Anstatt, wie die Regierung Bartel, den Abbau der Demokratie zu betreiben, müsste Polen stattdessen demokratischer werden, den Minderheitenschutz endlich vollständig beachten und alle Bürger gleich behandeln.534 Äußerungen Bartels zur Minderheitenpolitik und Teile der geplanten Verfassungsänderungen fanden am 21. Juli 1926 allerdings doch die Zustimmung der deutschen Fraktion. Die Verfassungsänderungen wurden am 2. August 1926 verabschiedet.535 Noch am 24. September 1926 unterstützte die deutsche Fraktion zwei Misstrauensanträge gegen den Bildungs- und den Innenminister durch Abwesenheit nicht, obwohl ersterer Antrag immerhin durch die jüdische Fraktion eingebracht worden war.536 Nur wenig später endete allerdings die zögerliche Zurückhaltung gegenüber der entstehenden Sanacja-Herrschaft: Eine Haushaltsrede Wlodaschs, der vor allem die Behandlung der Deutschen in Oberschlesien kritisierte, leitete am 14. Dezember 1926 den bislang umfassendsten Angriff der deutschen Fraktion gegen eine Regierung Polens ein. Diese wurde von Piłsudski, den die deutsche Fraktion noch im Mai 1926 im Präsidentenamt hatte sehen wollen, selbst geleitet (Oktober 1926 bis Juni 1928). In insgesamt neun Reden arbeiteten sich nach Wlodasch Piesch, Utta, Krajczyrski, Pankratz, Zerbe, Rosumek und Karau an den einzelnen Haushaltsposten ab. Dabei kehrten sie überwiegend zur klaren Oppositionsrhetorik der Jahre 1923–1926 zurück.537 Spätere Misstrauensvoten gegen Minister wurden wieder teilweise unterstützt, wobei allerdings zahlreiche deutsche Abgeordnete abstinent blieben.538 Zu einem erneuten kurzfristigen Kurswechsel kam es 1928: Als erster deutscher Redner der II. Legislaturperiode kündigte Utta am 31. März 1928 die Annahme des Haushalts an, dies allerdings nicht aufgrund von Sympathien gegenüber der Regierung, sondern um Schlimmeres vom Staat abzuwenden. 534 I. Sejm, 291. Sitzung (06. 07. 1926), S. 26f; 292. Sitzung (16. 07. 1926), S. 34–40. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 123f. Hauser, Przedstawiciele, S. 110f. Polonsky, Politics, S. 181. 535 I. Sejm, 296. Sitzung (21. 07. 1926), S. 16; 299. Sitzung (02. 08. 1926), S. 26–29. 536 I. Sejm, 303. Sitzung (24. 09. 1926), S. 17–24. 537 I. Sejm, 309. Sitzung (14. 12. 1926), S. 14–17; 312. Sitzung (26. 01. 1927), S. 88; 314. Sitzung (28. 01. 1927), S. 68; 315. Sitzung (29. 01. 1927), S. 23–26, 82f; 316. Sitzung (03. 02. 1927), S. 60; 319. Sitzung (07. 02. 1927), S. 65; 320. Sitzung (08. 02. 1927), S. 67–69; 325. Sitzung (14. 02. 1927), S. 16. Zahlreiche Datierungsfehler bei Stolin´ski, Klub, S. 320. 538 I. Sejm, 327. Sitzung (22. 03. 1927), S. 37–46. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 133.

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Dass damit keine Zustimmung zur Regierung Piłsudski verbunden war, stellte Naumann am 30. Mai 1928 nochmals klar und kündigte ein »Nein« für die nächste Haushaltsabstimmung an.539 Fortan dienten Budgetdiskussionen wieder der Attacke gegen die Regierung, eine kurzzeitige Ausnahme gab es beim letzten Kabinett Bartel (Dezember 1929 bis März 1930), zu dessen Amtszeit eine Art Burgfrieden zwischen Opposition und Regierung vereinbart worden war.540 BBWR-Anträgen zu nochmaligen Änderungen der Verfassung wurde ebenfalls eine Absage erteilt.541 Misstrauensvoten gegen die Regierung oder einzelne Minister wurden meist unterstützt,542 eine Ausnahme stellte dabei allerdings ein Misstrauensantrag der ND gegen Justizminister Stanisław Car am 28. Januar 1929 dar. Um weder einen Antrag der ND befürworten noch die Sanacja stützen zu müssen, stimmten 20 deutsche Abgeordnete gar nicht. Lediglich Zerbe votierte für den Antrag.543 Generell teilten die sozialistischen Abgeordneten Kronig und Zerbe, die verbal die Sanacja-Regierungen oder Piłsudski persönlich sogar noch schärfer attackierten, die Positionen der deutschen Fraktion. So nannte Zerbe am 7. Februar 1929 die Regierung, zu diesem Zeitpunkt wieder unter Bartel, eine diktatorische Regierung der besitzenden Klasse.544 Aufgrund der immer weiter voranschreitenden Deformation des Parlamentarismus in Polen wurden typische parlamentarische Aktionsformen – wie Anträge – noch aussichtsloser als sie vor 1926 ohnehin schon gewesen waren. Deshalb nahmen Wortmeldungen deutscher Abgeordneter bei Haushaltsdebatten mehr und mehr den wichtigsten Platz ein. Hatten Haushaltsreden deutscher Abgeordneter schon zum Jahreswechsel 1926–1927 mit neun einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, so stieg die Anzahl während des Jahreswechsels 1929–1930 auf 14 an, den absoluten Höhepunkt der Zwischenkriegszeit. Krajczyrski, Kronig, Naumann, Piesch, Rosumek, Saenger, Spitzer, Tatulinski, Utta und Zerbe ließen nur wenige Ressorthaushalte unkommentiert.545 Nach dem Sturz der fünften und letzten Regierung Bartel am 17. März 1930 539 II. Sejm, 5. Sitzung (31. 03. 1928), S. 8f; 12. Sitzung (30. 05. 1928), S. 22f, 32. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 252–254. 540 II. Sejm, 15. Sitzung (02. 06. 1928), S. 53–64; 42. Sitzung (31. 01. 1929), S. 3–12. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 272f, 276. 541 II. Sejm, 55. Sitzung (01. 03. 1929), S. 87–89; III. Sejm, 18. Sitzung (03. 03. 1931), S. 74–76. 542 II. Sejm, 53. Sitzung (26. 02. 1929), S. 41–48; 59. Sitzung (20. 03. 1929), S. 109–114; 62. Sitzung (06. 12. 1929), S. 113–116. 543 II. Sejm, 40. Sitzung (28. 01. 1929), S. 39–42. 544 II. Sejm, 39. Sitzung (22. 01. 1929), S. 30–32; 47. Sitzung (07. 02. 1929), S. 25; 55. Sitzung (01. 03. 1929), S. 93–100. 545 II. Sejm, 62. Sitzung (05. 12. 1929), S. 87–96; 71. Sitzung (03. 02. 1930), S. 70–72; 72. Sitzung (04. 02. 1930), S. 105; 73. Sitzung (05. 02. 1930), S. 46–48, 93–95; 74. Sitzung (06. 02. 1930), S. 32–34, 67–69; 75. Sitzung (07. 02. 1930), S. 4–8, 24–26, 30f, 90f; 76. Sitzung (08. 02. 1930), S. 52–58; 77. Sitzung (10. 02. 1930), S. 18–23.

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schien kurzfristig noch einmal Bewegung in die Frage der Regierungsbeteiligung der nationalen Minderheiten zu kommen: Der mit der Regierungsbildung beauftragte Senatsmarschall Julian Szyman´ski (BBWR) traf Vertreter verschiedener Parlamentsfraktionen zu Sondierungsgesprächen, darunter erstmalig Utta für die deutsche Fraktion. Dabei sicherte Utta Szyman´ski die Stimmen der deutschen Fraktion bei einer Kehrtwende in der Minderheitenpolitik zu. Szyman´ski konnte allerdings aufgrund des Einflusses Piłsudskis, der im Hintergrund die Fäden zog, nicht frei verhandeln. Deshalb nahmen sowohl die Fraktionsführungen als auch Szyman´ski selbst von dem Vorhaben alsbald Abstand.546 Die Reduktion der deutschen Abgeordneten von 21 auf fünf ließen in der III. Legislaturperiode 1930–1935 die Angriffe deutscher Parlamentarier auf die Regierung in Haushaltsdebatten quantitativ stark zurückgehen. Die deutsche Gruppe blieb dennoch darauf fixiert, sich in verminderter Form primär in Haushaltsdebatten an der Regierung abzuarbeiten: Allein 14 von 23 Reden deutscher Abgeordneter der Legislaturperiode entfielen auf solche Haushaltsdebatten. Sowohl die Wortwahl der deutschen Abgeordneten als auch die Zwischenrufe von Abgeordneten der BBWR-Fraktion nahmen dabei immer negativere Töne an.547 Eine Fundamentalopposition war die deutsche Gruppe allerdings nicht, da die Wirtschafts- und Sozialpolitik während der schweren Wirtschaftskrise teilweise befürwortet wurde.548 Das Verhältnis zu den anderen Minderheitenvertretern kühlte in der III. Legislaturperiode noch einmal merklich ab. Die deutsche Gruppe hegte kaum Sympathien für die zeitweilig bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen ukrainischer bewaffneter Gruppierungen gegen den polnischen Staat. Nachdem die »Organisation ukrainischer Nationalisten« (OUN, Organizacija Ukra"ns’kich Nacionalistiv) am 15. Juni 1934 Polens Innenminister Bronisław Pieracki ermordet hatte, sandte Graebe im Namen der deutschen Gruppe ein Kondolenzschreiben an Ministerpräsident Leon Kozłowski. Da die meisten jüdischen Abgeordneten ab 1930 dem Sanacja-Lager angehörten, gab es auch hier nur noch wenig Zusammenarbeit, die 1933 ganz eingestellt wurde, nachdem in Deutschland Adolf Hitler und die Nationalsozialisten die Herrschaft übernommen hatten. Von diesen konnte sich die deutsche Gruppe aufgrund der finanziellen Verflechtungen bestenfalls – wenn überhaupt – punktuell, nicht aber grundsätzlich distanzieren.549 546 Wertheimer, Parteien 1930, S. 120f. 547 III. Sejm, 9. Sitzung (05. 02. 1931), S. 65–67; 11. Sitzung (07. 02. 1931), S. 8–10, 82–84; 14. Sitzung (11. 02. 1931), S. 15f; 48. Sitzung (04. 02. 1932), S. 66; 70. Sitzung (03. 11. 1932), S. 92; 103. Sitzung (03. 11. 1933), S. 116. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 299–301. 548 III. Sejm, 39. Sitzung (10. 12. 1931), S. 51. 549 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 317–319.

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Am 26. Januar 1934 verabschiedete der Sejm auf Antrag der BBWR-Fraktion einen neuen Verfassungsentwurf. Nach Beratung verwies der Senat den Verfassungsentwurf an den Sejm zurück. Der Sejm nahm die Änderungsvorschläge des Senats am 23. März 1935 an. Die fünf deutschen Abgeordneten boykottierten, ebenso wie zahlreiche der Parlamentarier der anderen Minderheiten auch, die Abstimmung.550 Dass die neue Verfassung die politische Teilhabe der deutschen Bevölkerung weiter schwächen oder sogar gänzlich unmöglich machen würde, war der deutschen Gruppe bewusst. Dennoch kündigte Berndt v. Saenger am 6. Februar 1935 die Zustimmung zum Haushalt an. Hierbei zeigt sich, dass die Abgeordneten 1934–1935 nach Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts von einer Interessenvertretung der Deutschen in Polen zu einer Interessenvertretung des Deutschen Reiches übergegangen waren.551

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Politikfelder

3.4.1 Loyalitätsfrage Schon Zygmunt Stolin´ski konstatierte 1928 in einem der ersten Handbücher zur Geschichte der ersten Jahre des polnischen Parlamentarismus, dass die deutschen Abgeordneten die Loyalitätsfrage von selbst recht häufig angesprochen hätten.552 In der ersten Rede eines deutschen Abgeordneten, die Josef Spickermann am 7. März 1919 vor dem Verfassungsgebenden Sejm hielt, erklärte dieser unter Beifall, dass die Deutschen Polens bereit seien, zum Wohle Polens das Leben zu geben. Er propagierte aufgrund der Tatsache, dass die deutsche Minderheit Polens in polnischen Landen aufgewachsen wäre, eine völlig unterschiedliche Psyche zu der der »ausländischen Deutschen« und betonte die gemeinsame Liebe der Deutschen und Polen zur polnischen Heimat.553 Dass die Deutschen Polens loyal wären und keine Bedrohung Polens darstellen würden, thematisierte Spickermann wiederholt in seinen Reden 1919– 1922.554 Die bekundete Loyalität Spickermanns und Wolffs führte auch zu ganz konkreten Schritten in der Praxis: So stimmten beide am 31. Juli 1919 für eine Ratifizierung des Versailler Vertrags.555 550 551 552 553

III. Sejm, 108. Sitzung (26. 01. 1934), S. 56; 142. Sitzung (23. 03. 1935), S. 151. III. Sejm, 129. Sitzung (06. 02. 1935), S. 42. Hauser, Przedstawiciele, S. 350f, 448. Stolin´ski, Klub, S. 319. Verfassungsgebender Sejm, 11. Sitzung (11. 03. 1919), S. 471f. Wortlaut des Zitats im Original »Niemcjw zagranicznych«. 554 Vgl. Verfassungsgebender Sejm, 54. Sitzung (24. 06. 1919), S. 12f; 176. Sitzung (21. 10. 1920), S. 8; 303. Sitzung (05. 05. 1922), S. 87. 555 Verfassungsgebender Sejm, 82. Sitzung (31. 07. 1919), S. 130f.

Politikfelder

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Spickermann behielt mit seiner Differenzierung zwischen den Deutschen aus Kongresspolen und den Deutschen aus den ehemaligen Reichsgebieten nicht ganz unrecht: Zwar schloss sich die deutsche Gruppe im Sommer 1920 einer Loyalitätserklärung aller Fraktionen und Gruppen angesichts des Polnisch-Sowjetischen Krieges an. Nach Abschluss des Waffenstillstands vermieden die nachgewählten Abgeordneten Pommerellens allerdings ein klares Bekenntnis zur Republik Polen. So beschränkte Hasbach in der ersten Rede eines deutschen Abgeordneten aus Pommerellen am 21. Oktober 1920 die Bereitschaft der Deutschen zur Zusammenarbeit auf eine solche polnische Regierung, die »unsere berechtigten Forderungen anerkennt und tatsächlich in die Wirklichkeit umsetzt.«556 Damit vergab Hasbach die Chance, Vertrauen wiederherzustellen, da zahlreiche von den Deutschen bewohnte Ortschaften im Gebiet um Soldau die Rote Armee als Befreier begrüßt hatten. Stattdessen sah Hasbach zunächst die polnische Regierung in der Bringschuld, während der direkt im Anschluss sprechende Spickermann dagegen nochmals die uneingeschränkte Loyalität der Deutschen Kongresspolens versicherte.557 Die Entwicklung der Jahre 1920–1922 zeigt, dass sich die zurückhaltende, bald in Ablehnung umschlagende Sichtweise Hasbachs innerhalb der Gruppe durchsetzte. Spickermann nannte am 16. Dezember 1921 erstmalig die polnische Regierung, hier unter Ponikowski, als den Minderheiten gegenüber feindselig eingestellt.558 Noch deutlicher äußerte er sich in seiner längsten Rede der Legislaturperiode am 5. Mai 1922, in der er konstatierte, dass die dem polnischen Staat gegebene Loyalität der Deutschen ungerechtfertigt gewesen sei und sich die Zusammenarbeit mit der polnischen Regierung sehr schwierig gestalten würde. Polen hätte nur sehr bedingt die den Deutschen aus der Verfassung und dem Minderheitenschutzvertrag gewährten Rechte tatsächlich umgesetzt, die Deutschen in Pommerellen und Posen weitgehend als feindliche Bevölkerung behandelt und deutsche Listen bei der Kommunalwahl in Wolhynien blockiert. Erstmalig kam es bei dieser Rede Spickermanns auch zu den – später typisch werdenden – Zwischenrufen polnischer Abgeordneter, die den deutschen Parlamentariern als Spiegel die deutsche Polenpolitik von vor 1918

556 Verfassungsgebender Sejm, 176. Sitzung (21. 10. 1920), S. 7f. Hauser, Przedstawiciele, S. 39– 44. Wortlaut des Zitats im Original: »nasze uprawnione z˙a˛dania przyzna i rzeczywis´cie w z˙ycie wprowadzi.« Das Buch Hausers, Przedstawiciele, S. 40, enthält mit der Jahresangabe 1921 einen Druckfehler. 557 Verfassungsgebender Sejm, 176. Sitzung (21. 10. 1920), S. 8. Eser, Schulwesen, S. 236, kommt bezüglich Spickermanns zu einer anderen Darstellung, allerdings nimmt Eser das Sejm-Protokoll nur sehr bedingt zur Kenntnis. 558 Verfassungsgebender Sejm, 276. Sitzung (16. 12. 1921), S. 13f.

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Polen

vorhielten,559 für die Spickermann als Deutscher aus Mittelpolen allerdings ein denkbar schlechter Adressat war. Nochmals bezog Spickermann zur Stellung der Minderheiten in Polen in einer Grundsatzrede am 23. Januar 1923 Position. In seiner Kritik an der Regierung Sikorski nannte er diese chauvinistisch und warnte davor, Polen als Nationalstaat zu betrachten. Zudem bat er um die Einhaltung des Minderheitenschutzvertrags. Nochmals verwies Spickermann darauf, dass sich die Deutschen nicht als Fremdkörper sondern als Teil Polens betrachten würden.560 Kronig beklagte am 26. Mai 1923, dass das Vorgehen der polnischen Behörden gegen die deutsche Minderheit mit der pauschalen Unterstellung der Illoyalität begründet würde, und mahnte neuerlich eine Gleichbehandlung aller Nationalitäten in Polen an.561 Die Behauptung der Diskriminierung der Deutschen oder ihre Behandlung als feindlich gesinnte Bevölkerung kehrte fortan beständig in Reden deutscher Parlamentarier wieder.562 Nach den zahlreichen Loyalitätserklärungen der Zeit des Verfassungsgebenden Sejm in den ersten Jahren des Parlamentarismus ebbten diese aufgrund ihrer Fruchtlosigkeit ab. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellte die in diesem Buch einleitend zitierte Haushaltsrede Kronigs am 21. Juni 1924 dar, in der er mehrmals darauf verwies, dass er kein Bürger Deutschlands sondern Bürger Polens wäre, des gemeinsamen Staates aller in Polen lebenden Bürger.563 Die Frage der Loyalität tauchte auch später noch hin und wieder auf. So behauptete Naumann im Zusammenhang mit der Landreform am 30. Mai 1928, die deutsche Fraktion hätte sich seit Jahren erfolglos bemüht herauszufinden, was die Regierung als Beweis der Loyalität akzeptieren würde.564 Im gleichen Jahr sorgte die deutsche Fraktion selbst für Aufregung in ihrem Verhältnis zum Staat, als sie gemeinsam mit den Vertretern der Ukrainer und der Weißrussen der feierlichen Sejm-Sitzung am Vorabend des zehnten Jahrestags der Gründung der zweiten Republik am 10. November 1928 geschlossen fernblieb. Obwohl dieser 1928 neu geschaffene Feiertag dem Zwecke der Stabilisierung der SanacjaHerrschaft diente und somit auch Kritik von anderer Seite erfuhr,565 wurde die Vorgehensweise der deutschen Fraktion von der polnischen Politik und der Öffentlichkeit als klarer Beweis negativistischer, illoyaler Gesinnung aufgefasst. 559 560 561 562

Verfassungsgebender Sejm, 303. Sitzung (05. 05. 1922), S. 88–94. I. Sejm, 10. Sitzung (23. 01. 1923), S. 4–12. Hauser, Przedstawiciele, S. 106. I. Sejm, 40. Sitzung (26. 05. 1923), S. 65f. I. Sejm, 42. Sitzung (02. 06. 1923), S. 94; 128. Sitzung (12. 06. 1924), S. 14; 134. Sitzung (21. 06. 1924), S. 10, 12. 563 I. Sejm, 134. Sitzung (21. 06. 1924), S. 8–15. 564 II. Sejm, 12. Sitzung (30. 05. 1928), S. 27. 565 Vgl. hierzu Zloch, Nationalismus, S. 280–286.

Politikfelder

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Von deutscher Seite wurde die Abstinenz als Konsequenz der minderheitenfeindlichen Politik der polnischen Regierungen gesehen, wobei die deutschen Abgeordneten das gewaltige Echo ihres symbolischen Handelns unterschätzten, das als stellvertretend für die gesamte deutsche Minderheit aufgefasst wurde.566 Nochmals thematisierte Utta am 15. Januar 1930 die Loyalitätsfrage. Er stellte eine Änderung der oppositionellen Haltung der deutschen Fraktion für den Fall in Aussicht, dass die Regierung Bartel auch Staatsbürger nichtpolnischer Muttersprache als dem Staat gegenüber loyal ansehen würde.567 Eine Wortmeldung Franz’ vom 4. Februar 1932 lautete ähnlich.568 Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnt, brachte der deutsch-polnische Nichtangriffspakt 1934 einen Kurswechsel, weil die deutschen Abgeordneten im Sejm nunmehr weitgehend die Interessen des Deutschen Reiches in Polen vertraten. Im Zuge der »verordneten Freundschaft« zwischen Polen und dem Deutschen Reich war der deutschen Regierung an einer Ruhigstellung der Minderheitenvertreter gelegen, weshalb diese nach außen hin Loyalität zu demonstrieren hatten. Diese Form der Loyalität war ein vorgetäuschtes und den Umständen der Zeit geschuldetes Bekenntnis zum Staat.569

3.4.2 Schulwesen Das mit Abstand am meisten von deutschen Abgeordneten in den Sejm eingebrachte Politikfeld war die Schulfrage. Dafür waren sowohl die hohe allgemeine Bedeutung des Themas für die deutsche Minderheit aufgrund der in diesem Punkt restriktiven Politik Polens als auch die zahlreichen Gesetze, die die Frage wieder und wieder auf die Tagesordnung des Sejm zurückkehren ließen, verantwortlich. In Kongresspolen hatte die deutsche Besatzungsmacht im 1916 von den Mittelmächten ausgerufenen Königreich Polen am 12. September 1917 eine Schulautonomie für deutsche Schulen gesetzlich einführen lassen. Diese Autonomie im nunmehrigen Mittelpolen wurde durch ein Dekret Piłsudskis vom 7. Februar 1919 und einen nachfolgenden Regierungsbeschluss mit Wirkung zum 1. April 1919 aufgehoben.570 Kurz davor, am 7. März 1919 hatte Josef 566 II. Sejm, 28. Sitzung (10. 11. 1928), S. 1–6. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 270. Hauser, Przedstawiciele, S. 231, 282. Heike, Deutschtum, S. 89 und Wertheimer, Parteien 1930, S. 118, datieren die Sitzung falsch auf den 11. November 1928. 567 II. Sejm, 67. Sitzung (15. 01. 1930), S. 44. 568 III. Sejm, 48. Sitzung (04. 02. 1932), S. 64. 569 Hauser, Przedstawiciele, S. 350–352. 570 Dekret o szkołach z niemieckim je˛zykiem wykładowym [Dekret über die Schulen mit deutscher Unterrichtssprache] (07. 02. 1919), in: DzURP 14 (1919), poz. 192. Uchwała Rady

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Spickermann die Beibehaltung deutscher Schulen als eine der grundlegenden Forderungen der deutschen Minderheit an den polnischen Staat verlangt.571 Über die mit der Aufhebung der Schulautonomie einhergehende Schließung deutscher Schulen in der Region Lodz beklagte sich Ludwig Wolff in seinem einzigen Wortbeitrag vor dem Verfassungsgebenden Sejm am 31. Juli 1919. Gleichzeitig begründete Wolff die Zustimmung zum Minderheitenschutzvertrag mit der Hoffnung, dadurch das deutsche Schulwesen zu stärken.572 Stattdessen zementierte der Minderheitenschutzvertrag die Spaltung des deutschen Schulwesens in Polen. Der Vertrag verpflichtete den polnischen Staat nämlich lediglich in den polnisch werdenden Gebieten des Deutschen Reiches, nicht aber anderswo, zur aktiven Unterstützung des deutschen Minderheitenschulwesens. Später regelte die Genfer Oberschlesien-Konvention vom 15. Mai 1922 das deutsche Schulwesen in dem an Polen fallenden Teil Oberschlesiens mit einer Laufzeit von 15 Jahren dort noch einmal detaillierter als der Minderheitenschutzvertrag. Somit hatten die deutschen Schulen in Mittelpolen juristisch die schwächste Stellung, auch wenn immerhin eine rechtlich mögliche vollständige Auflösung des dortigen deutschen Schulwesens für keine Regierung Polens zu einem Politikziel wurde.573 Seit ihrer Vergrößerung 1920 verstärkte die deutsche Gruppe ihre Initiativen auch im Bereich des Schulwesens. Neben Anfragen, mit der die Abgeordneten auf Maßnahmen der Regierung reagierten, unterstützte die deutsche Gruppe initiativ einen Gesetzesantrag der jüdischen Gruppe vom 10. Februar 1922 über die Organisation des Minderheitenschulwesens,574 der aber nicht angenommen wurde. Immerhin enthielt das Schulunterhaltungsgesetz vom 17. Februar 1922 allerdings eine Bestimmung, die die Verabschiedung eines Gesetzes über das

571 572 573

574

Ministrjw o szkołach powszechnych z niemieckim je˛zykiem nauczania [Beschluss des Ministerrats über die allgemeinen Schulen mit deutscher Unterrichtssprache] (03. 03. 1919), in: DzURP 21 (1919), poz. 232. Heike, Minderheit, S. 311. Szablicka-Z˙ak, Szkolnictwo, S. 60. Eser, Schulwesen, S. 286f. Verfassungsgebender Sejm, 11. Sitzung (11. 03. 1919), S. 472. Verfassungsgebender Sejm, 82. Sitzung (31. 07. 1919), S. 42f. Hauser, Przedstawiciele, S. 32f. Traktat mie˛dzy głjwnemi [sic] mocarstwami sprzymierzonemi [sic] i stowarzyszonemi [sic] a Polska˛ [Vertrag zwischen den alliierten und assoziierten Hauptmächten und Polen] (28. 06. 1919), in: DzURP 110 (1920), poz. 728. Deutsch-polnisches Abkommen über Oberschlesien (15. 05. 1922), in: Reichsgesetzblatt 1922, Teil II, S. 238–540. Eser, Schulwesen, S. 291. Szablicka-Z˙ak, Szkolnictwo, S. 134f. Wojciechowski, Minderheit, S. 7f. Wniosek posła Grynbauma i in. w sprawie organizacji publicznego szkolnictwa powszechnego dla mniejszos´ci narodowos´ciowych i wyznaniowych [Antrag des Abgeordneten Grünbaum und anderen zur Organisation des allgemeinen und öffentlichen Schulwesens für die nationalen und religiösen Minderheiten] (10. 02. 1922), in: Verfassungsgebender Sejm, Druk Nr 3361. Hauser, Przedstawiciele, S. 76. Rudnicki, Z˙ydzi, S. 99. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 43, nennt falsch den 10. Dezember 1922 als Datum des Antrags.

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Schulwesen der Minderheiten für die Zukunft in Aussicht stellte.575 Ein durch den ukrainischen Abgeordneten Chruc’kyj eingebrachter Antrag des Bildungsausschusses, der die Regierung aufforderte, die Bestimmung des Art. 18 des Schulunterhaltungsgesetzes umzusetzen, wurde vom Sejm am 27. April 1923 angenommen.576 Derweil reduzierte sich die Anzahl deutscher Schulen in Mittelpolen dramatisch: Hatte es dort nach Angaben August Uttas Ende 1919 noch 534 Schulen mit vollständig oder teilweise deutscher Unterrichtssprache gegeben, so wurde die Zahl bis Ende 1922 auf 224 vermindert. Ende 1924 zählte Utta noch 60 Schulen mit rein deutscher Unterrichtssprache, wobei er eine genaue Zahl über diejenigen Schulen mit teilweise deutscher Unterrichtssprache schuldig blieb.577 Dass die restriktive Schulpolitik Polens mit Mittelpolen genau die Region traf, in denen die deutsche Bevölkerung dem polnischen Staat eher aufgeschlossen gegenüber stand, spielte für die polnischen Regierungen offenbar keine Rolle. Gegen diese Politik der Schulschließung, die nicht die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung widerspiegelte,578 opponierten die deutschen Abgeordneten wieder und wieder. Ihre Erfolge blieben bescheiden: Ein Versuch Uttas, mittels eines Antrags der deutschen Fraktion im Sejm die Einbringung des in Aussicht gestellten Minderheitenschulgesetzes zu erzwingen, scheiterte am 28. Juli 1923.579 Ebenso ließ die Mehrheit des Sejm einen eingebrachten Gesetzentwurf des jüdischen Abgeordneten Grünbaum am 27. November 1923 scheitern, den immerhin Karau zuvor mitunterschrieben hatte.580 Aus einer Anfrage der deutschen Fraktion, die Utta am 22. Juni 1923 eingebracht hatte, und die den Gebäudebesitz und die Zukunft des deutschen Schulwesens in Mittelpolen zum Inhalt hatte, und die aus Sicht der deutschen Fraktion nur bedingt beantwortet worden war, entstand am 5. Juni 1924 eine der längsten Debatten über das deutsche Schulwesen. Aus Sicht des Bildungsministers Bolesław Miklaszewski war die Anfrage nämlich ausreichend beantwortet worden. Miklaszewski verwies auf den Minderheitenschutzvertrag, der 575 Ustawa o zakładaniu i utrzymywaniu publicznych szkjł powszechnych [Gesetz über die Gründung und die Unterhaltung allgemeiner öffentlicher Schulen] (17. 02. 1922), in: DzURP 18 (1922), poz. 143. 576 I. Sejm, 36. Sitzung (27. 04. 1923), S. 42–44. 577 I. Sejm, 197. Sitzung (27. 04. 1925), S. 74f. Blanke, Orphans, S. 79. Szablicka-Z˙ak, Szkolnictwo, S. 141. 578 Eser, Schulwesen, S. 268f. 579 I. Sejm, 59. Sitzung (28. 07. 1923), S. 84–89. 580 Wniosek posła Grünbauma i towarzyszy w sprawie organizacji publicznego szkolnictwa powszechnego dla mniejszos´ci narodowos´ciowych i wyznaniowych [Antrag des Abgeordneten Grünbaum und Genossen über die Organisation des allgemeinen öffentlichen Schulwesens der nationalen und religiösen Minderheiten] (26. 07. 1923), in: Sejm RP, okres I, Druk Nr 800. I. Sejm, 82. Sitzung (27. 11. 1923), S. 50–53.

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Polen nicht zum Aufbau eines deutschen Schulwesens in Mittelpolen verpflichten würde. Es gelang Utta nachfolgend nicht, den Sejm von der Notwendigkeit einer Aussprache zu überzeugen, worauf er versuchte, wenigstens eine Diskussion über die Stellung des evangelischen Religionsunterrichts in Gang zu bringen. Eine mündliche Stellungnahme dazu lehnte Miklaszewski unter Beifall allerdings ab. Nachdem Utta nochmals Benachteiligungen der Protestanten bemängelt hatte, scheiterte auch ein zweiter Antrag auf offene Diskussion der Thematik an der Parlamentsmehrheit.581 Nachdem fast alle Minderheitenabgeordneten bei der Aussprache über den Etat des Bildungsministeriums am 28. Juni 1924 kurzzeitig unter Protest den Saal verlassen hatten,582 gab im Juli das zu verabschiedende Schulorganisationsgesetz Zerbe und Utta neuen Grund zur Klage. Dabei ging Utta sehr positiv auf die Schulautonomie in Lettland ein, über die er sagte: »Wir brauchen gar nicht weit weg nach einem Vorbild zu suchen, gehen wir nämlich nach Norden, so finden wir dort in Lettland diese Sache hervorragend geregelt.«583 Auch dieser Verweis auf das Nachbarland verhallte ungehört: Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes am 31. Juli 1924, das maßgeblich von Politikern des ehemaligen deutschen Teilungsgebiets wie Władysław Grabski initiiert worden war, wurde die Polonisierung des Schulwesens der Minderheiten weiter vorangetrieben.584 Am 5. Dezember 1924 kam es zu einem der seltenen Fälle, in denen es Utta gelang, einen Antrag vor dem Plenum durchzusetzen: Er hatte eine Änderung in den vorläufigen Bestimmungen über die Grundschulen Mittelpolens, dass die Vertreter der Glaubensgemeinschaften in den Schulräten lediglich Geistliche zu sein hätten, beantragt. Aufgrund des Mangels an Geistlichen sollten auch weltliche Vertreter der evangelischen Konfession in die Schulräte aufgenommen werden können. Diesem Antrag wurde entsprochen.585 Trotz des besseren Schutzes der deutschen Schulen in den ehemals reichsdeutschen Gebieten war auch dort das deutsche Schulwesen ein ausgesprochen wichtiges Politikfeld. Dies schlug sich allerdings parlamentarisch weniger nieder. Einer der Gründe war, dass der insgesamt engagierteste Abgeordnete in Schulfragen aus Pommerellen und Posen, Kurt Graebe, im Parlament nur zu Beginn seiner Mandatszeit ein Instrument zur Lösung der Probleme erblickte. Zuvor hatte Graebe bereits Ende 1919 als Leiter des deutschen Schulwesens in 581 I. Sejm, 124. Sitzung (05. 06. 1924), S. 28–37. Hauser, Przedstawiciele, S. 187–189. 582 I. Sejm, 139. Sitzung (28. 06. 1924), S. 58. Eser, Entnationalisierung, S. 96. 583 I. Sejm, 146. Sitzung (09. 07. 1924), S. 45. Wortlaut des Zitats im Original: »Nie potrzebujemy daleko szukac´ wzoru, pjjdz´my na pjłnoc i tam na Łotwie znajdziemy te˛ sprawe˛ doskonałe uregulowana.« 584 I. Sejm, 139. Sitzung (28. 06. 1924), S. 73–78; 146. Sitzung (09. 07. 1924), S. 39–47. Heike, Minderheit, S. 314. 585 I. Sejm, 167. Sitzung (05. 12. 1924), S. 44f.

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den an Polen fallenden Gebieten Westpreußens erfolglos versucht, mit Vertretern des Ministeriums des ehemaligen preußischen Teilungsgebiets Polens eine Schulautonomie auszuhandeln. Im Gegenzug bot er die Loyalität der deutschen Bevölkerung, die er mit dem Hinweis verband, dass angesichts des Konflikts Polens mit den Sowjets – der zu diesem Zeitpunkt noch kein offener Krieg war – die Mehrzahl der Deutschen nicht pro-sowjetisch orientiert wären.586 Graebe engagierte sich auch nach seiner Wahl in den Sejm 1922 vor allem außerparlamentarisch für die deutsche Schule. Zwar verantwortete er zu Beginn seines Mandats noch gelegentlich Anfragen, insgesamt sprach er allerdings 1922–1935 nur ein einziges Mal – nämlich am 31. Oktober 1923 –587 vor dem Sejm und nahm lediglich an 89 von 343 namentlichen Abstimmungen teil. Mit Sicherheit haben bei ihm, wie auch bei manch anderem, die nicht genügenden Sprachkenntnisse eine Rolle gespielt, was er auch selbst einräumte.588 Daczko und Graebe leiteten ab 1920/1921 den reorganisierten Deutschen Schulverein (DSV). Diese Konstellation währte bis zum Tod Daczkos 1928. Dadurch, dass Graebe einer der beiden Vorsitzenden war, wurde der DSV auch in das DtBVerbotsverfahren 1923 hineingezogen.589 In der ersten Rede eines deutschen Abgeordneten aus Pommerellen schloss sich Hasbach am 21. Oktober 1920 den schulpolitischen Forderungen der mittelpolnischen Abgeordneten an.590 Neben dem genuin nationalen Ziel der Abwehr einer befürchteten Polonisierung der deutschen Schulkinder spielte auch die Sicherstellung der Berufschancen eine Rolle. So gewährleiste laut Hasbach nur »eine gründliche schulische Ausbildung dem Deutschen in der Welt den Ruf eines begabten Organisators.«591 Die territoriale Spaltung des deutschen Schulwesens in Polen zeigte sich auch hin und wieder in der Fraktion: Bei der Haushaltsdebatte am 27. und 28. April 1925 traten für die deutsche Fraktion trotz inhaltlich völlig übereinstimmenden Positionen zwei Redner auf, um ihre Sichtweise in Schulfragen zu verdeutlichen: Utta für Mittelpolen und Daczko für Pommerellen und Posen.592 586 Eser, Schulwesen, S. 296, 301–312. Ob sich vor diesem Hintergrund, vgl. Eser, Schulwesen, S. 325, das Selbstbild Paul Dobbermanns – des Leiters der Schulabteilung des DtB und später des DV – aufrechterhalten lässt, dass nahezu alle parlamentarischen Initiativen auf ihn zurückgegangen wären, ist fraglich. 587 I. Sejm, 75. Sitzung (31. 10. 1923), S. 15. 588 Kurt Graebe an den Generalsekretär des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart, Fritz Wertheimer (08. 08. 1929), in: APB, zesp. 2448, 24, S. 7. Blachetta-Madajczyk, Klassenkampf, S. 284. Bierschenk, Kronig, S. 102. 589 Eser, Schulwesen, S. 317, 321–327. Blanke, Orphans, S. 144. 590 Verfassungsgebender Sejm, 176. Sitzung (21. 10. 1920), S. 6. 591 Verfassungsgebender Sejm, 246. Sitzung (01. 10. 1921), S. 48. Wortlaut des Zitats im Original: »[…] gruntowne wykształcenie szkolne zapewniły Niemcom w ´swiecie opinje˛ zdolnego organizatora.« 592 I. Sejm 197. Sitzung (27. 04. 1925), S. 73–76; 198. Sitzung (28. 04. 1925), S. 8–12.

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Die Untätigkeit der polnischen Fraktionen im Minderheitenschulwesen und die Verabschiedung der Kulturautonomie in Estland 1925 führten innerhalb der deutschen Fraktion, ausgehend von der Bromberger DSV-Zentrale, zu einer Vergrößerung des Forderungskatalogs. Nunmehr wurde auf Basis des Art. 109 der Verfassung – auf den im folgenden Kapitel noch eingegangen wird – mindestens eine Schulautonomie nach lettischem oder gar eine Kulturautonomie nach estnischem Vorbild gefordert. Diese Forderungen, die 1925 in einer Denkschrift an die Regierung übergeben wurden, waren parlamentarisch zuerst von Piesch und Daczko erhoben worden.593 Gleichzeitig ging der Kampf gegen die Einschränkungen des deutschen Schulwesens weiter : Utta übte am 14. Dezember 1925 bei der Verabschiedung des Gesetzes über die Lehrgrundsätze neuerlich Kritik an der staatlichen Schikane gegenüber deutschen Lehrern.594 Die nur einen Monat später folgende Lesung des Gesetzes über die Dienstverhältnisse der Lehrer nutzte Utta in sieben Wortmeldungen am 15. Januar und 9. Februar 1926 zu einem Plädoyer für einen laizistischen Staat. Er wandte sich gegen eine starke Rolle der Katholischen Kirche im Schulwesen und monierte Bestrebungen, die Schule als Mittel zur Polonisierung der Minderheiten einzusetzen.595 Zur zweiten Lesung des Gesetzes hatte Utta – oft gemeinsam mit dem Ukrainer Chruc’kyj – 25 Änderungsanträge eingebracht, von denen in zweiter Lesung zwei auf Empfehlung des Vorsitzenden des Bildungsausschusses, Julian Smulikowski (PPS), angenommen wurden.596 Bei der dritten Lesung wurden 14 neue Änderungsanträge Uttas allesamt abgewiesen.597 Aufgrund des Mai-Putsches und der folgenden Neuordnung der politischen Landschaft geriet die Schulfrage 1926 zeitweilig in den Hintergrund. Utta sprach sie am 28. Januar 1927 erstmalig wieder an. Die Anzahl der deutschen Schulen hatte sich weiter stark vermindert, da es in Mittelpolen nach Uttas Angaben nur noch zwölf Schulen mit rein und 86 mit teilweise deutscher Unterrichtssprache gab. Die geografische Arbeitsteilung innerhalb der deutschen Fraktion hielt an: Einen Tag nach Uttas Rede kritisierte Otto Krajczyrski in einer mehrmals unterbrochenen Ansprache die Lage der deutschen Schulen im polnischen Teil Oberschlesiens.598 Interessant ist, dass die DSV-Leitung ausgerechnet gegenüber den Abgeord593 I. Sejm, 195. Sitzung (24. 04. 1925), S. 43; 198. Sitzung (28. 04. 1925), S. 12. Eser, Schulwesen, S. 351. 594 I. Sejm, 260. Sitzung (14. 12. 1925), S. 34–41. 595 I. Sejm, 267. Sitzung (15. 01. 1926), S. 21–23, 33f, 37f, 41, 44, 49f; 270. Sitzung (09. 02. 1926), S. 15–17. 596 I. Sejm, 268. Sitzung (03. 02. 1926), S. 34–50. 597 I. Sejm, 270. Sitzung (09. 02. 1926), S. 37–42. 598 I. Sejm, 314. Sitzung (28. 01. 1927), S. 66; 315. Sitzung (29. 01. 1927), S. 23–26.

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neten Utta und Kronig 1928 mehr Aktivismus in Schulfragen anmahnte.599 Denn bei beiden, vor allem aber bei Utta, handelte es sich um Abgeordnete, die sich am meisten um die Schulfrage im Parlament bemühten. So ließ sich Utta am 2. Juni 1928 nicht von zahlreichen Zwischenrufen und Störungen davon abhalten, die polnische Schulpolitik zu kritisieren. In einer direkten Antwort wies Bildungsminister Gustaw Dobrucki die Kritik Uttas zurück und betonte die Tatsache, dass die Genfer Oberschlesien-Konvention und der Minderheitenschutzvertrag für das deutsche Schulwesen in Mittelpolen keine Gültigkeit hätten. Die Zahl der deutschen Schulen würde sich durch Abwanderung der Deutschen vermindern. Dennoch würde es nach wie vor 180 öffentliche und 80 private Schulen mit deutscher Unterrichtssprache allein in Mittelpolen geben. Nach Verlesung dieser Statistik rief ein Zwischenrufer, Utta solle sich schämen.600 Dieser wiederum forderte den Minister auf, zwischen Schulen mit teilweise und vollständig deutscher Unterrichtssprache zu differenzieren, denn nur die Letzteren würde die deutsche Fraktion als deutsche Schulen begreifen. Neuerlich wies Utta darauf hin, dass 1919 noch 536 deutsche Schulen in Mittelpolen bestanden hätten.601 Nachdem Preußen als für die Schulpolitik zuständiges Land des Deutschen Reiches 1928 seiner polnischen Minderheit mehr Rechte – aber keine Schulautonomie – im Schulwesen eingeräumt hatte, erfolgte erstmalig die Gründung polnischer Schulen außerhalb des deutschen Teils Oberschlesiens. Gestärkt durch diese Entwicklung nahm die deutsche Fraktion einen neuen Anlauf in der Frage der Kulturautonomie. Von vornherein ging es in diesem Entwurf eines Kulturautonomiegesetzes im Kern um die deutsche Schule, weshalb der Antrag später auch vom Bildungsausschuss behandelt wurde. Am 7. Februar 1929 begründete Utta in einer Rede den Antrag. Er verwies auf die vorbildlichen Beispiele Finnlands, Estlands und Lettlands. Wie in Estland sollte die Größe von 3.000 Personen die Deutschen zur Kulturautonomie berechtigten.602 Formell wurde der Antrag Uttas am 1. März 1929 dem Bildungsausschuss zugeleitet. Wie in Lettland bei der Schul- und Kulturautonomie 1919 und 1923 stellte auch die deutsche Fraktion in Polen den Antrag lediglich für die deutsche Nationalität.603 Es war nämlich nicht gelungen, sich mit den anderen Nationalitäten oder mit der PPS – den einzigen potentiellen Unterstützern – auf eine gemeinsame Grundlage zu einigen. Dies schmälerte die Chancen auf eine Ver599 Eser, Schulwesen, S. 340. 600 II. Sejm, 15. Sitzung (02. 06. 1928), S. 53–66. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 263. 601 II. Sejm, 16. Sitzung (03. 06. 1928), S. 16–21. In seiner Rede vom 27. April 1925, vgl. I. Sejm, 197. Sitzung (27. 04. 1925), S. 74, hatte Utta 534 Schulen für 1919 genannt. 602 II. Sejm, 47. Sitzung (07. 02. 1929), S. 31f. Eser, Schulwesen, S. 352–354, 604–606. Ders., Entnationalisierung, S. 98f. Hauser, Przedstawiciele, S. 265f. Der Antrag findet sich in deutscher Sprache bei Heike, Deutschtum, S. 272–274. 603 II. Sejm, 55. Sitzung (01. 03. 1929), S. 103.

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abschiedung beträchtlich. In der Tat kam keiner der Anträge der Minderheiten oder der PPS zur Umsetzung.604 Utta blieb nicht der einzige deutsche Abgeordnete, der sich in der II. Legislaturperiode 1928–1930 mit Schulfragen beschäftigte. Auch Zerbe kritisierte an der Regierung die Ungleichbehandlung der Nationalitäten und machte dies an der Schulfrage fest.605 Da sich hingegen die fünf Abgeordneten der III. Legislaturperiode nach dem Scheitern aller vorangegangenen Initiativen nur wenig im Bereich der Schulpolitik einbrachten, hatte eine Rede Uttas zur Novelle des Gesetzes über die Dienstverhältnisse der Lehrkräfte am 28. Februar 1930 eine der letzten Äußerungen eines deutschen Abgeordneten speziell zur Schulfrage dargestellt.606 Nach dem Scheitern des Utta’schen Antrags und der generell geringen Aussichten auf eine Änderung der Schulpolitik der polnischen Regierung, versuchten sich die deutschen Vertreter mit Petitionen beim Völkerbund. Dies hatte den Nebeneffekt, dass Polen dadurch vor der internationalen Öffentlichkeit als intolerant dargestellt werden konnte. Graebe als Abgeordneter und Utta als Senator reichten 1931 Petitionen ein, 1932 folgte noch eine gemeinsame Petition Graebes, Naumanns und Uttas. Die Berechtigung der Petitionen wurde 1934 teilweise anerkannt, worauf es auch zu Verbesserungen kam. Für die parlamentarische Arbeit hatte dies jedoch keine Relevanz mehr, zumal Polens Außenminister Jjzef Beck im Namen der Regierung Polens den Minderheitenschutzvertrag am 13. September 1934 einseitig aufkündigte.607

3.4.3 Sprachenfrage und Kulturautonomie Die Sprachenfrage spielte, anders als in Lettland, nur eine geringe Rolle für die deutschen Abgeordneten, da in diesem Bereich kaum ein Entgegenkommen der polnischen Regierung und der Regierungsfraktionen zu erwarten war. Ervin Hasbach forderte am 21. Oktober 1920 die Gleichberechtigung des Deutschen und Polnischen im ehemaligen deutschen und österreichischen Teilungsgebiet.608 Ob Hasbach die Tatsache unbekannt war, dass in Galizien auch schon vor 1918 nur Polnisch Amtssprache gewesen war, seine Forderung also teilweise unsinnig war, muss dahingestellt bleiben. 604 Eser, Schulwesen, S. 354–357. Ders., Entnationalisierung, S. 100. 605 II. Sejm, 47. Sitzung (07. 02. 1929), S. 21–25; 75. Sitzung (07. 02. 1930), S. 24–26. Hauser, Przedstawiciele, S. 270. 606 II. Sejm, 82. Sitzung (28. 02. 1930), S. 48–50. 607 III. Sejm, 38. Sitzung (07. 11. 1931), S. 50f. Eser, Schulwesen, S. 358f. Kotowski, Polens Politik, S. 171, 184. 608 Verfassungsgebender Sejm, 176. Sitzung (21. 10. 1920), S. 7.

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Bestenfalls war eine Beibehaltung des Deutschen in denjenigen Gebieten als zweite Amtssprache denkbar, in denen es auch schon vor 1918 Amtssprache gewesen war. Die Politik der polnischen Regierung, unterstützt von den Regierungsfraktionen, zielte allerdings auf die Etablierung des Polnischen als alleinige Amtssprache ab, auch wenn in der inoffiziellen Praxis noch viele Jahre lang das Deutsche eine Rolle spielte. Offiziell wurde Deutsch allerdings lediglich übergangsweise weiter neben dem Polnischen gestattet, so vor dem Bezirksgericht Thorn bis 1924. Ein aufgrund der Mehrheitsverhältnisse eher symbolisch zu nennender Antrag Karl Daczkos auf eine dauerhafte Beibehaltung des Deutschen als Gerichtssprache in den Wojewodschaften Posen und Pommerellen war zuvor am 22. März 1923 abgelehnt worden.609 Eine Ausnahme stellten wiederum die Bestimmungen der Genfer Oberschlesien-Konvention vom 15. Mai 1922 dar. Diese sicherten dem Deutschen den Status als zweite Amtssprache in den polnisch werdenden Teilen Oberschlesiens bis 1937.610 Dies war der höchste Status, den eine Minderheitensprache in der II. Republik erlangte. Wie in Lettland gab es auch in Polen eine Diskussion um die Einführung einer Kulturautonomie. Dass diese überhaupt zu einem Thema werden konnte, war einer Bestimmung der Märzverfassung von 1921 geschuldet. In dem bereits im Zusammenhang mit dem deutschen Schulwesen genannten Art. 109 hieß es, dass »separate Staatsgesetze den Minderheiten im polnischen Staat die volle und freie Entfaltung ihrer nationalen Eigenheiten mittels autonomer Körperschaften der Minderheiten mit öffentlich-rechtlichem Charakter im Rahmen der allgemeinen Körperschaften der Selbstverwaltung garantieren.«611 Diese Bestimmung zeitigte allerdings keine Folgen, da kein entsprechendes Gesetz eingebracht wurde. 1925–1927 bekämpften die polnischen Delegationen beim europäischen Minderheitenkongress auf Anweisung des polnischen Außenministeriums den Gedanken der Kulturautonomie, der vor allem von den deutschen Vertretern propagiert wurde.612 Die Idee der Kulturautonomie war ausgesprochen attraktiv, weshalb die deutschen Abgeordneten die politische Entwicklung in Estland und Lettland

609 I. Sejm, 29. Sitzung (22. 03. 1923), S. 7–9. Blanke, Orphans, S. 67f. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 196. Kotowski, Polens Politik, S. 92f. 610 Deutsch-polnisches Abkommen über Oberschlesien (15. 05. 1922), in: Reichsgesetzblatt 1922, Teil II, S. 298. 611 Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej [Verfassung der Republik Polen] (17. 03. 1921), in: DzURP 44 (1921), S. 653. Wortlaut des Zitats im Original: »Osobne ustawy pan´stwowe zabezpiecza˛ mniejszos´ciom w Pan´stwie Polskiem pełny i swobodny rozwjj ich włas´ciwos´ci narodowos´ciowych przy pomocy autonomicznych zwia˛zkjw mniejszos´ci o charakterze publiczno-prawnym w obre˛bie zwia˛zkjw samorza˛du powszechnego.« 612 Kotowski, Polens Politik, S. 190–193.

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beobachteten.613 Nachdem in Estland im Februar 1925 ein Kulturautonomiegesetz verabschiedet worden war,614 äußerten Robert Piesch und Daczko am 24. und 28. April 1925 vor dem Sejm, dass für ein ähnliches Gesetz in Polen gekämpft werden müsste.615 Die Nichteinführung der Kulturautonomie in Polen wurde auch von Artur Kronig in seiner grundsätzlichen Rede nach dem MaiPutsch am 16. Juli 1926 moniert, in der er die Kulturautonomie-Bestimmung des Art. 109 der Märzverfassung vorlas und anschließend die Frage »Wo ist dies alles?«616 stellte. Die Forderung nach Kulturautonomie für die eher verstreut siedelnden Deutschen Polens vertraten Kronig und Zerbe auch gegenüber der PPS, die diese 1928 in das Wahlprogramm der Listenverbindung PPS-DSAP übernahm.617 Die Sanacja-Herrschaft, die sich 1928 mit dem Wahlerfolg des BBWR parlamentarisch weiter festigte, machte jedoch jedwede Erwartung einer gütlichen Entwicklung in der Kulturautonomie-Frage illusorisch. Dennoch versuchte Utta 1929 in dem im vorangegangenen Kapitel bereits genannten, im Kern auf das Schulwesen abzielenden Antrag, dieses Vorhaben durchzusetzen. Der Vorschlag blieb erfolglos. Ebenso verhallte auch eine erneute Kritik Emil Zerbes am 7. Februar 1930 ungehört.618 Letztmalig behandelte Eugen Franz am 6. November 1934 das Thema.619 Dies geschah nahezu ein Jahr nachdem die BBWR-Fraktion am 26. Januar 1934 den Entwurf einer neuen Verfassung eingebracht hatte. Dieser wies – wenig überraschend – keine entsprechende Bestimmung zu einem Kulturautonomiegesetz mehr auf. Mit Einführung dieser Verfassung im April 1935 entledigten sich das Sanacja-Regime und der BBWR des lästigen Themas Kulturautonomie endgültig.

613 Leitsätze zum Referat über innere Organisationsprobleme des Deutschtums, ausgearbeitet von Abg. Hasselblatt [deutscher Abgeordneter im Parlament Estlands, B.C.] (ca. 1926– 1928), Kurt Graebe an Paul Schiemann (12. 10. 1928); Paul Schiemann an Kurt Graebe (03. 11. 1928), in: APB, zesp. 2448, 112. 614 Eser, Schulwesen, S. 52, 239, 664. Garleff, Politik, S. 111. Michaelsen, Nationalitätenkongress, S. 55–59. Kotowski, Polens Politik, S. 186, nennt falsch 1920 als Jahr der Verabschiedung der Kulturautonomie in Estland. 615 I. Sejm, 195. Sitzung (24. 04. 1925), S. 43; 198. Sitzung (28. 04. 1925), S. 12. Bei Eser, Schulwesen, S. 351, Anm. 404, falsch auf den 24. April 1928 datiert. 616 I. Sejm, 292. Sitzung (16. 07. 1926), S. 35. Wortlaut des Zitats im Original: »Gdzie to wszystko jest?« 1929 kam Kronig nochmals darauf zurück, vgl. II. Sejm, 39. Sitzung (22. 01. 1929), S. 31. 617 Blachetta-Madajczyk, Klassenkampf, S. 164. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 225. Heike, Arbeiterbewegung, S. 89. Ders., Minderheit, S. 189. 618 II. Sejm, 75. Sitzung (07. 02. 1930), S. 24. 619 III. Sejm, 124. Sitzung (06. 11. 1934), S. 105.

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3.4.4 Agrarfrage Wie in Lettland gehörte auch die Agrarfrage zu den wichtigsten Politikfeldern der deutschen Parlamentarier in Polen, da in den Wojewodschaften Pommerellen, Posen und Schlesien zahlreiche Deutsche Landbesitzer waren. Diese wanderten in wesentlich geringerer Anzahl ab als deutsche Städter. Schon beim ersten Landreformgesetz von 1920 spielte die Rückübertragung der von der früheren deutschen Ansiedlungskommission aufgekauften Ländereien eine Rolle. Mithin wurde das Ziel verfolgt, den Landbesitz von Polen zu erhöhen. Von Seiten der deutschen Gruppe meldete sich allerdings am 15. Juli 1920 in diesem Kontext kein Abgeordneter zu Wort. Das Gesetz wurde einstimmig angenommen,620 aber 1921 faktisch durch die Märzverfassung wieder außer Kraft gesetzt.621 Generell nahmen auf dem agrarpolitischen Feld parlamentarische Initiativen der deutschen Gruppe, oft in Kooperation mit der jüdischen Gruppe und der PPS, nach Eintritt der sechs Abgeordneten aus Pommerellen 1920 zu. Zentrales Politikfeld, das auch international von Bedeutung war, blieb die Frage des Landbesitzes der deutschen Siedler, vor allem derjenigen, die sich nach 1908 angesiedelt hatten und nach der Regelung des Versailler Vertrags kein direktes Anrecht auf die polnische Staatsangehörigkeit hatten.622 Im Laufe der I. Legislaturperiode kamen Pläne für ein erneutes Landreformgesetz auf. Prinzipiell waren sich die deutschen Abgeordneten einig, jedwedes Gesetz, das eine weitere Enteignung der Deutschen zum Ziel hätte, abzulehnen und zu bekämpfen. Dies kündigte Otto Somschor vor dem Sejm am 14. Dezember 1923 an.623 Somschor blieb auch 1925, als das Gesetz ausgearbeitet wurde, mit sieben Auftritten vor dem Sejm agrarpolitischer Hauptakteur der deutschen Fraktion.624 Er vertrat die Mehrheitslinie der deutschen Fraktion, die größere Enteignungen deutscher Grundbesitzer zu vermeiden suchte. Argumentativ stütze er sich dabei beispielsweise auf die Behauptung, dass aufgrund des in Polen herrschenden Kontinentalklimas nur größere Höfe rentabel seien.625 Insgesamt 13 der bereits genannten 611 Änderungsanträge wurden von deutschen Parlamentariern vor der zweiten Lesung eingebracht, davon neun von 620 Verfassungsgebender Sejm, 164. Sitzung (15. 07. 1920), S. 30–39. Blanke, Orphans, S. 68–72. Breyer, Rogall, Deutsche im polnischen Staat, S. 383f. Hauser, Przedstawiciele, S. 14f. 621 Blanke, Orphans, S. 111. 622 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 37–41, 137–155. 623 I. Sejm, 88. Sitzung (14. 12. 1923), S. 28, 30. 624 I. Sejm, 203. Sitzung (07. 05. 1925), S. 52–54; 222. Sitzung (26. 06. 1925), S. 6–9; 224. Sitzung (01. 07. 1925), S. 22; 225. Sitzung (02. 07. 1925), S. 12f; 226. Sitzung (03. 07. 1925), S. 17, 52f. Hauser, Przedstawiciele, S. 158. Eine achte Wortmeldung wurde Somschor untersagt, vgl. 235. Sitzung (15. 07. 1925), S. 3. 625 I. Sejm, 222. Sitzung (26. 06. 1925), S. 7. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 159f.

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Somschor und vier von Eugen Naumann. Alle 13 wurden entweder abgelehnt oder zurückgezogen.626 Bei zwei Anträgen Somschors kam es zu namentlichen Abstimmungen, bei dem die deutsche Fraktion geschlossen für die jeweiligen Anträge stimmte. Hierbei zeigte sich allerdings auch, wie wenig Unterstützung die Deutschen unter den anderen Parlamentariern hatten: Die Ablehnung war mit 34 gegen 282 und 31 gegen 286 Stimmen jeweils mehr als deutlich. Unterstützung hatten beide Anträge nur bei einigen ukrainischen und jüdischen Abgeordneten gefunden.627 Das zweite Landreformgesetz war eine von den beiden Angelegenheiten, in denen die Uneinigkeit der deutschen Fraktion der Jahre 1922–1927 größere politische Relevanz hatte und auch außen wahrgenommen wurde.628 Gegen die von Somschor vertretene Mehrheitslinie wandte sich Kronig im Namen der linken Abgeordneten der deutschen Fraktion. In einer in klassenkämpferischem Ton gehaltenen Rede wies er am 1. Juli 1925 darauf hin, dass die Enteignung der Großgrundbesitzer auch den deutschen Kleinbauern und Landarbeitern helfen könnte, sofern die polnische Regierung die enteigneten Güter nicht nationalistisch für die Ansiedlung polnischer Landloser nutzen würde.629 Nach der zweiten Lesung machte sich Kronig allerdings keine Illusionen mehr und beklagte, dass die Landreform zu einem Enteignungsgesetz zuungunsten der nichtpolnischen Nationalitäten werden würde.630 Durch die Redebeiträge Somschors und Kronigs waren die verschiedenen Positionen innerhalb der deutschen Fraktion abgesteckt. Im Vorfeld der dritten Lesung stellten Karl Daczko nochmals sechs und Kronig zwei von insgesamt 388 Änderungsanträgen.631 Der Auszug der Abgeordneten der ukrainischen Fraktion und der weißrussischen Gruppe vor Beginn der dritten Lesung aus dem Sejm632 dürfte die ohnehin geringen Hoffnungen der deutschen Fraktion auf die

626 Vgl. dazu Poprawki do przedłoz˙onego przez Komisje˛ Reform Rolnych projektu ustawy o parcelacji i osadnictwie [Änderungsanträge zum durch den Landreformausschuss eingebrachten Entwurf des Landreform- und Siedlungsgesetzes] (1925), in: Sejm RP, okres I, Druk Nr 2045, Anträge 22, 55, 58, 99, 102, 141, 143, 246, 287a, 313, 315, 318 und 600. Zu den Abstimmungen vgl. die Anhänge zu I. Sejm, 232. Sitzung (11. 07. 1925); 233. Sitzung (13. 07. 1925); 234. Sitzung (14. 07. 1925); 235. Sitzung (15. 07. 1925). 627 I. Sejm, 232. Sitzung (11. 07. 1925), Anhang. 628 Stolin´ski, Klub, S. 319. 629 I. Sejm, 224. Sitzung (01. 07. 1925), S. 4–7. 630 I. Sejm, 237. Sitzung (17. 07. 1925), S. 13f. 631 Vgl dazu Poprawki zgłoszone do trzeciego czytania projektu ustawy o parcelacji i osadnictwie [Änderungsanträge, eingereicht zur dritten Lesung des Entwurfs des Landreformund Siedlungsgesetzes] (1925), in: Sejm RP, okres I, Druk Nr 2072, Anträge 37, 98, 100, 155, 181, 255, 274 und 384. 632 I. Sejm, 237. Sitzung (17. 07. 1925), S. 29.

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Annahme auch nur einer der Änderungsanträge auf ein Minimum gesenkt haben. Alle acht Anträge wurden denn auch tatsächlich abgelehnt.633 Letztlich entschloss sich die deutsche Fraktion zur grundsätzlichen Ablehnung der Landreform in der eingebrachten Form. In dritter Lesung wurde das Gesetz am 20. Juli 1925 allerdings mit 200 gegen 89 Stimmen angenommen. Zu letzteren 89 hatten 14 deutsche Abgeordnete gehört, während Graebe, Piesch und Zerbe nicht oder ungültig gestimmt hatten.634 Im Oktober und November 1925 beschäftigte sich der Sejm nochmals mit dem Gesetz, da zahlreiche Änderungsanträge des Senats eingegangen waren, von denen 54 in namentlicher Abstimmung entschieden wurden. Zwar stimmten auch hier die deutschen Abgeordneten in neun Fällen uneinheitlich ab, allerdings handelte es sich nicht mehr um Differenzen nach politischer Gesinnung, wie dies noch im Juli 1925 der Fall gewesen war. Vielmehr war es fast immer nur ein einzelner Abgeordneter, der andere Ansichten vertrat.635 Das Landreformgesetz von 1925 wurde, wie befürchtet, zu einem der wichtigsten Instrumente der (Re-)Polonisierung in Pommerellen und Posen. Etwa 40 % des deutschen und 60 % des polnischen Landbesitzes sollten in beiden Wojewodschaften zusammen zur Umverteilung herangezogen werden, faktisch wurde aber weit überproportional Boden deutscher Landbesitzer tatsächlich eingefordert.636 In einer Zwischenbilanz der Agrarreform, die Berndt v. Saenger am 6. Februar 1930 zog, verwies dieser neuerlich darauf, dass die Reform genau zu der von der deutschen Fraktion beständig beklagten »Entdeutschung« geführt hätte.637 Eine weitere landwirtschaftliche Debatte entspannte sich im Herbst 1928 um eine Novelle zum Gesetz über die Entschädigung der ehemaligen Landbesitzer, freien Leute und Pächter. In dieser Debatte sprach sich Utta für den Antrag des Landreformausschusses und damit gegen die Vorschläge der Regierung Bartel aus, da er in Letzteren aufgrund deren Orientierung an der polnischen Nationalität neuerlich ein Instrument zur Unterdrückung der Minderheiten ausmachte.638

633 Vgl. dazu I. Sejm, 237. Sitzung (17. 07. 1925), 239. Sitzung (20. 07. 1925). 634 I. Sejm, 239. Sitzung (20. 07. 1925), S. 22, 27–30. 635 Vgl. dazu I. Sejm, 247. Sitzung (30. 10. 1925), 248. Sitzung (05. 11. 1925), 249. Sitzung (06. 11. 1925). 636 Blanke, Orphans, S. 112–115. 637 II. Sejm, 74. Sitzung (06. 02. 1930), S. 67–69. 638 II. Sejm, 31. Sitzung (16. 11. 1928), S. 16f; 33. Sitzung (23. 11. 1928), S. 11f, 45f.

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3.4.5 Kirchliche Angelegenheiten Wie in Lettland gehörten auch kirchliche Angelegenheiten zu den beständigen Themenfeldern der deutschen Parlamentarier. Anders als in Lettland determinierte die überwiegende Zugehörigkeit der Deutschen Polens zur evangelischen Konfession allerdings auch hier eine Konfliktlage mit den mehrheitlich katholischen Polen. 98 % der Staatsbürger polnischer Nationalität waren Katholiken, während die Mehrheit jeder nationalen Minderheit anderen christlichen Konfessionen oder dem Judentum angehörte.639 Während der Verhandlungen über die Verfassung 1920–1921 beantragte Ernst Barczewski die Aufnahme eines Artikels in die Verfassung, der den evangelischen Kirchen Autonomie sichern sollte.640 Als erster Redner in kirchlichen Angelegenheiten erinnerte Friese in seiner einzigen Rede vor dem Verfassungsgebenden Sejm am 11. März 1921 an die liberale Tradition der Adelsrepublik und trat der Idee einer Beschränkung des Präsidentenamts auf katholische Staatsbürger entgegen.641 Da Letzteres dem Gleichheitsgrundsatz widersprach, wurde es nicht in die Verfassung übernommen. Trotz formeller Gleichberechtigung wurde allerdings der Katholischen Kirche eine privilegierte Stellung eingeräumt, die Kirchenautonomie für alle anderen Kirchen unterlag der staatlichen Genehmigung.642 Bereits zuvor, am 2. Juli 1920, war ein Gesetzentwurf über die Organisation der Evangelischen Kirche Polens durch die konservative National-Christliche Arbeiterfraktion gemeinsam mit Gustav Heike und Josef Spickermann eingebracht worden. Der Gesetzentwurf war durch Juliusz Bursche, dem Oberhaupt der zweitgrößten protestantischen Kirche Polens, der Evangelischen Kirche Polens Augsburger Konfession, ausgearbeitet worden. Bursche und die Deutschen Polens standen sich gegenseitig mit starken Vorbehalten gegenüber.643 Der Gesetzentwurf Bursches stieß nachfolgend auf viel Widerstand unter den deutschen Protestanten, die vor allem Angst vor Polonisierungen hegten. Des639 Wagner, Kleindienst, Protestantismus, S. 147f. 640 Verfassungsgebender Sejm, 188. Sitzung (23. 11. 1920), S. 23f. 641 Verfassungsgebender Sejm, 218. Sitzung (11. 03. 1921), S. 29–32. Hauser, Przedstawiciele, S. 49f. 642 Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej [Verfassung der Republik Polen] (17. 03. 1921), in: DzURP 44 (1921), poz. 267. Kleindienst, Wagner, Parlamentarismus, S. 94. 643 Wniosek nagły posła Nadera i tow. z NPR w sprawie wydania ustawy zasadniczej o stosunku Kos´ciołjw Ewangielickich w Polsce do Pan´stwa [Dringlichkeitsantrag des Abgeordneten Nader und Genossen der Nationalen Arbeiterpartei (NPR) über den Erlass eines Rahmengesetzes über die Beziehungen der Evangelischen Kirchen in Polen zum Staat] (02. 07. 1920), in: Verfassungsgebender Sejm, Druk Nr 1984. Deutsche Übersetzung bei Kleindienst, Wagner, Protestantismus, S. 424–429. Blanke, Orphans, S. 81f. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 44. Kleindienst, Wagner, Protestantismus, S. 70f, 79f, 82. Krebs, Kirchen, S. 96.

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halb musste sich Spickermann nicht nur von seiner Unterstützung des Bursche’schen Antrags distanzieren. Vielmehr bemühte er sich auch um die Gewinnung von 29 Parlamentariern für einen konkurrierenden Dringlichkeitsantrag, mit dem die Behandlung des vormals eigenen Antrags verzögert werden sollte. Dies gelang, nachdem im Januar 1921 noch ein weiterer, lapidar formulierter Gesetzentwurf des bereits genannten ND-Abgeordneten Lutosławski eingereicht worden war, der die evangelischen Kirchen zu schlichten Vereinen gemacht hätte. In einer anschließenden Anhörung nannten fünf evangelische Kirchen den ND-Gesetzentwurf unannehmbar, ebenso den Entwurf Bursches, selbstverständlich mit Ausnahme dessen eigener Kirche. Beide Gesetzentwürfe wurden daher parlamentarisch nicht weiter behandelt.644 Mit einer 1922 durch Paweł Bobek (PSL-»Piast«) eingebrachten Novelle zum 1849 unter Kaiser Nikolaus I. in Kraft getretenen Gesetz über die Evangelische Kirche im Königreich Polen, bei der es um die Etablierung und Vergrößerung der Synode der evangelisch-augsburgischen Kirche von zehn auf 202 Mitglieder ging, war Spickermann im Namen der deutschen Gruppe teilweise einverstanden, brachte jedoch vier Änderungsanträge ein, die teilweise Beschlüsse zweier Versammlungen Lodzer Protestanten beinhalteten. Trotz des beherzten Auftretens Spickermanns wurden alle vier Anträge abgelehnt.645 Nachfolgend gelang es Spickermann, neben den anderen sechs Angehörigen der deutschen Gruppe, 23 Abgeordnete der polnischen Linken für einen Dringlichkeitsantrag mit dem Ziel einer demokratischen Wahlordnung zur Synode zu gewinnen.646 Dieser Antrag konnte allerdings auf der Sitzung am 27. April 1922 nicht eingebracht werden, da Spickermann abwesend war, obwohl 644 Wniosek nagły posła Spickermana i innych w sprawie ustawy kos´cielnej dla kos´ciołjw ewangelickich w Rzeczypospolitej Polskiej [Dringlichkeitsantrag des Abgeordneten Spickermann und anderen zum Kirchengesetz für die evangelischen Kirchen in der Republik Polen] (05. 10. 1920), in: Verfassungsgebender Sejm, Druk Nr 2109. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 45. Kleindienst, Wagner, Protestantismus, S. 80–86, 429–431. 645 Sprawozdanie komisji konstytucyjnej o wniosku nagłym posła Bobka i tow. w przedmiocie zmiany paragrafjw 151–162 Ustawy dla Kos´cioła EwangelickoAugsburskiego [sic] w Krjlestwie Polskiem z dnia 20 lutego 1849 [Bericht des Verfassungsausschusses über den Dringlichkeitsantrag des Abgeordneten Bobek und Genossen zur Änderung der Paragrafen 151–162 des Gesetzes über die Evangelisch-Augsburgische Kirche im Königreich Polen vom 20. Februar 1849] (05. 04. 1922), in: Verfassungsgebender Sejm, Druk Nr 3455. Verfassungsgebender Sejm, 298. Sitzung (07. 04. 1922), S. 32–36. Hauser, Przedstawiciele, S. 77. Kleindienst, Wagner, Protestantismus, S. 104. Dies., S. 105, irren sich in der Legislaturperiode bei der Benennung von Abgeordneten für das Frühjahr 1922. 646 Wniosek nagły posła Spickermana z Klubu Zjednoczenia Niemieckiego i innych posłjw w sprawie zwołania Synodu Konstytucyjnego Kos´cioła Ewangelicko-Augsburskiego (Luterskiego) w Polsce [Dringlichkeitsantrag des Abgeordneten Spickermann vom Klub der Deutschen Vereinigung und anderer Abgeordneter über die Einberufung der Verfassungsgebenden Synode der Evangelisch-Augsburgischen (Lutherischen) Kirche in Polen] (27. 04. 1922), in: Verfassungsgebender Sejm, Druk Nr 3502.

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er sich auf die Rednerliste hatte setzen lassen. Stattdessen wurde der von Bobek eingebrachte Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen.647 1922–1923 gab es innerhalb der evangelisch-augsburgischen Kirche fortwährend nationale Konflikte, die mit dem Auszug von 67 polnischen Synodalen unter Bursche aus der Synode am 10. Januar 1923 einen Höhepunkt erreichten. Eine Spaltung konnte jedoch vermieden werden. Zu den zehn Personen auf deutscher Seite, die an den Verhandlungen mit dem polnischen Teil der Kirche über einen Ausgleich teilnahmen, gehörten die Abgeordneten Karau und Utta sowie der unter dem Namen Andreas Needra im Exil in Polen lebende Andrievs Niedra. Dieser trat dort als »früherer Ministerpräsident Lettlands« auf, ehe er sich 1924 den lettischen Behörden stellte. An der nachfolgenden Konsolidierung des deutschen Teils der evangelisch-augsburgischen Kirche nahmen mit Karau, Kronig, Spickermann, Somschor, Utta, Will und Zerbe alle damaligen Abgeordneten Mittelpolens teil.648 Noch vor dem zweiten Landreformgesetz war die andere der beiden Angelegenheiten, in denen die Uneinigkeit der deutschen Fraktion größere politische Relevanz hatte, der Abschluss des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl im Februar und März 1925 gewesen.649 Während Krajczyrski als Priester bereits seine prokatholischen Überzeugungen bei der Feiertagsgesetzgebung am 12. Februar 1925 zum Ausdruck gebracht hatte,650 sprach sich Kronig im Namen der deutschen Fraktion – die aus zwölf Protestanten und fünf Katholiken bestand – am 25. März 1925 gegen das Konkordat aus. Kronig missbilligte vor allem Regelungen zur Eheschließung. Tags darauf stimmten in namentlicher Abstimmung zehn Abgeordnete aus allen politischen Richtungen und Regionen für eine Ablehnung des Konkordats, darunter auch die Katholiken Franz und Wlodasch. Lediglich die beiden Priester Krajczyrski und Klinke stimmten dafür. Damit befand sich die deutsche Fraktion einmal mehr auf Seiten der Minderheit im Sejm: Am 27. März 1925 wurde das Konkordat in dritter Lesung angenommen.651 Die in der Märzverfassung von 1921 gewährte Möglichkeit einer Autonomie für nicht-katholische Kirchen traf im Bereich der evangelischen Kirchen das gleiche Schicksal wie die Bestimmung über die Kulturautonomie: Der Bestimmung folgte kein Gesetz, obwohl 1923–1928 alle sieben evangelischen Kirchen 647 Verfassungsgebender Sejm, 300. Sitzung (27. 04. 1922), S. 5. 648 Bericht v. Fircks’ an den A.P. (10. 05. 1924), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 337. Kleindienst, Wagner, Protestantismus, S. 108, 116, 131. 649 Hauser, Przedstawiciele, S. 209f. Stolin´ski, Klub, S. 319. 650 I. Sejm, 177. Sitzung (12. 02. 1925), S. 58f. 651 I. Sejm, 188. Sitzung (25. 03. 1925), S. 60–62; 189. Sitzung (26. 03. 1925), S. 65–72; 190. Sitzung (27. 03. 1925), S. 22. Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 79f. Hauser, Przedstawiciele, S. 250f.

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Polens entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt hatten. Die wohl schon 1925 offensichtliche dilatorische Einstellung der Regierung mag die negative Einstellung der deutschen protestantischen Parlamentarier gegenüber dem die Katholische Kirche erneut privilegierenden Konkordat gefördert haben.652 1929 lehnte die Regierung S´witalski alle sieben Entwürfe ab und beauftragte das Ministerium für religiöse Bekenntnisse und öffentliche Bildung, einen eigenen Entwurf zu erarbeiten. Hierüber informierte der nachfolgende Ministerpräsident Bartel am 10. Januar 1930 den Sejm.653 Der Gesetzentwurf wurde 1930–1933 durch das Ministerium ausgearbeitet, das wiederum insgeheim mit Bursche in beständigem Austausch stand. In diesen Jahren spielten die deutschen Abgeordneten aufgrund ihrer Verminderung von 21 auf fünf in religionspolitischen Angelegenheiten bereits keine Rolle mehr. Der schlussendliche Gesetzentwurf vom 7. Juli 1933 ordnete den evangelischen Kirchen Polens eine klar nachrangige Stellung gegenüber der Katholischen Kirche zu und verlangte das Polnische als Kirchensprache. Er stieß auf einhellige Ablehnung der deutschen, aber auch zahlreicher polnischer Protestanten. Nochmalige Verhandlungen führten zu einem revidierten Entwurf vom 26. Juli 1935, der am 25. November 1936 durch ein Dekret Mos´cickis in Kraft trat,654 also eineinhalb Jahre nachdem die Präsenz Deutscher im Sejm geendet hatte.

3.5

Zusammenfassung

Die Repräsentanz deutscher Abgeordneter im Sejm Polens in der Zwischenkriegszeit unterlag starken Schwankungen. Gab es zunächst zwei (1919–1920) Abgeordnete, so steigerte sich diese Zahl auf acht (1920–1922), anschließend auf 17 (1922–1927), um mit 21 (1928–1930) ihren Höhepunkt zu erreichen. Später gab es noch fünf (1930–1935), schlussendlich gar keine (1935–1939) deutschen Abgeordneten mehr. Wie angesprochen, nahm die Frage der Loyalität für die deutschen Abgeordneten einen wichtigen Platz ein. In diesem Bereich zeigten sich deutliche Differenzen: Die ersten Parlamentarier 1919–1920 waren zunächst loyal und aktivistisch eingestellt. Die 1920 nachgewählten Abgeordneten Pommerellens standen der Republik Polen dagegen viel distanzierter gegenüber. Vorübergehend konkurrierten beide Strömungen, ehe Spickermanns kritische Rede am 652 Kleindienst, Wagner, Protestantismus, S. 133–136, 149. 653 II. Sejm, 66. Sitzung (10. 01. 1930), S. 48. 654 Dekret prezydenta Rzeczypospolitej o stosunku Pan´stwa do Kos´cioła Ewangelicko-Augsburskiego w Rzeczypospolitej Polskiej [Dekret des Präsidenten der Republik über die Beziehungen des Staates zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche in der Republik Polen] (25. 11. 1936), in: DzURP 88 (1936), poz. 613. Kleindienst, Wagner, Protestantismus, S. 151–158.

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16. Dezember 1921 parlamentarisch das frühe Ende des deutschen Aktivismus markierte. Aufgrund des Führungsstreits des Belweder-Lagers um Staatschef Piłsudski mit den Nationaldemokraten nach dem Ende des Polnisch-Sowjetischen Krieges unterstützten deutsche Gruppe und Fraktion allerdings bis 1923 die Regierung. Ausschlaggebend war, dass das Belweder-Lager als kleineres Übel angesehen wurde. Nach 1922 wurden noch öfter aktivistische Signale ausgesandt, wie durch die Entsendung August Uttas 1922 in den Parlamentsvorstand, während gleichzeitig die ukrainische Fraktion auf das ihr zustehende Amt verzichtete. Diese Signale stießen aber nur auf ausgesprochen geringe Resonanz. Ohnehin unterschied sich die Bereitschaft zu parlamentarischer Aktivität innerhalb der Abgeordneten stark nach ihrer regionalen Herkunft: 1920–1930 waren die zunächst zwei und dann beständig sechs deutschen Abgeordneten aus Kongresspolen, Wolhynien und Galizien – also aus Gebieten mit 1914 nichtdeutscher Amtssprache – für 90 Wortmeldungen verantwortlich, stellten 1922– 1930 stets das Mitglied des Parlamentspräsidiums der deutschen Fraktion und nahmen zunächst zehn von 21 (1922) und später immer noch neun von 27 (1928) Ausschusssitzen ein. Dagegen meldeten sich die zunächst sechs, dann elf und schließlich 15 Abgeordneten aus ehemaligen Reichsgebieten und dem Teschener Schlesien – also mit 1914 deutscher Amtssprache – 1920–1930 kumuliert nur 39mal zu Wort und nahmen zunächst nur elf der 21 (1922), später aber immerhin 18 der 27 Ausschusssitze (1928) ein.655 Diese vor allem in den ersten Jahren zu beobachtende vielfach höhere Aktivität deutscher Abgeordneter aus Kongresspolen ist zunächst auf deren höhere Sprachkompetenz zurückzuführen.656 Im Bereich der Antragstellung und der Beteiligung an namentlichen Abstimmungen ist nämlich kein solch hervorstechender Unterschied festzustellen. So nahmen die Abgeordneten aus Kongresspolen, Wolhynien und Galizien 1920–1930 im Schnitt an 57 %, die aus Pommerellen, Posen und Schlesien an 53 % aller namentlichen Abstimmungen teil. Ausgehend von der Ermordung Narutowiczs 1922 bis zum Abschluss des Lanckorona-Pakts 1923 konnte – nachdem die Nationaldemokraten und Konservativen an die Macht gekommen waren – nicht einmal der zuvor teilkooperative Kurs der deutschen parlamentarischen Gruppe beibehalten werden. 1923–1925 war die Einstellung der deutschen Fraktion zur polnischen Regierung beständig negativ. Kurze Auslotungen möglicher Kurskorrekturen in der Minderheitenpolitik bei den Regierungen Skrzyn´ski (1925) und auch das 655 Für die Ausschusssitze für 1922 Stolin´ski, Niemcy, S. 29, für 1928 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 233–248. 656 Hauser, Przedstawiciele, S. 102, 215. Die hohe Sprachkompetenz Kronigs wurde schon zeitgenössisch festgestellt, vgl. Stolin´ski, Klub, S. 321. Wertheimer, Parteien 1927, S. 92.

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Votum für die Präsidentschaftskandidaten Piłsudski und Mos´cicki (1926) änderte an der negativen Grundsatzhaltung nichts mehr. Die in der Literatur oft betonten Hoffnungen der Deutschen auf eine liberalere Minderheitenpolitik nach Piłsudskis Mai-Putsch657 waren parlamentarisch nur von sehr kurzer Dauer. Von einer generellen Unterstützung der Regierung ab 1926 durch die deutsche Fraktion658 kann keine Rede sein, da die antiparlamentarische Haltung der neuen Regierung schnell offensichtlich wurde und zudem keine grundsätzliche Änderung in der Minderheitenpolitik der Regierung erfolgte.659 Somit lässt sich unschwer zeigen, dass die parlamentarischen Äußerungen zur Loyalitätsfrage reagierender Natur waren, also auf die Maßnahmen der polnischen Regierung und der Staatsorgane Bezug nahmen. Da ebensolche Maßnahmen gerade gegenüber der als besonders gefahrvoll eingestuften deutschen Bevölkerung Polens vor allem ab 1923 einen feindseligen Ton annahmen und des Weiteren nicht nur die Versprechungen der Verfassung von 1921 sowie des Schulgesetzes von 1922 nicht eingelöst wurden, sondern auch die Bestimmungen des Versailler Minderheitenschutzvertrag von 1919 nur teilweise Realität wurden, konnte sich eine positive Haltung zum polnischen Staat schwerlich entwickeln. Allerdings wäre es viel zu kurz gegriffen, die kritisch-negative Haltung der deutschen Parlamentarier ausschließlich als Reaktion auf die Politik der polnischen Regierungen und der Staatsorgane gegenüber den Deutschen, die als solche in der Forschung beider Länder längst unumstritten ist,660 zurückzuführen. Vor allem die deutschen Parteien aus Pommerellen und Posen beschickten den Sejm mit Abgeordneten, die sich aufgrund des erst kürzlich stattgefundenen Grenzwechsels nicht oder nur schwer mit den neuen Verhältnissen arrangieren konnten und wollten. Zu einem Großteil waren diese Abgeordneten im Sejm passiv. Prägnantestes Beispiel für diese Gruppe ist Kurt Graebe: Dieser genoss in Deutschland aufgrund der großen Bedeutung Polens für die Revisionspolitik der Weimarer Republik sowie aufgrund zahlreicher guter Kontakte bis in die Reichskanzlei erheblichen Einfluss. Ferner war Graebe 1926–1938 ununterbrochen Delegierter der Deutschen Polens auf dem Europäischen Nationalitätenkongress (Tabelle 14). Seinen Einfluss verlor er erst 1934 wegen nicht ganz mit der NS-Ideologie konformen Vorstellungen, gepaart mit Veruntreuungsvorwürfen. Graebe war früh ins Visier des polnischen Staatsschutzes geraten und spio657 Chu, Minority, S. 93. Kotowski, Polens Politik, S. 130. Polonsky, Politics, S. 175. Vgl. auch Hein, Piłsudski-Kult, S. 358f. 658 Dies behauptet Polonsky, Politics, S. 253. 659 Hauser, Przedstawiciele, S. 279. 660 Vgl. die Werke von Blanke, Eser, Heike, Korzec und Kotowski.

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nierte mindestens ab 1927 für das Deutsche Reich. Seine revisionistischen Ansichten dürften allseits bekannt gewesen sein.661 Graebe meldete sich im Sejm nur einmal zu Wort und war nur 1928–1930 Mitglied eines Ausschusses, nämlich desjenigen für Auswärtiges. Seine Beteiligung an namentlichen Abstimmungen betrug 26 % und befand sich damit durchweg am unteren Ende der Werte für die deutschen Abgeordneten in Polen. Wird an dieser Stelle noch einmal auf die insgesamt geringeren parlamentarischen Aktivitäten der deutschen Abgeordneten aus den Wojewodschaften Pommerellen, Posen und Schlesien zurückgekommen, so dürften bei einem zweiten Blick nicht nur ungenügende Sprachkenntnisse, sondern auch innere Distanz und Ablehnung der Republik Polen bei vielen Abgeordneten eine Rolle gespielt haben. In Ermangelung von Wortmeldungen Graebes waren es Reden der Abgeordneten Ervin Hasbach oder Karl Daczko, in denen sich diese zunächst zurückhaltenden, später klar ablehnenden Töne manifestierten. Eine starke, negativistische Geste markierte schließlich das angesprochene Fernbleiben der feierlichen Sitzung am 10. November 1928 zum zehnten Jahrestag der Gründung der Republik Polen. Im Bereich der Identität der deutschen Abgeordneten gilt, dass sie ihrem Selbstverständnis nach mit Sicherheit vor allem in den ersten Jahren nach 1922 sich selbst als wichtigste politische Repräsentanten der Deutschen Polens sahen. Verglichen mit den Fraktionen und Gruppen der anderen Minderheiten agierten sie politisch relativ geschlossen. Die Untersuchung des Verhaltens bei namentlichen Abstimmungen bestätigt, dass politische Meinungsverschiedenheiten innerhalb der deutschen Parlamentarier punktueller und nicht grundsätzlicher Natur waren. Da die Politik gegenüber der deutschen Minderheit alle Deutschen ungeachtet ihrer regionalen Herkunft oder ihrer persönlichen Einstellung traf, überrascht dies auch wenig. Ab 1920 lag die Führung der inner- wie außerparlamentarischen politischen Arbeit formell ganz überwiegend bei den Abgeordneten aus Pommerellen und Posen und damit organisatorisch beim DtB bzw. bei der DV.662 Dies wurde von den Abgeordneten, auch den stärker linksorientierten aus Mittelpolen,663 hingenommen. Zurecht hat die neuere Forschung allerdings das alte Paradigma der immer stärkeren Nivellierung der regionalen Unterschiede der deutschen 661 Bamberger-Stemmann, Nationalitätenkongreß, S. 399. Blanke, Orphans, S. 153–158. Chu, Minority, S. 84f. Dyroff, Völkerbundsbeschwerde, S. 46–56. Eser, Schulwesen, S. 237, 324. Hauser, Przedstawiciele, S. 230f. Hiden, Defender, S. 110, 148, 183. Kotowski, Polens Politik, S. 79f. Krekeler, Deutschtumspolitik, S. 208f. Luther, Volkstumspolitik, S. 36f. Der Beitrag Dyroffs, Völkerbundsbeschwerde, S. 47, weist bezüglich der Person Graebes Fehler auf. So schied Graebe nicht 1933, sondern 1935 als Abgeordneter aus. Zu keinem Zeitpunkt war Graebe Vorsitzender der deutschen Sejm-Fraktion gewesen. 662 Korzec, Zweiter Block, S. 80. Stolin´ski, Klub, S. 319. 663 Chu, Minority, S. 128f. Ders., Metropole, S. 99.

Zusammenfassung

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Volksgruppe und der Herstellung einer einheitlichen Führung der Bromberger Zentrale hinterfragt.664 Parlamentarisch zeigt sich zumindest, dass die bei den Abgeordneten aus den ehemaligen Reichsgebieten liegende Führung sich nicht in entsprechenden Aktivitäten vor dem Plenum und in den Ausschüssen, die wesentlich häufiger von Abgeordneten aus Zentralpolen getragen wurden, widerspiegelten. Weil sich die Abgeordneten Mittelpolens am häufigsten zu Wort meldeten, wurden sie auch am häufigsten Zielscheibe von Zwischenrufen polnischer Abgeordneter. Bei der in der Einleitung dieses Buches zitierten Rede Kronigs von 1924 verglichen Zwischenrufer – wie so oft – die von den deutschen Parlamentariern kritisierte Politik der polnischen Regierung und Behörden gegenüber den Deutschen mit denen der deutschen Regierung und Behörden der Weimarer Republik, des Ersten Weltkriegs und der Zeit der Teilungen gegenüber den Polen. Die deutschen Abgeordneten, auch und gerade diejenigen aus Mittelpolen, wurden dabei nicht als Polen deutscher Nationalität, sondern als Repräsentanten des Deutschen Reichs begriffen und für die Reichspolitik verantwortlich gemacht.665 Eine Analyse der Zwischenrufe zeigt, dass diese auf emotional behaftete Schlüsselthemen wie das Schulwesen oder die Rolle der evangelischen Kirche beschränkt waren. Zu einer längeren Rede Kronigs zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik von 1924 vermerkt das Stenogramm überhaupt keinen Zwischenruf.666 Ebenso gab es kaum solche zu Reden Pieschs, demjenigen, der sich vor dem Plenum vorranging der Wirtschafts- und Finanzpolitik widmete.667 Eine Strategie zur Begegnung der in den Zwischenrufen enthaltenen Vorwürfe fanden die deutschen Abgeordneten nicht. Gelegentlich konterten sie, wie der für Zwischenrufe besonders anfällige Utta, ebendiese Zwischenrufe mit Bemerkungen über die Beteiligung von Polen an der Inhaftierung von Deutschen in Sibirien während der Zeit des Zarenreichs. Gelegentlich rief Utta auch selbst dazwischen.668 Zu dieser ohnehin schon schwierigen Situation kamen ab 1933 ferner, wie in 664 Lakeberg, Minderheitenpresse, S. 44. Eine ausführliche Analyse dazu leistete das Referat Ingo Esers auf der Tagung »Grenzziehungen, Netzwerke« des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, 9.–10. November 2012, Tagungsband i.V. 665 I. Sejm, 134. Sitzung (21. 06. 1924), S. 8–18. Zahlreiche Zwischenrufe rief auch eine Rede Pankratz’ zu der von ihm beanstandeten minderheitenfeindlichen Einstellung der polnischen Justiz am 6. Mai 1925 hervor, vgl. I. Sejm, 202. Sitzung (06. 05. 1925), S. 102–108. 666 I. Sejm, 144. Sitzung (05. 07. 1924), S. 4–8. 667 I. Sejm, 128. Sitzung (12. 06. 1924), S. 11–15; 157. Sitzung (30. 10. 1924), S. 50–54; 195. Sitzung (24. 04. 1925), S. 36–46; 244. Sitzung (22. 10. 1925), S. 28–32; 301. Sitzung (23. 09. 1926), S. 27–32. 668 II. Sejm, 15. Sitzung (02. 06. 1928), S. 56, 65f.

162

Polen

Lettland, in Zwischenrufen Bezugnahmen auf die entstehende NS-Diktatur hinzu, die erstmalig bereits am 4. Februar 1933, also fünf Tage nach der Übernahme der Reichskanzlerschaft Adolf Hitlers, während einer Rede Bernhard Jankowskis erfolgten.669 Die entstandene Diktatur in Deutschland bot Zwischenrufern im Sejm erstmalig seit 1926 wieder die Gelegenheit, das politische System Polens liberaler zu nennen.670 Der in Deutschland 1933 entstandenen Diktatur standen die deutschen Abgeordneten als politisch Konservative keinesfalls in jeder Hinsicht positiv gegenüber, konnten aber andererseits allein aufgrund der finanziellen Abhängigkeit vom Deutschen Reich dem rasch stärker werdenden Einfluss der NS-Anhänger innerhalb der deutschen Bevölkerung Polens nur wenig entgegensetzen, wenn sie dies überhaupt wünschten.671 Zu den verbalen Attacken kam die Erfolglosigkeit: 1922–1926 brachte die Fraktion noch recht häufig vor dem Plenum Anträge ein, die allerdings mit ganz wenigen Ausnahmen fast immer abschlägig beschieden wurden.672 Dies mag die ohnehin vorhandene Distanz zum Sejm bei manchem deutschen Abgeordneten wie Graebe, der sich ohnehin vorrangig außerparlamentarisch engagierte, weiter vergrößert haben. 1926–1930 nahmen, forciert durch den Mai-Putsch, Anträge als gestaltende Elemente in der parlamentarischen Strategie der deutschen Fraktion ab, ebenso die Beteiligung an namentlichen Abstimmungen. 1930–1935 kann von einer geordneten Teilnahme der fünf deutschen Abgeordneten am marginalisierten, durch den BBWR dominierten Sejm nicht mehr gesprochen werden. Bis 1934 wurde allerdings das Instrument der verbalen Kritik vor dem Plenum und in den Ausschüssen genutzt. Wird unter den genannten Gesichtspunkten nochmals die Frage nach einem Zusammenwachsen oder einem Nebeneinander der Deutschen in Polen aufgeworfen, so darf sich der Einsicht nicht verschlossen werden, dass anders als in Lettland trotz der formell demonstrierten Einheitlichkeit auch Distanz blieb. Auf einem 1951 vor dem Herder-Forschungsrat gehaltenen Kurzvortrag bezifferte Ervin Hasbach für den Zeitraum 1928–1930 wider besseres Wissen die Anzahl 669 III. Sejm, 79. Sitzung (04. 02. 1933), S. 26f. 670 III. Sejm, 103. Sitzung (03. 11. 1933), S. 116. Die NS-bezogenen Zwischenrufe ebbten auch nach dem Abschluss des Nichtangriffspakts zwischen den Regierungen Deutschlands und Polens am 26. Januar 1934 nicht ab, vgl. III. Sejm, 111. Sitzung (06. 02. 1934), S. 21, 145. Sitzung (25. 06. 1935), S. 98. 671 Heike, Minderheit, S. 203–207. 672 Vgl. dazu Verfassungsgebender Sejm, 298. Sitzung (07. 04. 1922), S. 32–36; I. Sejm, 29. Sitzung (22. 03. 1923), S. 7–9; 59. Sitzung (28. 07. 1923), S. 84–89; 72. Sitzung (17. 10. 1923), S. 77; 75. Sitzung (31. 10. 1923), S. 15–17; 108. Sitzung (11. 03. 1924), S. 9f; 109. Sitzung (13. 03. 1924), S. 50; 124. Sitzung (05. 06. 1924), S. 34, 37; 167. Sitzung (05. 12. 1924), S. 45; 232. Sitzung (11. 07. 1925); 233. Sitzung (13. 07. 1925); 234. Sitzung (14. 07. 1925); 235. Sitzung (15. 07. 1925); 237. Sitzung (17. 07. 1925); 239. Sitzung (20. 07. 1925); 268. Sitzung (03. 02. 1926), S. 38–50; 270. Sitzung (09. 02. 1926), S. 37–42; 275. Sitzung (03. 03. 1926), S. 24.

Zusammenfassung

163

der deutschen Abgeordneten auf 19673 und kaschierte damit den Austritt der beiden Sozialisten Kronig und Zerbe aus der deutschen Fraktion. Gerade weil die Ansichten über den gewünschten Status der deutschen Minderheit in Polen zwischen Kronig und Zerbe einerseits und den anderen deutschen Abgeordneten andererseits weitgehend deckungsgleich waren, dürften nicht politische Meinungsverschiedenheiten, sondern unterschiedliche Sozialisationen und daraus abgeleitet unterschiedliche Handlungsmaximen für diese Trennung hauptsächlich ausschlaggebend gewesen sein. Dabei hofften die beiden Sozialisten noch länger auf den Erfolg parlamentarischer Initiativen. Dieser Strategie war kein Erfolg beschieden. Zudem verschwanden die beiden Exponenten dieser Strategie schon 1930 von der parlamentarischen Bildfläche, wohingegen einige Vertreter der Wojewodschaften Posen und Schlesien noch bis 1935 ein Mandat innehatten. Den Schlusspunkt unter den deutschen Parlamentarismus im Polen der Zwischenkriegszeit setzte Saenger am 25. Juni 1935 in der letzten Rede eines deutschen Abgeordneten vor dem Sejm. In dieser beklagte er in bemerkenswerter argumentativer Inkonsequenz einerseits das bevorstehende Ausscheiden der Repräsentanten der deutschen Bevölkerungsgruppe und begrüßte dennoch generell autoritäre Staatsformen, weil »der Parlamentarismus in seiner bisherigen Form bei uns vollständig Bankrott gemacht«674 hätte.

673 Hasbach, Volksgruppe, S. 263. 674 III. Sejm, 145. Sitzung (25. 06. 1935), S. 98–100, Zitat auf S. 98. Wortlaut des Zitats im Original: »[…] parlamentaryzm w dotychczasowej formej zbankrutował u nas całkowicie […].« Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 323f.

4.

Schluss

Die vorliegende Studie berücksichtigte vorrangig die gedruckten Parlamentsstenogramme. Eine noch genauere Erforschung der Arbeit der deutschen Parlamentarier in Lettland durch Berücksichtigung ihrer Tätigkeit in den Ausschüssen stellt ein Desiderat der Forschung dar. Für Polen wäre dies ebenfalls wünschenswert, wobei die deutschen Abgeordneten erst ab 1922 überhaupt zu den Ausschüssen zugelassen waren. Größtes Problem ist allerdings, dass die archivalische Überlieferung aufgrund von Kriegsverlusten in Polen sehr lückenhaft ist.675 Dieses Desiderat würde allerdings die Frage kurzfristiger politischer Taktiken im Rahmen der Sacharbeit in den Vordergrund rücken. Für die Öffentlichkeit gemachte Äußerungen fielen dagegen ganz weitgehend im Plenum. Der Vergleich der Loyalitäten, Identitäten und der praktischen Arbeit der deutschen Abgeordneten Polens und Lettlands zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Zunächst in der ersten Dimension des Triadic Nexus nach Brubaker zur Herkunft und damit zur Identität der Abgeordneten: Wird nach Gerald Volkmer zwischen altständischer, Grenzland- und Kolonistenminderheit unterschieden,676 so waren die deutschen Parlamentarier Lettlands ausnahmslos Vertreter einer altständischen Minderheit. In Polen gab es alle drei Formen, dominierend waren allerdings Abgeordnete der Grenzlandminderheiten, die sich am Deutschen Reich orientierten. Wie gezeigt werden konnte, hingen verschiedene deutsche Parlamentarier in Polen in unterschiedlichen Graden revisionistischen Ideen an. Schiemanns 1923 proklamiertem Grundsatz, dass sich

675 Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 15. 676 Diese berechtigte Einteilung wurde von Gerald Volkmer in der Schlussdiskussion auf der Tagung »Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Europa« vom 11.–13. April 2013 in Mainz formuliert. Ähnlich: Haslinger, Loyalität, S. 50. Seewann, Mehrheits- und Minderheitsstrategien, S. 16f. Mit anderem Zuschnitt: Kessler, Integration, S. 171f.

166

Schluss

»Minoritätenpolitik […] nicht mit Irredenta [vertragen würde]«677, vermochten sie sich nicht anzuschließen. Dies zeigt sich vielfach an der Beteiligung im Parlament: Die deutschen Parlamentarier Lettlands beherrschten mit Ausnahme Kellers anfangs kein Lettisch. Sie erlernten diese Sprache allerdings schnell und vermochten ab 1923 alle parlamentarischen Ämter auszuüben. Diese Möglichkeit nutzten sie, wie allein die 480 Äußerungen als Gesetzesreferenten sowie die zweimalige Beteiligung am Parlamentsvorstand belegen, reichlich. Ohnehin verlangte die geringe Anzahl an Mandaten eine intensive Beteiligung eines jeden deutschen Abgeordneten. Dagegen konnten sich die bis zu 21 deutschen Abgeordneten im bis zu 444 Personen starken Sejm Polens allein bereits aus struktureller Perspektive weniger einbringen. Dazu kamen die häufigen Schließungen des Sejm ab 1926, weshalb den 1.129 Wortmeldungen deutscher Parlamentarier in Lettland 1918– 1934 nur 155 in Polen 1919–1935 gegenüberstehen. Dafür war auch verantwortlich, dass den deutschen Abgeordneten die Möglichkeit der Übernahme eines Gesetzesreferates in Polen, wo die Arbeit aufgrund der Größe des Parlaments wesentlich formalisierter ablief, als Angehörige einer Oppositionsfraktion nicht eingeräumt wurde. Doch erklären die wesentlich schlechteren Bedingungen des Parlamentarismus in Polen nicht die teilweise zu beobachtende geringere Bereitschaft, das Polnische zu erlernen sowie die Passivität mancher deutscher Abgeordneter. Gerade im Bereich der Sprache waren die Ausgangsbedingungen in Polen aufgrund der bei allen Abgeordneten Kongresspolens zu findenden hohen Kompetenz in der polnischen Sprache, ergänzt um einige muttersprachliche Abgeordneten aus früheren Reichsgebieten, wie der Kaschubei, dem masurischen Soldau-Gebiet oder Ost-Oberschlesien, sogar günstiger gewesen als in Lettland. Somit speisten sich Integrationsbereitschaft und damit Loyalität der deutschen Parlamentarier Lettlands und Polens zu einem Gutteil aus den Zukunftserwartungen: Für die Deutschbalten war der Wunsch nach einer Zugehörigkeit zu Deutschland – gerade auch aufgrund der Erfahrungen der deutschen Besatzung 1917–1919, die zwischen Deutschbalten einerseits und Letten und Esten andererseits erhebliche Zwietracht gesät hatte – nach 1919 keine unmittelbare Option mehr. Selbst aus konservativer Perspektive bot die kleine Republik Lettland für die Deutschbalten bessere Entfaltungsmöglichkeiten als ein – nach 1919 mehr und mehr unrealistisch werdendes – »bürgerliches«678 Russland. Anders in Polen: Sowohl sprachlich als auch in der Intensität parlamentari677 Präsidialsitzung des A.P. (02. 08. 1923), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 7, Bl. 234. BambergerStemmann, Minderheiten, S. 73. 678 Wachtsmuth, Manuskript (ca. 1939), in: LVVA, f. 2626, a. 1, l. 44, Bl. 197.

Schluss

167

schen Handelns waren die deutschen Abgeordneten Kongresspolens wesentlich stärker im politischen System Polens der Zwischenkriegszeit verankert als ihre Kollegen aus den ehemaligen Reichsgebieten. Selbstverständlich ist dies nur eine Tendenz, die der Differenzierung bedarf. Mit Kurt Graebe lässt sich aus den Reihen ebendieser Abgeordneter ehemaliger Reichsgebiete allerdings eine für die deutsche Minderheit in Polen insgesamt sehr wichtige Persönlichkeit ausmachen, für die das Parlamentsmandat zwar an sich eine wichtige Rolle spielte – sonst wäre er nicht 1922–1935 Abgeordneter gewesen –, der aber dieses Mandat nie mit Leben füllte. Damit personifizierte Graebe, der obendrein auch noch in Deutschland und auf dem Minderheitenkongress als oberster Repräsentant der Deutschen Polens auftrat, die anfangs bestenfalls bedingt und schnell gar nicht mehr integrationsbereite Gruppe. Aufgrund der Militärspionage und seiner revisionistischen Einstellung ist die zeitgenössische Wahrnehmung Graebes als illoyal gerade aufgrund des heutigen erweiterten Loyalitätsbegriffs als unverändert gültig anzusehen. Neben der Integrationsbereitschaft sind als zweite Dimension andererseits die Möglichkeiten des politischen Systems hinzuzuziehen. Werden die in den Kapiteln 2.3 und 3.3 erläuterten Möglichkeiten der Partizipation von Minderheitenabgeordneten in Lettland und Polen verglichen, so unterschieden sich oberflächlich betrachtet diese Möglichkeiten nur gering. In beiden Staaten äußerten sich die Abgeordneten im Plenum, arbeiteten in Ausschüssen mit, konnten Ausschussvorsitzende und Mitglied des Parlamentsvorstands werden sowie sich zumindest theoretisch bei Präsidentenwahlen und Regierungsbildungen einbringen. Lediglich die in der Praxis nicht gewährte Beteiligung von Deutschen an der Regierung in Polen und darauf fußend die Nicht-Übernahme von Gesetzesreferaten durch deutsche Parlamentarier in Polen sticht zunächst ins Auge. Dieser oberflächliche Blick genügt einer Charakterisierung allerdings keineswegs, da auch die in den Kapiteln 2.4 und 3.4 untersuchten tatsächlichen Entfaltungsmöglichkeiten der Minderheiten und ihrer Vertreter berücksichtigt werden müssen. Hierbei unterschieden sich Lettland und Polen erheblich: Aufgrund der fragilen Entstehungsgeschichte Lettlands waren fast alle politischen Akteure dieses neuen Staates an einer Beteiligung der nationalen Minderheiten, namentlich der deutschen, stark interessiert, um dadurch Lettland nach innen und nach außen Akzeptanz zu verschaffen. Zwar ließ dieses Interesse der Akteure lettischer Nationalität nach der internationalen Anerkennung und dem Frieden mit den Sowjets 1920 nach, doch waren die Minderheiten bis zu Beginn der 1930er Jahre in der Praxis voll am politischen System beteiligt. Dies gilt auch für das in dieser Arbeit ausgeblendete Feld der Außenpolitik, in dem viele ehemalige Abgeordnete nach ihrem Ausscheiden aus dem Parlament diplomatisch weiter für die Republik Lettland tätig

168

Schluss

waren, so Wilhelm Schreiner als diplomatischer Vertreter Lettlands 1919 in Deutschland sowie Eduard v. Rosenberg (1920–1925) und Edwin Magnus (1933– 1938) als Gesandte Lettlands in Österreich.679 Zwar hing mancher Politiker lettischer Nationalität dem Gedankengut des nationalisierenden Staates genau wie andernorts in Ostmitteleuropa an. Die Bereitschaft zur Durchsetzung dieses Gedankenguts in den 1920er Jahren war aber nur gering ausgeprägt. Stattdessen dominierte umgekehrt die Bereitschaft, Politikfelder wie die Schulpolitik vom Mehrheitsprinzip auszunehmen und Instrumente zur Selbstverwaltung zuzulassen. In Polen war eine volle parlamentarische Partizipation von Vertretern der deutschen Minderheit nur 1922–1926 gegeben. Davor hatten in erheblichen Teilen des polnischen Staatsgebiets keine Wahlen stattgefunden und ab 1926 zerstörte das Sanacja-Regime Schritt für Schritt die Grundlagen des Parlamentarismus. Die Mehrheit der Politiker polnischer Nationalität waren dabei stets Anhänger des Gedankens des nationalisierenden Staates und im Unterschied zu Lettland war auch der Wille zur Durchsetzung hier viel stärker ausgeprägt. Als Sonderrechte oder gar Privilegien empfundene Minderheitenrechte, die noch dazu als von den Westalliierten im Minderheitenschutzvertrag von 1919 aufgezwungen galten, wurden deshalb an vielerlei Stellen ausgehöhlt und in der Praxis vielfach doch nicht gewährt.680 Nichts markiert das Auseinanderfallen der Entwicklung in Polen und Lettland stärker als das Verhalten der deutschen Parlamentarier bei den Festivitäten zum 10. Jahrestag der Gründung Polens am 10. November 1928 und demselben Jubiläum in Lettland acht Tage später am 18. November 1928: Während die deutsche Fraktion in Polen der Festsitzung demonstrativ fernblieb, nahm die deutsche Fraktion in Lettland ebenso demonstrativ daran teil. Erst nach den Auseinandersetzungen um das Landeswehrdenkmal und das Enteignungsgesetz in Lettland 1929 und dem Rechtsruck bei der Saeima-Wahl 1931 kam es auch in Lettland zu einem Distanzierungsprozess der deutschen Abgeordneten vom Staat. Dies bestätigt die bereits längst allgemein anerkannte, eingangs erwähnte These: Waren Nationalstaat und Minderheitenparlamentarier wie in Lettland überwiegend und grundsätzlich an einer Integration zum beiderseitigen Vorteil interessiert, so gelang diese auch unter Abzug all der Abstriche, die ein solcher Prozess notwendigerweise mit sich bringen musste. War eine der beiden Seiten oder gar beide, wie überwiegend in Polen, an einem solchen Prozess nicht interessiert, konnte er auch nicht gelingen. Die dritte Dimension des Triadic Nexus, nämlich die auswärtige Politik des 679 Zu Schreiner : Golecki, Kabinett Bauer, S. 207. Rosenberg, Deutschtum, S. 75. Zu Rosenberg: Ders., Deutschtum, S. 171f. Zu Magnus: Balling, Handbuch, S. 143. 680 Eser, Entnationalisierung, S. 82–94.

Schluss

169

Deutschen Reiches als Patronagestaat,681 blieb in dieser Arbeit aufgrund des Fragenzuschnitts am Rande. Dennoch lassen sich im Lettland der 1920er Jahre stabilisierende und in Lettland ab 1933 sowie in Polen generell destabilisierende Faktoren und Maßnahmen der Reichsaußenpolitik feststellen. Diese waren, wie schon im Bereich der Identitäten und Loyalitäten der deutschen Parlamentarier, vorrangig an die Erwartung bzw. Nichterwartung einer Revision geknüpft, was auch die plötzlich zur Schau gestellte »Loyalität« der deutschen Sejm-Abgeordneten 1934–1935 erklärt. In diesem Bereich, verbunden mit den Identitäten der Parlamentarier, ist auch interessant zu beobachten, dass diese 1939–1945, sofern sie noch lebten, ihr Handeln an der Mehrheitsströmung innerhalb der jeweiligen Minderheit ausrichteten und sich damit ganz an das nationalsozialistische Deutsche Reich banden, zumal die Protagonisten nach der Umsiedlung der Deutschbalten sogar überwiegend zusammen im besetzten Polen lebten. In beiden Ländern gab es allerdings jeweils einen Abgeordneten, für den die Heimat und damit auch der andersnationale Staat wichtiger als die Mehrheitsströmung innerhalb der eigenen Nationalität war : Paul Schiemann, der nach seiner Loyalitätserklärung 1939 in Lettland geblieben war und in Riga 1944 starb, sowie Emil Zerbe, der 1945 als bekannter Gegner des Nationalsozialismus von der Vertreibung ausgenommen worden war und bis 1954 in Lodz lebte.

681 Vgl. dazu Seewann, Mehrheits- und Minderheitsstrategien, S. 16–19.

Anhang

I.

Statistischer Anhang

Tabelle 1: Abgeordnete der nationalen Minderheiten in Lettland 1918–19341 Parlament Volksrat

Konstit. I. Saeima II. Saeima III. Saeima IV. Saeima

Sitzung/Dauer 1., 18. 11. 1918 3., 02. 12. 1918 4., 04. 12. 1918 7., 12. 05. 1919 8., 13. 07. 1919 11., 11. 08. 1919 47., 09. 12. 1919 1920–1922 1922–1925 1925–1928 1928–1931 1931–1934

Abg. 40 100 102

150 100 100 100 100

Deut.

Juden

Russ.

5 8 8 8 8 8 6 6 5 6 6

3 3 5 6 8 8 8 6 5 5 3

4 6 6 4 3 4 6 6

Lit.

Polen

Weißruss.

2

1 1 2 2 2

1

1 Quelle: Angabe der Nationalität in den biografischen Angaben in den Stenogrammen. Andere Tabellen sind teilweise unrichtig, so Lamey, Minderheiten, S. 16.

172

Anhang

Tabelle 2: Deutsche Abgeordnete in Lettland 1920–19342 Abgeordneter Alsleben, Alfred (MKRA) Fircks, Wilhelm v. (DbVP) Hahn, John Karl (DbEP) Keller, Karl (DbDP) Kluge, Peter (DbFP) Knopp, Egon (DbEP) Magnus, Edwin (DbRP) Pussull, Woldemar (DbVP) Reusner, Arthur (DbVP) Sadowsky, Walter (DbDP) Schiemann, Paul (DbDP) Schoeler, Lothar (DbRP) Stegman, Helmuth (BLP)

Konstituante I. Saeima 1920–1922 1922–1925 -

II. Saeima 1925–1928 ja

III. Saeima 1928–1931 -

IV. Saeima 1931–1934 -

ja

ja

ja

ja

ja, bis 20. 10. 1933

-

ja

ja

ja

ja

ja, ab 27. 05. 1920

ja

ja

-

ja, ab 20. 10. 1933

ja

-

-

-

-

ja

ja

-

-

-

ja

-

-

-

-

-

-

-

ja

ja

ja, bis 07. 05. 1920

-

-

-

-

-

-

-

ja, ab 10. 03. 1931

-

ja

ja

ja

ja, bis 10. 03. 1931

ja, bis 20. 10. 1933

-

-

-

ja

ja

-

-

-

-

ja, ab 20. 10. 1933

2 Nach Balling, Handbuch, S. 136–139 mit korrekter Datumsangabe nach den Stenogrammen. Entgegen Balling, Handbuch, S. 136, 139, wird Vegesack als DbVP-Mitglied übereinstimmend nach Wachtsmuth, Gesicht, S. 389, geführt.

173

Statistischer Anhang

((Fortsetzung)) Abgeordneter Vegesack, Manfred v. (DbVP) Westermann, Werner (WvM)

Konstituante I. Saeima 1920–1922 1922–1925 ja

II. Saeima 1925–1928 -

III. Saeima 1928–1931 -

IV. Saeima 1931–1934 -

-

-

ja

ja

-

Tabelle 3: Wortmeldungen der deutschen Abgeordneten in Lettland 1918–19343 Abgeordneter Volksr. Konstit. I. 1918– 1920– Saeima 1922 1922– 1920 1925 Alsleben Brümmer 1/0/0 Fircks 36/0/0 48/1/0 Grosberg 1/0/0 Hahn 19/1/38 Keller Kluge Knopp Magnus Pussull Rosenberg Schiemann Reusner Sadowsky Schreiner Schoeler Stegman Vegesack Westerma. zusammen

2/2/0 3/0/0 2/0/0 1/0/0 13/0/0 21/1/0

7/0/0 3/0/0 10/4/0 7/1/0

39/3/0 0/0/0

9/0/3

II. Saeima 1925– 1928 0/0/2 38/3/15 24/1/ 152 8/0/0

III. Saeima 1928– 1931

IV. zusammen Saeima 1931– 1934 0/0/2 1/0/0 36/2/4 20/2/9 178/8/28 1/0/0 12/4/13 9/0/0 64/6/203 1/0/0

17/2/73

33/0/0

28/0/8

26/1/6

5/0/4

12/0/8

16/1/1

0/0/0 11/0/0 35/0/61

27/1/3 3/0/3

14/0/36 135/7/ 128

8/0/2 89/4/ 22

14/0/39 55/3/0 102/8/0

140/4/ 153

98/4/ 177

28/1/4 6/0/0 27/6/73 9/1/0 32/1/10 13/0/0 150/5/17 0/0/0 0/0/0 11/0/0 62/1/64 3/0/3 14/0/39 22/0/38 619/30/ 480

3 Quelle: eigene Durchsicht aller Stenogramme. Diese Tabelle ersetzt die irreführende bei Just, Arbeit, Bd. I, S. 716–721. Für den Volksrat werden nur diejenigen Abgeordneten mit Wortmeldungen aufgeführt. Die erste Ziffer nennt jeweils die Anzahl an Wortmeldungen, die in deutscher, die zweite die, die in lettischer und die dritte die, die als Gesetzesreferent in lettischer Sprache gemacht wurden.

174

Anhang

Tabelle 4: Deutsche Minister und Ministergehilfen in Lettland 1918–19294 Regierungs-Nr. 1

2 3 13 14

Amtsdauer 02. 12. 1918– 15. 07. 1919

03. 12. 1918– 15. 07. 1919 15. 07. 1919– 10. 12. 1919 10. 12. 1919– 11. 03. 1920 24. 01. 1928– 30. 11. 1928 30. 11. 1928– 16. 01. 1929 24. 01. 1929– 26. 11. 1929

Person Eduard v. Rosenberg (DbFP) Alexander v. Klot (DbFP) Karl Keller (DbDP) Robert Erhardt Edwin Magnus (DbRP) Robert Erhardt (DbDP) Edwin Magnus (DbRP) Balduin Düsterlohe (DbRP) Bernhard v. Berent (DbRP)

Amt Staatskontrolleur Gehilfe des Industrie- und Handelsministers Gehilfe des Bildungsministers Finanzminister Justizminister Finanzminister Justizminister Justizminister Justizminister

4 Nach Wachtsmuth, Gesicht, S. 377, mit Ausnahme des Rücktritts Erhardts 1920, dieser aus Libausche Zeitung (12. 03. 1920), S. 1.

175

Statistischer Anhang

Tabelle 5: Regierungsbeteiligungen der deutschen Fraktion in Lettland 1918–19345 Nr.

Wahl

Ministerpräsident

1

18. 11. 1918

2

15. 07. 1919

3

10. 12. 1919

4

18. 06. 1920

5

15. 06. 1921

6 7

25. 01. 1923 26. 06. 1923

8

25. 01. 1924

9

16. 12. 1924

10

22. 12. 1925

11

04. 05. 1926

12

17. 12. 1926

13

23. 01. 1928

14

30. 11. 1928

15

24. 03. 1931

16

04. 12. 1931

17

23. 03. 1933

18

16. 03. 1934

Ka¯rlis Ulmanis (LZS) Ka¯rlis Ulmanis (LZS) Ka¯rlis Ulmanis (LZS) Ka¯rlis Ulmanis (LZS) Zigfrı¯ds Meierovics (LZS) Ja¯nis Paul¸uks Zigfrı¯ds Meierovics (LZS) Voldema¯rs Za¯muels (DC) Hugo Celmin¸sˇ (LZS) Ka¯rlis Ulmanis (LZS) Arturs Alberings (LZS) Marg‘ ers Skujenieks (MP) Pe¯teris Jurasˇevskis (DC) Hugo Celmin¸sˇ (LZS) Ka¯rlis Ulmanis (LZS) Marg‘ ers Skujenieks (PA) ¯ dolfs Bl¸odnieks A (LJSP) Ka¯rlis Ulmanis (LZS)

Dt. Minister ja6

Votum der dt. Parlamentarier ja7

ja

ja

ja8

ja

nein

ja

nein

Enthaltung

nein nein

Enthaltung Enthaltung

nein

Enthaltung

nein

ja

nein

ja

nein

Nichtteilnahme

nein

Nichtteilnahme

ja

ja

ja9

ja

nein

ja

nein

nein

nein

nein

nein

ja

5 Ohne die Gegenregierungen Borkowsky und Niedra. Die Wahl einer Regierung in Lettland war nicht identisch mit der Amtsübernahme einer Regierung. Diese erfolgte meist einen oder zwei Tage später. 6 Ab dem 2. Dezember 1918. 7 Die deutsche Fraktion war ab dem 2. Dezember 1918 Regierungsfraktion. 8 Bis zum 11. März 1920. 9 Bis zum 26. November 1929.

176

Anhang

Tabelle 6: Redehäufigkeit von Minderheitenabgeordneten in Lettland 1918–193410 Legislaturperiode 1918–20 (1 Jahr) 1920–22 (2,5 Jahre) 1922–25 (3 Jahre) 1925–28 (3 Jahre) 1928–31 (3 Jahre) 1931–34 (2,75 Jahre)

Deutsche Juden Russen Polen 7,6 4,8 2,3 0,0 7,3 1,9 1,5 16,5 7,4 8,1 6,3 18,6 11,0 7,3 14,5 15,0 7,2 7,4 24,7 7,0 9,2 16,8 18,5

Tabelle 7: Abgeordnete der Minderheiten in Polen zu Beginn der Legislaturperiode11 Parlament Sitzung Abg. Dt. Juden Ukrain. Weißruss. Russen Tschech. Verf. Sejm 10. 02. 1919 335 2 11 08. 06. 1920 412 8 11 I. Sejm 28. 11. 1922 444 17 35 25 11 1 II. Sejm 27. 03. 1928 444 21 15 44 12 1 1 III. Sejm 09. 12. 1930 444 5 9 20 1

10 Quelle: eigene Berechnungen. Die Tabelle gibt die durchschnittliche Anzahl an Wortmeldungen pro Abgeordneter und Jahr der jeweiligen Nationalität in der Legislaturperiode wieder. 11 Quelle: Ajnenkiel, Historia, S. 87, Korzec, Block 1922, S. 198. Ders., Block 1928, S. 109f. Chojnowski, Dzieje BBWR, S. 62. Tomaszewska, Aneksy, S. 302. Für 1930 bestehen Unsicherheiten bezüglich der Minderheiten-Parlamentarier in der BBWR-Fraktion.

177

Statistischer Anhang

Tabelle 8: Deutsche Abgeordnete im Verfassungsgebenden Sejm Polens 1919–192212 Abgeordneter Partei Mitgliedschaft im Sejm Barczewski, DP/ 08. 06. 1920– Ernst DtB 27. 11. 1922 Daczko, DP/ 08. 06. 1920– Karl DtB 27. 11. 1922 Friese, DVP 07. 11. 1919– Oskar 27. 11. 1922 Hasbach, DP/ 08. 06. 1920– Ervin DtB 27. 11. 1922 Heike, DP/ 08. 06. 1920– Gustav DtB 27. 11. 1922 Lüdecke, DP/ 08. 06. 1920– Albrecht DtB 27. 11. 1922 Spickermann, DVP/ 10. 02. 1919– Josef BdDP 27. 11. 1922 Splett, ZAG/ 08. 06. 1920– Johann DtB 27. 11. 1922 Wolff, DVP 10. 02. 1919– Ludwig 06. 11. 1919

Reden als Abg. (zus. 15)

12 Quelle: eigene Durchsicht aller Stenogramme.

Teilnahme an namentlichen Abstimmungen 49 von 76 1

48 von 76

1

40 von 79

3

52 von 76

-

54 von 76

1

54 von 76

8

51 von 88

-

49 von 76

1

9 von 9

178

Anhang

Tabelle 9: Deutsche Abgeordnete im Sejm Polens, I. Legislaturperiode 1922–192713

Daczko, Karl Franz, Eugen Graebe, Kurt Karau, Jakob Klinke, Joseph Krajczyrski, Otto Kronig, Artur Moritz, Berthold Naumann, Eugen Pankratz, Artur Piesch, Robert Rosumek, Johannes Somschor, Otto Spickermann, Josef Utta, August Wlodasch, Karl Zerbe, Emil

Wortbeiträge als Mitglied des Sejm-Vorstands (zus. 24) 3

Teilnahme an namentlichen Abstimmungen (von 298) 207

1

-

185

1

-

86

5

-

228

-

-

242

2

-

134

15

-

159

-

-

176

1

-

212

3

-

89

7

-

91

DP/O

2

-

140

DtB/ DV BdDP/ DVV DAP/ DV KVP/ DKVP DAP/ DSAP

10

-

157

1

-

172

24

18

181

1

-

164

7

6

114

Abgeordneter Partei

DtB/ DV KVP/ DKVP DtB/ DV BdDP/ DVV DtB/ DV KVP/ DKVP DAP/ DSAP DtB/ DV DtB/ DV DSP/ DSAP DP/O

Reden als Abgeordneter (zus. 83)

13 Quelle: eigene Durchsicht aller Stenogramme.

179

Statistischer Anhang

Tabelle 10: Deutsche Abgeordnete im Sejm Polens, II. Legislaturperiode 1928–193014 Abgeordneter Partei Birschel, Walther Franz, Eugen Graebe, Kurt Jankowski, Bernhard Karau, Jakob Koerber, Nordewin v. Krajczyrski, Otto Kronig, Artur Lang, Ferdinand Moritz, Berthold Naumann, Eugen Nowak, Hugo Pankratz, Artur Piesch, Robert Rosumek, Johannes Saenger, Berndt v. Spitzer, Wilhelm Tatulinski, Anton Utta, August

DV

Teilnahme an naWortbeiträge als Reden als mentlichen AbstimAbgeordneter Mitglied des Sejmmungen (von 19) Vorstands (15) (zus. 34) 6

DKVP

-

-

2

DV

-

-

2

DKVP

-

-

8

DVV

1

15

9

DV

-

-

-

DKVP15

1

-

6

DSAP

3

-

14

DV

-

-

10

DV

-

-

4

DV

2

-

9

DKVP

-

-

2

DSP

-

-

5

DP/O

3

-

2

DP/O

1

-

5

DV

2

-

9

DV

3

-

8

DV

1

-

14

13

-

12

DVV

14 Quelle: eigene Durchsicht aller Stenogramme. 15 Vgl. zur Parteizugehörigkeit Krajczyrskis Anmerkung 407.

180

Anhang

((Fortsetzung)) Teilnahme an naWortbeiträge als Reden als mentlichen AbstimAbgeordneter Mitglied des Sejmmungen (von 19) Vorstands (15) (zus. 34) 10

Abgeordneter Partei Will, Julian Zerbe, Emil

DVV DSAP

4

-

14

Tabelle 11: Deutsche Abgeordnete im Sejm Polens, III. Legislaturperiode 1930–193516 Abgeordneter

Partei

Franz, Eugen Graebe, Kurt Jankowski, Bernhard Rosumek, Johannes Saenger, Berndt v.

DKVP/ DCV DV

Reden als Abgeord- Teilnahme an naneter (zus. 23) mentlichen Abstimmungen (von 26) 6 4 -

1

DKVP/ DCV DP/O

9

8

4

6

DV

4

-

Tabelle 12: Redehäufigkeit deutscher Abgeordneter im Sejm 1919–193517 Legislaturperiode

Redehäufigkeit pro Sitzung und Abgeordneter

1919–1922, Sitzungen 1–94 1919–1922, Sitzungen 95–153 1919–1922, Sitzungen 154–342 1922–1927, Sitzungen 1–340 1928–1930, Sitzungen 1–86 - getrennt nach dt. Fraktion/dt. soz. Gruppe 1930–1935, Sitzungen 1–148

16 Quelle: eigene Durchsicht aller Stenogramme. 17 Quelle: eigene Durchsicht aller Stenogramme.

0,0160 0 0,0079 0,0144 0,0188 0,0165/0,0407 0,0311

181

Statistischer Anhang

Tabelle 13: Sozialstruktur der deutschen Fraktionen in Lettland und Polen im Vergleich18 Lettland 1922–1925 Anzahl Christliche Konfession - evangelisch - katholisch Promotion Hochschulabschluss Schulbildung - höherer Schulabschluss - mittlerer Schulabschluss - niederer Schulabschluss Staatsangehörigkeit 1914 - Deutsches Reich - Österreich - Russisches Reich Standeszugehörigkeit 1914 - adelig - nicht adelig

Polen 1922–1927 6

17

6

12 5 1 4

2 6 6

8 7 2

6

10 1 6

2 4

17

Tabelle 14: Teilnahme am Europäischen Nationalitätenkongress 1925–193819 Name Graebe, Kurt Hasbach, Ervin Klinke, Joseph Kronig, Artur Naumann, Eugen Piesch, Robert Schiemann, Paul Schoeler, Lothar Utta, August

Staat Polen

Jahr der Teilnahme Anzahl der Teilnahmen 1926–1938 13

Polen

1925–1927, 1932

4

Polen

1927

1

Polen

1926

1

Polen

1926–1932

7

Polen

1927

1

Lettland

1925–1929, 1931–1932

7

Lettland

1930

1

1927–1928

2

Polen

18 Quelle: Rzepeccy. Sejm i Senat 1922–1927, S. 526f, Fałowski, Parlamentarzys´ci, S. 79f, sowie die Angaben bei Balling, Handbuch. 19 Quelle: Bamberger-Stemmann, Nationalitätenkongreß, S. 397–407.

182

II.

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

A.M. Ausschuss der Minoritäten Lettlands A.P. Ausschuss der deutschbaltischen Parteien BBWR Bezpartyjny Blok Wspjłpracy z Rza˛dem [Parteiloser Block der Zusammenarbeit mit der Regierung] BdDP Bund der Deutschen Polens BLP Baltische Landespartei DAP Deutsche Arbeiterpartei DbDP Deutsch-baltische Demokratische Partei DbEP Deutsch-baltische Einigungspartei DbFP Deutsch-baltische Fortschrittliche Partei DbNlP Deutsch-baltische Nationalliberale Partei DbRP Deutsch-baltische Reform-Partei DbVP Deutsch-baltische Volkspartei DC Demokra¯tiskais centrs [Demokratisches Zentrum] DKVP Deutsche Katholische Volkspartei DP Deutsche Partei DP/O Deutsche Partei/Oberschlesien DSAP Deutsche Sozialistische Arbeiterpartei DtB Deutschtumsbund DV Deutsche Vereinigung in Sejm und Senat DVP Deutsche Volkspartei DVV Deutscher Volksverband DzPPP Dziennik Praw Pan´stwa Polskiego [Gesetzblatt des polnischen Staates (1918– 1919)] DzURP Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej [Gesetzblatt der Republik Polen (ab 1919)] KdF Kraft durch Freude KVP Katholische Volkspartei LSDSP Latvijas Socia¯ldemokra¯tiska¯ stra¯dnieku partija [Sozialdemokratische Arbeiterpartei Lettlands] LJSP Latvijas Jaunsaimnieku un sı¯kgruntnieku partija [Neubauern- und Kleinlandwirtepartei Lettlands] LZS Latvijas Zemnieku savienı¯ba [Bauernbund Lettlands] MKRA Miera, ka¯rtı¯bas un razˇosˇanas apvienı¯ba [Bündnis für Frieden, Ordnung und Produktion] MP Mazinieku partija [Partei der (sozialdemokratischen) Minderheit] PA Progresı¯va¯ apvienı¯ba [Fortschrittliche Vereinigung] V. d.Bw Verband des deutschen Bildungswesens WvM Wählerverband Mitau ZAG Zentralarbeitsgemeinschaft

Abbildungen

III.

183

Abbildungen

Abb. 1: Sitzung des Volksrats 1918 Das Bild zeigt die 3. Sitzung des Volksrats Lettlands am 2. Dezember 1918 im Saal der Rigaer Stadtverordnetenversammlung in der Großen Königsstraße/heutige Riharda Va¯gnera iela unter Anwesenheit von 58 der 100 vorgesehenen Deputierten. Das Bild zeigt in seiner engen Bestuhlung klar den provisorischen Charakter dieses ersten ernannten Parlaments Lettlands. Bei dieser Sitzung nahmen erstmalig insgesamt fünf Vertreter der Deutschbaltischen Fortschrittlichen Partei als Vertreter der deutschen Volksgruppe teil. Auf der Fotografie sind sie vermutlich in der Mitte links in der hintersten Reihe sitzend, teilweise vor der geschlossenen Tür, zu finden. Foto: Museum der Geschichte Rigas und der Schifffahrt/Rı¯gas ve¯stures un kug‘ niecı¯bas muzejs, Riga. Villis Ridzenieks, Ladvijas tautas padomes 1. sesija. T VG Bild-Kunst, Bonn 2016.

184

Anhang

Abb. 2: Das Gebäude der Saeima Ab 1919 fungierte für die Parlamente Lettlands das Mitte der 1860er Jahre errichtete frühere Ritterhaus an der Ecke der Jakobstraße/Je¯kaba iela zur Klosterstraße/Klostera iela direkt gegenüber der in den 1920er Jahren umstrittenen Jakobikirche als Sitz. Foto: Benjamin Conrad (2012).

Abbildungen

185

Abb. 3: Die Abgeordneten der Saeima 1925 vor der Tribüne Die Fotografie zeigt einen Ausschnitt des Gesamtbildes der Abgeordneten der I. Saeima in der ersten Hälfte des Jahres 1925. Das vollständige Bild findet sich auf dem Einband dieses Buches. In der zweiten Reihe von unten ganz links Manfred v. Vegesack, in der dritten Reihe von unten von links 1. Wilhelm v. Fircks, 2. Paul Schiemann und 4. Ka¯rlis Ulmanis (Bauernbund Lettlands). Hinten zwischen Fircks und Schiemann Karl Keller. In der letzten Reihe von links 4. John Karl Hahn (nach links gerichtet auf dem Pult sitzend), 5. vermutlich Egon Knopp. Über Ulmanis prangt eine Tafel mit dem ersten Artikel der Verfassung Lettlands von 1922: »Lettland ist eine unabhängige, demokratische Republik« (Latwija ir neatkariga demokratiska republika). Foto: Kriegsmuseum Lettlands/Latvijas Kara muzejs, Riga (www.karamuzejs.lv).

186

Anhang

Abb. 4: Die Abgeordneten der Saeima in den 1930er Jahren Die Fotografie zeigt die Abgeordneten im Plenum während der IV. Saeima-Legislaturperiode in der Zeit 1931–1933. Die Bänke der deutschen Fraktion befanden sich im rechten Flügel in der 5., 6. und 7. Reihe. Im rechten Flügel in der 5. Reihe links Paul Schiemann. In der 6. Reihe von links nach rechts Wilhelm v. Fircks, John Karl Hahn, Lothar Schoeler und Woldemar Pussull. In der 7. Reihe ganz rechts Werner Westermann. Foto: Museum der Geschichte Rigas und der Schifffahrt/Rı¯gas ve¯stures un kug‘ niecı¯bas muzejs, Riga. Villis Ridzenieks, 4. Saeimas deputati sezu zale. T VG Bild-Kunst, Bonn 2016.

Abbildungen

187

Abb. 5: Die deutsche Fraktion mit Justizminister Magnus 1928 Die Fotografie zeigt die sechs Abgeordneten der deutschen Fraktion der III. Saeima-Legislaturperiode im Herbst 1928 mit Justizminister Edwin Magnus. Die Beschriftung zeigt die Abgeordneten von rechts nach links. Das Bild wurde in einer Sonderbeilage zum 10. Jahrestag der Republik Lettland abgedruckt und sollte auch die gelungene Integration der politischen Führung der Deutschbalten in das politische System Lettlands symbolisieren. Foto: Rigasche Rundschau (17. 11. 1928), S. VIII.

Abb. 6: Tafel für Oskar Grosberg Das Bild zeigt eine 2011 angebrachte Tafel an der Fassade des heutigen Hotels »Gutenbergs« an der Ecke des Domplatzes/Doma laukums und der Kleinen Bischofstraße/Maza¯ Muzeju iela, die dem Redakteur Oskar Grosberg gewidmet ist. Grosberg war 1918–1920 Abgeordneter des Volksrats. Foto: Benjamin Conrad (2013).

188

Anhang

Abb. 7: Tafel für Paul Schiemann Die Fotografie zeigt eine 1994 angebrachte Tafel am ehemaligen Gebäude der »Rigaschen Rundschau« am Herderplatz/Herdera laukums, die Paul Schiemann gewidmet ist, der 1919–1933 Abgeordneter gewesen war. Foto: Benjamin Conrad (2014).

Abbildungen

189

Abb. 8: Landeswehr-Denkmal Das Bild zeigt das 2001 wiedererrichtete Denkmal für die Baltische Landeswehr auf dem Rigaer ˇ akste, des ersten Präsidenten Lettlands. Waldfriedhof, etwas südöstlich des Grabes von Ja¯nis C Ursprünglich zur Zehnjahresfeier der Eroberung Rigas durch die Landeswehr im Mai 1929 eingeweiht, wurde seine Sprengung nur wenige Wochen später zu einem Stein des Anstoßes zwischen Letten und Deutschbalten. Foto: Benjamin Conrad (2014).

190

Anhang

Abb. 9: Karte des Wahlgebiets zum Verfassungsgebenden Sejm vom 28. November 1918 Die Karte zeigt das durch ein Dekret Jjzef Piłsudskis am 28. November 1918 definierte Gebiet für die zum 26. Januar 1919 vorgesehene Wahl des Verfassungsgebenden Sejm Polens. Als Hintergrund wurde eine Karte mit den amtlichen Sprachzählungen Deutschlands, Österreich-Ungarns und Russlands aus der Zeit vor 1914 ausgewählt. Der Anteil der polnischsprachigen Bevölkerung ist für jeden Kreis ausgewiesen. Beim Erlass des Dekrets spielte für Piłsudski keine Rolle, ob das betreffende Gebiet auch tatsächlich unter polnischer Kontrolle war. Kartengrundlage: Czyn´ski, Edward: Mapa etnograficzno-statystyczna rozsiedlenia ludnos´ci polskiej na terytorjum dawnej Rzeczypospolitej i krajow os´ciennych [Ethnografisch-statistische Karte des Siedlungsgebiets der polnischen Bevölkerung auf dem Territorium der ehemaligen Adelsrepublik und den benachbarten Ländern]. O. O. [1912] (bearbeitet), vgl. auch Conrad, Umkämpfte Grenzen, S. 358f.

Abbildungen

191

Abb. 10: Karte der Wahlkreise in Polen 1922–1930 Die Karte zeigt die 64 Wahlkreise Polens ab 1922. In insgesamt 15 dieser Wahlkreise (fett umrandet) konnten sich einer oder mehrere deutsche Kandidaten durchsetzen, nämlich Włocławek (10), Lodz-Stadt (13), Lodz-Land (14), Konin (15), Dirschau (29), Graudenz (30), Thorn (31), Bromberg (32), Gnesen (33), Samter (36), Königshütte (38), Kattowitz (39), Teschen (40), Lemberg-Land (51) und Łuck (57). Foto: Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933, Beilage (bearbeitet).

192

Anhang

Abb. 11: Das Gebäude des Sejm 1919–1927 1919–1927 tagte der Sejm in dem in den 1860er Jahren errichteten Gebäude des AlexanderMaria-Instituts (russ. Aleksandrijskij Marijskij Institut), einer 1915 evakuierten Frauenerziehungs-Anstalt. Foto: Mos´cicki, Henryk; Dzwonkowski, Włodzimierz: Parlament Rzeczypospolitej Polskiej 1919–1927. Warszawa 1928, S. 57.

Abb. 12: Plenarsaal des Sejm 1922–1927 Der Plenarsaal des Sejm 1919–1927 hatte den Charakter einer Kirche. Die 1922–1927 17-köpfige deutsche Fraktion saß aus Perspektive der Fotografie rechts in der ungünstigen Reihe mit den Säulen hintereinander. Foto: Mos´cicki, Henryk; Dzwonkowski, Włodzimierz: Parlament Rzeczypospolitej Polskiej 1919–1927. Warszawa 1928, S. 64.

Abbildungen

193

Abb. 13: Die Sitzordnung 1922–1927 Die Sitzordnung der I. Legislaturperiode des Sejm 1922–1927, hier aus der Perspektive des Redners, zeigt erneut, dass die 17 deutschen Abgeordneten hintereinander saßen, gekennzeichnet mit dem Buchstaben N für »Niemcy« (fett umrandet). Nach jedem dritten Abgeordneten befand sich eine Säule. Abbildung: Rzepeccy, Sejm i Senat 1922–1927, S. 528 (bearbeitet).

194

Anhang

Abb. 14: Die deutsche Fraktion 1922–1927 Mit Ausnahme der beiden Sozialisten Artur Kronig und Emil Zerbe reichten alle deutschen Abgeordneten der Jahre 1922–1927 eine Fotografie zur Drucklegung im 1928 nachträglich erschienen Handbuch ein. Ob Kronig und Zerbe die Einreichung der Fotografie verweigerten, weil sie zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches 1927–1928 aus der deutschen Fraktion ausgetreten waren und nicht mehr gemeinsam mit den früheren Fraktionskollegen abgebildet werden wollten, ist nicht auszuschließen. Die deutschen Parlamentarier werden mit teilweise polonisierten Namen genannt. Foto: Mos´cicki, Henryk; Dzwonkowski, Włodzimierz: Parlament Rzeczypospolitej Polskiej 1919–1927. Warszawa 1928, S. 313.

Abbildungen

195

Abb. 15: Das Gebäude des Sejm von 1928 1928 war direkt südöstlich des bisherigen Sejm-Sitzes ein neues, halbrundes Plenarsaal-Gebäude eröffnet worden, welches nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg 1946–1947 weitgehend originalgetreu wiederhergestellt wurde und bis heute den Sejm beherbergt. Das ebenfalls im Zweiten Weltkrieg zerstörte ehemalige Alexander-Maria-Institut wurde nicht wiederhergestellt. An seiner Stelle wurde 1949–1952 ein funktioneller Anbau sowohl für offizielle Zwecke der Repräsentation als auch für die Verwaltung hinzugefügt. Ein Teil dieses Anbaus befindet sich auf der Fotografie direkt links des Plenarsaal-Gebäudes. Im Vordergrund ist ein Teil des Denkmals der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) sichtbar. Foto: Benjamin Conrad (2013).

196

Anhang

Abb. 16: Der Plenarsaal des Sejm Auch im Inneren entspricht der wiederhergestellte Plenarsaal noch weitgehend dem Zustand, den er bei der Eröffnung 1928 hatte. Größere Unterschiede zu seinem Pendant in der Zwischenkriegszeit (vgl. Abb. 19) finden sich bei der hinter dem Präsidium befindlichen Wand. Foto: Benjamin Conrad (2013).

Abbildungen

197

Abb. 17: Die Sitzordnung 1928–1930 Hatte die deutsche Fraktion 1922–1927 fast ganz links gesessen, so fand sie 1928–1930 fast ganz rechts Platz (Niemcy, hell umrandet). Ihre Abgeordneten saßen nun auch nicht mehr alle direkt hintereinander, sondern in Zweiergruppen. Die beiden deutschen Sozialisten saßen links auf den Rängen der PPS-Fraktion (Polska Partja Socjalistyczna, hell unterstrichen). Abbildung: Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933, S. 232f (bearbeitet).

198

Anhang

Abb. 18: Die Eröffnung des neuen Sejm-Gebäudes 1928 Vom Sitzplatz des Sejmmarschalls eröffnete Ministerpräsident Jjzef Piłsudski am 27. März 1928 den neuen Plenarsaal und gleichzeitig die II. Legislaturperiode des Sejm. Auffallend ist, dass die Abgeordneten der Piłsudski-nahen BBWR-Fraktion die Rede stehend entgegennahmen (linke Bildhälfte, während die Abgeordneten der deutschen Fraktion (weiß umrandet), wie alle anderen auch, sitzen blieben. Das Bild zeigt zudem, dass Präsident Ignacy Mos´cicki abwesend war, da die auf der Empore rechts befindliche, mit einem kleinen Staatswappen versehene Präsidentenloge einen leeren Stuhl aufweist. Foto: Rzepeccy, Sejm i Senat 1928–1933, S. 152f (bearbeitet).

Quellen- und Literaturverzeichnis

IV.

Quellen- und Literaturverzeichnis

a.)

ungedruckte Quellen

199

Archiwum Akt Nowych w Warszawie AAN [Archiv der neuen Akten in Warschau] - 322 Ministerstwo Spraw Zagranicznych w Warszawie [Außenministerium in Warschau] - 474 Ambasada RP w Berlinie [Botschaft der Republik Polen in Berlin] Archiwum Pan´stwowe w Bydgoszczy APB [Staatsarchiv in Bromberg] - 2448 Niemieckie Zjednoczenie w Sejmie i Senacie [Deutsche Vereinigung in Sejm und Senat] Herder-Institut, Marburg - DWPS: Depositum Wachtsmuth, Protokollnotizen Schoelers Latvijas Valsts ve¯stures arhı¯vs LVVA [Staatliches Geschichtsarchiv Lettlands]. Rı¯ga Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa IKGN, Lüneburg - Sammlung der Protokolle der Deutsch-baltischen Volksgemeinschaft

b.)

gedruckte Quellen

Baltijas Wehstnesis [Baltischer Bote]. 19. Jg. Riga 1918 [im Netz: lnb.lv]. Be¯rzin¸sˇ, Valdis (Hg.): Dokumenti sta¯sta. Latvijas burzˇua¯zijas na¯ksˇana pie varas [Dokumente erzählen. Der Aufstieg der lettischen Bourgeoisie zur Macht]. Rı¯ga 1988. Bevölkerungsstatistik Lettlands. Verzeichnis der kleineren und kleinsten Verwaltungseinheiten der Republik Lettland mit statistischen Angaben über ihre Bevölkerung auf Grund der amtlichen lettischen Volkszählung vom 12. 2. 1935. Berlin 1942. Donath, Hans: Paul Schiemann. Leitartikel, Reden und Aufsätze. Bd. II: 1919–1933. 20 Hefte. Frankfurt/Main 1986–1992. Drugi powszechny spis ludnos´ci z dn. 9.XII 1931 r. [Zweite allgemeine Volkszählung vom 09. 12. 1931]. Warszawa 1938 (Statystyka Polski, Serie C, Heft 94a). Dziennik Praw Pan´stwa Polskiego [Gesetzblatt des polnischen Staates]. Warszawa 1918– 1919 [im Netz: isap.sejm.gov.pl]. Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej [Gesetzblatt der Republik Polen]. Warszawa 1919–1935 [im Netz: isap.sejm.gov.pl]. Fircks, Wilhelm v.: Innerpolitischer Jahresrückblick, in: Jahrbuch und Kalender des Deutschtums in Lettland (1926), S. 20–24. Ders.: Politischer Jahresüberblick, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums in Lettland und Estland (1931), S. 6–10. Ders.: Politischer Jahresüberblick, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums in Lettland und Estland (1932), S. 4–6. Golecki, Anton (Bearb.): Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Bauer. 21. Juni 1919 bis 27. März 1920. Boppard 1980. Handrack, Hans: Die Bevölkerungsentwicklung der deutschen Minderheit in Lettland. Jena 1932. Hasbach, Ervin: Die Lage der deutschen Volksgruppe in Polen vor dem Zweiten Weltkriege, in: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952), S. 262–264.

200

Anhang

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Ortsregister

Alt-Blumenau (Stare Błomowo) Augsburg 154

113

Bauske (Bauska) 32 Berent (Kos´cierzyna) 102f. Berlin 69, 161 Białystok 102 Bromberg (Bydgoszcz) 103, 106f., 109, 111, 120, 146, 161, 191 Bütow (Bytjw) 99 Dirschau (Tczew) Flatow (Złotjw)

109, 191 125

Genf (GenHve) 142, 147, 149 Gnesen (Gniezno) 109, 191 Goldingen (Kuldı¯ga) 32 Graudenz (Grudzia˛dz) 103, 106, 109, 111, 191 Groß Wartenberg (Sycjw) 99 Hirschenhof (Irsˇi) Illuxt (Ilu¯kste)

25, 36, 88

25

Kattowitz (Katowice) 106f., 109, 111, 191 Königshütte (Chorzjw) 106, 109, 111, 191 Konin 102, 106, 109, 111, 191 Konitz (Chojnice) 110 Kutno 102

Lauenburg (Le˛bork) 99 Lemberg (L’viv) 109, 191 Libau (Liepa¯ja) 25, 27–29, 31, 46, 64, 77, 86 Lodz (Łjdz´) 102, 104, 106, 109–112, 114, 123, 142, 155, 169, 191 Łuck 106, 191 Łukjw 102 Marburg 9, 16 Mitau (Jelgava) 32, 34, 182 Namslau (Namysłjw) 99 Neustadt/Westpreußen (Wejherowo) 117 Nowogrjdek (Novogrudok) 100 Paris 13, 100 Posen (Poznan´) 18, 41, 100–103, 106– 112, 119, 133, 139, 144f., 149, 151, 153, 158–160, 163 Riga (Rı¯ga) 9, 16, 20, 25, 27–29, 31–33, 35, 37–42, 44–46, 64, 68f., 72, 77f., 80, 83– 86, 91, 97, 169, 183, 185f., 189 Samter (Szamotuły) 106, 109, 111, 191 Schwetz (S´wiecie) 113 Soldau (Działdowo) 116, 139, 166 Stolp (Słupsk) 99 St. Petersburg (S.-Peterburg) 42 Strasdenhof (Strazdumuizˇa) 27

214

Ortsregister

ˇ esky´ Teˇsˇ&n) Teschen (Cieszyn/C 104, 106, 109, 111, 158, 191 Thorn (Torun´) 109, 149, 191 Warschau (Warszawa) 134, 192, 194

100f.,

20f., 99, 113, 116,

Wenden (Ce¯sis) 16, 27, 46, 51, 78, 80 Wien 41, 100 Wilna (Vilnius) 100 Wirsitz (Wyrzysk) 117 Włocławek 106, 109, 111, 191 Wolmar (Valmiera) 49

Personenregister

Alberings, Arturs 68f., 175 Alsleben, Alfred 20, 33f., 41, 53, 55, 172f. Ause¯js, Longı¯ns 82 Barczewski, Ernst 103, 112f., 116, 154, 177 Bartel, Kazimierz 126f., 134–136, 141, 153, 157 Baudouin de Courtenay, Jan 129 Baum, Wilhelm 44, 47 Beck, Jjzef 148 Be¯nuss, Ru¯dolfs 85 Berent, Bernhard v. 42, 71, 91, 174 Bermondt, Pavel 27, 46, 65, 77 Birschel, Walther 109, 114, 179 Bite, Mik¸elis 61 ¯ dolfs 54, 73, 75, 83, 175 Bl¸odnieks, A ´ Bninski, Adolf 130 Bobek, Paweł 155f. Bocˇagov, Aleksandr 43, 77, 92 Borkowsky, Oskar 27, 175 Breiksˇs, Ja¯nis 56f., 93f. Broecker, Alfred v. 47f. Brownsford, Kazimierz 126 Brümmer, Heinrich v. 47, 77, 88, 173 Bursche, Juliusz 154–157 Busse, Georg 112 ˇ akste, Ja¯nis 42, 59f., 62, 68f., 83, 85, 92, C 189 Car, Stanisław 136 Celmin¸ˇs, Hugo 68, 71, 75, 87, 93, 175 Chruc’kyj, Serhij 126, 132, 143, 146

Ciele¯ns, Felikss 57 Curtius, Julius 111 Daczko, Karl 103, 105f., 110, 113, 116f., 119, 145f., 149f., 152, 160, 177f. Daszyn´ski, Ignacy 127 Dauge, Aleksandrs 82 Deubner, Wilhelm 48 Dobrucki, Gustaw 147 Drummond, Eric 111 Düsterlohe, Balduin 71, 174 Engelmann, Paul 48 Erhardt, Robert 65–67, 74, 77, 89, 174 Ersˇov, Leonid 17, 38, 54, 93 Fircks, Wilhelm v. 32–35, 37–39, 41, 51– 53, 55, 68f., 72f., 77, 79, 83, 87–93, 96– 98, 172f., 185f. Franz, Eugen 106, 109, 111, 113, 121, 123f., 141, 150, 156, 178–180 Friese, Oskar 14, 113, 115–117, 128, 132, 154, 177 Gabrisch, Artur 112 Gailı¯tis, Pauls 82f. Grabski, Władysław 131, 134, 144 Graebe, Kurt 103, 106f., 109, 111, 113f., 119–121, 123f., 129f., 133, 137, 144f., 148, 150, 153, 159f., 162, 167, 178–181 Grosberg, Oskar 44, 51, 173, 187 Grünbaum, Izaak 105, 142f.

216

Personenregister

Hahn, John Karl 33–35, 40f., 52f., 55–57, 83, 88, 94, 172f., 185f. Hasbach, Ervin 101, 103, 105, 109, 111– 114, 116, 139, 145, 148, 160, 162f., 177, 181 Hasselblatt, Werner 150 Heike, Gustav 103, 113f., 116, 154, 177 Hellmann, Jakob 51, 78 Hitler, Adolf 137, 162 Irbe, Ka¯rlis

92, 94

Jankowski, Bernhard 109, 111–113, 124f., 162, 179f. Jurasˇevskis, Pe¯teris 60, 70, 75, 175 Kallistratov, Meletij 53, 56, 76 Kalnin¸sˇ, Pauls 60f., 75 Karau, Jakob 106, 109, 113, 119, 127, 135, 143, 156, 178f. Kasparsons, Ka¯rlis 82 Katterfeld, Oskar 48 Keller, Karl 33–35, 40–42, 44f., 49–51, 53, 64, 75, 81–83, 86f., 91, 96, 166, 172–174, 185 K ¸ enin¸sˇ, Atis 73–75, 83f., 98 Kirillov, Stepan 71f., 76 Klinke, Joseph 106, 110, 113, 119, 156, 178, 181 Klot, Alexander v. 44, 47, 64, 174 Kluge, Peter 32, 41, 44f., 66, 89, 172f. Knopp, Egon 32f., 41, 52, 56, 87, 172f., 185 Koerber, Nordewin v. 109, 113, 122, 179 Koreckij, P[tr 92 Kornil’ev, Ivan 44, 58 Köstel, Adolf 69 Kozłowski, Leon 137 Krajczyrski, Otto 106, 109, 113, 135f., 146, 156, 178f. Kroeger, Erhard 39f. Kronig, Artur 11, 106, 108, 110, 113f., 119–123, 126, 130, 133–136, 140, 145, 147, 150, 152, 156, 158, 161, 163, 178f., 181, 194 Kviesis, Alberts 60–62, 73, 80, 94

Lang, Ferdinand 109, 113f., 122, 179 Luckevycˇ, Marko 132 Lüdecke, Albrecht 103, 113, 116, 177 Lutosławski, Kazimierz 118, 155 Magnus, Edwin 32, 41, 48, 65f., 70f., 77, 79, 81, 168, 172–174, 187 Majewski, Stanisław 117 Marek, Zygmunt 130 Marweg, Jan 120 Mayer, Kurt 112f. Meierovics, Zigfrı¯ds Anna 27, 67f., 175 Menders, Fricis 77 Miezis, Ernests 60 Miklaszewski, Bronisław 143f. Mintz, Paul 65–67, 77 Morawski, Kazimierz 130 Moritz, Berthold 106, 109, 113, 119, 178f. Mos´cicki, Ignacy 110, 112, 121, 123, 126, 130, 157, 159, 192, 194, 198 Müller, Hermann 12, 27 Munter, Wilhelm 73 Nagujewski, Bronisław 47 Narutowicz, Gabriel 129f., 133, 158 Naumann, Eugen 103, 106, 108f., 111, 113, 119–121, 133, 136, 140, 148, 152, 178f., 181 Niedra, Andrievs 27, 46f., 64f., 76–78, 81, 156, 175 Nikolaus I. 155 Nowak, Hugo 109, 113, 179 Nowak, Julian 132 Nurok, Mordechaj 69f. Ozolin¸sˇ, Lukass

57

Paderewski, Ignacy Jan 131 Pankratz, Artur 106–109, 113f., 119–121, 130, 135, 161, 178f. Pant, Eduard 112f. Paul¸uks, Ja¯nis 67f., 175 Pavlovskij, Timofej 58 Pieracki, Bronisław 137 Piesch, Robert 106, 108f., 113f., 119, 122, 135f., 146, 150, 153, 161, 178f., 181

Personenregister

Pigulevskij, Vladimir 17, 53f. Piłsudski, Jjzef 99, 108, 111, 121, 127– 131, 133, 135–137, 141, 158f., 190, 198 Pla¯k¸is, Juris 82 Poelchau, Peter Harald 92f. Pommers, Ja¯nis 14, 58 Ponikowski, Antoni 132, 139 Pussull, Woldemar 34f., 40f., 48, 53, 55, 93f., 172f., 186 Rahden, Wolfert v. 40f. Rainis 59, 75, 83 Reusner, Arthur 27, 32, 41, 51, 65, 172f. Roenne, Alfred v. 47f. Rosenberg, Eduard v. 26, 44, 47–49, 64– 66, 88, 168, 173f. Rosumek, Johannes 106, 109, 111, 113, 124f., 135f., 178–180 Rüdiger, Wilhelm v. 38 Sadowsky, Walther 34, 41, 53, 172f. Saenger, Berndt v. 109, 111, 113f., 124f., 136, 138, 153, 163, 179f. Schiemann, Paul 13, 20, 27f., 30–35, 37– 39, 41, 47, 49, 51–59, 61–63, 66–70, 72f., 77–81, 83–85, 87–94, 96–98, 165, 169, 172f., 181, 185f., 188 Schiper, Ignacy 101, 114 Schoeler, Lothar 16, 31, 34f., 39–41, 53, 55, 63, 73, 83f., 98, 172f., 181, 186 Schönhoff, Oskar 44f., 48 Schreiner, Wilhelm 44, 46, 48f., 76f., 84, 168, 173 Seeberg, Alfred 45 Seil, Valerija 46 Sikorski, Władysław 133, 140 Skrzyn´ski, Aleksander 134, 158 Skujenieks, Marg‘ ers 54, 69, 72f., 75, 79, 83, 88, 93–95, 97, 175 Skulski, Leopold 131 S´liwin´ski, Artur 132 Smulikowski, Julian 146 Sokolowsky, Paul v. 78 Somschor, Otto 106, 110, 113, 119f., 133, 151f., 156, 178

217 Spickermann, Josef 102, 106, 110, 112– 117, 119, 128, 131, 133, 138–140, 142, 154–157, 177f. Spitzer, Wilhelm 109, 113f., 122, 136, 179 Splett, Johann 103, 113, 116f., 177 Sˇpoljanskij, Leontij 58, 70f., 76, 93 Stavenhagen, Kurt 39, 51 Stegman, Helmuth 31, 35, 39–41, 43f., 46, 56, 62f., 92, 98, 172f. Stüldt, Karl 112 S´winiarski, Alojzy 118 S´witalski, Kazimierz 157 Szczeponik, Thomas 112f. Szyman´ski, Julian 137 Tarasˇkevicˇ, Branislau˘ 132 Tatulinski, Anton 109f., 113f., 122, 136, 179 Terin¸ˇs, Ja¯nis 77 Thugutt, Stanisław 134 Tra˛mpczyn´ski, Wojciech 129 Trofimov, Sergej 72 Ulmanis, Ka¯rlis 16f., 26f., 41, 44f., 49, 59, 62–68, 72f., 75–77, 84, 88, 94, 98, 175, 185 Utta, August 106–109, 112f., 119–122, 126f., 134–137, 141, 143–148, 150, 153, 156, 158, 161, 178f., 181 Vegesack, Manfred v. 33, 41, 52, 90, 92, 172f., 185 Vesmanis, Frı¯drihs 60, 75, 92 Wachtsmuth, Wolfgang 15–17, 19, 29–31, 37f., 43, 45, 49, 75, 79, 82, 84, 95f. Wambeck, Max 112 Westermann, Werner 34f., 40f., 53, 173, 186 Wierzbicki, Jan 52, 57f., 70–72 Wiesner, Rudolf 112 Will, Julian 109, 113, 117, 121f., 156, 168, 180 Witos, Wincenty 108, 129, 131, 134 Wittenberg, Simon 58

218 Wlodasch, Karl 106, 108, 110, 113, 119, 135, 156, 178 Wojciechowski, Stanisław 102, 129f., 142 Wolff, Ludwig 102, 113–115, 128, 138, 142, 177 Zahajkevycˇ, Volodymyr 125, 128 Zamoyski, Maurycy 130

Personenregister

Za¯muels, Voldema¯rs 60, 68, 175 Ze¯bergs, Ja¯nis 65 Zemgals, Gustavs 60, 62, 69 Zerbe, Emil 106, 110, 113f., 119–123, 126, 130, 135f., 144, 148, 150, 153, 156, 163, 169, 178, 180, 194 Ziemelis, Edmunds 83