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German Pages [296] Year 1999
bohlauWien
WIENER ARCHIV FÜR GESCHICHTE DES SLAWENTUMS UND OSTEUROPAS Veröffentlichungen des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung der Universität Wien Herausgegeben von Horst Haselsteiner, Walter Leitsch, Max D. Peyfuss, Richard G. Plaschka und Arnold Suppan BAND XVIII
POLEN UND ÖSTERREICH IM 17. JAHRHUNDERT
Herausgegeben von Walter Leitsch und Stanislaw Trawkowski
BÖHLAU VERLAG WIEN . KÖLN . WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Poleil und Österreich im 17. Jahrhundert hrsg. von Walter Leitsch und Stanislaw Trawkowski. Wien; Köln ; Weimar: Böhlau, 1999 (Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas ; Bd. 18) ISBN 3-205-99183-4
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Ο 1999 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG., Wien · Köln · Weimar Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier
Druck: Novographic, Wien
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
7
Janusz Tazbir (Warschau): Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung Karl Vocelka (Wien): Monarchia Austriaca, Gloria Domus
9 37
Eduard Maur (Prag): Die wirtschaftliche, soziale und demographische Entwicklung Böhmens 1648-1740
68
Henryk Rutkowski (Posen): Die Städte Großpolens und Masowiens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
109
Erich Landsteiner (Wien): Wiederaufbau oder Transformation? Niederösterreich vor, während und nach dem Dreißigjährigen Krieg
133
Maria Bogucka (Warschau): Über den polyzentrischen Charakter der polnischen Urbanisation in der Frühneuzeit
204
Peter Csendes (Wien): Wien. Die Probleme der kaiserlichen Residenzstadt im 17. Jahrhundert
216
Walter Leitsch (Wien): Wann und warum verlor Krakau die Funktion einer königlichen Residenzstadt?
232
Dariusz Kolodziejczyk (Warschau): Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
261
Markus Köhbach (Wien): Warum beteiligte sich das Osmanische Reich nicht am Dreißigjährigen Krieg?
277
VORWORT Die in diesem Band abgedruckten Texte sind Beiträge zu einer Tagung, die von
den Polnisch-Österreichischen
Historischen
Komittees
des
Historischen Instituts der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Historischen
Kommission
der
Österreichischen
Akademie
der
Wissenschaften vorbereitet wurde. Die Zusammenkunft fand vom 25. bis 27. September 1996 in Wien in den Räumen der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften
statt.
Dieses
dem
17. Jahrhundert
gewidmete
Unternehmen ist nach dem Vorbild der vorangegangenen Tagung gestaltet worden, die dem 16. Jahrhundert gewidmet war, und deren Beiträge in Wien im Jahre 1997 unter dem Titel „Polen und Österreich im 16. Jahrhundert" als Band XVII des Wiener Archivs für Geschichte des Slawentums und Osteuropas erschienen sind. Im Vorwort zu dieser Publikation ist auch genauer dargelegt, aus welchen Überlegungen und mit welcher Zielsetzung die Tagungen jeweils einem Jahrhundert gewidmet sind. Hier sei nur kurz erwähnt, daß die Herausgeber jeweils vier Themen wählen, die geeignet sind, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Geschichte unserer beiden Länder deutlicher herauszuarbeiten. Für das 17. Jahrhundert wählten wir folgende Themen: 1) Politische Ideen des Adels in Polen und der Herrscherfamilie in Österreich. 2) Zerstörungen durch Kriege und der folgende Wiederaufbau der Länder. 3) Die Verlegung der Hauptstädte und ihre Folgen. 4) Die Bedrohung durch die Osmanen und ihre Folgen.
8
Vorwort Für das zweite und das dritte Thema bemühten wir uns, tschechische
Historiker zur Mitwirkung einzuladen, um den inhaltlichen und räumlichen Horizont zu erweitern. Das ist uns leider nur zur Hälfte gelungen, denn Professor Zden6k Hojda, der zusagte, über die Entwicklung Prags nach dem Verlust der Funktion als kaiserliche Residenz zu referieren, erkrankte und konnte an der Tagung nicht teilnehmen. Nun ist die polnische Problematik mit einem zweiten Beitrag vertreten, der ursprünglich von den Organisatoren der Tagung nicht im Plan vorgesehen war. Die Arbeit von Professor Eduard Maur
trägt Wesentliches und
Interessantes zur
Problematik der Folgen der Kriegsschäden, also zum zweiten Thema bei. Wegen des Ausscheidens von Walter Leitsch aus dem aktiven Universitätsdienst sind die Vorarbeiten für die Drucklegung leider nur sehr langsam vorangegangen. Ohne die Hilfe seiner Ehefrau und seines Sohnes hätte er die Arbeiten überhaupt nicht bewältigen können. Ihnen schulden wir Dank. Die Kollegen, die ihre Beiträge rechtzeitig einsandten, bitten wir um Verzeihung, daß dieser Band erst mit großer Verspätung erscheinen kann. Diese kleine Tagung, deren Gelingen wir dem organisatorischen Geschick und dem Einsatz von Frau Mag. Barbara Haider von der Historischen
Kommission
der
Österreichischen
Akademie
der
Wissenschaften verdanken, erschien den Organisatoren so erfolgreich, daß sie mit der Vorbereitung für ein weiteres Treffen zu Themen des 18. Jahrhunderts begonnen haben. Diese Tagung fand inzwischen Anfang Oktober 1998 in Warschau statt. Unser
Dank
gebührt
auch
dem
Fonds
zur
Förderung
der
wissenschaftlichen Forschung, ohne dessen finanzielle Hilfe dieser Band nicht hätte erscheinen können. Die Herausgeber
Janusz Tazbir (Warschau)
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
Im 17. Jahrhundert war der Adel in das politische Leben des polnischen Staates weitgehend integriert. Vor allem die Besitzer eines Dorfes oder einiger weniger Dörfer, also die Vertreter der adeligen Mittelschicht, beteiligten sich aktiv am politischen Leben. Das
war
weitgehend darauf zurückzuführen, daß die Privilegien einheitlich für den gesamten Adel galten. Es begann damit, daß alle Adeligen gleichberechtigt in den Versammlungen der Landstände Sitz und Stimme hatten, und es endete damit, daß sie als Soldaten im Sold des Staates oder des Königs, wenn es ausstehende Soldzahlungen gab, Verbände schufen, um die staatlichen Stellen unter Druck zu setzen. Natürlich gab es Unterschiede in der politischen Ideologie der Magnaten und des mittleren Adels. Doch gab es auch wichtige Gemeinsamkeiten: In bezug auf die freie Königs wähl und das Liberum veto waren alle - von den Magnaten bis zu den landlosen Kleinadeligen - ein und derselben Auffassung. Sogar unter den Mächtigen gab es im 17. Jahrhundert kaum Befürworter einer Stärkung
der
königlichen Macht. Es ist daher weiter nicht verwunderlich, daß diejenigen, die sich mit der politischen Ideologie des Adels am Ende des 18. Jahrhunderts befaßten, mit Erstaunen feststellen mußten, daß der Adel, wenn immer es darum ging, die eigene gesellschaftliche Stellung zu verteidigen, Übereinstimmung und Solidarität bewies.1
1 Eine allgemeine Charakteristik des Sarmatismus bieten u.a. A. Brückner, Das silberne Zeitalterder polnischen Kultur, 1600-1648. In: Biuletyn Biblioteki Jagiellonskiej 29(1979) S. 59-84. T. Ulewicz, II problema del sarmatismo nella cultura e nella letteratura polacca. In:Ricerche Slavistiche 8(1960) S. 126-198 sowie J. Tazbir, LaRepubliquenobiliaire et le monde. Etudes sur l'histoire de la culture polonaise ä l'epoque du baroque. W r o c l a w 1986, S. 7 ff.
10
Janusz Tazbir Auch die höheren Schulen, die vorwiegend von den Jesuiten
betrieben wurden, haben maßgeblich zur Vereinheitlichung der Kultur des Adels beigetragen. Mit Stolz äußerte sich dazu ein Mitglied dieses Ordens, Martin Laszcz, am Ende des 16. Jahrhunderts: „Seht euch die Personen [...] an, die jetzt im Senat und aus der Gemeinschaft der Ritter tätig sind. Ihr werdet leicht erkennen, wer seine Ausbildung bei den Jesuiten erhalten hat."2 Dabei ging es ihm wohl nicht nur um den Eifer im Kampf gegen die Reformation, sondern vielmehr um die Einheitlichkeit der Mentalität, des Geschmacks und der Sitten. Auch die Pfarrgemeinde spielte eine nicht unbedeutende
Rolle
bei
dieser
Vereinheitlichung.
Die
kirchliche
Verwaltung stärkte immer mehr ihre Kontrolle über die Gesamtheit des religiösen Lebens der Gemeinden. Schon immer waren die Pfarrer und nicht das geistliche „Magnatentum" (die Bischöfe) die Grundpfeiler des kirchlichen Lebens. Wie oft geschah es doch, daß noch im 17. Jahrhundert polnische Bischöfe Verwandte und Freunde, die anderen Konfessionen angehörten, vor den Angriffen der Pfarrer, welche ihre Vorgesetzten an Glaubenseifer übertrafen, in Schutz nahmen. Die Priester konnten auf die Hilfe
von
Pressure-groups
zählen,
vor
allem
von
fanatischen
Patronatsherren und engagierten Mitgliedern religiöser Bruderschaften. Kam ein Pole in einer katholischen Familie zur Welt, wurde er automatisch Mitglied der Gemeinde. Ursprünglich konnte er aus dieser Gemeinschaft austreten, doch vom Jahre 1668 an galt das als Apostasie, für den Austritt aus der Gemeinde wurde man bestraft. Überdies war die Pfarrgemeinde nicht nur die kleinste Einheit der kirchlichen, sondern zum Teil auch der staatlichen Verwaltung. Von den Kanzeln verkündete man in erheblichem Ausmaß auch Wissen über die Geschichte des eigenen Landes, dessen Gesellschaftsordnung und über die Pflichten der Bewohner des Landes. Deshalb stellte man auch an die Intelligenz und Bildung der Priester hohe Ansprüche. Lehrer und Prediger paßten sich der politischen Lage an. In 2
M . Laszcz, IudiciumalboRozsadek (Iudicium oder Vernunft). Wilno 1594, S. 21.
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
11
den verschiedenen Ländern wurde von der allgemeinen Lehre
der
Gegenreformation nur das auf dieselbe Weise vorgetragen, was sich auf die Religion bezog. Die Kirche vermittelte jedoch auch andere Kenntnisse, allerdings in sehr allgemeiner und wenig präziser Form. Für Personen, die nie das eigene Land verlassen hatten, war jedoch, was die Priester zu sagen hatten, die einzige Informationsquelle. Wer sich jedoch
zu
einer
Auslandsreise entschloß, folgte am liebsten den ausgetretenen Pfaden der Vorväter. Die Vorstellungen des Adels von neuentdeckten Ländern und auch
von
anderen
Völkern
Europas
bestanden
vorwiegend
aus
Stereotypen, die vor allem von der Schule und der Kirche verbreitet wurden und die man in populären Schriften wie etwa den Handbüchern der Rhetorik von Jan Pisarski und Kazimierz Woysznarowicz findet. Darin unterscheidet sich allerdings Polen nicht von anderen Ländern. Diese Situation führte dazu, daß Mentalität und Ideologie sehr ähnlich waren, daß aber auch größere Unterschiede im Lebensstil fehlten: Die gesellschaftlichen Bräuche und Umgangsformen waren sehr ähnlich, ebenso die Kleidung und Bewaffnung. Besonders bei der Gestaltung der Wohnräume und des alltäglichen Lebens hielt man sich strikt an die gängigen Formen und Vorlieben in der Kunst, die aus einer Symbiose orientalischer Elemente, heimischer Traditionen und der Nachahmung westlicher Vorbilder entstanden war.3
Bezeichnend ist dabei, daß die
gewiß auch bestehenden Unterschiede in der Alltagskultur nicht durch regionale Sonderentwicklungen
bedingt
waren,
sondern
durch
die
Vermögensverhältnisse. Die Höfe des Adels und sogar der Magnaten in der Ukraine, in Litauen oder Großpolen waren in ihrer Gestaltung sehr ähnlich. Der Lebensstil des Patriziats war ebenfalls sehr ähnlich. Ganz anders ist die Situation im bäuerlichen Bereich. Hier haben Trachten, Sitten und Bräuche ihre regionalen Besonderheiten bewahrt. Auf dem enormen 3
Siehe J. Tazbir, Das silberne Zeitalter der polnischen Kultur: Barock. In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischenLänder Europas 30(1986) S. 167-186.
12
Janusz Tazbir
Gebiet zwischen den Flüssen Warthe und Dnjepr gab es nicht nur eine Entwicklung zu
immer mehr
kleinen
Siedlungen
und
zu
einer
Agrarisierung der Kultur, es gab vielmehr auch eine Vereinheitlichung der Kultur der Oberschicht. Wladyslaw Czaplmski hat richtig bemerkt, „daß der Adel in der Mehrheit demselben religiösen Glauben anhing, dieselben politischen und gesellschaftlichen Ansichten hatte, dieselben Schriftsteller las und dieselben Zitate verwendete".4 Unserer Meinung nach kann man die ziemlich einheitliche Adelskultur, die sich im 17. Jahrhundert herausbildete, als Sarmatismus bezeichnen. Dies läßt sich insofern etymologisch begründen, da im 17. Jahrhundert die These, der Adel stamme von den ehemaligen Sarmaten ab, weit verbreitet war. Dafür gibt es auch eine methodologische Erklärung: Ähnliche Konstruktionen und Modelle kreieren wir nämlich für alle historischen Epochen. Über den Zusammenhang zwischen dem Sarmatismus und dem zeitgenössischen politischen Geschehen besteht kein Zweifel. Die Historiker haben die Einteilung dieser Erscheinung in Perioden parallel zur politischen Geschichte des Landes festgelegt. Ihrer Ansicht nach beginnt sich der Sarmatismus zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu entwickeln. Die erste Periode endet mit den Einfall der Schweden in Polen im Jahre 1655. Der zweite Abschnitt endet mit dem Tod des Königs Jan III. Sobieski im Jahre 1696, des letzten Sarmatenkönigs der polnischen Adelsrepublik. Die dritte und zugleich letzte Periode der sarmatischen Kultur fällt zusammen mit der Regierungszeit der Könige August II. und August III.; diese Epoche (1696-1764) nennt man auch die sächsische, weil die beiden Könige aus dem kurfürstlichen sächsischen Haus stammten. Diese Periodisierung kann man im wesentlichen akzeptieren, nur sollte man die wichtigsten Unterschiede zwischen den einzelnen Epochen 4
W. Czaplmski, Ο Polsce siedemnastowiecznej.Problemy i sprawy (Über Polen im 17. Jahrhundert. Probleme und Fragen). Warszawa 1966, .S. 53. Vergleiche vom selben Verfasser: Licht- und Schattenseiten der polnischen Adelsrepublik. In: Osterreichische Osthefte 13(1971) S. 113-130.
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
13
deutlicher kennzeichnen. Obwohl sich die wichtigsten Elemente des Sarmatismus bereits vor den Schwedenkriegen herausgebildet hatten, kam ihm erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wirklich entscheidender Einfluß auf die Mentalität des Adels zu. Am Beginn des folgenden Jahrhunderts nahm der Sarmatismus dann seine endgültige Form an, er wurde zu einer Karikatur, man kann wohl sagen, er degenerierte. Grundlegende Bedeutung kommt der Frage nach dem Verhältnis der Kultur des polnischen Adels zum Barock5 zu, den man als einen bestimmten Abschnitt - wie Renaissance und Aufklärung -
in der
Entwicklung unserer Kultur betrachtet. Nach Meinung mancher Forscher kann man den Sarmatismus als eine nationale Ausformung des Barock ansehen, so wie es eben auch einen spanischen, italienischen oder englischen Barock gibt. Dann wäre der Sarmatismus gleichsam eine spezifische Erscheinungsform des slavischen Barock, über den bereits der hervorragende ungarische Kulturhistoriker Endre Angyal geschrieben hat.6 Anhänger dieser Theorie weisen daraufhin, daß in bezug auf die Vorlieben in der Kunst der Barock und der Sarmatismus identisch seien und daß diese Kulturform starken Einfluß auf den Lebensstil des Adels ausgeübt habe. Daran ist viel Wahres. Vor allem ist es offenkundig, daß der Sarmatismus aus einer Symbiose der politischen Ideologie des Adels und dem Lebensgefühl des Barock entstanden ist. Dieser wiederum hat die Kunst der Zeit wesentlich gestaltet. Man kann jedoch nicht die Gesamtheit der Kultur des polnischen Adels des 17. Jahrhunderts und somit den Sarmatismus mit dem Barock gleichsetzen. Man muß bedenken, daß wir es einerseits mit einer Subkultur zu tun haben, die auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht begrenzt war, andererseits jedoch mit einer Strömung in der Kunst und Kultur, die fast
5 6
Ausführlicher zu diesem Thema vgl. J.Tazbir, Das silberne Zeitalter, S. 167. E . Angyal, Die slawische Barockwelt. Leipzig 1961.
Janusz Tazbir
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alle Gruppen der Gesellschaft erfaßte. Man kann kaum von
einem
sarmatischen Hof der Wasa-Dynastie sprechen. Dennoch gibt es in diesen Jahren zahllose Beispiele für den Einfluß des Barock. Während der Regierungszeit Jans III. Sobieski gab es in der königlichen Residenz in Wilanow gleichsam zwei Höfe nebeneinander: den Hof der französischen Gemahlin des Königs und den Hof des Königs selbst, den man auch bis zu einem gewissen Grad als eine Variante eines Magnatensitzes ansehen kann. Vielleicht übte er eben deshalb keinen größeren Einfluß auf die kulturelle Entwicklung des Landes aus. Im Gegensatz zum Hof der Wasa-Dynastie, der von ausländischen Elementen geprägt war, hat der Hof Sobieskis den Adel weder provoziert noch beeindruckt, denn Höfe dieser Art gab es im Land recht viele. Was den Hof seiner Gemahlin anging, der bis zu einem gewissen Grad eine Nachahmung von Versailles war, so spielte auch er aus verschiedenartigen Ursachen keine größere Rolle im Kulturleben des Landes. Der Lebensstil der Magnaten war nur zum Teil geprägt durch den Sarmatismus. Manche Würdenträger, wie etwa Jan Andrzej Morsztyn und Stanislaw Herakliusz Lubomirski, können gewiß nicht als typische Vertreter der sarmatischen Kultur angesehen werden. Auch in bezug auf die politische Doktrin waren die Magnaten ganz anderen Prinzipien verpflichtet als der mittlere Adel. Sie haben das jedoch nicht laut und öffentlich hinausposaunt. Der Sarmatismus weitete hingegen
seinen
Einfluß letztlich auch auf das Bürgertum aus. Er prägte Kleidung, Lebensstil und Gestaltung der Wohnräume sowohl beim katholischen als auch beim protestantischen Adel. In Polen gab es nichts, das etwa der gesonderten hugenottischen Kultur in Frankreich entsprochen hätte. Wenn man etwa die Sozinianer vertrieb, dann tat man das, weil sie von der sarmatischen Ideologie abwichen, nicht etwa weil sie einen eigenen Lebensstil entwickelt hätten. Im Bereich der materiellen Kultur, wenn man das so sagen darf,
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
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deckte sich der Sarmatismus nicht mit den Einflüssen der Barockkultur. Ohne Zweifel gab es gewisse Besonderheiten im polnischen Stil wie etwa Elemente in der Innenausstattung der Häuser und die typischen Formen der Helme der Kirchtürme, die sogenannten goldenen Altäre, und
die
Abbildungen von Teilen der Rüstung, mit denen man die Stukkaturarbeiten in den Kirchen verzierte.7 Während der Gegenreformation baute man überall die Kirchen nach denselben architektonischen Grundprinzipien. Nicht ohne eine gewisse Übertreibung weisen die Kunsthistoriker darauf hin, „daß die stilistische Ausformung des polnischen Barocks auf litauischruthenischem Gebiet den spitz aufstrebenden und reich verzierten Kirchen Mexikos und Brasiliens ähnlich ist." Das Bauwesen lag vor allem in den Händen ausländischer Meister, die allgemeingültige Vorbilder nach Polen übertrugen. In den Bauten finden wir auch nicht die für den Sarmatismus so typischen orientalischen Elemente. In der Malerei entstand ein eigenständiger sarmatischer Porträttypus mit einer charakteristischen polnischen Sonderform - dem Sargporträt. Diese Bilder waren für Polen so charakteristisch, daß ihre Verbreitung nach Westen über die damalige Landesgrenze hinaus den Bereich des Einflusses der polnischen Kultur absteckt. Überall dort finden wir stark von orientalischen Einflüssen geprägte
Werke
der
persisch-sarmatischen
Teppichweberei,
der
Goldschmiede- und Schnitzarbeiten. Nicht alle Elemente der sarmatischen Kultur lassen sich unter dem Begriff Barock zusammenfassen. Was bedeutet dieser Begriff überhaupt außerhalb der Bereiche Literatur und Kunst? Als man eine Sammlung von Essays über das 17. Jahrhundert vorbereitete (herausgegeben in der Serie „Konfrontacje Historyczne'7 Historische Konfrontationen), stellte man fest, daß sowohl die Autoren, die sich mit Problemen der Wirtschaft, des Heerwesens und der internationalen Lage befaßten, als auch diejenigen, die 7
J. Biatostocki, Piqc w i e k o w mysli ο sztuce (Fünf Jahrhunderte Nachdenken über die Kunst). Warszawa 1959, S. 224.
16
Janusz Tazbir
über die politische Ideologie dieser Zeit schrieben, mühelos ohne den Begriff Barock auskamen. Es wäre wohl unangebracht, von einer barocken Lehre der königlichen Macht oder der Nutzung adeliger Güter durch die Fronarbeit zu sprechen, noch viel weniger von einer barocken Konzeption der Adelsprivilegien. Diese entwickelten sich nämlich völlig unabhängig vom Barock, mit dem übrigens die politische Lehre des Sarmatismus in ihrer Gesamtheit nicht viel Gemeinsames hat. Dennoch war diese politische Doktrin nicht völlig frei von barocken Einflüssen. Diese spüren wir in den Reden auf den Reichstagen, in dem Hang zu Übertreibungen und in der großen Vorliebe für Panegyrisches. Auch die Tatsache, daß sich hinter dem Gerede
von
der
Gleichheit
aller
Adeligen
die
Herrschaft
der
Magnatenoligarchie verbarg, entsprach gleichsam der Vorliebe dieser Epoche für Äußerlichkeiten. Sowohl in der Malerei als auch in der politischen Literatur und in der Dichtung beschränkten sich die fremden Einflüsse gewöhnlich auf die Form, die man mit einheimischen vertrauten Inhalten füllte. Die politische Lehre des Sarmatismus weist deutliche Züge einer Standesideologie auf, wobei eine Ideologie dieser Art geeignet war, einerseits
wichtige
gesellschaftliche Konflikte
zu
verdecken
und
andererseits auch zu verschärfen. Der Sarmatismus wirkte zweifach: Einerseits schwächte er den Antagonismus zwischen den Magnaten und den anderen Gruppen des Adels, andererseits verschärfte er jedoch die Konflikte des Landadels mit den Bürgern und mit den Bauern. Ihr
goldenes
Regierungszeit
Zeitalter
König
erlebte
Sigismund
die
Adelsherrschaft
Augusts.
Die
in
der
Apologie
der
dominierenden Stellung des Adels erreichte jedoch erst im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt, als dieser Stand bereits immer stärker von den Magnaten von der Macht verdrängt wurde. In der politisch-rechtlichen Struktur der polnischen Adelsrepublik wies nichts darauf hin, daß die Magnaten den Staat beherrschten. Seit dem 16. Jahrhundert gab es in dieser Struktur keine
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nennenswerten Veränderungen, das bedeutet jedoch nicht, daß es keinen Wandel in der personellen Zusammensetzung des Adels
und
des
Magnatentums gegeben hätte. Es ist nur natürlich, daß zahlreiche Plebejer versuchten, in den Adel einzudringen, denn nicht jeder war bereit, sich demütig dem Schicksal zu fügen. Manche fanden Trost in der Religion. Nur ein ganz geringer Prozensatz versuchte, mit der Waffe in der Hand die bestehende Ordnung zu ändern. Karl Marx schrieb, eine Gesellschaftsordnung sei um so mächtiger, je mehr sich die herrschende Klasse dazu bereit finde, die begabtesten Vertreter der unterdrückten Klassen in ihre Reihen aufzunehmen. Der polnische Adel hat sich dem mit allen Kräften widersetzt. Er betrachtete nicht einmal die Nobilitierungen des Königs als rechtskräftig. Die Adeligen waren der Ansicht, daß es nur einen Weg zur Nobilitierung gebe und der führe über das Schlachtfeld. Es wurden jedoch nur wenige für besondere Leistungen in den Kriegen in den Adelsstand erhoben. Den übrigen, die dahin drängten, verblieb nur der berüchtigte „Hintereingang", da war es schlüpfrig, dunkel und verräterisch. Nur mit Schwierigkeiten kam man da hindurch. Allerdings war die polnische Adelsrepublik territorial so umfangreich, daß sich ein Plebejer aus Witebsk oder Kamieniec Podolski etwa in der Umgebung von Krakau einfach als Adeliger ausgeben konnte. Im Verzeichnis der Personen, die sich zu Unrecht Adelige nannten, wurde deshalb oft darauf hingewiesen, daß dies überhaupt erst dadurch möglich geworden sei, weil diese Plebejer in einen anderen Teil des Landes übersiedelt waren. 8 Die Zahl der Adeligen war wesentlich größer als in anderen Ländern. Das hat bewirkt, daß sich in Polen in Politik und Gesellschaft manches anders entwickelt hat. Die Verhältnisse in Polen im 17. Jahrhundert 8
Ich denke hier an den berühmten Liber Chamorum von Walerian Nekanda-Trepka, er enthält Namen von Plebejern, die sich als Adelige ausgaben. Dieses umfangreiche Buch, das man zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfaßt hatte, erschien erst im Jahre 1963 im Druck.
18
Janusz Tazbir
bestätigen die von dem hervorragenden Soziologen Stefan Czarnowski aufgestellte These über „überflüssige Menschen im Dienst der Gewalt". 9 Diese Menschen zogen damals aus England und Spanien in andere Kontinente, um dort mit dem Degen in der Hand Reichtum und Ehre zu erwerben. Sie haben sowohl in diesen Ländern als auch in Frankreich und in Deutschland Beschäftigung im Staatsapparat und in der
Armee
gefunden. In Polen entschärften die Magnatenhöfe diese „versteckte Arbeitslosigkeit".
Sie
boten
den
Kleinadeligen
Beschäftigung
als
Gutsverwalter, die die Bauern disziplinieren sollten, als Höflinge, die die Autorität der Magnaten durch gewaltsame Aktionen stärken sollten, und schließlich als Krawallmacher auf den Reichs- und Landtagen. Auf diese Weise wurde jeder Versuch, die Gesellschaftsordnung zu reformieren, im Keim erstickt. Da der Staatsapparat immer schwächer wurde und die reguläre Armee schrumpfte, blieben nur noch die Magnatenhöfe und die Kirche als Institutionen übrig, die eine feste und verhältnismäßig gut bezahlte Anstellung bieten konnten. Das erklärt vermutlich auch den Umstand, daß sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert die Zahl der Geistlichen nicht verringerte, obwohl die Bevölkerung schrumpfte. Als ehrenhaft galten nur der Militärdienst und eine Karriere in der Kirche, auch die
Aufsicht
über
Landarbeiter galt
keineswegs
als
unehrenhaft.
Entsprechend dem agrarischen Charakter des altpolnischen Lebens war es für einen Adeligen auch nicht schandbar, seine Felder selbst zu bestellen. Handwerksarbeit
durfte
er
nicht
leisten.
Er
konnte
auch
mit
Agrarprodukten handeln, jedoch nicht etwa mit Textilien und Schuhen. Die
zeitgenössischen
politischen
Publizisten
waren
mit
der
Weltanschauung des Adels weitgehend einverstanden. Im Gegensatz zum 16. Jahrhundert
war
es
nun
üblich,
Veröffentlichungen fast ausnahmslos 9
daß
die
dem Adel
Verfasser
solcher
schmeichelten. Zur
S. Czarnowski, Ludzie zbedni w stuzbie przemocy (Überflüssige Menschen im Dienst der Gewalt). In: Werke Bd. 2. Studia ζ historii mysli i ruchow spofecznych. Warszawa
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Jahrhundertwende gab es noch gelegentlich Lobreden auf die starke Königsmacht (z.B. Skarga) oder die Herrschaft der Magnaten, doch es hat danach während des ganzen 17. Jahrhunderts fast niemand gewagt, als Apologet der Magnatenoligarchie aufzutreten. Obwohl
die Magnaten
praktisch das Land regierten, taten sie das offiziell im Namen des Adels und beteuerten, daß alle wichtigen staatlichen Entscheidungen in den Händen der „Herren Brüder" lägen. La Rochefoucauld meinte, es sei „die Heuchelei eine Huldigung, welche
die
Missetat
der
Tugend
erweist". 10
Diesen
Aphorismus
paraphrasierend könnte man sagen, daß im 17. Jahrhundert und in der ersten
Hälfte
des
18.
Veröffentlichungen den
Jahrhunderts Grundsätzen
in
den
meisten
politischen
der Adelsdemokratie und
der
goldenen Freiheit gehuldigt wurde, doch das ging praktisch aus von einer Oligarchie von Magnaten, die den Staat beherrschte. Die in diesem Zeitraum stets zunehmende Überlegenheit des Magnatentums fand weder in der Gesetzgebung noch in der Literatur einen Ausdruck. Man stellte die Lage so dar, als wäre jeder Adelige jedem Wojewoden in der Theorie und in der Praxis ebenbürtig gewesen. Je mehr sich im Adel die Unterschiede in der politischen Macht, im Vermögen und im Kulturniveau vertieften, umso stärker pries man in Wort und Schrift die Gleichheit. In das sarmatische Gesellschaftsideal paßten ausgezeichnet sowohl die Magnaten als auch der König. In den Augen des Adels sollte ein idealer Monarch nicht an der Stärkung seiner Macht interessiert sein. Falls jedoch eine Königin derartigen Ehrgeiz entwickelte, wurde sie doppelt gehaßt, als Feind der Adelsfreiheiten und als Frau, die sich in die Politik einmischte. Diese bittere Erfahrung mußte Marie Louise Gonzaga machen. Ein Scheinkönig, primus inter pares in der Adelsrepublik, war durchaus vereinbar mit den Rittertugenden, die hoch im Ansehen standen und von 1956. La Rochefoucauld, Oeuvres completes. Paris 1964, S. 432 (Nr. 218).
10
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Janusz Tazbir
denen man daher erwartete, daß der König sie verkörpere. Er sollte nach außen das Schwert der Republik zur Verteidigung der Unabhängigkeit sein und nach innen der wichtigste Bewahrer und Verteidiger der Freiheiten des Adels. Auch von einem „guten Magnaten" erwartete man, daß er zur Zusammenarbeit bei der Verteidigung dieser Rechte bereit war. Er durfte sich von den anderen Adeligen zwar durch die Größe seines Besitztums, aber niemals durch die politischen Ideale unterscheiden. Ein vorbildlicher Vertreter des Magnatenstandes sollte, wie man meinte, sich allen Versuchen, ein absolutum dominium einzuführen, entschieden widersetzen und nötigenfalls auch nicht davor zurückschrecken, an einem „Rokosz", einer polnischen Abart der Fronde, mitzuwirken. Das war bestens vereinbar mit der Ansicht, daß die Liebe zur Freiheit das wichtigste Merkmal des polnischen Nationalcharakters sei. Die politische Verfassung der polnischen Adelsrepublik erfüllte was die Theorie betrifft - diejenigen mit Euphorie, die aus ihr Nutzen zogen. Mit der Praxis hatte man allerdings weniger Freude. Man tröstete sich jedoch damit, daß zwar die Gesellschaftsordnung gut sei, nur der Mensch sei eben schlecht, da er die Tugenden der Vorfahren nicht mehr pflege und die alten Gesetze nicht mehr beachte. Man war sich bald darüber im klaren, daß man im damaligen Europa eine einzigartige Ordnung hatte. Diese
Erkenntnis
konnte
dazu
führen,
daß
man
einen
Minderwertigkeitskomplex entwickelte: Nur wir haben keinen wirksam funktionierenden Staat. Es konnte sich aber auch das Gegenteil einstellen. Man konnte dem Größenwahn verfallen: Keine andere Nation hat eine dermaßen gute Lösung für die Ordnung der Gesellschaft gefunden. Die Polen entwickelten den zweiten dieser Komplexe. Ausdruck dieser nationalen Megalomanie war die Überzeugung, daß es auf der Welt Kräfte gäbe, die unaufhörlich bestrebt wären, dem Adel den Schatz der goldenen Freiheit zu rauben. Man hat daher den König ständig verdächtigt, nach dem absolutum
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dominium zu streben. Dabei, so meinte man, unterstützten ihn die am Hof dienenden Ausländer. Aus Angst, er könnte die Privilegien und Freiheiten verlieren, entwickelte der Adeleine starke Xenophobie, so daß er in jedem fremden Diplomaten einen Feind der „goldenen Freiheit" sah, in jedem fremden Kaufmann einen Betrüger und in jedem fremden Soldaten einen Plünderer." Tatsächlich hat man im 17. Jahrhundert immer häufiger Ausländer mit der Waffe in der Hand im eigenen Land angetroffen. Das nährte umso mehr die Feindseligkeit gegenüber allem Ausländischen. Es ist also weiter nicht verwunderlich, daß die Furcht vor dem „Fremden" in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also nach den Schwedenkriegen, beim Adel fast zur Obsession wurde. Die Provinzadeligen lebten noch hundert Jahre später „im ständigen Gefühl der Bedrohung ihres Besitztums durch das Eindringen von Ausländern
und Plebejern".12 Die Franzosen,
Deutschen und Schweden wurden zu Fremden schlechthin, die man nach ihren Pluderhosen einfach als „pludra" bezeichnete. Dabei machte man auch gar keinen Unterschied mehr zwischen den einzelnen Völkern und Religionsbekenntnissen. Man bezeichnete einfach alle Nichtkatholiken als Lutheraner („lutra"). Je mehr der Sarmatismus florierte, umso stärker wurde auch die religiöse Intoleranz. Gewiß
war
der
Sarmatismus
nicht
die
erste
konservative
Weltanschauung in der Geschichte des politischen Denkens in Polen, doch sie war die erste Ideologie, die vielseitig war und das Denken des Adels stark beeinflußte. Bereits damals begann man damit, sich zu brüsten, daß man keine größeren Ambitionen habe. Man pries die Mittelmäßigkeit (mediocritas). In der Literatur rechtfertigte man, daß die Adeligen ihre Felder selbst bestellten, und man fand es in Ordnung, daß sie von dem, 11 Vgl. J. Tazbir, Ksenofobia w Polsce XVI i XVII wieku (Xenophobie in Polen im 16. und 17. Jahrhundert). In: Janusz Tazbir, Arianie i katolicy (Arianer und Katholiken). Warszawa 1971, S. 238 ff. 12 J. Jedlicki, Klejnot i bariery spoleczne. Przeobrazenia szlachectwa polskiego w schytkowym okresie feudalizmu (Das Juwel und soziale Schranken. Die Wandlungen im polnischen Adel zur Zeitder Niedergangs des Feudalismus). Warszawa 1968, S. 30.
22
Janusz Tazbir
was in der weiten Welt geschah, nichts wußten. Diese Schriften erhielten die Bezeichnung Landadelliteratur, und ihre Verfasser huldigten den verschiedensten Anschauungen. Das Glaubensbekenntnis hatte keinen prägenden Einfluß auf diese Werke, sehr wohl jedoch die allgemeine politische Lage und der Wohnort des Verfassers. Es ist gewiß kein Zufall, daß sich diese Landadelliteratur erst entwickelte, als der Adel begann, sich aus der aktiven Politik zurückzuziehen, da er seine politischen Ziele weitgehend erreicht hatte. Nun wollte er in Frieden und Zurückgezogenheit leben. Andererseits erlebte diese Literatur ihre Blütezeit, als Polen den Höhepunkt seiner Machtentfaltung erlebte. Lange Zeit sah der Adel im Inneren der Republik keine Feinde. Von den Kämpfen mit den Schweden war nur der nördliche Teil des Landes betroffen, die Tataren verheerten nur die südlichen Teile. Es
ist keineswegs
ein Zufall, daß
sich
die
Landadelliteratur gerade in diesen Gebieten nicht entwickelte. Man pflegte diese Literaturgattung vor allem in Großpolen, in der Umgebung von Krakau und im Vorgebirge, also eben in den Gebieten, die vor äußeren Feinden sicher waren. In diesen Teilen des Landes überwog übrigens zahlenmäßig der mittlere Adel. Die Ereignisse in der Mitte des 17. Jahrhunderts beendeten die Blüte dieser Literatur. Überall war nun Waffengeklirr zu hören, auch die Musen waren nicht taub für diesen Lärm. In der sarmatischen Poesie begann man nun das Heldentum, das Kriegswesen und die Gloria zu verherrlichen.13 Davor kannte man nur die himmlische Gloria, die man durch die Kanonisation erlangen konnte. Die war zumindest in der Theorie auch für die Bauern zu erringen. Nun sprach man immer häufiger von der irdischen Gloria, die man nur auf dem Schlachtfeld erwerben konnte. Zur Abwehr der Feinde brauchte man mehr als nur materielle Mittel. Das wird um so deutlicher, wenn man bedenkt, daß Polen im 17. Jahrhundert nur 32 13 Einen Teil eben dieser Dichtung finden wir mit einem ausführlichen Vorwort von Cz. Hernas versehen in der Anthologie: Polnischer Barock. Ein literarisches Lesesbuch mit
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
23
Friedensjahre gegönnt waren. Das war wenig im Vergleich zu anderen Ländern. In diesem Jahrhundert blieben andere viel länger von Kriegen verschont: das Kaiserreich 39 Jahre, Frankreich 47, Schweden 48, Rußland 49, England 59 und Brandenburg sogar 69 Jahre. Die Dichtkunst dieser Epoche war die sarmatische Poesie par excellence. Sie trug sehr viel dazu bei, die geistigen Kräfte des Volkes zu mobilisieren und den Einsatz zur Verteidigung des Landes zu stärken. Eine ähnlich patriotische Literatur entstand in Polen erst wieder in der Zeit der Romantik. Diese Poesie des 17. Jahrhunderts verbreitete auch die Ideale des Rittertums nach Art der christlichen Ritter der Kreuzzüge, denn nun waren die Feinde Polens nicht Glaubensgenossen und Brüder wie zur Zeit der Kriege gegen den Deutschen Orden, nun gehörten sie zu anderen Religionsgemeinschaften. So wurde der Kampf zu einem heiligen Krieg, getragen von
der
Kreuzzugsideologie. Die Kosakenkriege, die Einfälle der Schweden und die Kämpfe mit den
Osmanen
nährten
das
Gefühl
ständiger
Bedrohung.
Diese
Befürchtungen führten zu einer Art nationaler Neurose. Der Sarmatismus erwies sich als eine der Erscheinungsformen dieser Neurose in der politischen Ideologie. Er wurde zum Träger einer defensiven Kultur, war gleichsam die Reaktion darauf, daß der Adel seine führende Rolle im Lande und Polen seine Rolle als mächtigster Staat Osteuropas eingebüßt hatte. Er entwickelte sich um so stärker, je mehr die Realität unvereinbar wurde mit den theoretischen Lehrsätzen. Es war der Sarmatismus also gleichsam eine Anhäufung von Fiktionen. Der Einfluß der sarmatischen Kultur nahm ein solches Ausmaß an, daß man sie als Prototyp der Massenkultur in Polen ansehen kann. Einerseits trug die vom Sarmatismus verbreitete Theorie über die Entstehung des Staates durch Eroberung dazu bei, daß die nationale Kultur zersetzt wurde, andererseits verlieh der Sarmatismus jedoch der gesamten Kultur des Adels eine einheitliche Prägung. einer Einleitung von CzestawHernas, Frankfurt am Main 1991.
24
Janusz Tazbir Wir dürfen jedoch nicht die zahlreichen Elemente unbeachtet lassen,
die in die altpolnische Kultur integriert wurden. Die Gemeinschaft, sowohl die religiöse als auch die nationale, konnte bis zu einem gewissen Grad die gesellschaftlichen Konflikte entschärfen. Es ist wohl kaum ein Zufall, daß die Aufstände, die große Massen von Bauern in Bewegung setzten, auf dem Territorium der damaligen polnischen
Republik
nur
in
den
Landesteilen ausbrachen, in denen keine oder kaum Polen wohnten. Sprach der
Herr
eine
andere
Sprache
als
seine
Untertanen,
nahm
die
Unterdrückung der Fronbauern nicht selten Formen an wie in Kolonien. Man darf nicht übersehen, daß sich in den ethnischen Mischgebieten die ruthenischen
Bauern
zu
Chmel'nyc'kyj
bekannten,
während
die
polnischsprechenden Bauern sich oft mit der Waffe in der Hand gegen die Kosaken wandten. Die kulturelle Gemeinschaft war auch ein Faktor der nationalen Integration. Erst im 16. Jahrhundert teilte sich in Polen endgültig die Nationalkultur in eine elitäre einerseits und in eine volksnahe andererseits, aus der sich die heutige Volkskunst entwickelte. Allerdings kann man bei vielen Elementen der polnischen Folklore keineswegs behaupten, daß sie ausschließlich aus dem Volk hervorgegangen wären. So sind zum Beispiel gewisse Eigenheiten der italienischen Mode während der Zeit der Königin Bona aus dem Hause Sforza, der italienischen Gemahlin Sigismunds I., bis in ihre Güter im entlegenen Polesie vorgedrungen, das damals ein Teil des Großfürstentums Litauen war. Auch in Ost- und Südosteuropa macht sich im 17. Jahrhundert der Einfluß der Kultur Polens bemerkbar. Deren Niveau war weitaus höher als die Kultur Preußens oder Rußlands. Die Nachbarländer übertrafen die polnische Adelsrepublik nicht auf den Gebieten der Kunst, Literatur oder Wissenschaft, nur
ihre Staatsfinanzen waren
reicher, ihre
Armeen
schlagkräftiger und die Verwaltungsorganisationen effizienter. In anderen Ländern war der Staatsapparat so strukturiert, daß er auch systematisch und langfristig wirken konnte, in Polen ersetzte man das durch Improvisation,
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
25
so daß man bestenfalls eine einzelne Schlacht gewinnen und den Angreifer vertreiben konnte, doch es fehlten die Strukturen, um auch weitgesteckte Ziele erreichen zu können. Eben unter solchen Bedingungen entfaltete sich der Sarmatismus, er war der gültige Ausdruck unseres kulturellen Andersseins. Ohne genauere Untersuchungen können wir nicht feststellen, ob und wie weit es damals auch in anderen Ländern analoge Erscheinungen gab. Man kann jedoch die Behauptung wagen, daß es wie in der polnischen so auch in der spanischen Kultur des 17. Jahrhunderts eine starke Tendenz gab, sich von der Außenwelt abzukapseln und die Beziehungen zu anderen Kulturen zu unterbinden. Aus unseren Überlegungen geht hervor, daß es Gemeinsamkeiten des Sarmatismus und des Barock lediglich auf den Gebieten der Literatur, des Kunstverständnisses und zum Teil auch des Lebensstils gab. Die politische Ideologie des Sarmatismus wies nur wenig Gemeinsames mit dem Barock auf. Andererseits können wir in der Architektur und Plastik des Barock nur geringfügige Spuren des Sarmatismus erkennen. Das wechselseitige Verhältnis dieser beiden Begriffe kann man als zwei Kreise darstellen, die sich zwar zum Teil überschneiden, jedoch nie völlig zur Deckung gelangen. Anscheinend hat die für den Sarmatismus charakteristische Symbiose des vom Barock getragenen Kunstverständnisses mit einer für den Adel attraktiven politischen Ideologie letztlich bewirkt, daß der Einfluß der Barockkultur auf diese Schicht wesentlich länger anhielt. Sowohl der Sarmatismus
als
auch
der Barock
dauerten in Polen
über
das
17. Jahrhundert hinaus. Allerdings kann man sich auch eine Symbiose der Adelsideologie mit anderen Stilepochen wie etwa mit dem Klassizismus gut vorstellen. Auf keinen Fall war jedoch der Sarmatismus vereinbar mit anderen ideologischen Strömungen, wie etwa mit den Ideen einer radikalen Staatsreform in der Aufklärung.
26
Janusz Tazbir Die
politischen
Lehren
des
Sarmatismus
boten
ein
zwar
vereinfachtes, aber ziemlich geschlossenes und kohärentes Weltbild: Die Erklärungen aller Siege und Niederlagen waren so vereinfacht, daß sie auch für die breiten Adelsschichten verständlich waren. Die Erfolge verdankte man der Vorsehung und dem eigenen Säbel, Mißerfolge führte man auf die Duldung der Ketzerei und die Unfähigkeit der Befehlshaber zurück. Gab es Krisen
und
Erscheinungen,
die
das
Verständnis
der
Menschen
überforderten, entstand ein Bedarf an ganz simplen Erklärungen. Eben wegen ihrer Primitivität haben diese Erklärungen immer mehr Anhänger gefunden. Das galt übrigens auch für die religiöse Bildung, die im Zuge der Gegenreformation stark verbreitet und zugleich simplifiziert wurde. An der Geschichte des Sarmatismus kann man demonstrieren, daß ein und dieselbe
Lehre in verschiedenen historischen Epochen in
verschiedener Gestalt wirken kann: Als Mythos, verkündet von einer Handvoll Schriftsteller, als Ideologie, die der nationalen Kultur ihren Stempel aufdrückt, und schließlich als Relikt im Bewußtsein des Volkes. Die zuletzt genannte Erscheinung fällt in die Epoche der Aufklärung. Als Sarmatismus bezeichnete man zu der Zeit die bei vielen Adeligen noch vorhandenen Überbleibsel der Mentalität der Gegenreformation und des barocken Lebensstils. Sarmatismus war
nun
eine Erscheinung
der
konservativen Reaktion auf alle Versuche, die Verfassung, das politische und gesellschaftliche Leben zu reformieren. Wenn also die Aufklärer dem Sarmatismus entschieden den Kampf ansagten, taten sie das gewiß nicht deshalb, weil sie der zweifellos vorhandene Patriotismus störte, auch wenn er engstirnig gewesen sein mag. Er wirkte in der Konföderation von Bar (1768-1772), die schließlich nicht nur die letzte sarmatische „Fronde" (rokosz), sondern auch der erste nationale Aufstand war. Es störte die kämpferischen Reformer der Monarchie zur Zeit der Regierung des Königs Stanislaw
August
Poniatowski
(1764-1795)
auch
nicht,
daß
der
Sarmatismus so sehr mit dem Katholizismus verbunden war, denn es war
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
27
in Polen die Aufklärung nicht im selben Ausmaß eine kirchenfeindliche Bewegung wie in anderen Ländern. Stein des Anstoßes war vor allem der unbestreitbare Konservativismus des Sarmatismus. Schließlich war eine seiner Grundthesen, man dürfe unter keinen Umständen Veränderungen dulden. Das war nicht unlogisch, wenn man bedenkt, daß sogar die allerkleinste Reform nur durchgeführt werden konnte, wenn man die Privilegien des Adels reduzierte. Mit dem Zusammenbruch der überlieferten politisch-rechtlichen Struktur
der
polnischen
Republik
war
auch
der
Untergang
des
Sarmatismus besiegelt. Sein Einfluß auf das Denken der Adeligen verringerte sich auch deshalb, weil man wiederum enge Kontakte mit der westeuropäischen Kultur zu pflegen begann, und weil die einheitliche Adelskultur durch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung zerfiel. Den Städten kam nun wieder eine wichtige Funktion zu. Das Lebensniveau und die Bildung des mittleren Landadels und der Lebensstil der damals entstehenden städtischen Schicht von Gebildeten und des Patriziats wiesen nun viele Gemeinsamkeiten auf. Die Männer
der Aufklärung führten einen
Zweifrontenkrieg.
Einerseits kämpften sie gegen Rückständigkeit, Obskurantismus
und
Intoleranz der Adeligen, andererseits gegen die Bewunderung für alles Ausländische, die sich vor allem darin äußerte, daß man die nationale Kultur geringschätzte und für patriotische Ideale keine Begeisterung zeigte. An dieser zweiten Front setzte man sich für Werte ein, die der Sarmatismus hochgehalten hatte. Diese Strömung war nämlich gleichermaßen „eine Liebe zu all dem, was einheimisch [...], schätzte die Schlichtheit, Sittlichkeit und die Bürgertugenden, obwohl sie all das vielleicht etwas zu engherzig sah." 14 Aus 14
den genannten Gründen haben sich viele Literaten des
A. Brückner, Encyklopedia staropolska (Altpolnische Enzyklopädie). Bd. 2. Warszawa 1990, col. 453.
Janusz Tazbir
28
19. Jahrhunderts in ihren Werken lobend über den Sarmatismus geäußert. 15 Man pries ihn, weil man in ihm gewisse kulturelle Werte des alten Polen verkörpert fand, übersah jedoch die wirklichen Zustände. Man verherrlichte wie in der damaligen Literatur den Kleinadel, nun wegen dessen Anteil an den Freiheitskämpfen, wollte jedoch nicht sehen, welche Rolle diese Schicht in der Zeit der Oligarchie der Magnaten gespielt hatte. Der
Sarmatismus
war
nicht
nur
die
Frucht
einer
„großen
Konfrontation", er hat auch selbst weitere Erscheinungen hervorgebracht. Er diente der kulturellen Selbstfindung des Adels durch den Vergleich einerseits mit dem Orient und andererseits mit Westeuropa. Der Orient wirkte von unten her und beeinflußte daher vorwiegend, aber nicht ausschließlich, den niederen und mittleren Adel. Die westeuropäischen Einflüsse wirkten von oben, fanden Nachahmer in den Magnatenhöfen, waren wirksam in der unmittelbaren Umgebung der Könige und vor allem der aus dem Ausland stammenden Königinnen. Dies war für den Adel ebensosehr maßgebend wie die Konfrontation mit Asien
für
das
Heranreifen eines europäischen Bewußtseins oder wie die deutsche Kolonisation für das Entstehen des Nationalbewußtseins bei den Polen. Nach Auffassung von Fernand Braudel ist das Phänomen der Verbreitung einer Kultur der beste Prüfstein für deren Dynamik und Originalität. So eine Diffusion erfolgte auf einem bestimmten Gebiet der Kultur. In dieser Hinsicht hat der Westen seine Lage „an der Kreuzung unzähliger Kulturströmungen bestens genutzt. Dabei machte er sich viele Jahrhunderte
lang die Errungenschaften anderer, oft sogar
bereits
ausgestorbener Zivilisationen zunutze, bis er letztlich selbst in der Lage
15 Im 19. Jahrhundert entstand die sogenannte „gaweda szlachecka" (ein schwer ins Deutsche zu übersetzender Terminus); sie wertete die polnische Memoirenliteratur des Barock aus und ahmte sie stellenweise recht geschickt nach. Ein Meisterwerk dieser Gattung waren die Pamietniki Soplicy von Henryk Rzewuski, die vor kurzem unter dem Titel Denkwürdigkeiten des Herrn Soplica von Philipp Löbenstein ins Deutsche übersetzt wurden. (Frankfurt am Main 1986).
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung war, zu geben und auszustrahlen..."
16
29
Dasselbe kann man auch von Polen
in bezug auf das 17. Jahrhundert sagen. Die von den Polen geschaffene Zivilisation wurde vom damaligen Ostmitteleuropa teilweise übernommen, von Italien, Deutschland und Frankreich hingegen abgelehnt (um wieder an die Terminologie Braudels anzuknüpfen). Diese Kultur war eben der Sarmatismus,
der
bis
zu
einem
gewissen
Grad
die
höchste
Entwicklungsform des ethnischen Bewußtseins des Adels verkörperte. In ihm fanden seine Wünsche und Ambitionen ihren optimalen Ausdruck. Die Achillesferse des Sarmatismus war, daß sich die polnischen Adeligen eben zu der Zeit, nämlich im 17. Jahrhundert, von Europa abwandten, als dort in der Technik und in der Wissenschaft ein Umbruch vor sich ging. Daß wir von den Früchten dieser Entwicklung nur in geringem Ausmaß profitierten, war nicht allein die Folge der verheerenden Kriege, in die Polen verwickelt wurde, sondern auch die Folge davon, daß die polnischen Adeligen die Selbstgenügsamkeit zur Tugend erhoben hatten. Zugleich war jedoch der Sarmatismus eine Verbindung zu der zu dieser Zeit schwächeren Seite. Asien gehörte nämlich zu den Kontinenten, die die Europäer allmählich zu erobern gedachten. Die Kulturen dieser Länder wurden zum Ziel zivilisatorischer Bestrebungen und sind niemals als nachahmenswert angesehen worden. In der Epoche des
schnell
wachsenden Eurozentrismus, stießen alle Versuche einer Symbiose mit den Kulturen anderer Erdteile auf entschiedenen Widerstand in Paris, Rom und London. Im Mittelalter wurde der Mensch noch nicht wegen seiner Hautfarbe verachtet. Man empfand hingegen große Bewunderung für die mächtigen und wenig bekannten Staaten im fernen Asien. An vielen Orten vom Mittelmeergebiet über den Balkan bis zu den Großherzogtümern Litauen und Moskau vermischten sich die Kultureinflüsse des Ostens mit 16 F. Braudel, Historia i trwanie (Geschichte und Dauer). Warszawa 1971, S. 292. Vergleiche auch J. Tazbir, Die Polnische Adelsrepublik des 17. Jahrhunderts im Schnittpunkt der Kulturen und Konfessionen. In: Zeitschrift für Ostforschung 38(1989) 3, S. 376-390.
30
Janusz Tazbir
der Zivilisation West- und Mitteleuropas. Durch die Union mit Litauen wurde auch Polen in diesen Prozeß hineingezogen. Die
polnische
Adelsrepublik wurde zum größten Schmelztiegel der Zivilisationen im damaligen Europa. Aus ihr gingen originelle Formen der Kultur hervor. Im 17. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt dieses riesigen Staates deutlich nach Osten: Die Magnaten, die durch die großen Latifundien im Osten reich geworden waren und die man als kleine Grenzlandkönige (krotewiQta kresowi) bezeichnete, übten auf das politische Leben des Landes einen immer größeren Einfluß aus. Es ist kein Zufall, daß die beiden polnischen Könige aus dem heimischen Adel, Micha} Korybut Wisniowiecki und Jan III. Sobieski, die zwischen den Wasa und Sachsen regierten, aus den Ostgebieten der polnischen Republik stammten. Wenn also der Adel nicht davor zurückschreckte, starke orientalische Elemente in seine nationale Kleidung aufzunehmen, tat er das, weil er die materielle Kultur des Orients nicht für schlechter hielt als entsprechende Formen der europäischen Zivilisation. In Paris, London, Rom und Madrid war man hingegen völlig anderer Ansicht. Die kolonialen Eroberungen bestärkten die Europäer in ihrer Überzeugung, daß nicht nur ihre Kriegstechnik, sondern auch ihre Zivilisation ein höheres Niveau aufweise. Was nicht zu Europa gehörte, sollte nach Ansicht der Franzosen, Engländer oder Holländer entweder angepaßt oder aber vernichtet werden. Was hingegen von den allgemeingültigen Normen der Kultur des Kontinents abweiche, verdiene
Verachtung
und
Geringschätzung.
Wenn
man
also
bei
verschiedenartigen Maskenbällen, Festen und Umzügen neben Indianern, Arabern, Chinesen oder Türken auch Polen in ihrer exotischen Kleidung antraf, war es nur natürlich, daß man durch eine solche Zuordnung den adeligen Geschmack und die sarmatische Mode ablehnte und verurteilte. Eine vornehme Dame des französischen Hofes, Fran9oise de Motteville, schrieb einen Bericht über den prunkvollen Einzug des polnischen Gesandten in Paris im Jahre 1645, der gekommen war, um eine
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
31
zukünftige Königin von Polen abzuholen. In diesem Bericht finden wir die sehr offenherzige Bemerkung, daß ein solcher Prunk „auf ziemlich große Barbarei schließen läßt". Sie hatte den Eindruck, daß die Polen die alten Perser und „den Reichtum und die Pracht der Sultane", nachahmen wollten. Sie schlafen auf Tierfellen „sind kahlgeschoren und nur am Scheitel haben sie eine Haarsträhne stehengelassen, die nach hinten herunterhängt". 17 Das alles macht klar, warum die Einflüsse der materiellen Kultur des Orients nicht über die politischen Grenzen der polnischen Republik hinausgingen. Dank der weit fortgeschrittenen Vereinheitlichung des Lebensstils der Adeligen haben sich jedoch die aus dem Osten kommenden Einflüsse über das gesamte Territorium des polnisch-litauischen Staates ausgebreitet. Davon kann man sich auch heute noch überzeugen, wenn man die Ahnengalerien des großpolnischen oder schlesischen Adels betrachtet: Hier sieht man Kleidung und Frisuren, die eben eine Dame wie de Motteville zu spöttischen, herablassenden Bemerkungen anregten. Man muß auch bedenken, daß viele großpolnische Magnaten Ländereien und Schlösser in der Ukraine besaßen. Dort verbrachten sie auch die meiste Zeit des Jahres. Diese Höfe des Landadels lagen vorwiegend im engeren Einflußgebiet der orientalischen Kultur. Es hat auch die in den Ostgebieten der polnischen Republik im 17. Jahrhundert verwendete Variante des Polnischen einen erheblichen Einfluß auf die polnische Literatursprache ausgeübt. Die Wörter, die man von den östlichen Nachbarn im 17. Jahrhundert entlehnte, gehörten im allgemeinen zum Bereich des Militärischen. Für Waffen, Pferdegeschirr und sogar Pferde (Bachmat ist ein starkes tatarisches Pferd) gebrauchte man aus dem Osten entlehnte Ausdrücke. Man schätzte, daß die Polen damals etwa 180 Wörter aus dem Türkischen,
17 F. de Motteville, Anna Austriaczka i jej dwor (Anna von Österreich und ihr Hof)· Warszawa 1978, S. 90-91.
32
Janusz Tazbir
140 aus dem Arabischen und 60 aus dem Tatarischen entlehnt haben.18 Es führte schließlich einerseits die territoriale Expansion der polnischen Adelsrepublik und andererseits die des Osmanischen Reiches auch zu einer unmittelbaren Berührung mit dem Islam. Die starken orientalischen Einflüsse waren aber nicht nur für die polnische Kultur kennzeichnend. Die Iberische Halbinsel war lange Zeit geteilt zwischen den christlichen Spaniern und den Arabern, das erleichterte das Eindringen orientalischer Einflüsse in die spanische Kultur. Später waren dann auch die Balkanvölker und schließlich zur selben Zeit wie die Polen auch die Ungarn solchen Einflüssen stark ausgesetzt. Da die Adelskultur in Polen weitgehend vereinheitlicht war, kann man wohl sagen, daß die orientalischen Einflüsse bei Waffen, Kleidern und auch bei der Gestaltung der Wohnräume niemals so weit nach Westen vorgedrungen sind wie eben im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zwar kämpfte man im 17. Jahrhundert besonders intensiv gegen alles Ausländische, das
betraf jedoch
niemals die türkische
Kleidung,
orientalische Teppiche, Waffen der Tataren und Gürtel aus Indien. Dabei spielte sicherlich die psychische Einstellung eine nicht geringe Rolle: Polen ist von den Osmanen nie besiegt worden, man hat also niemals das Tragen türkischer Kleidung in Verbindung gebracht mit den Kaftanen, die von den Sultanen ihren Lehensmännern übersandt wurden. Darauf hat bereits Wladyslaw Lozinski hingewiesen. Er bemerkte, daß erst während der Regierungszeit des Königs Jan III. Sobieski der Einfluß orientalischer Formen in Kleidung und Kunst die volle Entfaltung erlebte: „Die besiegte und gedemütigte Türkei hat innerhalb von wenigen Jahren einen grösseren Einfluss auf die Lebensgestaltung des Adels ausgeübt, als es die
18 „Es fällt in der Tat schwer zu glauben, wieviele lateinische, italienische, deutsche, ungarische und türkische anstatt der einheimischen Ausdrücke (...) von den Polen auf Schritt und Tritt verwendet werden", schrieb der hervorragende Lexikograph Grzegorz Knapski (Cnapius) in der Einleitung zum polnisch-lateinisch-griechiscnen Wörterbuch (Thesaurus Polonolatinograecus... Krakow 1621).
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
33
bedrohliche und siegreiche Türkei durch Jahrhunderte vermocht hatte."19 Wer immer in Polen französische Kleidung trug, setzte sich dem Verdacht aus, zumindest die Königswahl vivente rege einführen zu wollen. Das Tragen orientalischer Kleidung wurde aber niemals als ein Ausdruck von Sympathie für die politische Ordnung des Osmanischen Reiches angesehen. Der Abgrund, der Polen und das Osmanische Reich in dieser Hinsicht trennte, war zu groß, als daß jemand auf die Idee hätte kommen können, daß Sigismund III. oder Jan Kazimierz dem Sultan nacheifern wollten. Dagegen schienen Befürchtungen dieser Art in bezug auf Ludwig XIV. oder die Habsburger durchaus begründet zu sein, umso mehr da sich Vertreter dieser Dynastien um die polnische Krone bemühten. Überdies ahmte man die Türken in ihren Trachten, aber nicht in ihren Sitten und Gebräuchen nach, worauf bereits Lukasz Görnicki hinwies.20 Wenn sich die Forscher mit der schnellen und reibungslosen Aufnahme vieler Elemente der orientalischen Kultur beschäftigten, haben sie zumeist nicht ausreichend bedacht, daß diese Entwicklung mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Aufstieg eines Teiles des Adels zusammenfiel. Viele Adelige lebten selbstverständlich weiterhin auf dem Niveau des armen Kleinadels, dessen Lebensstil sich nur geringfügig von den Sitten und Gebräuchen der Bauern
unterschied. Aus
dieser
Adelsschicht wuchs jedoch eine neue Magnatenschicht heraus, die sich an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert bildete. Viele Familien, die es nicht schafften, in die Magnatenschicht aufzusteigen, erwarben jedoch beträchtliche Vermögen. Charakteristisch für diese Aufsteiger war, was man auch sonst aus der Kulturgeschichte sehr wohl kennt, nämlich eine Vorliebe für alles Bunte, Glänzende und Reiche oder zumindest Reichtum Vortäuschende. orientalischen 19 20
Ihrem Geschmack Stoffe
in
grellen
entsprachen Farben,
reich
die
kontrastreichen
verzierte Waffen,
W.Lozinski, Polnisches Leben in vergangenen Zeiten. München ohne Jahr, S. 196. L. Gornicki, Pisma (Schriften). B d 2 . Warszawa 1961, S. 378.
34
Janusz Tazbir
Wandteppiche und mit Edelsteinen verzierte Schilde. Als Kulturform, die eine Symbiose asiatischer und europäischer Einflüsse bejahte, kam der Sarmatismus entschieden zur unrichtigen Zeit, vielleicht zu früh oder auch zu spät, jedenfalls zu einem Zeitpunkt, da Europa aufbrach, um die Vormachtstellung in der Welt zu erkämpfen und unter keinen Umständen bereit war, eine solche Symbiose zu dulden. Die meisten westeuropäischen Staaten befanden sich im 17. Jahrhundert an einer Wende. Sie machten große Fortschritte unter anderem auf Kosten der schwächer entwickelten Länder im Osten des Kontinents. Die Geschicke Polens wurden hingegen immer stärker von negativen Faktoren wie Kriegen, Wirtschaftskrisen und von politischer Anarchie geprägt. In dieser Situation war der Sarmatismus einerseits eine Frucht der sich vertiefenden Spaltung des Kontinents. Europa zerfiel in einen östlichen und einen westlichen Teil und der Sarmatismus hat diese Spaltung entschieden verlängert, denn er vergrößerte und verhärtete die Unterschiede zwischen Polen einerseits und Frankreich, England oder Holland andererseits. Bisher betrachtete man das 17. Jahrhundert als einen geschlossenen Zeitraum in der Geschichte der polnischen Kultur. Charakteristisch für diese Epoche war die Rolle der polnischen Sprache als Mittel der zwischenstaatlichen Kommunikation. Viele höhere griechisch-orthodoxe Geistliche
sowie
Vertreter
der
russischen
intellektuellen
Elite
beherrschten diese Sprache. Es gab viele, die sich sowohl in russischer, als auch in polnischer und lateinischer Sprache mühelos ausdrücken konnten. Zur selben Zeit, da die französische Sprache am Hof in Warschau eine dominierende Rolle spielte, kam der polnischen Sprache am Moskauer Hof eine ähnliche Funktion zu. Auch walachische, moldauische und preußische Diplomaten bedienten sich der polnischen Sprache. Wenn im 16. Jahrhundert in anderen Ländern Europas Bücher polnischer Autoren
herausgegeben wurden,
dann
handelte es
sich
vorwiegend um Neuauflagen lateinischer Werke oder um Übersetzungen
Sarmatismus als Ideologie und Kulturströmung
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aus dem Lateinischen. Im Zeitalter der Aufklärung übersetzte niemand mehr die Werke polnischer Schriftsteller in andere slawische Sprachen.21 Die dortigen Eliten zogen es vor, direkt aus den französischen Quellen zu schöpfen. Bis zu den Reformen Peters des Großen war Polen Rußlands Fenster nach Europa. Durch polnische Vermittlung lernten auch die Bewohner anderer Länder Osteuropas die westeuropäische Dramatik, Architektur und Malerei kennen. Die Kultur des polnischen Adels war im 17. Jahrhundert für die Bewohner anderer Länder attraktiver als in den Epochen der Renaissance und der Aufklärung. Das hängt erstens damit zusammen, daß die polnische Kultur origineller und weniger reproduktiv war.22 Zweitens haben die unmittelbaren Nachbarn der Adelsrepublik im Sarmatismus ihnen vertraute und verständliche orientalische Elemente gefunden und geschätzt. Das 17. Jahrhundert könnte man mit einem alten Gemälde vergleichen, das dank der sorgsamen Arbeit der Konservatoren langsam seinen alten Glanz wiedergewinnt. Es wird immer deutlicher, daß die Polen in der Renaissance und noch weniger in der Aufklärung keineswegs so originell waren wie im 17. Jahrhundert. Bemerkenswert ist auch, daß die Renaissance und die Aufklärung im Vergleich zu Westeuropa mit einer gewissen Verspätung nach Polen kam, während der Barock sich in Polen, Italien, Spanien, Österreich
und
Deutschland gleichzeitig entwickelte. Der
barocke
Lebensstil fand seine Ausprägung in der Theatralisierung vieler Vorgänge, dazu
gehörten etwa feierliche Einzüge der Monarchen
und
die
Hinrichtungen von Hexen und Ketzern. Man liebte es, Kontraste anzuhäufen und zu betonen, man neigte zu Prunk,
Exotik und
Prachtenfaltung - all das entsprach dem Geschmack und den Vorlieben des 21
Dahingegen wurde manches ins Deutsche übersetzt - vgl. M. Klimowicz, Kontakty literackie polsko-niemieckie w XVIII wieku. Pröba nowego spojrzenia (Literarische polnisch-aeutsche Kontakte im 18. Jahrhundert. Der Versuch einer neuen Sicht). In: Ζ polskich studiöw slawistycznych 8(1992) S. 59-66. 22 Vgl. J. Tazbir, Originäres und Sekundäres im polnischen Barock. In: Deutschland und Polen im 17. und 18. Jahrhundert. Rostock 1989, S; 11 ff. =Studien zur Geschichte der
36
Janusz Tazbir
polnischen Adels. Man muß noch hinzufügen, daß „die Verbreitung und Konsolidierung der Theaterkultur in Polen zur Zeit des Barock die Grundlage für die schnelle Entwicklung des Nationaltheaters in der folgenden Epoche der Aufklärung bildete".23
deutsch-polnischenBeziehungen 15. 23 Polnischer Barock, S. 46-47. (Aus der Einleitung des Herausgebers).
Karl Vocelka (Wien)
Monarchia Austriaca, Gloria Domus1
Jeder Herrschaft liegt Ideologie zugrunde, das ist schon seit dem Auftreten der ersten Staaten so, doch ist in frühen Zeiten diese Ideologie wenig klar, nicht deutlich artikuliert und damit für den Historiker nur indirekt
faßbar. Die
grundlegende
Ideologie
der
abendländischen
Gesellschaft ist seit dem Mittelalter religiös motiviert, Herrschaft wird im Namen Gottes ausgeübt, der Herrscher ist einer von Gottes Gnaden und damit entsteht eine enge, unauflösliche Verbindung von weltlicher Macht und religiösen Vorstellungen. Waren diese im mittelalterlichen Kaisertum unbestritten, so kam es mit der Reformation zu einer großen Krise dieser Herrschaftsauffassung und das gesamte 16. Jahrhundert ist voll mit den Auseinandersetzungen um die rechte Religion, die nicht zu trennen sind von den Vorstellungen der rechten Herrschaft. Protestantismus gegen Katholizismus, ständische Herrschaft gegen habsburgischen Zentralismus und Absolutismus, das sind - verknappt ausgedrückt - die zentralen Themen des langen 16. Jahrhunderts, dessen Ende erst mit 1620 zu sehen ist. Wenige klare Zeugnisse gibt es dabei über die Staatsideologie der Habsburger in dieser Zeit, selbst ihre religiöse Haltung war nicht immer klar, wenn man etwa an Maximilian II. und sogar an Rudolf II., an dessen Hof protestantische Künstler und Gelehrte wirkten, denkt. Seit dem Beginn des Jahrhunderts hatte
sich
allerdings
habsburgischen
ein
besonderes
Sendungsbewußtsein
Dynastie entwickelt, das schon auf
der
mittelalterliche
' Zum gesamten Themenbereich sei verwiesen auf das 1997 erscheinende Buch Karl Vocelka und Lynne Heller, Die Lebenswelt der Habsburger. Kultur- und Mentalitätsgeschicnte einer Familie (Styria Verlag). Dort auch ein ausführliches
38
Karl Vocelka
Wurzeln - etwa der Politik und Propaganda Rudolfs IV. und in manchem auch Friedrichs III. - zurückgeht und dann unter Maximilian I. und seinem Enkel Karl V. einen ersten Höhepunkt erreicht. Dabei hatte der Gedanke der Auserwähltheit des Hauses Habsburg, die man vor allem auch genealogisch begründete, eine spezifische Form angenommen.2 Hatte
die
genealogische
Begründung
der
Herrschaft
der
Habsburger, in denen sich der Auffassung der Zeitgenossen nach „das edelste Blut Europas vereinigte" am Beginn des 16. Jahrhunderts die Hauptrolle gespielt und zu den kühnen Abstammungstheorien von den biblischen
Königen,
von
den
Franken
und
von
römischen
Patriziergeschlechtern geführt, so war das für das 17. Jahrhundert nicht mehr das wesentlichste Thema, wenn dieses Wissen um die Genealogie des Erzhauses in genealogischen und apologetischen Schriften auch weiterhin gepflegt wird und die daraus abgeleiteten Vorrechte auch den Hintergrund vieler propagandistischer Zeugnisse, vor allem der Oper und des Theaters in der Barockzeit, bildeten. Die hervorragende Stellung der Familie, die sich von allen Vorbildgestalten der Antike, des alten Testamentes und des Mittelalters herleitete, war für die Herrschaftsansprüche - man muß ja immer bedenken, daß die höchste Würde der Habsburger, der Titel des Kaisers nicht erblich war, sondern daß das Heilige Römische Reich eine Wahlmonarchie bildete - eine wesentliche Grundlage. Der Herrscher des Heiligen Römischen Reiches - aber auch aller anderen Territorien - steht in einer überindividuellen Tradition. Sein Selbstverständnis, aber auch Literaturverzeichnis, ich beschränke mich hier daher auf wenige Literaturangaben. 2 Jean-Marie Maeglin, Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung. Zum Selbstverständnis der Wittelsbacher, Habsburger und Hohenzollern im Spätmittelalter. In: Historische Zeitschrift 256(1993) S. 593-635, aber auch Margaretha Kalmar, Herrschaftsauffassung und Sendungsbewußtsein habsburgischer und burgundischer Fürsten im späten Mittelalter. Dipl. Wien 1983 oder Anna Coreth, Dynastisch-politische Ideen Kaiser Maximilians I. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 3(1950) S. 81-105, sowie Alphons Lhotsky, Apis Colonna. Fabeln und Theorien über die Abkunft der Habsburger. Ein Exkurs zur Chronica Austriae des Thomas Ebendorfer. In: Alphons Lhotsky, Das Haus Habsburg (^Aufsätze und Vorträge 2). Wien 1971, S.7-102.
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
39
seine Wahrnehmung durch die anderen - modern würde man sagen sein „Image" - werden durch diese Tradition geprägt. Um die regierenden Habsburger, die seit 1273 gelegentlich und ab 1438 regelmäßig zu Kaisern gewählt wurden, verstehen zu können, muß man im alten Rom beginnen,
denn
das
römische
Weltreich
ist
ein
Ausgangspunkt
mittelalterlichen und neuzeitlichen Herrschaftsverständnisses. Der zweite Ausgangspunkt, der in großartiger Weise damit vereint wurde, ist die Vorstellung, daß alle weltliche Macht im Namen Gottes ausgeübt wird, daß jeder Regent einer von Gottes Gnaden ist. Beiden Ideen wurde die im Mittelalter geübte Praxis der Übertragung der Herrschaft durch den Papst, der translatio imperii, von dem mit Romulus Augustulus 476 zu Ende gegangenen weströmischen Reich auf Karl den Großen im Jahre 800 gerecht. Mit dieser renovatio imperii, der Wiederherstellung des alten römischen Reiches, sollte ein neues goldenes Zeitalter voll Frieden und Gerechtigkeit beginnen, in dem Christus regieren kann.3 Doch diese Sicht des Problems ist noch immer zu einfach. Um diese Herrschaftsideologie besser zu verstehen, muß man eine weitere Ebene der Interpretation hinzufügen, die in der habsburgischen Selbststilisierung - und nicht nur in dieser - einen zentralen Platz einnahm, nämlich die Anbindung dieser Vorstellungen an die antike Mythologie. Diese spielte vor allem ab dem 16. Jahrhundert die Rolle des Vermittlers des Herrschaftsbildes; selten wurden die Herrschaftsideen und -Ideologien anders ausgedrückt als in mythologischen Bildern, die von den Eliten und nur diese galt es zu beeindrucken und zu beeinflussen - verstanden wurden. Doch schon im Mittelalter, dem man geneigt ist, in Anlehnung an die Verteufelung durch die Humanisten antike Bildung abzusprechen, wurden diese Zusammenhänge gesehen. Die Sage der Argonauten und die Zerstörung Trojas bilden den Beginn der großen 3
legitimierenden
Aus der umfangreichen Diskussion sei nur ein zusammenfassender Titel genannt Goez, Werner, Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschiche des Geschichtsdenkens und der
40
Karl Vocelka
Erzählung, die mit der Gründung Roms durch Äneas seine Fortsetzung findet. Der Dichter Vergil verschmolz verschiedene Sagenkreise und bildete
damit
eine imperiale Ideologie vor, die man nur
mehr
aufzunehmen und weiterzuführen brauchte, ihre Elemente schienen dem Wunschdenken
mittelalterlicher
und
frühneuzeitlicher
Herrscher
entsprungen zu sein. Die Vorstellung der Gründung eines neuen Troja wurde mit dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wunsch nach der Beherrschung des Ostens, den Kreuzzugs- und Welteroberungsplänen in Verbindung gebracht. Die Übertragung der Herrschaft Jupiters auf Rom durch Äneas wurde verbunden mit dem Beginn eines neuen goldenen Zeitalters durch den antiken Kaiser Augustus. Dieser stiftete angeblich nach einer siegreichen Schlacht einen Apollotempel und erfüllte damit ein Gelöbnis, das Äneas in Cumae abgelegt hatte. Durch diese Tat konnte ein neues
Jahrtausend
des
Friedens
anbrechen.
Diese
eigentümliche
Kompilation nicht zusammengehöriger Elemente konnte später relativ leicht eine christliche Umdeutung erfahren, die sich vor allem darauf stützte, daß Christus unter Augustus geboren wurde, woraus man den Schluß zog, dessen Römisches Reich sei Gottes Wille. Bei dieser Interpretation der Geschichte konnte man auf die Ausdeutung des Traumes Daniels aus dem alten Testament zurückgreifen, denn die letzte der vier Monarchien (Babylon, Persien, Griechenland, Rom), als die man die vier Tiere des Traumes deutete (Löwe, Bär, Panther, Untier mit Hörnern), war dann eben das Reich Gottes. Eine Vermischung der Ideen des alten Testamentes mit Vergil - und damit mit der antiken Sagenwelt führte zu eigenartigen Deutungen. So wurde die Eroberung Jerusalems durch Kaiser Titus mit der Wiedererlangung des Goldenen Vlieses gleichgesetzt, Christus als neuer Äneas, Rom als neues Jerusalem, der Kaiser als Nachfolger der Regentschaft einerseits des Priamos und andererseits
des
biblischen
Königs
David
gesehen.
Eine
politischen Theorie im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Tübingen 1958.
durch
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
41
prophetische Bücher weit verbreitete Weissagung verkündete, daß diese Nachfolger des Äneas auf ewig im Heiligen Römischen Reich herrschen werden.4 Damit
war
eine
ausreichende
Legitimierung
des
römischen
Weltreiches, das sich noch dazu nach dem Sieg Konstantins über Maxentius an der Milvischen Brücke 312 ohnehin selbst christianisierte, gegeben. Durch
die
translatio
imperii ging diese Legitimität der
Herrschaft vom Römischen Reich nun an die Franken, an Karl den Großen, über. Aber auch die fränkische Herrschaft davor war schon mit den
gleichen
Elementen
legitimiert
worden.
Chlodwigs
Alemannenschlacht war mit der Schlacht an der Milvischen Brücke verglichen, der Sieger als ein neuer Konstantin gepriesen worden. Laut den Geschichtsschreibern der Zeit erschien sogar bei Chlodwigs Taufe ähnlich wie bei der Taufe Christi im Jordan - eine Taube. Besonders Karl der Große bot sich als ideale Identifikationsfigur für die Herrscher an. Seine Feldzüge im Westen gegen die Mauren und im Osten - wo er der Legende nach das Grab Christi befreite und bei dieser Gelegenheit aus Byzanz wertvollste Reliquien, wie den Kelch des letzten Abendmahls, Holz vom wahren Kreuz Christi, die Nägel der Kreuzigung und die Dornenkrone mitbrachte - machten ihn zum Ideal imperialen Denkens. Diese unter den herrschaftsstützenden Eliten allgemein verbreiteten Ideen Vergils konnten für die Habsburger zweifach fruchtbar werden. Einerseits konnte man damit an die Argonautensage anschließen, die auch dem Orden vom Goldenen Vlies, dem aus Burgund übernommenen Hausorden der Habsburger zugrundelag und dessen Ursprungsmythos vielfach den barocken Opern und Dramen als Thema diente.5 4
Zuletzt zusammenfassend Marie Tanner, The Last Descendant of Aeneas. The Hapsburgs and the Mythic Image of the Emperor. New Haven CT - London 1993. 5 Margret Dietrich, Goldene Vlies-Opern der Barockzeit. Ihre politische Bedeutung und ihr Publikum. In: Anzeiger der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften philosophisch-historische Klasse 111(1974 erschienen 1975) S. 469-512. Aus der umfangreichen Literatur zum Toison d'or sei hervorgehoben: Annemarie Weber, Der
42
Karl Vocelka Andererseits konnte man auf Karl den Großen, als wirklichen
Ahnen
und
als
Funktionsverwandten
einen
Amtsvorgänger
verweisen
und
seine
im
Reich,
Tradition
einen
fortzusetzen
vorgeben. Mit beiden Ideen kam man in einen Kollisionskurs mit Frankreich, das den einen der beiden ernstzunehmenden Gegner der Habsburger darstellte. Die politische Situation der Habsburger seit dem späten Mittelalter war gekennzeichnet durch die doppelte Frontstellung gegen Frankreich auf der einen und die Osmanen auf der anderen Seite. Dazu
kam
innenpolitisch
noch
die Auseinandersetzung
mit
dem
Protestantismus, der auch mit dem Kampf gegen die Stände, die der Träger dieser religiösen Bewegung waren, verbunden war. Der Kampf gegen die Osmanen, die „Erbfeinde der Christenheit", konnte besonders gut ideologisch verwertet werden, die Habsburger stilisierten sich als Verteidiger des Abendlandes und konnten zumindestens lange Zeit hindurch die Solidarität der Stände gegen den gemeinsamen osmanischen Gegner
ausnützen.6
Unter
ähnlichen
Vorzeichen
wie
die
Auseinandersetzung mit den Osmanen wurde auch der Kampf gegen die „Ketzer", die „neuen Türken" interpretiert. Die Auseinandersetzung mit Frankreich hingegen stand unter anderen ideologischen Voraussetzungen, denn der rex christianissimus, der französische König, war weder Muslim noch Protestant, sondern bloß politisch der Gegner des Erzhauses. Vor allem im 17. Jahrhundert, als unter Ludwig XIV. Frankreich die Hegemonie in Europa anstrebte, war dieser Kampf für die Habsburger schwierig. Auf der militärischen Ebene war ihre Politik nicht immer von großem Erfolg gekrönt und auch auf der ideologischen Ebene standen sie in harter Konkurrenz zu dem propagandistischen Eifer des Sonnenkönigs. Sicherlich
ist
vieles
an habsburgischer
Repräsentation,
die
Feste
österreichische Orden vom Goldenen Vliess. Geschichte und Problem. Diss. Bonn 1971 und jüngst Johann Stolzer und Christian Steeb, Österreichs Orden vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Graz 1996 mit einem Beitrag von Christian-Steeb zum Vliesorden. 6 Karl Vocelka, Die inneren Auswirkungen der Auseinandersetzung Österreichs mit den
Monarchia Austriaca, Gloria Domus Leopolds I. etwa
und
die
repräsentative
43
Architektur,
nur
in
der
Konkurrenz gegen die Franzosen zu sehen, doch ist mit Recht in letzter Zeit darauf hingewiesen worden, daß die Habsburger den Schwerpunkt ihres Wirkens in einer anderen Weise sahen als Ludwig XIV. Die Tradition, etwa bei dem alte Teile immer wieder bewahrenden Um- und Zubau der Hofburg 7 , und die habsburgische Frömmigkeit, etwa die stärkere Betonung der geistlichen Architektur - als bestes Beispiel mag dabei die Karlskirche gelten -, standen im bewußten Gegensatz zum weltlich repräsentativen Tun des Sonnenkönigs. Diese spezifische Betonung der guten Eigenschaften der Familie, die deren Mitgliedern angeboren waren, bildeten auch den Grundstock für die Erziehung der Prinzen und prägten sie in spezifischer Weise. Die Erziehungsschriften des 17. Jahrhunderts haben viel mehr als die der vorangegangenen
Epochen
diese
alten
christlichen
und
antiken
Traditionen mit einem neuen politischen Verständnis des absolutistischen Regierungssystems verbunden. Grundlegend für das Selbstverständnis des absolutistischen Herrschers wurde das von Justus Lipsius im Geiste des Neo-Stoizismus verfaßte und 1589 erschienene Werk „Politicorum sive civilis doctrinae libri sex" (Sechs Bücher Staats Wissenschaft). Sein Einfluß auf die Erziehung der Habsburger war allerdings nur ein indirekter,
der
über
Erziehungsprogrammen
die
Rezeption
dieser
nachvollziehbar
ist.
Ideenwelt Als
in
den
wichtigster
österreichischer Fürstenspiegel des 17. Jahrhunderts muß der „Princeps in Compendio"
angeführt werden,
eine
mehrfach
auch
in
deutscher
Übersetzung gedruckte Abhandlung von 21 kurzen Kapiteln über die richtige Gestaltung fürstlicher Herrschaft und die christlich-ethischen Grundlagen des Herrscheramtes. Der Verfasser ist unbekannt. Weder Osmanen. In: Südost-Forschungen 36(1977) S. 13-34. Hellmut Lorenz, The Imperial Hofburg. The Theory and Practice of Architectural Representation in Baroque Vienna. In: Charles W. Ingrao (ed.), State and Society in Early Modern Austria. West Lafayette 1994, S. 93-109. 7
44
Karl Vocelka
Ferdinand II., noch sein Sohn Ferdinand HL, noch Erzherzog Leopold Wilhelm, die als Verfasser vermutet wurden, können die Autoren dieses Textes
sein.
Der
unbekannte
Schreiber
ist ein
theologisch
und
humanistisch gebildeter Jurist, der sich in traditionellen Inhalten von Fürstenspiegeln gut auskannte. Diese Schrift betont die Förderung der Ehre Gottes, aber auch das Wohl der Untertanen als wichtigste Aufgaben des Herrschers. 8 In der Zeit der Glaubensspaltung stellt die Wiederherstellung und Erhaltung der katholischen Religion die zentrale Tugend des Herrschers für die Habsburger dar, diese stand auch in den Verträgen zwischen verschiedenen Linien des Hauses Habsburg an erster Stelle. Auch das 1621 verfaßte Testament Ferdinands bestimmt, sein Nachfolger solle das „von Gott verlihene Land regieren in aller Gottesfurcht, guter justiz, rechter
manns
zucht
und
einhelliger
religion".
Die
wichtigste
Herrschertugend dieses jesuitischen Fürstenideals ist also die pietas, die Frömmigkeit,
die
durch
religiöse
Gebräuche,
aber
auch
durch
Almosengeben, Treue und Anhänglichkeit gegenüber der Kirche und die „Geweihten des Herrn" ihren Ausdruck finden soll. Der Tugendkatalog des „Princeps in Compendio" umfaßt die seit dem Mittelalter tradierten Eigenschaften wie Güte und Milde, Geduld und Sanftmut, Mäßigung, Stärke und Treue, wobei die Stärke nicht aktiv, sonder passiv als tapferes Ertragen von Schicksalsschlägen definiert wird. Die zentralen Tugenden der dementia, der Güte, und der iustitia, der Gerechtigkeit, können - wie wir noch
sehen
werden
- leicht als unvereinbar erscheinen.
Im
Fürstenspiegel wird dem Fürsten ans Herz gelegt, die Gerechtigkeit zu betonen und ohne Ansehen der Person zu urteilen. Vor allzu großer 8
Vgl. vor allem Das Herrscherbild im 17. Jahrhundert. Hg. v. Konrad Repgen. Münster 1991 =Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 19, sowie an älteren Arbeiten Stephen SkaTweit, Das Herrscherbild des 17. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 184(1957) S. 65-80, Sturmberger, Hans, Der habsburgische „princeps in compendio" und sein Fürstenbild. In: Historica. Studien zum gesellschaftlichen Denken und Forschen (ed. Hugo Hantsch, Eric Voegelin und Franco
Monarchia Austriaca, Gloria Domus dementia
45
wird gewarnt, sie „rufe nur größere Missetaten hervor und
verleite die Untertanen im Vertrauen auf die Gnade des Herrschers dazu, um so leichter Unrecht zu tun. Schließlich werde das Gute unterdrückt, wenn das Böse straflos bliebe". Dieses gelehrte Werk, das 75 Zitate aus Werken der klassischen Antike, der Spätantike und des Mittelalters, aus der Bibel und dem „Corpus Iuris Civilis" sowie aus Sammlungen von Sprichwörtern
enthält,
verbreitet
das
spanische
Bewußtsein
der
Auserwähltheit, das die barocken Habsburger besonders charakterisiert. Andere Werke dieser Zeit, wie ein Büchlein des Jesuiten-Paters Wilhelm Lamormaini, des Beichtvaters Ferdinands II., das nur ein blasser Tugendkatalog ist, oder das Gutachten des Fürsten Gundackers von Liechtenstein „Wegen Education eines jungen Fürsten und wegen Bestellung des geheimen Rates" haben ebenfalls einen gewissen Einfluß auf die Erziehung in der Barockzeit ausgeübt. Deutlich wird an diesen Erziehungsschriften, daß die Habsburger in ihren Handlungen von einer Tradition bestimmt gewesen sind, die sie nicht selbst begründeten, sondern lediglich weitergaben und in wenigen Fällen erweiterten. Dieses von der panegyrischen Literatur geprägte Herrscherbild, das vor allem in Lobschriften und Leichenpredigten artikuliert wird, umfaßt einen ganzen Kanon an Tugenden. Die sechs wichtigsten des Hauses Österreich sind pietas (Frömmigkeit)
dementia
(Milde), humanitas (Menschlichkeit), politica vera et genuina (aufrichtige und ehrliche Politik), liberalitas (Freigebigkeit) und gloriae promovendae
Studium divinae
(das Bestreben, den göttlichen Ruhm zu steigern),
auf dieses Tugendsystem wird die gloria (Ehre) des Hauses aufgebaut. 9 Diese Tugenden waren streng hierarchisiert. Von allen diesen Eigenschaften, die man den Mitgliedern der Dynastie zuschrieb, war die dementia „die Tugend, die gottähnlich macht, die Königin der Tugenden, Valsecchi) Wien - Freiburg - Basel 1965, S. 91-116. 9 Vgl. dazu etwa Ritterliches Tugendsystem Hg. Günther Eifler. Darmstadt 1970 =Wege
46
Karl Vocelka
die alle anderen einschließt.'"0 Die Tätsache, daß die Habsburger diese Tugend ausübten, gab ihnen die wahre väterliche Gewalt über ihre Untertanen. Das Bild des Herrschers ist hier das des „Landesvaters", der seine Untertanen in ähnlich strenger, aber gerechter und letztlich doch milder Weise beherrscht, wie ein Vater seine Familie - zumindest solange deren patriarchalische Struktur nicht in Zweifel gezogen wurde. Die
Religiosität
des
Herrschers
bildet
ebenfalls
das
selbstverständliche Fundament jeglicher guter Regierung. Es vertraten die katholisch-habsburgischen
Staatstheoretiker
und
Publizisten
der
Gegenreformation und des Barock mit Entschiedenheit den Standpunkt, Religiosität
und christliche Tugenden
seien
die Grundfesten
der
Herrschaft. Die Worte der Heiligen Schrift „per me reges regnant et legum conditores iusta decemunt" (Durch mich regieren Könige und erkennen die Gesetzgeber das Gerechte) wurden hier der habsburgischen Herrschaft zugrunde gelegt und die Förderung der Ehre Gottes als eigentliches Fürstenamt angesehen. Schon seit der babenbergischen Herrschaft
hatte
sich
-
sehr
realpolitisch
-
die
Stellung
der
österreichischen Landesfürsten als Vögte der Kirche, als advocatus ecclesiae herausgebildet, diese Funktion wurde von den Habsburgern übernommen und verstärkt. Dabei war weniger das weltliche Eingreifen in die Belange der Kirche oder die Schutzfunktion der Landesfürsten so wichtig,
sondern
Gottesdienstes
vielmehr
durch
Glaubensspaltung
eine
die
die
grundsätzliche
Dynastie,
enorme
was
vor
Förderung allem
politisch-staatsrechtliche
nach
des der
Dimension
gewann. Mit dieser Frömmigkeit, der pietas Austriaca, von der weiter unten die Rede sein wird, war die dementia Austriaca als zentrale Eigenschaft der Forschung 56. 10 Veronika Pokorny, dementia Austriaca. Studien zur Bedeutung der dementia Principis für die Habsburger im 16. und 17. Jahrhundert. In: Mitteilungen des Instituts für Osterreichische Geschichtsforschung 86(1978) S. 310-364 (Auszug aus der ungedr.
47
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
der Habsburger verbunden. Das lateinische Wort dementia bedeutet in diesem spezifischen Zusammenhang den Verzicht auf Strafe trotz des formalen Rechtes. Die Wurzeln dieser nicht nur habsburgischen Herrschern zukommenden Eigenschaft der Panegyrik liegen in der stoischen Philosophie der Antike ebenso wie in der christlichen Ethik, wobei der heidnische und der christliche Begriff der
dementia
verschmolzen. Diese dementia, die in den Fürstenspiegeln verlangt und von den Historiographen der Dynastie gepriesen wird, wurde als eine imitatio Dei, eine Nachahmung Christi und eine Pflicht des christlichen Herrschers angesehen. In der Zeit des Humanismus wird die schon bei mittelalterlichen Habsburgern
vorhandene
Vorstellung
von
der
innata
dementia
(angeborenen „Müdigkeit") des Hauses Habsburg weiter ausgebaut und stärker mit antiken Elementen verbunden. Unter Friedrich III. und besonders unter Maximilian wird betont, daß diese dementia Caesaris (die Milde des Kaisers) den Herren von Österreich angeboren sei. In der Barockzeit ist diese Vorstellung schließlich voll ausgebildet, sie findet bei den Schriftstellern und Panegyrikern des Hauses weite Verbreitung; kein Habsburgerlob, keine Leichenpredigt ohne Hinweis auf diese besondere Eigenschaft der Familie. Diese angebliche Milde der habsburgischen Regierung, das rechte Maßhalten im Strafen und im Besteuern, ist nach Aussage des Barockschriftstellers Johann Adam Weber der Hauptgrund, warum das Haus Österreich magnetisch die Liebe der Menschen an sich ziehe. Der Beichtvater Ferdinands II. belegt dies durch eine schöne klischeehafte Geschichte. Er schildert die Teilnahme des Kaisers an den Bußgottesdiensten der Bauern in Steyr, Wels, Lorch und Linz nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes. „Wie sie dann den Kaiser sehen, der in Gang, Miene und Blick Freundlichkeit und Güte ausstrahlt, rufen sie aus, niemals hatten sie unternommen, was sie zu Diss. 1974).
48
Karl Vocelka
erreichen versuchten, wenn sie vorher einmal den Kaiser gesehen hätten: denn er sei die Güte selbst."11 Eine
große
Schwierigkeit
für
die
habsburgtreue
Geschichtsschreibung und deren an den Lobesreden geschultes Bild der Dynastie bildeten folglich eben jene Situationen, in denen die Habsburger politisch hart durchgriffen. Die Spur der Habsburger in der Geschichte ist auch mit dem Blut ihrer Gegner geschrieben, diese Tatsache mußte von der habsburgischen
Geschichtsschreibung
erklärt und gerechtfertigt
werden. Schon in der Herrschaftsübernahme des späten Mittelalters war man gegen politische Gegner wie etwa die ständische Opposition, deren Anführer, die Kuenringer, welche man mit großem Erfolg als „Raubritter" diffamierte, gewaltsam vorgegangen, in der Neuzeit mehrten sich die Fälle der politischen Justiz. Ferdinand I. etwa leitete seine Regierung mit dem Wiener Neustädter Blutgericht ein, in dem die Köpfe der ständischen Opposition
rollten,
auch die religiösen
Auseinandersetzungen
der
Folgezeit forderten zahlreiche Opfer. Lutheraner, Kalviner und Täufer wurden Märtyrer ihres Glaubens. Ferdinand II. ging ebenfalls hart gegen die böhmischen Aufständischen vor,
1621 wurden 21 von ihnen
hingerichtet, und Leopold bestrafte die ungarischen Insurgenten der Magnatenverschwörung 1671 unbarmherzig. In der Barockzeit bedurfte diese offensichtliche Verletzung der „angeborenen Leichenrede
dementia" für
Kaiser
einer
besonderen
Ferdinand
II.
Erklärung.
schrieb
In
seiner
Vernulaeus
1637:
„Ferdinand II. konnte seine Autorität nicht durch allzu große Sanftmut schwächen und mußte wenige Treulose streng mit dem Schwert bestrafen. Aber auch dies sei summa humanitas, nämlich durch den Tod weniger, viele zu bewahren."12 Ferdinands Beichtvater Lamormain, der Ferdinand als idealen christlichen Fürsten der Barockzeit schildert, geht sogar 11 12
Pokorny dementia Austriaca 324. Pokorny dementia Austriaca 323.
Monarchia Austriaca, Gloria Dornas
49
weiter. Er schrieb, Ferdinands dementia sei so groß, daß sie ihm zum Vorwurf gemacht worden sei, da er die iustitia
stets mit
dementia
gehandhabt habe, er sei also zuwenig gerecht - was er mit streng gleichsetzt - vorgegangen. Einige Anhänger der Habsburger hatten tatsächlich eine strengere Haltung in konfessionellen Fragen gefordert, z.B. der Konvertit Caspar Schoppe, der eine gnadenlose Ausrottung der Ketzer, vor allem der Kalviner, verlangte und gegen den Kaiser, der durch Schonung die Gebote Gottes verletze, polemisierte. Diese dementia wurde gelegentlich auch als Falle für die gegen das Haus Habsburg Agierenden eingesetzt, wenn diese Milde erwarteten, aber aus Gründen der Staatsräson Strenge geübt wurde. Kaiser Leopold etwa schreibt während der sogenannten „Magnatenverschwörung" an den Führer dieser Bewegung, Peter Zrinyi, und versichert ihn seiner Gnade. Der gute Ruf der dementia
Austriaca wird hier gleichsam als Mittel der
Staatsräson verwendet, um den adeligen Insurgenten dazu zu bringen, sich dem Kaiser zu ergeben. In seinen Privatbriefen an den Vertrauten und Botschafter in Spanien, Franz Eusebius Pötting, wurde aber von Leopold klar ausgedrückt, daß er keineswegs milde mit den ungarischen Magnaten umzugehen beabsichtigte, er schrieb: „Also gehet es zu, ich hoffe aber, Gott werde mir beistehen, und will sie schon ad mores bringen und auf die Finger klopfen, dass die Köpf wegspringen sollen."13 Vier Todesurteile standen am Ende dieses Kampfes um die ungarische Freiheit. Trotz der harten Haltung des frommen Kaisers wurde die Legende der dementia weitergepflegt; der Geschichtsschreiber Valvasor etwa berichtet: „Wobei dann dieses absonderlich merkwürdig, daß I.K.M. bei Unterschreibung der so rechtmäßigen Sentenz aus angeborener Sanftmut und Mitleiden die Tinte mit herzzerbrechenden Tränen zu
13 Alfred Francis Pribram und Moriz Landwehr von Pragenau, Privatbriefe Kaiser Leopold I. an den Grafen F.E. Pötting 1662-1673 2. Teil. Wien 1904, 74 S. =Fontes Rerum Austriacarum 2. Abteilung 57.
50
Karl Vocelka
vermischen sich nicht entbrechen können.'"4 Noch weit ins 18. Jahrhundert hinein wirkt diese Idee der dementia nach. Selbst der durchaus andere Ideen vertretende Lehrer Josefs I., Hanns Jacob Wagner von Wagenfels, der das „deutsche" Nationalgefühl stärken und damit die verbreitete Bewunderung für die Franzosen schwächen wollte, kommt bei der Begründung des Ruhmes der Habsburger wieder auf dieses alte Klischee zurück; das Lob der dementia und die Abwehr des Vorwurfes allzugroßer Milde des Kaiserhauses bilden die wesentlichen Elemente seiner Argumentation. Weit stärker als die anderen Tugenden des Hauses, deren sozialer Ort vor allem die panegyrischen, nur den Eliten zugänglichen Schriften waren,
ist
die
Frömmigkeit,
deren
Auswirkungen
in
der
15
Volksfrömmigkeit lange - zum Teil bis heute - nachwirken.
Eine Verankerung der habsburgischen Frömmigkeit in der Tradition zeigt
sich
daran, daß
alle diese Frömmigkeitsformen
auf
eine
Nachahmung Rudolfs von Habsburg, des Ahnherrn der Dynastie, zurückgeführt
werden
können,
daß
aber
dahinter
noch
andere
Anspielungen auf Herrscher der Vergangenheit zu finden sind. So ist der Kult des Kreuzes natürlich mit der Kreuzauffindung durch die heilige Helena, die Mutter Kaiser Konstantins des Großen, verbunden, aber ebenfalls mit der Ideenwelt der Kreuzzüge und ihren imperialen Implikationen,
mit
der
spätmittelalterlichen
Leidensmystik
des
Versenkens in die Wundmale Christi, das dann in der Barockzeit in die „Verehrung 16
überging.
der Herzwunde und des göttlichen
Herzens
selbst"
Auch in den Insignien des Heiligen Römischen Reiches spielt
14 Emilian Lilek, Kritische Darstellung der ungarisch-kroatischen Verschwörung und Rebellion. Celje 1928, S. 83ff. 15 Zum folgenden vgl. vor allem Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. 2. Aufl. Wien 1982 =Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde. 16 Anna Coreth, Liebe ohne Maß. Geschichte der Herz-Jesu-Verehrung in Österreich im 18. Jahrhundert. Maria Roggendorf 1994 =Cor ad cor 4.
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
51
ja die Kreuzes Verehrung eine zentrale Rolle, man denke nur an das mit den Reichsinsignien aufbewahrte Reichskreuz, das angeblich ein großes Stück des wahren Kreuzes Christi enthalten soll und die ebenfalls heute in der Wiener Schatzkammer ausgestellte Heilige Lanze, die mit der Kreuzigung in Zusammenhang gebracht werden konnte. Diese sicherlich geistesgeschichtlich
mit
dem
germanischen
Heerkönigtum
zusammenhängende Lanze, die auch einen angeblichen „wahren Nagel" vom Kreuz Christi enthält, wurde als die Lanze des Longinus, mit dem man
Christus
die
Seitenwunde
spätantik-frühchristliche Tradition
beibrachte,
identifiziert. Auch
der Schlacht
auf der
die
milvischen
Brücke, als Konstantin prophezeit wurde, wenn er das Kreuz als Symbol des Christentums annehme, werde er siegen (in hoc signo
vinces),
schwingt in diesen Vorstellungen mit. Aber auch eine eigene habsburgische Familientradition konnte mit dieser Kreuzesfrömmigkeit in Verbindung gebracht werden. Als Rudolf I. zum König gekrönt werden sollte - so der Fortsetzer der Chronik von Herrmann von Niederaltaich - verwendete er ein einfaches Holzkreuz statt des nicht auffindbaren Szepters und sagte: „Ecce signum, quo nos et totus
mundus redemptus est. Hoc signo utamur loco sceptri" (Das ist das Zeichen, das uns und alle Welt erlöst hat. Dieses Zeichen nehmen wir an Stelle des Szepters.) Derselbe Rudolf I. hatte außerdem noch vor der entscheidenden Marchfeldschlacht gegen Premysl Ottokar
1278 ein
Gelöbnis zur Errichtung einer Kreuzkirche abgelegt, das dann nach gewonnener Schlacht mit der Stiftung des Dominikanerinnenklosters in Tulln erfüllt wurde. An diese Legenden konnte man anknüpfen, sie spielten in der habsburgischen Familientradition ein große Rolle, und die Propagandisten der Dynastie, wie etwa der italienische Jesuit Hortensio Pallavicini, leiteten davon sogar die Ausbreitung des Habsburgerreiches in Kreuzform ab.
52
Karl Vocelka Eine
besondere
Kraft
gewann
das
Kreuzessymbol
in
Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen habsburgischen Politik, die als Kampf
des
Kreuzes
gegen
den Halbmond
stilisiert
wurde.
Der
Kreuzeskult konnte sich hier auch mit der marianischen Frömmigkeit gut verbinden,
da die apokalyptische
Frau
der Johannes-Offenbarung
(Apokalypse 12, 1-18), die als Maria gedeutet wurde, den Mond, das Symbol der osmanischen Herrschaft, unter ihren Füßen zertritt. Doch auch in der Auseinandersetzung mit den „Ketzern" spielten diese beiden Symbole eine dominierende Rolle; die Kapuziner Laurentius von Brindisi und Marco d'Aviano predigten darüber, daß die Habsburger unter diesem Zeichen siegreich sein würden, und 1620 trug der Karmelit Domenico a Jesu Maria Kreuz und Madonnenbild in der entscheidenden Schlacht auf dem Weißen Berg den katholischen Truppen voran. Ein weiteres Beispiel verdeutlicht die Verbindung zwischen dem Kampf gegen die Protestanten und der habsburgischen Kreuzesfrömmigkeit. Als die Herrschaft der protestantischen Adelsfamilie Jörger in Hernais - damals ein Vorort Wiens - in der Gegenreformation beseitigt wurde, war damit den Wienern die letzte Möglichkeit genommen worden, in der Nähe der Stadt reformierten
Gottesdienst
zu
besuchen
und
am
Sonntag
dorthin
„auszulaufen". Das Schloß wurde geschliffen und - symbolträchtig - an seiner
Stelle
ein
Kalvarienberg
errichtet.
Die
den
Wienern
vorgeschriebene Bußprozession zu diesem Kalvarienberg und der damit verbundene
Kreuzweg
begann
beim
Corpus-Christi-Altar
Stephansdomes, der Leidensweg Christi wurde gewissermaßen
des als
Siegesweg der katholischen Sache dargestellt. Der Ausgangspunkt dieser Prozession in St. Stephan verband die Kreuzesfrömmigkeit mit der Eucharistiefrömmigkeit der Dynastie.'7 Während das Kreuz natürlich auch als Symbol der Evangelischen fungierte, schieden sich bei der Verehrung der Eucharistie die Geister. 17
Erika Uhl, Hernais. „Feste Burg" und Kalvarienberg. Dipl. Wien 1993.
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
53
Luther und - noch radikaler - Calvin leugneten den Opfercharakter der Messe und
die Realpräsenz
Christi in der Eucharistie,
wie
sie
katholischerseits im Tridentinum zum Dogma erhoben worden war. Das Altarsakrament und die anbetende Verehrung, die es genoß, waren integrativer
Bestandteil
Fronleichnamsprozessionen
nachtridentinischer
Frömmigkeit.
Die
und -bruderschaften, das vierzigstündige
Gebet vor der ausgesetzten Eucharistie, aber auch Theaterspiele nach spanischem Muster mit dem Thema Altarsakrament prägten diese Verehrungsformen. Schon in der frühen Zeit der Auseinandersetzung mit den
Protestanten
war
die
Fronleichnamsprozession
Symbol
der
katholischen Sache gewesen, so hatte etwa Kaiser Karl V. 1530 am Augsburger Reichstag eine besonders prächtige Fronleichnamsprozession als katholische Glaubensdemonstration veranstaltet.18 Die Teilnahme der Habsburger an dieser Prozession entwickelte sich aber auch später zu einem staatlich-religiösen Akt allerersten Ranges, die Anwesenheit des Landesfürsten bzw. Kaisers unter dem Himmel war Ausdruck der katholischen Gesinnung des Staates. Für die Habsburger vor der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gestaltete sich ihre Teilnahme an der Fronleichnamsprozession allerdings keineswegs so selbstverständlich, da in ihren weitgehend protestantischen Ländern eine solche Prozession provokativ wirken konnte. Karl von Innerösterreich etwa wagte es erst 1572, an der Fronleichnamsprozession teilzunehmen, sein Sohn Ferdinand II. hingegen schrieb bereits 50 Jahre nach dem Sieg der Gegenreformation die Beteiligung des Hofes daran vor.
Der jesuitische
Prozessionen
Beichtvater
Lamormaini
mit der Beteiligung Ferdinands
berichtet
über
die
II.: „Zu Fueß
mit
18 Vgl. etwa Ulrike Kammerhofer-Aggermann, Quellenvergleich zu den Fronleichnamsprozessionen in den Städten Graz und Salzburg vor und nach der Reformationszeit, Die Rolle der Corpus-Christi-Bruderschaften in der Fronleichnamsprozession. In: Volksfrömmigkeit. Referate der östereichischen Volkskundetagung 1989 in Graz / Buchreihe der österreichischen Zeitschrift für Volkskunde NF 8. Wien 1990, S. 267-283.
54
Karl Vocelka
entdecktem Haupt, mit einem schlechten Kräntzlein von Rosen auff dem Kopff, mit einem Windtliecht in der Hand dienet er alle Jahr seinem Herrn, den man im Thriumph herumb trüge.'"9 Diese
Eucharistieverehrung
enthält
aber
auch
politische
Implikationen. Die Monstranz, in der die Hostie umhergetragen wurde, war häufig als Sonne, der Beherrscherin des Weltsystems, gestaltet, über der Hostie schwebte oft eine Königskrone. Die politische Umdeutung sagte „Quod in coelis sol hoc in terra Caesar est" (Was im Himmel die Sonne, ist auf der Erde der Kaiser). Die Sonne bezeichnete also allegorisch den absoluten Monarchen wie den „Himmelskaiser", der nach katholischer Auffassung - in der Hostie gegenwärtig ist. Diese eucharistische
Sonne
gegenübergestellt, Bekämpfung
des
wurde
so daß
wieder
dem
die Bedeutung
„Erbfeindes
der
osmanischen
des
Christenheit"
Erzhauses ebenfalls
Mond in
der
damit
symbolisiert werden konnte. Ähnlich wie bei der Kreuzesfrömmigkeit konnte man auch bei der Eucharistieverehrung wieder an eine Legende, die sich um Rudolf I. rankte, anknüpfen. Dieser hatte - wie es auch die bekannte Ballade von Friedrich Schiller zum Schulbuchwissen werden ließ - einem Priester bei einem Versehgang geholfen. Der Priester mit der Eucharistie konnte einen reißenden Fluß nicht übersetzen, sodaß Rudolf ihm sein Pferd zur Verfügung stellte. Als der Priester dieses am nächsten Tag zurückbrachte, nahm Rudolf es nicht mehr an und soll dann - wie Schiller es in seiner Ballade „Der Graf von Habsburg" ausführt - gesagt haben:
19
Coreth Pietas Austriaca 28.
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
55
„Nicht wolle das Gott, rief mit Demutssinn Der Graf, daß zum Streiten und Jagen Das Roß ich beschritte fürderhin, Das meinen Schöpfer getragen." 20 Aber auch einen anderen „Großen" der Dynastie, auf den man sich gerne bezog, verband die Legende mit einer eucharistischen Geschichte. Die bekannte Sage, daß sich Kaiser Maximilian I. bei der Gemsjagd in der Martinswand bei Innsbruck verstiegen hatte und weder vor noch zurück konnte, erzählt, daß Maximilian in dieser Notsituation zunächst mit einer Monstranz gesegnet wurde und daß man ihm dann an einer langen Stange eine
Hostie
als
„Wegzehrung"
reichte.
Auf
Grund
dieses
Sakramentempfangs wurde er auf wunderbare Art von Engeln gerettet. Vielleicht im Zusammenhang mit dieser Legende steht die Tatsache, daß Maximilian I. den eucharistischen Gnadenort Seefeld in Tirol besonders verehrte und sein Enkel Ferdinand I. dort sogar eine Klostergründung vornahm. Noch Ferdinand von Tirol ließ dort 1575 eine neue Blutkapelle errichten und pilgerte 1583 mit seiner Familie und 2000 Personen Gefolge nach Seefeld. Insbesondere die barocken Habsburger ließen der Eucharistie auch außerhalb
der
demonstrativen
Fronleichnamprozession
besondere
Verehrung zukommen. Über Ferdinand II. etwa berichtet Lamormaini nicht nur von seiner Teilnahme bei der
Corpus-Christi-Prozession,
sondern auch von seiner Reaktion auf andere Begegnungen mit der Hostie. Wenn dem Kaiser ein Priester mit dem Venerabile begegnete, „folgete er allezeit nach dem löblichen Exempel Rudolphi des Ersten. Alsbald spränge er mit Ehrerbiettung aus dem Wagen, böge sein Knye, auch auf khotiger Erden, bettet an seine Haylandt"21 und begleitete den 20 21
Friedrich Schiller, Sämtliche Werke Bd. 1. München 5.Auflage 1973, S. 378. S. 38. Coreth Pietas Austriaca 23.
56
Karl Vocelka
Priester zum Kranken. Ähnliches ist auch über einige andere barocke Habsburger, z.B. über Leopold Wilhelm, Ferdinand III., Joseph I. und Karl VI. und natürlich von allen spanischen Habsburgern überliefert. Auch die Pietas
Mariana, die Verehrung der Maria Immaculata,
kann bei den Habsburgern der Gegenreformation als Reaktion auf die Glaubensspaltung gesehen werden. Die evangelische Lehre reduzierte den Anteil Marias auf ihre natürliche Mutterschaft Christi, für die katholische Seite verkörperte sie weitaus mehr. Die Vorstellung der Jungfrau Maria als Immaculata Concepta hat eine lange ins Mittelalter zurückreichende theologische Tradition. Schon das Baseler Konzil beschäftigte sich mit dem Lehrsatz der Unbefleckten Empfängnis und dem Dogma der Erbsünde, das Maria ausnahm. In der Zeit der Gegenreformation war diese Diskussion in Spanien unter Philipp III. besonders heftig, sie führte schließlich am 8. Dezember 1661 zur Bulle Papst Alexanders VII., in der die Immaculata
Conceptio zur
Lehrmeinung der Kirche erklärt wurde. Auch literarisch fand diese Immaculataverehrung ihren Niederschlag in Spanien, wo Calderon und Lope de Vega Immaculatadramen
schrieben. Mit dem
mystischen
Verständnis dieser unbefleckten Empfängnis verkörpert Maria - im Sinne der katholischen Auslegung - auch das Bild der Ecclesia Immaculata, der vollendeten Kirche. Der für die österreichische Gegenreformation so zentrale Jesuitenorden tat sich als Propagator dieses Kultes besonders hervor. Auch bei der marianischen Frömmigkeit konnte man auf die bewährte Haustradition zurückgreifen, auch wenn der Zusammenhang schwächer und weniger bekannt war. Rudolf I. gründete einen MarienWallfahrtsort namens Todtmoos im Schwarzwald, der seinen eigenartigen Namen von den umliegenden todbringenden Sümpfen ableitet. Doch wurde diese Legende der Gründung eines Marienheiligtums durch Rudolf niemals so verbreitet wie die schon zitierten Legenden, an welche die
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
57
Eucharistie- und Kreuzesfrömmigkeit anknüpfen konnten. Auch die frühen Beziehungen der Habsburger zu ihrem „Hauswallfahrtsort" Maria Einsiedeln
in
der
Schweiz
könnten
ins
Treffen geführt
werden,
verschiedene Marienstiftungen im Spätmittelalter sind belegt. Doch der entscheidende Impuls kam durch die politisch-genealogische Verbindung mit Spanien; von den 70.000 Kirchen, die Spanien im Mittelalter aufwies, war die Mehrzahl Maria geweiht. Auch eine politische Parallele konnte man ziehen. Das Erstarken Spaniens und die Einigung des Landes erfolgten durch einen langwierigen Kampf gegen die islamischen Araber in der sogenannten Reconquista, die man mit dem Türkenkampf der österreichischen Habsburger vergleichen konnte. Der spanische König und Kaiser Karl V. setzte etwa den Marien Wallfahrtsort Altötting, von dem noch die Rede sein wird, mit dem spanischen Nationalheiligtum Montserrat gleich, das am Fuß des Berges Gral liegt, wodurch dieses Marienheiligtum mit dem Kult vom Blute Christi verbunden wurde. Doch ist mit dem Madonnenkult nicht nur Marias theologische Bedeutung, sondern auch ihre politische angesprochen, war sie doch der Auffassung der Gegenreformation nach jene, welche der „Schlange, dem Satan, den Kopf zertritt", die „Siegerin in allen Schlachten Gottes". Gerade für die habsburgisch-katholische Mythologie spielte der Gedanke des Eingreifens Marias in das weltliche Geschehen zugunsten der Habsburger
eine zentrale Rolle. Drei entscheidende
oder
als
entscheidend angesehene Schlachten waren - dem Verständnis der habsburgischen Propaganda nach - mit dem unmittelbaren Eingreifen Marias in die Weltgeschichte verbunden: die Schlacht von Lepanto 1571, in der eine osmanische Flotte von Don Juan de Austria besiegt wurde, die Schlacht am Weißen Berg 1620, der Wendepunkt in der konfessionellen Frage, und die zweite Wiener Türkenbelagerung 1683, mit der die Offensive gegen den islamischen Gegner auf dem Balkan begann. 1571 wurde der Sieg gegen die Ösmanen dem knapp zuvor
58
Karl Vocelka
eingeführten Rosenkranzgebet zugeschrieben. Dieses Gebet Schloß nach der Auffassung der Kirche ein geistiges Heer zusammen, dem man den Sieg im Zeitalter des Glaubens ebensogut zuschreiben konnte wie einer realen Armee. Daraufhin verkündete Papst Pius V. 1572 einen neuen Feiertag, das Fest Maria vom Sieg oder Maria de Victoria am 7. Oktober, dem Tag der Lepantoschlacht. Auch bei der Schlacht an der Bilä Hora, am Weißen Berg nahe Prag, in der die katholische Liga und der Kaiser die protestantischen böhmischen Stände besiegten, war der Kampfruf „Maria" ausgegeben worden. Aber auch damit nahm man nur bereits existierende ältere Vorbilder auf. Wie schon erwähnt, war Maria auf der Mondsichel stehend als Signum Magnum, als großes Zeichen, im Kampf gegen den Islam verwendet worden. „Rebellen und Ketzer" waren nach Auffassung der Katholiken die „Neuen Türken", und dies rechtfertigte natürlich einen marianischen Kreuzzug. Schon 1547 im Schmalkaldischen Krieg Kaiser Karls V. gegen die protestantischen Reichsstände hatte der Papst zum Kreuzzug aufgerufen. Als Symbol trug der Harnisch Karls V., den er in der Schlacht bei Mühlberg trug, eine Ätzung der Madonna auf der Mondsichel. Auch in der Auseinandersetzung mit dem protestantischen Böhmen konnten diese Vorstellungen genützt werden. In seinem Werk „Classicum Belli Sacri" 1619 proklamierte etwa der Konvertit Caspar Schoppe den „Heiligen Krieg gegen Ketzer". In diesem Sinne schmückte das Bild der Muttergottes 1620 die Fahnen des katholischen Heeres, der Feldprediger und Karmelit Domenico a Jesu Maria Ruzzola trug ein Kreuz und ein spätgotisches Bild der Geburt Christi aus der DeutschOrdens-Kommende in Strakonitz den Soldaten voran. Nach Auffassung der Habsburger gab Maria persönlich der katholischen Sache den Sieg. In den Jahren 1622 bis 1624 wurde am Schlachtfeld des Weißen Berges eine Kirche mit dem Patrozinium Beata Maria Virginis de Victoria errichtet, in der eine Kopie des Strakonitzer Gnadenbildes aufgestellt wurde. Das
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
59
Original des Bildes sandte man nach Rom in die 1605 begonnene Mutterkirche des Karmeliterordens mit dem bezeichnenden Namen Santa Maria della Vittoria, wo das Gnadenbild 1633 verbrannte. Die Mariendarstellungen markierten die Straße des Sieges 1620: an der Prager Teynkirche wurde das Bild des hussitischen Königs Georg von Podiebrad und des Kelches als Symbol der hussitischen Utraquisten durch eine Madonna im Strahlenkranz ersetzt, am Wiener Hof wurde das Fest Maria de Victoria eingeführt, ein Votivbild Ferdinands Π. 1631 im Prager Veitsdom ist Maria gewidmet. 1620 wurde eine Prager Prozession in München eingeführt, die zur Weihe der Münchener Mariensäule diente. Sie fand 1647 in Wien Nachahmung. Am politisch brisantesten blieb die Errichtung einer Mariensäule 1650 auf dem Altstädter Ring in Prag, genau an jener Stelle, an der das Blutgericht nach der Schlacht auf dem Weißen Berg, die Hinrichtung einiger „Rebellen", stattgefunden hatte. Wie lange politische Symbole nachwirken zeigt die Tatsache, daß 1918 diese Marienstatue in Prag - als die Habsburgerherrschaft endete gestürzt wurde und daß es jetzt - nach 1989 - erneut eine erregte Diskussion um eine eventuelle Wiedererrichtung der Statue gibt. Auch die Loreto-Verehrung hängt eng mit 1620 zusammen.22 Die Legende erzählt, daß das Haus Mariens, die Casa Santa, 1291 beim Fall von Akkon, der letzten christlichen Bastion im Heiligen Land, auf wunderbare Weise von Jerusalem nach Loreto an der adriatischen Küste (in der Provinz Marken) gebracht wurde. Der Legende nach machten die Engel einen für die habsburgische Ideologie interessanten Zwischenstop mit der Casa Santa in Istrien, den die barocken Schriftsteller mit der habsburgischen Frömmigkeit verbanden. So schreibt der Jesuit Wilhelm Gumppenberg: „Erst kürzlich hatte Rudolf dem Sohn der Jungfrau sein 22
Franz Matsche, Gegenreformatorische Architektuipolitik. Casa-Santa-Kopien und Habsburger Loreto-Kult nach 1620. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 1(1978) S. 81-118 und Nikolaus Grass, Loreto im Bergland von Tirol. In: Jahrbuch für Volkskunde 2(1979) S. 161-186.
60
Karl Vocelka
Pferd gegeben, für das die Jungfrau ihm ihr Haus, und der Sohn der Jungfrau, wie wir hoffen, ein Reich ohne Ende verliehen und bestimmt hat, daß Österreich fortan dem Adler als Nest diene." Die Verehrung von Loreto - der Casa Santa und des Kultbildes war weitverbreitet, große Pilgerscharen strömten in diesen Ort, handelte es
sich
doch
um
die
einzige
wirklich
bedeutende
sogenannte
„Sekundärreliquie" Mariens, die durch ihre von der katholischen Kirche behauptete leibliche Himmelfahrt keine Primärreliquien
hinterlassen
konnte. Die Gebete der „lauretanischen Litanei", die der Verbreitung dieses Kultes dienten, waren schon 1558 durch den bekannten Jesuiten und späteren Rektor des Prager Clementinums Petrus Canisius, der zuvor Beichtvater in Loreto gewesen war, in Dillingen im Druck herausgegeben worden, doch für die Habsburger wurde Loreto erst etwas später zu einem wichtigen Bezugspunkt. Schon Erzherzog Karl II. von Innerösterreich hatte eine goldene Medaille für Loreto gespendet, seine Frau Maria von Bayern pilgerte mindestens
einmal
zur
Casa
Santa. Damit
stand
sie
in
der
wittelsbachischen Familie nicht isoliert da, auch ihr tieffrommer Bruder Wilhelm V. von Bayern hatte etwa 1585 einen silbernen Kronleuchter im Gewicht von 84 Pfund für diesen Wallfahrtsort gespendet. Auch Karls Bruder Ferdinand von Tirol kam durch seine verwandtschaftlichen Beziehungen mit Loreto in Kontakt. Seine zweite Frau Anna Catharina von Mantua ließ 1589 in Hallerau bei Innsbruck eine schlichte Kopie der Casa Santa errichten, die auch im Lande Nachahmung fand. So baute die Kapuzinerbruderschaft 1619 schon vor dem großen Boom der LoretoVerehrung eine Casa-Santa-Kopie in Bozen. Doch erst mit Kaiser Ferdinand II. wurde dieser Loreto-Kult zu einem zentralen Anliegen habsburgischer Frömmigkeit; er konnte dabei an die bayrische Tradition seiner Mutter ebenso anknüpfen wie an die mantuanische seiner Frau Eleonore, die eine Schwester der zweiten Frau
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
61
Ferdinands von Tirol war. Anläßlich seiner Italienreise im Jahre 1598 legte Ferdinand II. schon vor seinem Herrschaftsantritt in Loreto selbst das Gelübde ab, sein Land von der Ketzerei zu befreien. Loreto spielte also in seiner Denkwelt eine wesentliche Rolle, da er auch 1606 mit dem Befehl, Holz für Loreto bei Fiume - also in Istrien, wohin die Casa Santa von den Engeln zunächst gebracht wurde - zu schlagen, die alte Legende, die die Casa Santa mit der habsburgischen Tradition verband, aufgriff. Nach 1620 entstanden in den habsburgischen Ländern, vor allem in denen der böhmischen Krone und in Wien, zahlreiche Kopien der Casa Santa zu Loreto. Diese Kopien der Gnadenstätte spiegeln die Gestalt, welche das Original in Loreto 1518 nach Plänen von Bramante durch Andrea Sansovino erhalten hatte. 1620 oder 1623 entstand in Nikolsburg in
Mähren
die
früheste
Casa-Santa-Kopie
in
den
Ländern
der
Wenzelskrone durch den Kardinal Fürst Franz Dietrichstein. 1623 bis 1625 wurde durch Ritter Florian Dietrich Saar in Waldl bei Prag eine Casa Santa gebaut, zu der auch Wallenstein zur Danksagung pilgerte, ihr folgte die heute noch bedeutendste auf dem Prager Hradschin, die 1626/27 von Benigna Katharina von Lobkowitz angeregt wurde.23 Nach 1620 wurde Böhmen als eine neue Terra Sancta angesehen. Man legte hier z.B. viele Jerusalemanlagen an, etwa in Rimau mit 25 Kapellen und Leidensstationen, aber auch mit einer Loretokapelle; auch in Krumau wurde eine Loretokapelle von den Jesuiten 1658 geweiht. Das alte böhmische Kloster Strahov in Prag wurde als neuer Berg Sion, als „böhmisches Jerusalem", gesehen und durch einen heiligen Weg, auf dem den 44 Anrufungen der Lauretanischen Litanei die 44 angelegten Kapellen entsprachen, mit dem bedeutenden Wallfahrtsort Alt Bunzlau verbunden. Viele marianische Großwallfahrten, die sowohl politisch23
Zum Thema Wallfahrt allgemein vgl. Wallfahrt kennt keine Grenzen. Katalog der Ausstellung im bayerischen Nationalmuseum München. München 1984 und speziell zur böhmischen Wallfahrtsstraße. Johanna Herzogenberg, Marianische Geographie an böhmischen Wallfahrtsorten. Der Weisse Berg - Rimaus in Südböhmen - der Heilige
62
Karl Vocelka
habsburgische
als
auch
gegenreformatorische
Bedeutung
hatten,
entstanden in Böhmen. In Wien hatte 1622 Ferdinands Frau Eleonore von Gonzaga in der Hofpfarrkirche bei den Augustinern eine Casa Santa errichten lassen, die dann Joseph II. 1784 abbrechen ließ. 1621 entstand auch eine Casa Santa bei den Franziskanern in Brüssel als eine Stiftung der Infantin Isabella Clara Eugenia. Alle diese Kopien stehen geistesgeschichtlich in einem Zusammenhang mit der Schlacht am Weißen Berg, sie sind Denkmäler des katholischen Sieges und somit Votive der Rekatholisierung. Die Casa Santa in Wien spielte aber auch eine bedeutende Rolle. Papst Urban VIII. gewährte am 1. März 1628 für die Kopie in der Augustinerkirche
einen
Ablaß,
der
allen,
die
sie
besuchten,
zugutekommen sollte. Bei dieser Casa Santa in der Augustinerkirche fanden zur Fastenzeit Illuminationen und Mysterienspiele statt, die um die Erneuerung des Rosenkranzkultes anläßlich der Seeschlacht von Lepanto kreisten. Diese Nachbildung der Casa Santa entwickelte sich zum Hausund Hofheiligtum der Habsburger bei militärischen Anliegen, hier wurden Siegestrophäen niedergelegt, und es ist kein Zufall, daß 1683 der polnische König Johann Sobieski die Siegeslorbeeren der Casa Santa geweiht hat. Dieser Sieg gegen die Türken bei Wien 1683, an dem der regierende Habsburger Kaiser Leopold I. militärisch wenig Anteil hatte, den man aber später einem anderen Vater der Dynastie, Karl von Lothringen, zuschreiben konnte, wurde ebenfalls dem direkten Eingreifen der Madonna zugeschrieben. Wieder waren es mehrere Vorbilder, an die man anknüpfen konnte. Der für die habsburgische Frömmigkeit so wichtige Marienwallfahrtsort Mariazell24 verband sich der Legende nach mit dem Kampf Ludwigs I. von Ungarn gegen die Ungläubigen ebenso Berg. In: Alte und Moderne Kunst 16(1971) S. 9-20. Vgl. dazu zuletzt Schatz und Schicksal. Steirische Landesausstellung 1996 Teil
24
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
63
wie Maria Lanzendorf angeblich auf den Kampf Karls des Großen gegen die Hunnen und Mariabrunn auf die Vertreibung der Türken durch Maximilian I. verwies. Das Gebet Leopolds in Mariazell, vor allem aber das in Passau, wo der Wallfahrtsort Maria-Hilf 25 sein Ziel war, wurden von der religiösen Habsburger-Mythologie als ebenso wichtig angesehen wie der eigentliche Kampf um Wien. Gerade der Passauer Marienkult um das Cranachsche Maria-Hilf-Bild geht auch auf eine habsburgische Wurzel zurück, denn das Originalbild von Lucas Cranach dem Älteren aus dem Jahre 1517 war als Geschenk des Kurfürsten Johann Georg von Sachsen an den Bischof von Passau, Erzherzog Leopold, gekommen. 1618 wurde in Passau eine Kopie des Bildes angefertigt. Als der Passauer Bischof Erzherzog Leopold 1619 Landesfürst in Tirol wurde, nahm er das Originalbild nach Innsbruck mit, wo es zunächst in der Hofkapelle, dann in der St. Jakobs-Pfarrkirche, dem heutigen Dom, aufgestellt und nochmals
kultbildend
wirkte.
So
existieren
Nachbildungen
in
verschiedenen Tiroler Orten, darunter in Gries im Ötztal, Strengen, Brixlegg, St. Jakob im Defreggen, Brixen und Lana. Die Passauer Kopie, die nach wunderbaren Lichterscheinungen in das
Kapuzinerkloster
und
die
Wallfahrtskirche
am
Mariahilfberg
(errichtet 1624-1627) übertragen wurde, wo Leopold 1683 davor betete, wurde ebenfalls kopiert und wirkte somit in den österreichischen Raum hinein. In einer ganzen Reihe von ober- und niederösterreichischen Orten werden Kopien des Passauer Bildes verehrt. Besonders erfolgreich war dieser Kult in Wien, wo es neben der Mariahilf-Kirche, nach der ein ganzer Bezirk benannt ist, noch zahlreiche Kopien des Bildes gab. So waren die Kopien in den Wiener Pfarren St. Laurenz, St. Stephan, St. Peter, in der Ursulinenkirche, in St. Johannes und St. Joseph in der Mariazell, Graz 1996 mit weiterführender Literatur. 25 Vgl. dazu zuletzt Karl Vocelka, Die Donau als W.allfahrtsstraße. In: Die Donau. Facetten eines europäischen Stromes. Katalog zur oberösterreichischen Landesausstellung 1994 in Engelhartszell. Linz 1994, S. 260-264 mit weiterführender
64
Karl Vocelka
Leopoldstadt, in St. Florian im 5. Bezirk, in der Mechitaristenkirche im 7. Bezirk und der Trinitarier- oder Minoritenkirche im 8. Bezirk und in der
Hernalser
18. Jahrhundert.
Pfarrkirche
Ziel
lokaler
Besonders
verehrt
wurde
Verehrung die
Kopie
seit
dem
in
der
Mariahilferkirche. Im Jahre 1683 mußte das vom Barnabiten Joanelli 1660 für eine Kapelle in Mariahilf gestiftete Bild in die Michaeierkirche gerettet
werden,
da
beim
Anmarsch
der
Türken
die
Vorstädte
niedergebrannt wurden. Nach der Türkenbelagerung wurde dann statt der niedergebrannten Kapelle eine Kirche errichtet. Gerade die zweite Wiener Türkenbelagerung
zeigt, wie die
einzelnen Varianten habsburgischer Frömmigkeit, die verschiedenen bevorzugten
Marienorte
und
Marienbilder
zu
einer
Einheit
zusammengefügt wurden, wobei Maria-Hilf und Mariazell eine ähnliche Rolle wie Loreto spielten. Die marianische Frömmigkeit des Kaiserhauses erreichte ihren Gipfelpunkt sicher darin, daß die Herrscher das ganze Land unter den Schutz Mariens stellten. Ferdinand II. war während seines Studiums in Ingolstadt gemeinsam mit Herzog (später Kurfürst) Maximilian von Bayern - beeinflußt von den Jesuiten - Mitglied der marianischen Sodalität, also einer Vereinigung, die sich der Marienverehrung widmete, geworden. Er und Maximilian unterzeichneten sogar mit ihrem Blut ein Weihedokument an die Madonna von Altötting. Die von Maximilian ausgestellte Pergamenturkunde befand sich im Gnadenbild-Tabernakel und trug die Inschrift: „In mancipium tuum me tibi dedico consacroque, Virgo Maria,
hoc
teste
cruore atque
Chyrographo
Maximilianeus
peccatorum corypheus" (Dir gebe ich mich ganz zu eigen und weihe mich Dir, Jungfrau Maria. Dies bekräftige ich mit meinem Blut
und
eigenhändig. Maximilian, der größte der Sünder). Das in Bayern gelegene Altötting Literatur.
spielte lange Zeit
als Reichswallfahrtsort
auch für die
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
65
Habsburger eine ganz wichtige Rolle, auf den Reisen ins Reich besuchten sie diesen Ort, insbesondere vor und nach Krönungen. 26 Der bayerische Herzog Maximilian I. machte Maria zur Patrona Bavariae,
zur
Schutzherrin
seines
Landes
nach
dem
lauretanischen Litanei „sub tuum praesidium confugimus"
Text
der
(unter Deinen
Schutz flüchten wir). Die Habsburger Ferdinand II. und III. haben ihre Länder ebenfalls unter den Schutz Mariens gestellt, haben allerdings diese Idee nicht direkt aus Bayern importiert. Sie stammt vielmehr ebenfalls aus der Wurzel einer stark jesuitisch beeinflußten Frömmigkeit. Die große politische Bedeutung des Marienkultes für Ferdinand II. kann man bereits seinem Versprechen in Loreto, Innerösterreich zu rekatholisieren, entnehmen. Auch später hat er sich in Mariazell, in dessen Namen eine Analogie zur Casa Santa steckt, zur Vertreibung der „Ketzer" aus
Böhmen
verpflichtet.
Mariazell
gewann
damit
eine
zentrale
Bedeutung für die habsburgische pietas Mariana und löste Altötting allmählich als wichtigsten Wallfahrtsort der Dynastie ab. Am 22. Juni 1621 etwa, als die Anführer des böhmischen Aufstandes hingerichtet wurden, begab sich Ferdinand II. nach Mariazell um zu beten. Folgende Stellungnahme von ihm ist überliefert: „heute werden meine Herren zu Prag (so nannte er die Rebellenführer) einen der kläglichsten Tage haben; allein, wie hart laß ich geschehen, was dennoch geschehen muß, und ist unter anderem dies die Hauptursache meiner dermaligen Wallfahrt zur heiligen Zelle, damit ich jenen, deren ich sonst nicht schonen darf, wenigstens durch mein Gebet zu Hilfe eile. Kann ich sie ferner nicht leben lassen, so will ich doch nach dem Beispiel des Erlösers für meine Feinde bitten, daß sie glücklich sterben."27 26
Robert Bauer, Die bayerische Wallfahrt Altötting. München 1970, sowie Ludwig Hüttl, Marianische Wallfahrten im süddeutsch-österreichischen Raum. Analysen von der Reformations- bis zur Aufklärungsepoche. Köln-Wien 1985, die unzähligen Arbeiten von Rudolf Kriss und auch Lenz Kriss Rettenbeck, Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. München 1963. 27 Pokorny dementia Austriaca 354.
66
Karl Vocelka In der Auseinandersetzung des Dreißigjährigen Krieges betrachtete
Ferdinand II. Maria als „seine Generalissima" und als „das oberst Kriegshaupt", Madonnenbilder schmückten die Fahnen der Heere der Liga und des Kaisers. Ferdinand III. schließlich entschloß sich, „das gantze Land under den schütz, schirm undt patrocinium glorwürdigster Jungfrauen Mariae zu devocieren undt einzuverleiben, wie auch zu mehrerer befürderung der Ehre und Veneration der glorwürdigsten Mutter Gottes alhie in der Statt alß wie zu München auf einem platz ein Saul oder Statuam mit Unser Lieben Frauen Biltnus aufrichten zu lassen, damit darbey zu gewissen Zeiten Litaniam undt andere andachten gehalten werden."28 Die Mariensäule am Platz am Hof hat in dieser politischen Verbindung des Sieges gegen die „Ketzer" und der Marienverehrung ihren Ursprung. Am 18. März 1647 weihte Ferdinand sich, seine Kinder, Völker, Heere und Provinzen in einem feierlichen Akt Gott und der Jungfrau Maria, und auch Leopold I. nahm nach der Krönung in einer feierlichen Zeremonie in Altötting das Land von Maria zum Lehen. Später
erfolgte dann
die ausschließliche
Verlagerung
dieser
religiösen und staatlichen Akte nach Mariazell. Schon früher hatte die Magna Mater Austriae für die Dynastie eine Rolle gespielt. Als Pilger nach Mariazell im 16. Jahrhundert sind z.B. die Erzherzogin und Exkönigin Elisabeth von Frankreich oder Karl von Innerösterreich belegt. Nach seinem Sieg über die Türken bei Stuhlweissenburg stiftete Erzherzog Matthias, der spätere Kaiser, eine goldene Krone für das Mariazeller Gnadenbild. Doch erst in der Barockzeit wurde Mariazell zum wichtigsten Wallfahrtsort der Dynastie. Dort wurde 1665 der Dank für den Sieg gegen die Türken bei Mogersdorf/St.Gotthard abgestattet und Kaiser Leopold I. pilgerte selbst siebenmal nach Mariazell. Auch er unterstellte seine Länder 1676 dem Schutz Mariens: „Ich will die allerheiligste jungfrau Maria im kriege zu meiner befehlshaberin und bey 28
Coreth Pietas Austriaca 55.
Monarchia Austriaca, Gloria Domus
67
friedenstractaten zur gevollmachtigten machen" 29 , war seine Begründung für diesen Schritt. Die
zentrale
Rolle
in
der
Staatsideologie
spielte
also
der
Katholizismus, aus dem die Habsburger ihre Herrschaft begründeten. Der Kampf gegen die „Ketzer und die Ungläubigen", dessen Erfolge 1620 und 1683 kulminierten, werden damit begründet. Die unmittelbare Folge der Schlacht auf dem Weißen Berg war aber nicht nur die Rekatholisierung Böhmens und in der Folge der habsburgischen Länder mit Ausnahme Ungarns, sondern auch die Durchsetzung einer Spielart des Absolutismus, den man als „konfessionellen Absolutismus" bezeichnet und der ein Spezifikum der Habsburgermonarchie darstellt. Diese Vorstellung der Gegenreformation setzte man auch der Herausforderung Frankreichs gegenüber.
Die
Frömmigkeit,
die
Bescheidenheit,
die
„höhere"
moralische Wertigkeit des Wiener Hofes wird neben dem Glanz des Kaisertums, das im 17. Jahrhundert trotz aller Einschränkungen durch die Wahlkapitulationen immer
eine
und besonders den Westfälischen Frieden große
Bedeutung
hatte,
Grundlage
noch des
Überlegenheitsgefühles der Habsburger. Die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat bei der Sozialdisziplinierung im 17. Jahrhundert bezweckte ebenso die Internalisierung der katholischen Mikronormen wie die Schaffung eines devoten Untertanenverbandes und war beachtlich erfolgreich. 30 Diese staatliche Ideologie des 17. Jahrhunderts wirkt - wenn auch abgeschwächt durch Entwicklungen seit der Aufklärung - bis heute nach. Das Bewußtsein, „Untertan" des Staates zu sein und die Reste barocker Katholizität sind aus der gegenwärtigen Situation Österreichs noch nicht verschwunden.
29
Coreth Pietas Austriaca 60. Vgl. zur Diskussion dieses Begriffes Karl Vocelka, Überlegungen zum Phänomen der „Sozialdisziplinierung" in der Habsburgermonarchie. In: Daniela Erlach / Markus Reisenleitner / Karl Vocelka (Hg.), Privatisierung der Triebe? Sexualität in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main etc. 1994, S. 31-45 =Frühneuzeit-Studien 1. 30
Eduard Maur (Prag)
Die wirtschaftliche, soziale und demographische Entwicklung Böhmens 1648-1740
Obwohl der Dreißigjährige Krieg einen massiven Eingriff in die sozioökonomische Sphäre darstellte, kann man die Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der böhmischen Länder im Verlauf des 17. Jahrhundert nicht ausschließlich auf seine Folgen zurückführen. Der Krieg vertiefte in mancherlei Hinsicht nur Tendenzen, die schon am Ende der vorhergehenden Epoche entstanden waren und durch die politischen Ereignisse nach dem Jahre 1620 lediglich verstärkt wurden. Die
katastrophalen Folgen
des
Krieges
1618-1648
für
die
wirtschafliche, soziale, aber auch politische und kulturelle Entwicklung Böhmens stehen außer Zweifel. Eine der bedeutendsten Folgen der langjährigen Kriegsereignisse war die Verwüstung des Landes, die sich vor allemim ersten böhmischen Kataster, der Steuerrola aus den Jahren 16531656, widerspiegelt. Die Katasterangaben zeigen, daß die Gegenden entlang den Landstraßen und die fruchtbaren Gebiete in der Landesmitte, wo die Armee ihre Winterquartiere suchte, am härtesten betroffen waren. Auf der Herrschaft Brandis nad Labem nicht weit von Prag waren im Jahre 1651 15 Dörfer von 39 ganz unbewohnt, und 54% aller Bauernhöfe waren verfallen.1 Obwohl gleich nach dem Friedensschluß ein Teil der geflohenen Bevölkerung zurückkehrte, war zu Beginn der 50er Jahre in den 1
Otto Placht, Lidnatosta spoleCenskä skladba Ceskeho stätu ν 16.-18. stoleti. Praha 1957, S. 81, S. 98. Eduard Maur, PopulaCni vyvoj öesk^ch komornich panstvi po välce tficetilete. In: Acta Universitatis Carolinae - Phifosophica et Historica 3(1972) S. 28-29. Ferner auch Arnoät Klima, Agrarian class structure and economic development in preindustrialBohemia. In: Past+Present 85(1979) S. 49-67.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 königlichen Städten mit Ausnahme Prags ungefähr ein Drittel der Häuser wüst, in den obrigkeitlichen Städten mehr als ein Viertel, in den Dörfern etwas weniger. 2 Dies bedeutete jedoch nicht, daß der zu den verödeten Bauernhöfen gehörige Boden überhaupt nicht bebaut wurde. Auf einigen Wüstungen lebten Herbergsleute, ein Teil der Felder wurde „auf die dritte Mandel" von den anderen Untertanen genützt. Die Zahl der öden Stellen war aber so hoch, daß ihre Wiederbesiedlung bis in die achtziger Jahre andauerte.3 Neben der Verwüstung des Landes wirkten sich auch die Verarmung und Verschuldung der Bevölkerung, besonders die hohen Schulden der königlichen Städte, mit denen sich die Regierung mehr als ein Jahrhundert vergeblich befaßte, negativ auf die Nachkriegsökonomie aus. Da die Konfiskationen
nach
dem
Weißen
Berg
die
Staatsschulden
nicht
verminderten, wurde in der Folgezeit ein großer Teil der Einnahmen aus den böhmischen Ländern für deren Tilgung verwendet. Dazu kam noch der Abfluß des baren Geldes und der Edelmetalle während des Krieges und die Staatssteuern, die vor allem die Untertanen und Bürger in den königlichen Städten schwer belasteten. 4 Noch ernstere Folgen hatte die Entvölkerung des flachen Landes im Laufe des Krieges, die vor allem durch die hohe Sterblichkeit, aber auch durch eine massive Emigration verursacht wurde. Die Kriegsverluste werden allgemein auf ein Viertel, höchstens auf ein Drittel der Population geschätzt, in manchen Gegenden waren sie aber erheblich höher. Es ist vor 2
O. Placht, Lidnatost (wie Anm. 1) S. 81. Gustav Hofmann, Populace Cech na sklonku 17. stoleti. In: Sbornik archivnich praci 41(1991)2, S. 434. E. Maur, Populaönf vyvoj (wie Anm. 1) S. 72-75. Siehe auch Tabelle 3
4
Fridolin Machäiek, Κ hospodäfskemu stavu ieskych mdst venkovskych po välce tficetilete. In: Ceskou minulosti (Festschrift V. Novotny). Praha 1929, S. 271-285. Jaroslav Novotny, Zdanini ieskych möst podle katastrü ζ r. 1654-1757. Praha 1929. Jan Klepl, Krälovskamösta ieskäpoiätkem 18. stol. In: Cesky iasopis historicky 38(1932) S. 260-284,489-521; 39(1933) S. 57-71. Vaclav Peääk, Obecni dluhy krälovskych, vinnych a hornichmis t ν Cechäch, zvläStö Stareho Mösta praiskeho po tficetilete välce. In: Sbornik
70
Eduard Maur
allem deshalb
schwierig,
die kriegsbedingten
ΒevölkerungsVerluste
Böhmens genauer zu bestimmen, weil die Bevölkerungszahl für die Zeit vor dem Krieg nur sehr approximativ geschätzt werden kann. Alle Versuche, die Einwohnerzahl der Böhmischen Länder im 16. Jahrhundert zu bestimmen, haben wegen der unzureichenden Quellenlage bislang zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt. Die Steuerregister, die seit 1567 kontinuierlich die Zahlen der Besitzer untertäniger Höfe auf den einzelnen Herrschaften verzeichnen, sind sehr unverlässlich. Zudem stellt sich noch die Frage nach dem Quotienten, mit dem man diese Zahlen hochrechnen soll, um zu einer realistischen Schätzung der Gesamtbevölkerung zu gelangen. Unter tschechischen Historikern herrscht jetzt die
allgemeine
Überzeugung, daß die alte Annahme von drei bis vier Millionen Bewohner Böhmens vor 1618, die in der Literatur von B. Balbinus bis W.W. Tomek wiederholt
wurde,
übertrieben
ist.
Heutige
Schätzungen
der
Vorkriegspopulation Böhmens bewegen sich zwischen 1,250.000 und 2,000.000 (Josef Janäöek: 1,250.000 - 1,350.000, Alois Mika: 1,500.000, Otto PI acht: 1,700.000, Josef Peträft: fast 2,000.000, Vaclav Davidek: ungefähr 2,000.000). Neulich ist Gustav Hofmann nach einer gründlichen Analyse
zur
Zahl
1,400.000
gekommen.
Diese
entspricht
einer
2
Bevölkerungsdichte von 29 Einwohner/km , die mit den Verhältnissen in den anderen mitteleuropäischen Ländern gut übereinstimmt. 5 Es gibt Indizien dafür, daß eine ungünstige Wendung in der Bevölkerungsentwicklung sich schon vor dem Krieg, an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert abzeichnete. Nach den Steuerregistern wuchs die Zahl der untertänigen Häuser in Böhmen von 1567 bis 1596 fast um 20.000, im Laufe der folgenden 20 Jahre sank sie jedoch um mehr als pfispSvkü kdöjinämhl. mösta Prahy 7(1933) S. 311-466. 5 Eduard Maur, PopulaCni düsledky tficetiletevälky. In: Historickä demografie 12(1987) S. 142-144. G. Hofmann, Populace (wie Anm. 3) S. 434.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 12.000. Ο. Placht interpretierte diesen Rückgang der Untertanenstellen als Beweis für einen Bevölkerungsrückgang, der durch den Verfall des Bergwesens im Erzgebirge, durch die Pestepidemien und die Hungersnöte der
rudolphinischen
Zeit,
die
Kriegsereignisse
am
Beginn
des
17. Jahrhunderts und die Bauernflucht infolge der hohen Steuern und Roboten bewirkt worden sein soll. Josef Peträft führte dagegen die Abnahme der Kontribuenten ausschließlich auf die Verschlechterung ihrer Evidenzhaltung zurück.6 Die
neuesten
Forschungen,
die
sich
vor
allem
auf
die
Kirchenmatriken stützen, legen jedoch ebenfalls die Annahme nahe, daß sich die demographische Lage in den ersten Jahrzehnten des
17.
Jahrhunderts verschlechterte. Die Daten über die Sterblichkeit zeigen, daß die Verluste während der Epidemien zwischen 1598 und 1613 nicht geringer waren als die Verluste während der großen Epidemien in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Auf einigen Herrschaften hörte man Klagen über die Abnahme der Inleutezahl, die die obrigkeitliche Wirtschaft bedrohte. Diese Angaben sind aber so lückenhaft, daß sie es nicht gestatten, eindeutige Aussagen zu treffen.7 Niemand bezweifelt die großen Bevölkerungsverluste während des Krieges 1618-1648. Die direkten Verluste infolge der Kriegsereignisse (z.B. die Massaker in Pisek 1620 oder in Nymburk 1634) konnten die Bevölkerungsbilanz Böhmens insgesamt nicht allzu stark beeinflussen. Wichtiger war die religiöse Emigration, besonders aus den Herrschaften in der Nähe der Landesgrenzen. Versuche, die Gesamtzahl der Emigranten zu schätzen, führten aber bisher nicht zu befriedigenden Ergebnissen.8
6
O. Placht, Lidnatost (wie Anm. 1) S. 39. Josef Peträft, Poddany lid ν Cechäch na prahu tficetiletevälky. Praha 1964, 163 S. 'LudmilaFialovä, Κ vyvojiobyvatelstvapfirozenoumönou ν deskych zemich ν 17. a 18. stoleti. In: Historie kä demografie 18(1994) S. 145-146. 'Eduard Winter, Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1955, S. 35 ff.
72
Eduard Maur Neben der Emigration kam es im Laufe des Krieges auch zu
massiven
Wanderbewegungen
der
Bevölkerung
im
Rahmen
des
Königreichs infolge der Flucht aus den am schwersten betroffenen Gegenden in Gebiete, die verschont geblieben waren, etwa aus dem Elbetal in die Gegend am Säzava-Fluß. Diese Bewegungen hatten gemeinsam mit
den
gewaltigen
Heeresaktionen
die
äußerst
unregelmäßige
Populationsdichte in den verschiedenen Gegenden des Landes in der Nachkriegszeit und - daran anschließend - weitere Migrationen sowie Änderungen der ethnischen Grenzen zur Folge. 9 Die größten Verluste brachten wahrscheinlich die Epidemien und die Hungersnot während des Krieges mit sich, vor allem vier Pestepidemien in den Jahren 1624-1626, 1631-1635, 1639-1640 und 1648-1649, die alle durch Soldaten aus den Nachbarländern nach Böhmen
eingeschleppt
wurden. Bisher nicht allzu zahlreiche Samples zeigen, daß die Zahl der Todesfälle in der Zeit zwischen 1613 und 1649 die Zahl der Geburten einmal in vier Jahren überstieg, während in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine solche Situation nur ausnahmsweise, während des Pestjahres 1680, eintrat. 10 Im Laufe des Krieges sank vermutlich auch die Natalität, obwohl wir diesbezüglich
keine
genauen
Daten
zur
Verfügung
haben."
Das
Verzeichnis der Bevölkerung nach dem Glauben aus dem Jahre 1651 weist eine relativ geringe Zahl von Personen in der Altersgruppe von 10-25 Jahren auf, und auch die Kinder bis 5 Jahre sind hier weniger zahlreich vertreten als die Kinder von 5 bis 9 Jahren. Das könnte unsere Hypothese bestätigen, obwohl die Angaben des Verzeichnisses nicht immer verläßlich
9
0 . Placht, Lidnatost (wie Anm. 1) S. 73-74, 88. E. Maur, PopulaCni vyvoj (wie Anm. 1) S. 25-26. 10 E. Maur, Ibidem, S. 23-24. L. Fialovä, Κ vyvoji (wie Anm. 7) S. 146. 11 E.A. Wrigley - R.S. Schofield, The Population-History of England 1541-1871. Cambridge 1981, S. 417-430.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740
13
sind und uns dies zur Vorsicht zwingt.12. Man kann in Analogie zu ähnlichen Situationen annehmen, daß der Rückgang bei der unseßhaften Bevölkerung (Herbergsleute, Gesinde, Gesellen) wesentlich größer als bei den Seßhaften war. G. Hofmann meint, daß die Bevölkerungszahl Böhmens vor dem Kriege ebenso hoch war wie am Ende des 17. Jahrhunderts, als wiederum alle Bauernwirtschaften besetzt waren. Die Bevölkerungsverluste hätten demnach fast 30% betragen - eine durchaus realistische Annahme.13 Zu größerer Gewißheit kann man nur durch weitere, auf den Kirchenmatriken basierende Forschungen gelangen. Die bisher nicht sehr zahlreichen Sonden zeigen, daß die jährlichen Taufzahlen das aus der Vorkriegszeit bekannte Niveau erst wieder in der Mitte des 18. Jahrhunderts erreichten. Diese Sonden stammen aber vor allem aus den königlichen Städten, deren Wachstum in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gering war und mit Verspätung einsetzte.14 Auch wenn wir die Schätzung von Hoffman übernehmen, bleibt der Dreißigjährige Krieg ein schwerer Einbruch, dessen
demographische
Folgen frühestens nach einem fünfzig Jahre andauernden, ständigen Wachstum der Bevölkerung überwunden wurden. Schwerwiegend ist auch die Tatsache, daß die Kriegsfolgen das Land nicht überall in gleichem Ausmaß betrafen. Die größte Zahl der Wüstungen befand sich in der fruchtbaren Landesmitte, wo die Armeen beider Seiten ständig lagerten, während die Berggegenden mit einem Übergewicht an deutscher Bevölkerung eher verschont blieben. Deswegen verschob sich nach dem Kriege die ethnische Grenze rasch zugunsten der deutschen
Eduard Maur, Problemy demograficke struktury Cech ν ροΐονίηέ 17. stoleti. In: Ceskoslovensky Casopis historicky 19(1971) S. 859-860. Siehe auch Marcus Cerman, Bohemiaafter the Thirty Years War: Some Theses on Population Structure, Marriage and Family. In: Journal of Family History 19(1994) 2, S. 149-175. 13 G. Hofmann, Populace (wie Anm. 3) S. 434. 14 L. Fialovä, Κ v^voji(wie Anm. 7) S. 150.
74
Eduard Maur
Bevölkerung und stabilisierte sich erst im 18. Jahrhundert wieder.15 Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Bevölkerungsverluste - der Rückgang der Renteneinkommen und der Nachfrage sowie der Mangel an Arbeitskräften - bedingten nach dem Krieg neue ökonomische Strategien der Obrigkeiten. Vor allem in den fruchtbaren Gegenden, wo es gute Voraussetzungen
für eine weitere Entwicklung
der
obrigkeitlichen
Meierhöfe gab, hatte dies weitreichende Konsequenzen. Alle diese negativen Erscheinungen, die ihre Paralellen auch in den Nachbarländern hatten, mit denen Böhmen in engem wirtschaftlichem Kontakt stand, verursachten im Verein mit der gesamteuropäischen Entwicklung eine Nachkriegsdepression, die nach dem Jahr 1650 begann und bis in die achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts andauerte. Sie war durch den Mangel an Kapital und durch die verminderte Nachfrage nach Agrarprodukten gekennzeichnet, hat aber auch Teile der gewerblichen Produktion, etwa das Eisenhüttenwesen, betroffen. Die negativen Folgen der niedrigen Getreidepreise, die ihren tiefsten Stand in den siebziger und achtziger Jahren erreichten, wurden Arbeitskosten verschärft.
noch durch die relativ hohen
16
Die sinkenden Agrarpreise verminderten die Realeinkommen vor allem derjeniger Produzenten, die für den Markt produzierten und eine größere Zahl von Lohnarbeitern beschäftigten. Die Obrigkeiten waren davon ebenso betroffen wie die größeren Bauern oder die Ackerbürger in den Städten. Während die Untertanen dagegen wehrlos waren, reagierten die böhmischen Grundherrn auf die Einkommensverluste mit der Nutzung aller außerökonomischen Mittel, die ihnen das Feudalsystem an die Hand gab. Gerade in der Nachkriegszeit nahm 15
der
böhmische
feudale
Alois Mika, Κ närodnostnim pomdrüm ν Cechäch po tficetilete välce. In: Ceskoslovensky iasopis historicky 209(1972) S. 207-233. 16 Eduard Maur, Geneze a specificke rysy öeskeho pozdnö feudälniho velkostatku. In: Acta Universitatis Carolinae - Philosophica et Historica 1(1976) S. 244-246. Arnoät Klima, Agrarian class (wie Anm. 1) S. 49ff.
Die En twicklung Böhmens 1648-1740 Großgrundbesitz, für den vor dem Kriege vor allem der Einsatz von Lohnarbeit
charakteristisch
war,
eine
neue,
durch
Fronarbeit
gekennzeichnete Gestalt an und näherte sich so den Verhältnissen in den anderen Ländern Ostmitteleuropas an. Die unbezahlte Robot hat die Ausgaben der obrigkeitlichen Eigenwirtschaft so weit vermindert, daß man das aus der Vorkriegszeit stammende, hochentwickelte System
der
obrigkeitlichen Eigenbetriebe nicht nur erhalten, sondern sogar ausweiten konnte.17 Neben der unbezahlten Robot nutzte die Obrigkeit in dieser Zeit auch noch andere Vorteile, etwa die Zwangsabnahme obrigkeitlicher Produkte, vor allem des Biers, durch die Untertanen und die Steuerfreiheit der obrigkeitlichen Betriebe. Die Ausweitung der obrigkeitlichen Ökonomie wurde unter anderem dadurch ermöglicht, daß dem Adel eine große Menge verödeter Gründe zur Verfügung stand, die infolge des Kaduzitätsrechts oder
durch
die Beschlagnahme der Erbansprüche
der
Untertanen bzw. Untertanenkinder an sie „gefallen" waren.
entflohenen 18
Daneben
boten sich der Aristokratie in dieser Zeit auch die Güter des niedergehenden Kleinadels zum billigen Kauf an, und auch diese Gelegenheit wurde von den adeligen Gutsherren gut genützt.19 Die Zahl und die Ausdehnung der obrigkeitlichen Meierhöfe nahm bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu. Diese Entwicklung setzte sich auch während und vermehrt nach dem Kriege fort. Daß die neuen Meierhöfe nicht nur dazu gegründet wurden, um das verödete Land zu bebauen, sondern vor allem auch der Einkommenssteigerung der Obrigkeiten dienten, ergibt sich aus der Tatsache, daß in dieser Zeit zu
17
E. Maur, Geneze (siehe Anm. 16) S. 243-248. Eduard Maur, Pfispdvek k vyvoji poddanskeho purkrechtu ν pobSlohorskem obdobi. In: Vödecke präce ZemSdilskeho muzea 14(1974) S. 54. 19 Siehe z.B. Rudolf Anddl, Hospodäfskä situace drobnych SIechticJcych statkü na 0eskolu2ickempomeziv XVII. stoleti.In:SbornikPedagogickefakulty ν Usti nad Labern, fadadöjepisnä, 1971, S. 61-134. Josef Pekaf, Kniha o'Kosti. Praha 1970, S. 199-203. 18
76
Eduard Maur
Arrondierungszwecken auch die Felder bewirtschafteter Bauernhöfe von der Obrigkeit - wenn auch gegen Entgelt - beschlagnahmt wurden. Einige jüngere Arbeiten zeigen, daß die Zunahme der Meierhöfe in der Nachkriegszeit nicht so groß war, wie man ursprünglich annahm, sondern daß es sich um die Fortsetzung eines Prozesses handelt, der in die Vorkriegszeit zurückreicht. Mancherorts stieg die Zahl der Meierhöfe im Rahmen einer Herrschaft nur durch die Eingliederung der Güter des Kleinadels an, wodurch die Gesamtfläche der Meierhofwirtschaften konstant blieb. Auf einigen Herrschaften, besonders in der fruchtbaren Landesmitte, war aber der Prozeß der Neuerrichtung von Meierhöfen sehr ausgeprägt. Auf
anderen
Herrschaften, wo
es
keine vorteilhaften
Absatzmöglichkeiten gab, stagnierte dagegen Zahl und Ausdehnung der Meierhöfe auf dem Niveau der Zeit vor dem Weißen Berg. Insgesamt war die Vermehrung und Ausweitung der Meierhöfe im Rahmen des ganzen Landes bedeutend, sodaß aufgrund der gleichzeitigen Verminderung der Untertanenzahl und der Ersetzung der Lohnarbeit durch die Robot notwendigerweise eine Erhöhung der Frondienste resultierte.20 Die Diskussionen unter den böhmischen Herren zu Beginn des 17. Jahrhunderts zeigen, daß es schon damals Bemühungen gab, die Robot stark zu erhöhen. Solche Bestrebungen konnten sich aber zu dieser Zeit noch
nicht
durchsetzen,
da
die
reine Robotökonomie
unter
den
Bedingungen des guten Absatzes, der hohen Preise und des ausreichenden Angebots an Arbeitskräften als wenig rentabel angesehen wurde. Zu einer ernsten Robotsteigerung kam es während des Krieges wegen des Mangels an lebendem und totem Inventar sowie an Arbeitskräften. Für mehrere Obrigkeiten war dies ursprünglich nur eine zeitbedingte Notlösung. Während der Nachkriegsdepression, bis etwa 1680, setzte sich jedoch die neue, auf der Robot der Untertanen basierende obrigkeitliche Ökonomie
20
E. Maur, Geneze (wie Anm. 16) S. 239-243.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 fast allgemein durch. Zwischen den Herrschaften des einheimischen und des „fremden" Adels gab es diesbezüglich keinen grundsätzlichen Unterschied, die geographisch
bedingten Unterschiede waren
aber
beträchtlich?' Die Lohnarbeit ist nach 1648 aus der obrigkeitlichen Ökonomie nicht verschwunden.
Sie
hatte
einen
meist
zwanghaften
Charakter
(Gesindezwangsdienst), in beschränktem Maß gab es aber auch freie Lohnarbeiter auf den Meierhöfen und in anderen obrigkeitlichen Betrieben (Beschäftigung von Tagelöhnern aus den Berggegenden während der Erntezeit, Arbeit in den Weinbergen, qualifizierte Arbeitskräfte in den obrigkeitlichen Manufakturen usw.).22 Hohe
Frondienste bedeuteten eine
vermehrte Belastung
der
Untertanen mit der primitivsten und schwersten Form der Feudalrente. Sie begünstigte die obrigkeitliche Eigenwirtschaft im Wettbewerb mit den Untertanen und Bürgern, indem sie ihre Produktions- und Transportkosten reduzierte. Somit war es ihr möglich, sich auch angesichts niedriger Agrarpreise auszudehnen und die Konkurrenten vom Markt zu verdrängen. Der Getreidemarkt, der vor dem Weißen Berg hauptsächlich von den Untertanen beherrscht wurde, öffnete sich jetzt dem Adel und anderen Obrigkeiten, die auch andere Waren in größerem Umfang als früher lieferten.23 Aufgrund
des
Umstiegs
auf
die
Robot
sank
zwar
die
landwirtschaftliche Produktivität der dominikalen Betriebe, dies wurde aber durch die verringerten Produktionskosten ausgeglichen. Die Obrigkeit drang in dieser Zeit verstärkt auch in verschiedene Gewerbezweige ein und
2
'Ibidem,242. EduardMaur, Cesky'komorni velkostatek ν 17. stoleti. Pnspövek k otäzce „druheho nevolnictvf' ν deskych zemich. Praha 1976, S. 87 ff. =Acta Universitatis Carolinae- PhilosophicaetHistorica, Monographie 59. "Eduard Maur, Cesky komorni velkostatek (wie Anm. 21) S. 110 ff. 23 Eduard Maur, Geneze (wie Anm. 16) S. 246.
78
Eduard Maur
intensivierte ihre Aktivitäten nicht nur im Brau- und Brennwesen, sondern auch in anderen Industrien wie etwa der Eisenverhüttung.24 Im letztgenannten Produktionszweig wurde die Dominanz der Obrigkeiten bereits durch die Einführung der wallonischen Hochöfen in der rudolphinischen Zeit verstärkt, da die neue Produktionstechnik große Kapitalien erforderte. Nicht zufälligerweise entstanden neue Hochöfen in der
zweiten
Hälfte
des
17.
Jahrhunderts
fast
ausschließlich
in
obrigkeitlichen Betrieben. Die Robot wurde auch in den Eisenhütten als Mittel zur Kostensenkung eingesetzt, allerdings nur bei Bauarbeiten, beim Transport und bei den Hilfsarbeiten. So konnte eine Herrschaft beim Bau eines Hochofens in der Zeit um 1700 durch die Anwendung der Robot ungefähr ein Drittel der Baukosten einsparen.25 Solche
und
andere Vorteile,
wie
die Nutzung
der
großen
obrigkeitlichen Wälder, ermöglichten es den adeligen Unternehmern, im Konkurrenzkampf mit den frühkapitalistischen Unternehmern aus den Reihen der Hammermeister den Sieg davonzutragen. Im Unterschied zu Sachsen oder zur Oberpfalz ist diese Gruppe selbständiger, nichtadeliger Unternehmer im böhmischen Eisenhüttenwesen - ebenso wie in Polen gänzlich verschwunden.26 Wie die Wirtschaftsrechnungen zeigen, war der Reinertrag der grundherrlichen Eigenbetriebe in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts um ein Mehrfaches höher als die Einkommen der Obrigkeiten aus Geld- oder Naturairenten. Im Rahmen der obrigkeitlichen Ökonomie zählten die
24
ArnoSt Klima,ManufakturniobdobivCechäch.Praha 1955, S. 212 ff. Eduard Maur, Κ otäzce technickeho pokroku ν öeskem ielezäfstvi ν 17. stoleti. In: Rozpravy Närodniho technickehomuzea νPraze73(1979). Zd6jin hutnictvi5, S. 47-48. 26 Gustav Hofmann, Vyrobni vztahy ν öeskem ielezäfstvi do poloviny 17. stoleti. Praha 1974, S. 42 ff. Radomir Pleiner—Jan Kofan—Matuä Kuöera—Jozef Vozär, Ddjiny hutnictvi 2eleza ν Ceskoslovensku. 1 - Od nejstaräich dob do prümyslove revoluce. Praha 1984, S. 150-153. Gustav Hofmann, Komorni £elezarny na Podbrdsku. In: Rozpravy Närodniho technickeho muzea ν Praze 34(1968) S. 62. Miloä Kreps, Zelezäfstvi na Zd'ärsku. Brno 1970, S. 83. 25
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 Brauereien zu den einträglichsten Betrieben.27 Deswegen war für die Obrigkeit der Dominikalmarkt, dessen Kapazität von der Zahl und vom Wohlstand der Untertanen abhängig war, von großer Bedeutung. Es vergrößerte sich aber auch die obrigkeitliche Produktion für entferntere Märkte, für die Getreide, Wolle, Schlachtvieh und Milchprodukte erzeugt wurden. Eine kleinere Zahl der Obrigkeiten bezog aufgrund spezifischer geographischer Umstände den größten Teil ihrer Einkommen nicht aus den Brauereien, sondern aus der Teich- oder Waldwirtschaft oder aus der Industrieproduktion. 28 Aufgrund dieser Veränderungen der obrigkeitlichen Ökonomie, aber auch der politischen Dreißigjährigen Krieges
Ereignisse nach 1620 brachte die Zeit des und
der
Nachkriegsdepression
auch
eine
wesentliche Verschlechterung der sozialrechtlichen Lage der untertänigen Bevölkerung Böhmens mit sich. In dieser Zeit verbreitete sich unter den Feudalherrn fast allgemein die Überzeugung, daß die böhmischen Bauern leibeigen seien. Die Bezeichnung „Leibeigene" für die böhmischen Bauern, vor 1620 nur ausnahmsweise benützt, wurde jetzt allgemein üblich. Als tschechisches Äquivalent wird für dieses Wort der Terminus „£lov6öenstvi" benutzt, der ursprünglich eine ganz andere Bedeutung (hommagium) hatte.29 Im 17. Jahrhundert setzte sich die Überzeugung durch, daß die Obrigkeit berechtigt sei, die Lasten der Untertanen ganz willkürlich zu erhöhen. Gerade während des Dreißigjährigen Krieges und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden die Roboten nach den Bedürfnissen
27
E. Maur, Cesky komorni velkostatek (wie Anm. 21) S. 73-85, S. 139-147. O. Placht, Lidnatost (wie Anm. 1) S. 238-239. Für die Mitte des 18. Jahrhunderts siehe Josef Pekaf, Ceske katastry 1654-1789 se zvläStnim zretelem k dSjinäm hospodäfskym a ustavnim. 1. Aufl. Praha 1915, S. 264. 28 Siehe z.B. Eduard Maur, Cesky? komorni velkostatek a trh ν druhe ροΐονίηέ 17. stoleti. In: Sbornik historickj? 22(1974) S. 53-114. 29 JifiMikulec,Poddanskä otäzkavbaroknich Cechäch. Praha 1993, S. 59-70.
80 der
Eduard Maur obrigkeitlichen Ökonomie
erhöht.
Während
diese
vor
dem
Dreißigjährigen Krieg nur ein paar Tage jährlich ausmachten, waren sie im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts auf 2-3 Tage wöchentlich angestiegen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verbreitete sich auch ein kompliziertes System obrigkeitlicher Produktions- und Marktmonopole, in dem das Bierschankmonopol die zentrale Stelle einnahm.
Weiters
verschlechterte sich nach dem Jahr 1618 auch das Besitz- und Erbrecht der Untertanen an ihren Liegenschaften. In einigen Kreisen Mittel- und Südböhmens verbreitete sich das lassitische Besitzrecht (die sogenannten „uneingekauften" Bauern), wenn auch die Güter mit Erbrecht weiterhin überwogen.30 Aufgrund der Entvölkerung des Landes verschärfte sich
im
17. Jahrhundert auch die obrigkeitliche Kontrolle der Mobilität der Untertanen. Der obrigkeitliche Ehekonsensus fand in dieser Zeit allgemeine Verbreitung.
Einige
gewaltsamen
Mitteln
Haftstrafen. Bereits
in
31
Obrigkeiten zur
zwangen
die
Bauernkinder
Eheschließung, bisweilen
sogar
mit
mittels
Streng kontrollierte die Obrigkeit auch die Berufswahl. der
Vorkriegszeit
waren
die
sogenannten
„Hofjahre"
(Gesindezwangsdienst) der Untertanenkinder üblich geworden, später auch der obrigkeitliche Konsensus zum Erlernen eines Handwerks oder zum Studium, damit auch die
Stellung
der
Untertanenkinder
in
der
obrigkeitlichen Kanzlei, die urspünglich nur die Waisen betraf. Bei solchen Stellungen rekrutierten die Wirtschaftsbeamten das notwendige Gesinde für die Meierhöfe und erst danach bewilligten (oder befahlen) sie den übrigen Bauernkindern, bei Bauern oder in die Städte in Dienst zu gehen. 30 E. Maur, Pnspövek (wie Anm. 18) S. 51-61. Josef Tlapäk, Κ nökterym otäzkäm poddanske nezäkupni driby ν Cechäch ν 16.-18. stoleti. In: Prävnöhistoricke Studie 19(1975) S. 177-209. In diesem Aufsatz faßt der Verfasser Ergebnisse seiner präzisen Teilstudien zusammen. 31 Kamil Krofta, Döjiny selskeho stavu. 2. Aufl. Praha 1949, S. 207-208. Eduard Maur, Κ demografick^m aspektüm tzv.druheho nevolnictvi. In: Historickä demografie 8(1983) S.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 Die Zeit nach 1620 brachte auch eine Verschlechterung der bäuerlichen Selbstverwaltung. Die Rolle der Dorfrichter als Repräsentanten der Dorfgemeinde wurde beschränkt, ihre repressive Rolle verstärkert. Die Bauern wurden zur Ausübung der neuen, bis dahin ungewöhnlichen Pflichten durch ein System harter Strafen gezwungen, die von Geldbußen über Haftstrafen und Zwangsarbeit bis zu unmenschlichen Prügelstrafen reichten und manchmal mit dem Tod des Untertanen endete. In der Praxis der Ausübung der obrigkeitlichen Gewalt gab es selbstverständlich auf den einzelnen Herrschaften große Unterschiede. Die Leibeigenschaft war nicht nur für Dorfbewohner, sondern auch für einen Teil der kleineren Agrarstädte charakteristisch. Die größeren untertänigen Städte, die sogenannten „Schutzstädte" konnten dagegen wichtige
wirtschaftliche und
politische Privilegien
bewahren,
ihre
Bewohner wurden als freie Leute angesehen. Die Verschärfung der Untertänigkeit hat sie nur wenig betroffen (am härtesten noch die Beschränkung des Braurechts), sie wurden
im Gegenteil von
den
Obrigkeiten als Märkte und Zentren der handwerklichen Produktion gefördert. Damit vertiefte sich auch der soziale Unterschied zwischen den Dorfuntertanen und den Bürgern im Rahmen derselben Herrschaft. Das spiegelte sich sehr deutlich in der Reaktion der Bewohner der untertänigen Städte auf die sozialen Bewegungen der Bauern wider. Während in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Städte sehr oft eine führende Rolle in diesen Bewegungen spielten, verschwand nach dem Dreißigjährigen Krieg ihre Teilnahme an solchen Bewegungen fast zur Gänze.32 Die rasche Entwicklung der obrigkeitlichen Eigenwirtschaft im 16. Jahrhundert wurde zwar auch von einigen Verschlechterungen der Lage der
32
Untertanen
begleitet
(Mühlzwang,
Monopol
im
Brauwesen,
JosefPeträn, Poddany lid (wie Anm. 6) S. 287-289. Eduard Maur, Protifeudälni hnuti ν deskych zemich od prvniho robotniho patentu do nästu'pu Marie Terezie. In: Spoleienske vödy ve äkole 40(1983-84) S. 202-204.
82
Eduard Maur
Gesindezwangsdienst), stützte sich aber nicht auf die Robot, sondern auf Lohnarbeit, die nur mit kleinen Roboten (z.B. bei der Ernte) ergänzt wurde. Besonders das Preisniveau war in Böhmen im 16. Jahrhundert so günstig, daß es für die obrigkeitliche Ökonomie vorteilhafter war, die produktivere Lohnarbeit der Robot vorzuziehen. Dazu kamen noch die - im Vergleich zu Polen - schlechteren Bedingungen für den Transport des Getreides auf westeuropäische
Märkte.
Dies
bedingte
eine
Abhängigkeit
der
obrigkeitlichen Ökonomie vom lokalen Markt und damit von der Kaufkraft der eigenen Untertanen. Die Diskussion über die Einführung höherer Roboten auf den Kammergütern um 1614 zeigte aber, daß eine derartige Organisation der obrigkeitlichen Eigenwirtschaft nicht unabänderlich war. Es ist charakteristisch, daß gegen den Vorschlag, das obrigkeitliche Zugvieh in den Meierhöfen abzuschaffen und durch die Robot der Untertaten zu ersetzen, nicht mit der rechtlichen Unzulässigkeit eines solchen Vorgehens, sondern vor allem mit seiner geringen ökonomischen Effizienz argumentiert wurde. Eine derartige Rationalität konnte unter veränderten Rahmenbedingungen auch zu ganz anderen Strategien führen. In der neuen ökonomischen Situation nach dem Dreißigjährigen Krieg hatten die protokapitalistischen Tendenzen (J. Cechura)33 im Rahmen der obrigkeitlichen Ökonomie eine immer geringer werdende Bedeutung. Damit verschlechterte sich auch die rechtliche Lage der Untertanen, die jetzt fast allgemein als Leibeigenschaft interpretiert wurde.
Neben
ökonomischen Anlässen wurde diese Entwicklung auch durch
den die
politischen Änderungen nach dem Jahre 1620 beschleunigt, vor allem durch die Unterbrechung der Kontinuität im Besitz der Herrschaften und der Bauerngründe und durch die Theorie vom Verfall aller Rechte und Privilegien in Böhmen infolge der „schrecklichen Rebellion" der Jahre
33
Jaroslav Cechura, Die Guts Wirtschaft des Adels in Böhmen in der Epoche vor der Schlacht am Weissen Berg. In: Bohemia 36(1995) S. 11-13.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 1618-1620.34 Im Vergleich mit den
rein
agrarischen Ländern
Osteuropas
zeichneten sich aber die Argarverhältnisse in Böhmen auch im 17. Jahrhundert durch einige Besonderheiten aus. Die Beschlagnahme des Bauernbodens und dadurch auch die Ansprüche auf die Arbeitskraft der Untertanen hatten hier nie Ausmaße wie etwa in Norddeutschland erreicht, weil in Böhmen die großen Herrschaften überwogen, die Güter des Kleinadels rasch verschwanden und die Voraussetzungen für eine massenhafte Getreideausfuhr nach Westeuropa fehlten. Die Orientierung auf den dominikalen Markt zwang die Feudalherren, die Kapazität der Untertanen als Verbraucher weiterhin zu berücksichtigen. Die Existenz eines
dichten
Städtenetzes
Orientierung der
und
die
überwiegend
„Berggegenden" hemmten
die
nichtagrarische
Bemühungen
der
Großgrundbesitzer um die vollständige Beherrschung der Marktsphäre und des Angebots an freien Arbeitskräften. In den protoindustriellen Gebieten zielten die Obrigkeiten mehr auf die Realisierung von Einkommen aus verschiedenen Renten, mit denen die gewerbliche Produktion
der
Untertanen belastet wurde, oder aus eigener Manufakturproduktion ab, sodaß sich hier die landwirtschaftliche Robotökonomie weniger stark entwickelte.35 Dem raschen Aufbau der obrigkeitlichen Eigenwirtschaft steht eine schleppende Regeneration der bäuerlichen Ökonomie gegenüber, die mit hohen Frondiensten, schweren Staatssteuern und dem gehemmten Absatz der Agrarprodukte zu kämpfen hatte. Die schwierige Lage der Untertanen wird u. a. durch die lange Existenz der Kriegswüstungen auf dem Lande bezeugt. Obwohl die Obrigkeiten den Untertanen bei der Besetzung der 34
Milan Smerda, Ceäi a Uhry po tficetilete välce (Kpolitice leopoldovskeho absolutismu ν poddanske otäzce). In: Casopis Matice moravske 98(1979) S. 279 ff. Eduard Maur, Poddanskä politika pobdlohorskeho absolutismu ν Cechäch. In: Acta Universitatis Carolinae- Philosophica et Historica 3(1989) S. 20. 35 AleS Chalupa, Venkovske obyvatelstvo ν Cechäch ν tereziänskych katastrech (1700-
84
Eduard Maur
wüsten Höfe wirksame Hilfestellung gewährten - neue Wirte wurden für 3 Jahre von der Kontribution und für 2-3 Jahre von den Grundzinsen und Frondiensten befreit, sie bekamen kostenlos Bauholz, manchmal auch Saatgut, sie kauften ihre Gründe von der Obrigkeit zu sehr niedrigen Preisen und zahlten in Raten. Dennoch machte die Wiederbesetzung der verödeten Bauerngüter nur langsam Fortschritte. Die Mehrheit
der
Wüstungen wurde zwar während der fünfziger und sechziger Jahre besetzt, ein Teil ist aber bis zum Ende der siebziger Jahre und machmal auch noch länger ohne Wirt geblieben. Die Bauernflucht, die in den 70er und 80er Jahren ihren Höhepunkt erreichte, zog neue Verödungen nach sich, ebenso die Pestepidemie 1680.36 Bei der Besetzung der Wüstungen wagte die Obrigkeit nicht, Gewalt anzuwenden, was aber nur dazu beitrug, daß die Bauern wieder entflohen. Auf die Bemühungen der Obrigkeiten, die öden Stellen um jeden Preis wieder zu besetzen, weist auch die Tatsache hin, daß auf mehreren Herrschaften junge Bauernsöhne, die bei den Eltern lebten, unter Androhung hoher Geldstrafen oder Arrest gezwungen wurden, zu heiraten und eine Bauern Wirtschaft zu übernehmen.37 Auch die niedrigen Preise der Bauern wirtschaften und die neue Weise ihres Einkaufs belegen die schwierige ökonomische Lage der Untertanen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Während des Dreißigjährigen Krieges sind die Preise der Bauernhöfe tief gesunken, was teilweise die allgemeine Preisentwicklung, teilweise die Verschlechterung ihres physischen Zustandes widerspiegelt. Die Preise der seit langer Zeit verödeten Bauernhöfe erreichten ihr niedrigstes Niveau in den siebziger
1750). In: SbornikNärodniho Muzea ν Praze, A 23(1969) S. 79 ff. E. Maur, PopulaCni vyvoj (wie Anm. 1) S. 72-75. Eduard Maur, Poddani tocnickeho panstvi ν druhe ροΐονίηέ 17. stoleti. In: Sbornik archivnich praci 15(1965)1, S. 281-283. Miroslav Toegel, Zbihäni poddanych na pardubickem panstvi ν druhe polovinö 17. stoleti. In: Sbornik historicky 7(1960) S. 191-226. 37 E. Maur, Κ demografickym aspektüm (wie Anm. 31) S. 29-31. 36
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 und achtziger Jahren, während die Preise der prosperierenden Wirtschaften in dieser Zeit bereits langsam anstiegen. Erst in den 90er Jahren zogen die Preise allgemein an, um im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts wieder das Vorkriegsniveau zu erreichen.38 Neben dem Preisverfall begegnen wir in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch einer neuen Praxis bei der Tilgung des Kaufpreises. Die Raten waren niedriger geworden und das Angeld war geringer, sodaß die Tilgung des Gesamtpreises länger dauerte als vor dem Kriege. Infolgedessen wurde praktisch kein Bauerhof in der Zeit bis
zur
nächstfolgenden Übergabe ausgezahlt. Es wurden daher die Schulden des vorhergehenden Wirtes auf den neuen Besitzer übertragen. Im
16.
Jahrhundert war es dagegen üblich, daß ein Bauer während der Zeit seiner Bewirtschaftung eines Hofes diesen völlig abzahlte.39 Die hohe Verschuldung der Bauern und die Tatsache, daß manche von ihnen mehrere Jahre nach dem Kriegsende nur einen Teil ihrer Felder primär für ihren eigenen Bedarf bebauten und häufig einen Nebenerwerb in nichtagrarischen Produktionszweigen suchten, verweisen ebenfalls auf die großen Schwierigkeiten der bäuerlichen Ökonomie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 40 Neue Impulse für eine positive Entwicklung der Agrarproduktion kamen vor allem aus dem nichtagrarischen Sektor. Diese Impulse gingen aber nicht von den Städten aus, vor allem nicht von den königlichen Städten, sondern von denjenigen Regionen, in denen sich der Prozeß der Protoindustrialisierung rasch durchsetzte. Die Städte waren durch den Krieg noch stärker in Mitleidenschaft gezogen worden als die Dörfer. Besonders schwierig war die Lage der königlichen Städte, die im Zuge der Konfiskationen einen Großteil der
38
E. Maur, Poddani(wie Anm. 36) S. 284-285. J. Tlapäk, Κ nSkterymotäzkäm (wie Anm. 30) S. 180 ff. 40 E. Maur, Poddani (wie Anm. 36) S. 70. 39
86
Eduard Maur
ihnen untertänigen Dörfer verloren hatten und mit den großen, während des Krieges angehäuften Schulden zu kämpfen hatten.41 Zudem wurden sie auch höher besteuert als die obrigkeitlichen Städte, das galt vor allem für den einträglichsten Zweig der städtischen Ökonomie, das Brauwesen.42 Weil das städtische Handwerk vor allem für den Binnenmarkt produzierte, hatte es infolge der Entvölkerung und Verarmung des Landes mit Absatzproblemen zu kämpfen. Nur einige wenige Gewerbezweige, etwa die Fleischer, die sich an der Viehausfuhr beteiligten, oder
die
Textilgewerbe, die für überregionale Märkte produzierten, befanden sich in einer besseren Lage. Obwohl die Wirtschaft in den königlichen Städten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht gänzlich stagnierte43 reichten die positiven Tendenzen lediglich dazu aus, die Kriegsschäden zu beheben. Manche königliche Städte hatten auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre Bevölkerungszahl aus der Zeit vor 1618 nicht wieder erreicht. Wesentlich rascher wuchsen die obrigkeitlichen Städte, die von den Obrigkeiten
als
wirtschaftliche Mittelpunkte
ihrer
Dominien,
als
Produktions- und Handelszentren des sich entwickelnden Textilgewerbes und anderer ländlicher Hausindustrien gefördert wurden. Nach dem Krieg setzte sich in den Randgebieten Böhmens die rasche Entwicklung der Protoindustrie, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts begonnnen hatte, fort. Vor allem die Leinenerzeugung ist hier zu nennen. Sie war
von
ausländischem Kapital abhängig und größtenteils auf den Export orientiert. Die Tuchproduktion war dagegen in den Städten konzentriert.44 Sie
41
Siehe oben Anm. 4. F. Gabriel, Pivovarnictvi ν zäpadnich Cechäch do poCätku 18. stoleti. In: Minulosti ZäpadoCeskehokraje 7 (1969) S. 135-173. 43 Optimistischer als die älteren Geschichtsschreiber sieht die wirtschaftliche Lage der königlichen Städte nach dem 30jährigen Krieg Adolf Zeman, Plzeft ν polovind XVIII. stoleti. Plzeft 1946. 44 A. Klima, Manufaktumi obdobi (wie Anm. 24) S. 127 ff. 42
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 reagierte rasch auf den Aufschwung der Schafzucht in den verwüsteten Landstrichen und die Bedürfnisse der Heeresversorgung. Während des Krieges entwickelte sich auch die böhmische Eisenindustrie, die auf den Kriegsbedarf ausgerichtet wurde. In der Nachkriegszeit war sie aber ebenso wie die Agrarproduktion in eine schwere Krise geraten, die bis in die 80er Jahre
andauerte.45
Glaserzeugung,
46
Rasch
entwickelte sich
dagegen
die
böhmische
die aber, genauso wie die Eisenproduktion, ihre Basis
nicht in den Städten, sondern auf dem Lande hatte. Die Protoindustrialisierung Böhmens begann in der Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Eindringen des süddeutschen, später auch niederländischen und englischen Handelskapitals in die nordböhmische Leinenspinnerei und Leinenweberei? 7 Während die Spinnerei sich auf dem Lande schnell verbreitete, blieb die Weberei zunächst vor allem ein städtisches Gewerbe. Im nordböhmischen Raum entwickelte sich rasch das Kauf- und
Verlagssystem, dessen Organisator vor dem Dreißigjährigen
Krieg hauptsächlich das ausländische Kapital war, das über Faktoreien in der Lausitz und in Schlesien nach Böhmen eingedrungen war. Die fremden Firmen stützten sich auf die bestehenden Zechorganisationen, indem sie mit diesen Lieferverträge über bestimmte Mengen Leinwand abschlossen. Die Zechorganisationen
verwandelten
sich
so
in
ein
Instrument
der
Handelsfirmen, die sich dadurch die Lieferung von qualitativ hochwertiger Leinwand sicherten. Die Leinenweberei war noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts überwiegend ein städtisches Handwerk. Ausgehend von den traditionellen Zentren breitete sie sich in den zahlreichen größeren und
45
kleineren
Siehe oben Anm. 26. A. Klima, Manufakturni obdobf (wie Anm. 24) S. 153-161. Siehe auch Arnoät Klima, Economy, Industry and Society in Bohemiain the 17th-18th Centuries. Praha 1991, S. 8598. 47 Die ältere, größtenteils deutsche Literatur wurde von A. Klima in seinem Werk Manufakturni oodobi (wie Anm. 24) S. 127-152, zusammengefaßt. 46
88
Eduard Maur
obrigkeitlichen Städten Nord- und Ostböhmens aus, deren Bevölkerung wesentlich schneller wuchs als die der Dörfer in ihrer Umgebung - unter anderem auch deshalb, weil in diesen Städten im Unterschied zu den Dörfern die Teilung der Liegenschaften nicht untersagt worden war.48 In der
Umgebung
von
Trutnov/Trautenau
und
Rumburk/Rumburg, Broumov/Braunau
Liberec/Reichenberg, verbreitete
sich
die
Leinenweberei nach dem Dreißigjährigen Krieg auch auf dem Land. Die Landweber waren hier zum Teil in die städtische Zunftorganisation inkorporiert, in einigen Gegenden (Klosterherrschaft Broumov/Braunau) gab es auch eine selbständige Zunftorganisation der Dorfweber. 49 Die Hauptform, durch die die Dorfbevölkerung massiv in die Leinenerzeugung einbezogen wurde, war jedoch die Spinnerei. Das von den Dorfspinnern erzeugte Garn wurde von lokalen Faktoren, meist reichen Bauern, Wirten, Fuhrleuten oder Juden, aufgekauft.50 Auch die Obrigkeiten waren bestrebt, aus der Entwicklung der Leinenproduktion Gewinn zu schlagen, indem sie den Anbau von Flachs auf den Meierhöfen forcierten, die Spinnrobot einführten,51 das Verlagssystem förderten und das Spinnen, das Weben und den Handel mit Textilprodukten mit verschiedenen Abgaben belasteten. Sie bauten Bleichen und Färbereien, schlossen auch Lieferverträge mit ausländischen Firmen ab oder handelten selbst mit Leinwand und Garn. Kapitalistische Verhältnisse setzten sich eher in Produktionszweigen durch, die sich von Anfang an außerhalb korporativer Organisationsformen entwickelten, vor allem in der Glaserzeugung. In den siebziger Jahren des 48
E. Maur, Poddani (wie Anm. 36) S. 292-293. E.Maur, Populaönf v^voj (wie Anm. 1) S. 75. 49 Jaroslav Cechura, Broumovsko 17. stoleti- neznämä kapitola evropske protoindustrie. In: Historick^ obzor 6(1995) S. 225-226. 50 Karel Novotny, Κ problematicevytväfeni manufakturniho dölnictvav öeskych zemich. In: Ceskoslovensk^ Casopis historickj? 25(1977) S. 385-391. 51 Eduard Maur, ZemdiJölskä vyroba na nobölohorskem komornim velkostatku ν Cechäch. Prameny a Studie 33. Ustav vldeckotecnnickych informaci pro zemöddlstvi- Zem6dälske
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 17. Jahrhunderts gelang die Weiterentwicklung des böhmischen Glases zum böhmischen Kristall, das nach 1700 die europäischen Märkte eroberte. Im Unterschied zur Eisenerzeugung gab
es
in
der
Glasindustrie
selbständige Glasmeister, denen die Mehrheit der Glashütten gehörte. In obrigkeitlicher Regie betriebene Glashütten, etwa die Spiegelfabrik des Grafen
Kinsky
in
Sloup/Bürgstein,
waren
hingegen
eine
seltene
Erscheinung. Die größten Hütten beschäftigten im 18. Jahrhundert 40-50 Arbeiter. Im Unterschied zur Eisen- oder Textilproduktion war in der Glasproduktion die erste Produktionsphase in der Manufaktur zentralisiert, während die Glasveredelung in Heimarbeit erfolgte. Allein auf den Herrschaften Ceskä Kamenice/Böhmisch Kamnitz und Sloup/Bürgstein waren nach 1700 etwa 100 Glasschneider tätig.52 Eine
typische
Eisenerzeugung,
die
obrigkeitliche sich
im
17.
Industrie und
war
18.
hingegen
Jahrhundert
die rasch
weiterentwickelte. Sie arbeitete überwiegend für den Binnenmarkt, nur spezielle Erzeugnisse, insbesondere Bleche, wurden in größeren Mengen exportiert.
Die
Eisenverarbeitung
erfolgte
in
hausindustriellen
Organisationsformen (z.B. Zweckschmiede, Löffelerzeugung). 53 Auch die ersten Textilmanufakturen entstanden überwiegend als
obrigkeitliche
Betriebe, wobei die Produktion von Wolltuch und Strümpfen den Anfang machten. Die
älteste Textilmanufaktur in Böhmen wurde im Jahre 1684
von den Jesuiten in Sobgchleby/Sobochleben bei Bohosudov/Mariaschein im Erzgebirge gegründet,54 die Zweitälteste etwa zur selben Zeit von Wolf Maxmilian Lamminger von Albenreuth in Kdyn6/Neugedein.55 Unter den ersten Manufakturgründern waren auch die Grafen Löwenstein, Waldstein, muzeum. Praha 1990, S. 38-40. 52 Siehe oben Anm. 46. 53 R. Pleineru. a.: D6jiny (wie Anm. 26) S. 147-150. 54 Karel Novotny, Jesuitskä manufaktura ν SobSchlebech ν 80tych letech 17. stoleti. In: Zäpisky katedry deskoslovenskychdäjin a archivnihostudia (1965) 1, S. 42-45. 55 Gustav Hofmann, Ζ poöätkü textilni manufaktury ν Nove Kdyni. In: Minulosti
90
Eduard Maur
Gallas und die Klöster in Broumov/Braunau und Osek/Osseg, aber auch einige bürgerliche Unternehmer wie J. B. Fremrich, die sich aber schwer durchsetzten.56 In Südwestböhmen arbeiteten hunderte Spinner für die Linzer Manufaktur." Die Gutsbesitzer konnten in das Manufakturwesen die in anderen Wirtschaftszweigen akkumulierten Mittel investieren, sie verfügten über billige Rohstoffe, Wasserkraft und die Möglichkeit, Arbeitskräfte durch außerökonomischen
Zwang
zu
mobilisieren,
also
wesentliche
Konkurrenzvorteile gegenüber den bürgerlichen Manufakturisten. Die Manufakturen
von
kapitalistischen
Adeligen
kombinierten
Betriebssystems
mit
Charakterzüge
feudalen
Formen
des der
Arbeitsorganisation. Teilweise wurde Fronarbeit eingesetzt, die Mehrheit der Arbeiter erhielt zwar Lohn, war aber nicht persönlich frei (daher die Umsiedlung von Manufakturarbeitern aus einer Herrschaft auf eine andere derselben Obrigkeit, die Rayonisierung der Spinner usw).58 Das
rasche
Bevölkerungswachstum
in
Böhmen
nach
dem
Westfälischen Frieden und dem Abzug der schwedischen Armee endete nicht
mit
der
Überwindung
der
Kriegsschäden
am
Ende
des
17. Jahrhunderts, sondern dauerte in vermindertem Tempo auch danach weiterhin an. Die äußeren Bedingungen für diesen Wachstumsprozeß waren günstig. Das Land erlebte ein Jahrhundert lang keinen Krieg mehr, lange Zeit nach dem Kriege gab es noch Bodenreserven für den Aufbau neuer Bauerngüter. Die Pestepidemien waren seltener geworden, in den Jahren 1713-1715 suchte die Pest Böhmen zum letzten Mal heim. Die Protoindustrialisierung schuf neue Voraussetzungen für eine intensivere Kolonisation der Berggegenden und für ein Wachstum der bereits
Zäpadoieskehokraje 7(1970) S. 123-134. 56 A. Klima, Economy (wie Anm. 46) S. 117-134. 57 A. Klima, Manufakturni (wie Anm. 24) S. 380. 58 K. Novotnj?, Κ problematice(wie Anm. 50) S. 385 ff.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 bestehenden Siedlungen in den Grenzgebieten. Die Bevölkerungszunahme in den protoindustriellen Gebieten und in den Städten erhöhte wiederum die Nachfrage nach dem Getreide aus den fruchtbaren Agrargebieten. 59 Neben der spontanen Kolonisation, die durch den Mangel an Boden in
den
bestehenden
Dörfern
und
durch
die
Eröffnung
neuer
Erwerbsmöglichkeiten angetrieben wurde, begegnen wir in dieser Zeit auch Kolonisationsaktionen, zu denen die Untertanen von ihrer Obrigkeit gezwungen wurden. 60 Die Bewohner der neuen Dörfer lebten von der Spinnerei, von der Leinwandweberei, in Westböhmen auch von der Wollbearbeitung und der Strumpfstrickerei, von der Waldarbeit, von der Erzeugung von Holzgeräten; sie arbeiteten in den Textilmanufakturen, in den Glas- und Eisenhütten. In einigen ehemaligen Gerichtsbezirken wie z.B. Volary/Wallern, Tanvald/Tannwald, Rokytnice nad Jizerou/Rochlitz an der Iser, Lipovä/Hainspach, MarSov/Marschendorf oder Vejprty/Weipert machten die nach dem Jahre 1654 gegründeten Dörfer mehr als die Hälfte der dortigen Siedlungen aus, fast die Hälfte stellten sie in den ehemaligen Gerichtsbezirken Schluckenau,
Rumburk/Rumburg,
Horni
horäch/Rokitnitz?
Blatnä/Platten
Varnsdorf/Warnsdorf, und
Rokytnice
ν
Sluknov/ Orlickych
1
Obwohl die Einwanderung zu diesem Bevölkerungszuwachs wenig beitrug, kann man sie nicht ganz übergehen. Kolonisten aus den deutschen Nachbarländern, jetzt natürlich nur mehr solche katholischen Glaubens, beteiligten sich an der Besiedlung des Grenzwaldes, besonders
59
im
Josef Kfivka, Populaini vyvoj mSlnickehopanstvi ν letech 1693-1749. In: Historickä demografie 1(1967) S. 7-17. 60 Siehe z.B. Eduard Maur, Zaloieni vesnice Kniikovice. In: Vlastivödny sbornik Podbrdska 2(1968) S. 185-186. 61 Vladimir Smilauer, Osidleni Cech ve svdtle mistnich imen. Praha 1960, S. 203-274. Josef Kfivka, Nove osady vznikle na uzemiCechv letech 1654-1854. Praha 1978. Josef Kfivka, Podfl novych osad vzniklych ν letech 1654-1848 na celkove populaci Cech na sklonkufeudalismu. In: Historickä demografie 12(1987) S. 177-186.
92
Eduard Maur
Böhmerwald.62 Die städtische Bevölkerung wurde dann und wann durch die Einwanderung fremder Kaufleute und Handwerker ergänzt (in Pilsen im 18. Jahrhundert etwa durch Kaufleute aus Tirol),63 was die Tendenz zur Germanisierung der städtischen Oberschicht förderte. In den Jahren 16481658 kamen große Gruppen jüdischer Exulanten aus Polen, Litauen und Weißrußland, wo in dieser Zeit die Judenverfolgung einen Höhepunkt erlebte, nach Böhmen und Mähren; nach 1670 wanderten zahlreiche aus Wien vertriebene Juden vor allem nach Südmähren ein.64 Die jüdische Bevölkerung lebte überwiegend in den Städten, aber seit dem 17. Jahrhundert siedelten sich immer mehr Juden unter dem Schutz der Obrigkeiten auch auf dem Land an, wie zahlreiche jüdische Friedhöfe belegen. Die rasche Zunahme der Juden und ihre intensive ökonomische Tätigkeit
erzeugten
insbesondere
in
den
Städten
antisemitische
Stimmungen, es kam in einigen königlichen Städten wie
Hradec
Krälove/Königgrätz oder Kadan/Kaaden zu Judenvertreibungen. Auch der numerus clausus für Judenfamilien, der im Jahre 1726 von Karl VI. angeordnet wurde, konnte die Zunahme der jüdischen Bevölkerung nicht bremsen.65
Eine ganz
außerordentliche Stellung
hatte
die
Prager
Judengemeinde. Die 11617 Bewohner des Prager Ghettos, die sich in 314 Häusern zusammendrängten, stellten im Jahre 1702 ungefähr ein Viertel der Prager Bevölkerung und ungefähr die Hälfte der Juden im Lande. Auf
62
Josaf Hanzal, Demografickepomöry ν Sumavske oblasti 2. pol. 17. s ροό. 18. stol. In: Historickä demografie 2(1968) S. 9-16. Heinrich Rubner, En Foret de Boheme: Immigration et Emigration 1500-1960. In: Annales de demographie historique (1970) S. 135-142. 63 Miloslav BSlohlävek (Red.), Döjiny Ρίζηέ, I. Plzen 1965, S. 147. 64 Helmut Teufel, Die Aufnahme der niederösterreichischen Juden in Mähren nach der Vertreibung von 1670/71. In: T. Winkelbauer (Hg.): Kontakte und Konflikte. Böhmen, Mähren und Osterreich: Aspekte eines Jahrtausends gemeinsamer Geschichte. HornWaidhofen an der Thaya 1993, S. 231 ff. Siehe auch TomäS P6kny, Historie Zidü ν Cechäch a na Morav6. Praha 1993, S. 93 ff. und Anna M. Drabek, Die Juden in den böhmischen Ländern zur Zeit des landesfürstlichen Absolutismus. In: Die Juden in den böhmischen Ländern. München-Wien 1983, S. 123-143. "TomääPeknj?, Historie (wie Anm. 64) S. 70.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 die weiteren königlichen Städte kamen nur 6%, während 43% der jüdischen Bevölkerung in obrigkeitlichen Städten und in den Dörfern lebten.66 Nach der ersten Konskription im Jahre 1754 stellten die Juden 1,5% der Gesamtbevölkerung Böhmens. 67 Die religiös motivierte Emigration aus Böhmen hat in dieser Zeit ihren
Massencharakter
verloren.
Sie
erreichte nur
mehr
in
den
Grenzgebieten und während der preußischen Okkupation in den Jahren 1741-1742, als infolge der Agitation über tausend Menschen Ostböhmen verließen, größere Ausmaße. 68 Das
anhaltende Bevölkerungswachstum
war
vor
allem
eine
Konsequenz des günstigen Verhältnisses zwischen Natalität und Mortalität. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war in Böhmen die Zahl der Todesfälle ständig etwa um 40% niedriger als die Zahl der Geburten. Auch wenn wir von einer Unterregistrierung der Sterbefälle ausgehen, beweisen doch die stetig ansteigenden Geburtenziffern ein starkes Bevölkerungswachstum. Die Kurve weist zwar für einige Jahre Einbrüche auf, aber die Tendenz ist insgesamt eindeutig steigend. Um 1650 wurden in den
böhmischen
Ländern jährlich an die 80 000 Kinder geboren, in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts bis zu 150 000. Man kann also davon ausgehen, daß die Bevölkerungszahl in derselben Zeit im gleichen Tempo wuchs, d.h. die Bevölkerung sich in dieser Zeitspanne etwa verdoppelte. Stärkere Schwankungen wies in dieser Zeit die Sterblichkeit auf. Im Vergleich mit der Periode vor 1650 wurden aber die demographischen Krisen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts seltener. Wenn wir von den bisherigen Matrikenstudien ausgehen, zeigt sich, daß zwischen 1650
66
Eduard Maur-Dagmar Piäovä, Söitäni konzumentü soli ν Cechäch roku 1702. Edice pramene.In:Historickädemografie 18(1964) S. 7-67, besonders 66. "Vaclav Sekera(Ed.), ObyvatelstvoCesky'ch zemiv letech 1754-1918, Τ. I., 1754-1865. Praha 1978, S. 47. 68 Edita Stdfikovä, Ceskä emigracedo Pruskeho Slezska ν 18. stoleti. In: Slezsktf sbornik 66(1968) S. 60-71.
94
Eduard Maur
und 1800 die Zahl der Todesfälle nur in 11 Jahren die Zahl der Geburten übertraf. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wies nur das Pestjahr 1680 eine negative natürliche Bevölkerungsbilanz auf. Insgesamt nahm die böhmische Bevölkerung in dieser Zeit jährlich durchschnittlich um 1,5% zu. Dieses Wachstum verlangsamte sich um 1713-1715, kam aber nicht zum Stillstand. Demographische Krisen traten wieder häufiger auf. Trotz unterschiedlicher Entwicklungstendezen in den einzelnen Teilregionen war aber auch das 18. Jahrhundert eine Zeit des Bevölkerungswachstums. Wenn im Jahr 1651 die Bevölkerung in Böhmen ca. 1,000.000 betrug, dann war sie 1692 etwa 1,4 - 1,5 Millionen, um 1700 ca. 1,6 Millionen und 1754 2 Millionen. 69 Wenn wir kleinere lokale Epidemien außer acht lassen, gab es in Böhmen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nur eine einzige größere demographische Krise infolge der Pest in den Jahren 1679 und 1680. Die amtlichen Dokumente erwähnen für Prag 12.000 Todesfälle, etwa ein Drittel der gesamten Prager Einwohnerschaft. Auch Mittelböhmen war stark betroffen, vor allem Gebiete in der Nähe der Hauptstraßen, während die Berggegenden verschont blieben. 70 Einen Anstieg der Mortalität lassen die Matriken in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch für einige Mißernten in den Jahren 1677, 1684, 1692-96 erkennen, die Höhe der Sterbeziffern rechtfertigt aber nicht, für diese Jahre von demographischen Krisen zu sprechen. 71 Das Land war noch fähig, seine Bewohner zu ernähren, und die Versorgungssituation wurde erst im 18. Jahrhundert wieder zu einem ernsten Problem. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in den Jahren 1713-1715, erlebten 69
L. Fialovä, Κ vyvoji(wie Anm. 7) S. 146 ff. Eliäka Cänovä, Mor ν Cechäch ν roce 1680. In: Sbornik archivnich praci 31(1981) S. 265-331. 71 Eduard Maur - Pavla Horskä, Poznämky k otäzce studia dlouhodobych populaCnich
70
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 die böhmischen Länder die letzte Pestepidemie ihrer Geschichte. Für die erhöhte Sterblichkeit der folgenden Jahre war nicht mehr die Pasteurella pestis verantwortlich. Die demographische Krise der Jahre 1719-21 mit ihrem Gipfel im Jahr 1720 wurde durch die Hungersnot und eine unbestimmte Epidemie, vielleicht Typhus, verursacht. Hungersnot herrschte auch in den Jahren 1736-37 nach einer Mißernte in einer Zeit, als Böhmen unter großen Feldzügen und erhöhten Steuern zu leiden hatte. Die Epidemien
und
Hungersnöte
wiederholten
sich
während
des
Österreichischen Erbfolgekrieges und des Siebenjährigen Krieges: In den Jahren 1742, 1747, 1758, 1762 und 1763 war die Mortalität erheblich höher als die Natalität.72 Die Verlangsamung des Bevölkerungswachstums im 18. Jahrhundert kann nicht ausschließlich durch die Zunahme von
Epidemien und
Hungersnöten erklärt werden. Sie war auch eine Folge der zunehmenden sozialen Differenzierung. Für den böhmischen feudalen Großgrundbesitz wie auch für den Staat war es von Vorteil, die Zahl der solventen Bauernhöfe nicht zu vermindern. Mit Ausnahme einiger Berggegenden, wo es nur wenige Meierhöfe gab und wo sich auch andere Nahrungsquellen neben der Landwirtschaft anboten, wurden in Böhmen die Bauerngründe nur ausnahmsweise geteilt, obwohl
die Bevölkerung rasch
wuchs.
Infolgedessen hat sich hier nicht nur eine relativ starke Bauernschicht erhalten, sondern es bildete sich auch eine breite Schicht von Landlosen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellte die landlose Bevölkerung in den protoindustriellen Gegenden ungefähr die Hälfte bis zwei Drittel der Gesamtbevölkerung, in den fruchtbaren Agrargebieten etwa die Hälfte, während
sie
im
konservativeren
Süd-
und
Westböhmen
ohne
protoindustrielle Entwicklung ein Drittel der Bevölkerung ausmachte. 73 trendüna uzemiCSR. In: Acta Demographica4(1981) S. 24-25. Ibidem, S. 25 ff. L. Fialovä, Κ v?voji (wie Anm. 7) S. 149 ff. 73 Jifi Svoboda, Ke studiu sociälniho rozvrstveni venkovskeho lidu ν Cechäch ve druhe
72
96
Eduard Maur In diesem Milieu sank wahrscheinlich die Nuptialität und dadurch
auch die Fertilität, während die Sterblichkeit vermutlich höher war. Diese Faktoren bremsten das Bevölkerungswachstum, provozierten aber auch Diskussionen
über die Armutsfrage und über die Unfähigkeit der
damaligen Landwirtschaft, die Bedürfnisse des Landes zu befriedigen. Diese Diskussionen waren desto
lebhafter, da die merkantilistische
Doktrin gerade in einer zahlreichen Population eine wichtige Quelle des Reichtums eines Landes sah. Infolge
der
Protoindustrialisierung
Nord-,
Nordwest-
und
Nordostböhmens und der damit zusammenhängenden Entwicklung der Agrargebiete entstanden große Unterschiede in der Bevölkerungsdichte in den einzelnen Landesteilen. Wenn Böhmen um
1700
wieder
die
Bevölkerungszahl der Vorkriegszeit erreichte, so bedeutet dies nicht, daß die Vorkriegssituation einfach wieder hergestellt wurde. Die räumliche Verteilung der Bevölkerung hatte sich erheblich verändert, insbesonders die Bevölkerungsdichte in protoindustriellen Gebieten war im Vergleich zur Situation vor 1620 wesentlich gestiegen. Wenn in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wie vor allem die jährlichen Kommunikantenzahlen zeigen, die Bevölkerung in den mittelböhmischen Kreisen schnellerwuchs als in den Kreisen an der Landesgrenze,74 so hängt dies damit zusammen, daß die mittelböhmischen Kreise im Kriege am stärksten verwüstet worden waren, und ihr Wachstum daher nur auf die Wiederauffüllung der Kriegsverluste hinauslief. Im Jahre
1702 zählten der Elbogener (52,6
Bewohner/km 2 ),
Leitmeritzer (49,2), und Königgrätzer (41,5) Kreis sowie das Egerland (38,3) zu den am dichtesten besiedelten Landesteilen; das waren durchwegs Kreise an der nördlichen Landesgrenze, die stark durch die Protoindustrie
ροΐονίηέ 18. stoleti. In: Ceskoslovensky iasopis historicky 5(1957) S. 447-473. O. Placht, Lidnatost (wie Anm. 1) S. 317.
74
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 geprägt waren, und - im Falle des Königgrätzer Kreises - auch durch eine hochentwickelte
Landwirtschaft.
Es
folgten
die
vorwiegend
landwirtschaftlichen Kreise mit einer entwickelten Textilindustrie, deren Bewohner/km 2
Bevölkerungsdichte dem Landesdurchschnitt von 30,5
entsprach: der Chrudimer (30,9), Jungbunzlauer (30,5) und Saazer (29,5) sowie der rein argrarische Schlaner Kreis (29,3). Mit großem Abstand kamen dann der Rakonitzer Kreis mit fruchtbarem Boden im Norden und großen Waldkomplexen im Süden, schließlich eine Gruppe von fünf nachhinkenden Kreisen, die alle im Süden des Landes lagen: der Caslauer, Kaufimer,
Pilsner,
Bechiner
und
Prachiner
Kreis
mit
einer
2
Bevölkerungsdichte zwischen 23 und 26 Einwohner/km . Noch dünner waren der Moldauer und der Podbrder Kreis mit 21 Einwohner/km 2 besiedelt. Der Unterschied zwischen dem dicht besiedelten Norden und dünn besiedelten Süden ist bis ins 20. Jahrhundert ein Charakteristikum der demographischen Struktur Böhmens geblieben.75 Auch die Urbanisierung hing eng mit dem wirtschaftlichen Charakter der einzelnen Landesteile zusammen.76 In den protoindustriellen Kreisen Nord-,
Nordwest-
und
Nordostböhmens
gab
es
zu
Beginn
des
18. Jahrhunderts ein dichtes Netz größerer Städte, deren Prosperität auf der für den
überregionalen Markt
arbeitetenden Textilindustrie basierte.
Während in ganz Böhmen um 1700 28,9% aller besteuerten Häuser sich in den königlichen und grundherrlichen Städten befanden, waren es im Egerland und im Saazer Kreis 35,1 %, im Elbogener Kreis sogar 47,2%, im Budweiser Kreis hingegen nur 17,4%. In den fruchtbaren Gegenden an der unteren Eger und im Elbetal war die Urbanisierung weniger entwickelt als in den Berggebieten, aber auch hier entwickelte sich ein relativ dichtes Netz größerer Städte wie Mladä Boleslav/Jungbunzlau, JiCin/Gitschin oder 75
Frantiäek Gabriel, Lidnatost Cech na poiätku 18. stoleti. In: Demografie 9(1967) S. 343-348. 76 O. Placht, Lidnatost (wie Anm. 1) S. 156 ff.
98
Eduard Maur
Hradec
Krälove/Königgrätz,
die
ihre
Entwicklung
einerseits
dem
traditionellen Handwerk, anderseits dem regen Getreidehandel zwischen dem Flachland und den Berggebieten verdankten. Südböhmen und die südliche Hälfte von West- und Mittelböhmen waren dagegen durch kleine Städte mit geringem ökonomischem und demographischem Potential geprägt, die nur eine lokale Produktions- und Martktfunktion hatten. Die wenigen größeren Stadtzentren wie Ceske Bud6jovice/Budweis oder Plzeft/Pilsen
basierten
auf
einer
traditionellen
Handwerksstruktur,
ausgedehntem städtischem Großgrundbesitz und erfüllten vor
allem
administrative und kulturelle Funktionen. Die königlichen Städte haben sich von den Kriegsschäden langsamer erholt als die obrigkeitlichen. Sie gingen aus dem Krieg schwer verschuldet hervor und waren mit staatlichen Steuern schwerer belastet als die obrigkeitlichen Städte. Nur sie zahlten die Biertaxe, und nur wenige von ihnen waren imstande, ihre handwerkliche Produktion auf überregionale Märkte auszurichten. Im Jahre 1671, als die Revision des ersten Katasters, der „Steuerrolla", begann, waren obrigkeitliche Städte mit weniger Häusern als vor dem Kriege bereits die Ausnahme. Von 52 königlichen Städten hatten hingegen nur 17 bis zum Jahr 1715 die Häuserzahl der Vorkriegszeit überschritten, bei einigen von ihnen war dies auch im Jahre 1757 noch nicht der Fall. Prag erlitt durch die Verlagerung des Herrschersitzes nach Wien und die Kriegsereignisse schwere Bevölkerungsverluste. Während die Stadt in der Rudolphinischen Zeit 60.000 Einwohner zählte, waren es Mitte des 17. Jahrhunderts nur noch 26.500. Bis zum Jahre 1702 stieg diese Zahl auf 40.000 an und erst im Jahr 1754 hat die Stadt mit 59.000 Einwohnern wieder das rudolphinische Niveau erreicht. Wien hingegen, das im 16. Jahrhundert beinahe ebenso groß war wie Prag, hatte im Jahre 1683 schon 80.000 Einwohner, im Jahre 1709 113.000 und 1754 bereits 175.000, also dreimal mehr als Prag. Im mitteleuropäischen Raum gehörte
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 aber die Hauptstadt des Königreichs Böhmen, Sitz eines Erzbischofs, einer Universität und zahlreicher kirchlicher Institutionen noch immer zu den größten Stadtzentren.77 Zum Vergleich sei erwähnt, daß in Preßburg (Bratislava), der damaligen Hauptstadt des Königreichs Ungarn, zu Beginn des 18. Jahrhunderts etwa 10.000 Menschen lebten.78 Infolge
der
ungleichen
Entwicklung
der
obrigkeitlichen
und
königlichen Städte haben sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts unter die vier größten böhmischen Städte - Prag ausgenommen - neben zwei königlichen Städten - Cheb/Eger und Kutnä Hora/Kuttenberg - auch zwei obrigkeitliche, Liberec/Reichenberg und Jindfichüv Hradec/Neuhaus mit jeweils 500-600 besteuerten Häusern, eingereiht. In der Gruppe mit 300499 besteuerten Häusern, ingesamt 23 Städte, überwogen zwar die königlichen Städte, aber auch in dieser Gruppe finden wir eine ganze Reihe untertäniger Städte: Ceskä Lipa/Böhmisch Leipa (mit 453 Häusern), LitomySl/Leitomischel,
Cesky
Krumlov/Krummau,
Kraslice/Graslitz,
Sluknov/Schluckenau, Lanäkroun/Landskron, Slany/Schlan und Broumov/ Braunau, größtenteils also die Textilstädte Nordböhmens. Auch von der folgenden Gruppe von 45 Städten mit 200-299 besteuerten Häusern befand sich ein Drittel von meist obrigkeitlichen Städten in einem schmalen Streifen an der nördlichen und nordöstlichen Landesgrenze mit entwickelter Textilindustrie. Der Rest (darunter auch zahlreiche königliche Städte) war über ganz Böhmen verstreut. Im Gegensatz zu Nordböhmen stellten diese Gemeinden in den
dünner besiedelten Gegenden
Städte mit einer
Zentralfunktion dar, fast die Hälfte von ihnen waren königliche Städte. Kleinstädte wie Domailice/Taus, Pfibram, Pisek, Pelhfimov/Pilgrams, Louny/Laun, Most/Brüx gehörten in diesen Gegenden zu den größten Stadtgemeinden. Nord- und Nordostböhmen unterschieden sich also auch 77 Zdena Pelikänovä-Novä, Lidnatost Prahy ν 18. a prvni Ctvrti 19. stoleti. In: Praisky sbornik historicky 1967-1968. Praha 1968, S. 5 ff. 78 Anton Spiesz, Slobodne kräl'ovske mestä na Slovensku ν rokoch 1680-1780. Koäice
100
Eduard Maur
durch das Niveau der Urbanisierung von den anderen Landesteilen.79 Trotz der raschen Protoindustrialisierung blieb die Agrarproduktion auch im 18. Jahrhundert der Hauptzweig der böhmischen Wirtschaft. Der Anstieg der Nachfrage seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bot für ihre Entwicklung günstigere Bedingungen als die Krisenjahrzehnte nach dem Krieg. Die Robotökonomie und die Leibeigenschaft stellten dagegen ihre internen strukturellen Grenzen dar. Die Gutsherren reagierten auf die ökonomische Neubelebung an der Wende vom
17. zum
18. Jahrhundert
in zweifacher Weise. Die
überwiegende Mehrheit sah in dieser neuen Situation nur eine günstige Gelegenheit,
die
auf
der
Robot
basierende
Dominikaiwirtschaft
auszuweiten. Sie erweiterten die Meierhofflächen und steigerten die Robotforderungen. Weil die verödeten Gründe aus dem Dreißigjährigen Krieg in dieser Zeit bereits wieder bebaut wurden, entzog man den Bauernwirtschaften vermehrt Land, insbesondere das guter Qualität. Von dem den Meierhöfen zugeschlagenen Boden zahlte die Obrigkeit oft keine Kontribution, sondern wälzte die Steuerlast auf die Untertanen ab. Einige Obrigkeiten gaben im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihr eigenes Zugvieh ganz auf und gingen zur Bearbeitung der Hoffelder ausschließlich mit Hilfe von Frondiensten über.80 Böhmen gehörte im ost- und ostmitteleuropäischen Rahmen nicht zu den Ländern mit einer extrem entwickelten Gutsherrschaft, in denen das selbständige Bauerntum verdrängt wurde, wie es etwa in einigen Teilen Nordostdeutschlands mit einem Übergewicht des kleinen Junkeradels der Fall war. In der Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte die absolute Mehrheit des adeligen Besitzes in Böhmen dem Herrenstande, besonders seinen 1984, S. 69. Eduard Maur, Velikost deskych möstskych obci podle tereziänskeho katastru (Edice statistick^chdat). In: Historickädemografie 19(1995) S. 169-206. 80 E. Maur, Geneze (wie Anm. 16) S. 251. A. Chalupa, Venkovske obyvatelstvo (wie Anm. 35) S. 218-232. 79
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 beiden ranghöchsten Gruppen, den Fürsten und Grafen. Diese beiden Gruppen (14 Fürsten und 187 Grafen) repräsentierten zusammen nur 39% aller weltlichen
Gutsbesitzer, besaßen aber 90% aller Untertanen und
bezogen 88% aller Dominikaieinkünfte des Adels.81 Eine derartige Bodenbesitzkonzentration bot gute Voraussetzungen, im Rahmen einzelner Herrschaftskomplexe verschiedene Formen der dominikalen Wirtschaft zu entwickeln, von der Getreideproduktion und Viehzucht in den Meierhöfen über Brauereien und Schnapsbrennereien bis zur Teich- und Forstwirtschaft, dem Berg- und Hüttenwesen, der Glaserzeugung und der Textilproduktion in den ersten Textilmanufakturen. Die Größe des Guts und die Diversifizierung der obrigkeitlichen Betriebe ermöglichten gegenüber der rein agrarischen Gutsherrschaft ein hohes Maß an Flexibilität. Der Anteil des dominikalen Ackerbodens war aber in Böhmen dennoch größer als in Ungarn und stimmte eher mit den polnischen Verhältnissen überein. Die Herrenfelder umfaßten in Böhmen Mitte des 18. Jahrhunderts etwa ein Viertel des gesamten Ackerlandes, in Mähren ca. 16%. In den fruchtbaren Gegenden und auf den kleinen Gütern war ihr Anteil gewöhnlich höher. Zu einem Meierhof gehörten in Böhmen in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchschnittlich etwa 300 Strich (83 ha) Ackerland, die von 18-19 Bauern und 22-23 Häuslern bearbeitet wurden. In Mittelböhmen erreichte die durchschnittliche Größe eines Meierhofes hingegen 400-500 Strich, in einigen Gegenden sogar 1000 Strich (278 ha). Infolgedessen mußte z.B. im Kaurimer oder im Rakonitzer Kreis jeder Spannbauer neben den Feldern des eigenen Hofes noch 37 Strich dominikalen Bodens bearbeiten.82
81
Eila Hassenpflug-Elzholz, Böhmen und die böhmischen Stände in der Zeit des beginnendenZentrafismus. Eine Strukturanalyse der böhmischen Adelsnation um die Mitte des 18. Jahrhunderts. München-Wien 1982, S. 336. 82 E. Chalupa, Venkovske obyvatelstvo (wie Anm. 35) S. 319.
102
Eduard Maur Auf den meisten Herrschaften fronten die Bauern in der Mitte des
18. Jahrhunderts 3 Tage pro Woche, während der Ernte je nach Bedarf auch die ganze Woche über. Viele Obrigkeiten forderten aber höhere Roboten - 4, 5 oder sogar 6 Tage pro Woche. Auf einigen Herrschaften mußten sogar zwei Personen pro Bauernhof fronen, ein Arbeiter mit dem Gespann, der andere zu Fuß.83 Zu Beginn des 18., teilweise schon am Ende des 17. Jahrhunderts, wurden auf einigen Herrschaften neben der bloßen Roboterhöhungen auch Versuche zur Rationalisierung der Betriebsführung unternommen. Im Rahmen der sogenannten Angleichung der Bauernwirtschaften wurde die Schaffung einheitlicher Betriebsgrößen
angestrebt,
um
Frondienste
gleichmäßig zu verteilen und auch noch die Renten zu erhöhen. Die uneingekauften Bauern wurden zum Ankauf ihrer Höfe gezwungen, um ihr Interesse an einer besseren Bewirtschaftung zu wecken und gleichzeitig Geld in die obrigkeitliche Kasse zu bringen. Einige Rationalisierungsmaßnahmen sind gleichsam Vorboten der Reformen der Theresianischen und Josephinischen Zeit. Das Land der wenig einträglichen Meierhöfe in den industrialisierten Berggegenden wurden unter den Untertanen verteilt, und die Robot in Geld abgelöst. Auf einigen Herrschaften wurden die Meierhöfe völlig aufgelöst, auf anderen, z.B. Zbiroh/Zbirow oder Nove Hrady/Gratzen, wurde ein besonderer Typus der Robotreluition eingeleitet, bei der die Untertanen verpflichtet waren, das Robotgeld abzuarbeiten. Auf anderen Herrschaften wurde die Robot besser kontrolliert und ihr Bedarf
genauer kalkuliert. Die
Robotgelder machten in Böhmen in der Mitte des 18. Jahrhunderts etwa ein Viertel aller Geldrenten aus. Die Mehrheit der Obrigkeiten, insbesondere in der fruchtbaren Landesmitte, verblieb aber beim traditionellen Gutsbetrieb. 83 A. Chalupa, Venkovske obyvatelstvo (wie Anm. 35) S. 233-242, 341-344. Emanuel Janouäek, Historicky vyvoj produktivity präce ν zemSdölstvi ν obdobi pobdlohorskem. Praha 1967, S. 34-38. E. Maur, Cesky komorni velkostatek(wie Anm. 21) S. 109.
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 Eine beschränkte Bedeutung hatten die Bemühungen einiger Obrigkeiten um technische Verbesserungen, die sich etwa in den Anordnungen der Wirtschaftsinstruktionen (z.B. Lysä nad Labem/Lissa an der Elbe 1738) zum tieferen und rechtzeitigen Pflügen widerspiegeln. Robot, Geldrenten und steigende Steuern lasteten schwer auf der bäuerlichen Wirtschaft. Die Steuer eines „Steueransässigen" (eine ideelle Bauernwirtschaft in der Größe einer Hufe) belief sich im Jahre 1685 auf 20 Gulden, überstieg aber zu Beginn der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts bereits 50 Gulden.84 Dem steigenden Steuerdruck waren die Bauern nur deshalb gewachsen, weil die Getreidepreise gleichzeitig anstiegen und die ökonomische Wiederbelebung ihnen die Möglichkeit bot, den bisher unbebauten
Boden
zu
nützen.
Die
seltenen
Bilanzen
von
Bauern wirtschaften aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunders zeigen, daß der Hauptteil der Einnahmen aus dem Getreideverkauf stammte, und die Bauernwirtschaften in dieser Zeit - trotz ihrer Belastung durch die Frondienste - höhere Getreideerträge erzielten als die mit der Robot bewirtschafteten Meierhöfe.85 Im fruchtbaren Elbetal betrug die SaatErnte-Relation nach 1720 1:6. Aufgrund der Frondienste mußten die Bauern mehr Zugvieh, als sie zur Bearbeitung ihrer Güter benötigten, und eigenes Gesinde für die Fron halten, wollten sie die eigene Wirtschaft nicht
vernachlässigen.
Das
war
neben
den
Hauptursache für die häufige Verschuldung
hohen der
Steuern
Bauern
bei
die der
Obrigkeit, der Kirche, den Wirtschaftsbeamten und reichen Bauern. Fassen wir zusammen: Wenn wir lediglich die Zahl der bewohnten Häuser berücksichtigen, dann dauerte der Wiederaufbau Böhmens nach dem Dreißigjährigen Krieg ungefähr vier Dezennien und war in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts abgeschlossen. Er machte in den 84
Josef Pekaf, Ceske katastry (wie Anm. 27) S. 305-324. Josef Kfivka, Prispdvek k dSjinäm poddanskeho hospodafeni ν prvni polovici 18. stoleti. In: Historie a musejnictvi 2( 1957) S. 79-94,304-320. 85
104
Eduard Maur
fünfziger Jahren die größten Fortschritte, danach verlangsamte sich das Tempo. Allerdings lief dieser Wiederaufbau nicht auf eine bloße Rekonstruktion
der
ökonomischen
und
sozialen
Verhältnisse
der
Vorkriegszeit hinaus. Die sozioökonomische Struktur Böhmens hat sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts erheblich verändert. In diesem Sinne sollte man eher von einer Umgestaltung als von einem Wiederaufbau sprechen. Diesen Transformationsprozeß kann man folgendermaßen charakterisieren: - Der Krieg, die mit ihm verbundenen politischen Veränderungen und die Nachkriegsdepression führten vor allem zu einer ungeheuren Konzentration des adeligen Grundeigentums: In einem Land mit zirka 11.000 Dörfern gab es um 1700 weniger als 600 adelige Gutsbesitzer. Es entstand auch erneut kirchlicher Bodenbesitz, der vor dem Krieg fast nicht mehr existiert hatte. Gleichzeitig wurde infolge der Konfiskationen nach 1620 der Grundbesitz der königlichen Städte stark reduziert. Die Zusammensetzung und Struktur der Grundherrschaft hat sich dadurch grundlegend verändert. - Die Entwicklung zur Gutsherrschaft setzte sich auch nach dem Krieg rasch fort und erst um 1700 stabilisierte sich das Verhältnis zwischen Dominikai- und Rustikalland. In die Gutswirtschaft wurde in immer breiterem Umfang auch die nichtagrarische Produktion einbezogen. - Die Bewirtschaftung des obrigkeitlichen Bodens gründliche Veränderung erfahren: Während sie im
16.
hat
eine
Jahrhundert
überwiegend bis ausschließlich auf Lohnarbeit basierte, wurde während des Krieges und der Nachkriegsdepression die Fronarbeit als wesentliche Grundlage der Gutswirtschaft durchgesetzt. Gleichzeitig wurde auch das System der obrigkeitlichen Produktions-, Vor- und Verkaufsmonopole definitiv ausgebaut. - Parallel zu diesen Veränderungen verbreitete sich unter den Eliten die
Vorstellung,
daß
der
böhmische
Untertan
dementsprechend wurde auch mit ihm verfahren.
leibeigen
sei;
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 - Der Anteil des Ackerbodens, der von Untertanen bearbeitet wurde, blieb trotz der verbreiteten Beschlagnahme öder Bauerngründe durch den Grundherrn Ackerlandes.
wesentlich Das
Getreideproduktion
größer
bedeutete, und
auch
als
der
daß
Anteil
der
einiger
des
obrigkeitlichen
überwiegende
anderer
Produkte
Teil
der
aus
den
Bauernwirtschaften stammte. - Aus Eigeninteresse achteten die Obrigkeiten darauf, daß sich die Zahl der Bauern nicht wesentlich verringerte, daß die Bauernhöfe nicht in Häuslerstellen umgewandelt und auch nicht geteilt wurden, damit ein leistungsfähigerBauernstand erhalten bleibe. -
Nichtsdestotrotz hat
sich
während
des
Krieges
und
der
Nachkriegszeit infolge der wachsenden Ansprüche der Obrigkeiten, der steigenden Steuerforderungen des Staates und der geringen Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten die wirtschaftliche Situation der Bauern verschlechtert. Dies Verschuldung und
spiegelte sich unter
anderem
in
ihrer
in der häufigen Bauernflucht wider.
hohen
Seit
dem
ausgehenden 17. Jahrhundert stellte sich zwar durch die Neubelebung der Agrarkonjunktur
ein
gegenläufiger Trend
ein,
aber
die
für
das
16. Jahrhundert charakteristischen, günstigen Existenzbedingungen für die bäuerliche Wirtschaft wurden auch im 18. Jahrhundert nicht wieder erreicht. - Im Vergleich mit der Zeit vor 1618 nahm die gewerbliche Produktion auf dem Lande und in den Kleinstädten vor allem im nördlichen Teil Böhmens merklich zu. Die Protoindustrialisierung wurde von einer neuen Kolonisationswelle in den Berggegenden und
einem
starken
demographischen Wachstum begleitet. Diese Entwicklung erhöhte auch die Produktion von Nahrungsmitteln in den angrenzenden Agrargebieten. Die Rückständigkeit des südlichen Teils von Böhmen hat sich dagegen weiter vertieft. - Der Wiederaufbau in den königlichen Städten, die mit großen
106
Eduard Maur
Finanzlasten zu kämpfen hatten, und aus den traditionellen Formen ihres Wirtschaftslebens nicht auszubrechen vermochten, erfolgte dagegen relativ langsam. Ein großer Teil dieser Städte erreichte die Bevölkerungszahl von 1618 erst im späten 18. Jahrhundert wieder. Rascher entwickelten sich einige obrigkeitliche Städte als wirtschaftliche Zentren der Herrschaften, vor allem aber die nordböhmischen Textilstädte. Die urbane Struktur Böhmens sah um 1700 ganz anders aus als vor dem Krieg. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts und die ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts
sind
also
durch
eine
bipolare
Entwicklung
gekennzeichnet: Einerseits setzten sich die typischen gutswirtschaftlichen Formen mit hohen Frondiensten im Verein mit einer engen persönlichen Abhängigkeit der Untertanen durch, anderseits machte die Protoindustrie und die nichtagrarische Produktion insgesamt, die sich auf ganz andere Organisationsformen stützte, erhebliche Fortschritte. Die strukturellen Veränderungen des 17. Jahrhunderts kann man in Ansätzen bis tief ins 16. Jahrhundert
zurückverfolgen.
Die
„Refeudalisierungstendenzen"
vermochten sich aber in dieser Zeit noch nicht durchzusetzen oder wurden durch
gegenläufige
„Modernisierungstendenzen"
aufgewogen.
Eine
wichtige Rolle spielte dabei die günstige wirtschaftliche Konjunktur während des
16. Jahrhunderts. Erst der Einkommensrückgang im
17. Jahrhundert, der größtenteils eine direkte oder indirekte Folge des Krieges war, der sich aber teilweise schon vor dem Krieg ankündigte, hat zur endgültigen Durchsetzung solcher Tendenzen, die nicht ganz richtig als „Refeudalisierung" bezeichnet werden, geführt. Dadurch wurden aber die „Modernisierungstendenzen", besonders im nichtagraren Sektor, nicht gehemmt. Sie äußerten sich nicht nur in der Weiterentwicklung der Protoindustrie, sondern auch in einigen Rationalisierungsversuchen im Rahmen der Gutswirtschaft. Die neue Struktur, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bildete, war die Grundlage für die weitere ökonomische und soziale
Die Entwicklung Böhmens 1648-1740 Entwicklung Böhmens
im
18. Jahrhundert,
in
dem
sie
teilweise
reproduziert (hohe Fronen, besonders in den fruchtbaren Gegenden Böhmens), teilweise aber auch verändert wurde (der wichtige Anteil der Gutsbesitzer an der Entwicklung der Textil- und Eisenmanufakturen, der wachsende Anteil der besitzlosen Bevölkerung und die Orientation dieser Gruppe auf die Heim- und Lohnarbeit usw.). Die ökonomische und soziale Struktur Böhmens behielt also auch im 17. und 18. Jahrhundert im Vergleich
mit
anderen
Teilen
Ostmitteleuropas
ihre
spezifischen
Charakteristika bei.
(Deutsche Bearbeitung: Erich Landsteiner)
TABELLEN I. -Zahlen der Kommunikanten in der Prager Erzdiözese in den Jahren 1672-1722 Index
1722
Index
Index=100 Bechiner 137 163 118 490 P + E" 177 230 129 473 Saazer 53 990 77 918 Bunzlauer 74 992 102 942 Prachiner 81 837 56 300 Chrudimer 63 651 89 933 Caslauer 61 842 39 638 Kaufimer 38 057 71 202 Podbrder 9 360 19 323 Rakonitzer 7 575 14 243 Moldauer 9810 19 675 Schlaner 37 041 15 022
115,8 136,9 144,3 137,3 145,4 141,3 156,0 187,1 206,4 188,0 200,6 246,6
177 207 88 124 93 107 82 87 21 19 25 43
987 063 750 116 876 147 145 760 869 284 206 263
150,2 159,9 164,4 165,5 166,7 168,3 207,2 230,6 233,6 254,6 256,9 289,0
Total 2 )
144,5
1 078 466
175,7
Kreis
1672
616 358
1702
890 349
' ) Pilsner und Elbogner Kreis ) Im Jahre 1682: 712 3 4 8 - 115,6 1692: 763 9 1 7 - 123,9 1 7 1 2 : 9 9 6 0 2 6 - 161,6
2
Nach O. Placht: Lidnatost (siehe Anm. 1) S. 290-303.
108
Eduard Maur
II. Besetzung der wüsten Gründe auf den Herrschaften Kolin und Brandis nad Labem (nördlicher Teil) 1648-1707 a) Wüstungen im Jahre 1651 Herrschaft
Total
Kolin Brandis (Teil)
19 22
Dörfer Davon ganz verwüstete Zahl % 2 10,5 10 45,5
Bauerngründe Total Davon wüste Zahl % 283 113 39,9 319 159 49,8
b) Besetzung der Wüstungen Zeitspanne 1648-1652 1653 1657 1658-1662 1663-1667 1668-1672 1673-1677 1678-1682 1683-1687 1688-1692 1693-1697 1698-1702 1703-1707 Total Quellen:
Neubesetzte Wüstungen Zahl % Kolin Brandis Kolin Brandis 60 35 37,7 25,7 22,6 21,3 36 29 15,7 12,5 25 17 13 8,2 11,0 15 2 8 5,9 1,3 9,4 15 13 9,6 2 3 2,2 1,3 0,6 0,7 1 1 2 2 1,3 1,5 4,4 2 6 1,3 2 1 0,6 1,5 3,7 5 100,0 100,0 159 136 -
Steuerrolla, Grundbücher Nach E. Maur, Populaöni vyvoj (1972) 73
-
Henryk Rutkowski (Posen) Die Städte Großpolens und Masowiens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
Die Bezeichnung Großpolen wird hier im breiteren Sinne verwendet, so wie sie auf den Generallandtagen von Großpolen gebraucht wurde, die sich in Koto versammelten. Dem Beispiel von Jacek Wiesiotowski 1 folgend, habe ich dieses Gebiet in drei Regionen gegliedert: Das eigentliche Großpolen, also die Wojewodschaften Posen und Kaiisch; zweitens das Gebiet von Sieradz und L^czyca, das aus der Wojewodschaft Sieradz, dem Bezirk von Wielun und der Wojewodschaft L^czyca besteht; drittens Kujawien, also die Wojewodschaften Brzesc und Inowroctaw und der Bezirk von Dobrzyn. Außerdem wurde Masowien erfaßt, das aus drei Wojewodschaften bestand: Ρ Jock,
Rawa und
die
Wojewodschaft
Masowien (mit der Hauptstadt Warschau). Zuerst müssen wir den Bestand an Städten auf dem genannten Territorium in der Mitte des 17. Jahrhunderts, vor dem schwedischen Krieg angeben. Die Zahl und die Dichte der Städte im Jahre 1650 sind der Tabelle zu entnehmen, die im Anhang abgedruckt ist.2 Die königlichen Städte unterstanden indirekt dem Monarchen und direkt den Nutznießern der königlichen Güter - den Starosten. Die ' Jacek Wiesiotowski, Siec miejska w Wielkopolsce w XIII - XVI wieku. Przestrzen i spoteczenstwo. In: Kwartalnik Historii KulturyMaterialnej 28(1980) S. 385-399. 2 Stanislaw Pazyra, Geneza i rozwoj miast mazowieckich. Warszawa 1959, S. 125, 163, 167. Im folgenden Pazyra, Geneza; Zofia Kulejwska-Topolska, Nowe lokacje miejskie w Wielkopolsce od XVI do konca XVIII wieku. Poznan 1964, S. 12-13; Atlas Historyczny Polski. Mazowsze w drugiej pofowie XVI wieku. Pod redakcja Wtadystawa Patuckiego. Warszawa 1973, Czesd II, S. 77-78. Im folgenden Atlas, Mazowsze; J. Wiesioiowski, Siec miejska (siehe Anm. 1) S. 386-389; Maria Bogucka, Henryk Samsonowicz, Dziejemiasti mieszczanstwa w Polsce przedrozbiorowej. Wroclaw 1986, S. 329-352. Im folgenden Bogucka, Dzieje; Historia Polski w liczbach. Ludnosc. Terytorium. Warszawa 1994, S. 14-15.
110
Henryk Rutkowski
Autonomie der Städte war beschränkt, die Starosten hatten Einfluß auf die Wahl der Mitglieder des Stadtrates und der Bürgermeister, sie konnten die Finanzen ihrer Städte kontrollieren. In der Praxis kam es oft zu Streitigkeiten mit den Starosten; dann konnten die Städte im königlichen Assessorengericht Berufung einlegen. In einer schlechteren Lage befanden sich die Privatstädte, die im Eigentum von
Adeligen
(vor
allem Magnaten)
oder
kirchlichen
Institutionen (Bischöfe, Klöster) waren. Sie waren vollkommen abhängig von ihren Herren, unterstanden dem Patrimonialgerichtund hatten nicht das Recht, vor dem Assessorengericht Berufungen einzulegen. Die Bürger in den Privatstädten waren jedoch, im Gegensatz zu den leibeigenen Bauern persönlich freie Menschen. Die in der Literatur erwähnten einzelnen Fälle von Schenkungen von Bürgern aus Privatstädten waren im Grunde genommen eine Art Einverständnis damit, daß der gegebene Bürger die Stadt früher verlassen hatte. Unbekannt sind
dagegen Fälle von
Schenkungen unter anderen Umständen, und noch weniger von Verkauf von Bürgern, so wie man Bauern verkaufte.3 Die überwiegende Mehrheit der Städte war Privateigentum. In den drei Regionen Großpolens im breiteren Sinne des Begriffs, die insgesamt 264 Städte aufwiesen, gehörten 30% dem König, 70% dem Adel oder der Kirche. Etwas anders gestaltete sich die Situation in Masowien, wo von 100 Städten dem König 47 gehörten, dem Adel 36 und dem Klerus 17.4 In den größeren Zentren bestand die Gemeinde aus der eigentlichen Stadt und den Vorstädten, die sich vor allem dort deutlich voneinander unterschieden, wo es Wehrmauern gab. Einige Städte besaßen auch eigene
3
Transakcje chiopami w Rzeczypospolitejszlacheckiej(w. XVI-XVIII). Wydal Janusz Deresiewicz. Warszawa 1959, S. X-XI, 56-59, 273-274, 515-516, 530-531, außerdem 238-239 (ein Bürger wird zum Pfand gegeben), 647-648 (der Herr, bei dem drei Bürger arbeiteten, hatsieseinem Bruder geschenkt); Andrzej Wyrobisz, Rola miast pry watnych w Polsce w XVI i XVII wieku. In: PrzegUd Historyczny 65(1974) S. 19-46; Bogucka, Dzieje, S. 400. 4 Atlas. Mazowsze, S. 84; Bogucka,Dzieje, S. 400.
Die Städte Großpolens und Maso wiens
111
Dörfer und dehnten ihre Gerichtsbarkeit auf diese Dörfer aus. Es gab auch gekuppelte Städte, die räumlich einen Siedlungskomplex darstellten (was natürlich wirtschaftliche Konsequenzen hatte), die aber aus zwei oder mehr Stadtgemeinden bestanden, die juridisch voneinander unabhängig waren. In Masowien gehörte zu solchen Städten Warschau, das aus der Alten und der Neuen Stadt bestand, außerdem Liw Stary und Liw Nowy,
Dobre
Stare und Nowe. Mehr gekuppelte Städte wies das eigentliche Großpolen auf. Vom Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wurden dort mehrere sogenannte neue Städte gegründet, also gesonderte Gemeinden neben den alten Zentren.5 In den hier angegebenen Statistiken werden die gekuppelten Städte als Einzelstädte gerechnet. Adelige, die Grundstücke in einer Königsstadt hatten, sollten deren Obrigkeit akzeptieren und die entsprechenden Steuern
zahlen, aber
meistens taten sie das nicht. Einige Privateigentümer bemühten sich, vom König Befreiungen für ihre Liegenschaften zu erzielen. Dies führte zur Bildung von „Juridiken", also Grundstücken innerhalb der Stadt, die der Jurisdiktion der Stadtbehörden entzogen waren. Größere Juridiken, die Magnaten oder Geistlichen gehörten, waren organisiert wie Kleinstädte. Ein Beispiel für diese Erscheinungen war Posen, dessen eigentliche Stadt sich innerhalb der Wehrmauern befand, sie war umgeben nicht nur von Vorstädten, sondern auch von Kirchenstädtchen und Adelsjuridiken. Eine besondere Kategorie von Einwohnern vieler Städte waren die Juden. Einige Städte hatten königliche Privilegien, die die Ansiedlung von Juden verboten, deren ethnische, religiöse und sittliche Fremdheit auffällig war, und die durch ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten eine Konkurrenz für die Stadtbürger darstellten. Die jüdische Bevölkerung wohnte entweder auf dem Stadtgebiet, oder auch außerhalb auf Starostenland. Die Juden waren nicht der städtischen Jurisdiktion unterworfen, unterstanden dem König, in 5
Pazyra, Geneza, S. 100-101, 108-109; Atlas. Mazowsze, S. 79; Z. KulejewskaTopolska, Nowe lokacje(siehe Anm. 2) S. 9, 12-13.
Henryk Rutkowski
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dessen Namen sie in den Königsstädten von dem Wojewoden überwacht wurden - praktisch von seinem Stellvertreter, dem Unterwojewoden; in den Privatstädten unterstanden die Juden
der
Gerichtsbarkeit der
Eigentümer. Die Feststellung der Zahl der Bewohner der Städte ist ein schwieriges Problem, und die Ergebnisse der Berechnungsversuche können große Zweifel wecken. Aber trotz des großen Fehlerspielraums geben diese Zahlen eine gewisse Orientierung. Sie beziehen sich auf das Ende des 16. Jahrhunderts, als auf diesem hier behandelten Territorium die allgemeine Zahl der Städte nur wenig kleiner war als im Jahre 1650. J. Wiesiolowski teilte die Städte des breiteren Großpolen um 1580 in drei Kategorien ein: große Städte, in denen 90-100 und mehr Handwerker wohnten, mittelgroße Städte mit über 40 Handwerkern und Kleinstädte. Große Städte gab es nach seiner Berechnung 28, mittelgroße 66, die übrigen 160 Siedlungen waren Kleinstädte. In den einzelnen Regionen gestaltete sich das folgendermaßen: Das eigentliche Großpolen zählte 17 große Städte (u.a. Posen, Gnesen, Kaiisch, Kolo, Konin, Kosten, Meseritz, Peisern, Schrimm, Fraustadt, Znin) und 43 mittelgroße. Die Region von Sieradz-L^czyca hatte 7 große Städte (Brzeziny, Kiodawa, Leczyca, Pi^tek, Piotrkow, Sieradz, Wielun) und 13 Kleinstädte. In Kujawien befanden sich 4 große Wloci awek) und 10 mittelgroße Städte.
(Brzesc,
Bromberg,
Radziejow,
6
Maria Bogucka teilte die Städte der polnischen Krone gegen Ende des 16. Jahrhunderts in vier Gruppen. Für das breitere Großpolen übernahm sie die Zahlen von Wiesiotowski aus der ersten Kategorie, sie interpretierte sie aber anders, nämlich als eine Gruppe von Städten mit über 2000 Einwohnern. Nach Bogucka gab es am Ende des 16. Jahrhunderts in der ganzen Krone 7 Städte mit über 10.000 Einwohnern. Dies waren:
6
J. Wiesioiowski, Siecmiejska(siehe Anm. 1) S. 391-392 undKarte5.
Die Städte Großpolens und Masowiens
113
Posen (18.000-20.000) in Großpolen, Warschau (10.000-12.000) in Masowien, Danzig (40.000, die größte Stadt der Adelsrepublik), Elbing und Thorn im Königlichen Preußen, Krakau in Kleinpolen und Lemberg in Rot-Reußen.7 In Masowien waren außer Warschau die größten Städte Ciechanow, Lomza, Plock und Przasnycz, die 4000 bis 5000 Einwohner zählten, weiters Brök, Lowicz, Oströw, Puitusk, Rawa und Sochaczew, mit wahrscheinlich über 3000 Einwohnern. Lowicz war Eigentum der Erzbischöfe von Gnesen, Brök und Puitusk der Bischöfe von Plock, die übrigen genannten Städte gehörten dem König. Insgesamt soll es in Masowien 21 Städte mit mehr als 2000 Einwohnern gegeben haben.8 Das wäre um 4 mehr als in der Region Posen-Kalisch, die über eine ähnliche Fläche verfügte, aber wesentlich mehr städtische Zentren aufwies. War das wirklich so? Hier ist zu bemerken, daß die polnischen Städte, und zwar sogar die nach dem damaligen Maßstab großen Städte, teilweise Holzhäuser aufwiesen. Besonders Masowien war eine Region mit hölzernen Städten. So wurde z.B. das erwähnte Sochaczew im Jahre 1564, als es fast 400 Häuser zählte, als eine hölzerne Stadt beschrieben, in der nur die Kirche, das Kloster und ein Bürgerhaus gemauert waren. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hat sich wohl diese Situation nur unwesentlich geändert, wenn sogar das um 1609 entstandene zweite Kloster aus Holz errichtet wurde.9 Nach M. Bogucka befanden sich in den drei Gebieten des breiteren Großpolen insgesamt 27 Kleinstädte, die weniger als 600 Einwohner zählten, während es in Masowien 44 waren, also fast die Hälfte aller Städte 7
Bogucka, Dzieje, S. 370-373. Atlas, Mazowsze, S. 83-84,94-95. 9 Henryk Rutkowski, Rozwöj przestrzenny Sochaczewa od XIII do XVIII wieku. In: Dzieje Sochaczewa i ziemi sochaczewskiej. Warszawa 1970, S. 42, 45; Bohdan Baranowski, 2ycie codzienne ma}ego miasteczka w XVII i XVIII wieku. Warszawa 1975, S. 82-90. 8
114
Henryk Rutkowski
dieser Region. Es waren Agrarstädtchen, die sich in wirtschaftlicher Hinsicht gar nicht oder fast nicht von Dörfern unterschieden. Auch ihre Bauten hatten Dorfcharakter und nur der Marktplatz war ein sichtbares Zeichen, daß diese Siedlung Stadtrecht hatte. Einige dieser Siedlungen büßten diese Rechte ein, besonders wenn dem Besitzer daran lag, die Stadtbürger den Fronbauern gleichzusetzen. Das war wohl in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in drei masowischen Kleinstädten der Fall (Magnuszew, Pacyna, Trebki), so erging es auch einigen Siedlungen in der Region Sieradz-Leczyca.10 Die obigen Angaben über die Dichte der Städte und deren Größe, kann man so zusammenfassen: Die Region Posen-Kalisch war am stärksten, Masowien dagegen am schwächsten urbanisiert. Die Lage der polnischen Städte war in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Regel nicht gut, denn die Situation im Lande war für sie ungünstig, wesentlich schlechter als im vorangegangenen Jahrhundert. Vor allem sind hier die Folgen der Entwicklung der Vorwerkwirtschaft auf dem Land zu nennen. Angestiegen sind die Belastungen der leibeigenen Bauern durch Frondienste, ihre Wirtschaften schrumpften, es verschwand die Schicht der reichen Bauern,
die Schlachta baute die eigene Produktion
von
Handwerkserzeugnissen aus und schränkte die Kontakte der Bauern mit dem Markt ein. Die Nachfrage nach städtischen Produkten verringerte sich also auf dem Land, Handwerkszweige, die auf den Absatz im bäuerlichen Milieu eingestellt waren (z.B. die Tuchproduktion minderer Qualität, die Produktion von Eisenwerkzeugen), begannen zu verschwinden. Faktoren, die sich auf die Städte negativ auswirkten, waren auch die Konkurrenz der importierten Industrieprodukte und das Verdrängen der Städte im Flußgebiet der Weichsel (außer dem königlichen Preußen) aus dem aktiven Getreidehandel durch die Schlachta und durch Danzig. Nicht ohne 10 Pazyra, Geneza, S. 163, 167; Jakub Goldberg, Stosunki agrarne w miastach ziemi wielunskiej w drugiej potowie XVII i w XVIII wieku. Lodz 1960, S. 22-33. Im
Die Städte Großpolens und Masowiens
115
Bedeutung war auch die Politik der Schlachta gegenüber den Städten. Sie war seit eh und je feindselig." Auf dem behandelten Territorium war die Krise der Städte am ärgsten in Masowien (die Quellen ermöglichten Beobachtungen in einem Teil der Königsstädte). Es kam zu einem Rückgang der Zahl der Handwerker. Im Jahre 1630 gab es in Wyszogröd, verglichen mit dem Jahr 1564, um 37% weniger Handwerker; Zakroczym verlor in der gleichen Zeit über 25%, Gostynin - 15%. In Wyszogröd, Sochaczew und Plock ist die Tuchmacherei vollkommen verschwunden. Verringert hat sich der Handel auf den Märkten und Jahrmärkten. Das Beispiel des kleinen Piaseczno beweist, daß die wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Kleinstädte zur Rückkehr zu vorwiegend landwirtschaftlicher Tätigkeit zwang,
was
begleitet war von einem Rückgang der Einwohnerzahl. Die Städte verarmten, einen Beweis liefert die sich verringernde Zahl der Häuser, da viele nach Feuersbrünsten nicht wiederaufgebaut wurden. Im Jahre 1570 gab es in Sochaczew 394 Häuser, 1602 nur noch 200, und im Jahre 1630 lediglich 110 (unbewohnte Häuser nicht mitgerechnet). Später als in den Dörfern setzte in den Städten die Verringerung der bebauten Fläche ein, erst 1630 erwähnte man Wüstungen. In dieser allgemeinen Krise gab es Ausnahmen. Rasch entwickelte sich Warschau als Ort der Sitzungen des Reichstags seit 1569 und als Residenzstadt der Könige seit Sigismund III. Wasa. In immer größerem Ausmaß dehnte sie ihre Handelsdominanz über andere Städte Masowiens aus. Von den kleineren Städten entwickelte sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts weiterhin gut die Bischofsstadt Brök.12 folgenden Goldberg, Stosunki. " Antoni M^czakin: B. Zientarau.a.,Dziejegospodarcze Polski do roku 1939. Warszawa 1973, S. 175-178, 190-193, 212-214, 243-248. Im folgenden Maczak, Dzieje; Bogucka, Dzieje, S. 451-453. 12 Antoni Mqczak, Sukiennictwo wielkopolskie XIV-XVII wiek. Warszawa 1955, S. 213, 297; Irena Gieysztorowa, Zniszczeniai straty wojenne oraz ich skutki na Mazowszu. In: Polska w okresie drugiej wojny potnocnej 1655-1660, Bd. 2. Warszawa 1957, S. 315318. Im folgenden Gieysztorowa, Zniszczenia; H. Rutkowski, Rozwoj (siehe Anm. 9)
Henryk Rutkowski
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In der Region von Sieradz-Lqczyca verfiel die Tuchmacherei in Sieradz, während sie in Brzeziny noch prosperierte. Im Rückgang befand sich die Tuchmacherei, die billigeres, für den lokalen Markt bestimmtes Tuch herstellte, die Produktion von Tuch höherer Qualität hingegen war zwar der Konkurrenz importierter Erzeugnisse ausgesetzt, fand aber in einer zahlreichen und wohlhabenden adeligen und bürgerlichen Kundschaft Abnehmer. Wielufi und
die Nachbarstädtchen verzeichneten einen
Rückgang des Handwerks und einen Anstieg der Bedeutung der Landwirtschaft. In einer günstigen Lage befand sich Piotrkow, Sitz des Krontribunals für Großpolen im breiteren Sinne, samt Masowien und dem königlichen Preußen. In Kujawien in Inowroclaw ging in den Jahren 1583-1654 die Zahl der Handwerker von 68 auf 31 zurück.13 Im eigentlichen Großpolen entwickelte sich Kaiisch im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts vorteilhaft, dann kam es zu einer Krise im Handwerk und zu Schwierigkeiten im Handel im Zusammenhang mit dem 30jährigen Krieg. Gnesen erlebte trotz bestimmter Anzeichen von Schwierigkeiten noch eine Blütezeit seiner großen Jahrmärkte. In vielen kleineren Städten machte sich die Krise wahrscheinlich intensiver bemerkbar. Man hat festgestellt, daß in dieser Region, obwohl auch hier die wirtschaftliche Stagnation und der Rückgang unvermeidlich waren, diese doch einen milderen Verlauf nahmen als in anderen Teilen des Landes. Gerade in einem Teil von Großpolen kam es zu einer in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ungewöhnlich intensiven Entwicklung der Städte. In der Zeit
des
30jährigen
Krieges
flüchteten zahlreiche
protestantische
Tuchmacher nach Großpolen und siedelten sich im südwestlichen S. 39-40; DzieiePiocka, Ptock 1973, S. 165-166; Tadeusz Lalik, Piaseczno w dawnej Polsce, XV-XVIII w. In: Studia i materiaty do dziejöw Piaseczna i powiatu piaseczyfiskiego. Warszawa 1973, S. 110-117; idem, Ostrowia w XV-XVII w. In: Oströw Mazowiecka. Warszawa 1975, S. 77. Imfolgenden Lalik,Ostrowia. 13 A. M^czak, Sukiennictwo (siehe Anm. 12), S. 244-262; Goldberg, Stosunki, S. 41-42; Henryk Rutkowski, Piotrkow Trybunalski w XVI i pierwszej potowie XVII wieku jako mieisce zjazdöw szlacheckich. In: 750 lat Piotrkowa Trybunalskiego. Materiaiy na sesje naukowQ, Piotrköw Trybunalski 1967, S- 57-66; Dzieje Inowrociawia, Bd. 1. Warszawa
Die Städte Großpolens und Masowiens
117
Grenzgebiet dieser Region an. Sie stellten dort hochwertiges Tuch her, das mit dem englischen Tuch wetteiferte. Die Blütezeit dieser Tuchmacherei bestimmte die Entwicklung der dortigen Städte Bomst, Lissa, Meseritz, Rydzyna, Wollstein, Fraustadt, Bentschen, Zduny u.a, und auch das Entstehen neuer Siedlungen an alten Zentren. Es entstanden auch ganz neue Städte: Bojanowo, Rawicz, Swarzedz, Schlichtingsheim. Es wäre noch darauf hinzuweisen, daß sich im mittleren und südwestlichen Großpolen die für die Städte ungünstigen Einflüsse des Danziger Handels nicht bemerkbar machten, so daß sich in diesem Gebiet die gegensätzlichen Interessen des Adels und des Bürgertums als wesentlich geringer erwiesen als anderswo.' 4 Seit 1648 führte Polen einen Krieg in der Ukraine, es gab einen großen Kosakenaufstand. Infolge der Unterstützung dieses Aufstandes durch den Zaren und der Entscheidung über den Anschluß der Ukraine an den Moskauer Staat marschierte im Jahre 1654 die russische Armee in die Adelsrepublik ein und besetzte fast das ganze Großherzogtum Litauen mit der Hauptstadt Wilna. Im Süden belagerten die kosakischen und russischen Truppen Lemberg, besetzten Lublin und erreichten für kurze Zeit die Weichsel. Das war im Herbst 1655. In Polen befand sich damals schon die schwedische Armee. Der schwedische König Karl X. Gustav, der die ganze Ostseeküste beherrschen wollte, griff im Juli 1655 die Adelsrepublik an. In Großpolen kapitulierten die adeligen Streitkräfte, in Litauen lieferten die mächtigen Fürsten Radziwil! das Land den Schweden aus. Dem Beispiel der Magnaten folgte der Adel, der die Herrschaft von Karl Gustav anerkannte. Nach einigen Schlachten kapitulierte die Armee der Krone, und König 1978, S. 283. A. Maczak, Sukiennictwo (siehe Anm. 12), S. 268-281; Dzieie Gniezna. Pod redakcjq Jerzego Topolskiego. Warszawa 1965, S. 266-268, 292-314; Marian Grycz, Miasta od XVI do XVIII wieku. In: Ziemia leszczynska. Poznan 1966, S. 91-92; Dzieie Wielkopolski, Bd. 1. Pod redakcm Jerzego Topolskiego. Poznafi 1969, S. 479-480, 485486. Im folgenden Dzieje Wielkopolski; Dzieje Kalisza. Pod redakcja Wfadystawa 14
118
Henryk Rutkowski
Johann Kasimir floh nach Schlesien. Gegen Ende des Jahres 1655 beherrschten die Schweden, deren Einfall in Polen schon von den Zeitgenossen „Potop" (die Sintflut) genannt wurde, fast das ganze Gebiet des Staates, das nicht von den Russen und Kosaken schon vorher besetzt worden war. Nur wenige Festungen hielten stand: Jasna Gora bei Tschenstochau (ein befestigtes Kloster), Zamosc und Danzig, dem Feind gelang es auch nicht, Lemberg einzunehmen. Die schwedische Okkupation reichte im Osten bis nach Ukmerge (Wilkomierz) - Augustow - Brest Litowsk - Zamosc - Przemysl. Kontributionen, Requisitionen, Plünderungen, Gewalttaten, wie auch Profanierungen katholischer Kultobjekte durch die lutherischen Schweden führten bald in verschiedenen Regionen des Landes zu einem bewaffneten Widerstand der Bauern, des Adels und der Stadtbürger. Anfang 1656 kehrte Johann Kasimir aus Schlesien zurück und sammelte um sich fast alle Polen, die vorerst auf der Seite der Schweden gestanden hatten. Es entflammte ein offener Kampf, in dem der Tatarenchan den polnischen König mit Truppen unterstützte. Karl Gustav erhielt Unterstützung vom Kurfürsten von Brandenburg Friedrich Wilhelm, dem er dafür unter anderem Großpolen abtrat. Daher befand sich Posen von April 1656 bis zum August des folgenden Jahres in der Hand der Brandenburger. Ein weiterer Verbündeter der Schweden war der Fürst
von
Siebenbürgen, György II. Räkoczi. Anfang 1657 brachen seine Truppen, unterstützt von Kosaken, in polnisches Gebiet ein und
gelangten,
Verwüstungen anrichtend, bis nach Masowien. Der Überfall von Räkoczi bewirkte, daß sich dem Kampf gegen die Schweden der Kaiser anschloß. Der im Mai 1657 geschlossene polnisch-österreichische Vertrag sicherte der Adelsrepublik Hilfstruppen, die zur Rückeroberung Krakaus und einiger anderer Festungen beitrugen. Im August und September endete die Okkupation in Kleinpolen, Masowien und Großpolen Rusinskiego. Poznan 1977, S. 139.
(mit kleinen
Die Städte Großpolens und Masowiens
119
Ausnahmen, so blieb etwa in Inowroclaw der Feind noch ein weiteres Jahr). Später kam es zu Kämpfen mit den Schweden in den Ländern der Krone nur noch im Königlichen Preußen. Der Krieg endete 1660 mit der Unterzeichnung eines Friedensvertrags in Oliva bei Danzig.15 Der schwedische Krieg verursachte schreckliche Zerstörungen im Land, besonders in Masowien und Großpolen, wo sich die meisten Kriegshandlungen
abspielten.
Einige
befestige
Städte
erlebten
Belagerungen (Warschau, Kaiisch, Piotrkow, Posen), viele Städte gingen mehrmals von Hand zu Hand, viele brannten ab. In Masowien wurden von 43 Königsstädten, die in der Lustration von 1660-61 beschrieben wurden, 14 als abgebrannte oder während des Krieges vollkommen zerstörte Orte bezeichnet. Es waren dies Blonie, G^bin, Gostynin, Janowo, Mtawa, Nur, Osieck,
Osmolin,
Piaseczno,
Radzitow,
Sochocin,
Stanisiawow,
Warschau und Wiskitki. Die Angaben stimmen gewiß, da seit den Kriegszerstörungen bereits einige Jahre vergangen waren, dennoch war die Zahl der erhaltenen oder wiederaufgebauten Häuser danach immer noch klein (abgesehen von Warschau). So hatte z.B. Btonie vor dem Krieg 184 Häuser, danach 33, in Gostynin gab es früher 171 Häuser, danach 20, in Stanisiawow blieben von einigen hundert Häusern 40 übrig. Ein Vergleich der Häuserzahl in den Jahren 1616 und 1660 in 8 Königsstädten zeigt, daß diese Orte nach dem Krieg nur 22% des Vorkriegsstandes aufwiesen. In zwei Klosterstädten, Bodzanow und Czerwinsk, blieben jeweils 15% und 23% der Häuser erhalten.16 Der Verlust an Häusern in den Städten Großpolens war geringer. Im Jahre 1661 gab es in den Königsstädten in der Wojewodschaft Posen 15 Stanislaw Herbst, Wojnaobronna 1655 - 1660. In: Polska w okresie drugiej wojny pötnocnej 1655-1660. Bd. 2. Warszawa 1957, S. 47-118; Wies law Majewski, Wojna polsko-szwedzka 1655-1660 (Potop). In: Polskie tradycje wojskowe. Bd. 1. Warszawa 1990, S. 296-361. 16 Lustracie wojewodztwa rawskiego XVII wieku. Wydata Zofia Kedzierska. Wroclaw 1965, S. 86, 216; Lustracjawojewodztwamazowieckiego XVII wieku. CzeSö II. Wydata Alina Wawrzynczyk. Warszawa 1989, S. 106, 182; Gieysztorowa, Zniszczenia, S. 324326, 330-33l;M-i os oo OO VO h ON ®
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Maria Bogucka (Warschau)
Über den polyzentrischen Charakter der polnischen Urbanisation in der Frühneuzeit
Die polnische Urbanisation im 16.-18. Jh. liefert ein typisches Beispiel für eine polyzen tri sehe Ordnung, auf die wir z.B. auch in Deutschland stoßen, während Frankreich (Paris) oder England (London) Länder des klassischen monozentrischen Städtewesens sind. Die Keime der beiden Typen greifen tief ins Mittelalter zurück, und ihre Entstehung hing von dem Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Faktoren ab. In Polen ist dabei auf die Rolle der Adelspolitik hinzuweisen, die nur widerwillig die Entwicklung einer Stadt und deren landesweite Dominanz akzeptierte; dies konnte die Macht des Adels bedrohen, die Tendenz zur Errichtung einer absolutistischen Monarchie festigen, wessen man manche Herrscher in Polen verdächtigte. Kein Wunder, daß die Schlachta bemüht war, die gesamtstaatlichen Institutionen auf mehrere Orte zu verteilen, so war der Kronschatz in der Kleinstadt Rawa Mazowiecka (1583),
und
die
Berufungsgerichte des Adels, des Tribunals befanden sich, in Piotrkow und Lublin (1578). In dem gesellschaftlichen Bewußtsein der Frühneuzeit in Polen scheint schon der Begriff Hauptstadt zu verschwimmen. In verschiedenen Quellen, die Versuche einer Klassifizierung der Städte enthalten, stoßen wir auf die Hervorhebung nicht einer, sondern vieler „Hauptstädte" (civitates capitales), zu denen in der Krone in der Regel neben Warschau und Krakau auch Lwow (Lemberg), Poznan (Posen) und Lublin gerechnet wurden, und in Litauen neben Wilna auch Nowogrodek
Der poly zentrische Charakter der polnischen Urbanisation
205
und Mmsk, manchmal auch Grodno, Witebsk, Kowno und Brzesc.1 Anscheinend war der Begriff der Hauptstädte deutlicher im Mittelalter, als nach Gniezno (Gnesen) und Poznan die hauptstädtische Funktion von Krakau übernommen wurde. Die Bedeutung Krakaus ist infolge
der
territorialen
Zersplitterung
und
durch
das
Seniorat
paradoxerweise eher angewachsen. Hier wurde daher auch im Jahre 1320 Wiadyslaw Lokietek gekrönt. Von da an war Krakau 200 Jahre lang unbestritten die Hauptstadt Polens. Der Wawel war der Sitz des Königs und der höchsten Ämter des Königreichs. Hier, in Krakau, fanden die wichtigsten Ereignisse von Monarchentreffen
im
gesamtstaatlicher Bedeutung
Jahre
1364,
die
statt:
Säkularisierung
das des
Deutschordenstaates und die preußischen Huldigungen (1525, 1550). Krakau war auch das wichtigste Zentrum des kulturellen Lebens des Landes (seit 1368 Sitz einer Universität, seit Ende des 15. Jh. größtes Zentrum des Buchdrucks in Polen). Seine wirtschaftliche Rolle überragte die aller anderen Städte - hier konzentrierte sich der Großhandel mit Deutschland, Italien, Böhmen und Ungarn, hier blühte das Finanzwesen, hier entstanden auch große Kaufmanns vermögen.2 Dies fand seine Widerspiegelung in der demographischen Entwicklung Krakaus: im 14. Jh. etwa 10.000, gegen Ende des 15. Jh. - 15.000, im 16. Jh. über 20.000 Bewohner.3 Man kann vereinfachend feststellen, daß Krakau in jenen Jahren zumindest zweimal so groß war wie andere polnische Großstädte. Es ist jedoch auffallend, daß es nie zu einem Versammlungsort des Adels geworden ist. Von den 67 in den Jahren 1493 - 1569 abgehaltenen Reichstagen fanden nur 19, das sind etwa 30%, in Krakau statt; 34 in
1 Siehe M. Bogucka, H. Samsonowicz, Dzieje miast i mieszczafistwa w Polsce przedrozbiorowej. W r o c l a w 1986, S. 356. J. Wyrozumski, Dzieje Krakowa. Krakow do schytku wiekow srednich. Krakow 1992, S. 271 ff. Regionalhandel von Krakau ist von J.M. Malecki presentiertim Studia nad rynkiem regionalnym Krakowa w XVI w. Warszawa 1963. 3 Siehe J. Wyrozumski op. cit. S. 314 ff, auch J. Bieniarzowna und J. M. Malecki, Krakow w wiekach XVI-XVIII. Krakow 1994, S. 13.
206
ManaBogucka
Piotrkow, 4 in Lublin, 4 in Warschau, 2 in Sandomierz, je einer in Radom, Parczew, Torun (Thorn) und Bydgoszcz (Bromberg).4 Diese Erscheinung kann als zusätzlicher Beweis dafür dienen, daß die polnische Schlachta den urbanistischen Polyzentrismus unterstützte und der Entstehung eines einzigen, mächtigen städtischen Zentrums im Adelsstaat abgeneigt war. Für das weitere Schicksal Krakaus war nicht die eigene, innere Entwicklung der Stadt entscheidend, sondern äußere politische Ereignisse: Die
Umwandlung
Polens
von
einer
Standesmonarchie
in
eine
Adelsrepublik, die Inkorporation Masowiens im Jahre 1526 und die Lubliner Union im Jahre 1569. Infolge dieser Ereignisse befand sich Krakau nicht mehr im Zentrum, sondern am Rande des riesigen polnischlitauischen Staates: die westliche Grenze war jetzt kaum 55 km von der Stadt entfernt, während die Ostgrenze 1200 km und die Nordgrenze 1100 km entfernt lagen. Zum Zentrum des
neuentstandenen
gewaltigen
politischen Gebildes wurde Warschau, das auch zur Stätte der Abhaltung von Reichstagen (1569) und der Königswahlen (1572) wurde. Infolge dieser Ereignisse wurde in den Jahren 1596-1611 die königliche Residenz von Krakau nach Warschau verlegt.5 Kann man das als eine volle Verlegung der hauptstädtischen Funktionen aus Krakau nach Warschau ansehen? Die Tradition spielte in der neuzeitlichen Mentalität keine geringere Rolle als im Mittelalter. Daher blieb Krakau weiterhin offiziell die Hauptstadt des Landes und wurde in den Dokumenten der Epoche vielmals als „Caput Regni Poloniae", „civitas metropolitana", „totius Poloniae urbs celeberrima" bezeichnet.6 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden in Krakau die Insignien aufbewahrt Krone, Reichsapfel und Szepter; hier befand sich auch das königliche 4
B . Wtodarski, Chronologia polska. Warszawa 1957, S. 481-483. Mehr über diese Probleme in M. Bogucka, Miedzy stolic^, miastem rezydencjonalnvm a metropolis Rozwöj Warszawy w XVI - X V I I I w. In: Rocznik Warszawski 23(1993) S. 119-129. 6 Siehe J. M. Malecki, La degradation de la capitale. (Cracovie aux XVIe, XVIIe, et XVIIIe siecles). In: StudiaHistoriaeOeconomicae 19(1988) S. 85-99, hier S. 90. 5
Der polyzentrische Charakter der polnischen Urbanisation
207
Archiv (bis 1765).7 Hier wurden, was noch wichtiger ist, die Könige gesalbt und gekrönt. Diese Zeremonie hatte, mit Rücksicht auf ihre symbolische, sakrale Bedeutung, den Rang des höchsten staatlichen Ritus. Als im Jahre 1637 die Königin Cacilia Renate in Warschau gekrönt wurde, kam es zu einer Erregung im ganzen Land. Der Reichstag beschloß auf der folgenden Sitzung, daß alle Krönungen entsprechend der Tradition ausschließlich in Krakau durchgeführt werden sollen.8 In Krakau fanden auch die Begräbnisse der Monarchen statt, und hier befanden sich ihre Grabstätten. So war also der „Sieg" Warschaus über Krakau nicht vollständig. Trotz des wirtschaftlichen und kulturellen Verfalls9 blieb die Stadt ein wichtiges Zentrum des religiösen Lebens. Hier befand sich im 17. und 18. Jh. die größte Zusammenballung von kirchlichen Institutionen, hier entwickelten sich verschiedene Formen des religiösen Lebens. Gegen Ende des 16. Jh. (1580) besaß die Kirche 35% aller Stadtparzellen in Krakau, im Jahre 1667 bereits 55%.10 In der ersten Hälfte des 17. Jh. gab es in Krakau 65 Kirchen und Klöster - hier hatten 85 % der in Polen existierenden männlichen und 70% der weiblichen Orden Häuser." Der Klerus machte etwa 50% der Einwohner der Stadt aus.12 Die politische Hauptstadt verwandelte sich im Falle Krakaus in eine sakral-religiöse Hauptstadt.13 Die schnelle Karriere Warschaus war mit den Wandlungen in der Lage Krakaus auf der urbanistisch-politischen Karte Polens verbunden.
'Ibidem. 8 Siehe Wjazd, koronacja, wesele Naijasniejszej Krölowej Jej Mosci Cecylii Renaty w Warszawieroku 1637. Warszawa 199Γ, S. 15. 9 Sehe J. M. Matecki, La degradation, passim. 10 Μ. Niwinski, Stanowy podziai wiasnosci nieruchomej w Krakowie w XVI i XVII w. Studia ku czciSt. Kutrzeby, Bd. II. Kraköw 1938, S. 549-585. 11 H. Gapski, Klasztory krakowskie w koncu XVI i w pierwszej polowie XVII w. Lublin 1993, S. 291. 12 Ibidem. 13 Siehe M. Bogucka, Krakau - Warschau - Danzig. Funktionen und Wandel von Metropolen. In: Metropolen im Wandel. Zentralitätin Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalterzur Neuzeit. Hrsg. Eva-Maria Engel, Karen Lambrecht, Hanna Nogosek. Berlin 1995, S. 71-92.
208
Maria Bogucka
Entscheidend war die günstigere Lage Warschaus in der Mitte des Landes und an der Kreuzung wichtiger Fluß- und Landwege. Hierher konnte die Schlachta aus ganz Polen und auch aus Litauen leichter und schneller gelangen als nach Krakau. Dennoch wurde Warschau bis zum Ende der Existenz der Adelsrepublik und sogar noch länger nicht zur offiziellen Hauptstadt des Landes, sondern hatte lediglich die Funktion einer Residenz des
Monarchen. 14
Diese
Rolle
war
maßgebend
für
die
rasche
demographische Entwicklung der Stadt (in der ersten Hälfte des 17. Jh. bereits 20.000-30.000 Einwohner)15, wie auch für ihre territoriale und architektonische Entwicklung. 16 Im Zusammenhang mit der Verlegung des Königshofes nach Warschau nahmen hier einige der in Polen nicht zahlreichen zentralen Ämter des Staates ihre Tätigkeit auf, hier ließen sich auch Magnaten nieder, die sich in der Nähe des Königshofes aufhalten wollten, und zahlreiche Vertreter der Schlachta.17 Warschau wurde vor allem zu einem Zentrum des politischen Lebens des Landes - hierher kamen die Gesandten fremder Monarchen und päpstliche Legaten, hier wurden sie in offiziellen Audienzen empfangen, hier wurden Bankette, offizielle Empfänge, Bälle und andere Veranstaltungen abgehalten wie das Feiern militärischer Triumphe (z.B. im Jahre 1612 die Vorführung der Gefangenen des Hetmans St. Zölkiewski, des Zaren Vasilij Sujskij und seiner Brüder) und Huldigungen (im Jahre 1633 und 1641 die preußischen Huldigungen). 18 Im Bereich der Kultur dominierte jedoch Warschau nicht in demselben Ausmaß wie einst Krakau; dies stand im Zusammenhang mit der sich verringernden Ausstrahlung des Königshofes
als
einzigen
Zentrums und Leitbildes der Kultur wie noch in der Zeit der letzten Jagellonen. 14
Nun
übernahmen
diese
Funktion
weitgehend
die
M. Bogucka, Misdzy stolic^, passim. Μ. Bogucka, Warszawa w latach 1526-1720. In: A. Zahorski, Dzieje Warszawy 1526 1795. Warszawa 1984, S. 19 ff. 16 Ibidem, S. 25 ff. "Ibidem. 18 M. Bogucka, Mi^dzystolic^, passim. 15
Der polyzentrische Charakter der polnischen Urbanisation
209
Magnatenhöfe, die mit dem königlichen Hofe rivalisierten. Das stand natürlich im Zusammenhang mit den Prozessen der Dezentralisierung der polnischen Kultur, mit der Streuung des Mäzenatentums sowie der diesbezüglichen Vorbilder und Modelle.19 Sowohl Sigismund III. als auch sein Sohn Wiadydsiaw IV. Wasa waren ausgesprochene Kunstliebhaber, sie kauften Bücher, Bilder, Skulpturen, sammelten Erzeugnisse des Kunsthandwerks und Kuriosa jeglicher Art. Dank des Mäzenatentums der Wasa entwickelten sich in Warschau in diesen Jahren Theater, Musik und Oper. Das literarische und wissenschaftliche Mäzenatentum der Könige war dagegen schwächer ausgebildet, obwohl es, besonders im Bereich der Historiographie, nicht gering war. Die aus Frankreich stammende Gemahlin von Wiadyslaw IV., später auch von Johann Casimir - Louise Marie Gonzague - eröffnete in Warschau einen „wissenschaftlichen Salon", in dem man nicht nur diskutierte, sondern auch interessante physikalische und astronomische Experimente durchführte. Obwohl am Königshof berühmte Gelehrte wirkten, fehlte es in Warschau doch an einem günstigen Boden, auf dem ein bedeutenderes, professionelleres intellektuellesZentrum entstehen konnte, weil es hier leider keine höhere Schule gab. Im großen und ganzen kann man sagen: Seit der Wende zum 17. Jh. war Warschau zweifellos ein wichtiges politisch-kulturelles Zentrum des Staates, doch in beiden Bereichen hatte es einen eher beschränkten Wirkungskreis. Seine Bedeutung war nicht vergleichbar mit den Zentren der absolutistischen Monarchien jener Zeit wie z.B. Paris, London oder auch Prag im habsburgischen Böhmen. Darüber hinaus kann als wirtschaftliches Zentrum der Adelsrepublik jener Jahre weder Warschau noch Krakau angesehen werden, sondern diese Rolle kam Danzig zu. In diesem Ostseehafen war seit Ende des
"Ibidem.
210
Maria Bogucka
16. Jahrhunderts
80%
des
polnischen Export-
und
Importhandels
konzentriert. Sein Hinterland erfaßte nicht nur das Königliche Preußen und Masowien,
sondern
auch
die
ausgedehnten
Gebiete
Groß-
und
Kleinpolens, sowie Podolien, die Ukraine und große Teile Litauens.20 Danzig war auch ein großes Produktionszentrum, das zahlenmäßig und organisatorisch die Produktion anderer Städte in der Adelsrepublik überragte.21 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es in Danzig und in seinen Vororten etwa 7000 Werkstätten verschiedener Größe, in denen zuweilen ein Dutzend oder auch mehr Menschen arbeiteten. In einigen Produktionszweigen bildete sich das Verlagssystem heraus, z.B. bei der Herstellung von Textilien. Fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung dieser riesengroßen Stadt [ca. 70.000-100.000 Einwohner] lebte in jener Zeit von gewerblicher Tätigkeit. Die Produkte des Danziger Handwerks wurden in ganz Polen vertrieben.22 Auch
als Finanzzentrum
(Kreditoperationen,
Spekulation
mit
Wechseln und Assignaten, Bodmereien usw.) war Danzig von erstrangiger Bedeutung, indem es den Einwohnern des ganzen Landes Anleihen und Kredite gewährte: Monarchen, Magnaten, dem Adel, den Bürgern aus anderen Städten, sogar den Bauern.23 Jedes Jahr kam in diese Stadt massenweise der polnische Adel aus dem ganzen Land. Er verkaufte die Erzeugnisse
der
Feld-
Handwerkerzeugnisse
und
und
Waldwirtschaft seiner
importierte Luxuswaren
Güter, (Wein,
kaufte Stoffe,
Südfrüchte, Gewürze) und suchte nach Möglichkeiten, eine Anleihe aufzunehmen oder zu prolongieren.24 Mit Bank- und Kreditoperationen beschäftigte sich in Danzig eine große Anzahl von Institutionen und
20
Historia Gdanska. Hrsg. vonE. Cieslak,Bd. II. Gdansk 1982, S. 486 ff. Ibidem, S. 508 ff. Ibidem, S. 535 ff. 23 M. Bogucka, Obrot wekslowo-kredytowy w Gdafisku w pierwszej polowie XVII w. In: Roczniki Dziejow Spotecznych i Gospoaarczych 33(1972) S. 1-31. 24 Ibidem. Siehe auch M. Bogucka, Gdafiskie Kontraktv zbozowe w pierwszej pot ο wie XVII w. In: Kwartalnik HistoriiKultury Materialnej 4(1969), S. 711-719. 21
22
Der polyzentrische Charakter derpolnischen Urbanisation
211
Personen: der Stadtrat, die wohlhabenden Kaufleute, auch Handwerker und ihre Zünfte. Das Projekt, eine öffentliche Bank zu gründen, wurde jedoch wahrscheinlich wegen
der Opposition
der
Privatbankiers,
die
die
Konkurrenz fürchteten, nicht verwirklicht. In Litauen erlebte in den Jahren der frühen Neuzeit Wilna, die alte Hauptstadt des Fürstentums, einen schnellen Aufschwung. Im 16. Jh. wurde die Stadt zu einem wichtigen Produktions- und Handelszentrum desselben Typus wie Warschau, denn in beiden Städten wirkten ähnliche Faktoren: die Bedürfnisse des Fürstenhofes und der Magnatensitze. Die ersten Zünfte entstanden in Wilna gegen Ende des 15. Jahrhunderts (Goldschmiede, Schneider), im 16. Jh. organisierten 8 Handwerkszweige 6 Zünfte, aber Produktionsbereiche gab es viel mehr (über 40, und im 17. Jh. bereits über 120). Die Produktion war, ähnlich wie in Warschau, auf die Abdeckung der lokalen Bedürfnisse eingestellt, also des Fürstenhofes und der Magnatenhöfe. Es Dienstleistungen
und
florierten das das
Bauwesen
Luxushandwerk, -
in
verschiedene
Verbindung
mit
dem
architektonischen Boom. Im Handel war die Bedeutung von Wilna gering, da der Export der Produkte der litauischen Gutswirtschaften direkt zu den Häfen von Riga und Königsberg geleitet wurde. Aber Wilna war ein wichtiges Zentrum des Transitgroßhandels. Die Wilnaer Kaufleute führten einen lebhaften Handel mit Danzig, Warschau, Lublin und Sie beteiligten sich an dem großen Ost-West-Handel Export
von
Salz, Eisenerzeugnissen, Stoffen, Luxusprodukten, z.B. Wein).
Aus
großen
Waren rentablen
-
Pelze,
Leder,
Transithandel
Honig;
(hauptsächlich Import
diesem
russischer
Posen.
erwuchsen
beachtliche
Kaufmanns vermögen. Die Bedeutung von Wilna beruhte jedoch nicht so sehr auf seinen wirtschaftlichen Funktionen als vielmehr auf seiner Rolle im Kulturleben. Diese ethnisch stark differenzierte Stadt (Litauer, Polen,
Ruthenen,
Deutsche, Juden, Tataren, Armenier; hinsichtlich der ethnischen Buntheit
212
Maria Bogucka
kam die Stadt an Danzig heran, obwohl die Zusammensetzung dieses Mosaiks sich hier anders gestaltete) lockte Magnaten und Adelige an. Sie war auch ein beliebter Aufenthaltsort der Fürsten (besonders der letzten Jagelionen und Wladystaws IV. Wasa). Hier entstanden besonders günstige
Entwicklungsbedingungen
für
Barockarchitektur; ihre Schöpfer waren
die
Renaissance-
vorwiegend
und
hervorragende
Künstler italienischer Abstammung (J. Cini, Β. Z. de Gianotis, G. M. Padovano). Nach dem Brand im Jahre 1530 wurde die Untere Burg und die Wilnaer Kathedrale im Renaissancestil wiederaufgebaut; errichtet wurden zahlreiche herrliche Kirchen, öffentliche Bauwerke (Zeughaus, Münzstätte, Krankenhäuser), Paläste und Bürgerhäuser. In vielen von ihnen befanden sich reiche Sammlungen von Kunstwerken (bereits Sigismund August schuf in Wilna eine herrliche Gemäldegalerie und eine reiche Bibliothek). Nach dem großen Brand im Jahre 1611 folgte nicht nur ein schneller Wiederaufbau der Stadt, sondern auch eine neue Phase ihres Ausbaus. Wilna wurde zu einem echten urbanistisch-architektonischen Kleinod, von Reisenden bewundert, einmalig im Bereich Nordosteuropas. Der Engländer Eleazar Gilbert beschrieb im Jahre 1642 Wilna als „eine Stadt kostbarer Kirchen,
schöner
Bauwerke,
einer
dichten
Bevölkerung,
eines
25
mannigfaltigen Handels". In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zählte Wilna allem Anschein nach bereits mehr als 20.000 Einwohner, war also eine der am dichtesten bevölkerten Städte des polnisch-litauischen Staates.26 Doch nicht das demographische Wachstum und auch nicht der Residenzcharakter von Wilna bildeten die Hauptfaktoren für
die
Entwicklung der Stadt in der Frühneuzeit, sondern die Reformation. Sie verlief bekanntlich in Litauen anders als in Polen - sie ging mehr in die Breite und bewies dadurch eine wesentlich größere Lebensfähigkeit. Von Anfang an spielte Wilna in dieser Bewegung eine besondere Rolle. Bereits "Zitiert nach J. Ochmanski, DziejeLitwy. Wroclaw 1982, S. 156. 26 M. Bogucka, H. Samsonowicz, op. cit. S. 385.
Der polyzentrische Charakter der polnischen Urbanisation
213
1539 gründeten zwei hervorragende litauische Humanisten, Abraham Kulwiec und Stanislaw Rapagelonis, in Wilna eine Schule, die zu einem reformatorische Ideen verbreitenden Zentrum wurde. Die neue Lehre fand in den litauischen Magnaten mächtige Protektoren. Andererseits mußte sich die Kirche der Verbreitung der Neuerung widersetzen. Dank dem Wilnaer Bischof Walerian Protasewicz wurde in Wilna ein Jesuitenkolleg gegründet (1570), das bald darauf (1579) von Stephan Bätory in den Rang einer Hochschule erhoben wurde. So wurde Wilna einige Jahrhunderte vor Warschau zum Sitz einer Universität. Man kümmerte sich um diese Hochschule mehr als um die zu der Zeit verkommende Krakauer Akademie. Die ersten Rektoren der Wilnaer Akademie waren der berühmte Prediger Piotr Skarga und der ebenso bekannte Bibelexeget Jakub Wujek. Die Hochschule erhielt eine ausgezeichnete Bibliothek (hauptsächlich aus den Sammlungen von Sigismund August) und eine eigene Druckerei. Hier hielten zahlreiche Ausländer (aber auch Litauer) Vorlesungen, die Universität lockte Jugendliche aus ganz Litauen, Polen und auch aus dem Ausland an. Außer den Fakultäten für freie Künste (humanistische Wissenschaften), für Philosophie und für Theologie wurde im Jahre 1642 eine Fakultät für Rechtswissenschaft eröffnet. Als Sitz einer Universität und auch als wichtiges Zentrum der Reformation begann Wilna eine beachtliche Rolle in den geistigen Bewegungen jener Zeit zu spielen. In der Stadt wirkten außer der akademischen auch einige private Druckereien (ihren Bedarf deckten zwei Papiermühlen). Hier erschienen Hunderte von Druckwerken und Büchern in polnischer, russischer, lateinischer, deutscher und italienischer Sprache. Neben Danzig war Wilna das wichtigste Zentrum der Buchdrucks in der Adelsrepublik, was mit der gewaltigen Rolle dieser Stadt in den leidenschaftlichen religiösen Disputen und Polemiken zusammenhing. Von der zunehmenden Bedeutung dieser Stadt im gesellschaftlichen Leben Litauens zeugt auch die Tatsache, daß hier im Jahre 1581 das Litauische
214
Maria Bogucka
Tribunal angesiedelt wurde. Wilna war auch - neben Warschau - ein lebendiges Zentrum des Theaterlebens,
besonders
in
der
Regierungszeit
des
großen
Theaterliebhabers Wladyslaws IV. Wasa. Der oft in Wilna weilende König organisierte im Großfürstenpalast ein Theater nach dem Warschauer Vorbild, in dem Opern, Komödien und Tragödien aufgeführt wurden. Um das Theater gruppierte sich das gesellschaftliche Leben des Hofes: Bälle, Ritterspiele
und
anderer
Zeitvertreib
standen
den
Warschauer
Vergnügungen nicht nach und brachten die Spitzen der litauischen Gesellschaft
zusammen.27
Im
Renaissance-
und
Barockeuropa
kennzeichnete die üppige Entwicklung der Hofkultur und der Hofstil des Lebens alle Städte mit Residenz- und Hauptstadtcharakter.28 Zusammenfassend ist festzustellen, daß der polyzentrische Charakter der polnischen Urbanisation in der Frühneuzeit zur Entwicklung mehrerer Zentren führte, die man als „Quasihauptstädte"
29
oder zentrale Orte
30
bezeichnen kann. In den Jahren 1450-1650 verwandelte sich Krakau: Aus der politischen Hauptstadt des Landes wurde eine sakral-religiöse Hauptstadt. Warschau wurde als Residenz der Könige zu einer - wenn auch in beschränktem Ausmaß - politisch-kulturellen Hauptstadt. Danzig erzielte den Rang einer wirtschaftlichen Hauptstadt, integrierte ökonomisch und dominierte in diesem Bereich im ganzen polnischen Staatsgebiet. Wilna wurde zum Zentrum einer lebendigen geistigen Bewegung, besonders im 27
Mehrere Informationen über gesellschaftliches Leben am königlichen Hofe in Wilna siehe A. St. R a d z i w i t l , Memoriale rerum gestarum in Polonia 1632-1656. Hrsg. A. Przybos, R. Zelewski, Bd. I-V. W r o c l a w etc. 1968-1975. 28 Zu diesem Thema sehe R. Strong, Splendour at Court. Renaissance Spectacle and Illusion. London 1973. 29 Uber die Definition von Hauptstadt siehe vor allem E. Ennen, Funktions- und Bedeutungswandel der „Hauptstadt" vom Mittelalter zur Moderne. In: Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten. Hrsg. Theodor Schieder und Gerhard Brunn. München-Wien 1983, S. 154 ff. 30 Uber den Begriff „Zentraler Ort" siehe Eva-Maria Engel, Karen Lambrecht, Hauptstadt - Residenz - Residenzstadt - Metropole - Zentraler Ort. Probleme ihrer Definition und Charakterisierung. In: Metropolen im Wandel. Zentralitätin Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. Eva-Maria Engel, Karen Lambrecht, Hanna Nogosek. Berlin 1995, S. 11-32.
Der polyzentrische Charakter der polnischen Urbanisation
215
Bereich der religiösen Auseinandersetzungen und Polemiken, und zugleich zum Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der politischen Eliten (das königliche Theater, Hofbälle und -Vergnügungen). Dabei war die Bildung jenes „urbanistischen Vierecks" in hohem Grade das Ergebnis nicht so sehr der diesen Städten eigenen ökonomischen Entwicklung (mit Ausnahme von Danzig), als vielmehr der in bezug auf diese Städte äußeren politischgesellschaftlichen Entwicklungen und Tendenzen. Man kann darin einen Beweis mehr dafür sehen, daß in der Adelsrepublik die Städte und das Bürgertum lediglich eine passive Rolle von Objekten des historischen Prozesses und nicht die von aktiven Mitgestaltern spielten.
Peter Csendes (Wien)
Wien. Die Probleme der kaiserlichen Residenzstadt im 17. Jahrhundert
Retrospektiv erscheint die Geschichte Wiens wie jene fast aller alten großen Städte als eine lineare. Sieht man von der Antike und der präurbanen Periode des Frühmittelalters ab, so steht am Anfang der städtischen Entwicklung die Entscheidung Herzog Heinrich Jasomirgotts um die Mitte des 12. Jahrhunderts, Wien nach der Erhebung Österreichs zum Herzogtum nach dem Vorbild der bayerischen Metropole Regensburg zu
seiner
ungeheuren
Hauptresidenz
zu
machen.'
Entwicklungsschub
im
Dies
Rahmen
bewirkte
einer
einen
umfassenden
binnenkolonisatorischen Bewegung, als dessen Folge Wien um 1200 als bedeutendste Stadt nach Köln im Reich galt und bereits jenen räumlichen Umfang aufwies, der bis 1850 bzw. bis zum Fall der Basteien 1858 Bestand haben sollte. Eine genauere Betrachtung einzelner Epochen zeigt freilich, daß von
einer Geradlinigkeit der Entwicklung
keineswegs
gesprochen werden kann und es immer wieder Rückschläge und Phasen der
Stagnation
gegeben
hat.
Es
ist
allenfalls möglich,
von
der
kontinuierlichen Bedeutung einzelner Phänomene oder städtischer und zentralörtlicherFunktionen zu sprechen. Die Residenzfunktion, zu der im Verlauf
des
13. und
frühen
14. Jahrhunderts
allmählich jene
einer
Hauptstadt hinzukam, 2 war ohne Zweifel für die generelle urbane Bedeutung Wiens und seine bis heute im österreichischen Städtewesen
1
Vgl. Peter Csendes, Regensburg und Wien - Babenbergerresidenzen des 12. Jahrhunderts. In: Studien zur Geschichte Wiens. Jahrb. des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 47/48(1991/92) 163ff. 2 Vgl. Peter Csendes, „Des riches houptstatin Osterrich". In: Jahrb. für Landeskunde von Niederösterreich NF 53(1987) 47ff.
Wien - Probleme der kaiserlichen Residenzstadt
217
exzeptionelle Stellung ausschlaggebend. Die habsburgischen Erbteilungen des 14. und 15. Jahrhunderts, die politischen Ambitionen und auch in deren Folge die Rückschläge unter den Kaisern Friedrich III. und Maximilian I. haben Wien jedoch vorübergehend zu einem lediglich provinziellen Mittelpunkt werden lassen, der - nicht zuletzt durch die spezifische Situation des „Reiches ohne Hauptstadt" keinen Vergleich mit Paris oder London, ja in gewisser Weise selbst mit Prag zuläßt. Die Bestrebungen von Rudolf IV. in seiner Kompetition gegenüber Karl IV. in den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts hätten vielleicht eine andere Weichenstellung herbeiführen können, blieben aber durch den frühen Tod des Fürsten ohne nachhaltige Wirkung. Es wirkte sich zudem nachteilig aus, daß die Wirtschaftskraft Wiens keineswegs
herausragend
war3.
Natürlich
gab
es
im
15.
und
16. Jahrhundert einzelne bedeutende Großkaufleute mit bemerkenswerten internationalen Verbindungen. 4 Die Neuorientierung der europäischen Wirtschaft im 16. Jahrhundert sah jedoch den Aufstieg der Länder am Atlantik und daraus resultierend eine Veränderung der wesentlichen Handelsrouten. 5
Bei
dieser
Gewichtsverlagerung
innerhalb
der
europäischen Hauptverkehrsachsen erfuhr die Donaulinie einen merkbaren Rückschlag. Dafür waren nicht zuletzt auch die politischen Verhältnisse in Südosteuropa und insbesondere die Expansion des Osmanischen Reiches verantwortlich. Wien wurde dadurch in eine Randlage gedrängt. 6
3 Vgl. Peter Csendes, Zur Wiener Handelsgeschichte des 16. Jahrhunderts. In: Wiener Geschichtsblätter 29(1974) 218ff. Ferdinand Opll, Jahrmarkt oder Messe? Überlegungen zur spätmittelalterlichen Handelsgeschichte Wiens. In: Europäische Messen und Märktesysteme in Mittelalter lind Neuzeit, hrsg. von Peter Johanek und Heinz Stoob (Städteforschungen. Veröffentlichungendes Instituts für vergleichende Städteforschung in Münster A 39, 1996) 189ff. 4 Vgl. Csendes, Handelsgeschichte (wie Anm. 3). 5 Vgl. etwa die Ergebnisse von Lambert F. Peters, Der Handel Nürnbergs am Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart 1994, 575ff. =Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 112. 6 Vgl. zusammenfassend Peter Csendes, Urban Development and Decline on the Central Danube 100-1600. In: Terry Slater (Ed.), Towns in Decline 100-1600, (im Druck).
218
Peter Csendes Als Folge verlor der traditionelle Zwischenhandel an Bedeutung, der
Weinhandel allein, der im 16. Jahrhundert zudem in eine Krise geriet,7 konnte nicht die Basis für eine Wirtschaftsmetropole bilden. Auch rächte es sich, daß durch die Bedeutung des Niederlagsrechts die Wiener Jahrmärkte nie die Rolle von Messen hatten erlangen können.8 Dazu
kam überdies, daß Wien
in
der
ersten
Hälfte des
16. Jahrhunderts von erheblichen Schicksalsschlägen heimgesucht wurde. Bei der Analyse dieser Ereignisse wird deutlich - im zeitgenössischen Erscheinungsbild der Stadt wie in den Reaktionen der Bürger -, daß Wien noch eine Stadt des Mittelalters war.9 Das Verhalten der Bürger, ihr Widerstand gegen Erzherzog Ferdinand, das Pochen auf traditionelle ständische Vorrechte gegenüber dem absoluten Herrschaftsanspruch des Fürsten, was in bürgerkriegsartigen Vorgängen und einem Blutgericht mündete,10 orientierte sich an den Erfahrungen des 15. Jahrhunderts. Das Verhaftetsein in regionalen Traditionen und die Unkenntnis neuer sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen hatten seitens der Wiener Bürger und der niederösterreichischen Stände zu einer völligen Fehleinschätzung der politischen Situation geführt; das Ergebnis der Auseinandersetzungen war schließlich 1526 eine Stadtverfassung, die als Überbau über althergebrachte
Vgl. insbesondere die Beiträge von Helmuth Feigl und Erich Landsteiner. In: Probleme des Weinbaus in Vergangenheit und Gegenwart (Forschungen aus dem Institut für Landeskunde 13, 1990), sowie Erich Landsteiner, Weinbau und bürgerliche Hantierung. Weinproduktion und Weinhandel in den landesfürstlichen Städten und Märkten Niederösterreichs in der frühen Neuzeit. In: Ferdinand Opll (Hrsg.), Stadt und Wein. Wien 1996, 17ff. =Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 14. 8 Vgl. Opll (wie Anm. 3). 9 Zur Stadt und ihren Bewohnern im 16. Jahrhundert vgl. Susanne Claudine Pils, Die Stadt als Lebensraum. Wien im Spiegel der Oberkammeramtsrechnungen. In: Studien zur Wiener Geschichte. Jahrb. des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 49(1993) 119ff.; vgl. auch Richard Perger, Die äußere Wandlung Wiens im 16. Jahrhundert. In: Wiener Geschichtsblätter29( 1974), 198ff. 10 Zu den Ereignissen vgl. zusammenfassend Richard Perger in Wolfgang Kirchhofer, Erinnerungen eines Wiener Bürgermeisters 1519-1522. Eingel. und hrsg. von Richard Perger (Österreich Archiv). Wien 1984, 13ff.
Wien - Probleme der kaiserlichen Residenzstadt
219
Gewohnheiten eine absolutistische Ausrichtung erhielt." Ein verheerender Stadtbrand im Jahr 1525 und die Verwüstungen im Zusammenhang mit der Belagerung der Stadt durch Sultan Süleyman 1529 führten zu keiner Neugestaltung des mittelalterlichen Stadtbildes, was nicht zuletzt im Kapitalmangel begründet lag. Eine Folge daraus war, daß wir in Wien nur wenige Beispiele von Renaissancearchitektur
finden.
Dagegen aber hatte Wien wieder die Aufgabe einer Festung übernommen, und das in einem Ausmaß, wie es seit der präurbanen Epoche des Mittelalters nicht mehr gegeben gewesen
war.
Die
zwangsläufige
Konsequenz war der Ausbau der Fortifikationen und die Übernahme der militärischen Verantwortlichkeit durch den Staat, der bald auch die Ordnungsaufgaben in der Stadt selbst an sich zog.12 Neben politischen, militärischen und wirtschaftlichen Problemen war es
nicht
zuletzt
die
Glaubensvorstellungen, die Bürgerschaft
und
Auseinandersetzung ihren
führte zu
Tribut
mit
den
forderte. Sie
Verfolgung
und
neuen
spaltete
die
13
In
Vertreibungen.
besonderem Maß war die Universität, an der im Spätmittelalter große Gelehrte
gewirkt
hatten,
von
diesen
Vorgängen
betroffen.
Die
Abwanderung vieler Professoren und Studenten in die Zentren des neuen Glaubens brachte einen dramatischen Niedergang. Auch die exponierte Grenzlage der Stadt senkte die Attraktivität der Ausbildungsstätte. 14 Für Wien
bedeutete dieser
Verlust
ein
weiteres
Absinken
in
seiner
11 Zur Stadtordnung vgl. künftig Martin Stürzlinger in: Studien zur Wiener Geschichte. Jahrb. des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 1998.
12
Vgl. Karl Vocelka, Du bist die port und zir alzeit, befestigung der Christenheit - Wien zwischen Grenzfestung und Residenzstadt. In: Evamaria Engel - Karen Lambrecht- Hanna Nogosek (Hrsg.), Metropolen im Wandel. Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Forschungen zu Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa). Berlin 1995, 263ff.; WalterHummelberger - Kurt Peball, Die Befestigungen Wiens. Wien-Hamburg 1974. =Wiener Geschichtsbücher 14. Vgl. noch immer Viktor Bibl, Die Einführung der katholischen Gegenreformation in Niederösterreich durch Kaiser Rudolf II. 1576-1580. Innsbruck 1900. Vgl. die Beiträge von Helmuth Größing und P. Johann Wrba. In: Günther Hamann Kurt Mühlberger- Franz Skacel (Hrsg.), Das alte Universitätsviertel in Wien, 1385-1985. ^Schriftenreihe des Universitätsarchivs2.
220
Peter Csendes
überregionalen Bedeutung. Im Gegensatz zu diesen
düsteren
Eindrücken, die auf
den
Stadtbewohnern lasteten, zeichnet der Schottenschulmeister Wolfgang Schmeltzl in seinem „Lobspruch auf Wien" 1547 ein fröhliches und positives Bild der Stadt, dessen Übereinstimmung mit der Realität fraglich erscheinen muß. Beziehen wir den humanbiologischen Ansatz des „Pace of Life", der Lebensgeschwindigkeit, hier mit ein15, so schildert Schmeltzl eine Stadt sprühender Aktivität; das müßte eine hohe Lebensgeschwindigkeit voraussetzen,
während
etwa
die
gleichzeitigen Klagen
über
den
wirtschaftlichen Rückschritt eine depressive Haltung erkennen lassen. Depression hingegen setzt erwiesenermaßen die Lebensgeschwindigkeit deutlich herab. In der Darstellung der Geschäftigkeit in den Berichten ausländischer Wienbesucher der Barockzeit scheint dagegen eine gesteigerte Lebensgeschwindigkeit mit einer expansiven Entwicklung zu korrelieren.16 Angesichts dieser nicht allzu positiven Urbanen Situation war die Verlegung des dauernden Hoflagers nach Wien durch Erzherzog Ferdinand 1533 von außerordentlicher Bedeutung.17 Es war dies ein Bekenntnis der Dynastie zur Stadt, wie es seit den Tagen Rudolfs IV. nicht mehr der Fall gewesen war, mußte doch etwa Prag sehr viel sicherer erscheinen als das exponierte Wien. Dieser Entschluß des Herrschers äußerte sich sehr bald auch sichtbar durch den Ausbau der Hofburg - der Schweizertrakt wurde umgebaut und die Stallburg errichtet - und der Einbeziehung des Umlandes 15
Zur Lebensgeschwindigkeit vgl. M.H. Bornstein - H.G. Bornstein, The Pace of Life. In: Nature 259(1976), 557ff; M.H. Bornstein, The pace of life: Revisited. In: International Journal of Psychology 14(1979) 83ff. 16 Vgl. Erich Zöllner, Das barocke Wien in der Sicht französischer Zeitgenossen. In: fitudes Europeennes. Melanges offerts a Victor L. Tapie Paris 1973, 97ff. Publication de la Sorbonne, Etudes 6, zuletzt in: Erich Zöllner, Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung, hrsg. von Heide Dienst und Gernot Heiss. Wien 1981, 382ff; Gertrude Fechner, Johann Basilius Küchelbecker über Wien und die Österreicher. In: Wiener Geschichtsblätter42(1987), 45ff. 17 Vgl. Christiane Thomas, Wien als Residenz unter Kaiser Ferdinand I.. In: Studien zur Wiener Geschichte. Jahrb. des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 49(1993), lOlff. Vgl. auch zuletzt Christopher F. Laferl, „En tierra ajena..." Spanier in Wien zurzeit Ferdinands 1.(1522-1564). In: Wiener Geschichtsblätter52( 1997), 2ff.
Wien - Probleme der kaiserlichen Residenzstadt
221
in die Hofstruktur: So wurde durch den Bau des Neugebäudes östlich von Wien eine „Residenzzone" geschaffen, die im 17. und 18. Jahrhundert weitere Schwerpunkte mit den Schlössern Alte und Neue Favorita, Hetzendorf, Schönbrunn und Laxenburg erhalten sollte. Ein wichtiger neuer Ansatz war auch nach längerer Zeit eine erste Klostergründung - das Königinkloster im Jahr 1581 -, wenngleich die Tradition der habsburgischen Grablege in Wien erst im 17. Jahrhundert begründet werden sollte. So wurden Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II. noch in Prag beigesetzt. Mit der Etablierung des Hoflagers setzte in Wien eine spezifische Entwicklung ein, die in der Zeit der mittelalterlichen Residenz nicht - oder nicht in diesem markanten Ausmaß - vorhanden gewesen war. Der Hof wurde zur sozialen Mitte der Stadt.18 Hatte schon seit dem späten 13. Jahrhundert der Landesadel die Nähe der Burg gesucht, so entstand nunmehr innerhalb kurzer Zeit eine Hofgesellschaft, die auch neue Adelsfamilien ins Land brachte. Diese charakteristische Form der adeligen Gesellschaft, die unter den katholischen Königen ihre erste Ausbildung in Spanien erfahren hatte, entwickelte sich am habsburgischen Hof in Wien sehr rasch. Der wachsende Verwaltungsapparat, der sich aus der neu entstandenen Behördenstruktur ergab
konnte bald nicht mehr am Hof
selbst beherbergt werden. Wie das Hofquartierbuch von 1563 belegt, waren in der unmittelbaren Umgebung - in der Schauflergasse und der Herrengasse - verschiedene Ämter, wie die Reichshofkanzlei oder das Kriegszahlamt, untergebracht. Die großen Verwaltungsbauten in Wien
IQ
Vgl. Elisabeth Lichtenberger, Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichenBürgerstadt zur City. Wien 1977. 19 Vgl. dazu im Überblick Friedrich Walter, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500-1955. In: Veröffentlichungen der Kommission für neuere österreichische Geschichte 59(1972) 35ff.
Peter Csendes
222
sollten erst dem 18. Jahrhundert angehören.20 Die
Hofburg
Erweiterungen.
21
selbst
erfuhr
im
17. Jahrhundert
bedeutende
Der Amalientrakt entstand an der Stelle eines älteren
Gebäudes noch in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts, es folgte 1660-1666 der Leopoldinische Trakt als Verbindung zum Kernbau. Die Erweiterungsbauten der Hofburg dienten nicht allein der Befriedigung eines wachsenden Raumbedarfs. Sie drücken bereits eine markante Veränderung in der Auffassung des Herrschaftsbegriffes aus. Weisen die kaiserlichen Bauten des 16. Jahrhunderts - der Ausbau des Schweizertrakts und die Stallburg - noch durchaus den wehrhaften Charakter der mittelalterlichen Burg auf, waren die jüngeren Zubauten bereits als Schloßbauten konzipiert, die den Rang ihrer Bewohner in entsprechender Form zur Schau stellen sollten, insbesondere durch repräsentative Fassadengestaltung.22 Neue Säle und große Höfe boten Raum für die Selbstdarstellung des Hofs im Rahmen der verschiedenen Festlichkeiten. So war es kein Zufall, daß Künstler nicht nur als Baumeister, sondern auch als Theaterarchitekten und Regisseure herangezogen wurden, wie etwa Giovanni oder Ludovico Burnacini.23 Während man die Amtsräume noch längere Zeit im Verband der Hofburg unterbrachte, benötigte das Personal entsprechende Unterkünfte. Dieses
Wohnproblem für die Hofbediensteten und
Beamten
war
ausgesprochen schwerwiegend. Um es zu lösen, entwickelte man das Hofquartierwesen24, das freilich eine erhebliche Last für die Bürger
20
Vgl. Juliane Mikoletzky, Das „Kaiserliche Hoflager" - Wien als Sitz zentraler Reichsbehörden. In: Bodo-Michael Baumunk - Gerhard Brunn (Hrsg.), Hauptstadt. Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte. Bonn-Köln 1989, 19öff. 21 Vgl. Helmut Lorenz, The Imperial Hofburg. The Theory and Practice of Architectural Representation in Baroque Vienna. In: Charles W.Ingrao (Ed.), State and Society in Early Modern Austria. WestLafayette 1996, 93ff.,mit weiteren Literaturangaben. 22 Vgl. Hubert Ch. Ehalt, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 1980, 84ff. =Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 14. 23 Ebenda, 92ff. 24 Vgl. dazu ausführlich John P. Spielman, The City and the Crown. Vienna and the Imperial Court 1600-1740. WestLafayette 1993,75ff.
Wien - Probleme der kaiserlichen Residenzstadt
223
darstellte, die noch das dominierende Element unter den Hausbesitzern innerhalb der Mauern waren. Dazu kam, daß die meisten Häuser dafür nicht im erforderlichen Maß ausgestattet waren. Vielfach handelte es sich um jahrhundertealte Bauten mit meist nur zwei Fensterachsen, die wenig Wohnraum boten. Als ein Beispiel sei auf das Ansuchen des Schmieds Anton
Schmidt
hingewiesen.
Dieser
bat
um
Befreiung von
der
Quartierpflicht für sein Haus am Neuen Markt, da es nur über zwei Schlafräume, vier kleine Zimmer und zwei Räume am Dachboden verfüge; er lebe in diesem Haus mit seiner Frau, sechs Kindern und vier Dienstboten sowie Lehrlingen und Taglöhnern.25 Mit Steuerfreijahren wurde versucht, die Hausbesitzer zu Ausbauten zu bewegen. Eine Verbesserung der Situation sollte allerdings erst das 18. Jahrhundert mit sich bringen, als das Miethauswesen, das insbesondere die Beamtenschaft als Zielgruppe vor Augen hatte, einen bedeutenden Anteil an der Bautätigkeit gewann. Freilich gab es auch repräsentative Objekte in bürgerlichem Besitz. Die von Norbert Elias für Frankreich getroffene Beobachtung, daß die ständische Differenzierung auch in bestimmten Bauformen der Wohnhäuser ihren Niederschlag gefunden hat26, läßt sich durchaus mit den Wiener Verhältnissen in Einklang bringen. So besaßen Angehörige des Inneren Rats in überwiegender Zahl große Häuser an Örtlichkeiten, die als prestigeträchtig galten. Dies hatte allerdings auch zur Folge, daß die Amtsträger den Erwartungen entsprechen mußten, wenn sie in ihren Häusern Räume für Amtszwecke zur Verfügung stellten. Im Jahr 1596 wies etwa der Stadtrichter Leopold Gartner auf die Unkosten hin, die ihm auf diese Weise entstanden waren. In seinem Haus am Hohen Markt stellte er
Räumlichkeiten
für
die
Amtskanzlei,
eine
Bürgerstube,
ein
Wassergewölbe, eine Stube für Gerichtsdiener und für die Verwahrung von 25
Hofkammerarchiv Wien, Hofquartierbuch QB61, 1667, fol. 122; zitiert nach Spielman (wie Anm. 24), 227, Anm. 24. Vgl. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Neuwied-Berlin 1969, 68ff. =Soziologische Texte 54.
224
Peter Csendes
Gefangenen bereit, wobei er auch für Beleuchtung und Beheizung aufkam.27 Der Hof und die Hofgesellschaft waren sehr bald auch die wesentlichen Arbeitgeber in der Stadt, deren Bürger jedoch nicht immer davon profitieren konnten. Viele Handwerker kamen im Verband des Hofs nach Wien und entfalteten hier, gestützt auf sogenannte Hofbefreiungen, Aktivitäten, die von den Eingesessenen als „Störerei" empfunden wurden. Ähnliches galt auch für die Militärhandwerker und andere, die sich deren Vereinigung, der „Schwarzen Pike", anvogteten. Konnte die Bürgerschaft dagegen lediglich Beschwerden vorbringen, ohne wirklich etwas zu erreichen, so richteten sich erfolgreichere Vorstöße gegen die Juden, die gleichfalls den Schutz des Hofs genossen. So hatte das unter Ferdinand II. 1642 begründete Ghetto im unteren Werd schließlich nur bis 1669 Bestand.28 Die Wiener Bürger hatten sich von der Vertreibung der Juden einen wirtschaftlichen Aufschwung erhofft, der freilich in keiner Weise eintrat. So konnte der Betrag des „Toleranzgeldes", der von der jüdischen Gemeinde jährlich entrichtet worden war, von der Stadt nicht aufgebracht werden, obwohl sie sich zur Weiterzahlung verpflichtet hatte. Es kam daher sehr bald zur Wiederansiedlung jüdischer Familien, wenngleich in einer beschränkten Anzahl. Die Gegnerschaft der Bürger zu diesen „Hofjuden" sollte allerdings auch gewaltsame Entladungen finden. Die bürgerliche Führungsschicht war auf Grund der ökonomischen Situation und der beschriebenen allgemeinen Entwicklung des frühen 16. Jahrhunderts vergleichsweise schmal.29 Das führte dazu, daß viele 27
Hofkammerarchiv Wien, Niederösterreichische Herrschaftsakten W 61/C/60, fol. 675; zitiert nach Johanne Pradel, Die Wiener Ratsbürger im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts, phil.Diss. Wien 1972 (maschinschriftl.), 54; dieselbe, Die Wiener Bürgermeister der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Wiener Geschichtsblätter26(1971), 137 ff., 178ff„ 200ff. 28 Vgl. HansTietze, Die Juden Wiens, Wien-Leipzig 1933 (Nachdruck Wien 1987), 50ff.; Hans Rotter - Adolf Schmieger, Das Ghetto in der Wiener Leopoldstadt. Wien 1926; Hugo Gold, Geschichte der Juden in Wien. Tel Aviv 1966, 17ff. 29 Vgl. Otto Brunner, Zwei Studien zum Verhältnis von Bürgertum und Adel. Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, 152.
Wien - Probleme der kaiserlichen Residenzstadt
225
Zuwanderer bereits in der ersten Generation in die Ratsbürgerschicht aufsteigen konnten. Die Stadtordnung von 1526 hatte besonders bedacht darauf
genommen,
die
Handwerkerschaft
vom
Stadtregiment
auszuschließen. Es sollten vornehmlich Männer dem Inneren Rat und dem Stadtgericht
angehören,
die
von
ihrem
Realitätenbesitz oder
vom
Großhandel leben konnten. Mit der zunehmenden Dominanz des Hofes und der Adelsgesellschaft in der Stadt wird aber auch bei den Bürgern das Interesse an einer Verbindung zum Hof oder an der Übernahme eines höheren Amtes in der kaiserlichen oder landesfürstlichen Verwaltung immer deutlicher. Die Erhebung in den Adelsstand ist ein begehrtes Ziel. In der Verteilung der Wohnviertel innerhalb der Stadt wird jedoch immer deutlicher ein Auseinanderdriften des Hof- und Adelsbereichs - südlich der Linie Freyung - Graben - Kärntner Straße von den traditionell bürgerlichen Wohngebieten - Stadtkern, Stubenviertel - erkennbar. Dies läßt sich auch sehr deutlich am Beispiel des Hausbesitzes von Ratsbürgern im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert belegen.30 Die Stadt des 17. Jahrhunderts zeigte noch ein ausgesprochen mittelalterliches Erscheinungsbild, wie es
auf Hoefnagels berühmter
Vogelschau von 1609 noch deutlich zum Ausdruck kommt. Erst im späteren 17. Jahrhundert kam es zu einer allmählichen Verwandlung. Der große Entwicklungsschub hin zur Barockmetropole erfolgte jedoch erst nach 1683 und insbesondere im 18. Jahrhundert - wenn wir heute auch wissen, daß sehr viel an mittelalterlicher Bausubstanz hinter den neuen Fassaden erhalten geblieben ist. Die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts erhaltenen und seit etwa 1700 in ihrer Zahl rasch stark ansteigenden Baueonsense belegen diese Fakten. Der
Erfolg
der
Gegenreformation
stand
zu
Beginn
des
17. Jahrhunderts fest. Man hatte den Protestanten schrittweise jegliche 30
Vgl. Erwin Skoda, Die Wiener Ratsbürger zwischen 1671 und 1705, phil. Diss. Wien 1974 (maschinschriftl.), 23ff.
Peter Csendes
226
Möglichkeit des Gottesdienstes in der Stadt genommen, schließlich auch das „Auslaufen", das Hinauswandern auf adelige Schlösser in Inzersdorf und Hernais, um dort in den Schloßkapellen Prediger zu hören, unterbunden. Wien war allerdings nie vollständig vom Protestantismus erfaßt worden. Daher setzte man 1577 auch hier mit den gezielten gegenreformatorischen Maßnahmen an.31 Im Rat konnte mit Hilfe des Bewilligungsrechts durch den Statthalter die Zahl der Protestanten rasch reduziert werden. Die Rekatholisierung der Bürgerschaft war damit freilich noch lange nicht erreicht, und so waren für einige Jahrzehnte die Katholiken im
Rat
zweifellos
gegenüber
der
Gesamtbevölkerung überrepräsentiert.
32
religiösen 1622
Ausrichtung
standen
der
protestantische
Ratsbürger an der Spitze einer Verschwörung gegen den Kaiser.33 1625 kam es allerdings zur Vertreibung der Protestanten aus Wien. Städtischen Amtsträgern wurde in der Folge vor dem eigentlichen Amtseid eine Professio fidei abverlangt. Die Zahl der vertriebenen Bürger war erheblich, wie
die
Angaben
in
den
Steueranschlagbüchern
über
die
aus
Glaubensgründen abgewanderten Hausbesitzer zeigen. Dies bedeutete freilich auch, daß der Stadt ein bedeutendes Potential an Intelligenz, Kapital und Wirtschaftskraft verlorenging.34 Die Abwanderung wurde durch eine entsprechende Immigration ausgeglichen, es fehlte auch nicht an Opportunisten, die die Zwangslage der Emigranten skrupellos auszunützen vermochten und auf diesem Weg günstig zu beträchtlichem Grundbesitz kommen konnten. Die Bemühungen und schließlich der Erfolg der Gegenreformation äußerten sich auch im Stadtbild. Die sogenannte „Klosteroffensive" brachte 31
Vgl. Bibl (wie Anm. 13), 40. Vgl. Pradel, Ratsbürger (wie Anm. 27), 146f. 33 Ebenda, 147f. Pradel fußt dabei auf den Forschungen von Bibl (wie Anm. 13). Vgl. auch Ignaz Hübel, Die Ächtungen von Evangelischen und die Konfiskationen protestantischen Besitzes im Jahre 1620 in Nieder- und Oberösterreich. In: Jahrb. der Gesellschaft für Geschichte des Protestantismus in Österreich 58(1937), 26. 34 Vgl. Pradel, Bürgermeister (wie Anm. 27), 180. 32
Wien - Probleme der kaiserlichen Residenzstadt
227
im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche Orden nach Wien, die in der Stadt selbst oder in den Vorstädten ihre Kirchen und Klostergebäude erbauten. Sie folgten auf die Jesuiten, die 1551 nach Wien gekommen waren und im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts Kirche und Kolleg zunächst der Universität errichteten, die ihnen Ferdinand II. übergeben hatte. In dieser Zeit ließen sich die Paulaner auf der Wieden nieder, die Schwarzspanier vor dem Schottentor, die Karmeliter im Untern Werd (Leopoldstadt), die Serviten in der Roßau. Barnabiten, Augustinereremiten übernahmen Kirchen und Klöster in der Stadt. Auch die Kapuziner ließen sich innerhalb der
Mauern
nieder,
ein
Dominikaner begannen
neues
ihr
Franziskanerkloster
Kloster zu
Jahrhunderthälfte folgten Klarissinnen,
entstand,
erneuern. In unbeschuhte
der
die
zweiten
Karmeliterinnen,
beschuhte Karmeliter und Ursulinerinnen. Dadurch entstanden aber auch in der Stadt und in den Vorstädten Grundagglomerationen, die wesentliche Auswirkungen auf die Verbauungsstruktur hatten. Politisch wie kulturell dominierte natürlich der Hof, wobei die Hofgesellschaft mit Palaisbauten auch im räumlich repräsentativen Sinn eine zunehmende Ausweitung innerhalb der Stadt erfuhr.35 So entstanden im 17. Jahrhundert die Palais Montecuccoli, Hoyos,
Dietrichstein,
Abensberg-Traun, Falkenberg, in der Herrengasse, der Schenkenstraße, am Minoritenplatz, in der Kärntner Straße. Auch außerhalb der Stadt wird diese dominante
Präsenz
mit
dem
steigenden
Repräsentationsbedürfnis
bemerkbar: Gärten und Gartenpalais, insbesondere in der Leopoldstadt und auf dem Gebiet des heutigen 8. und 9. Bezirks, entstanden. Die allgemeine intensive Bautätigkeit, die nach 1683 entfaltet wurde, ist - wie zu erwarten auch im adeligen Bereich festzustellen16; von den Bürgern waren es nur 35
Auf die besondere Rolle des Adels in Wien, der die politisch führende Rolle übernimmt, verweist Wolfgang Braunfels, Die Kunst im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 1. München 1979,49. 36
Vgl. Wolfgang Pircher, Verwüstung und Verschwendung. Adeliges Bauen nach der Zweiten Türkenbelagerung. Wien 1984, 66ff. =Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 14.
Peter Csendes
228
wenige Ratsherren, die in diesem Umfeld mithalten konnten.37 Barocke Inszenierungen, wie sie für das Hofzeremoniell, Einzüge, Theateraufführungen usw. erfolgten, suchten auch eine Verbindung des Hofs zur Bevölkerung
herzustellen,
die
freilich
nur
als
Staffage
einer
Gesamtinszenierung in Erscheinung trat. Die außergewöhnlichen Aktivitäten im Interesse der Rekatholisierung hatten allerdings eine eminente Entfaltung barocker Volksfrömmigkeit zur Folge, die im Alltag ihren Niederschlag fand. Prozessionen und Wallfahrten wurden zu einem festen Bestandteil des Jahresablaufs und in der Lebensorganisation, Gewerbebereich
wovon
vor 38
betroffen waren.
allem
der
Gegenüber
Handwerksdiesem
und
ideologisch
geförderten Brauchtum gab es die Sphäre sinnlicher Unterhaltung, der die Obrigkeit mit großem Mißtrauen gegenüberstand.39 Die allgemeine Bautätigkeit nahm erkennbar nach dem 30jährigen Krieg zu. Wien war vom Krieg im wesentlichen nur indirekt betroffen gewesen - durch Währungsverfall und Besteuerung. Doch von Kriegshandlungen waren die Stadt und ihr Umland weitgehend verschont geblieben. Dennoch bestand nach der Mitte des Jahrhunderts
ein
Nachholbedarf, wobei sich, eine markante Orientierung nach dem Süden ergab. Dies hängt, wie wiederholt geäußert wurde, nicht zuletzt damit zusammen, daß der Krieg und seine Auswirkungen die Verbindungen, die von Österreich zum Norden und Westen bestanden, wenn nicht
abgebrochen,
so
doch
deutlich
eingeschränkt
hatten.
schon Der
Bevölkerungsrückgang nach der Pest von 1679 und die Folgen der Türkenbelagerung von 1683 sowie die erforderlichen Wiederaufbaumaßnahmen, die das Umland auch administrativ und rechtlich veränderten,
37
Vgl. Skoda (wie Anm. 30), 22ff. ^ Diese Veranstaltungen waren aber auch wiederholt Anlaß tatsächlicher oder vermeintlicherStörversuche von Protestanten; vgl. Walter Sturminger, Der Milchkrieg zu Wien am Fronleichnamstag 1578. In: MIÖG 58(1950) 614ff. 39 Vgl. Franz Hadamowsky, Wien. Theatergeschichte.Wien-München 1988, 97ff., 169ff. -IQ
Wien - Probleme der kaiserlichen Residenzstadt
229
bewirkten eine verstärkte Zuwanderung, die erst den Aufschwung der Barockmetropole ermöglichte. Es waren insbesondere die Italiener, die nunmehr nach Wien kamen und etwa die Hälfte der in der Stadt ansässigen Ausländer ausmachten. Sie waren als Baumeister und Architekten, als Maler, Bildhauer und Stukkateure, aber auch als Rauchfangkehrer oder Barbiere tätig.40 Namen wie Burnacini, Canevale, Carlone, d'Allio, Galli-Bibiena,Martineiii, Rossi oder Tencala dominieren die
Blütezeit barocker
Kunstentfaltung. Für die zweite Hälfte des
Architektur
und
17. Jahrhunderts wird
angenommen, daß die Italiener etwa fünf bis zehn Prozent der gesamten Einwohnerschaft ausgemacht haben.41 Leider läßt sich diese Zuwanderung nicht in absoluten Zahlen messen, da allein über die jährliche Aufnahme von Neubürgern Aussagen möglich sind. Der Erwerb des Bürgerrechts stand in der überwiegenden Anzahl der Fälle mit einem bürgerlichen Meisterrecht in Verbindung, daher sind die Zahlen selbst über einen Zeitraum von hundert Jahren ziemlich konstant.
Sie belaufen sich etwa in den zwanziger Jahren
des
17. Jahrhunderts im Schnitt auf 124, in den achtziger Jahren auf 144 Bürgerrechtsverleihungen pro Jahr, wobei allerdings das Jahr 1684 mit mehr als 200 Bürgerrechtsverleihungen eine gewisse Verzerrung bewirkt.42 Insgesamt wird man die Bevölkerung innerhalb der Mauern mit 50-60.000 Menschen annehmen können.43 Die zahlenmäßig wichtigsten Bevölkerungsgruppen waren freilich vom politischen Leben weitestgehend ausgeschlossen. Der Bürgermeister, 40
Vgl. Pircher (wie Anm. 36), 83ff.; Else Reketzki, Die Wiener Rauchfangkehrer. In: Jahrb. des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 12(1955/56), 198ff. 41 Vgl. Jean-Michel Thiriet, Mourir ä Vienne aux XVIIe - XVIIIe siecles. Les cas des Welsches. In: Studien zur Wiener Geschichte. Jahrb. des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 34(1978), 204ff. 42 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Oberkammeramtsrechnungen und ab 1686 Bürgereidbücher. Die Oberkammeramtsrechnungen sind nicht für alle Jahre des 17. Jahrhunderts erhalten. 43 Vgl. zusammenfassend Spielman (wie Anm. 24), 32, mit Literaturangaben.
230
Peter Csendes
der kein Handwerker sein durfte, war in seinen Funktionen auf Verwaltung und Repräsentation beschränkt, allenfalls gewann er als Mittler zu Hof und Regierung an Bedeutung. Die städtische Wirtschaft war noch lange vom Agrarprodukt Wein abhängig und sehr stark dem traditionellen Handwerksund Gewerbebetrieb verpflichtet. Der Groß- und Fernhandel lag im 16. und 17. Jahrhundert in den Händen der sogenannten Niederleger, den Vertretern fremder
Großhandelshäuser 44
Exportgewerbe fehlte.
in
der
Stadt.
Ein
leistungsfähiges
Die frühen industriellen Fertigungsanlagen finden
sich erst weit außerhalb der Stadt, das Manufakturhaus am Tabor kam über den Status eines Experiments nicht hinaus. Erst unter Karl VI. sollten die Vorstellungen des Merkantilismus auch für Wien merkbare Ausmaße annehmen. Gegenüber anderen Faktoren blieb daher der Wirtschaftsplatz Wien von untergeordneter Bedeutung. Kleingewerbe und Dienstleistung sollten auch weiterhin den Schwerpunkt bilden; allein die baulichen Aktivitäten des Hochbarock vermochten den Eindruck einer städtischen Prosperität
zu
erwecken.45 Das
bürgerliche Element wurde
dabei
insbesondere durch die steigenden Grundpreise zunehmend aus dem Stadtbereich in die Vorstädte abgedrängt. Waren 1566 von 1205 Häusern 299 in nichtbürgerlichemBesitz, so stieg dieser Anteil bis 1664 bei 1116 Objekten auf 467 nichtbürgerliche Hausbesitzer, was fast 42 Prozent entspricht!46 Das 17. Jahrhundert kann in der Entwicklung Wiens als eine Zeit des Übergangs charakterisiert werden, in der nach der düsteren Epoche des Glaubenskampfes und der permanenten osmanischen Bedrohung der Sieg 44
Vgl. Günther Chaloupek, Wiens Großhandel in der kommerziellen Revolution. In: Wiener Geschichtsblätter39( 1984), 105ff. 45 So wurde etwa Prinz Eugens anläßlich seines Ablebens insbesondere als Arbeitgeber gedacht. Vgl. Peter Csendes, Die Stadt Wien als kaiserliche Haupt- und Residenzstadt. Von den Zerstörungen des Jahres 1683 zum barocken Juwel. In: Karl Gutkas, Prinz Eugen und das barocke Osterreich. Salzburg-Wien 1985, 179. ^Auskunft darübergeben die Hofquartierbücher. Zu den nichtbürgerlichen Hausbesitzern sind neben Adel und Geistlichkeit kaiserliche und landesfürstliche Beamte, aber auch die hofbefreiten Handwerker zu rechnen; vgl. Skoda (wie Anm. 30), 17f.
Wien - Probleme der kaiserlichen Residenzstadt
231
des Katholizismus und der militärische Triumph eine Phase städtischer Expansion eingeleitet wurde. Für die Beurteilung der Urbanen Stellung Wiens läßt sich für dieses Jahrhundert zusammenfassend feststellen, daß Wien im wesentlichen durch drei Faktoren seine Bedeutung halten bzw. erweitern konnte: - als Festungsstadt, - als Haupt- und Residenzstadt, - als Beamtenstadt. Die militärische Bedeutung als Festung ging nach 1683 rasch verloren. Die Funktion der Haupt- und Residenzstadt gewann nach 1683 infolge des
Aufstiegs
der Habsburgermonarchie zur
europäischen
Großmacht dagegen weiter an Bedeutung. Die Rolle als Beamtenstadt wurde durch die Hauptstadtfunktion bestimmt, als deren Begleiterscheinung sie bis in die Gegenwart beobachtet werden kann und die insbesondere in der neueren österreichischen Literatur wiederholt pointierte Schilderung gefunden hat. Die Bautätigkeit nach 1683 - vor allem auch in den Vorstädten - hat den Stadtgrundriß der späteren Bezirke weitestgehend präfiguriert. Der gesamten Stadtlandschaft aber wurde durch diese Aktivitäten jene barocke Prägung zuteil, die noch heute in hohem Maß das Erscheinungsbild der Stadtbestimmt.47
47
Vgl. auch Franz Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. 2 Bde. Berlin-New York 1981.
WalterLeitsch (Wien)
Wann und warum verlor Krakau die Funktion einer königlichen Residenzstadt?
Viele Historiker haben sich mehr oder weniger sachkundig und ausführlich mit diesem Problem beschäftigt. Meinungen gab es viele, denn niemand konnte sagen, zu welchem genauen Zeitpunkt Sigismund III. die Entscheidung traf, mit seinem Hofstaat nicht mehr
nach
Krakau
zurückzukehren. Am besten und ausführlichsten schrieb über diese Frage Jan M. Maiecki 1 in einem Aufsatz mit dem Titel: „Wann und warum hörte Krakau auf, Hauptstadt von Polen zu sein?" Ich habe im Titel dieses meines Aufsatzes das Wort „Hauptstadt" bewußt nicht verwendet. Das polnische Wort „stolica" bedeutet heute vor allem Hauptstadt, doch hatte es früher auch die Bedeutung Thron (stolica oder stolec), es schwingt also bei dem Wort die Bedeutung „königliche Residenzstadt" immer mit, während wir im Deutschen „Haupt- und Residenzstadt" sagen müssen, um dasselbe auszudrücken. Es übersiedelte, daran besteht gar kein Zweifel, während der Regierungszeit Sigismunds III. keineswegs „die Hauptstadt", der König hatte, so meine ich, nicht die Absicht, „die Hauptstadt" zu verlegen, wie dies etwa ungefähr 100 Jahre später Peter der Große tat. Man kann nicht einmal sagen: Es übersiedelte der Königshof, denn der war in den vorangegangenen Jahrzehnten keineswegs ständig in Krakau gewesen. Malecki kam zu dem Schluß, man könne für diese Übersiedlung keinen
' Jan M. Malecki, Kiedy i dlaczego Krakow przestaf byc stolica Polski. In: Rocznik Krakowski 44(1973) 21-36, im folgenden kurz Matecki, Krakow. - Neulich hat ein Historiker eine umfangreiche Sammlung von einschlägigen Äußerungen angelegt, dann hat er festgestellt, die Situation sei chaotisch, doch nat er das Chaos durch die Aneinanderreihung von Daten nur noch vermehrt; er unternahm nicht den geringsten Versuch, eine Erklärung für diesen Zustand anzubieten. F.W. Carter, Trade and Urban Development in P o l a n i An economic geography of Cracow, from its origins to 1795. Cambridge (1994), 185-189.
Krakau als königliche Residenzstadt
233
genauen Zeitpunkt angeben, es habe sich vielmehr um einen langwierigen Prozeß gehandelt, der in der Regierungszeit Sigismunds III. seinen Abschluß fand. Bereits die Vorgänger dieses Königs hätten nur wenig Zeit in Krakau verbracht. Sigismund I. habe sich noch während 45% seiner Regierungszeit in Krakau
aufgehalten, sein
Sohn
und
Nachfolger
Sigismund II. nur noch 15%, er verließ die Stadt im Jahre 1559 und kehrte bis zu seinem Tod (1572) nicht zurück. Auch Stefan Bäthory verbrachte von den zehneinhalb Jahren seiner Regierung nur zwei in der Stadt, die als seine Hauptresidenz galt. Malecki brachte auch einen Überblick über die Aufenthaltsorte Sigismunds III. Diese Angaben kann ich präzisieren, da ich im Zuge der Arbeiten über das Leben am Hof unter Sigismund III. eine Art behelfsmäßiges Itinerar des Königs anlegte. Die Angaben ließen sich gewiß noch präziser fassen, würde man die Datierung der Urkunden heranziehen. Die Angaben der folgenden Aufstellung sind vor allem zeitgenössischen Korrespondenzen und den Finanzakten entnommen; es
kann
daher
vorkommen, daß ich als tatsächliches Abreisedatum ein zwar vorgesehenes annahm, das jedoch nicht eingehalten wurde. Es sind die jeweiligen Sommerresidenzen den Winterresidenzen hinzugerechnet, es ist also der Zeit des Aufenthalts in Krakau hinzugerechnet, wenn der König in Lobzow oder Niepolomice lebte, dasselbe gilt für Warschau und Ujazdow. Kurzfristige Ausflüge zur Jagd nach Litauen oder nach Czestochowa sind ebenfalls etwa Warschau hinzugerechnet, wenn die Hofgesellschaft aus Warschau dahin reiste und nach zwei oder drei Wochen wiederum nach Warschau zurückkehrte, denn in diesen Fällen blieb der überwiegende Teil des Personals und der Habe in Warschau. Es kam für diese Wochen dieser Stadt die Qualität der eigentlichen Residenz zu. Rechts ist angegeben, wenn der König lange und große Reisen unternahm, wenn er sich also weder in Krakau noch in Warschau aufhielt. Zog der König in den Krieg, und die Familie blieb in einer Stadt mit dem Hof zurück, ist diese Zeit dieser Stadt zugerechnet, wenn der Kriegszug nicht lange dauerte.
234
Walter Leitsch Aufenthalt in Tagen in den beiden Residenzstädten Krakau
1587 1588 1589 1590 1591 1592 1593 1594 1595 1596 1597 1598 1599 1600 1601 1602 1603 1604 1605 1606 1607 1608 1609
22 244 -
275 215 -
90 365 67 -
41 -
223 365 366 282 240 284 366 100 3.545
Warschau -
90 365 73 138 214 -
262 365 169 293 259 150 36
Gründe für längere Abwesenheit (Ankunft in Polen) (in Litauen) (Litauen, Reval, Preußen) (Reise wegen Pest) (Schweden) (Schweden) (im Januar kurz in Warschau) (vom 18.-23. Juli in Krakau) (Schweden) (wegen Pest auf Reisen) (Feldzug) (Litauen)
-
49 95 55
(nur Reichstag) (etwas mehr als Reichstag) (nur Reichstag)
-
46 2.659
In den beiden Residenzstädten hielt sich der König 73,84% der Zeit auf, 26,16% verbrachte er auf Reisen, davon einen geringen Teil auch in Stockholm, ebenfalls einer Haupt- und Residenzstadt, doch von unserem Problem aus gesehen ist diese Zeit als Reisezeit zu werten. Von den 73,84% fallen auf Krakau 42,19 und auf Warschau 31,65%. Von der Summe der Aufenthaltstage in beiden Städten fallen auf Krakau 57,14% und auf Warschau 42,86%. Man kann einzelne Perioden herausgreifen und erhält dabei nicht uninteressante Resultate. Ich werde im folgenden noch zeigen, daß auch die Familienverhältnisse mit dazu beigetragen haben, daß sich der König in der einen und nicht in der anderen Stadt aufhielt. Am deutlichsten sieht man das
Krakau als königliche Residenzstadt
235
in dem sprunghaften Anstieg der Aufenthaltsdauer in Krakau vom Jahre 1602 an: Da bereitete er seine zweite Hochzeit vor. Das dauerte so lange, weil König und Kaiser bzw. die Polen und der Kaiser in bezug auf die Person der Braut nicht einig werden konnten. Bei einer Einteilung nach den Familienverhältnissen ergibt sich folgendes Bild:
Krakau Tage 541 vor der ersten Ehe (vor 1592) 737 während der ersten Ehe (1592-1597) 1.278 Witwerzeit( 1598-1605) 990 Anfang der zweiten Ehe (1606-1609) 3.546
Warschau
%
Tage
%
50,61 42,95 57,21 83,47 57,15
528 979 956 196 2.659
49,39 57,05 42,79 16,53 42,85
Die Jahre 1606 bis 1608 fallen stark zugunsten Krakaus ins Gewicht. Daß der Hof in diesen Jahren praktisch die gesamte Zeit in Krakau verblieb, ist wohl auf die wirren Zustände im Land zurückzuführen, es herrschte Bürgerkrieg. Der König nahm wohl an, daß seine Familie im Wawel am besten aufgehoben war. Berücksichtigen wir die Aufenthaltstage nur für die Jahre von 1587 bis 1605 inklusive, lassen wir also die Zeit des rokosz unberücksichtigt, dann verbrachte der König von der Zeit, die er in einer der beiden Residenzstädte lebte, 49,1 % in Warschau und 50,9% in Krakau. Er hielt sich also praktisch gleich lang in den beiden Städten auf. Scheiden wir die Zeit der Vorbereitung der Hochzeit und die Zeit des Bürgerkrieges als untypisch aus und errechnen die Werte nur für die Jahre 1587 bis 1601, so fallen von den 3.697 Tagen, die der König in den Residenzstädten verbrachte 1.319 oder 35,68% auf Krakau und 2.378 oder 64,32% auf Warschau, also fast zwei Drittel. Viele Historiker haben gemeint, der Hof sei im Jahre 1596 von Krakau nach Warschau übersiedelt. 2 Zu der Annahme kamen sie, weil es eine Notiz
2
Siehe dazu vor allem Matecki, Krakow 23. Im 19. Jahrhundert waren dieser Ansicht:
236
Walter Leitsch
von einem Beamten gibt, in der davon die Rede ist, der König sei mit der Königin und dem ganzen Hof am 8. März 1596 von Krakau nach Warschau abgereist; auf drei Schiffen sei die Habe der Königin verladen worden.3 Die hier berichteten Fakten entsprechen voll und ganz der Wahrheit, nur die Schlüsse, die man aus dieser Textstelle zog, treffen keineswegs zu. Der Hof übersiedelte schon einmal in derselben Weise, also mit Sack und Pack, im August 1592 von Krakau nach Warschau.4 Er Ffranciszek] Mfaksymilian] Sfobieszczadski], Rys historyczno-statystyczny wzrostu i stanu miasta Warszawy od najdawnieiszychczasöw az do 1847 roku. (Warszawa 1974), 32; IgnacyZagorski, Daty pobytu krölow pols. w Warszawie miedzy rokiem 1526 a 1596; zebranepo wiekszej czesciz owczesnych r^kopisow dla uzupetnienia Kroniki tego miasta. In: Biblioteka Warszawska (1847) 4, 204-207; Starozytnosci Warszawy. Dzie-to zbiorowo-zeszytowe, wydawane przez Aleksandra Wejnerta. 6 Bde. Warszawa 18481858, 2, 92, im folgenden kurz Starozytnosci Warszawy. Einige Publikationen des 20. Jahrhunderts vor dem Erscheinen der Arbeit von Maiecki: Eduard Kneifel, Die Gründe des Verfalls der Reformation in Polen. In: Festgabe für Arthur Rhode zum '90. Geburtstage am 13. Dezember 1958. Gestalten und Wege der Kirche im Osten. Ulm/Donau (1958) 74-84, hier 82; Wladysiaw Tomkiewicz: Warszawa w XVII wieku. In: Kwartalnik Historyczny 72(1965) 587-610, hier 588; Longin Maidecki, Lazienki. Przemiany ukiadu przestrzennego zaiozenia ogrodowego. Warszawa 1969, 17 =Rejestr ogrodöw polskich 7; Janusz Pelc, Wtadyslaw Tomkiewicz, Rola mecenatu w rozwoju kultury i literatury polskiej w czasach renesansu oraz baroku. In: Problemy literatury staropolskiej. Seria druga. Wroclaw etc. 1973, 165-236, hier 192. Nach dem Erscheinen des Aufsatzes Maieckis hielten weiter an dem Jahr 1596 fest: Jan Wladyslaw Wos, Zur Biographie des Giovanni Paolo Mucante, Autor der ältesten Beschreibung Warschaus als Hauptstadt Polens (1596-97). In: Ricerche di storia sociale e religiosa 14(1978) 167-180, hier 167; Jan Wladyslaw Wos, Stanislao Reszka segretario del card. S. Hozjusz e ambasciatore del Redl Polonia a Roma e a Napoli (N. 1544 - M. Post 1600). In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Classe di Lettere e Filosofia. Serie 3. 8(1978) 187-202, hier 198; Ewa Bem-Mank, Stotecznosc Warszawy w swiadomosci spoleczenstwa polskiego w I polowie XVII wieku. In: Przeglqd Humanistyczny 23(1979) 2, 115-132, hier 115; W arszawa w latach 1526-1795. Hrsg. von Maria Bogucka u.a. (Warszawa 1984) 13 =Dzieje Warszawy 2; Edward Rudzki, Polskie krölowe. 2: Zony krölow elekcyjnych. Warszawa 1987, 63; Maigorzata Sikorska, Srödmiescie Warszawy. Elementy ci^gtosci historycznej. Warszawa-Lödz 1989, 13; Miros law Korolko, Seminanum Rzeczypospolitej Krolestwa Polskiego. Humanisci w kancelarii krölewskiej Zygmunta Augusta. Warszawa (1991) 28; Irena Komasara, Ksiazka na dworach Wazow w Polsce. (Wroclaw) 1994 14. - Im Jahre 1996 beging man den 400. Geburtstag Warschaus als Hauptstadt Polens. Es gab eine große Ausstellung im Königsschloß una einen prächtigen Katalog, für den namhafte Historiker Beiträge schrieben. Keiner führte jedoch „Beweise" für die Übersiedlung des Hofes im Jahre 1596 an, man einigte sich offensichtlich auf die Formel, der Hof sei im Laufe der Jahre 1596-1611 von Krakau nach Warschau übersiedelt. Siehe Maria Bogucka (39), Jolanta Putkowska (51) und Adam Milobedzki (69) in Narodziny stolicy. Warszawa w latach 1596-1668. Warszawa (1996). Maria Bogucka, Miedzy stolicy, miastem rezydencjonalnym i metropolis. Rozwöj Warszawy w XVI-XVIII w. In: Rocznik Warszawski 23(1993) 173-186, hier 176. Eigentlich müßte Warschau fünfzehn Jahre lang Metropolgeburtstag feiern. Das wäre anstrengend. 3 4
Wörtlich zitiert bei Malecki, Krakow 23. Siehe die genauen Aufzeichnungen in Archiwum Gtöwne Akt Dawnych. Archiwum
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wurde im folgenden Jahr geteilt, ein Teil blieb in Warschau, der andere ging mit dem König nach Schweden. 5 Nach seiner Rückkehr reiste der König mit der einen Hälfte des Hofes von Danzig über Posen nach Krakau, ohne Warschau zu berühren. Die zweite Hälfte des Hofes reiste aus Warschau zurück nach Krakau. 6 Während der Reise nach Schweden war das erste Kind des Königspaares in Warschau; als der König in Krakau ankam (2. Oktober 1594), war die Tochter bereits in Krakau.7 Im Jahre 1596 übersiedelte der ganze Hof nach Warschau und im Mai des Jahres 1602 wieder zurück nach Krakau. Der König mußte dort seine zweite Hochzeit vorbereiten.8 Kurz nach seiner Ankunft in Krakau schrieb er
der
Erzherzogin Maria: „Unser herr geb gnad, das wir lang hie wohnen können". 9 Der Hofstaat blieb in Krakau bis zum 29. Mai 1609; dann übersiedelte er auf einige Zeit nach Wilna bzw. mit dem König zur Belagerung von Smolensk. Von einer Übersiedlung des Hofes nach Warschau im März 1596 kann also nicht die Rede sein. Fast alle Historiker, die an eine Übersiedlung des Hofes im Jahre 1596 glaubten, führten als eine der Ursachen - oder oft sogar als d i e
Ursache - an, daß es im
Wawel, im Krakauer Königsschloß, im Jahre 1595 zwei Brände gegeben
Skarbu Koronnego. Rachunki Krolewskie 293a, 39r.-62r. Im folgenden AGAD, ASK, RachKrol. 5 Wanda Dobrowolska, Do dziejow dworu krolewskiego w Polsce. In: Kwartalnik Historyczny 48(1934) 319-336, hier 329-335. 6 Dazu konnte ich keine Quellen finden, doch blieb die zweite Hälfte des Hofes gewiß nicht in Warschau, denn verblieb der König nun vom 2. Oktober 1594 bis zum 8. März 1596 in Krakau. 7 Ernhofer an Erzh. Maria, Krakau, 12. Oktober 1594, Original in Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, FamilienkorrespondenzA, 42, 104-109. Im Folgenden kurz FamKorr. 8 Das geht aus zwei Schreiben von Daniel Nepfel aus Warschau ganz klar hervor: an die preußischen Oberräte vom 21. April und an aen kurfürstlichen Rat vom 30. April 1602, Kopie und Original in Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Geheimes Staatsarchiv 9-Polen 5 d 1,41 und 42; 7, 154/1,469-471. Im folgenden kurz ABrand. Siehe auch A. Bobola an Marcin Dobroszowski, Warschau, 23. April 1602, Original in AGAD, ASK, Ksiegi asygnat4, 57. 9 Sigismund III. an Erzherzogin Maria, Krakau, 31. Mai 1602, Kopie in Bayerisches Geheimes Hausarchiv, Korrespondenzakten A, 625/1, sub dato. Im folgenden kurz GHMün.
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habe.10 Nur der erste der beiden Brände (29. Januar 1595) hat wirklich größeren Schaden angerichtet, hat einen Teil der Wohnräume der königlichen Familie für längere Zeit unbewohnbar gemacht. Als es im Wawel brannte, war die Königin mit dem späteren König Wladyslaw schwanger, also konnte sie wohl nicht gut übersiedeln, als es wärmer wurde. Schiechel, ein Kammerdiener, kommentierte das: Es kann sein, daß die Königin wegen des Reichstags „noch zue Warscha in der kindpet ligen mues... bleiben wir dann hie, so miessen Ihr Majestät wegen deß pauens draus zu Lobshoff in dem klainen schlössel niderligen"." Wegen des Reichstags mußte man nach Warschau. Das Bauen bedingte nur einen Umzug nach Lobzow. Warum wartete die Familie mit der Übersiedlung fünfzehn Monate lang? Das ist wohl sehr erklärungsbedürftig. Auch wenn ein Teil des Wawel unbewohnbar war, gab es da für die königliche Familie immer noch viel mehr Wohnraum als im Warschauer Schloß, denn lebte Anna Jagiellonka noch, als der König und seine Familie im März 1596 nach Warschau zogen.12 Im Juni 1596 gab es ein Problem: Zu Verhandlungen über eine Liga gegen das Osmanische Reich hatte der Papst den Kardinal Caetani nach Krakau geschickt. Der König hielt sich in Warschau auf, wollte jedoch mit dem Kardinal zusammenkommen. Wegen der Schwangerschaft der 10 Zuletzt angeführt als Grund für die Verlegung der Residenz von Maria Bogucka, Narodziny stolicy. Warszawa w XVI i pierwszej pofowie XVII wieku. In: Narodziny stolicy. Warszawa w latach 1596-1668. Warszawa (1996) 37-47, hier 39. Auch schon früher in Maria Bogucka, Warschau als königliche Residenzstadt und Staatszentrum zur Zeit der Renaissance und des Barock. In: Zeitschrift für Ostforschung 33(1984) 180-195, hier 181. Ohne diese Zutat klar beschrieben: Maria Bogucka, Krakau-Warschau-Danzig. Funktionen und Wandel von Metropolen 1450-1650. In: Metropolen im Wandel. Zentralitätin Ostmitteleuropaan der Wende vom Mittelalterzur Neuzeit. (Berlin 1995) 7191, hier 76-77. Maria Bogucka, Krakow-Warszawa-Gdansk: tröikqt stofecznosci jako wyraz policentryzmu polskiej urbanizacji. In: Krakow-Maiopolska w Europie srodka (fraköw 1996) 73-77. 11
J. Schiechel an Erzh. Maria, Krakau, 31. März 1595, Original in FamKorr 45, 38-40. Zu dem Brand sieheWalterLeitsch, Der Brand im Wawel am 29. Jänner 1595. In: Studia do dziejow Wawelu 4(1978)245-253. 12 Im Vergleich zum vorangegangenen Aufenthalt des Königspaares in Warschau war die Wohnraumnot etwas geringer, aa Anna Wazowna, die Schwester des Königs, nun in
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Königin - sie war im sechsten Monat - gebe es Schwierigkeiten, sagte der König („Non e sicuro farla fare Camino, cosi il lasciarla qua passarebbe con molto suo disgusto")· Der Nuntius meinte jedoch zu wissen, es gebe einen anderen Grund für den Verbleib des Königs in Warschau: Es hätten die Senatoren dem König von der Rückkehr nach Krakau abgeraten, solange es dort die Ligaverhandlungen gebe, denn seine Gegenwart sei nicht mit seinem Ansehen vereinbar, er könne nämlich nicht an den Verhandlungen teilnehmen,
denn
der
Reichstag
habe
bei
der
Erteilung
der
Verhandlungsvollmacht den König nicht erwähnt. Außerdem, so schrieb Malaspina weiter, komme noch hinzu „la penuria del danaro. Perche caso che sua maestä dovesse venire a Cracovia, sarebbe necessario che spendesse nel camino almeno 20.000 fiorini".13 Davon, daß der Hof endgültig nach Warschau übersiedelt wäre, ist hier nicht die Rede, man hat vielmehr
den
Eindruck,
daß
die
Rückkehr
nach
Krakau
als
selbstverständlich angesehen wurde. Der einzige Hinweis, es könnte die Übersiedlung nach Warschau im Jahre 1596 endgültig gewesen sein, stammt denn auch vom Ende des Jahres. Der preußische Agent schrieb mehr als ein halbes Jahr nach der Übersiedlung und mehr als zwei Monate nach dem Tod der alten Königin: „Der könig nun sein lager alhie haben wert, auch das schlos wert grosser bauchen lassen".14 Da war wohl auch der Wunsch Vater des Gedankens, denn durch diese Übersiedlung wurde die Entfernung zu
seinen
Auftraggebern in Königsberg halbiert. Er jammerte denn auch ganz fürchterlich, als der Hof im Jahre 1602 wieder nach Krakau übersiedelte.15
Schweden lebte. 13 Malaspina an Caetani, Warschau, 10. Juni 1596, Kopie in Archivio Segreto Vaticano. Fondo Borghese III 91 D 162. Imfolgenden kurz Borg. 14 Daniel Nepfel an die preußischen Oberräte, Warschau, 16. Dezember 1596, Original in Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Staatsarchiv Königsberg. Herzogliches Briefarchiv 839, SUD dato. Im folgenden kurz HBA. 15 Siehe die in Anm. 7 zitierten Briefe.
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Man baute wohl von 1597 an das Schloß in Warschau aus,16 doch man renovierte auch die beschädigten Räume im Wawel. Wer immer dieses Schloß heute besucht, ist von der Pracht eben dieser Räume beeindruckt. Warum sollte der König so viel Geld und Mühe darauf verwendet haben, diese Räume ganz prächtig zu gestalten, wenn er bereits beschlossen hatte, nicht mehr da zu wohnen?17 Einige Historiker meinten, der König habe im Jahre 1598 Warschau zur Hauptstadt bzw. zu seiner ständigen Residenz erklärt. Man konnte für die Zeit zwischen 1596 und 1611 die verschiedensten Theorien entwickeln, und das ist das wirklich Kuriose an dem Problem, denn der König hat offensichtlich nie irgendeine Erklärung zu dieser Frage abgegeben. Die Ansicht, 1598 sei das Übersiedlungsjahr gewesen, geht zurück auf eine Veröffentlichung von Aleksander Wejnert. Er fand ein Privileg aus dem Jahre 1598, dessen Text auch Äußerungen über die Bedeutung Warschaus enthält. Doch ist es eine grobe Überinterpretation des Textes, wenn Wejnert daraus schließt, der König habe durch diese Urkunde Warschau praktisch zur Hauptstadt erklärt.18 Natürlich nehmen Historiker zu solchen Verzweiflungsinterpretationen Zuflucht, wenn sie in bezug auf ein für die Geschichte ihres Landes wirklich bedeutendes Ereignis von den Quellen im Stich gelassen werden.19 Es gab keine offizielle Erklärung über die 16 Siehe eine von mir verfaßte gleichzeitig erscheinende Arbeit zu den Bauarbeiten am Warschauer Schloß. Daß mit dem Bau des großen Königsschlosses erst im Jahre 1613 begonnen wurde, schreibt auch Mariusz Karpowicz, Das königliche Schloß in Warschau (1597-1619). Der erste Schritt zur Metropole. In: Metropolen im Wandel. Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. (Berlin 1995) 109-114, hier 109, 111. 17 Stanislaw Tomkowicz, Zabudowania Wawelu i ich dzieje. Krakow 1908, 337-338. =Wawel 1 =Teka Grona Konservatorsw Galicyi Zachodnej 4. 18 Aleksander Wejnert, Wiadomosc historyczna ο przenieseniu rezydencyi krolow ζ Krakowa do Warszawy. In: Starozytnosci warszawskie 2. Warszawa 1848, 90-122. Siehe dazu auch Malecki, Krakow 24. 19 1598 nennen als Jahr der Übersiedlung bzw. der Erhebung Warschaus zur Hauptstadt: Wladystaw Tomkiewicz, Kultura naukowa i artystyczna Warszawy w pierwszej pot ο wie XVII w. In: Roczniki Uniwersytetu Warszawskiego 2(1959-1961) 19-33, hier 20 (er nennt zwar das Jahr 1596, schreibt aber von einem Privileg, also konnte er nur 1598 gemeint haben); Wtadyslaw Tomkiewicz, Warszawa w XVII wieku. In: Kwartalnik
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Endgültigkeit der Übersiedlung des Hofes, wie das etwa 1561 in Spanien der Fall war: Als sich der Hof nach einer jahrzehntelangen Wanderung in Madrid niederließ, erklärte man Madrid zur Hauptstadt.20 Warum erklärte man Warschau nicht offiziell zur königlichen Residenzstadt? Wejnert war sogar der Ansicht, der König habe seine Entscheidung aus Angst vor dem Widerstand des Adels geheimgehalten?1 Ich will versuchen zu beweisen, daß es nichts gab, das man hätte geheimhalten müssen. Daß man im Jahre 1596 oder 1598 die Absicht gehabt hätte, den königlichen Hof endgültig nach Warschau zu verlegen, dafür gibt es keine Beweise. Doch von 1596 bis 1601, also sechs Jahre lang, residierte der König praktisch nicht in Krakau. War das Absicht? Hatte man schon damals vor, in Warschau zu bleiben? Wir haben gesehen, daß eigentlich keiner der beiden Städte der Vorzug gegeben wurde, wenn wir die Jahre 1587 bis 1605 nach Aufenthaltstagen durchrechnen. So war wohl auch die Stimmung am Hof: Man bevorzugte nicht eine der beiden Städte. Am 13. April 1594 verfaßte die Königin ein Testament, unter anderem beteilte sie auch fünf Klöster - zwei in Krakau, zwei in Warschau und eines in Thorn.22 Sie war erst zwei Jahre zuvor aus dem Ausland gekommen, war also nicht geprägt von Traditionen. Ihr erschienen wohl die beiden Städte gleich wichtig. Die Neugier der Erzherzogin Maria, der Mutter der Königin Anna, war gewaltig und allumfassend. Sie stellte unentwegt Fragen. Auf viele Fragen wußte die Tochter keine - oder noch keine - Antwort zu geben. Lange bevor das polnische und nun auch schwedische Königspaar im Jahre Historyczny 72(1965) 587-610, hier 588 (hier nennt er gleich beide Jahre, 1596 und 1598); Gottfried Schramm, Der polnische Adel und die Reformation 1548-1607. Wiesbaden 1965, 108 ^Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte36. 20 M.J. Rodrisuez-Salgado, The Court of Philip II of Spain, in: Princes, Patronage and the Nobility. Oxford 1991, 205-244, hier 209. 21 Starozytnosci Warszawy 2, 110. 22 Testament der Königin Anna, Stockholm, 13. April 1594, Kopie in Haus-, Hof- und
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1594 aus Schweden nach Polen zurückkehrte, mußte die Erzherzogin schon wissen, in welcher polnischen Stadt die Königsfamilie nach der Rückkehr wohnen werde. Bezeichnend ist, daß man in den Augen der Erzherzogin zwischen zwei Residenzstädten wählen konnte. Die Königin antwortete: „Wo mir hausen werden, zu Kragckha oder zu Warscha, so wißen mier noch selbst nit gleich so palt. Werden mir ain weil in Littau hausen. Kinden's aber noch nit wißen, piß mir gen Danzig kumen, wo mir haißen werden".23 Man entschloß sich vermutlich deshalb für Krakau, weil man im Warschauer Schloß sehr beengt war. Das einzige Kind des Königspaares befand sich in Warschau, man hätte also einen Grund mehr gehabt, für Warschau zu optieren. Man ließ das Kind nach Krakau bringen24 und blieb dort bis März 1596, übersiedelte dann nach Warschau, doch sah man diese Übersiedlung nicht als endgültig an. Im Mai 1597 schrieb die Königin: „Ich kan noch nit wissen, ob mier bait auf Craca werden. Wan halt bait ein reichstag werden sol, so glaub ich wol nit, das mier disen sommer weck werden".25 Der nächstfolgende Reichstag fand zwar erst im März und April des Jahres 1598 statt, doch der Hof blieb dennoch in Warschau, und das auch in den folgenden Jahren, so daß die Bayern den Eindruck hatten, daß der König „schier am maisten hof helt" in Warschau.26 Daß der König wenig Sympathie für Krakau gehabt hätte,27 läßt sich Staatsarchiv, Wien, Familienurkunde 1462. Königin Anna an Erzh. Maria, Stockholm, 20. Mai 1594, Original in FamKorr 40, 7786. Haißen ist hausen. 24 Königin Anna an Erzh. Maria, Krakau, 14. Oktober 1594, Original in FamKorr 40, 120-132. 25 Königin Anna an Erzh. Maria, Ujazdöw, 10. Mai 1597, Original in FamKorr 40, 232234. 26 Gutachten zu den Heiratsplänen, s.l.&d. [München, Mitte 1602], in GHMün, Korrespondenzakten A, 625/1, sub dato. 27 In der Literatur wird das gelegentlich behauptet: Stanislaw Windakiewicz, Dzieje Wawelu. Krakow 1925, 118; WJadysfaw Tomkiewicz, Budowa zamku krolewskiego w Warszawie za panowania Zygmunta III. In: Rocznik warszawski 2(1961) 5-34, hier 8. Anna schätzte den Wawel nicnt, dafür aber Lobzöw sehr, meinte Elke Roth: Erzherzogin Anna von Innerösterreich, Königin von Polen und Schweden. Leben und Stellung in der habsburgischen Politik ihrer Zeit(1573-1598). Diss. Graz 1967, 225. 23
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an Hand der von mir ausgewerteten Quellen nicht bestätigen. Ende 1600 hielt sich der König kurz in Krakau auf. Von seinen Eindrücken wird berichtet: „Sein aber gar betriebt von Cracau komen, dan sy dort viel Sachen wider irer herzliebsten gemahel selligen erinnert hat".28 Das hat sich aber gewiß nicht in eine Abneigung gegen den Wawel entwickeln können, denn erlebte das Königspaar zwar die Flitterwochen in Krakau, später lebten sie jedoch, wie wir gesehen haben, länger in Warschau als in Krakau. Überdies wurde die Königin in Krakau beigesetzt. Hätte das nicht für den König ein Grund mehr sein müssen, in Krakau zu leben? Ein Kammerdiener und Vertrauter des Königs, der gewiß nicht eine zum König konträre Einstellung hatte, schrieb Anfang 1601: Man reise nun aus Kleinpolen wiederum zum Reichstag nach Warschau. Es sei „ein Wunderding, das wir so gar kain glügk, zue Cragkha zue wonen, haben. Und ist zue Warscha laider auch wenig hayl".29 Die letzte Bemerkung bezieht sich auf die Pest; um ihr zu entgehen, war man nach Kleinpolen gekommen. Nach dem Reichstag wollte der König nach Krakau reisen,30 doch es kam anders: „Unser reichstag lauft zue dem end, und so er uns nit nach Cragkhau treibt, werden wir, fürcht ich, Littau ainmal sehen miessen".31 Es dauerte zwar noch eine Weile, aber im Juni 1601 reiste der König nach Litauen und von dort nach einem kurzen Aufenthalt in Warschau - wiederum mit Sack und Pack - nach Krakau. Am 22. Mai 1602 kam er in Krakau an und neun Tage später schrieb er: „Unser herr
28
U. Meyerin an Erzh. Maria, Nowe Miasto Korczyn, 11. Januar 1601, Original in FamKorr 44, 80-81. 29 Jörg Schiechel an Erzh. Maria, Nowe Miasto Korczyn, 11. Januar 1601, Original in FamlCoiT 45, 105-107. 30 Claudio Rangoni an Cinzio Aldobrandini, Warschau, 26. Februar 1601, Original in Archivio Doria-Landi-Pamphili, Rom, Fondo Aldobrandini 4, 89-90. Im folgenden kurz Aldob. 31 Jörg Schiechel an Erzh. Maria, Warschau, 3. März 1601, Original in FamKorr 45, 116119. -Schiechel war natürlich besser informiert als der brandenourgische Agent, der noch drei Wochen später glaubte, der König werde nach Krakau reisen. D. Nepfel an die preußischen Oberräte, Warschau, 25. März 1601, Original in HBA 842, sub dato.
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geb gnad, das wir lang hie wohnen können".32 Der Wunsch ging in Erfüllung: Krakau war vom 22. Mai 1602 bis zum 29. Mai 1609, also sieben Jahre lang, der Mittelpunkt seines Lebens. Viermal mußte der König zu Reichstagen nach Warschau reisen: Das erste Mal (1605) ließ er seine Schwester und seinen Sohn in Krakau zurück,33 das zweite Mal (1606) nahm der Neuvermählte die Königin mit,34 das dritte (1607)3S und vierte Mal (1609)36 begleitete ihn kein Mitglied der Familie. Nur im Jahre 1606, als die Königin ihn begleitete, hielt sich der König etwas länger in Warschau auf, die anderen drei Male verbrachte er dort nur das absolute Minimum an Zeit, um den Reichstag zu leiten. Das ist gewiß kein Zeichen von Abneigung gegenüber Krakau und von einer Vorliebe für Warschau. Da es keine Erklärung von Seiten des Königs oder der zentralen Verwaltung gab, daß man von einem bestimmten Zeitpunkt an Warschau als die königliche Residenzstadt anzusehen habe, war es natürlich für die Historiker am vernünftigsten, sie nannten als Übersiedlungsdatum den 29. Mai 160937: An diesem Tag verließ der König - wiederum mit Sack 32
König Sigismund III. an Erzh. Maria, Krakau, 31. Mai 1602, Kopie in GHMün 625/1, sub dato. - Wie kurz man auch den Nuntius mit verläßlichen Nachrichten hielt, kann man daranerkennen, daß er noch drei Wochen vor der Abreise des Königs nach Krakau meinte „dell'andatasuaa Cracovias'e raffredata alquanto la voce." Rangoni an C. Aldobrandini, Warschau, 20. April 1602, Duplikatin Aldob 4, 309 und 312. 33 Andreas Jaskian Joachim Hübner, Krakau, 30. Dezember 1604, Auszug in ABrand 6, 17, 8,37-38. 34 Protokoll der Gesandten Gans etc., Warschau, 25. Februar-20. April 1606, Original in ABrand 6, 20, 3, 1-74, hier 161r. 35 U. Meyerin an Ruggiero Salomoni, Krakau, 2. Juni 1607, Original in Biblioteka Zakiadu Narodowego im. Ossolmskich. MS 6245/11,11-14. 36 Putlitz und Hübner an den Kurfürsten, Warschau, 22. Januar 1609, Original in ABrand 6, 25, 9, 11-20. Francesco Simonetta an Scipione Borghese, Warschau, 15. Februar 1609, Original in Borg II 228, 108. 37 Dieses Datum nennen einige Historiker für die Verlegung der „Hauptstadt", wobei manche, wie etwa Garstein, sogar angeben, der Hof sei im Janre 1609 von Krakau nach Warschau übersiedelt. Wenn manche doppelt genannt werden, dann haben sie gleichsam zwei Daten angeboten: S. Zaleski, Jezuici w Polsce. 5 Bde. Lwow, Krakow 1900-1906, 1, 504; 4, 286; Leszek Wysznacki, Zamek Krolewski. Dzieie - wydarzenia - ludzie odbudowa. Warszawa 1978, 63; Wladyslaw Tomkiewicz: Kultura naukowa i artystyczna Warszawy w pierwszej polowie XVII w. In: Roczniki Uniwersytetu Warszawskiego 2(1959-1961) 19-33, hier 20; Micha! Rozek, Blaski i cienie baroku. Krakow 1992, 5; Adam Malkiewicz, Barokowa sztuka w Krakowie. In: Krakow sarmacki. Krakow 1992,
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und Pack - die Stadt Krakau und begab sich - nicht etwa nach Warschau, sondern - nach Wilna und weiter nach Smolensk. Nach Warschau kam er erst am 16. September 1611,38 also erst mehr als zwei Jahre nach seinem Auszug aus der Stadt Krakau, die er nicht wiedersah. Er kehrte dahin am 20. Januar 1633 in einem Sarg zurück. Da der König sich zu der Frage der Übersiedlung nie geäußert hat, und auch die Zentralbehörden, die der Gewohnheit nach dort amtierten, wo der König residierte, es offensichtlich nicht für nötig fanden, die Entscheidung des Königs
zu erklären, mußten die Historiker sie aus eigenem
kommentieren, da sie auch sonst keine zeitgenössischen Stellungnahmen finden konnten, die sie hätten fein abschreiben können. Nun zu den einzelnen Erklärungsversuchen. 1) Warschau hatte - seit 1569 offiziell - die Funktion, Tagungsort des Reichstags zu sein, und das war mit Abstand der wichtigste Grund dafür, daß man schließlich auch den Königshof dahin verlegte.39 Der zweite Teil dieser Regel aus 1569 und 1573 besagte zwar, daß jeder dritte Reichstag in Grodno abzuhalten wäre, doch dürfte dort die Infrastruktur noch 19-38, hier 20; Oskar Garstein, Rome and the Counter-Reformation in Scandinavia. Jesuit Educational Strategy 1553-1622. Leiden etc. 1992, XXX =Studies in the History of Christian Thought 46; KazimierzKuczman.Przelom wawelski. In: Sztuka XVII wieku w Polsce. Warszawa 1994, 163-176, hier 164. 38 Dieses Jahr nennen für die Verlegung der Residenz einige Historiker, wobei manche wie Rozek(siehe Anm. 31) ganz formaffeststellen, daß der Hof bis 1609 in Krakau und ab 1611 in Warschau sein eigentliches Domizil hatte. Wtadystaw Tomkiewicz, Warszawa w XVII wieku. In: Kwartalnik Historyczny 72(1965) 587-610, hier 588; Janusz Tazbir, Piotr Skarga. Szermierz kontrreformacji. Warszawa 1983, 208; Jerzy Lileyko, 2ycie codzienne w Warszawie za Wazow. Warszawa 1984, 6; Warszawa w latach 1526-1795. Hrsg. von Maria Bogucka u.a. (Warszawa 1984), 13 =Dzieie Warszawy 2; Leszek Podnorodecki, Wazowie w Polsce. Warszawa 1985, 80; Wtadysfaw Tomkiewicz, Artistic Culture in the Seventeenth Century in Poland (Before the Swedish Invasion). In: Poland in Christian Civilization. London 1985, 375-399, hier 387; Sztuka Warszawy. Red. Mariusz Kaipowicz. Warszawa 1986, 113; Krystyna Liszewska, Janusz Plapis, Portrety osobistosci i mieszkancow Warszawy w zbiorach Muzeum Historycznego m. st. Warszawy. Warszawa 1990, 17. 39 Auf diesen Umstand wiesen hin: Maria Bogucka, Warschau als königliche Residenzstadt und Staatszentrum zur Zeit der Renaissance und des Barock. In: Zeitschrift für Ostforschung 33(1984) 180-195, hier 181; Bem-Mafik 115-117 (siehe Anm. 2); Henryk Samsonowicz, Geneza stoiecznosci Warszawy. In: Notatki Ptockie (1984) 1/2, 4-8, hier 6; Renata2urkowa, Ksiegarze krakowscy na krajowych szlakach handlowych w pierwszej potowie XVII w. In: Rocznik Biblioteki PAN w Krakowie 31(1986) 99-140,
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mangelhafter als in Warschau gewesen sein, so daß die Landboten aus Litauen sich schließlich damit abfanden, regelmäßig in die masowische Stadt zum Reichstag zu reisen. Unter König Stefan gab es sechs Reichstage: Einer tagte in Thorn, die restlichen fünf in Warschau. Die Krönungsreichstage für die Könige Stefan und Sigismund III. tagten in Krakau, doch Sigismund versuchte auch noch, Krakau als Tagungsort für normale Reichstage durchzusetzen. Zweimal - 1595 und 1603 - berief er ihn nach Krakau ein,40 doch mußte er sich schließlich den Protesten der Litauer fügen.41 Für sie war der Weg nach Krakau zu weit, und so gab es später nur noch eine Ausnahme: 1626 kam ein Reichstag in Thorn zusammen. Die restlichen 32 Reichstage fanden in Warschau statt42 Die Adelsversammlung war der eigentliche Souverän. Tagte er, mußte die Zentralverwaltung anwesend sein. Die war
zwar
nicht
sonderlich
umfangreich, doch war es recht mühsam, daß sie zwischen den Reichstagen an der Seite des Königs sein, also mit ihm reisen oder in eine andere Stadt übersiedeln mußte. Es war wohl vorauszusehen, daß der König sich schließlich den seit 1569 geschaffenen Verhältnissen werde anpassen und den Hof nach Warschau verlegen müssen. In
der
politischen
Vorstellungswelt
des
Adels
spielten
die
Wahlreichstage eine ganz besondere Rolle, denn war der Adel aufgerufen, an der Wahl, die vor den Mauern der Stadt Warschau abzuhalten war, in seiner Gesamtheit (viritim) teilzunehmen. Auch waren die Adeligen bei keinem anderen Reichstag so sehr Souverän wie beim Wahlreichstag. Es ist daher bezeichnend, daß man nur ein Vierteljahr nach der Wahl Sigismund hier 103. Am besten behandelt von MaJecki (Krakow 32-33) und Lileyko (34-35, siehe Anm. 38). Zu den Tagungsorten der Reichstage siehe Wiadysiaw Konopczynski, Chronologia sejmöwpolskicn 1493-1793. Krakow 1948, 142-149 =Archiwum Komisyi Historycznej. PolskaAkademiaUmiejetnosciSeria2. T. 4/3. 41 Über diese Proteste berichtet auch Rangoni an [C. Aldobrandini, Krakau, 25. Oktober 1602?], Kopie in Borg III 52, C, D 269. 42 Siehe die Anm. 40. 40
Krakau als königliche Residenzstadt Vasas zum König
eigenartige Überlegungen
247
anstellte. Krakau,
die
traditionelle Krönungsstadt, wurde von Erzherzog Maximilian belagert, der kurz nach Sigismund ebenfalls zum König gewählt worden war. Vom Krongroßhetman Jan Zamoyski erzählte man, er wolle Sigismund „gern in gehaim gegen Crackaw bringen, welches aber so leichtlich nit wird geschehen können. Etliche vermeinen, er [= Sigismund] werde sich nach Warschaw verfügen und sich vieleicht daselbst crönen lassen".43 Die Überlegung ist klar: Warum sollte man nicht in der Stadt, in oder vor der die Königswahlen und die meisten Reichstage stattfanden, auch den König krönen? Diese
Idee
hat
man
nicht
verwirklicht. Es
fanden
die
Krönungszeremonien in diesem Jahr und bis zum Ende des Königreiches fast ausnahmslos in Krakau statt, doch gab es in Polen offensichtlich bereits im Jahre 1587 Leute, die in Warschau die zweite Hauptstadt des Landes sahen. 2) Der Adel in Masowien war überwiegend katholisch14 und wies eine andere Struktur als etwa in Kleinpolen auf, er war viel weniger geneigt, dem König Schwierigkeiten zu bereiten. Doch war die Attraktivität des masowischen Adels gewiß nicht von großer Bedeutung für die Verlegung der Residenz.45 Eine viel größere Bedeutung kam dem Verhalten des kleinpolnischen Adels zu. In Kleinpolen hatte Jan Zamoyski, der wichtigste Gegner des Königs zu Beginn seiner Regierung, die meisten Anhänger. Kleinpolen bereitete also dem König mehr Schwierigkeiten als andere Teile des Reiches.46 Während des rokosz waren vor allem die kleinpolnischen 43
[Daniel Prinz] an Rudolf II., Mogita, 16. November 1587, Original in Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, Polen 1,40, November 1587, 161-166. 44 Kneifel 82 (siehe Anm. 2); Schramm, Adel 108 (siehe Anm. 14). 45 Allerdings muß es den König beeindruckt haben, wenn die Masowier ihn freudig empfingen und sich für ihn einsetzten, während sich ein Teil des Adels im rokosz gegen ihn erhob. Simonetta an S. Borghese, Warschau, 12. Mai 1607, in: Acta nuntiaturae polonae 18/1, Romae 1990, 186. 46 Siehe zum Beispiel: Wactaw Urban: Sklad spoieczny i ideologia sejmiku krakowskiego w latach 1572-1606. In: Przegl^d Historyczny 44(1953) 309-333, hier 320; Wojciech Tygielski: Politics of Patronage in Renaissance Poland. Chancellor Jan
248
Walter Leitsch
Adeligen die treibende Kraft in den Aktionen gegen den König.47 Es bestand auch wenig Hoffnung, daß die Kleinpolen ihre ablehnende Haltung gegenüber dem König aufgeben könnten. Sie haben ihm bis zum Ende seiner Regierung stets mehr Schwierigkeiten bereitet als die Adeligen anderer Teile des Reiches.48 Mikoiaj Zebrzydowski, der im rokosz eine führende Rolle gespielt hatte, so daß die Historiker den Aufstand immer wieder auch als rokosz Zebrzydowskiego
bezeichnet haben, war bis zu
seinem Tod Wojewode von Krakau (er starb erst Mitte 1620)49 und war nach dem rokosz wohl ein ebenso lästiger Mensch wie zuvor. Wie sollte der König in Krakau residieren und den Wojewoden der Stadt nicht treffen? Daß schon allein die Anwesenheit Zebrzydowskis dem König die Lust verdarb, in Krakau zu leben, hat nicht nur der brandenburgische Agent Jaski hervorgehoben.50 Es wollte der König wohl viele Kleinpolen nach dem rokosz nicht Wiedersehen,51 und das mag dazu beigetragen haben, daß er nicht nach Krakau zurückkehrte. 3) Manche Historiker meinten, der König sei nach Warschau übersiedelt, um Schweden und dem Kriegsschauplatz in Livland näher zu
Zamoyski, His Supporters and the Political Map of Poland, 1572-1605. (Warszawa 1990), 50, 5/^Fasciculi nistorici 15; Leszek Jarminski; Bez uzyciasiiy. Dziatalnosc polityczna protestantow w Rzecypospoliteju schylku XVI wieku. Warszawa 1992, 71. 47 Siehe zum Beispiel: August Sokotowski, Przed rokoszem. Studyium historyczne ζ czasow Zygmuntalll. In: Rozprawy [i sprawozdania ζ posiedzen] Wyaziaiu history cznofilozoficznego Akademii Umiejetnosci 15(1882) 1-227, hier 108; Antoni Prochaska: Hetman Stanislaw Zolkiewski. Warszawa 1927, 58. 48 Siehe zum Beispiel Jerzy Pietrzak: W przygaszonym blasku wiktorii chocimskiej. Sejm w 1623 r. W r o c l a w 1987, 21, 73 =Acta Universitatis Wratislaviensis 890. Historia 57; W t a d y s l a w Czaplinski: Rz^dy oligarch» w Polsce nowozytnei. In: Przeglad Historyczny 52(1961) 445-465, hier 457. In den zwanziger Jahren gehörte Jerzy Zbaraski, der Kastellan von Krakau, zu den lästigsten Kritikern des Königs. Zateski 1, 506-507; 2, 4 (siehe Anm. 37). 49 Franciszek Siarczynski: Obraz wieku panowania Zygmunta III. krola polskiego i szwedzkiego, zawierajacy opis osob zyj^cychpodjegopanowaniem... 2 Bde. Lwow 1828, 2, 369-371. 50 Siehe unten Anm. 77 und Windakiewicz 124 (siehe Anm. 27). 51 Roman Grodecki, Kazimierz Lepszy, Jozef Feldman: Krakow i ziemia krakowska. Lwow 1934, 159-160; Kuczman 165 (siehe Anm. 37).
Krakau als königliche Residenzstadt
249
sein.52 Die Kleinpolen hätten nämlich nur wenig Interesse für die baltischen Probleme gezeigt.53 Doch Maiecki hat diesen Argumenten mit Recht nur wenig Gewicht beigemessen.54 Ich kann mir zwar vorstellen, daß sich der König aus diesem Grund einige Jahre in Warschau aufhielt, doch für die endgültige Verlegung der Residenz mußte er wohl Gründe gehabt haben, die gewichtiger waren als diese, denn lebte etwa Sigismund I. vorwiegend in Krakau, während
der Moskauer
Staat der unangenehmste und
gefährlichste der Nachbarn und Gegner war. Er rückte dennoch der Grenze, hinter der die Gefahren lauerten, nicht näher. 4) Der Vollständigkeit halber und weil so viele Historiker das annehmen, sei hier nochmals erwähnt, daß man den Brand im Wawel im Januar 1595 als Ursache der Übersiedlung ansah. Ich schließe mich der Meinung Maleckis 55 an, daß man dieses Argument nicht ernst nehmen könne. 5) Gelegentlich hat man auch auf die angeblich günstige Lage Warschaus für Handel und Verkehr hingewiesen,56 doch stammen diese Äußerungen aus einer Zeit, in der alles und jedes sozio-ökonomische Wurzeln haben mußte. Mit der Realität hat das weniger zu tun. Von großem Gewicht ist hingegen das gelegentlich vorgebrachte Argument, es habe sich um eine langfristige Entwicklung gehandelt, aktuelle politische Umstände hätten keine ausschlaggebende Rolle gespielt, es sei daher auch müßig, nach einem bestimmten Jahr zu suchen, an dem der Transfer stattgefunden haben sollte.57 52
Siehe Maiecki, Krakow 23-24. Neuerdings: Garstein (siehe Anm. 37). Henryk Wisner, Opinia szlachecka Rzeczypospolitej wobec polityki szwedzkiej Zjgmunta III w latach 1587-1632. In: Zapiski Historyczne 38(1973) 2, 9-50, hier 36, 39, 53
54
Maiecki, Krakow 35. Maiecki, Kraköw 35. Die meisten der Historiker, die das Jahr 1596 als Übersiedlungsjahr annahmen (siehe Anm. 2), gaben als Ursache den Brand an. 56 Maiecki, Krakow 35; Bogucka 180(siehe Anm. 39). 57 Maiecki, Krakow 35; Bogucka 181 (siehe Anm. 39); Maryan Dubiecki: Dwie 55
250
Walter
Leitsch
Den Argumenten, die ich in der Literatur finden konnte, möchte ich noch einige hinzufügen. 6) Vor allem will ich das gewichtigste aller Argumente präzisieren, nämlich die Zusammenfassung von Tagungsort des Reichstages und königlicher Residenz. Die Kaiser reisten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert regelmäßig von Wien - vorübergehend auch von Prag - nach Nürnberg zum Reichstag. Obwohl das sehr mühsam und vor allem auch sehr kostspielig war, gab es dennoch, soviel ich sehen kann, keine ernsthaften Bestrebungen, den Reichstag nach Wien oder die Residenz nach Nürnberg zu verlegen. Man hat den Eindruck, daß Kaiser und Reich mit dieser Ordnung durchaus einverstanden waren. Die polnischen oder vielmehr litauischen Adeligen wehrten sich gegen die Abhaltung von Reichstagen in Krakau, doch war es ihnen im Grunde gleichgültig, wo sich der König zwischen den Reichstagen aufhielt. Es bleibt jedoch das Problem des Reisens. Nürnberg ist von Wien in der Luftlinie um 75% weiter entfernt als Krakau von Warschau. Überdies mußte der Kaiser auch durch Länder anderer Territorialfürsten reisen. Der polnische König hatte keine solchen zusätzlichen Schwierigkeiten, doch das Reisen war teuer. Die Kosten der Reise von Warschau nach Krakau waren etwas höher als von Krakau nach Warschau, denn man konnte den Fluß für den Transport der Habe in eine Richtung mit Gewinn nützen. Man mußte auf dem Landweg in der Regel zehnmal übernachten. Eine Übernachtung verursachte Kosten in der Größenordnung von fl 300 bis 500. Die Fuhrleute waren gesondert zu bezahlen (ca. 5.000 Gulden). Rechnet man diese Auslagen zusammen, erhält man Beträge, die um fl 10.000 herum liegen.58 Wieso der Nuntius Gesamtkosten von fl 20.000 errechnete, kann ich nicht erklären, außer er
przedstawicielkidawnychdvnastyj. II. Anna Wazowna, kxolewna szwedzka. In: Przegl^d Powszechny 5 0 ( 1 8 9 6 ) 3 8 - 5 0 , 186-206, hier 190-191; Carter 186(siehe Anm. 1). 58 Diese Berechnungen sind eher kompliziert, sie werden zu finden sein im Abschnitt über die Hofreisen in dem Buch über das Hofleben unter Sigismund III., das ich zur Zeit schreibe.
Krakau als königliche Residenzstadt
251
sollte die Kosten für die Hin- und Rückreise gemeint haben.59 Ob nun die Reise 10.000 oder 20.000 Gulden kostete, für den König, der vor allem in den ersten zwanzig Jahren seiner Regierung nur geringe Einkünfte hatte, war das eine Menge Geld. Von den 35 Reichstagen der Regierungszeit Sigismunds III. fanden drei nicht in Warschau statt. Anschließend an fünf Reichstage fuhr der König nach Krakau und nach vier Reichstagen ging er auf eine Reise. Also blieb er nach 23 Reichstagen in Warschau.60 Wäre Krakau die einzige Residenzstadt gewesen und hätte er jedesmal dorthin zurückreisen und zum folgenden Reichstag wieder anreisen müssen, wäre er zusätzliche 460 Tage unterwegs gewesen, und es hätten diese Reisen zusätzliche Kosten von fast einer halben Million Gulden verursacht. 7) Übersiedlungen von einer Residenzstadt in die andere waren nicht nur kostspielig und zeitraubend, sie waren auch gewiß mit Verlusten verbunden, denn die Wege waren schlecht. Daher waren diese Reisen unbeliebt. Man reiste nämlich nur allzuoft mit einem erheblichen Teil der Habe. So floh man wegen der Pest im September 1600 aus Warschau nach Kleinpolen. Die Erzieherin des Prinzen Wladyslaw klagte: „Morgen, wil's Gott, ladet man meine druchen wider auf, mit denen ich vil zu tain hab, biß ich sy widerum einmach. Hab so vil sachen miesen mitfieren, als wan wir 2 jar sollen nit mer auf Warschau komen. Jez mueß man's als wider hinfiern... Biß montag, wil's Gott, raisen wir von hie weck zu Cracau. Ist es deß sterb halben gar guett. Wan der reichstag nit wer, so wehren wir hinzogen. Helf uns unser her, den reichstag iberwinden".61 Nur wegen des Reichstags übersiedelte man nicht in das weniger von der Pest betroffene Krakau, sondern in das gefährlichere Warschau. Der Kammerdiener war noch weniger zufrieden, daß man nicht an einem sicheren Ort war: „Zue 59
Malaspina an Enrico Caetani, Warschau, 10. Juni 1596, Kopie in Borg III 91 D 162: Siehe oben Text zu Anm. 13. 60 Zu den Reichstagen siehe Konopczyfiski (siehe Anm. 40). 61 U. Meyerin an Erzherzogin Maria, Nowe Miasto Korczyn, 11. Januar 1601, Original
252
Walter Leitsch
Cragkhau soll es desthalben nun auch Gott lob wider still worden sein, villeicht machen wir uns nach besagtem reichstag auf und nemben unsern weeg widerumb dahin. Ob uns doch dermalainest unser lieber herr einlassen wolt, sonst tuen wir dits orts nichts als hin- und widerraisen, auf das der weeg nit lär stee. Kombt mir aber für, sobalt das geschray, auf Cragkhau ze ziehen, ergen, so würd man wider vom sterben sagen. Der infection halber hetten wir wolalhie bleiben und den uncosten am hin- und widerraisen ersparn mögen, dann es im grund sovil als nichts gewest".62 Erst ein Jahr später übersiedelte der Hof nach Krakau. Das freute hoffentlich die Hofbediensteten, Richtig böse war dann der preußische Agent: „...das Ihre Majestät widder alle unsere vorhoffen den 11. maii styli novi von Warsau nach Crakau ziehen wil, welches dan allen leuten zuwidder ist, dan sie kaum aus dem bösen ort an einen gutten angelanget, widerumb hinweg müssen. Da ist viel fluchen und sind übel zufrieden, auch ein ieder mit zerung sich nit vorsehen hatt oder vorsehen kan, aber Ihre Majestät als ein herr, dem ist frey zu tuen, was ehr wil, und nimand kan Ihre Majestät hierin straffen". 63 Alle jammern, weil das Reisen mühsam ist. Der König wurde älter. Als er von Smolensk nach Warschau zurückkehrte, war er 45 Jahre alt. Er hatte wohl schon das Recht, bequem zu sein, Reisen nach Möglichkeit zu meiden oder so lange, wie nur irgend möglich, aufzuschieben. 8) Es gab noch ein weiteres Problem, das zum folgenden und letzten Abschnitt überleitet. Wie reiste man unter den
Bedingungen
des
16. Jahrhunderts mit einem kleinen Kind? Wiadyslaw war nur ein halbes Jahr alt, als seine Mutter sich Sorgen machte: „Es ist mir gar angst mit mein kindern, das ich also ihm winder mit ihnen reisen mueß." Sie bittet um Rat, in FamKorr 44, 80-81. 62 J. Schiechel an Erzh. Maria, Warschau, 24. Februar 1601, Original in FamKorr 45, 111115. 63 Nepfel an die preußischen Oberräte, Warschau, 21. April 1602, Original in HBA 843, sub dato.
Krakau als königliche Residenzstadt
253
„wie's besser were zue fieren, ihnsonderheit den klein, wann ein schlitbon were, ihm schütten oder ihn der senften". 64 Wir können also annehmen, daß es riskant war, mit einem Kind im ersten halben Jahr seines Lebens im Winter zu reisen. Das zweite Problem sind die Schwangerschaften der Königin. Anna reiste oft als Schwangere, sie war tapfer und bereitete ihren Mitmenschen wenig Schwierigkeiten. Konstanze war anders. Sie verhielt sich während der Schwangerschaften äußerst vorsichtig. Als sie mit dem späteren König Jan Kazimierz im dritten Monat schwanger war, beriet man bereits wegen der möglichen Reisetermine, spätestens sollte man Mitte November reisen.65 Also sollte die Königin in den letzten vier Monaten der Schwangerschaft nicht reisen. Vier Monate vor und sechs Monate nach der Geburt eines Prinzen bzw. einer Prinzessin konnte eine Übersiedlung nicht oder doch zumindest nur mit gewissen Gefahren und Schwierigkeiten durchgeführt werden. In den Jahren nach 1611 kamen drei Prinzen zur Welt: am 27. Mai 1612, 13. Oktober 1613 und 4. November 1614. Man konnte also von Januar bis November 1612, von Juni 1613 bis April 1614 und von Juli 1614 bis April 1615
keine größeren
Reisen
unternehmen. Daß
die
Königin
am
12. Juli 1612, also eineinhalb Monate nach der Geburt des Prinzen Jan Albert, nach Wilna reiste und erst am 26. Juni 1613 wieder zurück nach Warschau kam, widerspricht dem anscheinend. Im Mai lag sie krank in
64
Königin Anna an Erzh. Maria, Krakau, 11. Dezember 1595, Original in FamKorr 40, 199-208. Die Königin und ihre beiden Kinder reisten erst im März des folgenden Jahres nach Warschau. 65 A m 28. September gab es eine Beratung, und man beschloß „balde nach Martini" nach Warschau zu reisen, „weil der königin nidaerlagung oder kindesberung sich nahet, weil sie noch etwas gesund, das sie desda oesser mag nach Warsau gebracht werden." Nepfel an die preußischen Oberräte, Krakau, 18. September 1608 st. v., Original in HB A 849, sub dato. Im Januar gab es Gerüchte, daß sich die Königin nicht wohl fühle. Putlitz und Hübner an den Kurfürsten, Warschau, 31. Januar 1609, Original in ABrand 6, 25, 9, 3441.
254
Walter Leitsch
Wilna darnieder,66 der König und Wladyslaw waren schon Anfang Februar aus Wilna abgereist. Im Winter konnte oder wollte die Königin mit den Kindern wohl nicht reisen. Es ist diese Erfahrung eher abschreckend gewesen. Danach hätte sie im Mai und Juni 1614 und vom April 1615 an aus Warschau nach Krakau übersiedeln können. Da man aber vor Sommer 1615 eigentlich nur einen Termin für die Übersiedlung nach Krakau hatte, mußte man auch keine Entscheidung treffen. In einem besonderen Zusammenhang wird in den Jahren 1611 und 1612 Warschau als Residenzstadt erwähnt. Der Reichstag des Jahres 1609 hat das Leibgeding (reformatio, oprawa) der Königin geregelt. Als die Königin in Wilna im April 1611 mit Mikolaj Sapieha über die Verwaltung des Waldgutes (lesnictwo, praefectura sylvarum) Bielsk in Podlachien einen Vertrag schloß, wurde auch die Lieferung von Hafer „pro usu stabuli nostri" vorgesehen; der Hafer solle „Warssoviam tempore a nobis praestituendo deportari" und dem Stallmeister übergeben werden. „Si vero nos alibi morari contigerit" ist die Lieferung in Geld abzugelten. Im Juni 1611 verpachtete die Königin Latowicz. Von dort sollte nicht nur Hafer, es sollten auch andere Waren nach Warschau geliefert werden. In dieser Urkunde ist das Gleiche etwas anders formuliert („...cum Varssaviae nos morari contigerit... si vero alio nos contulerimus..."). An der Formulierung kann man sehen, daß es nicht eine erstarrte Formel war. Ähnliches steht in einem Pachtvertrag mit Mikolaj Danilowicz: Wiederum sollte man „pro usu stabuli nostri Varssoviam" Hafer fahren und wieder sollte man den Gegenwert auszahlen, sollte sich der Hof aufhalten. 66
67
„alibi quam
Varsoviae"
Das dritte Stück wurde in Warschau ausgefertigt, die beiden
V. Montelupi an B. Vinta, Krakau, 4. Mai 1613 und A. Cilli an B. Vinta, Warschau, 10. Mai 1613, in:EIementaadFontium Editiones 28, Romae 1972, 9, 9-10. Im folgenden kurz Elementa. 67 Pacht- bzw. Verwaltungsverträge der Königin Konstanze mit Mikolaj Sapieha über das Waldgut Bielsk, mit Felix Kolbrzynski über Latowiczeund mit Mikofaj Danilowicz über die Starostei Bielsk, Wilna, 24. April und 26. Juni 1611, Warschau, 15. April 1612, in AG AD, ASK, TakzwanaMetryka Litewska 4 Β 33, fol. 3r.-4v„ 4v.-6r„ 6r.-7r. - Auf
Krakau als königliche Residenzstadt
255
früheren in Wilna. Von den fünfeinhalb Jahren seit ihrer Krönung verbrachte die Königin die meiste Zeit in Krakau, war in Warschau nur währendeines Reichstages (1606), auf dem viele Landboten unüberhörbar laut zu verstehen gaben, daß sie Konstanze als Königin nicht haben wollten. Sie konnte also keine guten Erinnerungen an Warschau haben. Latowicz liegt nur ca. 60 km Luftlinie von Warschau entfernt. Es war nur natürlich, wenn man von dort für den Hof Naturalien bezog. Bielsk liegt jedoch über 150 km Luftlinie entfernt, doch die Flüsse erlauben einen relativ leichten Transport von Waren nach Warschau. Es wäre jedoch sinnlos gewesen, über mehr als 400 km über Land Hafer nach Krakau zu transportieren. Doch daß vom Hof gesagt wird, er könne alibi sein, daß Krakau nicht erwähnt wird, ist beachtenswert, denn die Königin hielt sich zur Zeit der Ausstellung der ersten beiden Urkunden in Wilna auf. Dort lebte sie schon über ein Jahr. Als Residenzen hatte sie eigentlich nur Krakau und Wilna kennengelernt, in Warschau hatte sie nur drei Monate gelebt - von den über fünf Jahren. Umso erstaunlicher ist es, daß man am Hof der Königin das Problem der Residenz so sah: Der Hof sollte sich in Zukunft in Warschau oder alibi aufhalten. Hatte man, als man von Krakau im
Jahre
1609
abreiste,
schon
beschlossen,
nicht
mehr
dahin
zurückzukehren? Hafteten noch die Erinnerungen an die schlechten Jahre vor 1609 an der Stadt? Gewiß wurde der König immer älter und wollte nicht mehr reisen. Doch fuhr er 1615 nach CzQstochowa68 und nützte nicht
den ersten Blick könnte man annehmen, daß auch die Wahl der Orte für das Leibgeding der Königin Konstanze ein Beweis dafür sei, daß man schon im Jahre 1609 beabsiaitigte, nicht mehr nach Krakau zurückzukehren: Kein einziger der Orte lag in Kleinpolen, doch gab es Orte in allen anderen Landesteilen: Großpolen, Preußen, Masowien, Podlachien, Litauen und Rus. Außer Rus sind auch in dem Leibgeding der Königin Anna alle diese Landesteile vertreten, auch da fehlt Kleinpolen, obwohl natürlich Tafelgüter möglichst nicht allzuweit von der Residenz entfernt sein sollten. Doch diese Güter lagen auch in den Zeiten der Königinnen Bona und Anna Jagiellonka vor allem in Masowien. Es gab also eine Tradition, daß es keine Tafelgüter der Königin in Kleinpolen gab. Die Wahl der Orte für das Leibgeding der Königin Konstanze ist daher kein Hinweis auf die Absicht, die Residenz zu verlegen. 68
Mit unrichtiger (1616) Jahreszahl in Chronica gestorum in Europa singularium a Paulo Piasecio...conscripta. Cracoviae 1648, 358.
256
Walter
Leitsch
die Gelegenheit, Krakau aufzusuchen, obwohl er zwei Drittel des Weges dorthin schon zurückgelegt hatte. Vielleicht hatte die Freude,
den
Baufortschritt von Peter und Paul zu sehen, wirklich weniger Gewicht als die Vorstellung, Zebrzydowski und einige seiner Mitstreiter sehen zu müssen. Geredet wurde allerdings immer wieder von der bevorstehenden Übersiedlung nach Krakau. Noch bevor die Königin nach Warschau zurückkehrte (26. Juni 1613), als man noch annahm, sie werde zu Ostern (Ostersonntag am 7. April) in Warschau sein, lesen wir: „Ihre Majestät hatt bald nach ostern ex consilio senatorum nach Crackaw sich begeben wollen, aber weil der confoederirten 3.000 daselbst in die vorstadt sich geleget, ist diese resolution nicht allerdings gewiß".69 Als die Königin schon auf dem Weg nach Warschau war, im Juni 1613, glaubte Cilli, der Hof werde nach ihrer Ankunft nach Krakau reisen bzw. richtig übersiedeln „con tutta la corte".70 Cilli gehörte zwar nicht zum innersten Kreis des Hofes, aber lebte er da nun schon an die sechzehn Jahre, berichtete ständig an den florentinischen Hof, war also ein geübter Sammler von news. Er dürfte daher im allgemeinen recht gut informiert gewesen
sein.71
Valerio
Montelupi lebte in Krakau, also damals schon vier Jahre lang fern vom Hof. Seine Informationen kamen aus zweiter Hand, waren daher weniger verläßlich als die Cillis. Er meinte, der König könnte sich entscheiden „di ritirarsi in questa citä, si per esser luogho di piü quiete, come anco piü sicuro da soprastanti mottivi." Davor schrieb er über die Ankunft der Königin in Warschau.72 Welche ist nun questa citäl
Krakau
oder
Warschau? Der Text ist nicht eindeutig. Es ist wohl eher Krakau gemeint,
69
Diarium der preußischen Gesandten, Warschau, 12.-22. März 1613, Original in H B A 854-1. 70 Cilli an Vinta, Warschau, 12. Juni 1613, in:Elementa28, 12-13. 71 Siehe den Wortartikel von Kazimierz Tyszkowski in Polski S l o w n i k Biograficzny 4(1938)75-76. 72 V. Montelupi an Vinta, Krakau, 22. Juni 1613, in:Elementa28,13.
Krakau als königliche Residenzstadt
257
denn einen Monat später schrieb Cilli wieder: „Deila partenza nostra per Craccovia non ne siamo ancora sicuri, anzi si crede che restaremo qui per qualche tempo".73 Die Übersiedlung, so meinte man am Hof, wurde verschoben. Ende 1613 gab es Gerüchte, der Hof werde nach Krakau übersiedeln, doch da war Winterzeit und Prinz Karl Ferdinand nur zweieinhalb Monate alt. Nun plante man, nach CzQstochowa zu pilgern, doch erst nach der Taufe des Neugeborenen; der Berichterstatter erwähnte eigens, man habe nicht die Absicht, nach Krakau zu reisen.74 Das könnte man als Hinweis werten, daß man in Warschau über das Problem sprach. Die Reise nach CzQstochowa wurde jedoch lange aufgeschoben, fand erst am 5. Mai 1614 statt, und da war die Königin schon wieder schwanger. Von einer Übersiedlung nach Krakau hört man einige Zeit nichts, doch im Jahre 1615 geschah etwas, das daraufhindeutet, daß sich der Hof endgültig oder doch zumindest für lange Zeit in Warschau einrichtete. Der Nuntius schrieb im März dieses Jahres über die Postverbindung: „Del mal ordine s'e comminciato ä tener di qua in spedir i corrieri per Italia, poiche ο non spediscano ο spediscano tanto tardi, che non puonno giunger in Cracovia ä tempodebito". 75 Im August desselben Jahres schrieb der Nuntius erstmals, soviel ich sehen kann, von einem ordinario, der die Post nach Krakau brachte.76 Man hatte also zwischen März und August des Jahres 1615 eine normale Postverbindung von Warschau nach Krakau gelegt, während bis dahin nur Kuriere die Briefe reichlich unregelmäßig nach Krakau gebracht hatten. Im März des folgenden Jahres 1616 schrieb der zumeist sehr gut informierte brandenburgische Agent Jaski: „Imgleichen noch für zeit ganz keine vermuttung, daß ernante Ihre Königliche Majestät dieses jar sich 73
Cilli an Vinta, Warschau, 6. Juli 1613, in:Elementa28, 16. M. Adersbach an die preußischen Oberräte, Warschau, 2. Januar 1614, Original in H B A 856, sub dato. 75 Diotallevi an ?, Warschau, 5. März 1615, Original in Borg II 227, 47. 76 [Diotallevi an S. Borghese], Warschau, 2. August 1615, decifratain Borg II 221, 46. 74
258
Walter Leitsch
anderswohin begeben möchten, dan sie gewöhnlichen gebrauch halten, ihren hoffstadt in etzlichen jaren nicht leicht zu endern, es erfordert dan solches hochdringender Vorfall. Also seind Ihre Königliche Majestät nunmer ins vierte jar zu Warschaw, weil sie daselbst den rest des schloßes erbawen und anfertigen laßen. Naher Crakaw ist keine apparenz, daß sich Ihr Majestät begeben möchten insonderheit bey crakawschen
woiewoden".
77
Der
König
sah
leben des
seinem
itzigen
50. Geburtstag
entgegen. Die Beharrlichkeit, die man bei ihm auch früher beobachten konnte, ist mit zunehmendem Alter gewiß stärker geworden. Nach den zitierten Quellenstellen muß man daher wohl annehmen, daß der König die Reise oder Übersiedlung oder Rückkehr nach Krakau immer wieder hinausschob, daß er Argumente, die gegen diese Reise sprachen, gerne hörte und aufgriff, weil er die kleinpolnischen Adeligen und besonders Zebrzydowski nicht sehen wollte. Als Prinz Wiadyslaw im Frühjahr 1619 den Wunsch äußerte, Krakau zu besuchen, verwehrte ihm sein Vater dies mit der Begründung, „non parendole bene di obligare la nobiltä di quel palatinato a far quell'honore, che si converebbe a Sua Altezza, overo a correr pericolo di disgusto in caso che la nobiltä mancasse al debito suo".78 Man hat das Empfinden, der König wollte jeden Kontakt mit den Leuten vermeiden, die dem dortigen palatinus zuzuordnen waren. Das alles war gewiß nicht ausschlaggebend, denn als homo politicus war der König gewohnt, mit Leuten zusammenzuleben, die er lieber nie kennengelernt hätte. Ich glaube, daß dem König vor allem vor der Übersiedlung graute - und natürlich davor, daß er zum nächstfolgenden Reichstag wieder zurück nach Warschau werde kommen müssen. Er wurde älter, die Verrichtungen machten ihm mehr Mühe, auch begannen in den Jahren 1615 und 1616 die Schwierigkeiten mit den Beinen. Er tat, was am wenigsten Schwierigkeiten verursachte: Er blieb sitzen. Er blieb so lange
77
Jaski an Kurfürst Johann Sigismund, Danzig, 23. März 1616, Original in ABrand 7, 1 5 4 / 2 , 2 2 0 und 222. 78 Diotallevi an S. Borghese,Warschau, 26. April 1619, Original in Borg II 235, 121.
Krakau als königliche Residenzstadt
259
sitzen, bis es wirklich nicht mehr sinnvoll war, sich zu überwinden und nach Krakau zu übersiedeln, bis man von ihm, einem alten Mann, nicht mehr verlangen konnte, daß er sich den Strapazen einer solchen Hin- und Herübersiedelei aussetze. Natürlich hätte er gleichsam mit „kleinem Gepäck" reisen können, doch das war wohl politisch unklug: Er sollte vor allem auf dem Reichstag als König
auftreten, Macht und
Pracht
demonstrieren, also mußte er die Musiker und die vielen anderen Hofbediensteten mitnehmen. Ein
leerer Königspalast
schlechten Eindruck. Er mußte die Gobelins und das
machte
einen
Silbergeschirr
mitbringen, sonst wären Wände und Tische leer geblieben. Er konnte wohl gelegentlich mit kleiner Begleitung und wenigen Dingen zum Reichstag fahren. Doch das mußte die Ausnahme bleiben. In der Regel mußte er die ganze Pracht mit sich führen. Noch etwas hielt den König in Warschau zurück, wie Jaski, der ihn gut kannte, bemerkte: Er baute sich in Warschau ein Schloß nach dem Geschmack der Zeit. Das war sein Schloß, sein Werk. Im Wawel und in Lobzow hat er nur Verbesserungen und Modernisierungen vorgenommen, doch konnte man da nicht mehr viel ändern, und so blieb der Wawel das Schloß der Jagelionen. In Warschau entstand das Schloß der Vasa, der neuen Dynastie. Offensichtlich gewöhnten sich die Menschen schnell daran, daß der alternde König in Warschau blieb, doch ließ er die Menschen
im
Ungewissen über das weitere Vorgehen, denn der folgende Nuntius Cosmo
de Torres
meinte noch
zu Beginn
üblicherweise residiere der König in Krakau.
79
der
zwanziger
Jahre,
Als die Königin ihren
Gemahl im Herbst 1621 nach Lemberg begleitete und dann allein die Rückreise antrat, meldete das eine Zeitung mit folgenden Worten: „...partita di lä per Varssavia, dove sarä la sua ressidenza".80 Der Verfasser der
79
Relacye nuncyuszow apostolskich i innychosob ο Polsce od roku 1548 do 1690. Bd 2. Berlin, Poznan 1864, 140. 80 Avvisidi Cracoviavom 8. Oktober 1621, in:Elementa28, 132.
260
Walter Leitsch
Zeitung aus Krakau konnte noch immer nicht schreiben, sie sei zurück nach Hause gefahren, es war für ihn wohl schmerzlich, daß seine Stadt ihre Bedeutung im politischen Leben verloren hatte. Doch 23 Jahre später nach Auszug des Königshofes wußte man nur noch wenig von Krakau. So konnte ein brandenburgischer Diplomat über die Pläne zur Bestattung der Königin Konstanze schreiben, es werde „die leiche zu Lobzow bey Krakau beygesetzet werden".81 Für Heinrich von Weinbeer war Krakau bereits eine weit entfernte Stadt. Bemerkenswert ist, daß der Übersiedlung nicht ein Beschluß des Fürsten zugrunde lag, sondern den Ausschlag gab der Wille des Adels, daß die Sitzungen der Reichstage - und somit die entscheidenden politischen Vorgänge - möglichst in der Mitte des Landes stattfinden. Das fiel dem Nuntius auf, lange bevor von einer Übersiedlung des Hofes die Rede war. Er schrieb im Sommer 1588 über Warschau: „E quasi in mezzo del regno".82 Der Fürst paßte sich letztlich dem Willen des Adels an. Später, vom 18. Jahrhundert an, gab es dann mehr solche Fälle, nämlich daß Körperschaften entschieden, welcher Ort als Zentrum eines Landes zu gelten habe. Bis dahin entschieden das in der Regel die Fürsten.
81
Heinrich von Weinbeer an den Landhofmeister, Warschau, 20. April 1632, Original in ABrand 6, 39, 292-293. 82 Capua an Montalto, Krakau, 13. Juni 1588, Original in Archivio Segreto Vaticano. Segretariadi Stato. Polonia26, 80 und 82.
Dariusz Ko iodziejczyk (Warschau)
Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
Zu den Nachbarn der
alten Adelsrepublik gehörte auch
das
Osmanische Reich, das ist heute noch nicht in allen seinen Aspekten befriedigend erforscht. Die Ursache dafür mag in hohem Maße der Exotik der Materie zuzuschreiben sein; für polnische Osmanisten und Historiker wurde die Arbeit durch die Tatsache, daß die türkischen Archive für sie bis vor kurzem unzugänglich waren, behindert. Dabei wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg die Zahl der Osmanisten und Historiker, die sich mit der Geschichte des Osmanischen Reiches befassen, weltweit von einem kleinen Grüppchen zu einer Schar von einigen Hundert Personen
an, und
osmanistische Fachkongresse führen heute viele Forscher aus dem Westen, den Ländern der Balkanhalbinsel und der arabischen Welt zusammen. So entwickelt sich eine neue, dynamische Sicht des osmanischen Staates und seiner Gesellschaft. In einem solchen Rahmen darf es auch an einer neuen Analyse der politischen Beziehungen des Osmanischen Reiches zu seinen nördlichen Nachbarn und der Rolle der Osmanen in der Geschichte Osteuropas nicht fehlen. Zu den Stereotypen in der alten polnischen historischen Publizistik, aber auch mitunter der polnischen Historiographie gehört die Einschätzung des Osmanischen Reiches als eine „gefährliche und
unberechenbare
Bestie", die blindlings die Unterjochung des christlichen Europa anstrebte ein Bild, das der Publizistik des Sarmatismus entlehnt erscheint. Unter einem solchen Blickwinkel erscheinen alle wohlwollenden Gesten der Hohen Pforte gegenüber der Adelsrepublik, wie die Hilfeleistung in der Zeit des schwedischen Überfalls oder die spätere Nichtanerkennung der
262
Dariusz Ko iodziejczyk
Teilungen Polens, als Akte einer Art Deus ex machina, also Akte, die bestenfalls dem Klischee des „gerechten Barbaren" in der moralisierenden Literatur der Aufklärung entsprechen. Demgegenüber erweist sich für den heutigen Forscher die Politik der Hohen
Pforte, insbesondere
im
„goldenen" 16. Jahrhundert, als ungewöhnlich konsequent und rational. Es war kein Zufall, daß Machiavelli die Verkörperung seines Fürsten in einem Herrscher vom Bosporus sah. Als Beispiele für die rationale Politik der Hohen Pforte kann man die Aufnahme der aus Spanien vertriebenen Sephardim im Osmanischen Reich oder das geschickte Ausspielen der protestantischen Karte in den Auseinandersetzungen mit den spanischen und österreichischen Habsburgern ansehen. Beginnend mit dem 16. Jahrhundert bildete diese Konfrontation mit den Habsburgern die Grundlage der osmanischen Europapolitik. Als Schöpfer dieser Politik ist Sultan Süleyman der Prächtige anzusehen. Bis zu
seiner
Regierungszeit
schlossen
die
osmanischen
Sultane
mit
christlichen Herrschern lediglich auf mehrere - in der Regel 3, 5 oder 8 Jahre terminierte Waffenstillstände, um dem Prinzip des permanenten heiligen Krieges (cihad) nicht zuwiderzuhandeln. Eine Ausnahme bildete der in einer für den Sultan ungewöhnlichen Situation abgeschlossene Vertrag von Szeged 1444, der sogar 10 Jahre gelten sollte.1 Vor diesem Hintergrund wurde dem 1536 mit dem König von Frankreich, Franz I., abgeschlossenen „ewigen" Vertrag, der faktisch bis zum Tode eines der beiden Monarchen verbindlich war, besondere Bedeutung beigemessen. 2 Dieser Vertrag galt irrtümlicherweise oft als das erste feste Bündnis, das der Sultan mit einem christlichen Herrscher einging. Irrtümlicherweise deshalb, weil Süleyman den ersten „ewigen" Vertrag bereits drei Jahre 1 Der Verfasser arbeitet gegenwärtig an der Veröffentlichung einer vollständigen Serie der polnisch-osmanischen Verträge. Ein Artikel über den Vertrag von Szeged erscheint in den Materialien der Konferenz Warna 1444. Rzeczy wistosc i tradycja. Poznan 1994. 2 Über diesen Vertrag schrieb der vor einigen Jahren verstorbene Osmanist Josef Matuz, „Apropos de lavalidite des capitulations de 1536entre l'Empire Ottoman et la France". In: Turcica. Revued'etudes turques 24(1992) S. 183-192.
Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
263
früher mit Zygmunt dem Alten abschloß.3 Auf diese Weise wurde Polen neben Frankreich zur Hauptstütze der osmanischen Europapolitik. Nach dem Erlöschen der männlichen Linie der Jagiellonen wurde es zur echten Obsession der Politiker am Bosporus zu verhindern, daß ein Habsburger König von Polen werde. Der Druck der Osmanen auf die politisch maßgeblichen Kreise der Adelsrepublik während der Königswahlen in den Jahren 1573 (Henri de Valois), 1575 (Stefan Bäthory) und 1587 (Zygmunt III. Wasa) zeigt sich deutlich in der offiziellen Korrespondenz der Hohen Pforte mit dem Primas und den polnischen Magnaten, denen im Falle der Wahl eines habsburgischen Kandidaten offen Krieg angedroht wurde. Dieser Druck führte dazu, daß der vormalige osmanische Vasall Stefan Bäthory nach seiner Wahl zum König von Polen einige Jahre lang von der kaiserlichen und päpstlichen Diplomatie als angesehen
wurde,
und
noch
am
Beginn
„türkische unseres
Marionette" Jahrhunderts
charakterisierte der türkische Historiker Ahmed Refik die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts als eine Zeit „der türkischen Herrschaft in Polen" (Lehistan'da Türk häkimiyeti)? Die neuen Forschungen
von
Kemal
Beydilli und Wojciech Hensel, obwohl in ihren Einschätzungen nicht so extrem,
bestätigen
den
gewaltigen
Stellenwert
der
polnischen
Königswahlen in der Politik der Hohen Pforte und den nicht geringen Einfluß dieser Politik auf die Wahlergebnisse. 5 Ein Höhepunkt der polnisch-osmanischen Annäherung war die gemeinsame Erhebung eines antihabsburgischen Kandidaten, Ieremia Movilä, auf den Fürstenstuhl der Moldau im Jahre 1595. Der polnisch3
. Das osmanische Original dieses Vertrages ist nicht erhalten. Die zeitgenössischen Übersetzungen (italienisch, lateinisch und polnisch) wurden veröffentlicht in Acta Tomiciana 15(1957) S. 63-68. 4 Ahmed RefTq, Lehistan'da Türk häkimTyeti". In: Tärlh-i OsmänT Encümeni Mecmü'asi 14(1340/1924) S. 227-243. 5 Kemal Beydilli, Die polnischen Königswahlen und Interregnen von 1572 und 1576 im Lichte osmanischer Archivalien. Ein Beitrag zur Geschichte der osmanischen Machtpolitik. München 1976. Wojciech Hensel, Üwagi ο stosunkach polsko-tureckich w
264
Dariusz Ko }odziejczyk
osmanische Vertrag, der drei Jahre später abgeschlossen wurde, enthielt auch eine Klausel, daß der Sultan im Verlauf des Krieges gegen den Kaiser die Festungen Kaschau, Huszt und Munkäcs, auf die auch der polnische König Ansprüche erhob, nicht besetzen werde. Diese Vereinbarung, die nicht mehr viel von einem gegen die Habsburger gerichteten polnischosmanischen Angriffsbündnis trennte, geriet durch die Verringerung des Einflusses des Hauptarchitekten der polnischen Außenpolitik Jan Zamoyski und die deutlich prohabsburgische Wende in der Politik des Hofes in den weiteren Jahren der Herrschaft Zygmunts III. Wasa in Vergessenheit. In Übereinstimmung mit einer geheimen Klausel des polnisch-habsburgischen Vertrages von 1613 vereinbartender polnische König und der Kaiser die Berechtigung, in den ihnen unterstellten Territorien zur Unterstützung des Bündnispartners Söldner zu werben. Bald darauf kämpften leichte polnische Reiter (lisowczycy) gegen die Streitkräfte des osmanischen Vasallen und Hauptes der antihabsburgischen Opposition in Ungarn, Gäbor Bethlen, und spielten in der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges eine beachtliche Rolle. Über die Tätigkeit dieser lisowczycy, die polnisch-osmanische Rivalität in der Moldau sowie die Kosakenüberfälle auf die Küstengebiete des Schwarzen Meeres war man am Bosporus äußerst ungehalten. So kam es schließlich zum polnisch-osmanischen Krieg 1620-1621. Die Schlacht von Cecora im September 1620 wird auch als Teil der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges angeführt, obwohl die alte These von Franciszek Suwara, daß die Adelsrepublik durch die Bindung der osmanischen Kräfte zum Sieg des katholischen Lagers am Weißen Berg beigetragen hätte, von Ryszard Majewski in Frage gestellt wurde.6 Die Hohe Pforte nahm die Erklärungen des polnischen Hofes, daß die Tätigkeit der lisowczycy in Ungarn keine Vertragsverletzung darstellte, XVI wieku do panowania Stefana Batorego. In: Stosunki polsko-tureckie. Warszawa 1995, S. 19-29. 6 F. Suwara, Przyczyny i skutki kleski cecorskiej 1620 r. Krakow 1930, S. 133. R. Majewski, Cecora. Rok 1620. Warszawa 1970, S. 54.
Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
265
nicht zur Kenntnis. Es wurde daher in die vom Sultan ausgestellte Ratifikationsurkunde
des
nach
dem
polnisch-osmanischen
Krieg
geschlossenen Vertrages folgende neue Klausel aufgenommen: „Wenn irgendeiner meiner Feinde nach Polen kommt, um Rekruten anzuwerben, soll das verboten werden, und man soll den Magnaten, Anführern und anderen nicht erlauben, freiwillig meinen Feinden Hilfe zu leisten, sei es offen oder geheim." Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts tauchte in der osmanischen Politik ein neues Element auf, das die osteuropäische Politik der Hohen Pforte beträchtlich komplizierte. Die Unterstützung der rebellierenden protestantischen Untertanen der Habsburger in ihren Erbländern und in den Niederlanden bekam einen neuen Stellenwert, als im Mittelmeer Schiffe unter englischer und niederländischer Flagge auftauchten. Von da an waren die protestantischen Seemächte für die Hohe Pforte alternative Verbündete neben Frankreich. Der Höhepunkt ihres Einflusses fiel in die Zeit der Vertragsverhandlungen von Karlowitz. Während aber die Beziehungen zu England und den Niederlanden keine unmittelbaren Auswirkungen auf die polnisch-osmanischen Beziehungen hatten, mußte das Verhältnis zur dritten protestantischen Macht in Europa, zu Schweden, sehr wohl
davon
betroffen sein. Erst seit kurzem sprechen die Historiker vom „polnischen Kriegsschauplatz"
im
Rahmen
des
Dreißigjährigen
Krieges.
Die
osmanischen Herrscher scheinen dieses Problem recht früh bemerkt zu haben. Zwar
nannte
Sultan
Ibrahim
noch
im
Vertrag
von
1640
W i a d y s l a w IV. einen „Thronerben und König von Schweden" (Isveijya vilayetinin varisi ve kirali)
7
und erkannte damit den Anspruch der
polnischen Vasa auf den Thron in Stockholm an, aber die Neigung der Adelsrepublik zum katholischen - und damit habsburgischen - Lager mußte
7
Das Original befindet sich in AGAD, AKW, Türkische Abteilung, Mappe 376, Nr. 663.
DariuszKoiodziejczyk
266
die Hohe Pforte beunruhigen. Die politischen Verhältnisse am Bosporus am Anfang der fünfziger Jahre
des
17. Jahrhunderts
verhinderten
eine
konsequente
aktive
Außenpolitik. Weder der minderjährige Sultan Mehmed IV., noch die in rascher Folge wechselnden Großwesire konnten als stabilisierender Faktor wirken. Zwar konnte sich die Mutter des Sultans, Turhan Sultan, im palastinternen Machtkampf gegen die Großmutter des Sultans, Kösem Sultan, erfolgreich durchsetzen - Kösem Sultan wurde in einer Palastrevolte erdrosselt -, aber sie selbst war nicht imstande, die anstehenden Probleme zu lösen. Der erfolglos verlaufende Krieg mit Venedig um Kreta verursachte gewaltige Kosten, und im Sommer 1656 erschien eine venezianische Flotte in der Ägäis und blockierte sogar die Dardanellen. Unter diesen Umständen wurde an die Hohe Pforte im späten Frühjahr 1656 durch den polnischen Gesandten Wojciech Bieniewski die Bitte um Hilfe gegen Schweden, Moskau und die Kosaken herangetragen.8 Nach zwei Audienzen im August dieses Jahres wurde Bieniewski mit Briefen des Sultans und des Großwesirs an König Jan Kazimierz abgefertigt.9 Der Brief des Großwesirs Boynu Egri Mehmed Pascha muß auf die polnischen Empfänger wie eine kalte Dusche gewirkt haben. Der polnischschwedische Krieg wurde als Prestigekonflikt um den bedeutungslosen Titel eines Königs von Schweden abgetan. Der Großwesir erinnerte daran, 8 Über diese Botschaft und den Inhalt der Instruktion des Gesandten siehe L. Kubala, Wojna szwedzka w roku 1655 i 1656 (Szkicow historycznych serya IV). Lwow [1914], S. 305 und 482-483, Anm. 44. 9 Lediglich das Original des Briefes des Großwesirs ist in der Czartoryski-Bibliothek erhalten: Bibl. Czart. Ms. 609, S. 197-198; siehe auch Z. Abrahamowicz, Katalog dokumentow tureckich. Dokumenty do dziejow Polski i krajöw osciennych w latach 14551672. Warszawa 1959, S. 338. Den türkischen Text der beiden Briefe finden wir in einem osmanischen Kopialbuch, das die Auslandskorrespondenzen der Pforte in den Jahren 1644-1687 umfaßt: Universitätsbibliothek Göttingen, Hs. Türe. 29, fol. 119a-120a. BohdanBaranowski.Tatarszczyznawobec woinypolsko-szwedzkiej w latach 1655-1660. In: Polska w okresie drugiej wojny polnocnej 1655-1660,1(1957) S. 477. Gibt den Inhalt der beiden Briefe nach den. zeitgenössischen - ziemlich korrekten - polnischen Ubersetzungen wieder. Diese Übersetzungen befinden sich in AGAD, AKW, Schachtel 75, Mappe 415 und 406 (nicht 416 wie beiBaranowski).
Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
267
daß es schon in der Zeit Gustav Adolfs zu einem Krieg zwischen Schweden
und
Polen
gekommen
sei,
der
schließlich mit
einem
Friedens vertrag beendet worden sei. Auch Moskau gäbe der Hohen Pforte keinen Grund, den Frieden zu brechen und gegen die Vertragsurkunde des Sultans zu handeln. Die Kosaken hätten infolge der Unterdrückung durch die polnischen Herrscher von sich aus um die Schirmherrschaft des Padischah gebeten, und dieser hätte sie unter seinen Schutz genommen. Das letzte Argument, daß das Prinzip de non praestanda oboedientia widerspiegelte und in der Beweisführung eines Würdenträgers der Hohen Pforte
ziemlich schockierend
wirkte,
stammte wahrscheinlich
von
kosakischen Abgesandten, die sich am Bosporus aufhielten. Der Brief des Sultans war viel allgemeiner formuliert, enthielt aber ähnliche Argumente. Beide Schreiben empfahlen die diplomatische Vermittlung des Krimchans, an den die Pforte entsprechende Briefe schickte. Diese Empfehlung war insofern nicht aktuell, als damals die Oberherrschaft der Pforte über das Chanat der Krimtataren in hohem Grade nominell war, und um ein polnisch-krimtatarisches Bündnis
hatten sich
die
Würdenträger
der
Adelsrepublik bereits früher erfolgreich bemüht, ohne die Hohe Pforte um ihre Einwilligung zu fragen. Wie Bohdan Baranowski bemerkte, fanden sich die Politiker des Chanats der Krim in jener Zeit in der politischen Situation Osteuropas viel besser zurecht als die Osmanen. Sowohl der erstarkte Moskauer Staat, als auch die absolutistische hochgerüstete schwedische Monarchie konnten das labile Gleichgewicht in jener Region empfindlich bedrohen, besonders die Position des islamischen Vorpostens an der Nordküste des Schwarzen Meeres gefährden. 10 Die Aufrechterhaltung des Status quo - und damit die Hilfeleistung für die geschwächte Adelsrepublik - lag im Interesse sowohl der Krimtataren, als auch der Osmanen. So kam es bereits in den nächsten
10
Baranowski, op.cit., S. 468-471.
Danusz Ko todziejczyk
268
Monaten zu einem entschiedenen Engagement für die Adelsrepublik nicht nur
von
Seiten des
Chanats der Krimtataren, sondern
auch
des
Osmanischen Reiches selbst. Am 15. September 1656 vertraute die Mutter des Sultans, Turhan Sultan, angesichts der dramatischen Situation im Ägäischen Meer das Amt des Großwesirs dem alten und erfahrenen Statthalter von Anatolien, dem Albaner Köprülü Mehmed Pascha, an." Gleich
zum
Amtsantritt
verlangte
dieser
fast
uneingeschränkte
Vollmachten, die seines Erachtens unentbehrlich waren, um den Staat neu zu ordnen. Der von ihm eingeleitete Prozeß der Konsolidierung des Imperiums wurde unter der Losung der „Rückkehr zur goldenen Epoche Sultan Süleymans" durchgeführt. Diese Losung ist nicht immer wörtlich zu verstehen und konnte mitunter, wie neuerdings Forscher
bemerkten,
lediglich zur Tarnung dienen, um die Durchführung von Reformen in der konservativ eingestellten osmanischen
Gesellschaft zu
ermöglichen.
Zweifellos war aber für die damaligen osmanischen Politiker Sultan Süleyman weiterhin ein aktuelles Vorbild. Dieses
Ideal hatten die
Großwesire aus der Familie Köprülü vor Augen, wenn sie eine Reihe „klassischer"
osmanischer
Institutionen
wiederherstellten,
z.B.
die
Militärpfründen (timar). Diese idealisierte Sicht Sultan Süleymans, der 1529 vor den Mauern Wiens gestanden war, brachte 150 Jahre später dem ehrgeizigen Klienten der Köprülü, Kara Mustafa Pascha, eine Niederlage ein. Das Programm der Rückkehr zur Politik Süleymans und der Regierung des Reiches gebot auch, wieder eine aktive Europapolitik zu führen und zu versuchen, die osmanische Einflußsphäre wieder zu festigen und zu erweitern. Die Beteiligung des Chanats der Krim am zweiten Nordischen Krieg ist bekannt und in der polnischen Historiographie recht gut erforscht.12
11
Joseph von Hammer, Geschichte des Osmanischen Reiches. Bd. 5. Pest 1829, S. 657. Neben dem oben zitierten Artikel von B. Baranowski siehe auch L. Podhorodecki, Chanat krymski i jego stosunki ζ Polski» w XV-XVIII w. Warszawa 1987, S. 187-209. 12
Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
269
Weniger bekannt dagegen ist die Tatsache, daß damals wirklich nicht viel fehlte und die osmanische Armee hätte die Grenzen der Adelsrepublik überschritten, und zwar nicht als Angreifer, sondern als Verbündeter. Die Informationen darüber verdanken wir dem osmanischen Reisenden Evliya £elebi, einem Neffen des hervorragenden osmanischen Würdenträgers Melek Ahmed Pascha. Im Jahre 1656 befand sich Evliya an der Seite seines Onkels, der das Amt eines Gouverneurs von Silistra an der Donau bekleidete. Nach dem Bericht Evliyas kam im Dezember 1656 ein Abgesandter des polnischen Königs nach Silistra mit der Bitte um Hilfe gegen den Fürsten von Siebenbürgen, György II. Räkoczi. Melek Ahmed Pascha schickte den polnischen Boten unverzüglich zum Sultan und zum Großwesir. Β aid darauf erhielt der Pascha einen Befehl des Sultans, dessen Inhalt ich nach Evliya Celebi in eigener Übersetzung anführe: „Du, der Du Melek Ahmed Pascha, mein (ehemaliger) Erzieher bist! Wenn mein edler, glückhafter Befehl eintrifft, sollst Du Dich unverzüglich als mein großer Serdar zusammen mit dem Chan der Tataren, Mehmed Gerey, nach Polen begeben und mit allen Truppen der Sandschaks des Eyalets (Silistra), die kraft der Berate (über die Einkommen) von einem bis tausend
und
von
tausend bis
hunderttausend (Asper
zum
Dienst
verpflichtet sind), sowie mit allen Truppen Deines Gefolges einen Feldzug nach Polen unternehmen, dem polnischen König Hilfe leisten und den verfluchten Räkoczi bestrafen. Zu diesem Zweck wurde dieser kaiserliche Ferman erlassen, und ich schicke Dir eine Zobelschaube, einen Säbel, einen Kaftan, einen großherrlichen Federbusch und aus meinem kaiserlichen Arsenal 2000 Musketen, 1000 Säbel, 1000 Lanzen, 100 Kamelkolonnen, 100 Maultierkolonnen und 10 Koppeln Pferde samt den übrigen Vorräten und der Ausrüstung, (wie auch) 20 Janitscharenregimenter, 4 niedere Sipahifähnlein von den Azaben des rechten und linken Flügels, sowie ein sultanisches (Prunk)zelt. Es ist vonnöten, daß Du Dich unverzüglich mit dem Chan der Tataren ins Einvernehmen setzt und ausrückst, um dem
270
DariuszKo todziejczyk
polnischen König Hilfe zu erweisen." 13 Im weiteren Verlauf seiner Erzählung berichtete Evliya, daß der Pascha den Zug anhielt, nachdem er Chocim erreicht hatte; lediglich eine Abteilung der Bucak-Tataren erhielt den Befehl, den Dnjestr in der Nähe von Soroka zu überqueren. An der Spitze dieser Truppenabteilung stand der yali agasi, ein tatarischer Würdenträger, der in doppelter Abhängigkeit vom Chan der Krim und vom Sultan stand. Unser Reisender nahm an diesem Feldzug teil, und dieser Tatsache verdanken wir die einmalige türkische Beschreibung von Kamieniec-Podolski, Bar und zahlreichen kleinen festen Orten in Podolien und in der Ukraine.14 Wie wir wissen, entschied die baldige Niederlage Räkoczis darüber, daß der Einsatz der regulären osmanischen Truppen nicht mehr notwendig war.
Die Nachrichten von
dieser Niederlage
enthusiastisch aufgenommen, obwohl,
wie
der
wurden
in
damalige
Istanbul polnische
Abgesandte Jaskolski in einem Brief an den Vizekanzler der Krone schrieb: „...sich der Kaiser sehr freute und andere uns Wohlgesinnte, derer wir allerdings wenige haben, denn außer dem Wesir, dem Mufti plures non sunt. Alle (anderen -DK) hat das Gold, das man dort reichlich verteilte, von der polnischen Freundschaft entfernt." 15 Diese Angaben entsprechen voll dem traditionellen Bild Köprülü Mehmed
Paschas,
wie
es
seine
Zeitgenossen
gemalt haben:
ein
unbestechlicher Greis mit eiserner Hand. Bis zu seinem Tod im Jahre 1661 blieb er dem alten Prinzip Sultan Süleymans treu, die guten Beziehungen zur Adelsrepublik zu erhalten. 13 Evliyä Qelebi, SeyHjatnäme. Bd. 5. Istanbul 1315/1897, S. 103. Eine russische Übersetzung findet sich in: Evlija Celebi. Kniga puteSestvija (Izvleöenija iz soöinenija tureckogo puteäestvennika XVII veka), vyp. 1. Zemli Moldavii i Ukrainy. Hrsg. von A.S. Tveritinova. Moskva 1961, S. 27. 14 Evliya £elebi, Seyähatnäme. Bd. 5, S. 126ff.; bzw. Evlija Celebi, Kniga puteäestvija, vyp. 1 , S . 52 ff. 15 Diesen mit 18. August 1657 datierten Brief veröffentlichte L. Kubala in: Wojna brandenburska i najaza Rakoczego w roku 1656 i 1657. L w o w [1917], S. 433-435 =Szkicow historycznych, serya5.
Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
271
Es ist kein Zufall, daß beide osmanischen Feldzüge gegen Polen unter persönlicher Beteiligung des Sultans, übrigens die einzigen in der fast 400jährigen
Geschichte
prohabsburgischer
der
Herrscher
Beziehungen, in
in
Warschau
der
Regierungszeit
stattfanden.
Eine
der
Hauptursachen des Feldzugs Osmans II. gegen Chocim im Jahre 1621 war die oben erwähnte Einwilligung Zygmunts III., leichte Reiter nach Ungarn zu schicken. Der nächste Feldzug, der mit dem Verlust von KamieniecPodolski endete, begann erst nach der Wahl Michal Wisniowieckis zum König, also nach dem Beginn einer deutlich prohabsburgischen Politik. Außer der prohabsburgischen Wendung in der polnischen Politik entschieden auch noch andere Faktoren über den Krieg von 1672. Der 1667 geschlossene Vertrag von Andrusovo, der das langjährige Ringen der Adelsrepublik mit Rußland beendet hatte, ermöglichte einerseits eine Pazifizierung der
zwischen
beiden
Staaten
aufgeteilten
Ukraine,
andererseits eine eventuelle gemeinsame polnisch-russische Aktion gegen die Krim und sogar gegen die Hohe Pforte. Fast gleichzeitig mit dem Abschluß
des
Vertrages
begaben
sich
die
Abgesandten
des
Kosakenhetmans Petro DoroSenko nach Istanbul, wo sie vom damaligen Stellvertreter des Großwesirs Köprülüzäde Fazil Ahmed Pascha, dem Kaymakam Kara Mustafa Pascha, empfangen wurden. Als Gegenleistung für die Anerkennung ihrer Autonomie und den Wiederaufbau der Hetmansukraine waren die Kosaken bereit, die Oberherrschaft des Sultans zu akzeptieren. Hätte das Osmanische Reich die Kosaken unter seiner Kontrolle halten können, wäre es vor deren erneuten Angriffen im Gebiet des Schwarzen Meeres sicher gewesen, die für die Wirtschaft des Imperiums so lästig waren. Es scheint, daß die Angst vor solchen weiteren Angriffen am Bosporus so stark war, daß sich die Pforte entschloß, mit ihrer Politik des Gleichgewichts zu brechen und die Adelsrepublik gegenüber Moskau weiter zu schwächen.
Dmusz Ko iodziejczyk
272
Im Jahre
1669 erhielt Hetman DoroSenko ein Diplom, einen
Roßschweif, eine Trommel und eine Fahne - Symbole der Investitur durch den Sultan. Der drei Jahre später unternommene Feldzug des Sultans traf die
Adelsrepublik
während
der
Fraktionskämpfe
zwischen
dem
frankophilen Hetman Jan Sobieski und dem durch den Kaiser unterstützten König Michael. Die Feinde Sobieskis erschwerten diesem die Aushebung von Truppen mit dem Argument, daß dieses Heer zum Sturz des Königs eingesetzt werden könnte. Der Adel meinte ironisch, daß die Osmanen lediglich kämen, um Seife und Rosinen zu verkaufen, wie sie das jedes Jahr machten, und sah die von den Truppen des Hetmans an der Grenze festgenommenen und
nach
Warschau
geschickten
Gefangenen
für
verkleidete Armenier aus Lemberg an. Als Kamieniec-Podolski, die mächtigste Festung in den südöstlichen Randgebieten der Adelsrepublik, nach neuntägiger Belagerung kapitulierte, mußten die Polen die osmanischen Friedensbedingungen annehmen. Die Ukraine wurde zu einem Lehen des Sultans erklärt, Podolien mit Kamieniec wurde zu einer regelrechten osmanischen Provinz, und der König mußte sich zur Zahlung eines jährlichen Tributs verpflichten. Er wurde somit zu einem osmanischen Vasallen. Trotz der Ablehnung des Friedenstraktats durch den Sejm, trotz der allgemeinen Mobilmachung und dem Sieg bei Chocim im Jahre 1673, der Sobieski im Folgenden die Königskrone eintrug, gelang es der Adelsrepublik nicht, die verlorenen
Gebiete
wiederzugewinnnen. Nach einigen Jahren erfolgloser Kämpfe wurde 1676 bei Zurawno ein Waffenstillstand unterzeichnet. Es war eine Ironie der Geschichte, daß der frankophile Sobieski, der im Prinzip bemüht war, die Position Polens in der Ostseeregion zu stärken und die der Hohenzollern zu schwächen, fast seine ganze Regierungszeit hindurch in Kriege mit dem Verbündeten der Franzosen - nämlich mit dem Osmanischen Reich - verwickelt war. Trotz den Bemühungen des Königs
Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
273
und der französischen Vermittlung machte der Großwesir Kara Mustafa Pascha im Laufe von langwierigen Verhandlungen mit dem Gesandten Jan Gninski in Istanbul keinerlei Zugeständnisse. Der schließlich 1678 abgeschlossene Friedensvertrag wurde trotz der Abschaffung des Tributs in der Adelsrepublik als demütigend angesehen. Nun lag das osmanische Podolien nur 100 km von Lemberg entfernt, und die osmanischen Vorposten in der Slowakei waren auf 200 km an Krakau herangerückt. In dieser Situation konnte der Vertrag das Gefühl der Bedrohung nicht aus der Welt schaffen. Überdies zerschlug der im selben Jahr geschlossene Vertrag von Nijmegen die Hoffnungen des Königs auf ein Bündnis mit Ludwig XIV. Nach den Worten von Zbigniew Wojcik verleitete „die fatale, kurzsichtige, megalomane und aggressive Politik der Hohen Pforte" Polen zum Bündnis mit den Habsburgern.16 Der im Stich gelassene Sobieski, der sich überdies im Parlament der Kritik des aus Podolien vertriebenen Adels ausgesetzt sah, entschied sich für einen dramatischen Frontwechsel. Seit dem Entsatz von Wien und der Gründung der Heiligen Liga im Jahre 1684 verblieb Polen an der Seite des Kaisers und Venedigs in dem im Laufe seiner Geschichte längsten Krieg mit dem Osmanischen Reich bis zum Vertrag von Karlowitz im Jahre 1699. Der Krieg brachte einerseits eine extreme Schwächung
der
Adelsrepublik mit sich, andererseits den Anfang des Rückzugs der Osmanen aus Mitteleuropa und von der Balkanhalbinsel. Die wirklichen Sieger waren die Habsburger und Rußland unter Peter I. Die Tatsache, daß knapp einhundert Jahre später eben diese beiden Mächte an den Teilungen Polens beteiligt waren, konnte nicht ohne Einfluß auf die Einschätzung der polnisch-osmanischen Beziehungen in der 16
Zbigniew Wöicik, Rzeczpospolita wobec Turcji i Rosji 1674-1679. Wroclaw 1976, S. 191. Eine ähnliche Ansicht vertratZygmuntAbranamowicz, T t o politycznei ekonomiczne wyprawy wiedenskiej Kara Mustafa'. In: Kwartalnik Historyczny 89(1983) S. 21-54, hier
DariuszKoiodziejczyk
274
polnischen Historiographie und Publizistik bleiben. In einer Zeit, als Österreich zu den Besatzungsmächten gehörte und polnische Emigranten, unter ihnen auch der „Dichterfürst der Nation" Adam Mickiewicz am Bosporus Schutz gefunden hatten, durfte niemanden die mitunter geäußerte Meinung verwundern, es wäre besser gewesen, den Osmanen bei der Eroberung Wiens zu helfen, als es zu verteidigen. Bei einigen Autoren verband sich übrigens diese Ansicht auf ziemlich schizophrene Weise mit dem Stolz auf das Attribut eines Verteidigers des christlichen Abendlandes. In der Epoche nach den Teilungen verfestigte sich im polnischen Nationalbewußtsein das Stereotyp vom „heimtückischen Westen", und den Platz der Habsburger nahmen der Reihe nach Napoleon III., die EntenteMächte, Frankreich in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs und die westlichen Signatarmächte der Vereinbarungen von Jalta ein. Dieses Stereotyp ist
aus
der
heutigen
polnischen
Publizistik
keineswegs
verschwunden. Während es in der Zeit des Warschauer Pakts noch bei der militärischen Ausbildung meiner Generation offiziell gebraucht wurde, kann man heute paradoxerweise unter den rechtsradikalen Gegnern der Europäischen Union auf solche Ansichten stoßen. Überlassen wir aber die Gegenwart den Soziologen und kehren wir noch für eine Weile in die Vergangenheit zurück. Die Ansicht Halil 0
Inalciks, daß es für das Verständnis der politischen Wirklichkeit der Epoche der frühen Neuzeit unbedingt nötig ist, das Osmanische Reich als einen integralen Bestandteil der europäischen Ordnung anzusehen, wird heute von vielen Historikern geteilt. Schlagwörter wie Türkengefahr oder Antemurale Christianitatis, Schlüsselbegriffe für die Erforschung der damaligen Publizistik und Mentalität, sind bei der Analyse der politischen Verhältnisse nicht immer hilfreich. Im Laufe des 17. Jahrhunderts führten sowohl die Adelsrepublik, als auch der Kaiser fast 30 Jahre lang Kriege gegen das Osmanische Reich. Aber im selben Jahrhundert führten diese beiden Mächte nicht weniger hartnäckige Kämpfe gegen das protestantische
Polen und die Osmanen im 17. Jahrhundert
275
Schweden. Es entsprachen auch die polnisch-russischen Konflikte der Rivalität der Habsburger mit Frankreich unter den Bourbonen. In diesem „europäischen Domino" konnte man die Achse Madrid-Wien nach Moskau verlängern und die Achse Paris-Warschau nach Istanbul. Natürlich kann man in dieser „realpolitischen" Interpretation die religiösen Konflikte und Vorurteile, die im damaligen Leben stets eine wesentliche Rolle spielten, nicht außer acht lassen. Diese Vorurteile waren aber kein Hindernis, die muslimischen Herrscher des Osmanischen Reiches, der Krim und sogar des
fernen
Persien
häufig
zur
Beteiligung
an
den
politischen
Auseinandersetzungen im christlichen Europa einzuladen. Bei der Einschätzung der Rolle der „türkischen Bedrohung" Polens und der habsburgischen Länder ist zu betonen, daß die Perspektive der Adelsrepublik, die sich nie in der Hauptstoßrichtung der osmanischen Expansion befand, naturgemäß eine andere war als die der Habsburger. Obwohl sich die Adelsrepublik zweimal angesichts der osmanischen Bedrohung in den Jahren 1621 und 1673 zum größten spontanen Finanzund Mobilisationsaufwand in ihrer Geschichte aufraffte, entstand hier nie etwas, das der im Reich ziemlich regelmäßig eingehobenen Türkensteuern entsprochen hätte, die Winfried Schulze eingehend beschrieben hat.17 Abgesehen von der Panik nach der polnischen Niederlage in der Bukowina im Jahre 1497, als u.a. die berühmte Krakauer Barbakane entstand, übte die osmanische Bedrohung auch keinen größeren Einfluß auf die Entwicklung der Befestigungsanlagen in Polen aus. Eine Ausnahme bilden nur die südöstlichen Randgebiete, doch da spielte die Tatarengefahr eine wesentlich größere Rolle als die Türkengefahr.18 Den besten Beweis für diese Unbekümmertheit liefert übrigens der skandalöse Zustand der Festung von 17 Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späteren 16. Jahrhundert. Studien zu der politischen undgesellschaftlichen Auswirkung einer äußeren Bedrohung. München 1978, S. 369. 18 Siehe dazu Tadeusz Nowak, Ο wplywie walk ζ Turcj^i Tatarami na rowzoj polskiej techniki wojskowej XVI-XVII w. In: Kwartalnik Historii Nauki i Techniki 28(1983) S. 589-613.
276
DariuszKotodziejczyk
Kamieniec-Podolski, die erst von den Osmanen nach der Eroberung im Jahre 1672 restauriert wurde. Auf den ambivalenten Charakter des Türkenbildes in der älteren polnischen Literatur hat die junge italienische Forscherin Marina Ciccarini aufmerksam gemacht.19 Angst und Ablehnung waren oft mit Faszination vermischt. Während die Polen das „Heidentum" und die Tyrannei der Osmanen kritisierten, bewunderten sie deren Reichtum, Macht und Ordnung. Naturgemäß wurde an der Weichsel der
habsburgische
Absolutismus als viel größere und näherliegende Bedrohung angesehen als die osmanische Tyrannei. Die modische Vorliebe für „türkische" Gewänder und Rüstungen in der Zeit des Sarmatismus trug den Polen im Westen zuweilen den Ruf ein, sich „alla moda barbaresca" zu kleiden. Ein Beweis dafür, daß die Kontakte mit dem Orient nicht nur auf Kriege beschränkt waren, sondern daß es auch kulturellen Austausch gab, ist der immer noch hohe Anteil von Turzismen im Wortschatz der heutigen polnischen Sprache. Der Anteil ist heute allerdings gegenüber dem 17. Jahrhundert ungleich geringer. Über alle diese - hier lediglich kurz angesprochenen Phänomene wäre an anderer Stelle ausführlicher zu handeln.
19
M. Ciccarini, Urichiamo ambivalente. Immagini del Turco nella memorialistica polacca del Cinquecento. Bergamo 1991.
Markus Köhbach (Wien)
Warum beteiligte sich das Osmanische Reich nicht am Dreißigjährigen Krieg?
Die
Beziehungen
zum
Osmanischen
Reich
waren
seit
der
Entwicklung im Königreich Ungarn nach der Schlacht von Mohäcs 1526 eine Konstante in der Politik der Habsburger, die auf die offene oder latente
Bedrohung
ihrer
Position
im
östlichen
Mitteleuropa
mit
militärischen und diplomatischen Mitteln reagieren mußten, solange das Gesetz des Handelns von der osmanischen Macht diktiert wurde. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war es allerdings nicht der Konflikt
mit
den
Osmanen,
sondern
jene
vielschichtige
Auseinandersetzung in Mitteleuropa, die als der Dreißigjährige Krieg bezeichnet wird, die das Schicksal der österreichischen Linie des Hauses Habsburg und der von ihr beherrschten Länder wesentlich bestimmte. Daß das Osmanische Reich diese Verstrickung des Rivalen
nicht
ausnützte und alle Versuche, es zumindest mittelbar in diesen Krieg hineinzuziehen, versanden ließ, war bereits den Zeitgenossen vielfach unbegreiflich, die darin in der Diktion des katholischen Barockzeitalters eines der „Mirakel des Hauses Österreich" sahen. Wenn wir in rationaler Betrachtung dieses historischen Phänomens nach einer Erklärung suchen, so ist es nicht möglich, eine konzise, schlagende Begründung zu liefern; wenn wir allerdings die inneren Verhältnisse und äußeren Beziehungen des Osmanischen Reiches in dieser Zeit analysieren, erhalten wir ein komplexes
Bündel
unterschiedlicher
Faktoren,
die
in
ihrem
Zusammenwirken die politischen Entscheidungen bestimmt haben. Bei der Betrachtung der inneren Verhältnisse erscheint mir eine
278
Markus Köhbach
Trennung nach strukturellen und personellen Faktoren sinnvoll, da einerseits Politik von Personen gemacht wird, andererseits diese Personen in ihrem Handeln durch die äußeren Verhältnisse beeinflußt, wenn nicht bestimmt werden. Strukturell erlebte das Osmanische Reich im 17. Jahrhundert einen
tiefgreifenden
Wandel
im
Bereich
des
Militärs,
der
Provinzialadministration und der Finanzen, wobei diese Sektoren eng miteinander verschränkt waren.1 Der sogenannte 15jährige oder lange Türkenkrieg2 an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, der über weite Strecken ein Stellungskrieg war, hatte gezeigt, daß die osmanischen Streitkräfte in ihrer Struktur veraltet waren. Die traditionelle Pfründenkavallerie, die zahlenmäßig nach wie vor das Gros der osmanischen Streitkräfte bildete, hatte durch überhandnehmende
Mißbräuche
bei
der
Pfründenvergabe
eine
3
Aushöhlung ihrer Schlagkraft erfahren ; die schwere Finanzkrise in den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts4 hatte auch die Pfründeninhaber hart getroffen und deren Moral untergraben. Die Bereitschaft, zu den befohlenen Musterungen zu erscheinen oder dem Einrückungsbefehl für einen Kriegszug Folge zu leisten, ging massiv zurück, aber auch bei den 1 Zu diesen Transformationsprozessen siehe Halil Inalcik, Military and Fiscal Transformation in the Ottoman Empire, 1600-1700. In: Archivum Ottomanicum 6(1980) S. 283-337; idem, Centralization and Decentralization in Ottoman Administration. In: Studies in Eighteenth Century Islamic History. Edited by Thomas Naff and Roger Owen. Carbondale and Edwardsville, 111., 1977, S. 27-52; S. 362-369 =Papers on Islamic History 4; Suraiya Faroqhi, Crisis and Change, 1590-1699. In: An Economic and Social History of the Ottoman Empire, 1300-1914. Edited by Halil Inalcik and Donald Quataert. Cambridge, 1994, Part II, S. 411-636. 2 Eine umfassende Aufarbeitung des langen Türkenkrieges vom militärhistorischen Gesichtspunkt fehlt noch immer; zur Diplomatie der europäischen Staaten während dieses Krieges s. neuerdings Jan Paul Niederkorn, Die europäischen Mächte und der „lange Türkenkrieg" Kaiser Rudolfs II. (1593-1606). Wien, 1993 =Archiv für österreichische Geschichte 135. 3 Zum Einreißen von Mißständen im Pfründenwesen siehe Klaus Röhrborn, Untersuchungen zur osmanischen Verwaltungsgeschichte. Berlin - New York 1973, S. 68-69 =Studien zur Sprache, Geschichte und Kultur des islamische^ Orients, Beihefte zur Zeitschrift „Der Islam" 5; Omer Lütfi Barkan, s. v. Timar. In: Islam Ansiklopedisi 12/1(1974) S. 319-328. 4 Siehe dazu Cemal Kafadar, Les troubles monetaires de la fin du XVIe siecle et la prise de conscience ottomane du declin. In: Annales. Economies, Societes, Civilisations
Die Osmanen und der Dreißigjährige Krieg
279
Eingerückten nahmen Insubordination und Desertion zu. Abgesehen von diesen Problemen war die leichte, traditionell bewaffnete Kavallerie nicht mehr
schlachtentscheidend,
sondern
die
mit
Handfeuerwaffen
ausgestattete Infanterie. Um diesen Nachteil auszugleichen, weitete man einerseits den Personalstand der besoldeten Fußtruppen - das Corps der Janitscharen - erheblich aus5, was dem Staat eine Steigerung seiner Personalkosten aufbürdete, andererseits warb man aus dem beträchtlichen Reservoir land- und arbeitsloser junger Männer auf dem Land, den sogenannten „Levend"6, die zum Teil illegal mit Handfeuerwaffen bewaffnet waren7, kurzfristig Hilfstruppen zur Verstärkung der Infanterie an. Diese Hilfstruppen (Sarica, Sekban)8, die nach ihrer Demobilisierung wieder auf der Straße standen, strebten nach existentieller Absicherung durch Aufnahme in die bestehenden militärischen Strukturen, was ihnen aber verwehrt wurde. Im Bereich der Pfründentruppen hatte sich seit der Zeit Sultan Süleymans I. (1520-1566), der entsprechend Kategorie der Pfründe und Todesart des Inhabers dessen Söhnen und in manchen Fällen sogar Enkeln zwar kein Erbrecht, aber ein Anspruchsrecht gesetzlich verbrieft hatte9, ein spezifisches Standesbewußtsein entwickelt, das alle Außenseiter - und als solche betrachtete man alle, deren Väter noch keine Pfründeninhaber, sondern einfache Untertanen (raya) waren - eifersüchtig ablehnte.10 Auch im Bereich der besoldeten Truppenkörper hatte sich eine
(1991) S. 3.81-400. Siehe H. Inalcik, Military and Fiscal Transformation, S. 288-291, A. Transformation of the Military Organization, 1 Kapikulus. 6 £ u den levend siehe Mus'tafa 'Cezar, Osmanli Tarihinde Levendler. Istanbul, 1965 =Istanbul Güzel Sanatlar Akademisi Yayinlari 28. 7 Zu diesem Problem siehe die regionale Fallstudie von R. C. Jennings, Firearms, Bandits and Gun-Control: Some Evidence on Ottoman Policy Towards Firearms in the Possession of Reaya, from Judical Records of Kayseri, 1600-1627. In: Archivum Ottomanicum 6(1980) S. 339-358. 8 Siehe Η. Inalcik, Military and Fiscal Transformation, S. 292-297, A. Transformation of the Military Organization, 2. SekbSn and Sandja and Rebellion in the Provinces. 9 Siehe Röhrborn, op. cit., S. 29-32; Irene Beldiceanu-Steinherr, Loi sur transmission du timar (1536). In: Turcica. Revue d'etudes turques 11(1979) S. 78-102. 10 Zur Ablehnung dieser „fremden" (garip, ecnebi) Eindringlinge in das Pfründensystem siehe Röhrborn, op. cit., S. 88-95; Gyula Käldy-Nagy, The First Centuries of the Ottoman Military Organization. In: Acta Orientalia Acaaemiae Scientiarum Hungaricae
280
Markus
Köhbach
Änderung vollzogen, seit im Laufe des 16. Jahrhunderts das ursprüngliche Heiratsverbot allmählich durchlöchert worden und schließlich ganz gefallen war.11 Als weiteren Schritt hatte man den Söhnen der „Knechte" (kul) des Sultans, den kul ogullann,
zugestanden, bei Ausscheiden ihrer
Väter deren Stellen zu besetzen, wodurch das traditionelle Instrument zur personellen
Ergänzung
der besoldeten Truppen, die
„Knabenlese"
n
(dev$irme) , zunehmend an Bedeutung verlor und schließlich Anfang des 18. Jahrhunderts ganz außer Gebrauch kam. Die Ausweitung des Personalstandes der besoldeten Truppen bei gleichzeitigem Verfall der Pfründenorganisation stärkte deren Ansehen und Bedeutung und machte sie damit zu einem wichtigen politischen Faktor, der zunehmend in das Geschehen eingriff, was bis zur Absetzung und Ermordung von Sultanen ging. Die traditionelle osmanische Provinzialverwaltung14 war mit dem Pfründensystem eng verschränkt. Die Verwalter kleiner administrativer Einheiten (sancak), die Sandschakbege, stammten aus dem Kreis der Pfründeninhaber
und
waren
Pfründenaufgebotes ihres
primär
Sandschaks,
Militärkommandanten ebenso
die
Verwalter
des der
übergeordneten größeren Einheiten (eyälet bzw. beylerbeyilik), die Beglerbege,
die
ihrerseits
das
Kommando
über
das
gesamte
Pfründenaufgebot der zu ihrer Provinz gehörigen Sandschaks führten. Der wachsende politische Einfluß der besoldeten Truppen, insbesondere des 31/2(1977) S. 147-183, besonders S. 155, Anm. 33, und S. 158-159, Anm. 41; idem, The „Strangers" (ecnebiler) in the 16th Century Ottoman Military Organization. In: Between the Danube and the Caucasus. A Collection of Papers Concerning Oriental Sources on the History of the Peoples of Central and South-Eastern Europe. Edited by György Kara. Budapest 1987, S. 165-169 =Oriental Sources on the History of the Peoples of SouthEastern and Central Europe 4. 11 Siehe dazu Ismail Hakki Uzungarsili, Osmanli Devleti teskilätindan Kapukulu Ocaklari. I - Acemi Ocagi ve Yeniceri Ocagi. Ankara 1943, S. 306-310, Υεηίςεπίεήη evlenmeleri ve cocuklan. =Türk Tarin Kurumu yaymlarindan 8,12'. 12 Zu den kul ogullan siehe Uzun5arsili, op. cit., S. 31-34, Kul ogullan ve Aga giraklan. 13 Zum dev$irme siehe V. L. Minage, s. v. Devshirme. In: Encyclopaedia of Islam. New Edition (=EI2) 11(1965) S. 210-213. 14 Zur Provinzialverwaltung und ihrer Transformation im Zeitraum 1550-1650 siehe I. Metin Kunt, The Sultan^ Servants. The Transformation of Ottoman Provincial
Die Osmanen und der Dreißigjährige Krieg
281
zahlenmäßig stärksten und daher einflußreichsten Corps der Janitscharen, auf
zentraler,
Spannungen.
15
aber
auch
regionaler
Die
häufige
Ebene
Ablösung
erzeugte
und
wachsende
Versetzung
von
Sandschakbegen und Beglerbegen war ein langgepflogenes Grundprinzip der osmanischen Provinzialverwaltung, um eine zu enge Beziehung zwischen Provinz und Verwalter und damit die Gefahr einer Schwächung der Zentralmacht zu unterbinden. Daneben bestand für die jeweils am Hof dominierende Fraktion die Möglichkeit, Gegner und Konkurrenten, die man nicht zu beseitigen wagte, auf Statthalterposten in den Provinzen vom
Machtzentrum
fernzuhalten.
Nun
waren
aber
ehrgeizige,
ambitionierte Provinzstatthalter vielfach nicht mehr gewillt, sich auf teilweise auch unattraktiven Posten hin- und herschieben zu lassen. Sie fanden in den demobilisierten ländlichen
Proletariat,
aus
Hilfstruppen und dem bewaffneten dem
sich
diese
rekrutierten,
ein
Machtinstrument, das sie für ihre Zwecke einsetzen konnten. Bereits Ende des
16.
Jahrhunderts
zusammengeschlossen,
hatten die
in
sich den
diese schweren,
Leute
zu
Banden
bürgerkriegsartigen
Kämpfen in Anatolien am Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts, den sogenannten Celäli-Aufständen 16 , als militante Bannerträger des Widerstandes gegen wirtschaftliche und gesellschaftliche Benachteiligung aufgetreten
waren.
Das
Osmanische
anatolischen
Provinzen, waren im
Reich,
insbesondere
17. Jahrhundert der
seine
Schauplatz
permanenten Bandenunwesens. Diese Banden ließen sich aber auch anwerben und für die persönlichen Ambitionen mancher Statthalter einspannen. Manchmal waren sie so mächtig, daß die Zentralmacht, ohnmächtig etwas dagegen auszurichten, prominente Bandenführer Government, 1550-1650. New York 1983 =The Modern Middle East Series 14. 15 Siehe Inalcik, Military and Fiscal Transformation, S. 297-299, A. 3. The Sekban Janissary Rivalry. 16 Zu den Celäli-Aufständen siehe Mustafa Akdag, Celäli Isyanlari (1550-1603). Ankara, 1963 =Ankara Üniversitesi, Dil ve Tarih-Cografya Fakültesi Yayinlan, Sayi 144; William J. Griswold, The Great Anatolian Rebellion 1000-1020/1591-1611. Berlin 1983
282
Markus Köhbach
zumindest zeitweilig - pardonierte und ihnen die Verwaltung einer Provinz übertrug, um sie auf diese Weise zu entschärfen.17 Die Verstärkung der Janitscharengarnisonen in den Provinzen zum Zweck der Eindämmung und Unterbindung des Bandenunwesens verschärfte noch die Abneigung gegen die privilegierten staatlichen Soldempfänger, und manche unzufriedene Provinzstatthalter wußten sich geschickt dieser Abneigungen für ihre Zwecke zu bedienen, so deklarierte z.B. Abaza Mehmed Pascha, der 1623-1628 eine mächtige Aufstandsbewegung in Anatolien gegen die Zentralgewalt führte, seine Erhebung als Kampf dafür, das Blut Sultan Osmans II. zu rächen, den die Janitscharen 1622 entthront und ermordet hatten, da sie fürchteten, durch
geplante
Umgestaltungen im militärischen Bereich ihre Privilegien und ihren eminenten politischen Einfluß zu verlieren oder ganz aufgelöst zu werden. Dieser Kampf der Provinzgouverneure gegen die Zentralgewalt, der das 17. Jahrhundert durchzieht, sodaß dieses gelegentlich als the age of rebellious governors bezeichnet wird18, war auch wesentlich durch diesen Antagonismus zwischen den besoldeten Pfortendienern (kapi kullan) und den lokalen Milizen und/oder Banden bestimmt. Um ihre Interessen zu sichern, stützte sich die Zentralmacht in den Provinzen verstärkt auf die Organe der Rechtspflege (kadi) und der Finanzverwaltung (defterdar). Diese mußten wiederum zur Wahrnehmung ihrer Verpflichtungen das Einvernehmen mit den Autoritäten und Honoratioren auf lokaler Basis suchen, was in langfristiger Entwicklung zur Aufwertung dieser als Notable (ayan) bezeichneten Personengruppe führte, die schließlich im 18. Jahrhundert nach ihrer Institutionalisierung nach der völligen Macht in den Provinzen strebte und am Beginn des =Islamkundliche Untersuchungen 83. 17 Der berühmteste unter diesen pardonierten Briganten war wohl Katircioglu Mehmed Pascha, siehe Cengiz Orhonlu, s.v. Kätndii-oghli Mehmed Pasha. In: EI2 4(1978) S. 765766. 18 Inalcik, Military and Fiscal Transformation, S. 298: „... a period one might call the era of rebellious governors"; Faroqhi, op. cit., S. 418-419: The Age of Rebellious
Die Osmanen und der Dreißigjährige Krieg
283
19. Jahrhunderts den Staat weitgehend beherrschte.19 Im Bereich der Finanzen sah sich das Osmanische Reich mit zusätzlichem Bedarf konfrontiert, da eine Erhöhung des Personalstandes der besoldeten Truppenkörper erhebliche ständige Kosten vemrsachte, daneben erforderte die befristete Anwerbung von Hilfstruppen temporär weitere Mittel. Man mußte daher versuchen, bisherige Sondersteuern in das System der regulären Steuern zu integrieren, und im Bedarfsfall zusätzliche Belastungen auferlegen.20 Die
Verfallserscheinungen
im
Pfründenwesen,
Pfründeninhaber von den auf ihren Pfründenländereien
wo
die
ansässigen
Untertanen einen wesentlichen Teil der Steuern und Abgaben einhoben, wovon sie jährlich eine festgesetzte Summe als ihre Pfründeneinkünfte einbehalten
durften,
zwang
den
Staat,
um
seine
Einnahmen
sicherzustellen, zunehmend vakante oder eingezogene Pfründenländereien als fiskalische Abgabeneinheiten entweder durch bezahlte Beamte (emin) oder durch sogenannte Steuerpächter (mültezim) verwalten zu lassen. Die wachsende Zunahme der Steuerpacht (iltizam)21, die dem Staat erlaubte, Personal-
und
Verwaltungskosten
einzusparen,
wobei
sich
der
Steuerpächter vertraglich zur Ablieferung fixer Summen verpflichtete, sollte allerdings durch ihre negativen Auswirkungen auf die betroffenen Steuerpflichtigen noch zum Problem für den Staat werden. Angesichts dieser Entwicklung nimmt es nicht wunder, daß in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts eine Anzahl von politischen Traktaten entstand, deren Autoren als osmanische Staatsdiener über
Governors. 19 Zu den ayan siehe Bruce McGowan, The Age of the Ayans, 1699-1812. In: An Economic and Social History of the Ottoman Empire, S. 637-758, Part III. 20 Zum Finanzwesen im 17. Jahrhundert siehe Inalcik, Military and Fiscal Transformation, S. 311-337, B. Transformation in the Fiscal System and Its Consequences, 21 Siehe dazu Inalcik, op. cit., S. 327-333, B. 2. Methods of Tax Collection, 2a. Iltizämmukäta'a system.
284
Markus Köhbach
entsprechende Fachkenntnisse verfügten.22 Die Probleme der Streitkräfte - der Pfründentruppen und der besoldeten Einheiten - und der Finanzen und Vorschläge zur Abhilfe bildeten einen besonderen Schwerpunkt. Allerdings
zeigen
diese Denkschriften bei
aller
freimütigen
und
scharfsinnigen Kritik an Mißständen und Mängeln der Zeit eine starke Verhaftung gegenüber den Idealen und Konzepten einer guten und gerechten Herrschaft der traditionellen Fürstenspiegelliteratur und damit eine gemeinsame konservative Tendenz, für die Reform nicht gegenwartsund
zukunftsorientierte
vergangenheitsbezogene bedeutet.
23
Daß
diese
Anpassung Restauration
und
Veränderung,
vermeintlicher
Denkschriften
gelegentlich
sondern
Idealverhältnisse etwas
bewirken
konnten, zeigt der energische Versuch Sultan Murads IV. (1623-1640), die Mißstände im Pfründenwesen abzustellen
und dieser für die
militärisch-administrative Struktur des Staates so wichtigen, aber durch die
kriegstechnische
Institution
wieder
zurückzugeben.
Entwicklung ihre
zum
Bedeutung
Auslaufmodell und
gewordenen
Funktionsfähigkeit
24
Auch an der Spitze des Osmanischen Reiches, im Schoß der Herrscherfamilie, der osmanischen Dynastie, vollzogen sich in dieser Zeit wichtige Veränderungen: die Abkehr von der Erziehung der Prinzen außerhalb des Palastes in den Provinzen, wo sie als Sandschakbege erste 22
Wie Inalcik, op. cit., S. 283, Anm. 1, bereits vor Jahren konstatierte, fehlt eine umfassende Studie zu diesen Schriften, die teils als Fürstenspiegel, teils als politische Denkschriften oder Traktate zu qualifizieren sind, aus dem Zeitraum 1590-1640. Einen guten, aufgrund des weiter gesteckten zeitlichen Rahmens für das 17. Jahrhundert leider nicht vollständigen Querschnitt gibt Pal Fodor, State and Society, Crisis and Reform, in 15th-17th Century Ottoman Mirror for Princes. In: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 40(1986) 2-3, S. 217-240. 23 Vgl. dazu z.B. Röhrborn, op. cit., S. 88-95, D. 3. Die Idealisierung der alten Zeit bei K091 Bey (betrifft das Pfründenwesen in der 1630 verfaßten Denkschrift des K091 Bey); Anton C. Schaendlinger, Reformtrakte und -Vorschläge im Osmanischen Reich im 17. und 18. Jh. In: Festgabe an Josef Matuz. Osmanistik - Turkologie - Diplomatik. Hrsg. von Christa Fragner und Klaus Schwarz f . Berlin 1992, S. 239-253, insbesondere S. 245-246 =Islamkundliche Untersuchungen 150. 24 Zur Neuordnung des Pfründenwesens durch Mujad IV. unter dem Einfluß der Denkschrift Κοςί Beys siehe Barkan, s. v. Timar. In: Islam Ansiklopedisi 12/1, S. 323325.
Die Osmanen und der Dreißigjährige Krieg
285
Erfahrungen mit dem Waffenhandwerk und der Verwaltung machten, seit der Thronbesteigung Sultan Mehmeds III. 1595, der Übergang zu einer Senioratsthronfolge und das zeitweilige Abgehen von der Praxis des Brudermordes bei der Thronbesteigung eines neuen Herrschers.25 Die Praxis, Prinzen bereits im Knabenalter mit ihrer Mutter und einem Tutor (lala) in die Provinzen zu schicken26, hatte den positiven Effekt, einen potentiellen späteren Herrscher im kleinen Rahmen eines Sandschaks grundlegende praktische Erfahrungen sammeln zu lassen; ebenso drohte aber auch die Gefahr, daß die Konkurrenz mehrerer Prinzen um die Thronfolge Unruhen und Bürgerkriege heraufbeschwor, die den Staat schwer erschütterten. Nachdem sich die Söhne Süleymans I., Selim und Bayezid, einen blutigen Krieg um die Thronfolge noch bei Lebzeiten des Vaters geliefert hatten, waren Selim, der Sieger in dieser Auseinandersetzung, und ebenso dessen Sohn Murad III. dazu übergegangen, nur mehr den ältesten Sohn von ihrer Favoritin (haseki) und präsumptiven Nachfolger in die Provinz zu schicken, während die anderen Prinzen im Palast gehalten wurden, wo sie bei der Thronbesteigung des heimkehrenden Bruders dem Henker überantwortet wurden. Man kann sich ausmalen, welche verhängnisvolle Entwicklung die Persönlichkeiten der Prinzen erfuhren, die in einer Art Hausarrest in einem Käfig (kafes) genannten Teil des Palastes, umgeben von Eunuchen und Sklavinnen, heranwuchsen unter der beständigen Drohung ihrer physischen Auslöschung. Es darf daher nicht weiter verwundern, daß von den vier Sultanen, die zwischen 1617-1648 an der Spitze des Reiches standen, zwei psychisch kranke Persönlichkeiten waren (Mustafa I., Ibrahim). Der Wechsel in der bisherigen Thronfolgepraxis vom Vater auf 25
Siehe dazu Leslie Peirce, The Imperial Harem. Women and Sovereignty in the Ottoman Empire. N e w York - Oxford 1993, S. 97-99, Lapse of the Princely Governorate; S. 99-101, The Transition to Seniority; S. 101-103, Lapse of Dynastic Fratricide. 26 Zu osmanischen Prinzen als Sandschakbege siehe Ismail Hakki Uzungar$ili, Sancaga
286
Markus
Köhbach
einen Sohn zum Senioratsprinzip zeigt die Machtkämpfe in einem seit der Zeit Süleymans I. äußerst wichtigen Machtfaktor hinter den Kulissen, dem Harem, dem privaten Haushalt des Sultans, wo sich zeitweilig Sultansmütter (valide sultan) und Favoritinnen mit ihren Anhängern und Lobbies innerhalb und außerhalb des Palastes erbitterte Machtkämpfe lieferten und die Politik erheblich mitbestimmten. 27 Daß Mustafa I., der der mehrfach geplanten Hinrichtung durch seinen Bruder Ahmed I. (1603-1617) wohl nur deswegen entgangen war, weil man vor diesem armseligen Debilen ehrfürchtige Scheu hegte, auf den Thron gesetzt wurde, entsprang unter anderem der Initiative des Oberhauptes der schwarzen Eunuchen (kizlar agasi), des höchsten Würdenträgers im inneren Palastbereich. 28 Zeitweilig war der physische Fortbestand der Dynastie akut bedroht: so erteilte Murad IV. noch auf dem Totenbett den Befehl,
seinen
Bruder
Ibrahim,
den
einzigen
noch
lebenden
Thronanwärter, zu exekutieren, und als Ibrahim in Mißachtung dieses im Delirium des Todeskampfes erteilten Blutbefehls dem Bruder folgte, dauerte es fast zwei Jahre, bis durch die Geburt eines Sohnes der Weiterbestand des Hauses Osmans gesichert war.29 Die dominierende Persönlichkeit im Hintergrund war damals über Jahrzehnte Kösem Mahpeyker Sultan, Favoritin Sultan Ahmeds I. und Mutter der Sultane Murad IV. und Ibrahim, die bis in die ersten Jahre der Regierungszeit ihres Enkels Mehmeds IV. (1648-1687) die Politik des Osmanischen Reiches wesentlich aus dem Hintergrund mitbestimmte, zeitweilig Günstlinge
auch ihrer
in
ihrem Söhne
Einfluß durch zurückgedrängt,
hohe Würdenträger bis
diese
kluge
und und
machtbewußte Frau im Machtkampf mit der neuen valide sultan Turhan und deren Fraktion in Palast und Harem 1651 ermordet wurde.
cikarilan Osmanli sehzadeleri. In: Belleten 39(1975) 156, S. 659-696. Siehe dazu Peirce, op. cit., S. 91-112, 4. The Age of the Queen Mother: 1566-1656. 28 Peirce, op. cit., S. 99-100. 29 Peirce, op. cit., S. 219-260, Reproducing the Dynasty.
Die Osmanen und der Dreißigjährige Krieg
287
Von den Sultanen dieses Zeitraumes waren Mustafa I. (1617/18, 1622/23) und Ibrahim (1640-1648) psychisch krank; Osman II. (16181622), der mit dreizehn Jahren auf den Thron kam, zeigte zwar durchaus Anlagen zum selbständigen und tatkräftigen Herrscher, doch überwarf er sich mit Janitscharen und Rechtsgelehrten (ulemä), wesentlichen Säulen des Staates und Stützen der Herrschaft, und fand bereits im Alter von siebzehneinhalb Jahren ein gewaltsames Ende, ohne daß er sich als Persönlichkeit und Herrscher richtig entwickeln konnte, und so stellte Murad IV. (1623-1640) in den Jahren, in denen er die Herrschaft selbst ausübte (1632-1640), die überragende Persönlichkeit dar, der seine unleugbaren
Verdienste
pathologischer
und
Grausamkeit
Qualitäten und
allerdings
durch
selbstzerstörerischer
Exzesse
Trunksucht
verdunkelte. Junge, unreife, schwache, unselbständige, ζ. T. psychisch kranke Persönlichkeiten auf dem Thron waren von ihrer Umgebung abhängig und für Beeinflussung und Manipulation offen. Es fehlte dem Staat vielfach an Personen, die höchste Integrität, politische Begabung, Durchsetzungsvermögen und breiten Konsens der politisch einflußreichen Institutionen und Gruppierungen vereinigten. Zumeist war es nicht die persönliche Qualität, sondern die Verbindung zum Harem (durch Heirat mit einer Prinzessin), ein persönliches Nahverhältnis zum Sultan (bei Würdenträgern
aus
dem
Palastdienst),
die
Unterstützung
durch
machtvolle Institutionen (besoldete Truppen, ulemä) oder der jeweils dominierenden Fraktion in Harem und Palast, die die Berufung ins Großwesirat bestimmten. Zwischen dem Tod Ahmeds I. 1617 und dem gewaltsamen Ende Ibrahims 1648 wechselte das Reichssiegel 25 Male den Inhaber.30 Allerdings war die Situation noch nicht so schlimm wie während der Minderjährigkeit Mehmeds IV. nach der Ermordung Kösem l" Eine Übersicht über die Großwesire in diesem Zeitraum gibt Ismail Hämi Danismend, Izahli Osmanli Tarihi Kronolojisi, 5 - Osmanli Devlet Erkani. Istanbul 1971, S. 30-38.
Markus Köhbach
288
Mahpeykers 1651 bis zur Berufung Köprülü Mehmed Paschas zum Großwesirat
1656, als innerhalb von fünf Jahren zehn
Großwesire
31
aufeinanderfolgten , von denen einer nur vier Stunden im Amt war.32 Unter den Inhabern des Reichssiegels ragt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Kemankes
Kara Mustafa Pascha schon durch
außerordentliche Länge seiner Amtszeit (1638-1644) heraus.
33
die
In den
letzten Jahren Murads IV. und den ersten Jahren Ibrahims garantierte er eine kontinuierliche Linie in der osmanischen Politik, beendete die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Iran und ließ sich die Ordnung
der
besonderes
Staatsfinanzen
Anliegen
und
sein,
ein
wurde
ausgeglichenes aber
Budget
schließlich
von
ein der
Günstlingsclique um Sultan Ibrahim gestürzt und beseitigt. Wir dürfen davon Machtstellung unselbständiger
umso
ausgehen, daß diese Würdenträger,
bedeutender,
die Sultane
aber
auch
gefährdeter
waren, die größtenteils
deren
war,
je
nichttürkischer
Herkunft und durch die „Knabenlese" in den Staatsdienst gelangt waren34, wo sie sich im Palast oder im Militär hochdienten, zu einem Gutteil nur eine beschränkte Kenntnis großräumiger politischer Zusammenhänge und insbesondere der Verhältnisse in Europa hatten. Zwar wußte sich auch das Osmanische Reich durch Spione, Konfidenten u. dgl. umfassende Nachrichten über seine Gegner zu verschaffen, doch wissen wir nicht, wieweit
solche
Informationen
von
den
politisch
Verantwortlichen
aufgenommen, verstanden und in der politischen Praxis verwertet wurden. Es ist in vielen Fällen, so auch bei unserer Fragestellung, möglich, daß 31
Danismend op. cit., S. 39-42. Zurnazen Mustafa Pascha am 5. März 1656, siehe Danismend, op. cit., S. 41, Nr. 106. Zur Person und Amtsführung des Großwesirs Kemankes, Kara Mustafa Pascha s. M. Münir Aktepe, s. v. Mustafa Pasa, Kemankes, Kara. In: Islam Ansiklopedisi 8(1960) S. 730-732. 34 Die Angaben bei Danismend, op. cit., zur Nationalität der Großwesire (soweit bekannt), gestatten Rückschlüsse auf ursprüngliche Konfessionszugehörigkeit und damit auch allfällige Erfassung durch das dev$irme, vielfach ist dies auch durch die biographische Literatur über die Großwesire verbürgt. So war z.B. der genannte Kemankes Kara Mustafa Pascha albanischer Herkunft und kam durch das dev$irme nach 32 33
Die Osmanen und der Dreißigjährige Krieg
289
einfach in einer Mischung von religiös beeinflußter Überheblichkeit und Ignoranz die Tragweite und Bedeutung bestimmter Situationen und Sachverhalte nicht erkannt wurde. Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
macht
der
Reichshistoriograph
Ahmed
Väsif
im
Zusammenhang mit der Katastrophe von £e$me 1770 den damals führenden Staatsmännern zum Vorwurf, sie hätten es sich trotz warnender Hinweise einfach nicht vorstellen können, wie denn überhaupt eine russische Flotte von der Ostsee in osmanische Gewässer kommen sollte, und alle Hinweise darauf für lächerlich erachtet.35 Was nun die äußeren Faktoren betrifft, die das osmanische Verhalten
bestimmten,
so
wurden
die
Außenbeziehungen
des
Osmanischen Reiches nach dem Abschluß des Vertrages von Zsitvatorok 1606 bis zum Ende der Regierungszeit Murads IV. sehr stark durch den 1603 aufgebrochenen Konflikt mit dem Iran unter Schah Abbas I. (15871629) bestimmt. Wenn
auch diese Auseinandersetzung
zeitweilig
friedlich beigelegt wurde (1612, 1618), eskalierten die Spannungen nach dem Verlust des Irak 1624 erneut zum Krieg, der erst mit der Rückeroberung des Irak durch Sultan Murad IV. und dem bald darauf durch Großwesir Kemanke? Kara Mustafa Pascha vereinbarten Vertrag von Qasr-e Smn 1639 sein Ende fand. Die Wiedergewinnung des Irak mit Baghdad war zwischen 1624-1638 ein fixes Ziel der osmanischen Außenpolitik, das allerdings erst nach mehreren erfolglosen Versuchen unter dem persönlichen Oberkommando Sultan Murads IV. erreicht werden konnte, waren doch in den 20er Jahren durch Aufstände in Anatolien (Abaza Mehmed Pascha, Cennet-oglu) die Marsch- und Nachschubrouten gefährdet, außerdem waren wichtige militärische Kräfte durch die Bekämpfung der Aufständischen gebunden und konnten daher nicht an der Front gegen die Safaviden eingesetzt werden. Auch die Istanbul. Siehe Virginia H. Aksan, An Ottoman Statesman in War and Peace. Ahmed Resmi
35
290
Markus Köhbach
Spannungen mit Polen und das Kosakenproblem führten zeitweilig zu offenem Krieg und banden zumindest Teile der osmanischen Kriegsmacht an dieser Front, doch traten die Verwicklungen mit Polen zunehmend hinter den Konflikt mit dem Iran zurück, sodaß trotz martialischer Drohgebärden durch Sultan Murad IV. schließlich 1634 ein friedlicher Vergleich zustande kam. Der Kampf gegen die schiitischen Ketzer galt aus der Sicht der Vormacht der Sunniten als vordringlicher und verdienstvoller als der gegen die nichtsmuslimischen „Ungläubigen", was sich die osmanischen Herrscher immer wieder beim Ausbruch eines bewaffneten
Konflikts
mit
dem
Iran
von
ihren
hochrangigen
Rechtsgelehrten durch Rechtsgutachten (fetvä) bestätigen ließen, um ihr Vorgehen religiös-rechtlich zu legitimieren.36 Das Verhältnis zu den Habsburgern war nach dem Vertrag von Zsitvatorok
nicht
eben
spannungsfrei,
boten
doch
divergierende
Textfassungen des Abkommens und die unterschiedliche Auslegung einzelner Punkte für beide Seiten eine ständige Quelle von Differenzen 37 , für die Osmanen auch eine Basis für zeitweilige Erpressungsversuche, doch gelang es den diplomatischen Vertretern der Habsburger, den Residenten
und
Oratoren
Verhandlungsdelegationen,
an die
der
Hohen
wiederholt
Pforte, mit
und
den
osmanischen
Unterhändlern in Ungarn zusammentraten, in einer höchst kritischen Zeit auf der Basis des Vertragsinstruments von Zsitvatorok laufend eine Erneuerung und Verlängerung der vertraglichen Beziehungen und damit eine - sieht man vom Kleinkrieg im ungarischen Grenzbereich ab Efendi, 1700-1783. Leiden etc. 1995, S. 34-35 =The Ottoman Empire and Its Heritage 3. 36 Zur antischiitischen Propaganda der Osmanen siehe Elke Eberhard, Osmanische Polemik gegen die Safawiden im 16. Jahrhundert nach arabischen Handschriften. Freiburg im Breisgau 1970, S. 37 =Islamkundliche Untersuchungen 3. 37 Zu den unterschiedlichen Vertragstexten (osmanisch, ungarisdi und lateinisch), die am 11. November 1606 von den osmanischen und kaiserlichen Unterhändlern, sowie einer als Vermittler fungierenden Delegation aus Siebenbürgen unterzeichnet wurden, und den daraus resultierenden Problemen siehe G. Bayerle, The Compromise at Zsitvatorok. In: Archivum Ottomanicum 6(1980) S. 5-33; Karl Nehring, Adam Freiherrn zu Herbersteins Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel. Ein Beitrag zum Frieden von Zsitvatorok
Die Osmanen und der Dreißigjährige Krieg
291
friedliche Koexistenz mit dem Osmanischen Reich sicherzustellen. Zwar blieben manche Probleme ungelöst, und in manchen Punkten mußten sich die
Habsburger
zu
Zugeständnissen
bequemen,
doch
war
die
habsburgische Diplomatie in dieser Zeit, wenn auch nicht alle Vertreter die notwendigen Qualitäten dafür mitbrachten, in cumulo betrachtet erfolgreich. 38 Daß
die
Osmanen
in
für die
Habsburger
höchst
kritischen
Situationen es trotz verschiedener Bemühungen offener und verdeckter Natur unterließen, zumindest die Chance wahrzunehmen, den königlichen Teil ihrem
Ungarns unter ihre Gewalt zu bringen und diesen direkten
Herrschaftsgebiet
einzuverleiben
oder
entweder unter
den
siebenbürgischen Fürsten zu ihrem Vasallenstaat zu machen und damit die leidige ungarische Frage zu ihren Gunsten zu lösen, mag auch darin begründet sein, daß in der osmanischen Führungsschicht kein Konsens in dieser Frage herrschte und die Befürworter einer aggressiven Politik gegen die Habsburger nicht voll durchdrangen. Es gelang weder der protestantischen diplomatischer Vereinigten
Konföderation39, Unterstützung
Niederlande40,
der
noch
Bethlen
Botschafter
Gabor,
Englands
weder der Fühlungnahme der
und
trotz der
Schweden
(1606). München 1983, S. 15-67 =Südosteuropäische Arbeiten 78. Eine umfassende Behandlung der habsburgischen Diplomatie an der Hohen Pforte in diesem Zeitraum steht aus. Neben wichtigen Hinweisen bei Joseph von Hammer, Geschichte des Osmanischen Reiches, Bde. 4-5, Pest 1829, siehe noch für den Zeitraum des Böhmischen Aufstandes Reinhard Rudolf Heinisch, Habsburg, die Pforte und der Böhmische Aufstand (1618-1620). In: Südost-Forschungen 33(1974) S. 125-165; 34(1975) S. 79-124; für den Zeitraum 1629-1643 siehe Peter Meienberger, Johann Rudolf Schmid zum Schwarzenborn als kaiserlicher Resident in Konstantinopel in den Jahren 1629-1643. Ein Beitrag zur Geschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Bern Frankfurt/M. 1973 =Geist und Werk der Zeiten, Arbeiten aus dem Historischen Seminar der Universität Zürich 37; zur Großbotschaft unter Hermann Graf Czernin 1644/45 s. Georg Wagner, Österreich und die Osmanen im Dreißigjährigen Krieg. Hermann Graf Czernins Großbotschaft nach Konstantinopel 1644/45. In: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 14(1984) S. 325-392. 39 Während des Böhmischen Aufstandes, siehe Heinisch, op. cit. 40 Zu den wiederholten Kriegen Bethlen Gabors gegen die Habsburger s. Makkai Läszlo, Az ellenreformäcio es a harminceves häboru. Az erdelyi fejedelmek Habsburg-ellenes küzdelmei (1608-1648). In: Magyarorszäg törtenete, Föszerkeszto Pach Zsigmond Pal, Bd. 3/1. Budapest 1987, S. 777-929; 3/2(1987) S. 1796-1804; Kurze Geschichte
292
Markus
Köhbach
163241, noch den Bemühungen Räkoczi Györgys I. in den 40er Jahren42, die
Osmanische
Macht
in
den
großen
europäischen
Krieg
hineinzuziehen.Vielleicht erfüllte jene, die gegen einen Angriff auf die Habsburger waren, auch grundsätzliches Mißtrauen gegenüber diesen Bemühungen von christlicher Seite, denn auch bei denen, die über die konfessionellen Verhältnisse in der Christenheit in Europa und die daraus resultierenden politischen Implikationen einigermaßen Bescheid wußten, herrschte die Ansicht vor, daß „der Unglaube eine Glaubensgemeinschaft ist" (ar. al-kufr milla wahida), und die Erfahrungen mit den ungarischen Magnaten und den Fürsten von Siebenbürgen seit einem Jahrhundert waren nicht eben angetan, diese Vorbehalte zu zerstreuen. Wenn wir zusammenfassend zu unserer anfänglich aufgeworfenen Frage zurückkehren, so kann man wohl sagen, daß es wohl das Zusammenspiel
all
dieser äußeren
und inneren,
strukturellen
und
personellen Faktoren, zweifellos mit unterschiedlicher Gewichtung, deren Stellenwert wir nicht bestimmen können, war, das die Politik der Osmanen in ihrer Haltung zu den Habsburgern und zum Krieg in Mitteleuropa bestimmte. Meines Erachtens war aber auch die Tatsache entscheidend, daß in entscheidenden Situationen bereits eine Fixierung
Siebenbürgens. Hrsg. von Bela Köpeczi. Budapest 1987, S. 319-327; Cristina Fenesan, Die Bemühungen Siebenbürgens als Friedensvermittler zwischen Habsburg und der Pforte 1605-1627. In: Habsourgisch-osmanische Beziehungen/Relations Habsbourgottomanes. Wien, 26.-30. September 1983. Colloque sur le patronage du Comite international des etudes pre-ottomanes et ottomanes. Hrsg. von Andreas Tietze. Wien 1985, S. 145-159 =Beiheite zur Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 13; eadem, Die Pfprte und das Eingreifen Siebenbürgens in den Dreißigjährigen Krieg. In: Revue des Etudes Sud-Est Europeennes (1985) S. 61-69. Zur diplomatischen Unterstützung Bethlen Gabors durch England s. Johann Wilhelm Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reiches in Europa. Vierter Theil. Gotha 1856, S. 381-464; zur Unterstützung durch die niederländische Diplomatie s. Alexander H. De Groot, The Ottoman Empire and the Dutch Republic. A History of the Earliest Diplomatic Relations 1610-1630. Leiden - Istanbul 1978, S. 162-181 =Uitgaven van het Nederlands Historisch-Archeologisch Instituut 43. 41 Zu den diplomatischen Bemühungen Schwedens an der Hohen Pforte in den letzten Regierungsjahren Gustavs II. Adolf siehe Michael Roberts, Gustavus Adolphus. A History of Sweden 1611-1632. Volume II: 1626-1632, London etc. 1958, S. 570-574. 42 Zum Bündnis Räkoczi Györgys I. mit Frankreich und Schweden und zu seinem Krieg gegen Kaiser Ferdinand III. s. Makkai, op. cit.; Fenesan, Die Pforte und das Eingreifen Siebenbürgens...; Kurze Geschichte Siebenbürgens, S. 332-333.
Die Osmanen und der Dreißigjährige Krieg
293
auf andere Ziele stattgefunden hatte (wie 1620/21 und 1644/45) und die Führungspersönlichkeit - ob Sultan oder Großwesir
die eine solche
Option aufgegriffen und konsequent verfolgt hätte, fehlte. Insofern überragt die Person Kara Mustafa Paschas in der 2. Hälfte jenes Jahrhunderts seine Amtsvorgänger aus der 1. Hälfte, als er in der Auseinandersetzung zwischen den Habsburgera und den ungarischen Malcontenten
die
Möglichkeit
sah,
hochgespannte
Pläne
zu
verwirklichen, und sein Vorhaben gegen alle Widerstände auch in die Tat umzusetzen
versuchte.
Obwohl
Kara
Mustafa
kein
besonderes
militärisches Talent besaß und auch kein sehr einnehmender Charakter gewesen zu sein scheint, hat er in der Konsequenz, mit der er seine Ziele bis zum Scheitern verfolgte, eine gewisse tragische Größe. Die herkömmlichen Darstellungen der Geschichte des Osmanischen Reiches
haben
seit
Joseph
von
Hammer,
der
in
seiner
Geschichtsauffassung durch den Einfluß Johannes von Müllers und Edward Gibbon's History of the Decline and Fall of the Roman Empire bestimmt war, im langen Türkenkrieg und in dem ihn beendenden Vertrag von
Zsitvatorok
1606
den
entscheidenden
Wendepunkt
in
der
43
Entwicklung des Osmanischen Reiches gesehen , das seinen Zenith überschritten und im zeitweilig verzögerten, aber letztlich unaufhaltsamen Abstieg begriffen war. Auch die osmanischen Autoren
politischer
Denkschriften aus dem 17. Jahrhundert haben diese gängige Einschätzung ihrer Zeit als einer Epoche des Niedergangs und Verfalls mitgeprägt, indem sie, unter dem Blickwinkel der Interessen der Gesellschaftsklasse, der sie entstammten, Bilder einer idealisierten Vergangenheit, die es so nie gegeben hatte, als Norm konzipierten, an der sich Maßnahmen
orientieren
sollten.
Nun
sind
unsere
staatliche
Kenntnisse
der
osmanischen Geschichte abseits der bekannten politischen Fakten durch die Erforschung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse und 43
Siehe Hammer, op. cit., Bd. 4, S. 396: „Der Friede von Sitvatorok leuchtet im Beginne des siebzehnten Jahrhunderts für Europa und die Christenheit als die Signalfackel
294
Markus Köhbach
Wandlungen, struktureller Entwicklungen und Veränderungen bedeutsam erweitert und differenziert worden, damit hat sich auch die überkommene Sichtweise
und
Einschätzung
gewandelt.
Man
sieht
heute
nicht
vordergründig eine Periode des Abstiegs und Verfalls im 17. Jahrhundert, sondern eine Zeit eines tiefgreifenden Wandels in vielen Bereichen.''4 Diese
vielschichtigen
krisenhaften
inneren
Veränderungen
haben
Begleiterscheinungen
sich mit
teilweise
unter
entsprechenden
Auswirkungen nach außen vollzogen und damit zweifellos das Reich geschwächt. Daß es aber möglich war, mit Energie, Brutalität und Konsequenz den Staat in relativ kurzer Zeit zu stabilisieren und auch militärisch wieder offensiv zu werden, hat die sogenannte „KöprülüRestauration" in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts bewiesen. Daß das Osmanische Reich die Möglichkeiten, die ein Angriff auf die Habsburger während des Dreißigjährigen Krieges geboten hätte, nicht wahrnahm, ist daher nicht nur mit seiner Schwäche aufgrund der vielschichtigen inneren Veränderungen, sondern, wie ich im Überblick zu zeigen versucht habe, komplexer zu erklären. Für die Habsburger jedenfalls war es, wenn wir schon nicht in unserer säkularen Zeit von „Mirakel"
sprechen,
aber
doch
die
außerordentliche
Bedeutung
unwissenschaftlich zum Ausdruck bringen wollen, existenzerhaltendes Glück.
gebrochenen türkischen Joches und des anhebenden Sinkens osmanischer Grösse ..." Faroqhi, op. cit., S. 413-414: „Recent research has... modified this picture in certain important respects... As a result the seventeenth century is now regarded as a time in which significant changes took place..."
bohlauWienneu Der Donauraum Zeitschrift des Institutes für den Donauraum und Mitteleuropa Herausgegeben v. Institut für den Donauraum und Mitteleuropa ISSN 0 0 1 2 - 5 4 1 5 Erscheinungsweise: viermal jährlich, fallweise als D o p p e l n u m m e r , broschiert. Gesamtjahresumfang: ca. 2 0 0 Seiten. Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte Herausgegeben von Nikolaus Lobkowicz, Leonid Luks u n d Donal O'Sullivan ISSN 1 4 3 3 - 4 8 8 7 Erscheinungsweise: zweimal jährlich
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bohlau Wien neu Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas (Veröffentlichungen des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung der Universität Wien). Herausgegeben von Walter Leitsch, Richard G. Plaschka, ab Band 15: hrsg. v. Max Peyfuss Nicht aufgeführte Bände sind vergriffen.
13: Max D. Peyfuss Die Druckerei von Moschopolis 1731-1769 Buchdruck und Heiligenverehrung im Erzbistum Archrida 1996. X, 258 S. 28 SW-Abb. 2 Ktn. Br. ISBN 3-205-98571-0
15: Walter Leitsch Berichte über den Moskauer Staat in italienischer Übersetzung der Moscovia Herbersteins 1993. 186 S. 111 S. Faks ISBN 3-205-98864-7
17: Walter Leitsch/Stanislaw Trawkowski (Hg.) Polen und Österreich im 16. Jahrhundert £
1997. 196 S. Br. ISBN 3-205-98864-7
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