Leo Perutz' Romane: Von der Struktur zur Bedeutung 9783484321328, 9783110971842

The volume presents an introduction to the work of the writer Leo Perutz (1882–1957). Each of the ten chapters deals wit

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German Pages 204 [212] Year 2007

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Table of contents :
Einleitung: Leo Perutz’ Romane — Von der Struktur zur Bedeutung
Identitäts-Konstruktionen — Zur Architektur von Leo Perutz’ Roman Die dritte Kugel
Das Sterben erzählen — Über Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun
Der Marques de Bolibar oder: Ein Spiel mit der Romanform
Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages
Turlupin oder: Und wo bleibt das Ethische, Herr Perutz?
Leo Perutz: Wohin rollst du, Apfelchen
Was geschah, als gar nichts geschah? Zur Rekonstruktion und Konstruktion von Wirklichkeit in Leo Perutz’ Roman Sankt Petri-Schnee
Emotionsvermittlung in Leo Perutz’ Der schwedische Reiter
Leo Perutz’ Novellenroman Nachts unter der steinernen Brücke oder: Vom Hunger der Interpretation
Leonardo: Perutz: Mancino
Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto
Bibliographie Leo Perutz
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Leo Perutz' Romane: Von der Struktur zur Bedeutung
 9783484321328, 9783110971842

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 132

Leo Perutz Romane Von der Struktur zur Bedeutung Mit einem Erstabdruck der Novelle »Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto« Herausgegeben von Tom Kindt und Jan Christoph Meister

Max Niemeyer Verlag T#bingen 2007

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Bisher unverçffentlichter Text von Leo Perutz »Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto« - Leo Perutz Estate / granted by Paul Zsolnay Verlag Wien. Wir danken dem Paul Zsolnay Verlag f#r die freundliche Abdruckgenehmigung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet #ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-32132-8

ISSN 0083-4564

- Max Niemeyer Verlag, T#bingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch#tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulCssig und strafbar. Das gilt insbesondere f#r VervielfCltigungen, Dbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestCndigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Danksagung

Unser Dank gilt all denen, die zum Zustandekommen des Bandes beigetragen haben. Neben den Autoren, die ihre Beiträge im Verlauf der verschlungenen Entstehungsgeschichte der Aufsatzsammlung mehrfach auf den neuesten Stand gebracht haben, möchten wir Ulrike Dedner vom Max Niemeyer Verlag danken, die die Aufnahme des Buches in die Reihe »Studien zur deutschen Literaturgeschichte« unterstützt und so sein Erscheinen im Jahr von Leo Perutz’ 50. Todestag und 125. Geburtstag ermöglicht hat. Dank schulden wir darüber hinaus Michael Mandelartz (Tokyo) für die Perutz-Bibliographie, die den Band abrundet, sowie den Perutz-Erben und dem Paul Zsolnay Verlag (Wien) für die Genehmigung, Leo Perutz’ Erzählung »Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto« abzudrucken. Silke Lahn und Malte Schiller haben uns bei der Einrichtung der Beiträge und der Erstellung der Druckvorlage geholfen; auch ihnen sind wir zu Dank verpflichtet. Erste Entwürfe zu den meisten der folgenden Texte wurden auf der Tagung Rekonstruktion und Interpretation. Das Romanwerk von Leo Perutz vorgestellt, die 2003 an der Universität Hamburg aus Anlass des 60. Geburtstags von Harry Müller stattfand – ihm sei der vorliegende Band gewidmet. Göttingen und Hamburg, im September 2007 Tom Kindt und Jan Christoph Meister

Inhaltsverzeichnis

Tom Kindt/Jan Christoph Meister Einleitung: Leo Perutz’ Romane – Von der Struktur zur Bedeutung ……

1

Hans-Harald Müller Identitäts-Konstruktionen – Zur Architektur von Leo Perutz’ Roman Die dritte Kugel ………………………………………

11

Matias Martinez Das Sterben erzählen – Über Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun …

23

Wilhelm Schernus Der Marques de Bolibar oder: Ein Spiel mit der Romanform ………………

35

Fotis Jannidis Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages …………………………………

49

Tom Kindt Turlupin oder: Und wo bleibt das Ethische, Herr Perutz? …………………

69

Michael Scheffel Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen … …………………………………

81

Ulrich Baron Was geschah, als gar nichts geschah? Zur Rekonstruktion und Konstruktion von Wirklichkeit in Leo Perutz’ Roman Sankt Petri-Schnee ………………

95

Simone Winko Emotionsvermittlung in Leo Perutz’ Der schwedische Reiter

……………… 107

Jan Christoph Meister Leo Perutz’ Novellenroman Nachts unter der steinernen Brücke oder: Vom Hunger der Interpretation …………………………………… 123

Oliver David Krug Leonardo: Perutz: Mancino ……………………………………………… 141

Leo Perutz Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto

…………………… 155

Michael Mandelartz Bibliographie Leo Perutz

………………………………………………

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Einleitung: Leo Perutz’ Romane Von der Struktur zur Bedeutung

Der vorliegende Band verfolgt zwei Ziele: Er soll zum einen der wissenschaftlichen Einführung in das Werk des österreichischen Schriftstellers Leo Perutz (1882 1957) dienen. Die einzelnen Beiträge widmen sich je einem von Perutz’ zehn Romanen, vom Erstlingswerk Die dritte Kugel (1915) bis zum posthum erschienenen Buch Der Judas des Leonardo (1959); sie liefern Informationen zur Entstehung der Texte, beschreiben ihren Aufbau und ihre Erzählanlage und entwickeln Vorschläge zu ihrer Deutung und literaturhistorischen Einordnung. Ergänzt durch einen Anhang, der einen bislang unveröffentlichten Text und eine umfassende Bibliographie enthält, versteht sich der Band als eine Art Handbuch zu Perutz’ Œuvre. Neben diesem historischen Vorhaben verfolgt der vorliegende Band zum anderen eine theoretische Zielsetzung: Er soll eine bestimmte Umgangsweise mit literarischen Texten anschaulich vorstellen, ihr methodisches Profil erhellen und ihr interpretatives Potenzial verdeutlichen. Den Einzelbeiträgen liegt durchgängig das gleiche Schema zugrunde; es wird in ihnen stets von einer narratologisch ausgerichteten Rekonstruktion des Aufbaus und Inhaltes eines Textes übergegangen zu dessen Interpretation. Der Band lässt sich insofern auch als Plädoyer für eine strukturalistisch informierte Hermeneutik verstehen.

Leo Perutz’ Romane Die Romane und Erzählungen des in Prag geborenen, seit seinem neunzehnten Lebensjahr indes in Wien aufgewachsenen und in der dortigen intellektuellen Atmosphäre der Jahrhundertwende mit ihrer kritisch-skeptizistischen Geisteshaltung tief verwurzelten Autors waren nach dessen Emigration nach Palästina 40 Jahre lang in Vergessenheit geraten. Nach der Wiederentdeckung des Œuvres Anfang der 1980er Jahre, die in großen Teilen dem Hamburger Germanisten Hans-Harald Müller zu verdanken ist, hat sich die Erkenntnis, dass wir es in Perutz mit einem Erzähler vom Range eines Broch, Musil oder Ernst Weiß zu tun haben, nur allmählich wieder durchgesetzt. Diese Verkennung der hohen literarischen Qualität von Perutz’ Erzählkunst ist paradoxerweise wohl gerade ihrer Zugänglichkeit geschuldet gewesen. Perutz’ Bücher sind durchweg spannend und handlungsorientiert erzählt; sie geizen, zu-

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mal wo der Stoff historisch ist, nicht mit satten Farben und exotischen Szenerien. Vor allen Dingen aber sind sie sprachlich von größter Klarheit – und das selbst da, wo der Erzähler uns den Sprachgebrauch entlegener Zeiten vor Augen und Ohren führen will: Ihm reichen wenige, aber treffsicher gesetzte Wendungen und knappste Umstellungen der Syntax, um etwa die Söldner im Heerlager des Cortez plastisch werden zu lassen, die sich im Romanerstling Die dritte Kugel mit grobianischen Anreden wie ›Ofenrohr‹ oder ›Schnarchsack‹ bedenken. Der mimetische Sog, der von dieser Art des Erzählens ausgeht und der die Distanz zwischen der von Perutz konstruierten und unserer eigenen Welt im Nu vergessen macht, ist immens. Darf aber ›gute‹ Literatur das im 20. Jahrhundert überhaupt noch tun? Steht sie nicht unter dem unausgesprochenen ästhetischen Gebot, an die Stelle der beobachteten Außenwelt die erlebte Innenwelt, an die der illusionsstiftenden Handlung das illusionskritische Bewusstsein, an die der bündig-traditionellen die verstörend-experimentelle Erzählweise zu rücken? Vor dem Hintergrund einer solchen normativen Prämisse, in der das alte Verdikt Platos über die vermeintliche Lügenhaftigkeit der illusionshaft-darstellenden Epik fröhliche Urstände feiert, sind die Romane von Leo Perutz gerne als ästhetische Leichtgewichte, sprich: als Unterhaltungsliteratur fantastischer Couleur abgetan worden. Dabei liegt ihre hohe Kunst gerade darin, das philosophische Dilemma von Erfahrung und Bewusstsein, von Ratio und moralisch-ethischer Kritik zu behandeln, ohne auf die Manierismen inszenierter Verworrenheit – sei es im Handlungsentwurf, in der Erzähltechnik oder im Sprachgebrauch – zu verfallen. Perutz’ Romane wirken wie geradlinig ablaufende Erzählungen, sind jedoch zugleich in höchstem Maße konstruiert, ohne indes ihre konstruktive Finesse selber zu thematisieren: Es reicht ihnen, dass diese wirkt. Dass und wie Konstruktion und Inhalt in den zehn großen Romanen überaus gekonnt miteinander verzahnt worden sind und welche Konsequenzen dieses Gestaltungsprinzip für deren Bedeutungstiefe hat, wird in den Einzelbeiträgen des vorliegenden Bandes gezeigt werden. Wer aber war dieser Leo Perutz, der Form und Konstruktion so konsequent wie diskret in den Dienst der ästhetischen und philosophischen Funktion seiner Kunst zu stellen wusste? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn wie den Romanen so galt auch deren Autor jede öffentliche Selbstreflexion als ein Tabubruch. Perutz hat sich zeitlebens geweigert, Eigeninterpretationen seiner Romane zu liefern oder gar einen Zusammenhang zwischen seinem Werk und seiner Biographie herzustellen; seine Antwort auf die entsprechende Bitte eines Zeitungs-

Einleitung

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feuilletons der 20er Jahre lautete denn auch lakonisch: »Meine innere Entwicklung ergibt sich für jeden, nur nicht für mich, aus der Lektüre meiner Romane.«1 Der das behauptete, war zu diesem Zeitpunkt (1926) dreiundvierzig Jahre alt und ein Bestsellerautor, der acht Bücher publiziert hatte. Eine »innere Entwicklung« des Leo Perutz lässt sich aus ihnen jedoch schwerlich ablesen. Gut die Hälfte der bis dahin publizierten Romane und Erzählungen war ohnehin historischen Stoffen gewidmet, und der erzählerische Gestus ist durchweg von einer solchen Distanziertheit, dass Rückschlusse auf den Autor und seine Intentionen nicht nahe gelegt werden. Aufschlussreiche Einzelheiten, die die gelegentlichen Berührungspunkte zwischen Leo Perutz’ persönlichem und literarischem Werdegang erkennen lassen könnten, sind erstmals mit der jüngst erschienenen großen Perutz-Biographie von Hans-Harald Müller schlüssig zusammengestellt worden.2 Müller hat neben Notizbüchern und Korrespondenzen des Autors auch Zeugnisse von Freunden, Bekannten und Zeitgenossen von Leo Perutz erschlossen, ausgewertet und in ihrem Bezug zur Entstehungsgeschichte des literarischen Werks kommentiert. Die Studie zeigt, dass die Genese des Perutz’schen Œuvres zwar hier und da durchaus mit der Biographie verknüpft gewesen sein mag, dass beide aber insgesamt wohl eher in einem existenziell-thematischen als in einem zeitgeschichtlich-kausalen Bezug zueinander stehen: Eigenes aktuelles Erleben als Schreibanlass war für Perutz eine Ausnahme, sieht man einmal von der Kriegsheimkehrerthematik ab. Im Folgenden wollen wir deshalb zwar den jeweiligen werksystematischen und biographischen Ort der in unserem Band behandelten zehn Romane von Perutz skizzieren; die Frage nach seiner »inneren Entwicklung« wird jedoch zwangsläufig offen bleiben. Erzählungen hatte Perutz bereits als Wiener Gymnasiast verfasst, aber erst 1907 veröffentlichte er zwei seiner frühen Texte.3 Dem breiteren Publikum bekannt wurde er 1914, im Alter von 32 Jahren, als zwei Kapitel seines Debütromans Die dritte Kugel als Vorabveröffentlichungen in Zeitschriften erschienen. Das Buch selbst kam im folgenden Jahr heraus und war ein Achtungserfolg. Perutz’ zweiter Roman Das Mangobaumwunder erschien bereits 1916; dies war die erste von mehreren Gemeinschaftsproduktionen mit Paul Frank.4 In den ––––––– 1 2 3

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Leo Perutz: Ein Brief. In: Das literarische Echo 28 (1925/26), S. 643. Hans-Harald Müller: Leo Perutz. Biographie, Wien 2007. Vgl. Hans-Harald Müller: Leo Perutz – eine biographische Skizze. In: Exil 6 (1986), Nr. 2, S. 5 17. Siehe auch Reinhardt Lüth: Drommetenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexan der Lernet Holenia, Meitingen 1988, S. 46. Die zusammen mit Frank verfassten zwei Romane haben wir in diesem Band bei un seren Analysen ebenso ausgeklammert wie die Übersetzungen und Bearbeitungen von Victor Hugo-Romanen.

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17 Jahren von 1915 bis 1933 publizierte Perutz dann insgesamt nicht weniger als zwölf Bücher: 1918 seinen dritten, immens erfolgreichen Roman Zwischen neun und neun, der als sein literarischer Durchbruch gewertet wird; 1919 den vierten (und zugleich zweiten historischen) Roman Der Marques de Bolibar sowie eine Neufassung einer seiner beiden frühesten Veröffentlichungen von 1907, der Erzählung Feldwebel Schramek, die jetzt unter dem Titel Das Gasthaus zur Kartätsche verlegt wurde. 1921 folgte mit Die Geburt des Antichrist eine weitere längere Erzählung als eigenständiges Buch. Der fünfte Roman Der Meister des Jüngsten Tages und der sechste (und zugleich dritte historische) Roman Turlupin wurden 1923 und 1924 veröffentlicht. Zwei Jahre später erschien mit Das Jahr der Guillotine eine von Perutz in Zusammenarbeit mit Oswald Levett übersetzte und um gut ein Drittel gekürzte Fassung von Victor Hugos Revolutionsroman Quatre-vingt treize. 1928 kam die zweite Gemeinschaftsproduktion mit Paul Frank, Der Kosak und die Nachtigall, auf den Markt, zugleich aber auch der außerordentlich erfolgreiche, sehr publizitätswirksam in Fortsetzungen in Zeitungen veröffentlichte Kriegsheimkehrerroman Wohin rollst du, Äpfelchen?, der seinerzeit das Publikum in Atem hielt.5 1929 veröffentlichte Perutz nochmals einen Roman nach einer Vorlage von Victor Hugo: Flammen auf St. Domingo war eine Adaptation von Hugos BugJargal. 1930 folgte die Anthologie Herr, erbarme dich meiner!, die im Wesentlichen bereits zwischen 1907 and 1930 publizierte Erzählungen enthält. Gegen Ende der 20er Jahre war Perutz ein Bestsellerautor in Deutschland und Österreich geworden. Die meisten seiner Bücher waren in mehreren und für die damalige Zeit zugleich relativ hohen Auflagen erschienen; die erfolgreichsten Romane waren ins Englische, Französische und Ungarische übersetzt worden.6 Aber nicht nur das breite Publikum schätzte Perutz’ Erzählkunst; auch viele seiner literarischen Kollegen zollten ihm großen Respekt. Vor allen Dingen lobte man Perutz Kompositionskunst. Bereits 1920 schrieb Hermann Broch aus Anlass der Veröffentlichung des Marques de Bolibar: »Es ist eine Phantasie der Notwendigkeit, die damit abgerollt ist, eine Logik des Wunderbaren, die die dramatische Handlung und ihre Begründung zu jener Geschlossenheit bringt, die das Wesen des Künstlerischen ausmacht.«7 Diese zwingende Logik und Effizienz der Komposition rühmte auch Alfred Polgar, der 1924 urteilte: »Perutz ist kein Literat. Von den Verlogenheiten, Klebrigkeiten, Künsteleien, Schwindeleien des Metiers ist in seinen Büchern keine Spur. Es gibt im sicher gefügten Zweckbau ––––––– 5 6 7

Siehe Müller: Leo Perutz (Anm. 3), S. 9f . Vgl. dazu Dietrich Neuhaus: Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk Leo Perutz, Frankfurt/M. u.a., S. 175 186. Hermann Broch: Der Marques di [sic] Bolibar. In: Ders.: Schriften zur Literatur 1. Hrsg. v. P. M. Lützeler, Frankfurt/M. 1975, S. 360 361.

Einleitung

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solchen Romans nichts, was nur Schmuck und Aufputz wäre. Jeder Teil ist Träger und Last zugleich. Härte, Solidität und Knappheit der Darstellung ergeben insgesamt etwas, das man Charakter nennen darf.«8 Die Feststellung, Perutz sei ›kein Literat‹, muss man wohl zunächst als ein Lob der schnörkellosen Komposition und Ausführung seiner Texte lesen; indirekt aber war sie auch auf die Person gemünzt, und das in einem positiven Sinn. Denn ›Literat‹ zu sein bedeutete für Polgar oder gar Kurt Tucholsky durchaus keine Auszeichnung; ›Literat‹ meinte vielmehr den Typus falscher, gekünstelter Bohéme. Leo Perutz aber war, obwohl durchaus ein reger Besucher der einschlägigen Wiener Künstlercafés, alles andere als ein blasierter homme des lettres.9 An seinem Tisch, an den ohnehin nur ausgewählte Gäste geladen wurden, diskutierte man deshalb auch eher über wissenschaftliche und mathematische Probleme als über Literatur – oder man spielte Tarock. Und auch bei den Soiréen bei den Perutzens daheim galt die Aufmerksamkeit, wie Bruno Brehm in seinen Erinnerungen mitgeteilt hat, so gut wie nie der Dichtung.10 Nicht nur in literarischer, sondern auch in privater Hinsicht waren die 1920er Jahre Perutz’ glücklichste Zeit, in die u.a. die Geburt seiner beiden Töchter Michaela (1920) und Leonore (1922) fiel. 1928 jedoch starb während der Geburt des dritten Kindes Felix Perutz’ geliebte Ehefrau Ida. Wie tief er von ihrem Tod getroffen wurde, zeigt die für Perutz ungewöhnliche persönliche Widmung, die er 1933 seinem nächsten Roman Sankt Petri Schnee voranstellte: »Der Erinnerung an eine früh Vollendete, früh Gegangene gewidmet.« Idas Tod und dieser Roman markieren eine tiefe Zäsur in Perutz’ Leben. Nur wenige Exemplare von Sankt Petri Schnee konnten noch in Deutschland ausgeliefert werden; nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten standen Perutz’ Bücher auf dem Index. Der 1936 erschienene große historische Roman Der schwedische Reiter wurde nurmehr in Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei verlegt.11 Nach dem ›Anschluss‹ Österreichs im Jahr 1938 emigrierte Perutz mit seiner zweiten Frau Grete und seinen drei Kindern nach Palästina und ließ sich in Tel Aviv nieder. Es gelang ihm nicht, als Schriftsteller in der neuen Heimat Fuß zu fassen; Perutz arbeitete daher wieder in seinem alten Beruf als Versicherungsmathematiker.12 Während der folgenden 20 Jahre wurde es still um Leo Perutz. Ein Romanprojekt mit dem Titel Mainacht in Wien, in dem er seine Erlebnisse bei der Macht––––––– 8 9 10 11 12

Alfred Polgar: Turlupin. In: Die Weltbühne 20 (1924), Nr. 40, S. 506 508, S. 506. Lüth: Drommetenrot und Azurblau (Anm. 3), S. 45f. Siehe auch Neuhaus: Erinnerung und Schrecken (Anm. 6), S. 18. Vgl. Bruno Brehm: Am Grabe von Leo Perutz. In: Sudetenland 1 (1958/59), S. 97 99, S. 98. Müller: Leo Perutz (Anm. 3), S. 10. Ebd., S. 10f.

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übernahme der Nazis in Wien 1938 verarbeiten wollte, kam nicht über die ersten drei Kapitel hinaus; ein weiterer historischer Roman mit dem Titel Mayflower blieb ebenfalls Fragment. 1947 stellte Perutz resigniert fest, er sei für Europa ein »forgotten writer«.13 Vor seinem Tode im Jahre 1957, der ihn während des seit 1951 regelmäßig in Österreich verbrachten Sommeraufenthaltes ereilte, sollte er indes noch zwei große Bücher fertigstellen, die man wohl als sein ästhetisches Vermächtnis ansehen darf. 1953 erschien zunächst der Novellenroman Nachts unter der steinernen Brücke. In ihm nimmt in einer abschließenden Rahmenerzählung der Autor Leo Perutz erstmals direkt Bezug auf seine in Prag verbrachte Jugendzeit – eine für ihn überaus untypische, abgeklärt wirkende autobiographische Reminiszenz. Explizite Reflexionen des Erzählers, die man mit einiger Berechtigung als Aussagen von Perutz selbst lesen könnte, finden sich sonst allenfalls in frühen Erzählungen wie z.B. dem »Gespräch mit einem Soldaten«, dort allerdings bezog sich der Erzählerkommentar direkt auf das dargestellte Geschehen.14 Im Epilog zu Nachts unter der steinernen Brücke dagegen erläutert Perutz die zeitenthobene Bedeutung, die die Jugenderfahrung des versinkenden alten Prags als eines historischen wie kulturellen Schwellenphänomens zeitlebens für ihn selbst hatte und die ihn so zum Erzählen des historisch weit gespannten Novellenzyklus motivierte. Seinen persönlichen Bezug zum menschlich berührenden Inhalt dieser überaus kunstvollen Novellenerzählung hingegen, an der er gut 27 Jahre lang, d.h. seit der Hochzeit seines literarischen Ruhms Mitte der 1920er Jahre, gearbeitet hatte, ließ er unkommentiert. Die künstlerisch-philosophische Reflexion und die Dimension des Biographischen im Leben des Leo Perutz sind so gerade im Spätwerk geschiedene Welten, zwischen denen man sicher vielfache Wechselbeziehungen annehmen kann – aber keine spezifischen konstruieren sollte, die eindeutige Verweise und Kausalitäten postulieren. Das gilt auch für Perutz’ großen, 1959 posthum erschienenen historischen Künstlerroman Der Judas des Leonardo. An ihm hatte er ebenfalls beinahe 20 Jahre lang, seit den frühen 1940er Jahren nämlich, gearbeitet; er schloss ihn erst wenige Tage vor seinem Tode am 26. August 1957 ab. ––––––– 13 14

Zitiert nach Müller: Leo Perutz (Anm. 2), S. 335. Vgl. Leo Perutz: Herr, erbarme dich meiner, Wien 1995, S. 183 185. – Die Erzählung berichtet von einem taubstummen Soldaten, der zunächst mit dem Ich-Erzähler problemlos in Zeichensprache Konversation treiben kann, dann jedoch als Augenzeuge eines schockierenden Falles von Tiermisshandlung an seiner metaphorischen »Sprach losigkeit« im Sinne der Unfähigkeit zum Eingreifen und Handeln verzweifelt. Der Erzähler kommentiert dies erschüttert wie folgt: »Furchtbare und unauslöschliche Mi nute! Nie werde ich vergessen, wie Zorn, Jammer und Empörung mit einemmal den Stummen sprachlos machten.« (Ebd., S. 185) – Die Erzählung erschien erstmals 1918 unter dem Titel »Ein Gespräch« im Berliner Tageblatt.

Einleitung

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Kann man bei Leo Perutz von einem ästhetischen Programm sprechen? Perutz selbst hatte schon früh für jeden seiner Romane ästhetische Eigenständigkeit reklamiert: »Meine Auffassung der schriftstellerischen Tätigkeit war leider bei jedem Buch, an dem ich arbeitete, notgedrungen eine andere.«15 Andererseits lässt sich kaum übersehen, dass das gesamte Œuvre um einen Komplex von existenziellen Grundfragen organisiert ist, die von den Romanen und Erzählungen in immer neuen Varianten thematisiert werden: die nach der Identität und Kontinuität des Ich angesichts der problematische Natur unserer Erinnerung; die Frage nach der Voraussetzungshaftigkeit und Zirkularität des Verstehens; die Frage, ob unser vermeintlich freier Wille nicht unter die Herrschaft des blinden Zufalls oder gar eines verborgenen Determinismus gestellt ist; die Frage nach dem Verhältnis von Kunst, Macht und Liebe, mit der Nachts unter der steinernen Brücke eine neue Problematik anspricht, bevor schließlich der Judas des Leonardo diese Frage aufgreift und mit der schwierigsten überhaupt verknüpft: der nach der Möglichkeit menschlicher Selbsterkenntnis. Im Leben wie in der Kunst war und ist Perutz diesbezüglich zeitlebens ein entschiedener Skeptiker geblieben, wie in seinem letzten Roman das »Lied des Mancino« zeigt: Ihr guten Leut’, ich kenn der Dinge Lauf. Ich kenn’ den Tod, den wilden Wüterich. Ich kenn’ des ganzen Lebens Ab und Auf. Ich kenne alles, alles, nur nicht mich. 16

So lautet die vierte Strophe des Francois Villon nachempfundenen, um den Preis einer freien Mahlzeit gesungenen Liedes. Sie wird von Mancino, also vom Künstler selbst, jedoch noch mit einem selbstkritischen Schlusswort kommentiert und zu einer ironischen summa erhoben, die auch die des Leo Perutz hätte sein können: »Das war das Resümee«, sagte er und sprang vom Stuhl herab. »Es enthält in nuce alles, was ich zu diesem Gegenstand zu sagen hatte, und die drei vorangegangenen Strophen waren überflüssig wie das meiste von dem, was aus dem Mund und aus der Feder der Poeten strömt. Doch bin ich entschuldigt. Es ging mir um das Abend essen.«17

––––––– 15 16 17

Perutz: Ein Brief (Anm. 1). Leo Perutz: Der Judas des Leonardo. Hrsg. v. H.-H. Müller, Wien 1994, S. 51. Ebd.

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Von der Struktur zur Bedeutung Die Beiträge des vorliegenden Bandes verbindet, wie einleitend bereits erwähnt, nicht allein ihr Gegenstand, das Werk von Leo Perutz. Die Überlegungen zu den einzelnen Romanen weisen überdies eine einheitliche methodische Orientierung auf. Das bedeutet nicht, dass die versammelten zehn Aufsätze einer – wie es im Fach oft irreführend heißt – ›literaturwissenschaftlichen Methode‹ zuzurechen wären; ihnen liegen jedoch einige gemeinsame Vorstellungen darüber zugrunde, wie mit literarischen Texten umzugehen ist.18 Die wesentlichste dieser Vorstellungen besteht in der Aufassung, dass die Interpretation eines literarischen Werks auf der differenzierten Rekonstruktion seines Aufbaus und seiner Machart aufruhen sollte. Dies mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen – dass es keine ist, lehrt die Geschichte der Literaturwissenschaft. Die einzelnen Aufsätze nehmen zu der in Ästhetik, Kunstphilosophie und Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten geführten Debatte um die Unterscheidung zwischen Rekonstruktion (bzw. Deskription) und Interpretation19 nicht ausdrücklich Stellung; sie versuchen vielmehr in der Praxis vorzuführen, wie sich die Operationen der Bestimmung des Aufbaus und die der Erschließung der Bedeutung von Texten sinnvoll voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen lassen. Dieses Vorhaben geht mit der Abgrenzung von bestimmten hermeneutischen und strukturalistischen Positionen einher, die entsprechende Vermittlungsversuche in der Vergangenheit erheblich erschwert haben. In Abgrenzung von hermeneutischen Traditionen, wie sie vor allem im Anschluss an Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode Konjunktur hatten, wird Interpretation im vorliegenden Zusammengang als methodologisch kontrollierter Prozess verstanden. In diesem Sinne machen die Beiträge des Bandes mehr oder weniger intensiven Gebrauch von den textanalytischen Instrumentarien, die im strukturalistisch geprägten Bereich der Erzählforschung seit den späten 1960er Jahren entwickelt worden sind; sie betrachten Zeitstruktur und Perspektivgestaltung in den Romanen, widmen sich deren Erzählerfiguren und dem Problem

––––––– 18 19

Zur Kritik eines entsprechenden Methoden-Begriffs vgl. Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977, S. 381f. Vgl. zu dieser Debatte den Überblick in Tom Kindt, Hans-Harald Müller: Wieviel Interpretation enthalten Beschreibungen? Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung am Beispiel der Narratologie. In: F. Jannidis u.a. (Hrsg.): Regeln der Be deutung, Berlin/New York 2003, S. 296 304.

Einleitung

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ihrer Zuverlässigkeit, untersuchen die Erzählebenen der Texte und die verschiedenen Möglichkeiten, diese zueinander ins Verhältnis zu setzen.20 Im Unterschied zu den Gründervätern und einigen gegenwärtigen Vertretern der Narratologie sehen die Beiträger der vorliegenden Aufsatzsammlung die Rekonstruktion des Aufbaus und der Machart eines Textes nicht als eine Art Selbstzweck an. Auch wenn den einzelnen Untersuchungen unterschiedliche Vorstellungen von den Möglichkeiten und Aufgaben der Erzähltheorie zugrunde liegen mögen, so wird in ihnen doch einhellig davon ausgegangen, dass diese einen wichtigen Beitrag im Rahmen von Textauslegungen leisten kann und sollte. Einer solchen pragmatischen Sichtweise zufolge stellen Narratologie und Interpretation durchaus keine konkurrierenden Unternehmungen dar21 – die narratologische Beschreibung eines Werks ist demnach vielmehr als Anstoß, Voraussetzung und Bezugspunkt der interpretativen Bestimmung seiner Bedeutung zu verstehen. Indem sich die folgenden Untersuchungen zu Perutz’ Romanen an den skizzierten methodischen Positionen orientieren, sollen sie nicht allein einen Beitrag zur Literaturgeschichte, sondern zugleich eine Illustration und ein Plädoyer für eine strukturalistisch informierte Hermeneutik liefern.

––––––– 20

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Die maßgeblichen erzähltheoretischen Bezugstexte sind dabei Gérard Genettes Unter suchungen Discours du récit (1972) und Nouveau discours du récit (1983), vgl. G. G.: Die Erzählung. Hrsg. v. J. Vogt, München 1994. Vgl. zu dieser lange vorherrschenden Auffassung etwa Gerald Prince: Narratology. In: R. Selden (Hrsg.): The Cambridge History of Literary Criticism. Vol. 8: From Formalism to Poststructuralism, Cambridge 1995, S. 110 130, S. 130.

Hans-Harald Müller

Identitäts-Konstruktionen Zur Architektur von Leo Perutz’ Roman Die dritte Kugel »I wish I had time and space to show you how the frametale model reminds me of, for example, trampoline exercises, meal preparation, taxonomy, love-making, scientific research, argumentation, psychoanalysis, crime detection, computer programming, court trials, and my grandson’s progress from crawling to walking unassisted. If the supposition is valid, these isomorphies will not be hard to see.« (John Barth: Tales within Tales within Tales)

1. Leo Perutz’ Romanerstling Die dritte Kugel (1915) war ein ehrgeiziges Projekt, das einen neuartigen Typus des historischen Romans mit der Problematisierung des Konzepts der ›Identität‹1 in einer Handlung verknüpfte, deren Figuren und Elemente nicht allein der Geschichte der Eroberung Mexikos, sondern auch zahlreichen Anleihen aus der Weltliteratur verpflichtet sind. Wie lange Perutz an dem Romanprojekt arbeitete, ist unbekannt. Im Jahre 1911 kommentierten seine Freunde, die Schriftsteller Richard A. Bermann2 und Ernst Weiß3 einzelne Teile des Romans, und im selben Jahre erwähnte Perutz ihn erstmals unter dem Titel Der Wildgraf am Rhein. Am 11. April 1915 hielt Perutz in seinem Notizbuch fest: »Die 3. Kugel beendet nach vier Jahren.« 4 In der Dritten Kugel verwirklichte Perutz eine Romankonzeption, die sich vielleicht am besten als ›alternativer‹ historischer Roman charakterisieren lässt. ––––––– 1

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Vgl. dazu Michael Titzmann: Das Konzept der ›Person‹ und ihrer ›Identität‹ in der deutschen Literatur um 1900. In: M. Pfister (Hrsg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, Passau 1989, S. 36–52. Vgl. dazu den Ausstellungskatalog Leo Perutz 1882–1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt/M. u.a. 1989, S. 51–54. Vgl. »… ein guter Freund und Kamerad täte mir oft hier sehr wohl«. Ernst Weiß’ Briefe an Leo Perutz. Hrsg. v. P. Engel u. H.-H. Müller. In: Modern Austrian Literature 21 (1988), S. 27–59, S. 38–43. Perutz’ Notizbücher befinden sich im Deutschen Exil-Archiv der Deutschen Bibliothek, Frankfurt/M. Im Nachlass sind zwei vollständige Manuskriptfassungen des Romans erhalten: die erste umfasst 20 Hefte aus dem Zeitraum zwischen dem 14.3.1912 und dem 16.9.1914, die zweite 23 Hefte aus dem Zeitraum zwischen dem 2.7.1912 und dem 10.4.1915.

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Der Roman, dessen Rahmenhandlung 1547 im Schmalkaldischen Krieg und dessen Binnenhandlung zur Zeit der Eroberung Mexikos in den Jahren 1516–1520 spielt, weicht vom historisch verbürgten Geschehen nur insoweit ab, als er frei erfundene Episoden einfügt.5 Diese Episoden verändern an den großen Linien des Geschichtsverlaufs nichts, aber sie erklären ihn auf eine ›alternative‹ Weise – so gelingt Cortez in Perutz’ Roman die Eroberung Mexikos nur deshalb, weil die ihm zugedachte dritte Kugel Grumbachs ihr Ziel verfehlt. Dass alles so gekommen ist, wie es kam, ist gewissermaßen nur »ein erstarrter Einzelfall« der historischen »Möglichkeiten«, ist nicht Voraussetzung und Ziel, sondern die unwahrscheinliche Pointe eines Romans, der die historische Wirklichkeit als »Aufgabe und Erfindung behandelt«6 und zeigt, dass um Haaresbreite alles ganz anders hätte kommen können. Um seiner alternativen Erklärung des Geschichtsverlaufs Glaubwürdigkeit zu verleihen, arbeitet Perutz weitgehend mit historisch verbürgten Figurennamen und Ortsangaben und ist um historisches Kolorit auch in den beschreibenden Passagen des Romans bemüht. Selbstverständlich nimmt er sich in der Charakterisierung der Figuren und der Darstellung ihrer Handlungen viele Freiheiten; zahlreiche Figuren sind in der Literatur mindestens so fest verankert wie in der Geschichte: Grumbach und Melchior Jäcklein besitzen viel Ähnlichkeit mit Don Quichotte und Sancho Pansa,7 der bleiche hoffärtige Herzog Juan di Mendoza ist erkennbar ein Nachfahr des Don Juan,8 Grumbach und der Herzog von Mendoza sind nach dem Motiv der feindlichen Brüder gestaltet, um nur wenige Beispiele zu nennen – die Liste der literarischen Anleihen ließe sich lange fortsetzen. Auf welche Weise Perutz historische und literarische Gestalten für seinen Roman kontaminierte, lässt sich am Beispiel des Herzogs von Mendoza illustrieren, einem der wenigen Spanier aus Perutz Roman, die im Lager des historischen Cortez nicht verbürgt sind.9 In Conrad Ferdinand Meyers Novelle Die Versuchung des Pescara taucht als Widersacher Pescaras ein gewisser Moncada auf, der als natürlicher Sohn Ferdinands des Katholischen gilt und, in einem Kampf, der »kein Zweikampf, sondern ––––––– 5

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Protagonist dieser frei erfundenen Episoden des Kampfes der Deutschen gegen die Spanier in Mexiko ist mit dem Grafen Grumbach wiederum eine historische Gestalt (die freilich nicht Franz, sondern Wilhelm hieß und erst einige Jahrzehnte später lebte, durchaus aber Züge mit dem fiktiven Franz Grumbach teilt), vgl. dazu ausführlich Agnes Krup-Ebert: Geschichte und Identität. Zur Geschichts- und Erzählkonzeption von Leo Perutz’ Roman »Die dritte Kugel«. Magisterarbeit, Hamburg 1987, S. 94–104. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hrsg. v. A. Frisé, Hamburg 1974, S. 16. Vgl. dazu Krup-Ebert: Geschichte und Identität (Anm. 5), S. 102. Vgl. Michael Mandelartz: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz, Tübingen 1992, S. 77. Vgl. ebd., S. 92.

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ein Meuchelmord«10 war, den Vater Pescaras getötet haben soll. Dieser berichtet: »Später erfuhr ich, der Verhaßte habe sich in irgend eine Kartause geworfen, um eine Sünde zu büßen. Dann ist er jenseits des Meeres, in Cuba, wieder aufgetaucht, wo ihm König Ferdinand reiche Besitzungen verlieh, und hat den kühnen Cortez nach Mexiko begleitet. Ich denke, um den ehrgeizigen Eroberer zu überwachen […].«11 Dieser Moncada nun ist eine historische verbürgte Gestalt, aber alle ihm von Pescara im Zitat zugeschriebenen Züge sind von C. F. Meyer frei erfunden. Gerade diese Züge aber lassen sich in Perutz’ Roman mehr oder minder unmittelbar als Prädikate des Herzogs von Mendoza finden: Grumbach und Mendoza sind natürliche Söhne Philipps des Schönen,12 Mendoza ersticht in einem unfairen Zweikampf einen Freund Grumbachs, Mendoza folgt Cortez nach Cuba und nach Mexiko. Mir geht es im vorliegenden Zusammenhang indes nicht um Perutz’ Konzeption des historischen Romans, sondern um die vielleicht einzigartige Konstruktion der Dritten Kugel. Der Roman besteht aus drei Teilen, einer langen Binnenerzählung, die von zwei kürzeren Rahmenerzählungen eingefasst wird. Das ungewöhnlich intrikate Problem dieser gewöhnlichen Romanform stellt die Beziehung zwischen Binnen- und Rahmenerzählung dar. Formal wird sie durch eine Metalepse13 hergestellt, inhaltlich muss der Leser sie selbst herstellen. Dass er dabei die Auswahl zwischen einer verwirrenden Fülle sorgfältig konstruierter Möglichkeiten hat, möchte ich im Folgenden zeigen. Dazu ist es freilich nötig, die Konzeption des Romans zumindest im Groben wiederzugeben. Das ist keine ganz unproblematische Aufgabe, denn der Inhalt des Romans lässt sich kaum zusammenfassen, ohne dass man sich dabei zugleich in eine der möglichen Interpretationen verstrickt. Ich gebe nun eine knappe und möglichst interpretationsfreie Inhaltsangabe des Romans, die freilich weder dem Kunstanspruch der einzelnen in sich abgeschlossenen novellenartigen Teile14 noch dem Stil, der Atmosphäre oder auch dem Humor des ganzen Romans gerecht werden kann. »Präludium«: Ein Mann, Hauptmann Glasäpflein genannt, sitzt des Nachts am Lagerfeuer und kann nicht schlafen. Er möchte zu seiner Unterhaltung ein ––––––– 10 11 12 13 14

Conrad Ferdinand Meyer: Die Versuchung des Pescara. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 6. Hrsg. v. H. Zeller u. Alfred Zäch, Bern 1964, S. 232. Ebd., S. 233. Vgl. auch ebd., S. 453. Vgl. dazu Krup-Ebert: Geschichte und Identität (Anm. 5), S. 177. Zur Metalepse, die die Grenze zwischen diegetischem und extradiegetischem Universum aufhebt, vgl. Gérard Genette: Figures III, Paris 1972, S. 244. Perutz veröffentlichte vor der Buchpublikation zunächst Teile des Romans. Das Kapitel »Der Traum von Deutschland« erschien unter dem Titel »Der Sieger« in: März 8 (1914), 3 (Juli–September), S. 66–73. Das Kapitel »Der Reiher Tausendrot« erschien unter dem Titel »Der Tod des Meisters der Materie« in: Der neue Merkur 1 (1914/15), 7 (Oktober), S. 104–112.

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Jahr seines Lebens Revue passieren lassen, doch er hat sein Erinnerungsvermögen verloren. Sein Knecht, Melchior Jäcklein, kann ihm nicht helfen, denn die Spanier haben ihm in der Neuen Welt die Zunge herausgeschnitten. Einen durch das Lager gehenden Alchemisten bittet Hauptmann Glasäpflein um Hilfe, und er erhält einen besonderen Trank, der das Erinnerungsvermögen wiederherstellen können soll; dieser Trank brennt jedoch derart in der Kehle, dass Hauptmann Glasäpflein den letzten Rest verschüttet. Der Hauptmann ist schon am Einschlafen, als er einen spanischen Reiter in seiner Umgebung wahrnimmt, der sich anschickt, eine Geschichte zu erzählen: Es ist die Geschichte des Wild- und Pfalzgrafen Franz Grumbach und seiner drei Kugeln. Während er dem Beginn der Geschichte lauscht, stellt Glasäpflein fest, dass es seine eigene Vergangenheit ist, über die der spanische Reiter erzählt. Er hört gebannt zu, weil er sich weder an den genauen Verlauf noch an das Ende dieser Geschichte erinnern kann. »Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln«: Der spanische Reiter beginnt die Erzählung der Geschichte Grumbachs mit einer Episode aus Gent; die zweite Station ist Ferdinandina (Kuba), wohin der einstige Pfalzgraf mit einigen Getreuen gesegelt ist, nachdem er wegen eines Aufstands gegen Kaiser und Reich sein Land verloren hat. Grumbach ist auf dem Weg nach Mexiko, wo er sich in friedlichem Einvernehmen mit den Azteken ansiedeln will. Dieser Plan wird schließlich dadurch vereitelt, dass Cortez’ und Grumbachs Halbbruder, der Herzog von Mendoza, mit der spanischen Armada des Goldes wegen nach Mexiko segeln und die Azteken-Hauptstadt Tenochtitlan belagern, wo die Deutschen sich angesiedelt haben. Grumbach will die Azteken verteidigen, er besitzt aber keine Arkebuse. Mit Hilfe eines Teufelpakts gelingt es ihm und seinen Getreuen schließlich, von dem Soldaten Garcia Novarro im Würfelspiel eine Arkebuse mit drei Kugeln zu erlangen. Da auf den Verlust der Arkebuse die Todesstrafe steht, wird Garcia Novarro gehängt. Vor dem Tod aber stößt er, der über die Fähigkeit Kugeln zu segnen verfügt, einen Fluch aus, demzufolge die drei Kugeln der Arkebuse die folgenden Personen treffen sollen: den mit Grumbach befreundeten Aztekenkönig Montezuma, Grumbachs Geliebte Dalila, die inzwischen ein Verhältnis mit dem Herzog von Mendoza begonnen hat, und – Grumbach selbst. Die Deutschen hingegen wollen, dass die drei Kugeln den spanischen Henker Pedro Carbonaro, Ferdinand Cortez und Juan di Mendoza treffen. Die Kugeln scheinen allerdings den Weg zu nehmen, den Garcia Novarro ihnen gewiesen hatte. Mit der ersten Kugel erschießt Jäcklein Montezuma, um einen Aufstand der Azteken gegen die Spanier auszulösen. Mit der zweiten Kugel will Grumbach seinen Rivalen Mendoza treffen, geistesabwesend gibt er aber Melchior Jäcklein das Signal zum Schießen, als er der Dalila seinen Mantel um die Schultern legt. Mit der letzten Kugel will Grumbach dann Cortez erschießen, um die Niederlage der Spanier zu besiegeln. Vom Schicksal dieser dritten Kugel

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aber kann der spanische Reiter in der Binnenhandlung nicht mehr berichten denn er wird zuvor in der Rahmenhandlung erschossen – von Grumbachs Knecht Melchior Jäcklein, der in ihm einen der Spanier erkennt, die ihm einst in der Neuen Welt die Zunge herausgeschnitten hatten. »Finale«: Der spanische Reiter ist tot, er konnte die Geschichte Grumbachs nicht zu Ende erzählen und wegen dieses fehlenden Endes verblasst Grumbachs Erinnerung schnell, am Ende hält Hauptmann Glasäpflein sie selbst für ein Märchen.

2. Das Eigenartige an der Konzeption der Dritten Kugel ist, dass Binnen- und Rahmenhandlung einerseits – schon durch eine besondere typographische Anordnung15 – als selbständige Teile von einander getrennt, andererseits durch eine Fülle von Bezügen dicht miteinander vernetzt sind. Auf diese Weise erhält der Leser zwei einander widersprechende Leseanweisungen. Die eine fordert ihn dazu auf, den Roman als Anordnung disjunkter Teile zu betrachten, die andere rät dazu, ihn konsekutiv als integratives Ganzes zu lesen. Das »Präludium« und das »Finale« enthalten jeweils eine ›mise en abyme‹,16 und Jean Pierre Chassagne hat in einer sorgfältigen Untersuchung gezeigt, dass die entscheidenden Handlungselemente im »Präludium« und »Finale« genau spiegelverkehrt angeordnet sind.17 Die wichtigste Interferenz zwischen Binnen- und Rahmenhandlung ist, wie der Inhaltsangabe zu entnehmen war, die folgende: Grumbachs Knecht erschießt in der Rahmenhandlung den Erzähler der Binnenhandlung, bevor dieser die »Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln« zu Ende erzählen kann. Das fehlende Ende der Binnenerzählung ist so, darauf scheint alles hinzudeuten, die Ursache dafür, dass Hauptmann Glasäpflein in der ––––––– 15

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In den Text eingeschobene Seitenzahlen verweisen im Folgenden auf die Erstausgabe: Leo Perutz: Die dritte Kugel, München 1915. Diese Erstausgabe (deren Anordnung für die Ausgaben nach 1945 nicht übernommen wurde) enthält zwei Inhaltsverzeichnisse: nach der Titelseite ein Gesamtverzeichnis der drei Teile des Romans (»Präludium«, »Historie«, »Finale«); diese Teile sind im Buch durch neue Vorsatzblätter deutlich voneinander getrennt. Nach dem Vorsatzblatt von »Die Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln« findet sich für diesen Teil ein separates Inhaltsverzeichnis, das alle 22 Kapitel (mit den Ziffern der Seitenangaben) der Binnenerzählung so aufführt, als handle es sich bei ihr um ein eigenes Buch. Die ›mise en abyme‹ bezeichnet eine Spiegelung des Romans in kondensierter Form, die durch Kurzzitate zentraler strukturbildender Motive erzielt wird, vgl. Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire: essai sur la mise en abyme, Paris 1977. Vgl. Jean-Pierre Chassagne: L’ironie du récit dans »Die dritte Kugel« de Leo Perutz. In: Chroniques allemandes (1996), S. 63–74, S. 71.

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Rahmenhandlung nicht an die Lebensgeschichte Grumbachs als sein vergangenes Leben anknüpfen kann und in die Amnesie zurückfällt. Zu einer Einsicht dieser Art scheint auch Hauptmann Glasäpflein selbst zu gelangen, wenn er nach der Erschießung des spanischen Reiters im »Finale« sagt: Und nun hat der Melchior Jäcklein, der Narr, den alten Reiter zu Tod’ geschossen, ohne Sinn und Zweck, so wie er einst die junge Dalila im Zelte des Mendoza zu Tod’ geschossen hat. Und hat zugleich mein vergangenes Leben getroffen und das Bildnis meiner Jugend zerstört, und wahrhaftig, der Fluch des Garcia Novarro ist heut bis an sein Ende erfüllt: Ja, die dritte Kugel hat mich getroffen. (S. 356)

In der Formulierung des letzten Satzes nun liegt zweifellos eine Metalepse vor, denn die dritte Kugel aus dem Fluch des Garcia Novarro musste, um Hauptmann Glasäpflein zu treffen, die Grenze zwischen diegetischer und extradiegetischer Welt durchschlagen. Die Formulierung der Metalepse ist aber auch noch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Sie enthält den Titel des Romans, der zugleich der Titel des »Finale« ist, sie verknüpft das Schicksal des Protagonisten mit dem Titel und enthält somit vielleicht einen der wichtigsten Schlüssel zur Interpretation des Romans. Welch folgenreiche Interpretationsprobleme diese Metalepse aufwirft, möchte ich im Folgenden kurz diskutieren. Auf den ersten Blick scheint mit ihr ein befriedigender Romanschluss erreicht: Der in der vorzeitigen Binnenhandlung unerfüllt gebliebene Fluch des Garcia Novarro erweist sich als wirksam noch bis in die Rahmenhandlung hinein: Auch die dritte Kugel hat das vorhergesagte Ziel erreicht. Aber hat sie das wirklich? War es die dritte Kugel des Grumbach aus der Binnenerzählung, die Melchior Jäcklein in der Rahmenerzählung auf den spanischen Reiter abfeuerte?18 Es gehört zu den Konstruktionsprinzipien des Romans Die dritte Kugel, dass er den Verbleib dieser Kugel, die so oft wie keine andere erwähnt wird, konsequent offen lässt.19 Die Metalepse »Ja, die dritte Kugel hat mich getroffen« spricht von einer Kugel, von der im Roman viel die Rede, aber definitiv nichts bekannt ist. Was kann Hauptmann Glasäpflein mit diesem Satz überhaupt meinen, da die Kugel doch offensichtlich den spanischen Reiter getroffen hat und nicht ihn, der am Ende des Romans so lebendig ist wie zu dessen Beginn? Über solchen Fragen weicht die anfängliche Befriedigung über den scheinbar gelun––––––– 18

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Dass dies die entscheidende Frage ist, die Perutz’ Romankonstruktion nahe legt, und damit zugleich der Ausgangspunkt aller Interpretationen, wurde bereits herausgearbeitet von Jan Christoph Meister: Das paralogische Lesen von Identität – Leo Perutz’ Roman »Die dritte Kugel«. In: Modern Austrian Literature 22 (1989), S. 71–91, vor allem S. 78. Perfiderweise lautet die Überschrift des dritten Teils des Romans auch noch »Finale: Die dritte Kugel«, obwohl diese Kugel in diesem Teil noch weniger vorkommt als im zweiten, wo sie zwar oft erwähnt, aber nie verschossen wird.

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genen Romanschluss schnell einer tiefen Rätselhaftigkeit. »Drei Kugeln – einen edeln König traf die erste, ein unschuldiges Kind die zweite –, wie ging es weiter? – Wen die dritte?« (S. 22). Keine Erzählinstanz kommt dem Leser zu Hilfe, er muss sich selbst auf die Suche nach der dritten Kugel begeben, um eine Verbindung zwischen Hauptmann Glasäpflein und der Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln herzustellen. Vielleicht beginnt man dabei am besten mit der unwahrscheinlichsten Interpretation. Sie geht davon aus, dass Hauptmann Glasäpflein und der Wildgraf Franz von Grumbach nicht identisch sind, dass der spanische Reiter nicht die eine Lebensgeschichte Grumbachs und Glasäpfleins erzählt hat, sondern eben nur »jenes einfältige Märchen […] von einem, der drei Kugeln hatte«, das Hauptmann Glasäpflein »vielleicht in einem törichten Buche« las, »im Amadis oder im Ritter Löw« (S. 356f.).20 Geht man von dieser Voraussetzung aus, so enthält Glasäpfleins Satz »Ja, die dritte Kugel hat mich getroffen«, eine Täuschung, einen Beziehungsfehler, weil die Geschichten Grumbachs und Glasäpfleins nichts miteinander zu tun haben. Mit dieser Interpretation würde für die Metalepse eine zwar einfache, aber kognitiv und ästhetisch sehr unbefriedigende Lesart gefunden. Dass ein Mann seine Lebensgeschichte vergisst und die eines anderen für seine eigene hält, ist an sich letztlich kein besonders interessanter und wohl eher pathologischer Fall. Die Konsequenz dieses Falles wäre für Die dritte Kugel zudem, dass die Binnenhandlung des Romans, die etwa 90 Prozent von dessen Gesamtumfang ausmacht, in keiner inneren Beziehung zur Rahmenhandlung stünde – und das wäre ästhetisch so unbefriedigend wie die Tatsache, dass unter dieser Voraussetzung das titelgebende und nachdrücklich wiederholte Motiv der dritten Kugel zu einem blinden Motiv würde. Verabschieden wir also zunächst die Annahme der Unverknüpftheit der Lebensgeschichten Grumbachs und Glasäpfleins21 und wenden wir uns der Annahme zu, dass Hauptmann Glasäpflein und Grumbach identisch sind, und dass der spanische Reiter die wahre Geschichte Grumbachs erzählt. Folgen wir dieser Annahme weiter, so wäre die einfachste Interpretation des Satzes »Ja, die dritte Kugel hat mich getroffen« vielleicht die folgende: Melchior Jäcklein erschießt mit der dritten verwunschenen Kugel den spanischen Reiter und macht damit Hauptmann Glasäpfleins Gedächtnisverlust unwiderruflich. Der Satz »Ja, die ––––––– 20

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Die korrespondierende Stelle im »Präludium« lautet: »Mir ist, als hätt’ ich dereinst dies Märlein gekannt. Dunkel hab ich’s im Kopf, weiß nicht, woher, las es vielleicht in einem törichten Buche, im Amadis oder im Ritter Löw« (S. 22). »Die Interpretation der Binnenhandlung als eines durch den Trank des Alchimisten veranlaßten Wunschtraumes, in dem sich ein subordinierter Hauptmann den welterfüllenden Ruhm realisiert«, hat Mandelartz (Poetik und Historik [Anm. 8], S. 57) als eine der möglichen Interpretationen angeboten.

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dritte Kugel hat mich getroffen« würde demnach besagen, dass die reale dritte Kugel den Hauptmann in einem übertragenen Sinne getroffen habe – etwa in der Weise, dass sie das Schicksal des Hauptmanns besiegelt habe.22 Für eine solche metaphorische Lesart haben sich die meisten Perutz-Interpreten entschieden,23 und für sie könnte zum Beispiel auch die Tatsache sprechen, dass der Hauptmann kurz zuvor schon eine ähnliche Formulierung verwendete, als er beklagte, Jäcklein habe mit dem Schuss »zugleich mein vergangenes Leben getroffen« (S. 356). Doch wie plausibel ist diese zunächst sehr einleuchtende Deutung? Sie mutet dem Leser zu, er solle daran glauben, dass Grumbach in der Binnenhandlung die Arkebuse bei der Verfolgung des Cortez – aus welchen Gründen auch immer24 – nicht abgeschossen hatte und dass es just jene dritte Kugel war, die Melchior Jäcklein, nachdem sie annähernd 30 Jahre im Lauf der Arkebuse verblieb oder sonstwo verwahrt wurde, auf den spanischen Reiter abfeuerte. Diese Deutung würde aber nicht allein die Glaubwürdigkeit des Erzählers und das Vertrauen der Leser reichlich strapazieren, sondern zugleich die Konstruktion des ganzen Romans gefährden, denn sie hat eine Anomalie zur Konsequenz, die den Interpreten der Dritten Kugel bislang nicht aufgefallen ist. Wenn nämlich die dritte Kugel in der Binnenhandlung nicht abgefeuert worden wäre, dann hätte der spanische Reiter sein Versprechen, die wahre »Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln« zu erzählen, niemals einlösen können, weil sich dann die dritte Kugel zu Beginn seiner Erzählung noch im Lauf der Arkebuse Melchior Jäck––––––– 22

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Vgl. dazu Dietrich Neuhaus: Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk von Leo Perutz, Frankfurt/M. u.a. 1984, S. 103: »Die dritte Kugel trifft den Grumbach als Person, indem sie einen anderen Menschen tötet, der jedoch als Gedächtnis und Erinnerungsvermögen die personale Identität des Grumbach verbürgt. Die dritte Kugel trifft so gerade ihn, indem sie ihn nicht trifft und findet ihr Ziel damit gegen den Willen des Schützen.« Vgl. auch Reinhard Lüth: Drommetenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia, Meitingen 1988, S. 142: »Somit bildet das Finale keinen Abbruch der Historie, sondern die Binnengeschichte geht in die Rahmenhandlung über und findet hier erst ihren eigentlichen Abschluß, was auch die oben zitierte Feststellung Grumbachs, die dritte Kugel habe ihn getroffen, suggeriert; denn die Kugel, mit der Jäcklein den Spanier niederstreckt, ist in übertragenem Sinn (so viel der Knecht mit seiner Arkebuse in der Zwischenzeit auch geschossen haben mag), in ihrer Konsequenz, eben jene dritte Kugel, die gemäß ihrer Verwünschung nun ihr Ziel erreicht und Grumbachs Persönlichkeit und Gedächtnis (›seinen‹ spanischen Reiter) endgültig ausgelöscht hat.« Vgl. Neuhaus: Erinnerung und Schrecken (Anm. 22), S. 103. Neuhaus (ebd., S. 59) hat diese von Perutz nicht mitgeteilten Gründe ›ergänzt‹: »Die von Perutz wie beiläufig gelegten Indizien lassen wahrscheinlich werden, daß Grumbach von der Kugel eines Spaniers, die wild hinter ihm herschießen, getroffen worden sein muß, als er den Cortez zu Pferde verfolgte, um ihn zu erschießen. Grumbach wird vom Pferd gerissen und verliert sein Gedächtnis.«

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leins befunden hätte.25 Was aber wäre von der Glaubwürdigkeit der Erzählung des spanischen Reiters zu halten,26 wenn dieser sich nicht allein in der Annahme geirrt hätte, dass »der Deutsche samt seinem stummen Knecht in Veracruz begraben liegt« (S. 22), sondern wenn er das Ende der im Titel seines Lieds verheißenen Erzählung gar nicht gekannt hätte? Der spanische Reiter beharrte jedoch darauf zu wissen, wo die dritte Kugel geblieben ist; im »Präludium« sagte er im Hinblick auf die Hinrichtung Garcia Novarros: »Aber bevor sie ihn henkten, hat er dem einäugigen Deutschen seine drei Kugeln vermaledeit und ihnen dermaßen den Kompaß verstellt, daß die erste den heidnischen König auf der Stadtmauer traf und die zweite das unschuldige Mägdlein und die dritte den Deutschen selbst!« (S. 22). Was die dritte Kugel betrifft, so steht Aussage gegen Aussage: Der spanische Reiter behauptet im Rekurs auf den Fluch des Garcia Novarro, sie habe Grumbach getroffen, dieser bzw. Hauptmann Glasäpflein behauptet: »und wahrhaftig, der Fluch des Garcia Novarro ist heut bis an sein End’ erfüllt: Ja, die dritte Kugel hat mich getroffen« (S. 356). Am Schicksal der dritten Kugel hängt aber die Interpretation der metaleptischen Formulierung – und mittelbar auch die Interpretation des Romans. Um für diese Formulierung, die, wörtlich genommen, keinen Sinn macht, zumindest einen übertragenen Sinn zu retten, muss die von Melchior Jäcklein auf den spanischen Reiter abgefeuerte Kugel die in der Binnenhandlung erwähnte dritte Kugel Grumbachs sein – um die Glaubwürdigkeit des spanischen Reiters als Erzähler der Binnenhandlung zu retten, darf sie es nicht sein. Entweder ist der Satz sinnlos, weil es weder die dritte Kugel war, die abgeschossen wurde, noch Grumbach/Glasäpflein von ihr getroffen wurde – oder die Glaubwürdigkeit des spanischen Reiters ist derart erschüttert, dass die »Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln« kaum vertrauenswürdiger erscheint als das »einfältige Märchen«, das die Spanier von dem Deutschen und seinen drei Kugeln erzählen und das vielleicht »in einem törichten Buche« (S. 358) stand. Hat der spanische Reiter in der Geschichte vom Grumbach und seinen drei Kugeln dem Hauptmann Glasäpflein also doch nicht dessen Lebensgeschichte erzählt? Zu den ausgeklügelten Effekten von Perutz’ Roman gehört der, dass auf Grund der Interferenz von Binnen- und Rahmenerzählung eine eindeutige Be––––––– 25

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Auf eine weitere Anomalie möchte ich nur hinweisen: Wäre die dritte Kugel nicht in der Binnenhandlung abgeschossen worden, so wäre der Effekt des Gedächtnisverlusts, den Glasäpflein zu Beginn des »Finale« der dritten Kugel zuschreibt, schon eingetreten, bevor die dritte Kugel abgeschossen wurde, denn von Amnesie war Grumbach schon lange betroffen, bevor der spanische Reiter erschossen wurde. Dass es narratologische Gründe gibt, die Glaubwürdigkeit des Erzählers zu bezweifeln, hat besonders deutlich Lüth (Drommetenrot und Azurblau [Anm. 22], S. 127f.) herausgearbeitet. Vgl. auch Mandelartz: Poetik und Historik (Anm. 8), S. 55.

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ziehung zwischen den beiden ebensowenig hergestellt werden kann wie eine glatte Interpretation des Romans.27 Wen hat die dritte Kugel Grumbachs getroffen? Gibt es eine sinnvolle Interpretation der Metalepse »Ja, die dritte Kugel hat mich getroffen«, die mit der Formulierung des Satzes in einem Zusammenhang steht? Ist denn der Fluch des Garcia Novarro tatsächlich in Erfüllung gegangen?28

3. Die Konzeption der Dritten Kugel ist indes nicht allein auf Perutz’ Experimentierund Konstruktionslust zurückzuführen. Sie steht im Zusammenhang mit jener Problematisierung von Ich-Identität, die bekanntlich eines der bestimmenden Themen der Wiener Moderne war. Eine Novelle, deren Held sich sucht, schwebte Hofmannsthal29 schon 1895 unter dem Eindruck der Lektüre von Schopenhauers Schrift Transzendentale Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen vor. Psychische Diskontinuitätserfahrungen, Formen des Selbstverlusts, mystische Ich-Erweiterungen, kurz: die ›Krise des Ich‹ wurden bald das Leitmotiv der Literatur des Jungen und Jüngsten Wien. Originell ist mithin nicht das Problem von Perutz’ Roman, sondern dessen Exemplifikation in einer spezifischen Romankonstruktion. In der Vielfalt der Verknüpfungsmöglichkeiten von Haupt- und Binnenhandlung mit der Identitätsproblematik des Helden scheint Perutz eine schwer zu überbietende Konstruktionsleistung vollbracht zu haben. ––––––– 27

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Solche Interpretationen sind bislang noch immer genötigt gewesen, dem Text der Dritten Kugel Gewalt anzutun. So hat beispielsweise Bettina Hey’l dem Roman das ›emplotment‹ von Schuld und Sühne übergestülpt: »Am Ende dieser Erzählung erfaßt Grumbach den Zusammenhang von Selbstvergessenheit und Schuld in seiner Tat: Die dritte der drei Freikugeln trifft ihn selber. Das Zeichen des entfremdeten, irrationalen Handelns hat sich so gegen ihn gewendet und die Reintegration der Persönlichkeit vollzogen. Dem Sterbenden [sic] wird bewußt, daß er zuerst in Mexiko, dann in den Glaubenskriegen jahrelang auf der ›falschen‹ Seite und damit letztlich gegen sich selbst gekämpft hat. Analyse, Autobiographie, Beichte und Aufarbeitung der geschichtlichen Vergangenheit werden zu einem integrierten Prozeß«, Bettina Hey’l: Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik, Tübingen 1994, S. 210. Vgl. auch ebd., S. 163: »Leo Perutz machte in seinem Roman […] den Völkermord an den Azteken zum Motiv eines Persönlichkeitsverlustes, zum Rahmen einer Schuld-Sühne-Problematik«. Wenn man (wie etwa Lüth: Drommetenrot und Azurblau [Anm. 22], S. 142) einräumt, dass die dritte Kugel Grumbach nur in einem übertragenen Sinne getroffen hat und dass es zudem nicht einmal die dritte Kugel Grumbachs war, die auf den spanischen Reiter abgeschossen wurde – dann bedarf die Behauptung, dass der Fluch Garcia Novarros in Erfüllung gegangen ist, einer aufwändigeren Begründung als sie bisher geliefert wurde. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Bd. XXIX: Erzählungen 2. Hrsg. v. E. Ritter, Frankfurt/M. 1978, S. 48 und 295–297.

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Strukturell betrachtet, besteht Die dritte Kugel aus zwei disjunkten Teilen, den Geschichten zweier Ich-Erzähler, von denen der eine »Präludium« und »Finale«, der andere die »Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln« erzählt. Ob die mitgeteilten Geschichten Teile einer Geschichte, nämlich der Lebensgeschichte des Protagonisten sind, bleibt offen. Der Erzähler der »Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln« kann den Zusammenhang zwischen den zwei Geschichten nicht herstellen, da er erschossen wird. Hergestellt wird der Zusammenhang schließlich vom Protagonisten selbst in der vielzitierten Metalepse. Durch ihn werden der in der Historie mitgeteilte Fluch des Garcia Novarro und das Schicksal Hauptmann Glasäpfleins formal miteinander verbunden. Auf Grund der metaleptischen Formulierung des Satzes aber bleiben Art und Inhalt dieser Verbindung rätselhaft. Die Suche nach einer Lösung des Rätsels führt den Leser in immer tiefere Verstrickungen in die Voraussetzungen der verschiedenen Lösungsmöglichkeiten. Das Ziel der Poetik dieser Verstrickung ist es ganz zweifellos, den Leser aktiv in die Identitätsproblematik des Protagonisten zu involvieren. Ob Perutz in seinem Roman indirekt auch eine Lösung dieses Identitätsproblems mitteilen wollte, kann nicht an dieser Stelle geklärt werden.

Matias Martinez

Das Sterben erzählen

Über Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun

Zwischen neun und neun, von März bis November 1917 geschrieben und 1918 im Münchner Albert Langen-Verlag erschienen, ist nach Die dritte Kugel (1915) und dem mit Leonhard Frank verfassten Gemeinschaftswerk Das Mangobaumwunder (1916) Perutz’ dritte Romanveröffentlichung. Mit Äußerungen über eigene Arbeiten ansonsten sparsam, hat Perutz ausnahmsweise ein Erlebnis mitgeteilt, das ihn zum Schreiben dieses Romans anregte. In der ungarischen Stadt Szolnok, als ich dort im Frühling 1916 auf den Abgang meiner Marschkompanie wartete, entstand in mir der Gedanke dieses Romans. Ich saß im Kaffeehaus, in dem einzigen, in dem die Freiwilligen verkehren durften, in der größten Unsicherheit über meine unmittelbare Zukunft, nur darauf bedacht, daß kein Offizier meines Regiments mich erblickte, da ich keinen Überzeitschein hatte. Da tauchte plötzlich in der Tür des Kaffeehauses die Figur eines jungen Mannes auf, dessen Anblick mich mehr verblüffte, als wenn er ein Offizier gewesen wäre. Ich kann es heute nicht sagen, was der Grund der über mich hereingebrochenen lähmenden Unruhe war. Vielleicht sein unsteter Blick, vielleicht die eigentümliche Art, mit der er seinen Arm und seine Hand unter seinen Wetterkragen steckte. Einige Augenblicke starrte er – mit unverständlicher Erregung – in den Zigarettenrauch des Kaffeehauses, dann machte er Kehrt um und verschwand. Ich sah ihn niemals mehr. Er war Stanislaus Demba. 1

Diese Begegnung hatte Folgen. Die Handlung von Zwischen neun und neun ist maßgeblich von einem einzigen Motiv geprägt, das Perutz offenbar unter dem Eindruck der Begegnung mit dem Unbekannten im Szolnoker Kaffeehaus entwickelte: eine Flucht in Handschellen. Die große Prägnanz dieses Motivs trug wohl dazu bei, dass der Roman zu Perutz’ erstem großen literarischen Erfolg wurde. Er wurde, unter dem Titel Freiheit, vom 1. Juni bis 29. Juli 1918 im Berliner Tageblatt und vom 1. August bis 6. Dezember in der Prager Deutschen Zeitung Bohemia vorabgedruckt und bis 1930 in acht Sprachen übersetzt. Der Schriftsteller ––––––– 1

Das schreibt Perutz begleitend zum Abdruck des Romans in der Wiener Arbeiter-Zeitung vom 18.11.1921, zitiert nach Leo Perutz 1882–1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Wien u.a. 1989, S. 81. Die Hinweise zur Entstehung und Rezeption des Romans folgen den Angaben dieses grundlegenden, von Hans-Harald Müller und Britta Eckert erarbeiteten Katalogs, vgl. ebd., S. 80–95.

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Matias Martinez

und Regisseur Hans Sturm arbeitete den Roman in eine gleichnamige Tragikomödie in sieben Bildern um, die am 20.9.1925 am Schauspielhaus Hamburg uraufgeführt wurde; eine Berliner Aufführung vom selben Jahr wurde immerhin von Alfred Döblin und Alfred Kerr rezensiert. Wenig erstaunlich, dass sich auch Filmregisseure für den Roman und sein dramaturgisch reizvolles Hauptmotiv interessierten. Friedrich Wilhelm Murnau erkundigte sich bei Perutz, ob dieser ihm nicht eine ähnliche Geschichte liefern könne. Alfred Hitchcock ließ sich vom Handschellenmotiv zu einer zentralen Szene seines meisterhaften Jack-theRipper-Stummfilms The Lodger. A Story of the London Fog (1926) inspirieren. Eine Verfilmung des gesamten Romans kam hingegen nie zustande, obwohl Perutz 1922 die Film- und 1929 die Ton- und Sprechfilmrechte an Metro Goldwyn Mayer verkaufen konnte. Der Roman erzählt von der Flucht des Wiener Studenten Stanislaus Demba vor der Polizei. Eines Morgens um 9 Uhr wird Demba wegen Bücherdiebstahls festgenommen und mit Handschellen gefesselt. Er entkommt den Polizisten durch einen tollkühnen Sprung vom Hausdach und irrt tagsüber durch Wien. Dabei gerät er mit seinen gefesselten Händen immer wieder in Nöte. Was immer er versucht: sich im Laden ein Butterbrot zu kaufen, das Brot auf einer Parkbank zu essen, mit einer Passantin anzubandeln, in einer Kneipe Bier zu trinken, in einem Restaurant zu speisen, alte Schulden einzutreiben, Domino zu spielen, um Geld zu gewinnen – letztlich scheitern alle seine Bemühungen daran, dass er seine gefesselten Hände nicht verwenden kann, weil er sich sonst entlarven würde. Der größte Teil der Handlung besteht aus der Serie von Zwängen, Peinlichkeiten und Missgeschicken, die das zentrale Motiv generiert. Der episodische Handlungsaufbau des Romans gestattet es Perutz, einen Figurenreigen aus unterschiedlichen sozialen Milieus zu skizzieren – Kindermädchen, Gewerbetreibende und Diebe ebenso wie Angestellte, Professoren und wohlhabende Damen. Zwei Frauenfiguren erscheinen mehrfach: die launisch-leichtlebige Sonja, mit der Demba in den Urlaub fahren möchte, und die gutherzige Steffi, die Demba hilft, ohne dass dieser ihre Liebe zu ihm bemerkt. Die für die Entstehung ebenso wie für das fertige Werk zentrale Rolle des Motivs der Flucht in Handschellen ist am ersten überlieferten Arbeitstitel des Projekts ablesbar. Am 19. Februar 1915 notierte Perutz in sein Notizbuch: »Eine Idee zu einer Novelle: ›Der Mann mit den Handschellen‹.«2 Perutz änderte diesen Titel später vielleicht deswegen, weil er dem Leser nicht von vorneherein die Ursache von Dembas Problemen bekanntgeben wollte. Wenngleich nämlich die gesamte Romanhandlung vom Hauptmotiv bestimmt ist, erfährt der Leser doch ––––––– 2

Ebd., S. 80.

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erst in der Mitte des Textes, in den Kapiteln 8 bis 10, von der Existenz der Handschellen, als nämlich Demba Steffi die Vorgeschichte seiner Flucht erzählt. Bis dahin ist die Lektüre des Romans von der Rätselspannung geprägt, die durch Dembas merkwürdiges, erklärungsheischendes Verhalten entsteht; der Leser steht Dembas Aktionen ähnlich verständnislos gegenüber wie die Figuren, denen Demba begegnet. Nach erfolgter Aufklärung tritt in der zweiten Hälfte des Romans an die Stelle der Rätselspannung eine Ereignisspannung, nämlich die Frage, ob Demba seine Ziele, die Befreiung von den Handschellen und die Beschaffung des Geldes für die Reise mit Sonja, erreichen können wird.3 Die nachhaltigste emotionale Wirkung, die der Roman beim Leser hervorruft, ist allerdings nicht die aus diesen Spannungselementen entstehende Neugier, sondern die Überraschung, welche das Ende des Romans erzeugt. Als Demba am Ende der langen Flucht zusammen mit Steffi in sein eigenes Zimmer zurückkehrt – es ist inzwischen 9 Uhr abends –, naht erneut die Polizei und beginnt, die verschlossene Zimmertür aufzubrechen. In diesem Moment geschieht etwas Merkwürdiges. Die eben noch anwesende Steffi verschwindet aus Dembas Blickfeld: »Steffis Bild sank […] in sich zusammen, wurde zur Nebelwolke, löste sich und verflog in nichts« (S. 226).4 Dembas Zimmer verwandelt sich plötzlich in den Dachboden, von dem er noch am selben Morgen der Polizei durch einen Sprung auf die Straße entkommen war: »Demba stand auf. Er stieß mit dem Kopf an das Balkenwerk des Dachbodens« (S. 226). Und auf der letzten Seite des Romans heißt es schließlich: [Demba] raffte sich auf und trat an die Dachluke. Verdammt! Der Malzgeruch! Wie kommt der furchtbare Malzgeruch hierher? Eine Turmuhr schlägt. Neun Uhr! Morgens? Abends? Wo bin ich? Wo war ich? Wie lang steh’ ich schon hier und hör’ die Turmuhr schlagen? Zwölf Stunden? Zwölf [Sekunden]?5 Die Tür springt auf. […] – Jetzt – das Schieferdach glänzt so fröhlich in der Morgensonne – zwei Schwalben schießen erschreckt aus ihren Nestern – – Als die beiden Polizisten – kurz nach neun Uhr morgens – den Hof des Trödlerhauses in der Klettengasse betraten, war noch Leben in Stanislaus Demba. Sie beugten sich über ihn. Er erschrak und versuchte aufzustehen. Er wollte fort, rasch um die Ecke biegen, in die Freiheit. Er sank sogleich zurück. Seine Glieder waren zerschmettert, und aus einer Wunde am Hinterkopf floß Blut. (S. 227)

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Vgl. Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Leo Perutz: Zwischen neun und neun. Roman. Hrsg. v. H.-H. M., Wien 1993, S. 233f. Zitate im Haupttext mit Seitenzahl nach der Ausgabe von 1993 (Anm. 3). In der gedruckten Ausgabe des Romans steht an dieser Stelle irrtümlich »Zwölf Stunden? Zwölf Stunden?«; der Text ist hier nach der Originalhandschrift korrigiert (freundlicher Hinweis von Harry Müller).

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In dieser Passage wird zunächst im Präsens und in der 1. Person eines inneren Monologes vom subjektiven Wahrnehmungsstandpunkt Dembas aus gesprochen. Dann wechselt die Erzählung unvermittelt ins Präteritum und in die 3. Person und stellt Dembas Tod aus der perspektivisch unbeschränkten Sicht eines allwissenden Erzählers dar. Erst jetzt wird dem Leser deutlich gemacht, dass Dembas Flucht – und damit der weitaus umfangreichste Teil der erzählten Handlung – in Wahrheit bereits um 9 Uhr morgens, unmittelbar nach dem ersten Sprung vom Hausdach, ihr Ende fand. Eine Reihe von Motivwiederholungen verklammert den (vermeintlichen, vom sterbenden Demba bloß imaginierten) zweiten Sprung um 9 Uhr abends mit dem realen ersten Sprung um 9 Uhr morgens: So wie beim vermeintlichen zweiten schlägt auch beim ersten Sprung eine Kirchturmuhr 9 Uhr (S. 108), schießen »zwei Schwalben aus ihrem Nest neben der Dachluke« (S. 109), spielt ein Grammophon »Prinz Eugenius, der edle Ritter« (S. 108), liegt ein »ekelhafter Malzgeruch« in der Gasse (S. 99f. und 111). Diese Motivwiederholungen signalisieren dem Leser, dass der zweite Sprung vom Dach identisch mit dem ersten ist. Die erzählte Zeit währt also nicht zwölf Stunden, von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, sondern in Wahrheit nur wenige Augenblicke um 9 Uhr morgens. Alle Episoden zwischen dem ersten und dem zweiten Sprung fanden nicht in der (fiktiven) Realität des Romans, sondern lediglich im Bewusstsein des sterbenden Demba statt. Bereits vor dem überraschenden Romanende wird verschiedentlich die Irrealität der Flucht angedeutet (was dem Leser freilich erst bei wiederholter Lektüre auffällt). So gebraucht, um nur einige Beispiele aus dem 6. Kapitel zu nennen, der Bankbeamte Willy Eisner im Gespräch mit Demba die Redewendung »Sprung ins Ungewisse« (S. 76) in übertragener Bedeutung, während Demba sie wörtlich auslegt – und damit indirekt auf seinen Sprung vom Dachboden verweist. Eisner wirft Demba daraufhin vor, es könnten »nicht alle Ihre Phantasie haben«, und fragt ihn: »Haben Sie immer so lebhafte Träume?« (S. 77). Damit wird auf die Irrealität von Dembas Flucht angespielt. Und schließlich verabschiedet Eisner sich mit Worten, die Dembas Tod andeuten: »Grüß Sie der Himmel« (S. 78).6 Noch deutlicher wird die Irrealität von Dembas Fluchtgeschichte im 8. Kapitel angezeigt: »Vielleicht träume ich«, sagte Demba leise. »Sicher ist alles nur ein Traum. Ich liege zerschlagen und zerfetzt irgendwo in einem Spitalbett, und du und deine Stimme und

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Welcher Textinstanz müssen wir eigentlich diese Andeutungen zuschreiben? Sie werden zwar von der Figur Eisner ausgesprochen. Als enthüllende Andeutungen über den wahren Status von Dembas Flucht können sie aber nicht von der Figur Eisner stammen, die ja selbst Teil der Fluchtphantasie ist. Vielmehr teilt sich hier, auf indirekte Weise, ein allwissender Erzähler mit.

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das Zimmer da, ihr seid nur ein Fiebertraum der letzten Minuten. […] Vielleicht trägt mich in diesem Augenblick ein Rettungswagen durch die Straßen oder vielleicht lieg’ ich noch immer in dem Garten unter dem Nußbaum auf der Erde und hab’ das Rückgrat gebrochen und kann nicht aufstehen und hab’ die letzten Gesichte und Visionen – « (S. 90).

Ungeachtet solcher Andeutungen enthüllt sich die Flucht erst am Schluss als eine bloße Sterbephantasie. Der vom Leser zunächst unterstellte Verstehensrahmen erweist sich jetzt als falsch und wird durch einen alternativen ersetzt. 7 Insofern ist Zwischen neun und neun eine ›rückwirkende Überraschungsgeschichte‹. Denn die affektive Wirkung, die der Romanschluss beim Leser hervorruft, ist nicht Neugier oder Spannung, sondern Überraschung. Das Gefühl der Überraschung stellt sich ja dann ein, wenn dem Leser die Kenntnis eines relevanten Handlungsdetails vorenthalten wird, ohne dass er um sein Informationsdefizit weiß, und dieses Defizit schließlich durch die Mitteilung der relevanten Information aufgehoben wird. Rückwirkend ist diese Überraschung, weil sie vom Ende her die gesamte Geschichte einem grundsätzlich anderen Verständnis zuführt. Perutz schrieb, er habe den Eindruck, »daß das Leben Stanislaus Dembas nicht das Schicksal eines einzelnen ist«; vielmehr erscheine es ihm »als das Symbol der in Schlingen verstrickten und in Ketten geschlagenen Menschheit«.8 Offenbar wollte Perutz Dembas Fesselung in einem übertragenen Sinne verstanden wissen. Die Handschellen sind ein Dingsymbol für weit allgemeinere »Schlingen« und »Ketten«, welche die menschliche Existenz begrenzen. Darauf verweist auch der für die Zeitungsvorabdrucke gewählte Titel Freiheit. Demba, der meint, dass er vor seiner Flucht »Souverän meiner Zeit gewesen war« (S. 107), ist zwar in der Lage, zumindest im Modus der Halluzination um seine Befreiung zu kämpfen. Doch selbst in diesem subjektiven Modus gelingt ihm keine Befreiung, denn die wahren Zwänge, denen er unterliegt, bestehen nicht aus Handschellen, sondern liegen in seinem Charakter. Die imaginierte Flucht ist allerdings nicht nur die Geschichte eines ständigen Scheiterns, sondern auch eine Wunscherfüllungsphantasie. Als Demba sich morgens auf den Dachboden flüchtet und seiner unausweichlichen Gefangennahme entgegensieht, schießen ihm einige Dinge durch den Kopf, die er gern noch getan hätte: ––––––– 7

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Perutz setzt solche Rahmenwechsel in vielen seiner Romane ein, siehe meine Übersicht in Matias Martinez: Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz. In: B. Forster u. H.-H. Müller (Hrsg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 107–129, bes. S. 119–121. Perutz anlässlich des Abdrucks seines Romans in der Wiener Arbeiter-Zeitung vom 18.11.1921, zitiert nach Leo Perutz 1882–1957 (Anm. 1), S. 81.

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Matias Martinez Zwecklose und unwichtige Dinge: […] ein Glas Bier durch einen Strohhalm [austrinken], irgendeinem fremden Menschen auf Schritt und Tritt nachzugehen, um zu sehen, was er treibt […], [sich] auf eine Bank im Stadtpark setzen und auf Abenteuer warten und irgendein Mädchen mit einer tollen, erfundenen Geschichte erschrecken […], den Bauernfängern beim Bukispielen […] zuschauen […] – alles das schoß mir durch den Kopf, alles das hätte ich noch gestern tun können, unwichtige Dinge, gewiß, lächerliche Dinge, aber es war die Freiheit. (S. 107)

Eben diese Wünsche erfüllt Demba sich dann in seiner Imagination: In Kapitel 3 erschreckt er mit einer Geschichte das junge Fräulein Alice, in Kapitel 13 folgt er dem Betrüger Kallisthenes Skuludis, in Kapitel 15 nimmt er an einem Bukidominospiel teil, in Kapitel 17 trinkt er Bier aus einem Strohhalm. Im Moment seiner ersten Festnahme wünscht sich Demba »nur noch einen Tag Freiheit, nur noch zwölf Stunden Freiheit! Zwölf Stunden!« (S. 108); auch diesen Wunsch erfüllt er sich mit seiner Fluchtgeschichte. Einige Interpreten sind der Auffassung, Zwischen neun und neun sei ein phantastischer Roman. So meint Didier Viaud, Dembas Fluchtphantasie stelle eine Vision »›phantastischer‹ Art« dar.9 Auch Reinhard Lüth vertritt die Ansicht, Dembas Sterbevision sei ein phantastisches Element, weil es »keine objektiven Erfahrungswerte« darüber gebe, »was im Gehirn eines Sterbenden […] vor sich geht«.10 Konsequenterweise müsste man Zwischen neun und neun dann auch insgesamt als einen phantastischen Roman bezeichnen. Aber das wäre unzutreffend. Zwar ist es offensichtlich richtig, dass wir, solange wir am Leben sind, nicht aus eigener Erfahrung wissen können, was ein Sterbender subjektiv erlebt. Zu sterben ist eine an die Perspektive der ersten Person gebundene Erfahrung, die, anders als andere Erfahrungen, grundsätzlich nicht mitgeteilt werden kann. Martin Heidegger bezeichnet diesen Umstand als die unvermeidliche »Jemeinigkeit« des Sterbens und des Todes: »Der Tod ist, sofern er ›ist‹, wesensmäßig je der meine.«11 Damit stehen wir vor dem zentralen logischen Dilemma von Sterbeerzählungen wie Zwischen neun und neun: Mit dem Eintreten des Todes erlischt zugleich auch die Möglichkeit sich mitzuteilen. »Der Übergang zum Nichtmehrdasein hebt das Dasein gerade aus der Möglichkeit, diesen Übergang zu erfahren und als erfahrenen zu verstehen.«12 Indem Perutz’ Roman uns ein Sterben vorstellt, überschreitet er also die Grenzen des empirisch Nachprüfbaren und ––––––– 9

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Didier Viaud: Zeit und Phantastik (Die Zeit als Mittel des Phantastischen in den Romanen von Leo Perutz »Zwischen neun und neun« und »Sankt Petri-Schnee«). In: Quarber Merkur 30 (1992), Nr. 78, S. 47. Reinhard Lüth: Drommetenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia, Meitingen 1988, S. 166, ähnlich S. 286. Martin Heidegger: Sein und Zeit. 15. Aufl., Tübingen 1979, S. 240. Ebd., S. 237.

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Mitteilbaren. Aber die Verwendung von empirisch nicht Nachprüfbarem versetzt den Roman nicht schon ohne weiteres in den Bereich der phantastischen Literatur. Wäre dem so, dann reichte z.B. bereits das Auftreten eines allwissenden Erzählers hin, um den Text in den Bereich der phantastischen Literatur zu versetzen – denn ein allwissender Erzähler verfügt ja über einen übermenschlichen, sozusagen ›phantastischen‹ Zugang zum Bewusstsein anderer. Dennoch werden literarische Werke nicht allein schon wegen des Auftretens eines allwissenden Erzählers als phantastische Texte eingeordnet. Bekanntlich bedienen sich gerade Romane des Realismus in der Regel allwissender Erzähler. Der Zugang zum Bewusstsein anderer (also auch: zum Bewusstsein Sterbender) stellt vielmehr eine Erzählkonvention dar, die in unserer Kultur, ungeachtet ihrer empirischen Unmöglichkeit, als ›natürlich‹ zugelassen ist. Zwischen neun und neun ist kein phantastischer Roman, denn der Leser schwankt an keiner Stelle zwischen einer realitätskompatiblen und einer realitätsinkompatiblen Deutung des Geschehens; vielmehr wechselt er, am überraschenden Ende des Textes, von einem bestimmten, realitätskompatiblen Verständnis des Geschehens zu einem anderen, ebenso realitätskompatiblen. Handelt es sich bei Zwischen neun und neun um einen Fall unzuverlässigen Erzählens? Der Roman führt den (erstmaligen) Leser zwar bis zur Schlusssequenz in die Irre, weil er die Geschichte von Dembas Flucht im Rahmen der erzählten Welt für wahr halten muss. Andererseits behauptet der Erzähler aber auch nicht einfach die Unwahrheit: In gewisser Weise hat sich die Flucht in der erzählten Welt ja tatsächlich zugetragen – allerdings nicht als physisches Geschehen, sondern als halluzinatorisches Abenteuer im Bewusstsein des sterbenden Demba. Der Leser wird also nicht über den Inhalt der Fluchtgeschichte in die Irre geführt, wohl aber über deren Seinsweise. Vergleichen wir zur Verdeutlichung das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens mit dem Lügen: Ein Lügner versucht, seinen Gesprächspartner zu einer falschen Meinung zu verleiten. Man kann semantische und pragmatische Formen des Lügens unterscheiden. Im Fall einer semantischen Lüge behauptet der Lügner wider besseren Wissens explizit einen falschen Sachverhalt (›Wenn Sie jetzt kündigen, erhalten Sie eine hohe Abfindung‹, wenn keine Abfindung beabsichtigt ist); im Fall einer pragmatischen Lüge behauptet der Lügner zwar nicht ausdrücklich etwas Falsches, verleitet den Gesprächspartner aber indirekt durch Implikationen seiner Aussage zu einer falschen Annahme (›Ich wäre ein unsozialer Arbeitgeber, wenn ich Ihnen im Falle einer Kündigung keine Abfindung zahlte‹). Analog zu dieser Unterscheidung zwischen zwei Formen des Lügens kann man vielleicht sagen, dass in Zwischen neun und neun keine semantische, sondern eine pragmatische Form unzuverlässigen Erzählens vorliegt: Der Erzähler lügt zwar nicht ausdrücklich, führt den Leser aber dadurch in die Irre, dass er den halluzinatorischen Charakter der Flucht bis zum Schluss verschweigt.

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Obwohl es sich um eine subjektive Sterbephantasie handelt, wird die Geschichte nicht durchgehend aus Dembas Sicht erzählt. Im Gegenteil: In der Regel führt ein allwissender Erzähler das Wort, der einen direkten Zugang zu Dembas Innenleben besitzt (»Demba jubelte innerlich« [S. 138]) und seinen Protagonisten sogar besser als der sich selbst kennt (»Aber Stanislaus Dembas Hirn war ganz beherrscht von dem Gedanken, mit Geld den Rivalen aus dem Feld zu schlagen. Er vergaß darüber alle Klugheit und alle Vorsicht« [S. 125]). Dieser Erzähler weiß auch ansonsten über Dinge Bescheid, die Demba unbekannt bleiben. Er berichtet z.B. von Gedanken anderer Figuren (»Durch Sonjas Kopf raste ein einziger Gedanke: Zeit gewinnen!« [S. 58]) oder auch von Ereignissen, bei denen Demba gar nicht zugegen ist (vgl. beispielsweise gleich zu Beginn des ersten Kapitels die Schilderung des Ladens der Greislerin Johanna Püchl). Erzähllogisch ist dieser allwissende Erzähler paradox: Obwohl der Romanschluss die komplette Handlung rückwirkend als imaginäre Fluchtphantasie eines Sterbenden enthüllt, wird sie nicht in interner Fokalisierung (d.h. vom Wahrnehmungsstandpunkt und dem Wissenshorizont des sterbenden Demba aus), sondern in der Rede eines allwissenden Erzählers dargestellt. Dadurch entsteht eine Unvereinbarkeit zwischen dem erzählten Inhalt und der Form des Erzählens im Sinne einer mangelnden empirischen Plausibilität der Erzählsituation – gemessen am Standard normaler nichtfiktionaler Rede: »Denn wie kann ein Erzähler eine Geschichte in den Bereich des Traums verweisen, die er auf durchsichtige Weise nicht als Traum geschildert hat?«13 Diese merkwürdige Konstruktion wurde von zeitgenössischen Rezensenten des Romans als Kunstfehler kritisiert. Alfred Kerr sprach von der »offenbaren Traumunmöglichkeit« dieser Erzählhaltung: »Wie Sterbende träumen, steht nicht fest. Nur, daß sie sooo nicht träumen, steht fest.«14 Demgegenüber schlägt HansHarald Müller vor, Perutz’ vermeintlichen Konstruktionsfehler als eine »aporetische Leseanweisung« zu verstehen. Müller deutet die Schlusswendung des Romans als »Aufforderung […], den Traum zu lesen, als sei er Wirklichkeit«.15 Die Flucht sei als Beweis dafür zu verstehen, dass Dembas geschenktes »zweites Leben« sich von seinem ersten Leben kaum unterschieden hätte: Lesen wir die Geschichte des Stanislaus Demba nicht als Traum, sondern – in Übereinstimmung mit dessen Erzählweise – als reales Geschehen, so erzählt sie von einem

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Müller: Nachwort (Anm. 3), S. 238. Kerrs Kritik bezieht sich zwar auf die dramatisierte Fassung, ist aber auch für den Roman einschlägig, siehe Alfred Kerr: Leo Perutz und Hans Sturm: »Zwischen neun und neun«. Theater in der Königgrätzer Straße. In: Berliner Tageblatt vom 24.12.1923, zitiert nach Leo Perutz 1882–1957 (Anm. 1), S. 94–95, S. 95. Müller: Nachwort (Anm. 3), S. 243f.

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Mann, in dem selbst die Konfrontation mit dem Tod keine Spuren hinterläßt: Er bleibt in seinem zweiten Leben Sklave all jener Leidenschaften, die ihn im ersten schon umtrieben.16

Eine andere (mit Müllers Deutung durchaus vereinbare) Rechtfertigung des vermeintlichen Konstruktionsbruchs lässt sich gewinnen, wenn man Perutz’ Roman mit Ambrose Bierces An Occurrence at Owl Creek Bridge (1891) vergleicht. Dass Perutz die berühmte Erzählung des US-Amerikaners kannte, als er Zwischen neun und neun schrieb, ist freilich ungewiss. Es gibt dafür keine Belege, zudem erschien die erste deutsche Übersetzung von Bierces Erzählung erst 1920.17 Mir geht es aber nicht um Beeinflussung, sondern um einen Vergleich der Erzählanlage. Die Werke weisen in dieser Hinsicht große Gemeinsamkeiten auf: In beiden Fällen handelt es sich um die Fluchtphantasie eines Sterbenden, in beiden Fällen wird der halluzinatorische Charakter der Flucht (ungeachtet vorheriger Andeutungen) erst am Ende deutlich, in beiden Fällen kehrt die Handlung durch eine pseudophantastische Verwandlung der Schlusszene an den Ausgangsort zurück. Wie wir gesehen haben, gestaltet Perutz die schließliche Enthüllung des Halluzinationscharakters durch einen Wechsel der Erzählperspektive vom inneren Monolog (1. Person, Präsens) zur allwissenden Erzählerrede (3. Person, Präteritum). Ähnlich verfährt Bierce in seiner Geschichte aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Am Ende der Erzählung scheint der Protagonist Peyton Farquhar auf seiner Flucht – der Südstaatler Farquhar sollte wegen einer vereitelten Sabotageaktion von Soldaten der Nordstaaten an einer Brücke über den Owl Creek erhängt werden, der Strick war entzweigerissen, Farquhar in den Fluss gestürzt und entkommen – am heimischen Landgut anzukommen: He stands at the gate of his own home. […] his wife, looking fresh and cool and sweet, steps down from the veranda to meet him. […] He springs forward with extended arms. As he is about to clasp her he feels a stunning blow upon the back of the neck; a blinding white light blazes all about him with a sound like the shock of a cannon – then all is darkness and silence! Peyton Farquhar was dead; his body, with a broken neck, swung gently from side to side beneath the timbers of the Owl Creek bridge. 18

Ebenso wie Perutz wechselt auch Bierce an dieser Schlüsselstelle das Tempus, um den Übergang vom subjektiven Erleben (Präsens) zur objektiven Bericht––––––– 16 17

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Ebd., S. 243. Vgl. »Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700–1910« (München u.a. 1979–1987) und »Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums« 1911–1965« (München u.a. 1976–1981). Ambrose Bierce: An Occurrence at Owl Creek Bridge. In: Ders.: Collected Writings, Secaucus O.J. 1946, S. 17f.

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erstattung (Präteritum) hervorzuheben. Allerdings besteht auch ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Texten. Bierce stellt die gesamte Fluchtphantasie konsequent vom Wahrnehmungsstandpunkt Farquhars aus dar, während Perutz Dembas Sterbephantasie nicht vom subjektiven Standpunkt seines Protagonisten, sondern überwiegend aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers wiedergibt. Indem Perutz, wie gesagt, eine Erzählform (allwissendes Erzählen) verwendet, die mit dem erzählten Inhalt (Sterbephantasie) nicht vereinbar ist, verzichtet er auf eine Naturalisierung seines Erzählens, nämlich auf eine stimmige Erzählkonstruktion.19 Darin zeigt sich wohl weniger ein Fehler von Perutz als vielmehr seine – in anderen Aspekten seines Textes weniger prägnante – Modernität. Es ist bekanntlich ein Kennzeichen moderner Erzählliteratur, den Konstruktcharakter des literarischen Werkes zu demonstrieren. So findet auch der Konstruktionsbruch in Zwischen neun und neun durchaus eine ästhetische Legitimation z.B. in den Schriften der Russischen Formalisten, die in denselben Jahren wie unser Roman entstanden.20 Hingegen folgt Bierces Erzählverfahren einer mimetisch-realistischen Ästhetik, die das fiktionale Erzählen den Konventionen und Plausibilitätskriterien eines ›natürlichen‹, alltäglich-faktualen Erzählens anzugleichen sucht. Allerdings ist festzuhalten, dass es hier um Konventionen des vermeintlich Natürlichen geht – denn die Realität des Sterbemoments ist empirisch nicht mitteilbar, so dass im Grunde genommen auch Bierces Darstellung notwendigerweise Fiktion bleibt. Die reale Unmöglichkeit, die Erfahrung des Sterbens erzählend mitzuteilen, führt uns zu einer letzten Überlegung über den Sinn der paradoxen Logik des Erzählens in Perutz’ Roman. Fiktionale Sterbegeschichten21 wie Zwischen neun und neun teilen dem Leser in hypothetischer Weise eine Erfahrung mit, die in der modernen Gesellschaft mehr und mehr ausgeblendet wurde: Sterben und Tod. Kulturhistoriker wie Philippe Ariès beobachten in unserer Kultur ein zunehmende Verdrängung und Tabuisierung des Todes: »Die alte Einstellung, für die ––––––– 19

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Zum Begriff der Naturalisierung (›naturalization‹) vgl. Jonathan Culler: Convention and Naturalization. In: Ders.: Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature, London 1975, S. 131–160. Etwa in Viktor Šklovskijs Essay »Die Kunst als Verfahren« (1916). Die verdeckte Modernität des Erzählers Leo Perutz zeigt sich auch in anderen Werken, vgl. meine Beobachtungen in Matias Martinez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996, S. 201f. (zum Stellenwert des Übernatürlichen in Der Marques de Bolibar) und in Martinez: Proleptische Rätselromane (Anm. 7), S. 125f. (zur Virtuosität von Perutz’ phantastischen Romanen). Zur Gattung der fiktionalen Sterbegeschichte vgl. Dieter Lamping: Die fiktionale Sterbegeschichte. In: D. Weber (Hrsg.): Von der Wachstafel zum Tonbandgerät. Vier Beiträge zur Literatur für Jürgen Born zum 60. Geburtstag. Wuppertaler Broschüren zur Allgemeinen Literaturwissenschaft 1 (1987), S. 71–99.

Das Sterben erzählen

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der Tod nah und vertraut und zugleich abgeschwächt und kaum fühlbar war, steht in schroffem Gegensatz zur unsrigen, für die er so angsteinflößend ist, daß wir ihn kaum beim Namen zu nennen wagen«.22 Nun sind aber Tod und Sterben andererseits unabweisbare Tatsachen, die sich nicht gänzlich und auf Dauer ignorieren lassen. Die Literatur bietet in Form von Sterbegeschichten eine entlastete Möglichkeit an, sich mit einem gesellschaftlich abgedrängten Thema wie Sterben und Tod zu beschäftigen. Literarisch-fiktionale Sterbegeschichten befriedigen aber auch ein noch fundamentaleres Interesse, nämlich eine existentielle Neugier, die in unserem realen Leben grundsätzlich unerfüllbar bleibt: Diese Geschichten erzählen vom Sterben aus der Innensicht des Sterbenden. Das ist eine spezifische Möglichkeit der literarischen Fiktion. Sie vermittelt eine Erfahrung, die Leser während ihres eigenen Lebens nicht machen können. Der Preis, den die Literatur dafür zahlt, dass sie diese unmögliche Erfahrung zugänglich macht, ist deren eingeschränkte, lediglich spekulative Geltungskraft: Es handelt sich um hypothetische Sterbemomente, die nicht empirisch zu beglaubigen sind.

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Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München 1980, S. 42.

Wilhelm Schernus

Der Marques de Bolibar oder: Ein Spiel mit der Romanform

Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind Fragen, die Hans-Harald Müller im »Nachwort« zu seiner Neuedition des Romans Der Marques de Bolibar aufgeworfen, aber nicht intensiver weiterverfolgt hat.1 Ihnen ein Stück nachzugehen, scheint mir die Aussicht zu eröffnen, einen weiteren, tiefer reichenden Blick in die erzähltechnisch raffiniert ausgestattete Werkstatt des Erzählkünstlers Leo Perutz werfen zu können. Im Wesentlichen betreffen sie die Stellung des fiktiven Herausgebers sowie das Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählung. In meinen Ausführungen werde ich einige Aspekte sowie gewisse Auffälligkeiten im Erzählaufbau aufnehmen und näher betrachten, auf die komplexen inhaltlichen Deutungsprobleme und Deutungsmöglichkeiten, wie sie etwa allein in der Binnengeschichte geboten werden, hingegen nicht eingehen. Für seinen Roman Der Marques de Bolibar wählt Perutz wie für die meisten seiner Romane eine Erzählform, die sich aus Rahmen und Binnengeschichte aufbaut. Im Marques bildet das sich paratextuell gebende »Vorwort« eines weder leiblich noch namentlich in Erscheinung tretenden Bearbeiters und wohl auch Herausgebers den Rahmen. Die dem »Vorwort« folgenden, in Ich-Form abgefassten Memoiren Eduard von Jochbergs bieten die Binnenerzählung. So konventionell diese Erzählform auf den ersten Blick auch erscheinen mag – und Perutz lässt diese Sicht durchaus zu und ermöglicht es dem Leser so, sich ganz der Spannung der Binnenerzählung und der in ihr aufgeworfenen Probleme hinzugeben –, ein etwas geschärfter Blick genau auf diese Konstruktion ist geeignet zu zeigen, wie wohlkalkuliert die Komposition tatsächlich ist und zu welch raffiniertem Spiel Perutz seine Leser hier einlädt. Auch für diesen Roman nutzt Perutz eine – wie Hans-Harald Müller es nennt – »poröse Stelle der historischen Überlieferung, zu der es keine oder widersprüchliche Quellen gibt« (S. 269), um ein Geschehen in Gang zu setzen, das zwar unterschiedliche Deutungen zulässt, ––––––– 1

Der Roman ist in den Jahren 1918/19 entstanden und 1920 im Verlag Albert Langen in München erstmals als Buch erschienen. Ich benutze hier die Ausgabe Leo Perutz: Der Marques de Bolibar. Roman. Hrsg. v. H.-H. Müller, Wien 1989. – Zitate werden aus dieser Ausgabe durch Seitenzahlen im Text nachgewiesen.

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Wilhelm Schernus

im Resultat jedoch in keiner Weise von ihr abweicht. Worin nun besteht diese »poröse Stelle« und wie wird sie von Perutz in Szene gesetzt? Im Nassauischen Dillenburg stirbt kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 der Rittergutsbesitzer und ehemalige Leutnant im Regiment »Nassau« der Rheinbundtruppen Eduard von Jochberg. Zur Überraschung aller findet sich »in seinem Nachlaß, sorgfältig geordnet, verschnürt und versiegelt, ein Stoß Schriften«, die sich »als des Leutnant Jochbergs Denkwürdigkeiten aus dem spanischen Feldzug Napoleons I.« (S. 7) erweisen. Diese Information entnehmen wir dem »Vorwort«, das dem 19 Kapitel umfassenden Bericht Jochbergs vorangestellt ist und sich als von einem anonym bleibenden Bearbeiter und Herausgeber dieser »Denkwürdigkeiten« verfasst präsentiert. Jochbergs Memoiren, so erfahren wir von diesem – fiktiven – Herausgeber, hätten »in der ganzen Provinz Nassau und im angrenzenden Großherzogtum Hessen« außerordentliches Aufsehen erregt, denn sie »behandelten nämlich ein dunkles und vorher niemals aufgeklärtes Kapitel der vaterländischen Kriegsgeschichte: Die Vernichtung der beiden heimischen Regimenter ›Nassau‹ und ›Erbprinz von Hessen‹ durch spanische Guerillas« (S. 7f.). Der Fund – so will uns der Herausgeber glaubhaft machen – stellte eine Sensation ersten Ranges dar, denn »[e]rst Leutnant Jochbergs hinterlassene Schriften geben Aufschluß über die seltsamen Vorgänge, die letzten Endes zu der Tragödie von La Bisbal geführt haben« (S. 9). Diese »seltsamen Vorgänge« sind so ungeheuerlich wie im Grunde unfassbar. Mit größtem Nachdruck stellt dieser Herausgeber fest: Wenn Leutnant Jochbergs Darstellung richtig ist, dann ist die Vernichtung des Regiments »Nassau« – ein in der Kriegsgeschichte aller Zeiten wohl einzig dastehender Fall – von seinem Offizierskorps mit vollem Bewußtsein, ja beinahe planmäßig herbeigeführt worden! (S. 9; Hervorhebung im Original)

In der fiktionalen, in der erzählten Welt dieses Herausgebers – seine Erzählzeit dürfte auf das Jahr 1871 anzusetzen sein – ist die Tatsache des ›Verschwindens‹ der beiden genannten Regimenter sicher kein Geheimnis, dafür aber mit unrühmlichen und unangenehmen Erinnerungen verbunden. Teile des Nassauischen Kontingents der immer wieder neu formierten und unter französischem Kommando stehenden Rheinbundtruppen, seit 1806 auf den Kriegsschauplätzen Europas und seit 1808 in Spanien unterwegs, sind im Dezember 1813 entweder gefangengesetzt und entwaffnet worden oder schon vorher zu den anti-napoleonischen britischen Truppen übergelaufen. Ihr ›Verschwinden‹ erklärte sich dann daraus, dass sie danach aus den Listen des Rheinbundes gestrichen wurden, damit im wahrsten Sinne des Wortes »spurlos« verschwanden. Doch darauf weist der Herausgeber seine Leser nicht hin. Er hat ja noch die »Denkwürdigkeiten« Jochbergs. Sie sollen eine andere Erklärung liefern, die womöglich Nassaus Ansehen verbessern helfen. Ich beabsichtige nicht, auf realhistorisch verbürgte

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Daten, Personen, Ereignisse oder Schauplätze einzugehen, um etwa die Sachgemäßheit der Darstellung oder den historischen Wahrheitsgehalt der Erzählung zu überprüfen oder um Fiktionalität gegen Faktualität auszuspielen. Der Marques de Bolibar – sofern man diesen Roman, und wenn zunächst auch nur wegen seiner Thematik, der Kategorie ›historischer Roman‹ zuordnet – ist, und hier möchte ich die auch von Müller zitierte scharfsinnige Bemerkung Alfred Döblins zum Charakter dieser Gattung wiederholen: »Der historische Roman ist erstens ein Roman und zweitens keine Historie.«2 In dieser Hinsicht hat auch der Marques natürlich alle Freiheiten. So spielt es nicht die geringste Rolle, dass vermutlich überhaupt keine Schlacht vor oder ein Aufruhr in La Bisbal stattgefunden hat. Funktionale Bedeutung für den Erzählaufbau gewinnt die Nennung dieses Ortes aber etwa dann, wenn die Frage auftaucht, wo denn diese Stadt auf der spanischen Halbinsel zu finden sei und vor allem wer die Auskunft über ihre geographische Lage erteilt. Nur insoweit also, wie solche Daten im Text erscheinen, auf einen bestimmten historischen Hintergrund angespielt wird oder sich ein solcher aus dem Kontext einigermaßen plausibel rekonstruieren lässt, sollen sie sowohl im Hinblick auf die fiktionale Welt des Herausgebers der »Denkwürdigkeiten« – so werde ich ihn ihm Folgenden nennen – als auch Jochbergs zur Aufschließung des Erzählaufbaus herangezogen werden. Dadurch, dass der Herausgeber das Resultat, die »Katastrophe«, gleich zu Beginn seines »Vorworts« preisgibt, nimmt er dem Leser nicht die Spannung. Im Gegenteil, er steigert dessen Neugier noch dadurch, dass er ihm verspricht, in den »Denkwürdigkeiten« eine Sensation zu finden und über die wahren Ursachen des Untergangs aufgeklärt zu werden. Und um noch eins draufzusetzen, benennt er auch gleich noch deren Urheber: Die Katastrophe sei vom eigenen »Offizierskorps mit vollem Bewußtsein, ja beinahe planmäßig herbeigeführt« (S. 9) worden. Derart ›wohlinformiert‹ kann der Leser sich der Lektüre der 19 Kapitel der »Denkwürdigkeiten« Jochbergs widmen. Bezogen auf diesen engeren Fokus der Aufklärung über die Gründe für den Untergang der beiden Regimenter – der vom eigenen Offizierskorps »beinahe planmäßig herbeigeführten« Katastrophe –, wird der Leser jedoch bereits im zweiten – »Der Gerberbottich« – beziehungswiese dritten Kapitel – »Signale« – überrascht und bekommt eine völlig andere Version geliefert. Aus dem Bericht über ein von Leutnant von Rohn belauschtes Gespräch zwischen dem Marques de Bolibar und den Aufständischen erfahren die deutschen Offiziere – und mit ihnen die Leser –, dass der Plan zur Vernichtung der Besatzungstruppen von La Bisbal in Wahrheit vom Marques de Bolibar ––––––– 2

Zitiert nach Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Perutz: Der Marques (Anm. 1), S. 264.

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stammt. Drei Signale verspricht der Marques zu geben, damit das Vernichtungswerk in Gang gesetzt werden kann: »Sie warten auf meine Signale. Ich werde deren drei geben. Beim ersten sammeln Sie ihre Leute, besetzen die Straßen, bringen die Geschütze in Stellung und sprengen die beiden Alkarbrücken in die Luft. Aber erst, wenn ich das Zeichen gebe, denn es ist von höchster Wichtigkeit, daß die Deutschen sich bis dahin in Sicherheit wähnen.« […] »Auf mein zweites Signal hin beginnen Sie unverzüglich, die Stadt mit Kanonenkugeln, Bomben und Zündgranaten zu beschießen. Zugleich setzen Sie sich in den Besitz der ersten Befestigungslinien.« […] »Indessen wird der Aufruhr losgebrochen sein, und dann, wenn die Deutschen sich auf allen Seiten gegen die rebellierenden Bürger zu wehren haben, dann gebe ich das dritte Signal, und Sie befehlen den Sturm.« […] »Und die Signale?« […] »Kennen Sie mein Haus in La Bisbal?« […] »Das Haus in der Straße der Karmeliter. Von dem Dache dieses Gebäudes wird dicker, schwarzer Rauch aufsteigen. Rauch von brennendem, feuchtem Stroh, das ist das erste Signal.« […] »Wenn Sie des Nachts, wenn alles still ist in La Bisbal, die Orgel des Klosters St. Daniel hören – das ist das zweite Signal.« […] »Wenn ein Bote Ihnen dieses Messer bringt, dann kommandieren Sie den Sturm. Nicht früher und nicht später, der Erfolg des ganzen Unternehmens hängt daran, Oberst Saracho.« (S. 39f.)

Die nächste Überraschung wartet im sechsten Kapitel – »Gott kam« – auf den Leser: Der Marques bekommt keine Gelegenheit, die verabredeten Signale zu senden. Vom Rittmeister de Salignac auf der Landstraße aufgelesen und von ihm kurzerhand als Gepäckträger angeheuert, wird er tragisches Opfer seiner eigenen Verkleidungs- und Verwandlungskünste. Unfreiwillig muss er ein zänkisches und von allerlei Eifersüchteleien begleitetes Gespräch der Offiziere Brockendorf, Donop, Eglofstein, Günther und Jochberg mit anhören, in dem sie sich über ihre Liebesabenteuer mit der ehemaligen und jetzt verstorbenen Frau ihres Obersten, Françoise-Marie, austauschen. In panischer Angst, dieser spanische Maultiertreiber – dass es der Marques de Bolibar ist, wissen sie nicht – könnte ihr Geheimnis, das tatsächlich keines ist, weil in der gesamten Truppe darüber gesprochen wird, dem Obersten verraten, lassen sie ihn ihm Hof erschießen. Zuvor jedoch gelingt es dem Marques in seiner Verzweiflung, den Offizieren in einer merkwürdigen Szene noch das Versprechen abzunehmen, dass sie das, was er noch in der Stadt zu tun hätte, für ihn erledigen würden. Nichts ahnend und voller Hohn und Spott geben sie ihm das gewünschte Versprechen: »Hören Sie mich an, Señores! Ich hab’ noch eine Sache in der Stadt zu tun. Wenn ich tot bin, ist keiner da, der sich ihrer annimmt. […]« […] »Was du zu tun hast, das wollen wir für dich tun!« sagte Eglofstein, um der Sache ein Ende zu machen, und schlug ungeduldig mit der Reitpeitsche an seine Stiefelschäfte. »Nun sag, was es für Arbeit gibt und fort mit dir!« »Sie wollen es für mich tun? Sie? Sie?« rief der Spanier. »Ein Soldat muß alles können!« sagte Eglofstein. »Rasch! Sag, was ist zu tun? Sind Rüben zu stecken? Ist ein Dach zu flicken?«

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[…] »Sie sind Christen, Señores!« sagte er. »Schwören Sie mir bei der Mutter und ihrem Sohne, daß Sie halten werden, was Sie mir versprechen.« »Zum Teufel mit deinen Zeremonien!« rief Günther. »Wir sind Offiziere. Was wir versprochen haben, das werden wir halten, und damit genug!« »Was du zu tun hast, das wollen wir an deiner Stelle tun!« wiederholte Eglofstein. »Hast du einen Esel zu verkaufen? Hast du Geld einzutreiben? Was gibt’s für Arbeit?« (S. 74f.)

Als Jochberg später dem Toten, dessen Züge sich gelöst und ihr ursprüngliches Aussehen wieder angenommen hatten, ins Gesicht leuchtet, erkennt er als einziger den Marques de Bolibar, dem er bereits im ersten Kapitel begegnet war. Für einen Moment hält er erschrocken inne: Und indem mir dies alles durch den Sinn ging, blieb ich mit einemmal mitten im Schnee stehen und schlug mich vor die Stirne. Denn ich begriff nun auch den Sinn des seltsamen Eides, den er uns hatte schwören lassen. Den Tod vor Augen, von Feinden umstellt, von keinem gehört, hatte der Marques de Bolibar uns die Vollführung seines Werkes hinterlassen, wir selbst sollten die Signale geben, die uns Vernichtung bringen sollten. (S. 77f.)

Jochbergs eher zaghaft vorgebrachten Versuchen, zu erklären, dass der Marques erschossen und tot sei, schenken seine Kameraden keinen Glauben. Und obwohl der Vernichtungsplan des Marques’ und die drei verabredeten Signale allen im Regiment bekannt sind, werden keine wirklich energischen Gegenmaßnahmen getroffen, um den Plan zu vereiteln. Nur Salignac jagt dem Marques mit verbissener Wut hinterher, der ein ums andere Mal wie ein Phantom zu verschwinden scheint. Das Leben der Offiziere in der besetzten Stadt scheint weitgehend in den gewohnten Bahnen zu verlaufen: Ihr ganzes Trachten scheint auf Essen, Trinken, Kartenspielen, gelegentlich unterbrochen von ein wenig Exerzieren, vor allem auf die Suche nach neuen Liebesabenteuern ausgerichtet zu sein. Da fügt es sich auch glücklich, dass ihr Regimentsoberst inzwischen in der jungen und schönen Monjita, Tochter eines Heiligenmalers, einen Ersatz für seine FrançoiseMarie gefunden hat, die ihr auf verblüffende Weise auch noch ähnlich zu sein scheint. Sofort entbrennt unter den fünf Offizieren ein hass- und neiderfüllter Konkurrenzkampf um die Liebesgunst der Monjita, der fortan ihr pflicht- und dienstvergessenes Denken und Handeln bestimmt und nur noch von der Angst vor Entdeckung durch den Oberst überboten wird. Aus diesem verbissen geführten Kampf, wer von ihnen als erster die Gunst der Monjita erringt, und bei dem jeder jeden missgünstig und misstrauisch belauert, werden die drei verhängnisvollen Signale ausgelöst. Das erste Signal gibt Leutnant Günther, um zu verhindern, dass er mit Briefen des Obersten zum Verlassen von La Bisbal gezwungen würde und das Feld seinen Konkurrenten überlassen müsste. Jochberg, der das weiß, zieht es vor zu

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schweigen. Das zweite Signal wird von den fünf Offizieren gemeinsam gegeben. Im menschenleeren Kloster St. Daniel warten sie auf Monjita, die versprochen zu haben schien, zu kommen und einen von ihnen als ihren Liebhaber auszuwählen, als sie im gegenüberliegenden hell erleuchteten Fenster Monjita in die Arme des Obersten sinken sehen. Rasend vor Wut entfachen sie einen Höllenlärm und schlagen in die Tasten der Klosterorgel. Das dritte Signal schließlich erreicht eher zufällig sein Ziel. Als der schwerverwundete Günther in Fieberreden vor dem Obersten die Liebeshändel der Offiziere enthüllt, bezieht der Oberst dieses Geständnis nicht auf seine verstorbene nymphomane Frau Françoise-Marie, sondern auf die völlig unschuldige und aufrichtig liebende Monjita. Nun wird sie zur größten Gefahr für die Offiziere. Daher wird Jochberg von seinen Kameraden beauftragt, sie aus der in Aufruhr stehenden Stadt hinauszuschaffen und englischen Offizieren, die sich als Berater bei den Guerillas aufhalten, in Obhut zu geben. In ihrer Verzweiflung und Enttäuschung tötet sich Monjita auf dem Weg dahin mit dem Messer, das über verschiedene Stationen in den Besitz des Obersten gelangt war. Der Anführer erkennt nicht nur sein Messer sofort wieder, in Jochberg, der eine phantastisch anmutende Verwandlung durchgemacht zu haben scheint, sehen die Aufständischen und der britische Offizier den Marques, der das dritte Signal selbst überbracht hat. Spätestens an diesen Punkt angelangt, beschleicht den Leser vielleicht das Gefühl, dass die ganze vorangegangene, kunstvoll zwischen Spannungsaufbau, scheinbarer Abschweifung und überraschenden Wendungen wechselnde Geschichte so gar nichts mit den Erinnerungen eines Kriegsteilnehmers zu tun hat, die Aufschluss geben sollten über ein ungeklärtes Ereignis. Das Kriegsgeschehen und der Untergang der Regimenter werden wie beiläufig mitgeteilt und weitgehend in den Hintergrund gedrängt, während die Liebeshändel der Offiziere nicht nur ihr Denken und Handeln beherrschen, sondern über weiteste Strecken auch den Bericht Jochbergs dominieren. Jochbergs Memoiren erscheinen, so möchte man meinen, als sehr romanhaft. Dieser Ausdruck ist natürlich mit Absicht gewählt, denn hier erinnert sich der Leser vielleicht auch wieder an das »Vorwort« des Herausgebers dieser »Denkwürdigkeiten«, wo dieser Ausdruck bereits gefallen war. In seinem »Vorwort« unternimmt der Herausgeber zunächst alles nur Erdenkliche, die »Denkwürdigkeiten« Jochbergs als einzigartige historische Quelle aufzubauen. Das Aufsehen, das sie ausgelöst hätten, hätte auch das Interesse namhafter Wissenschaftler geweckt und »Gelehrte von Ruf […] in die Papiere Einsicht« (S. 7) nehmen lassen. Diese Einsicht in die Papiere scheint aber keine Folgen nach sich gezogen zu haben, der Herausgeber äußert jedenfalls kein Wort darüber, wie deren Urteil ausgefallen ist. Stattdessen führt er eine Reihe deutscher und spanischer Geschichtswerke an, die diesen Krieg zum Thema haben

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sollen. Ihren Wert für die Aufklärung der in Rede stehenden Ereignisse beurteilt er jedoch äußerst zurückhaltend: Im ganzen genommen tragen jedoch diese und andere spanische Geschichtswerke zur erstaunlichen Tatsache des Verschwindens der beiden deutschen Regimenter so gut wie nichts bei. (S. 9)

Dieser Befund wäre geeignet, den Wert der »Denkwürdigkeiten« als historischer Quelle zu steigern. Und tatsächlich hebt der Herausgeber hervor, dass erst Jochbergs »hinterlassene Schriften« (S. 9) die ersehnte Erklärung für die Katastrophe liefern können. Um so überraschender ist seine dann gleich darauf folgende Äußerung, die Skepsis und Verständnis für die Zurückhaltung der zünftigen Geschichtswissenschaft zum Ausdruck bringt: Es fällt schwer, daran zu glauben, obgleich unserer heutigen Zeit Erklärungen mystisch-okkulter Natur, Begriffe wie Selbstmordpsychose oder suggestive Willensübertragung so leicht zur Hand sind. Die zünftige Geschichtswissenschaft wird denn auch den Wert der Memoiren des Leutnants Jochberg mit Skepsis einschätzen. Sie wird – und ich bin der letzte, ihr das zu verdenken – seine Darstellung eine allzu romanhafte nennen. (S. 9f.)

Wie kommt dieser plötzlich scheinende Sinneswandel in der Einschätzung zustande? Und bemerkt er den Widerspruch nicht, den er damit ausdrückt? Als Grund für den eingetretenen Zweifel am Wert der »Denkwürdigkeiten« als historischer Quelle führt der Herausgeber nicht die aus dem Bericht Jochbergs möglicherweise ableitbaren Erklärungshypothesen »mystisch-okkulter Natur«, »Selbstmordpsychose« oder »suggestive Willensübertragung« an – sie sind denn auch eher als von Perutz geschickt aufgestellte Warnschilder für den Leser zu sehen –, sondern er verweist auf eine Episode aus der Darstellung Jochbergs: Schließlich – wieviel kritische Fähigkeit kann sie auch einem Menschen zusprechen, der überzeugt ist, in Spanien den Ewigen Juden getroffen zu haben? (S. 9f.)

Aber wird das von Jochberg tatsächlich behauptet? In dieser Bestimmtheit ist das nicht zu sagen. Die Darstellung um die Figur Salignacs nimmt breiten Raum ein. Die spanische Bevölkerung weicht ihm ängstlich und kreuzschlagend aus, in der Truppe hat er den Ruf, Unglücksbringer zu sein, selbst aber immer heil davonzukommen. Nirgends aber wird er explizit als Ewiger Jude angesprochen. Jochbergs Kameraden suchen vielmehr die Geschichten um Salignac als Aberglauben abzutun oder ihnen eine natürliche Erklärung zu geben. Auch die entscheidende Szene im letzten Teil des Kapitels »Ein Gebet« schildert Jochberg keineswegs immer im sicheren Ton, sie auch wirklich erlebt zu haben: Wenn ich zurückblicke, sehe ich viele Dinge, die einst scharf und klar vor meinen Augen standen, in das unsichere Zwielicht der Zeit getaucht. Und es will mir manchmal scheinen, als hätte ich das sonderbare Zwiegespräch nur geträumt, das Salignac mit ei-

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Der Selbstversicherung Jochbergs, wach gewesen zu sein, folgt das Zugeständnis »es mag sein, daß ich wirklich einige Sekunden geschlafen habe« (S. 182). Der einzige, der Salignac als Ewigen Juden bezeichnet, ist der von einer verirrten Kugel tödlich getroffene Korporal Thiele, als er Salignac als Kurier des Obersten durch die feindlichen Reihen sprengen sieht. Mit dem Satz »Beten Sie, beten Sie für den Ewigen Juden! Er kann nicht sterben« (S. 194) haucht er sein eigenes Leben aus. Eine weitere Beobachtung ist geeignet, das sich einstellende Misstrauen gegenüber dem sich scheinbar so selbstsicher und kenntnisreich gebenden Herausgeber zu verstärken. Sein »Vorwort« schließt er mit der Bemerkung: »Und nun möge Leutnant Jochberg berichten, was er im Winter 1812 in der asturischen Bergstadt La Bisbal Seltsames erlebt hat« (S. 10). Auffallend ist zunächst, dass der Herausgeber die Ereignisse vom Winter 1813 auf den Winter 1812 zurückverlegt. Dieses Datum wird nur von ihm genannt. Entscheidender ist hier jedoch die Erwähnung der »asturischen Bergstadt La Bisbal«. Zwar ist richtig, dass man den zahlreichen Hinweisen auf Gefechte in Jochbergs Bericht entnehmen kann, dass das Regiment im Laufe der Jahre fast auf der gesamten spanischen Halbinsel eingesetzt war, die geographische Lage von La Bisbal wird jedoch bereits im ersten Kapitel – »Die Morgenpromenade« – eindeutig bezeichnet: La Bisbal erreichen Jochberg und seine Dragoner von Figueras kommend. Auch zeitgenössischen Lesern dürfte es nicht schwergefallen sein, beide Ortschaften als in Katalonien liegend zu identifizieren und nicht im an Galicien angrenzenden Asturien. In Jochbergs Bericht taucht der Name dieser Provinz nur ein einziges Mal auf. Und zwar in der Szene, in der Eglofstein Jochberg laut Regimentspapiere vorlesen lässt, um den Obersten davon abzulenken, dem drohenden Geständnis Günthers zu lauschen, das die Offiziere in höchste Gefahr zu bringen droht. Tatsächlich scheint dieses Manöver zunächst auch zu gelingen. Als Jochberg aus einem Brief des Stabschefs Desnuettes vorliest, empört sich der Oberst derart über den Ton, dass er sofort eine scharfe Antwort zu diktieren beginnt. Die hier interessierende Stelle lautet: »Die Erfüllung Ihrer Bitte nicht zu empfehlen«, wiederholte ich. »So steht es hier. – Denn ich weiß nicht – heißt es weiter –, was aus Asturien diesen Winter gegen uns im Anzuge ist […].« (S. 208)

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Alle Briefe, die Jochberg laut vorzulesen beginnt, nennen Tag und Monat, verschweigen jedoch bezeichnenderweise das Jahr. Wo auch immer sich Desnuettes mit seinem Stab befinden mag, soviel ist sicher: La Bisbal liegt nicht in Asturien. Eine unbedeutende Nachlässigkeit? Vielleicht! Andererseits sind wir seit Alfred Polgars Beobachtung aus dem Jahr 1924 – »Es gibt im sicher gefügten Zweckbau solchen Romans von Perutz nichts, was nur Schmuck oder Aufputz wäre« – mehr denn je dazu aufgefordert, bei Perutz auch auf scheinbare Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten, »Schnitzer« (S. 266), wie Müller sie nennt, zu achten.3 Hat der Herausgeber die Lageangabe La Bisbals vielleicht dieser Quelle entnommen und nicht weiter auf den Zusammenhang geachtet? Eine weitere Quelle bietet sich an. Im »Vorwort« erwähnt der Herausgeber das Buch Los jefes de la guerilla en las Asturias eines Pedro d’Orosco, von dem er abschätzig urteilt: »[S]eine Darstellung strotzt jedoch von offensichtlichen Irrtümern und Fehlern« (S. 9). Wer hier Irrtümern aufsitzt und Fehler begeht, scheint mehr als offensichtlich. Weitere solcher »Schnitzer« ließen sich nachweisen. Und alle weisen sie auf den Herausgeber und drohen seine Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit zu untergraben. Eine längere Bemerkung des Herausgebers im »Vorwort«, die bislang nicht angesprochen wurde, vermag etwas Licht auf den von ihm selbst hergestellten Widerspruch zu werfen, Jochbergs »Denkwürdigkeiten« einerseits als historische Quelle auszuzeichnen und andererseits als »allzu romanhaft« (S. 10) zu charakterisieren: Die Denkwürdigkeiten des Leutnants Jochberg sind auf zwei Drittel ihres ursprünglichen Inhalts gekürzt worden. Vieles, was nicht unmittelbar zur Sache gehörte, […] alles das fiel dem Stift des Bearbeiters zum Opfer. Mag damit auch manches zeitgeschichtlich Wertvolle dem Leser vorenthalten worden sein, die Erzählung selbst hat an Wirkung und innerer Spannkraft gewonnen. (Ebd.)

Aufschlussreich sind diese Bemerkungen vor allem deshalb, weil sie zu offenbaren scheinen, dass der Herausgeber bei der Bearbeitung der Hinterlassenschaft Jochbergs alles das radikal gestrichen zu haben scheint, was den Papieren den Anschein eines autobiographischen Berichts hätte verleihen können. So ist etwa von der Schlacht bei Talavera, auf die so oft wie auf keine sonst verwiesen wird, nur ein Kapitel übrig geblieben, in dessen Zentrum aber ein Spottlied auf den Obersten steht. Der Eindruck des Romanhaften – der »Erzählung«, wie der Herausgeber Jochbergs »Denkwürdigkeiten« jetzt nach seiner Bearbeitung nennt – ist denn auch nicht Jochberg, sondern dem Herausgeber zuzuschreiben. Ja, es ––––––– 3

Vgl. zum Polgar-Zitat Müller: Nachwort (Anm. 2), S. 268.

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scheint, dass er es bewusst darauf angelegt hat, ihnen die Gestalt einer ›historischen‹ Erzählung zu geben. Der doppelten fiktionalen Konstruktion folgend wäre es reizvoll, in einem quasi textkritischen Verfahren zu versuchen, den – natürlich niemals vorhanden gewesenen – ›ursprünglichen‹ Text, den ›Urtext‹, zu restituieren oder zumindest ›Bearbeitungsspuren‹ des Herausgebers ›nachzuweisen‹. Vielleicht nur als Indizien ließen sich solche ›Spuren‹ am ehesten an der Erzählhaltung Jochbergs in der Binnengeschichte ›nachweisen‹. Dafür wäre allerdings eine fundierte Analyse des Berichts und der Rede- und Gedankenwiedergabe in der gesamten Binnenerzählung erforderlich. Wenige Hinweise müssen daher genügen. Drei unterschiedliche Erzählhaltungen lassen sich in der Binnengeschichte ausmachen. In Darstellungen aus dem unmittelbaren Erleben heraus überwiegen vorsichtig gehaltene Formulierungen. Großer Wert scheint darauf gelegt zu sein, nur das von Jochberg selbst Wahrgenommene und Erlebte zu berichten. Innere Zustände anderer Personen werden mit einem »schien« oder vergleichbaren Ausdrücken versehen. Zwei aus einer Vielzahl von Beispielen: »Nur Salignac allein schien es nicht gehört zu haben« (S. 102). Oder: »Donop neben mir schien das gleiche zu fühlen […]« (S. 104). Informationen aus fremder Hand werden als solche in der Wiedergabe kenntlich gemacht: »Er erzählte mir lachend und mit ein wenig Schadenfreude den kläglichen Verlauf von Günthers Visite bei der Monjita« (S. 116), oder: »Mir war erzählt worden, daß der Pfarrer […]« (S. 95). Allerdings gibt es nicht wenige Stellen, die von dieser Regel abweichen und Jochberg auch über Gefühlszustände und Bewusstseinsvorgänge sprechen lassen, von denen er keine Kenntnis haben kann. Drei Beispiele als Beleg: »Der Korporal wollte mir zornig entgegnen, aber es fiel ihm auf mein Bibelwort im Augenblick nichts Rechtes ein« (S. 14). Und: »Der Oberst hörte mir nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Er betrachtete die Gegend, überlegte, wie er die Befestigungslinie verbessern könne, und errichtete im Geiste Erdwälle, Bastionen, Minenkammern und Reduiten zum Schutze der Stadt« (S. 19). Und: »Er dachte eine Weile nach und gab sich dann selbst die Erklärung für dieses seltsame Phänomen« (S. 115). Um schon hier den Eingriff eines Bearbeiters vermuten zu wollen, reichen diese Beispiele nicht aus. Es könnte aus der Haltung oder der folgenden Aktion auf solche inneren Vorgänge geschlossen worden sein. Was sollte zum Beispiel ein Oberst auch anderes tun, wenn er in eine besetzte und von Feinden bedrohte Stadt kommt, als über Sicherungsmaßnahmen nachzudenken? Die aus der Retrospektive verfassten Passagen der Erinnerungen Jochbergs fassen das kommende Geschehen zusammen und nehmen die Ereignisse, die dann ausführlich geschildert werden, vorweg. In diesen Stellen tritt Jochberg als ein Berichterstatter auf, der den Ablauf der Geschichte bereits kennt und souverän überblickt. Aber auch hier hält er sich in aller Regel an das von ihm selbst Wahrgenommene oder Erlebte. Aufmerksamkeit verdient in dieser Frage die

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Wiedergabe der Fieberreden des Leutnants von Rohn. Nicht so sehr, weil es verwundern kann, wie der von einem Schuss getroffene, zwischen Müdigkeit und drohender Ohnmacht schwankende Rohn, der zudem viel Blut verloren hat, das Gespräch zwischen dem Marques de Bolibar und den Guerillas so lange hat belauschen können und es dann auch noch in dieser Ausführlichkeit und Detailtreue wiedergeben kann. In diesem Bericht, ein weiteres Beispiel wäre Donops Schilderung des fehlgeschlagenen Rendezvous Günthers mit Monjita, unterbricht der Erzähler Jochberg Rohns Darlegungen immer wieder durch kurze Zusammenfassungen ihres Inhalts: »Leutnant Rohn erzählte, daß er um diese Zeit mit großer Müdigkeit zu kämpfen hatte […]« (S. 29). Oder: »Leutnant Rohn gab an dieser Stelle seines Berichtes eine Beschreibung des schreckhaften Bildes dieser nächtlichen Zusammenkunft […]« (S. 38). Über weite Strecken ändert sich jedoch die Perspektive. Nicht mehr Jochberg ist es, der Rohns Bericht wiedergibt. Unverkennbar ist es ein allwissender Erzähler, der die Regie übernommen hat und der die Situation nutzt, die Szene farbig und in allen Details auszumalen. Allerdings reichen diese Beobachtungen nicht aus und sind zu schwach, um weiterreichende Schlüsse daraus zu ziehen. Nur eine detaillierte Untersuchung könnte ergeben, ob solche Stellen in irgendeiner Weise systematisch angelegt sind und damit als deutliches Zeichen einer ›überarbeitenden‹ und in den Text eingreifenden Hand anzusehen sind. Dennoch sind es vor allem solche und ähnliche Beobachtungen, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Angaben Herausgebers aufkommen und die Frage, wer er denn sei und welche Interessen er möglicherweise mit der Herausgabe verfolgt, mehr als berechtigt erscheinen lassen. Hans-Harald Müller hat diese Zweifel an der Seriosität des Herausgebers in eine Bemerkung gekleidet, die auch meinen Überlegungen die entscheidende Richtung gegeben haben: Fragen über Fragen an den Leser, der sich am Ende fragen muß, ob der Herausgeber womöglich nicht ein verschämter Romanautor ist, der nicht nur das »Vorwort«, sondern auch die »Denkwürdigkeiten« des Leutnants von Jochberg verfaßt hat. (S. 266)

Lässt sich mehr über diesen Herausgeber ermitteln, um die hier aufgeworfene Frage vielleicht beantworten zu können? Müller scheint es für möglich zu halten, dass es sich bei dem Herausgeber »um einen Historiker, zumindest aber um einen versierten Kenner der ›vaterländischen Kriegsgeschichte‹ [handelt], denn er verfügt über eine sichere Quellenkenntnis, berichtet kritisch und abwägend über den Beitrag, den die ›einschlägige Literatur‹ […] leistet und beurteilt den Wert der von ihm edierten Quelle recht zurückhaltend« (S. 264). Ich bin mir da weniger sicher, nicht zuletzt aufgrund der bislang festgestellten Fehlleistungen. Mir scheinen seine Kenntnisse nicht so ausgeprägt und eher beschränkt zu sein, und sein Interesse scheint mir weitgehend auf die Geschichte Nassaus ausgerichtet. Deutlich wird dies meines

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Erachtens schon daraus, dass er zunächst zwar von der Vernichtung der beiden Regimenter »Nassau« und »Erbprinz von Hessen« spricht, im entscheidenden, durch Kursivierung besonders hervorgehobenem Satz aber nur noch das Regiment »Nassau« erwähnt: »[…] dann ist die Vernichtung des Regimentes ›Nassau‹ – ein in der Kriegsgeschichte aller Zeiten wohl einzig dastehender Fall […]« (S. 9). Allerdings darf diese Beobachtung auch nicht überbewertet werden, da das Regiment »Erbprinz von Hessen« auch im Bericht Jochbergs nur eher am Rande genannt wird. Doch gibt es mehr Indizien, die für seine Ausrichtung auf Nassau sprechen. Ich neige eher dazu, im Herausgeber einen Stadtarchivar oder interessierten Heimatforscher zu sehen, dessen historische Kennntnisse des Weltgeschehens zwar beschränkt sind, dessen Heimatliebe aber dafür um so stärker ausgeprägt ist. Und in dieser Position befindet er sich in den Jahren 1870/71 in einer durchaus prekären Lage. Der Herausgeber weiß, dass es sich bei Nassau um ein »ehemalige[s] Herzogtum« (S. 7) und jetzt nur noch um eine »Provinz« (ebd.) handelt. Er weiß, dass es sich bei den beiden Regimentern um »heimische« (S. 8) handelt. Das sind Detailkenntnisse, die stichwortartig und ganz selbstverständlich aufgerufen werden. Das Herzogtum Nassau ist aus einer komplizierten historischen und dynastischen Gemengelage aus verschiedenen Erblinien, zu denen ursprünglich auch das spätere niederländische Königshaus Oranien und das spätere Großherzogtum Luxemburg gehörten, in Verhandlungen im Anschluss an den Basler Frieden von 1795 und auf dem Rastatter Kongress von 1797 bis 1799 hervorgegangen. Im Reichsdeputations-Hauptausschuss von 1803 erhielt es seine erste, allerdings noch vorläufige Gestalt. Im August 1806 schlossen sich die im Juli 1806 dem Rheinbund unter Erhöhung zu Herzögen beigetretenen Fürsten von Nassau-Weilburg und Nassau-Usingen zu einem vereinten, für unteilbar und souverän erklärten Herzogtum Nassau zusammen. Das erklärt das Nassauische Truppenkontingent beim Feldzug Napoleons in Spanien. 1866 wurde das Herzogtum Nassau wie auch das Kurfürstentum Hessen-Kassel wegen ihrer Unterstützung Österreichs annektiert und als Provinz Hessen-Nassau Preußen einverleibt. Das im »Vorwort« erwähnte »benachbarte Großherzogtum Hessen« (S. 7) meint das südlich gelegene, weiterhin selbständige Hessen-Darmstadt. Vor diesem Hintergrund, den Perutz nur andeutet, sicher aber hinreichend recherchiert und mit Bedacht gewählt hat, befindet sich der Herausgeber gleich in mehrfacher Hinsicht in einer schwierigen Lage. Zum Zeitpunkt des vorgeblichen Auffindens der Papiere von Jochberg beziehungsweise der Abfassung des »Vorworts« befindet sich Deutschland (und mit ihm Nassau als Teil-Provinz Preußens) im Krieg mit Frankreich – darauf bezieht sich der emphatisch gebrauchte Ausdruck »vaterländische Kriegsgeschichte«. Jochbergs »Denkwürdigkeiten« behandeln hingegen einen Zeitraum, in dem die Nassauischen Truppen an der Seite Frankreichs in Spanien kämpfen, gegen eine

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breite Volksmasse (Stichwort: »Guerilla«), die mit Unterstützung der anti-napoleonischen Allianz um Spaniens Souveränität ringt, um eine Unabhängigkeit also, die Nassau erst wenige Jahre zuvor 1866 an Preußen verloren hat. Aber auch die Verhältnisse in Spanien selbst halten noch eine Überraschung parat, die kein ruhmreiches Licht auf Nassau werfen. Noch während Nassauische Truppen unter dem Befehl Napoleons in Spanien kämpften, gelang es dem Nassauischen Regierungspräsidenten Karl von Ibell in Verhandlungen mit dem Freiherrn von Stein im November 1813 – quasi in letzter Minute und gegen erheblichen Widerstand – den Anschluss Nassaus an die anti-napoleonischen Alliierten zu vereinbaren. Für wenige Wochen, bis zur Gefangennahme und Internierung des Regiments »Nassau« im Dezember 1813 stand Nassau also auf beiden Seiten der Front. Um sich für die bevorstehende Gründung des Deutschen Reiches 1871 – die im »Vorwort« genannte Jahreszahl 1870/71 deute ich nicht nur als Signal für den Deutsch-Französischen Krieg, sondern auch im Hinblick auf die Reichgründung – positiv in Stellung zu bringen, musste dieses dunkle Kapitel der Geschichte Nassaus aus der Sicht des Herausgebers bereinigt werden. Es sollte eine Lösung gefunden werden, die Nassau frei machte vom Ruch, auf der falschen Seite gestanden und geschlagen worden zu sein. Nicht nur sollte das Ereignis der schmählichen Niederlage in der historischen Überlieferung durch die Rückverlegung um ein Jahr außer Kraft gesetzt werden. Die Erzählung Jochbergs oder die durch den Herausgeber hergestellte Version bieten Deutungsmöglichkeiten, die von menschlichen Leidenschaften als Ursache für die Ereignisse bis zu im Grunde nicht mehr erklärbaren schicksalhaften Vorgängen reichen. Auf jeden Fall entlasten sie Nassau in der Verantwortung für dieses Geschehen. Die im »Vorwort« angesprochene Planmäßigkeit erweist sich als plakativ und wird durch die Schilderung nicht bestätigt. Die Frage, ob der Herausgeber so angelegt ist, dass er auch die »Denkwürdigkeiten« Jochbergs ›geschrieben‹ oder sie ›nur‹ stark bearbeitet hat, kann im Grunde genommen offen gelassen werden, beide Möglichkeiten bleiben gleichermaßen denkbar. In beiden Fällen hätte der Herausgeber aber eine Form gefunden, die es ihm erlaubt, seinem Ziel ein Stück näher zu kommen. Die Roman-Fiktion gewährt ihm gewisse Freiheiten in der Darstellung, als ›historische‹ Erzählung eröffnet sie neue Deutungsmöglichkeiten. Dem Herausgeber gelingt es, sein Aufklärungsversprechen aus dem »Vorwort« einzulösen, indem er sie als historische Erzählung ausweist: »Mag damit auch manches zeitgeschichtlich Wertvolle dem Leser vorenthalten worden sein, die Erzählung selbst hat an Wirkung und Spannkraft gewonnen« (S. 10). Dem Herausgeber, dem es um diese »Wirkung« zu gehen scheint, könnte dies auch genügen. Aber Perutz hat noch mehr zu bieten. In einem scheinbaren Anachronismus verbirgt er einen weiteren Hinweis. Im achten Kapitel – »Der Puff regal« – trägt die Geliebte des Obersten, Monjita,

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nach dem Diner, zu dem der Oberst seine Offiziere und die Honoratioren der Stadt La Bisbal eingeladen hat, das Lied Son vergine vertosa aus der Oper I puritani vor. In der Perutz-Forschung ist natürlich registriert worden, dass diese Oper von Vincenzo Bellini erst 1835 in Paris uraufgeführt worden ist, zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse 1812/13 dieses Lied also hätte noch gar nicht gesungen werden können. Jochberg ist dies nicht zuzuschreiben, er hätte diesen Vortrag nicht erleben und also auch nicht darüber berichten können. Und auch Perutz, dem realen Autor, Konzertbesucher und Opernkenner, kann dieser ›Fehler‹ nicht angekreidet werden. Bleibt nur der vermeintliche Herausgeber übrig. Doch warum lässt Perutz ihn diesen Fauxpas begehen? Das Libretto der Oper Die Puritaner stammt von Carlo Graf Pepoli nach dem Drama Têtes rondes et cavaliers von Jacques Arsène Ancelot und Joseph-Xavier Boniface von 1833, dem wiederum – etwas lose – der Roman Old Morality von Sir Walter Scott aus dem Jahr 1816 zugrunde liegt. Der Titel I puritani wurde erst kurz vor der Uraufführung und in expliziter Anspielung auf die Übersetzung von Old Morality als Les puritains d’Ecosse (von 1817 bzw. I puritani di Scozia von 1825) gewählt. Hinter dieser versteckten Anspielung auf Walter Scott verbirgt sich natürlich der Hinweis auf den klassischen historischen Roman, der nicht nur farbenprächtig und plastisch zu schildern beanspruchte, wie es denn eigentlich wirklich gewesen sein könnte, sondern darüber hinaus eine Reihe geschichtsphilosophischer, moralischer und anderer Ideen transportierte sowie ideologische Funktionen zu erfüllen hatte. Der Marques de Balibar, so möchte ich meine Ausführungen schließen, ist auf mehreren Ebenen lesbar. Die Binnengeschichte liefert eine über alle Maßen spannende Geschichte, die zahlreiche, nicht eindeutig festzulegende Interpretationen ermöglicht. Wer mag, kann es dabei bewenden lassen. Die Konstruktion aus Rahmen- und Binnenerzählung erweist sich als keineswegs konventionell. Der im »Vorwort« angelegte und dann in der Binnenerzählung ausgeführte Widerspruch legt Perutz’ eigenes poetisches Verfahren nahezu offen auf den Tisch. Schließlich lädt die tief versteckte und intermedial vermittelte Anspielung auf Walter Scott den Leser dazu ein, erneut über den historischen Roman und über den Marques de Bolibar nachzudenken.

Fotis Jannidis

Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages

Leo Perutz findet in den letzten 20 Jahren zunehmend Beachtung – nicht zuletzt Dank der steten Bemühungen von Hans-Harald Müller um das Werk dieses beinahe vergessenen Autors.1 Inzwischen ist sein Werk größtenteils sogar als Taschenbuch lieferbar und auch die Germanistik hat sich seiner angenommen. Der Meister des Jüngsten Tages,2 um den es im folgenden gehen wird, enthält wie viele seiner historischen Romane ebenfalls phantastische Elemente und seine raffinierte Erzählweise, bereits von zeitgenössischen Lesern sehr bewundert, beschäftigt die Forschung, die ihn zu den Hauptwerken des Romanciers rechnet.3 Der Roman erzählt die Ereignisse weniger Tage im Herbst 1909. Freiherr von Yosch berichtet im Rückblick vom Selbstmord des Hofschauspielers Eugen Bischoff und den Folgen. An jenem Abend besuchte von Yosch die Bischoffs; ein schwieriger Besuch, da Dina Bischoff früher die Geliebte von Yosch war. Eugen Bischoff zieht sich in den Gartenpavillon zurück und begeht Selbstmord. Von Yosch wird vorgeworfen, diesen Selbstmord mit einer Nachricht über den Bankrott des Bankhauses, das Bischoffs Vermögen verwaltete, provoziert zu haben. Er gibt sein Ehrenwort, gar nicht mit Bischoff gesprochen zu haben. Als seine Situation aufgrund von belastenden Indizien unhaltbar wird, rettet ihn ein ––––––– 1

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Meinen herzlichsten Dank an Hans-Harald Müller, nicht nur dafür, dass er mich mit Perutz vertraut gemacht hat, sondern für seine Gespräche über den hier behandelten Roman und nicht zuletzt auch für den Einblick in seine Kopie der Handschrift. Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages. Roman, Wien 1989. Der Roman ist erstmals 1923 erschienen. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Ulrike Siebauer, die gestützt auf eine Briefpassage von 1945 den Roman als zweitrangiges Nebenwerk betrachtet, das ungefähr auf derselben Ebene angesiedelt ist wie die Brotarbeiten, die Perutz zusammen mit Frank verfasst hat, vgl. Ulrike Siebauer: Leo Perutz. »Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich«. Eine Biographie, Gerlingen 2000, S. 152. Nun ist die Entscheidung, welches Gewicht einem Werk innerhalb eines Œuvres zuzumessen ist, nicht nur von der Selbsteinschätzung des Autors abhängig, und diese Außenwahrnehmung ist von Anfang an ziemlich konsistent gewesen; siehe die große Anzahl von Rezensionen nach dem Erscheinen des Romans – was für die eigentlichen Brotarbeiten und selbst für Wohin rollst du, Äpfelchen … nicht der Fall ist – und die Einschätzung des Textes in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur, vgl. Hans-Harald Müller, Wilhelm Schernus: Leo Perutz. Eine Bibliographie, Frankfurt/M. u.a. 1991.

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weiteres Mitglied der Abendgesellschaft, das annimmt, Bischoff sei einem Mörder, genauer einer fremden Macht, die sein Handeln bestimmt habe, zum Opfer gefallen. Von Yosch versucht nun mit Hilfe des Arztes Dr. Gorski und des Ingenieurs Solgrub diese fremde Macht aufzuspüren. Sie kommen durch allerlei detektivische Recherche einem alten Rauschmittel auf die Spur, das die Vorstellungskraft der Menschen ins Unerträgliche steigert. Es hat noch mehr Todesopfer gefordert und auch Solgrub kommt bei einem Selbstversuch ums Leben. Von Yosch kann, als er das Mittel ebenfalls erprobt, gerade noch gerettet werden; damit kommt diese Geschichte zu einem Ende. Das Nachwort von Hand eines Regimentskollegen stellt dagegen fest, dass die zweite Hälfte der Erzählung ganz und gar nicht der Wahrheit entspricht, von Yosch wegen seines gebrochenen Ehrenworts und seiner unwürdigen Beteiligung am Selbstmord des Hofschauspielers vielmehr von einem Ehrengericht verurteilt worden sei. Der Roman konfrontiert den Leser mit einer Reihe von Problemen. Zwei davon sollen im Folgenden eingehender behandelt werden: 1. Wem soll der Leser Glauben schenken: dem Freiherrn von Yosch oder dem namenlosen Herausgeber der Aufzeichnungen oder soll er sich gar ein eigenes Bild machen? Kann diese Frage überhaupt entschieden werden? Anders ausgedrückt: Haben wir es mit einem phantastischen Kriminalroman oder einem psychologischen Roman zu tun? 2. Falls der Herausgeber zuverlässig ist, stellt sich die Frage, welchen Status hat dann eigentlich der sehr viel umfangreichere Bericht des Freiherrn? Beginnen wir mit der Frage nach der Zuverlässigkeit des Herausgebers. Die zeitgenössischen Rezensenten und die ersten Interpreten haben sich größtenteils auf die Seite des Herausgebers geschlagen4 und in der Erzählung von Yoschs die »psychopathologische Träumerei eines grübelnden Gehirns«5 gesehen, während die neueren Interpretationen dagegen zumeist die Gleichberechtigung der Sichtwiesen betonen; ihr Gegeneinander mache erst den eigentlichen Reiz des Romans aus.6 ––––––– 4 5 6

Vgl. Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Perutz: Der Meister (Anm. 2), S. 215. So Richard A. Bermann in seiner Einleitung des Texts beim Vorabdruck in Der Tag, zitiert nach ebd. Z.B. Müller: Nachwort (Anm. 4); Siebauer: Leo Perutz (Anm. 3), S. 152; Michael Koseler: Leo Perutz’ »Der Meister des Jüngsten Tages«. Detektion und Verrätselung. In: Quarber Merkur 33 (1995), S. 3–15; Alexander Klotz: Drogen und modifizierte Wirklichkeit bei Leo Perutz. In: Quarber Merkur 99/100 (2004), S. 85–124, S. 101f.; Peter Lauener: Die Krise des Helden. Die Ich-Störung im Erzählwerk von Leo Perutz, Frankfurt/M. etc. 2004. Krieger sieht im Anschluss an Carbonell in dieser Doppeldeutigkeit das Baugesetz der Romane insgesamt, vgl. Arndt Krieger: ›Mundus Symbolicus‹ und semiotische Rekurrenz. Zum ironischen Spiel der Wirklichkeitssignale in Romanen von Leo Perutz, Berlin 2000, S. 5f.; Veronica Jaffé Carbonell: Leo Perutz.

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Sicherlich bewahrenswert erscheint mir die literaturwissenschaftliche Einsicht, dass die Erzählung keineswegs als bloße ›Träumerei‹ abgetan werden kann – zu den Gründen gleich mehr –, andererseits lassen sich aus dem Text kaum Anhaltspunkte gewinnen, die auf die Unzuverlässigkeit des Herausgebers schließen lassen. Gegen die Annahme, dem Herausgeberbericht sei Glauben zu schenken, wird angeführt, er lehne den Wahrheitsgehalt des Berichts zu pauschal ab, »allein gestützt auf die Autorität des Ehrengerichts, das Yosch verurteilt hat«.7 Dieser Einwand kann aber nicht erklären, warum es überhaupt zu einem Ehrengericht kam. Nach der Darstellung des Freiherrn von Yosch haben auch Felix und seine Schwester Dina Bischoff keinen Zweifel mehr, dass es die Droge war, die Bischoff zum Selbstmord getrieben hat und dass von Yosch nicht im Pavillon war. Die Anwesenheit der Pfeife im Pavillon wird im Kontext dieser Handlung motiviert durch den Wunsch des Schauspielers, seine Darstellung des Richard III. durch die Droge zu intensivieren. Nur in einem Handlungsgefüge, in dem diese wesentlichen Elemente der Darstellung von Yoschs fehlen bzw. erfunden sind und er also schuldig ist, kann es überhaupt zu einem Ehrengericht kommen. Anders gesagt: Die Elemente der phantastischen Handlung sind zugleich, wenn auch in ganz anderer Gestalt, Elemente der psychologischen Handlung und somit motiviert. So ist von Yoschs Pfeife im Pavillon in der phantastischen Handlung dorthin gekommen, weil Bischoff sie verwendet hat, um das geheimnisvolle Rauschgift zu rauchen. In der psychologischen Erzählung hat von Yosch sie dort vergessen, als er Bischoff die Zeitung mit der Bankrotterklärung des Bankhauses gezeigt hat. Aber dies Verhältnis zwischen den Elementen der phantastischen und der psychologischen Erzählung ist nicht symmetrisch: Es gibt Informationen in der psychologischen Erzählung, die nicht in der phantastischen erscheinen. Die wichtigste davon ist sicherlich die Information, dass ein Ehrengericht stattgefunden hat, was nach der phantastischen Erzählung ganz unverständlich wäre. Hier ist vielleicht eine grundsätzliche Anmerkung notwendig. Die Polyvalenzkonvention besagt, ein künstlerischer Text sei um so besser, je mehr verschiedene Deutungen er erzeugt. Deshalb sind die Strategie einiger neuerer Deuter –––––––

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Ein Autor deutschsprachiger phantastischer Literatur zu Beginn des 20. jahrhunderts, München 1986, S. 193f. Ganz anders aber schon Dietrich Neuhaus: Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk Leo Perutz, Bern u.a. 1984. Neuhaus hat m.E. zutreffend die Grundstruktur des Textes im Anschluss an eine Formulierung des Herausgebers, die vom »Spiel der Indizien« (S. 206) spricht, als ›Indizienroman‹ beschrieben. Der kognitive Reiz bestehe in dem Verfolgen der Indizien, die sich aber zu einem – und nur einem – Bild lückenlos zusammenfügen lassen. Müller: Nachwort (Anm. 4), S. 216.

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des Romans sehr sympathische Versuche, den Text innerhalb der Konventionen des Faches aufzuwerten. Ihre Art und Weise, diese Polyvalenz zu beschreiben, genauer sie zu erzeugen, ist durchaus vergleichbar mit den Verfahren, die auf kanonisierte Texte angewandt werden. Wenn also im Folgenden dennoch eine stärker vereindeutigende, wenn auch recht komplexe Lesart vorgeschlagen wird, dann soll dies keineswegs als Abwertung des Romans gesehen werden; auch die Mehrdeutigkeit anderer Texte ließe sich des öfteren auf ähnliche Weise vereindeutigen.8 Anders als im Ansatz vieler zeitgenössischer Interpreten soll aus den oben genannten Gründen im folgenden nicht von einer Unentscheidbarkeit zwischen Herausgeber-›Wahrheit‹ und Ich-Erzähler-›Wahrheit‹ ausgegangen werden, sondern von der Annahme, dass der Herausgeber zuverlässig ist. Damit ist erst einmal eines gewonnen: Die äußeren Fakten des ersten Teils können als gesichert gelten (»Der erste Teil des Berichtes entspricht auch tatsächlich, was die rein äußeren Geschehnisse betrifft, dem wirklichen Verlauf der Dinge« [S. 204]) Danach »biegt die Darstellung mit einer jähen Wendung ins Phantastische ab« (S. 205). Akzeptiert man diese Grundannahmen, dann stellt sich die zweite Frage, wie denn der Bericht des Freiherrn einzuschätzen ist. Anders gefragt: Hat der Begriff des »Phantastischen« hier tatsächlich die Bedeutung »leeres Trugbild, Täuschung«? Dann wäre das Buch größtenteils eine unterhaltsame, aber letztendlich bedeutungslose Schimäre.9 Oder bedeutet das »Phantastische« hier – in Anlehnung an die Konzeption bei den Romantikern, insbesondere bei E.T.A. Hoffmann –, eine andere Darstellung von Realität, evtl. sogar einer anderen, bedeutungsvolleren Wirklichkeit? Der Herausgeber wählt ausdrücklich die zweite Alternative: Er verwirft die Möglichkeit, der Bericht hätte einem pragmatischen Zweck, nämlich der nachträglichen Entschuldung des Freiherrn von Yosch vor dem Ehrengericht, dienen sollen. Vielmehr wird an eine psychologische Beobachtung von ›erfahrenen Kriminalisten‹ angeknüpft. Viele Verurteilte deuteten immer wieder die Indizien ihrer Tat um und neu, um sich zu zeigen, »daß sie schuldlos sein könnten, wenn das Schicksal es nicht anders gewollt hätte« (S. 206). Aber hier bleibt der Herausgeber nicht stehen. Er sieht in der »Auflehnung gegen das Geschehene« den Ursprung aller Kunst: »Kam nicht aus erlittener Schmach, Demütigung, zertretenem Stolz, kam nicht de profundis jede ewige Tat?« (S. 206) Damit wird eine psychogenetische Theorie des Kunstwerks ––––––– 8

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Vgl. Fotis Jannidis: Polyvalenz – Konvention – Autonomie. In: Fotis Janidis u.a. (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin/New York 2003, S. 305–328. So Bermann in seiner Einleitung des Texts zum Vorabdruck in Der Tag, zitiert nach Müller: Nachwort (Anm. 4), S. 215.

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formuliert.10 Die Formulierung »de profundis« verweist auf zwei Aspekte. Zum einen ist »de profundis« der Anfang des 130. Psalms, in dem die Erlösung des Menschen aus seinen Sünden durch Gott thematisiert wird.11 Unter diesem Aspekt würde insbesondere das Schuldthema noch einmal angesprochen. Gleichzeitig spielt »de profundis« auf ein besonderes Exemplum für die hier konzipierte Beziehung zwischen Künstler und Kunstwerk an, nämlich auf Oscar Wildes Brief aus dem Gefängnis, der unter diesem Titel 1905 veröffentlicht wurde.12 Der gefeierte Künstler der englischen Gesellschaft stürzte über einen Homosexualitätsprozess in die tiefste öffentliche Entehrung, die durch Scheidung und Konkurs noch verschärft wurde. Und in dieser Situation entstand mit dem Brief aus dem Zuchthaus eines der intensivsten Werke des Künstlers. Die psychogenetische Theorie des Herausgebers konstatiert also: Die Leiden des Künstlers, genauer noch, die sozialen Leiden des Künstlers gehören zu den Entstehungsbedingungen für das gelungene Kunstwerk. Weniger die Schuld im Sinne der Handlung gegen ein individuelles Gewissen, sondern vielmehr die Verletzung des öffentlichen Bildes einer Person, das Aberkennen des sozialen Ansehens in Verbindung mit der Zerstörung des Selbstbilds einer Person oder zumindest mit einem starken Angriff darauf, ist das Gemeinsame der Reihe »erlittener Schmach, Demütigung, zertretenem Stolz«. An dieser Stelle des Textes vollzieht der Herausgeber eine bemerkenswerte Volte: In den großen Symphonien der Töne, der Farben und der Gedanken – in ihnen allen sehe ich einen Schimmer der wunderlichen Farbe Drommetenrot. Eine ferne Ahnung

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Es spricht eigentlich kein Textmerkmal dafür, die Überlegungen des Herausg ebers als ›pseudophilosophische Ausführungen über die Entstehungsursachen der Kunst‹ einzuschätzen, insbesondere weil der Herausgeber zur Beschreibung weniger auf vorgefertigte Versatzstücke aus der zeitgenössischen Philosophie oder Ästhetik zurückgreift, sondern vielmehr unter Bezug auf die Bildsprache des Textes selbst sein Modell skizziert. Natürlich sind die Abhängigkeiten von der zeitgenössischen Diskussion dennoch evident, vgl. Hans-Harald Müller: Leo Perutz, München 1992, S. 20f. Der Anfang des Psalms lautet in der Übersetzung Luthers: »Aus der Tiefen / Ruffe ich HERR zu dir. HErr höre meine stimme / Las deine Ohren mercken auff die stimme meines flehens. So du wilt HErr sünde zu rechen? HErr / Wer wird bestehen?« D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft [1545]. Bd. 2, München 1974, S. 1080. In der Vulgata lautet die erste Zeile »De profundis clamavi ad te, Domine«. Da dieser Psalm in das Totenofficium der römischen Liturgie aufgenommen wurde, bezeichnet »De profundis« einen Trauergesang, vgl. Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, Stuttgart 1964, S. 38. Eine deutsche Übersetzung wurde im selben Jahr veröffentlicht. Bekanntlich schildert der Brief Oscar Wildes an seinen Geliebten Alfred Douglas die Beziehung zu diesem und auch die Ereignisse, die zur Verurteilung von Wilde führten, aus dessen Sicht. In gewisser Weise lässt sich der Brief auch wie der Bericht von Yoschs lesen. Die 1905 veröffentlichte Version ist übrigens gekürzt, die persönlicheren Passagen des Textes wurden erst 1913 anlässlich eines Prozesses bekannt.

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Fotis Jannidis der großen Vision, die den Meister für eine kurze Weile über die Wirrnis seiner Schuld und Qual emporgetragen hat. (S. 206)

Der Herausgeber sieht beides im Kunstwerk: die zerstörte Seele seines Schöpfers, dessen öffentliche Schuld und Qual, aber eben auch die ›große Vision‹. Bemerkenswert daran ist besonders, dass er – um diese Vision zu beschreiben – auf ein Element eben jener Partien des Berichts des von Yosch zurückgreift, die er unter dem Aspekt der Wirklichkeitsreferenz ausdrücklich verworfen hat. »Drommetenrot« ist der Name der Farbe, die all diejenigen sehen, die von dem altüberlieferten Rauschgift genommen haben. Es ist die Farbe, »in der die Sonne leuchtet am Tag des Gerichts« (S. 186). Die Farbe ist zentraler Bestandteil der entschuldenden phantastischen Geschichte des Freiherrn von Yosch, und sie sieht der Herausgeber hier in allen Kunstwerken. Der Herausgeber greift also, um seine Vorstellung von der Genese und der Gestalt großer Kunst zu kommunizieren, auf ein Bild zurück, das er dem Teil des Berichts entnimmt, von dem er ausdrücklich festgestellt hat, er stimme nicht mit der Realität überein, er sei ein »Roman«, eben weil dieser Teil eine andere Wahrheit in der Form eines Kunstwerks formuliert. Durch den Gebrauch dieser bildlichen, uneigentlichen Redewiese gibt der Herausgeber dem Bericht des Freiherrn eine Dignität, die all diejenigen ihm absprechen, die lediglich eine ›Träumerei‹ darin sehen. Die Dichtung des Freiherrn von Yosch bietet ein Formulierungsmedium für die sprachlich nur schwer oder kaum fassbaren Gegebenheiten künstlerischer Produktion. Das Thema der künstlerischen Produktion wird auch wiederholt im Bericht angesprochen: Der Meister des Jüngsten Tages ist eine Droge, die die Leistungen der »Phantasie ins Ungemessene« steigert, und wird vor allem von Künstlern eingenommen, die ihre nachlassende oder nicht besonders ausgeprägte Phantasie verstärken wollen. Geht man von einem zuverlässigen Herausgeber aus, dann gilt es, eine Lesestrategie für den Text zu suchen, die einerseits den Umstand der Schuld von Yoschs als Tatsache der narrativen Welt hinnimmt und gleichzeitig den Bericht nicht allein als psychologische Studie eines Schuldigen auffasst. Das psychogenetische Kunstmodell des Herausgebers zeigt, wie gesagt, den Weg zu einer solchen Lesestrategie. Der Bericht des Freiherrn enthält beide Elemente: die Realitätselemente, insbesondere die Hinweise auf seine Schuld und seinen verletzten Stolz, und gleichzeitig deren Umformung und Einbettung in einen künstlerischen Text. Beides soll gleichzeitig sichtbar werden, die Qual und das Drommetenrot, oder anders formuliert: das Kunstwerk und dessen emotionaler Kontext. Die Kombination aus Bericht und Nachwort kann als spezifische Aufgabenstellung des Romans Der Meister des Jüngsten Tages verstanden werden. In dem Bericht finden sich zahlreiche Widersprüche, die ein Leser zwar wahrnehmen, aber nur schlecht in ein einziges kognitives Schema integrieren kann. Den Schlüssel zu diesem Schema bietet das Nachwort. Die selbstgestellte Aufgabe des Romans

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lautet also, den Ursprung eines Elements der narrativen Welt des Detektivromans, den von Yosch erzählt, sei es einer Figur, eines Objekts oder einer Handlungseinheit, zusammen mit Hinweisen auf den Ursprung dieser Entität aus der Lebenswelt von Yoschs zu präsentieren, wie sie in seiner ›Dichtung‹ und im Nachwort des Herausgebers sichtbar wird, und zwar zusammen mit der verursachenden oder, um einen zu einfachen Kausalitätsbegriff hier von vornherein auszuschließen, der ursprünglichen peinigenden Emotion und deren Bedingungen.13 Dies alles, der Bruch und gleichzeitig die komplexe Beziehung zwischen Fiktionalem und Lebenswelt des Künstlers ist selbst wiederum Inhalt einer literarischen Kommunikation. Anders formuliert: Der Roman nimmt die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit in sich auf. Etabliert wird eine fiktionale Welt, deren Regeln durch den Herausgeber festgesetzt werden. Sie stimmen, so machen die historischen Bezüge und anderes deutlich, mit der aktualen Welt des Jahres 1909 überein. Wesentlicher Bestandteil dieser fiktionalen Welt ist ein Text, der in dichterischer Weise Ereignisse der fiktionalen Welt bearbeitet bzw. sie für poetische Formulierungen zum Ausgangspunkt nimmt. Diese dichterische Darstellungsweise geschieht in der Form einer Kriminalhandlung, die psychologisierend erzählt wird. Diese Form der Gestaltung wird ebenfalls im Text thematisiert. Der Maler Giovansimone Chigi malt nach seinem Drogenerlebnis nur noch den Jüngsten Tag, »und sich selbst hatte der Meister unter die Verdammten gemalt« (S. 188). Auch hier werden in die fiktionale Welt des Bildes ›Realitätselemente‹ aufgenommen.14 ––––––– 13

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Schon Dietrich Neuhaus und Reinhard Lüth haben darauf hingewiesen, dass der Roman zugleich auch über seine Konstruktionsprinzipien informiere, und dies auf die Schuldgefühle von Yoschs wegen seines nicht begangenen Selbstmords bezogen, vgl. Neuhaus: Erinnerung und Schrecken (Anm. 6), S. 58–68 und Reinhard Lüth: Leo Perutz’ »Der Meister des Jüngsten Tages«. In: Quarber Merkur 24 (1986), S. 50. Die hier vorgelegte Analyse geht in zweifacher Hinsicht über ihre recht treffenden Bemerkungen hinaus. Zum einen werden die Verfahren, mit denen das Nebeneinander der Darstellung des schuldhaften Handelns und die Detektivhandlung motiviert werden, eingehender untersucht, zum anderen zeigt ein genauerer Blick auf den Text, dass die Schuldfrage noch etwas verwickelter ist. Auch Michael Koseler weist daraufhin, dass der Roman als Künstlerroman gelesen werden kann. Allerdings verfolgt er diesen Hinweis nicht weiter, sondern sieht hier lediglich eine von mehreren möglichen Lesarten, die die grundsätzliche Ambiguität des Textes erzeugt, Michael Koseler: Leo Perutz: »Der Meister des Jüngsten Tages«. In: Austriaca. Cahier universitaires d’information sur l’Autriche 27 (1988), S. 111–125. Ähnlich auch in Koseler: Leo Perutz’ »Der Meister« (Anm. 6). Innerhalb der fiktionalen Welt der Erzählung des Pompeo di Bene über das Leben des Chigi ist das Bild eine fiktionale Welt. Die fiktionale Welt der Erzählung ist für den Leser als solche erkennbar, innerhalb dessen aber ist sie eine ›Realität‹, zu der sich die Vision vom Jüngsten Tag wiederum als fiktionale Welt verhält.

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Dieser Deutungsvorschlag hat ein Problem. Wie können im Bericht von Yoschs nicht nur die Kriminalhandlung erzählt, sondern gleichzeitig die Informationen gegeben werden, die einen Durchblick auf die zugrundeliegenden Schuldgefühle und deren Entstehungssituation ermöglichen? Wie ist dieses Nebeneinander motiviert, und verletzt es nicht die mehr oder weniger mimetischen Baugesetze des Textes? Die rätselhaften Visionen seiner Schuld sind doch unvereinbar mit dem Bericht von Yoschs über die drogeninduzierten Selbstmorde. Darauf gibt es zwei Antworten: Erstens wird das Nebeneinander der Informationen und Perspektiven in der fiktionalen Welt des Berichts durchaus motiviert; zweitens ist die Annahme, dass die Regeln der fiktionalen Welt so konsistent sein müssten, wohl nicht korrekt. Vielmehr werden die Regeln der fiktionalen Welt den kommunikativen Intentionen untergeordnet. Der Bericht enthält nicht nur die Detektivhandlung, sondern auch die Elemente, die diese Handlung motivieren, um dem Leser auf diese Weise die komplexe Beziehung von beiden Ebenen sichtbar zu machen. So wird, um nur ein Beispiel von sehr vielen zu nennen, die Figur des Gabriel Albachary in die Handlung um das geheimnisvolle Manuskript als der unwissende Besitzer dieses Folianten eingeführt. Albachary ist Kunsthändler und -sammler, der hin und wieder auch Gelder an Freunde verleiht. Sein Sohn ist durch den Folianten wahnsinnig geworden, und ein junger Maler, der bei ihm Kopieraufträge ausgeführt hat, ebenfalls. Der Bericht des Ich-Erzählers informiert allerdings nicht nur über diesen Aspekt der Figur, sondern gleichzeitig erfährt der Leser, dass Albacharys Sohn beim Militär dem Erzähler unterstellt war und der Vater bereits den Vater des Erzählers kannte.15 Diese Informationen, die bezogen auf die Handlung um das geheimnisvolle Manuskript ganz dysfunktional sind, erhalten ihre Funktion, wenn man sie auf die fiktionale Welt des falschen Ehrenworts bezieht und in ihnen sozusagen die Ausgangsmomente für die Beteiligung der Figur an der Kriminalhandlung sieht. Wie aber sind diese beiden Aspekte, die eigentlich zwei unterschiedlichen Welten angehören, nun in die eine einzige Welt des Berichts des Freiherrn von Yosch integriert? Herr Albachary als Teil der Handlung um die geheimnisvolle Droge wird durch klassische Detektivarbeit ermittelt, wie sie typisch für eine Kriminalhandlung ist: Von Yosch findet einen Taxichauffeur, der den verstorbenen Schauspieler Bischoff zu einem bestimmten Haus gefahren hat, und im ––––––– 15

Auch Hans-Harald Müller hat in seinem Nachwort zum Roman darauf hingewiesen, dass »alle handlungstragenden Personen aus Yosch Bericht über die Ereignisse nach dem Tod Eugen Bischoffs in einer engen Beziehung zum Leben des Freiherrn stehen« (Müller: Nachwort [Anm. 4], S. 228). Er sieht darin aber nur eine mögliche ›Lektüre‹ des Textes.

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Haus dann einen Zeugen, den er über die gemeinsame Herkunft vom Militär zum Sprechen bringt und der ihm den entscheidenden Hinweis auf Albachary gibt. Tatsächlich gibt es bis zu dem Moment, in dem von Yosch, Gorski und Solgrub die Wohnung Albarchys betreten, keinen Hinweis darauf, dass dieser nicht eine neue und noch unbekannte Figur in der Handlung ist. Erst im Gespräch mit Albachary stellt sich aber heraus, dass dessen Sohn im Regiment von Yoschs war und dass sein Vater ein alter Bekannter des Kunstsammlers war. Wie so häufig zieht sich der Protagonist, als er mit diesen Informationen konfrontiert wird, darauf zurück, dass er sie vergessen habe. Tatsächlich ist Vergessen, die Unfähigkeit sich überhaupt oder genau zu erinnern, das wesentliche Ereignis innerhalb der Welt des Berichts, mit dem erzähltechnisch das eigentlich unmögliche Nebeneinander der Informationen aus zwei verschiedenen fiktionalen Welten, genauer aus einer fiktionalen Welt ersten und einer zweiten Grades motiviert wird. Ein zweites Beispiel, die Figur der Selbstmörderin Leopoldine Teichmann, soll die Strategie des Autors noch einmal verdeutlichen. Zwei eng miteinander verbundene Gründe machen diesen Zugang besonders interessant: 1. Neben von Yoschs offensichtlicher Schuld am Tod von Eugen Bischoff wird eine zweite Schuld thematisiert, die am Tod der Schauspielerin Agathe Teichmann. 2. Es lässt sich zeigen, dass im Zusammenhang mit der Figur Leopoldine Teichmann Informationen in den Text eingebracht werden, die nur innerhalb des eben skizzierten Rahmens motiviert sind. Eingeführt wird Leopoldine Teichmann als namenlose Anruferin im Hause Bischoffs, die den ersten wesentlichen Hinweis auf den ›Meister des jüngsten Tages‹ gibt. »Wer ist dort?« klang es aus dem Apparat. Ich kannte diese Stimme, ich hatte sogleich die bestimmte Empfindung, daß ich mit einem ganz jungen Mädchen sprach, und mit dieser Vorstellung war die Erinnerung an ein sonderbares Parfüm verbunden, an den Duft von Äther oder ätherischen Ölen – eine Sekunde lang überlegte ich, wo ich diese Stimme schon gehört hatte. (S. 87)

Sehr kunstvoll etabliert der Text hier eine Reihe von Fakten der narrativen Welt des Berichts. Von Yosch kennt die Stimme, weiß aber nicht mehr woher. Die Stimme äußert ein besonderes Wissen über das Geheimnis, das auch dem Tod des Schauspielers zugrunde liegt. Die geheimnisvolle junge Frau, die den Hausherrn sprechen möchte, lässt ausrichten, sie wolle auf keinen Fall länger auf das Jüngste Gericht warten. Im Kontext der Detektivhandlung wird hier zum ersten Mal die geheimnisvolle Droge erwähnt, wenn dies auch weder den Beteiligten noch dem Leser schon klar ist. Besonderes Gewicht bekommen ihre Worte, weil sie zugleich die Worte des Sterbenden waren. Perutz verwendet hier wie im ganzen Text mit großer Souveränität die typischen Mittel des Detektivromans (An-

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spielungen, die noch keiner verstehen kann; unbekannte Figuren, die ihr überlegenes Wissen nur in rätselhaften Aussagen äußern usw.). Die Figur erhält auf diese Weise ein besonderes Gewicht, und die Lüftung ihrer Anonymität ist für die Handlung besonders wichtig. Dadurch wird auch die Assoziation besonders relevant, die von Yosch mit der Stimme verbindet, und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Im Kontext der Handlung wird dies vom Ingenieur Solgrub betont, der nicht nur nach dem Telefonat von Yosch beschwört, sich an den Namen zu erinnern, sondern ihn auch aus dem gleichen Grund am nächsten Morgen aufsucht.16 ––––––– 16

Perutz selbst hat sich, als Walter Benjamin in seiner Rezension »Kriminalromane auf Reisen« – lobend – auf ihn verwies, ausdrücklich gegen die Kategorie des Kriminalromans verwahrt: »Ich habe niemals einen Kriminalroman geschrieben«, zitiert nach Hans-Harald Müller, Britta Eckert (Hrsg.): Leo Perutz 1882–1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main, Wien u.a. 1989, S. 129. Hans-Harald Müller führt einige Argumente dagegen an, den Roman als Kriminalroman zu bezeichnen: 1. Der Leser erfährt alles nur durch einen unzuverlässigen Ich-Erzähler, dessen Darstellung am Ende auch noch dementiert wird; 2. der Detektiv wird Opfer der Todesserie, deren endgültige Aufklärung einer anderen Instanz vorbehalten bleibt; 3. der Mörder stammt nicht aus dem Kreis der eingeführten Personen, sondern ist ein Revenant aus der Vergangenheit; 4. es gibt keine eindeutige Auflösung, sondern nur ein Nebeneinander verschiedener Perspektiven (vgl. Müller: Nachwort [Anm. 4], S. 240). Selbst wenn sich für jeden dieser Punkte ein Kriminalroman bezeichnen lässt, der so operiert, wäre die Summierung dieser Eigenheiten schon Einwand genug gegen eine einfache Genredeklaration. Im Rahmen der oben ausgeführten Interpretation handelt es sich aber bei der Darstellung des Berichts des Freiherrn von Yosch um einen typischen Kriminal- oder Detektivroman, genauer gesagt: Erzählt wird eine Romanhandlung, wie sie typisch für den Detektivroman ist; man kann den Text sogar recht präzise den ›locked room mysteries‹ zuschlagen, einem Subgenre, das auf Poes The Murders in the Rue Morgue (1841) zurückgeht und in Israel Zangwills The Big Bow Mystery (1892) und Gaston Leroux’ Le mystère de la chambre jaune (1907) wichtige Vertreter hat, die Perutz möglicherweise bekannt waren. Im Zentrum dieser Geschichten steht immer die Frage, wie jemand in einem geschlossenen Raum ermordet werden konnte. Es muss noch einmal deutlich gesagt werden: Nicht der Roman Der Meister des Jüngsten Tages gehört diesem Genre an, sondern die Ereignisfolge, die Freiherr von Yosch berichtet, hat sehr große Ähnlichkeit mit der solcher Romane, und auch die Darstellung trägt typische Züge. Zugleich ist seine Darstellung dieser Ereignisse aber von zahlreichen anderen Informationen durchsetzt, die in Verbindung mit dem Nachwort des Herausgebers die berichtete Handlung als Poetisierung einer als unerträglich erfahrenen Realität erweist. Koseler analysiert den Roman als Kriminalroman und kommt zu dem Ergebnis, dass es zahlreiche auffällige Ähnlichkeiten mit diesem Muster gibt, bezeichnet aber auch schon einige der von Müller genannten Abweichungen. Er verweist auch schon auf das Subgenre der ›locked room mysteries‹. Vgl. Koseler: Leo Perutz: »Der Meister« (Anm. 13). Letztendlich geht er damit kaum über die Befunde von Reinhard Lüth hinaus, vgl. Lüth: Leo Perutz’ »Der Meister« (Anm. 13). Vgl. auch Klotz: Drogen und modifizierte Wirklichkeit (Anm. 6). Matias Martinez sieht im Meister des Jüngsten Tages den Fall des proleptischen Rätselromans, der als Strukturmodell typisch für das Werk von Perutz sei, vgl. Matias Martinez: Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz. In: B. Forster u. H.-H. Müller

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Erst durch von Yosch werden die Informationen zur Detektivhandlung mit der »Erinnerung an ein sonderbares Parfüm verbunden, an den Duft von Äther oder ätherischen Ölen«. Subjektiv, d.h. auf das Subjekt, in dem sich die Assoziation ereignet, ist aber lediglich der Inhalt der Assoziation, ihre Form dagegen ist ein allgemeines Verkettungsprinzip. Die kombinierende Regel ist die Assoziation. Sie ist an dieser Stelle außerdem gekoppelt mit einem weiteren Verknüpfungsprinzip, das auch als figurales Schema eingesetzt wird: dem Vergessen. Vergessen als Verknüpfung zu bezeichnen, mag nicht sofort einleuchten, aber ganz offensichtlich verknüpft Vergessen die Wahrnehmungsinstanz in einem Text mit dem, was vergessen wurde. Welche Bedeutung das Vergessen hat, kann nur aufgrund des zugrunde liegenden Modells des Vergessens ermittelt werden; so ist es z.B. auf der Folie von Freuds Psychopathologie des Alltagslebens besonders signifikant, da es sich um motiviertes Vergessen handelt, das weitere Rückschlüsse zulässt. Innerhalb der fiktionalen Welt kann man also fragen, aufgrund welcher privaten Regel die Informationen verknüpft werden, und warum die Verknüpfung vergessen wurde. Erzähltechnisch ist die Frage zu stellen, zu welchem Zweck diese beiden figuralen Schemata verwendet werden. Betont wird dieser Zusammenhang durch die Wiederholung: Und in dem Augenblick, da ich das Wort Brom niederschrieb, mußte ich plötzlich, ohne daß mir der Zusammenhang bewußt wurde, an die Stimme im Telephon denken, an die Stimme der Frau, die auf das Jüngste Gericht nicht warten wollte. (S. 99)

Wiederum wird eine Assoziation vorgeführt, diesmal in umgekehrter Richtung, nämlich von dem Wort ›Brom‹ zu der Stimme und damit der Figur. Die beiden Assoziationen mit der jungen Frau, das ›sonderbare Parfüm‹ und ›Brom‹ zeigen jedoch erst einmal keine Gemeinsamkeit auf. Es ist dann etwas überraschend, als von Yosch dem Ingenieur Solgrub mitteilt, »es kann sich nur um eine Schauspielerin handeln« (S. 104), da dies die Assoziationen ganz offensichtlich nicht erklären würde. Erst als er die Spur Eugen Bischoffs bis zur Apotheke gegenüber seiner Wohnung verfolgt, begreift der Erzähler von Yosch die Verbindung: [D]arum war mir ihre Stimme im Telephon so bekannt erschienen, und jetzt begriff ich auch, warum der Klang dieser Stimme in mir die Erinnerung an irgendein ungewöhnliches Parfüm wachgerufen hatte – Essigäther, Terpentinöl – natürlich! Der Apothekengeruch. (S. 132)

Bereits vorher wird erklärt, dass von Yosch die Apotheke auch für den Einkauf seines Beruhigungs- und Schlafmittels Brom verwendet. Damit scheinen die As––––––– (Hrsg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 107–129.

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soziationen erklärt zu sein. Wie sieht es aber mit dem Vergessen aus? Bereits die erste Erwähnung legt in der besonderen Form des Vergessens nahe, dass von Yosch die junge Frau kaum kennt, da die Frage, ›wo er die Stimme schon gehört hatte‹, auf eine eher oberflächliche Bekanntschaft deutet. Dem Telefonat war außerdem zu entnehmen, dass die junge Frau von Yosch nicht kennt,17 und auch von Yosch kennt Leopoldine Teichmann nicht genauer, da er sich später, als er erkannt hat, welcher Name mit der Stimme verbunden ist, überlegt, wie er sich ihr vorstellen soll.18 Einer nur oberflächlichen Bekanntschaft widersprechen aber die Fülle und der Detailreichtum des Wissens über die junge Teichmann, die von Yosch an den Tag legt.19 Das ungewöhnliche Wissen von Yoschs lässt die Behauptung, er habe vergessen, wem die Stimme gehöre, in zweifelhaftem Licht erscheinen. Das ›Vergessen‹ kann auf einer figurenpsychologischen Ebene mit guten Gründen in Zweifel gezogen werden, erzähltechnisch ermöglicht es, wie schon gesagt, das Nebeneinander der flüchtigen Bekannten Leopoldine Teichmann als Teil der Detektivhandlung und der für von Yosch irgendwie sehr wichtigen Figur. An dieser Stelle muss man tatsächlich ›irgendwie‹ sagen, da bis zu dieser Stelle der Text über den bloßen Grad der Wichtigkeit hinaus kaum Schlussfolgerungen zulässt. Dies ändert sich erst mit dem letzten ›Auftreten‹ der Figur, dem Besuch von Yoschs in ihrer Wohnung nach ihrem Selbstmord. Die Apothekerin und Künstlerin Leopoldine Teichmann hat Selbstmord mit einem namenlosen Gift begangen; Auslöser dafür ist im Rahmen der Detektivhandlung ebenfalls der Genuss des Rauschmittels, der ihre kreativen Kräfte steigern soll. Der Leser erfährt nicht, womit sie sich getötet hat, wohl aber, dass das Mittel einen eindringlichen Geruch hat, der für den Fachmann unverwechselbar ist. Sie ist allerdings nicht gleich tot, sondern wird noch im Krankenhaus behandelt. Ihr Vetter berichtet von der Behandlung: »Der Professor versucht es jetzt mit Chloräthyl.« »Inhalationen vermutlich«, bemerkte Doktor Gorski. »Chloräthyl«, wiederholte der junge Karasek. »Man darf nichts unversucht lassen.« (S. 144f.)

––––––– 17 18 19

»›Freiherr von Yosch.‹ ›Kenne ich nicht‹, klang es sehr dezidiert zurück« (S. 90). »Schließlich entschied ich mich dafür, mich dem jungen Mädchen als ein Freund Eugen Bischoffs vorzustellen« (S. 134). Auf diesen Widerspruch hat bereits Hans-Harald Müller verwiesen und daraus ebenfalls den Schluss gezogen, die Figur entstamme der Lebenswelt des Erzählers von Yosch. Die eingehende Analyse der Präsentation der Figureninformationen soll zeigen, dass darüber hinaus weitere Schlüsse möglich oder zumindest wahrscheinlich sind.

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Die Wiederholung dient an dieser Stelle offensichtlich der Charakterisierung des ›unbedeutenden Mannes‹ Karasek, zugleich aber wird so die Information »Chloräthyl« betont.20 Chloräthyl ist, wie der Name schon nahe legt, ebenfalls ein Ätherprodukt und riecht wie dieser. Von dieser Stelle aus bekommt die Assoziation »an den Duft von Äther oder ätherischen Ölen« eine ganz andere Bedeutung: Von Yosch verbindet die Stimme mit der Erinnerung an einen Selbstmord. Auch die zweite Assoziation, das Schlafmittel Brom, ist zugleich mit dem Thema ›Selbstmord‹ verbunden, da von Yosch für seinen eigenen Selbstmord Brom verwenden will und einen solchen Todestrank auch schon angerührt hat. Wie in einer Kippfigur sind die beiden Assoziationen einmal ganz harmlos mit dem Hinweis auf die Arbeit in der Apotheke erklärbar, außerdem aber mit dem Hinweis auf den Selbstmord. Von welchem Selbstmord ist aber hier die Rede? Von Yosch kann ja nicht gut bereits an den Selbstmord der Leopoldine Teichmann denken, wenn diese noch mit ihm telefoniert. Es könnte sich um den Selbstmord der Leopoldine Teichmann als Figur der fiktionalen Welt des Romans handeln, deren Selbsttötung dann in der fiktionalen Welt des Berichts wieder auftaucht. Der Text legt aber eine andere Deutung nahe; es handelt sich um die Mutter der Leopoldine Teichmann, die Schauspielerin Agathe Teichmann, von der ihr Vater berichtet: »Macht mir Sorgen, das Kind«, seufzte der alte Mann. »Hat ihren eigenen Kopf, hört nicht auf mich, läßt sich nichts sagen. Das hat sie von ihrer Mutter. Du weißt ja, Heinrich, die Agathe! Erst die Scheidung. Der Kummer! Und dann, wegen solch eines Lausbuben von Leutnant, ich komm’ nach Hause, spür’ den Gasgeruch, stockfinster in der Wohnung, ›Agathe!‹ ruf ich –.« (S. 150)

Selbstmord aus Liebe hat die Schauspielerin begangen, aus Liebe zu einem »Lausbuben von Leutnant«. Der Text macht mit zwei Hinweisen deutlich, dass von Yosch damit gemeint ist. Zum einen erwähnt Gorski eine Liebesaffäre zwischen von Yosch und Agathe Teichmann und spielt dabei auf eine unrühmliche Rolle des Freiherrn an; nebenbei erwähnt er auch dessen Alter: »Agathe Teichmann«, sagte der Doktor und setzte sich den Zwicker zurecht. »Ich habe sie ein einziges Mal auf der Bühne gesehen. Agathe Teichmann! Wie alt waren Sie damals, Baron? Sehr jung noch, neunzehn Jahre alt, denk’ ich, oder höchstens zwanzig. Keine ganz ungetrübte Erinnerung, wie? Ich, sehen Sie, ich habe niemals Glück bei Frauen gehabt. Dafür kann ich heute unbewegten Herzens einem alten Bilde gegenüberstehen.« (S. 140)

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Chloräthyl wurde als Narkosemittel eingesetzt, ist aber heute nicht mehr in Verwendung, weil es schwierig zu dosieren ist und Überdosierung schnell zum Tod führt.

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Die Aussage des Doktors besagt lediglich, dass von Yosch eine Affäre mit der Schauspielerin hatte und dass in Verbindung damit etwas vorgefallen ist, weshalb die Erinnerung nicht ganz ungetrübt ist. Erst in Verbindung mit der anderen Information über den Selbstmord Agathes, die im Text rund zehn Seiten später gegeben wird, wird daraus die dringende Vermutung, von Yosch sei der Leutnant gewesen.21 Bestätigt, wenn auch nur wiederum indirekt, wird diese Vermutung an späterer Stelle. Die ›Detektive‹ Solgrub, Gorski und von Yosch haben die Wohnung der jungen Selbstmörderin sowie ihren Vetter und ihren Großvater verlassen und gehen die Treppe hinab. Gorski schimpft auf von Yosch, da er Probleme im dunklen Treppenhaus hat: [N]icht einmal Streichhölzer habe ich bei mir. Ich weiß, Sie sehen im Dunkeln, Sie haben überhaupt etwas von einer Katze, das hab’ ich schon immer gesagt. Ihre stumme Verbeugung dort oben, kostbar, was dachten Sie sich denn eigentlich, haben Sie denn nicht bemerkt, daß der alte Mann blind ist? Vollkommen blind. Gott behüte mich davor, so alt zu werden. Licht. Endlich! (S. 152)

Von Yosch spricht den alten Hofrat Karasek, »dessen erhabener Goethekopf« ihm »aus den vergangenen Jahren lebendig in Erinnerung geblieben war« (S. 150), nicht an, sondern grüßt ihn nur stumm, obwohl der alte Mann blind ist, wie Groski bemerkt. Die Blindheit ist auch schon aus dem Verhalten des Hofrats im Bericht von Yoschs erschließbar22 und wird durch die Entschuldigung des Hofrats nur unterstrichen.23 Die ausdrückliche Erwähnung des ungewöhnlichen Verhaltens von Yoschs macht es relevant und legt nahe, dass es eine Bedeutung hat. In einem psychologischen Roman könnte die Funktion allein darin bestehen, die ich-bezogene Wahrnehmung des Protagonisten zu markieren, aber in diesem ›Indizienroman‹24 gibt es solche einfachen psychologischen Charakterisierungen nur selten; es gelten andere Regeln: Jede Kleinigkeit hat eine über sich hinausweisende Bedeutung, doch die Art des Verweises ist nicht symbolisch, sondern ––––––– 21

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Nicht unwesentlich bei dieser Schlussfolgerung ist die Annahme, dass in einem literarischen Text zwei Informationen, die sich so gut ergänzen, tatsächlich auch zusammengehören. Der Erzähler von Yosch thematisiert gleich zweimal den Umstand, dass Agathe Teichmanns Vaters Augen ungewöhnlich sind: »er starrte mit einem völlig ausdruckslosen Blick zu Boden« (S. 150), und nachdem erstmals jemand anderes als der junge Karasek gesprochen hat, hebt der Hofrat den Kopf und stellt da erst fest, dass noch jemand anwesend ist. »Entschuldigung, die Herren, daß ich Sie nicht begrüßt hab’. Mit meinen Augen – es geht halt nimmer recht. Kurzsichtig war ich ja immer, hab’ mir sagen lassen, daß das mit den Jahren besser wird. Aber bei mir ist grad das Umgekehrte der Fall.« (S. 151) Neuhaus: Erinnerung und Schrecken (Anm. 6), S. 60.

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eben die eines Indiz für ein vor den Augen des Lesers verborgenes Faktum. Von Yoschs Verhalten ist nach den Regeln des Textes kein Hinweis auf eine Figureneigenschaft, sondern auf eine Tatsache in der erzählten Welt, die der Erzähler dem Leser eigentlich vorenthalten möchte. Eine plausible Motivierung des Schweigens besteht in der Annahme, von Yosch wollte vermeiden, dass der Vater von Agathe Teichmann seine Stimme hört, weil er in ihr die Stimme desjenigen wiedererkennen könnte, der am Tode seiner Tochter schuld ist. Nur in Andeutungen, aber doch deutlich wahrnehmbar, verweist der Text auf eine zweite, öffentlich bekannte Schuld des Freiherrn von Yosch. Aus Elementen dieses Lebensbereichs baut der Erzähler einen wichtigen Handlungsstrang der Detektivhandlung, in deren Zentrum die Apothekerin und Künstlerin Leopoldine Teichmann steht. Nach dem Telefonat mit von Yosch hebt der Ingenieur Solgrub ausdrücklich hervor, ihr Leben sei gefährdet, und sie wird tatsächlich ein weiteres Opfer des Folianten, zugleich aber gewinnt Solgrub auf diese Weise den entscheidenden Schlüssel zum Geheimnis des ›Meisters‹. Auf der Ebene der fiktionalen Welt, in der von Yosch am Tod Eugen Bischoffs schuldig ist, wird eine zweite Schuld sichtbar, die ebenfalls mit seinem Erfolg bei Frauen und seiner Skrupellosigkeit begründet wird. Zeichenhaft werden die beiden Episoden miteinander verbunden. Als von Yosch mit Gorski und Solgrub in der Wohnung des Hofrats Karasek wartet, studiert er die Bilder an den Wänden: Aquarelle und kleine Pastellmalereien, Dilettantenarbeit, ein blühender Kastanienbaum, das Porträt eines Geige spielenden jungen Mannes, ein ziemlich mäßig komponierter ländlicher Marktplatz – auch das Bild, das ich einmal in einer Kunstausstellung gesehen hatte, war da, Astern und Dahlien in einer grünschimmernden japanischen Vase, es hatte also keinen Liebhaber gefunden. (S. 140)

Von den vier Bildern, deren Inhalt geschildert wird, lassen sich drei mit bereits erwähnten Motiven des Textes in Verbindung bringen. Das Bild aus der Kunstausstellung wurde als Bild der jungen Apothekerin mit künstlerischen Ambitionen bereits früher erwähnt.25 Der blühende Kastanienbaum greift ein Motiv auf, das in der ersten Hälfte des Romans sehr breit entwickelt wird. Der Pavillon, in dem sich Eugen Bischoff tötet, steht in einem Garten, in dem sich auch einige Kastanienbäume befinden. Gleich auf den ersten Seiten des Textes wird das Kastanienlaub auf den Wegen des Gartens nicht nur erwähnt, sondern als irreführende Zeitangabe auch betont.26 Im Laufe der Ereignisse im Hause Bischoffs ––––––– 25 26

»Ich erinnerte mich eines Ölgemäldes, das sie in einer Künstlervereinigung ausgestellt hatte, eines Stillebens von langgestielten Astern und Dahlien« (S. 133). »Vielleicht hat mich die Erinnerung an verwelktes Kastanienlaub auf den Kieswegen des Gartens, an reife Trauben, die an den Straßenecken feilgeboten wurden, und an

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werden die Kastanienbäume und -blätter mehrfach genannt27 und sehr deutlich mit dem tödlichen Geschehen assoziiert.28 Es handelt sich aber stets um welke Blätter an einem herbstlichen Baum – im Gegensatz zu dem blühenden Kastanienbaum auf dem Bild. Hinzu kommt »das Porträt eines Geige spielenden jungen Mannes«. Der einzige aktive Geigenspieler des Textes ist von Yosch, aber er ist zur Zeit der Detektivhandlung nicht mehr jung, sondern über vierzig. In beiden Bildern ist das Dargestellte also deutlich jünger und verweist, wenn auch weniger manifest, ebenfalls auf einen früheren Zeitpunkt im Leben von Yoschs. Der Kastanienbaum als Zeichen für das schuldhafte Handeln von Yoschs verbindet die bereits bekannte Schuld des Freiherrn bezüglich des Todes Eugen Bischoffs mit der neuen, die erst im weiteren Verlauf seines Aufenthalts in der Wohnung deutlich wird. Ein weiterer Umstand aber ist aufgrund der besonderen Regeln dieser doppelten narrativen Welt von besonderem Interesse: Leopoldine Teichmann ist nie mit dem Erzähler in einem Raum. Anfangs hört er sie nur. Dann werden ihr mittels der Assoziationen weitere Informationen zugeschrieben. Es folgt der Bericht über das Gespräch mit Bischoff. Nachdem sich die Erinnerung wieder eingestellt hat, werden ihr darüber weitere Informationen, insbesondere über ihr Aussehen, ihre Art sich zu bewegen, zugeordnet, und zuletzt wird dies mittels des Berichts des Vetters um Angaben über ihr Privatleben ergänzt. Auffällig wird diese indirekte Präsenz der Figur auf der Grundlage der Textregeln: Die Figuren, denen von Yosch direkt begegnet, weisen sozusagen einen Rest von Eigendynamik auf, z.B. der Major, der ihm die Wohnung von Albachary weist. Dieser duzt ihn hartnäckig und behandelt ihn höchst vertraulich, obwohl von Yosch ihn wiederum ganz förmlich anspricht. Die oben genannten Bauregeln des Textes lassen den Leser hier das Nebeneinander von Figureninformationen aus der fiktionalen Welt, in der von Yosch schuldig geworden ist, und der fiktionalen Welt der Detektivhandlung wahrnehmen. Auf diesem Hinter–––––––

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ersten herbstlichen Frost – vielleicht hat mich dieser ganze Komplex unbewußter Erinnerungen, die mir irgendwie mit diesem Tag verknüpft sind, irregeführt« (S. 9). Z.B.: »Der Wind bog und schüttelte die Äste der Kastanienbäume und fegte kleine Kavalkaden herbstlich verwelkter Blätter vor sich her über den Kiesweg« (S. 40), oder: »[E]s war nur ein welkes Kastanienblatt, das von der Baumkrone herab zur Erde taumelte« (S. 53). Besonders deutlich wird dies, als von Yosch noch einmal den Pavillon betritt: »Draußen rauschten die Kastanienbäume. […] ein verwelktes Kastanienblatt, das sich ins Zimmer verirrt hatte, huschte über den Fußboden« (S. 60). Von Yosch kann sich an die Zeit, in der er wohl in den Pavillon gegangen ist und Eugen Bischoff mit seinem finanziellen Ruin konfrontiert hat, nicht erinnern: »Vielleicht stand ich an den Stamm eines Baumes gelehnt und träumte« (S. 39). Wiederum wird seine schuldhafte Handlung mit dem Kastanienbaum verbunden.

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grund ist der Umstand, dass Leopoldine Teichmann nicht ›auftritt‹, signifikant, was den Status ihrer Beziehung zu von Yosch in der fiktionalen Welt, in der er schuldig geworden ist, betrifft: Er ›kennt‹ sie tatsächlich nicht. Die Figur Leopoldine Teichmann wird außerdem – und das macht die Annahme noch plausibler – nach dem vom Herausgeber bezeichneten Einschnitt eingeführt, d.h. nicht nur ihre Beteiligung an der Handlung, sondern ihre ganze Existenz als Bekannte von Yoschs in der fiktionalen Welt ist demnach – im Gegensatz zu den Figuren von Yosch, Dina und Eugen Bischoff, Solgrub und Gorski – mit einem Unsicherheitsmarker versehen. Der Text bietet dem Leser also zahlreiche Indizien, die er unabhängig von der Deutung des Erzählers interpretieren muss. Die Deutung des Herausgebers bietet zwar den wesentlichen Rahmen für diese Interpretation, aber nicht weniges kann dennoch nur erschlossen werden. Interessanterweise hat Perutz die Hinweise, auf die Herkunft zahlreicher solcher Elemente aus dem Manuskript getilgt. In den »Schlußbemerkungen des Herausgebers« stand vor der ersten Leerzeile und nach dem Absatz, der mit den Worten »in einer ehrengerichtlichen Verurteilung des Freiherrn von Yosch ihren Abschluß gefunden.« endet, folgende Passage: An einigen Stellen der Erzählung – (insbesonders in ihrem 15. und 18. Abschnitt) – gewinnt es den Anschein, als wollte die Wahrheit zum Durchbruch kommen, als könne nun das Bekenntnis der Tat nicht länger auf sich warten lassen. Aber es scheint nur so. Immer wieder gewinnt in dem Bericht das rein phantastische Element die Oberhand. {Ich habe die Mühe nicht gescheut, \nach Abschluß des Krieges| allen Einzelheiten auch des zweiten Teiles der Erzählung nachzugehen. Sie sind, wie ich feststellen konnte, nicht durchwegs aus der Luft gegriffen. Die Morgenblätter vom 21. September 1909 berichteten über die Verzweiflungstat eines Marineoffiziers, der sich aus dem Fenster seines im dritten Stockwerk gelegenen Zimmers auf das Straßenpflaster gestürzt hatte. Genau eine Woche später, am 28. September 1909 brachten die Blätter eine Notiz über den Selbstmord einer Studentin der Pharmazie. Auch hier stimmten die näheren Umstände mit der Darstellung des Freiherrn von Yosch überein. Nur in einem einzigen, freilich wesentlichen Punkt weichen seine Angaben von der Wirklichkeit ab: Die Motive waren nämlich in beiden Fällen durchaus nicht geheimnisvoller Natur. Der Polizeibericht stellt fest, daß in dem einen Fall pekuniäre Schwierigkeiten, in dem anderen Zerwürfnisse zwischen Verlobten die Ursache des Selbstmordes waren. Gleichfalls in einem Zeitungsblatt vom 28. September fand ich die Anzeige eines Herrn Gabriel Albachary, der antike Kunstgegenstände, Möbel, Bücher und Gemälde alter Meister dringend aus privater Hand zu kaufen suchte. Es zeigt sich also, daß der Freiherr von Yosch den Inhalt zweier Zeitungsnummern in seinem Roman verwertet hat. Dafür spricht auch der Umstand, daß er in dem einleitenden Kapitel seines Buches einen beinahe lückenlose Übersicht der außenpolitischen und lokalen Ereignisse des 26. September 1909 gibt. Die exakte Darstellung des ›Reliefs‹ dieses Tages, in der sogar der der amtliche Wetterbericht verarbeitet erscheint, ist {xxx} \eben| nicht, wie Freiherr von Yosch uns glauben machen will, eine besondere Leistung seines Gedächtnisses. Sie läßt vielmehr darauf schließen, daß er die Zeitungsblätter vor sich liegen hat-

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Fotis Jannidis te, als er seinen romanhaften Bericht über die ›Ereignisse des Herbstes 1909‹ niederschrieb.}29

Vor der zweiten Leerzeile und nach dem Absatz, der mit den Worten »die Wirrnis seiner Schuld und Qual emporgetragen hat.« endet, steht folgender Absatz: Ich habe {abschließend} noch zu {bemerken} \erwähnen|, dass der Kunstgeschichte ein ›Meister des jüngsten Tages‹ unbekannt ist. Wohl aber kennt sie einen Maler Giovansimone Chigi, der in der ersten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts tätig war. Sein Name erscheint mehrere Male in den Steuerregistern der Stadt Florenz, auch Vasari erwähnt ihn in einem an den Rechtsgelehrten Tommaso de’ Cortesi gerichteten Brief. Über seine Lebensumstände weiß man nicht viel. Sein Werke, die den Einfluß des Guilio Romano erkennen lassen, befinden sich größtenteils in deutschem, englischem und österreichischem Privatbesitz. Auf einem {seiner Gemälde} \dieser Bilder|, einer ›Verkündigung Marias‹, die einige Zeit hindurch als Leihgabe im ›Kunsthistorischen Museum‹ zu sehen war, ist die Sonne in Gestalt eines strahlengekrönten und in eine Posaune stoßenden Cherubs dargestellt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dieses Symbol dem Freiherrn von Yosch die Idee seiner Farbe Drommetenrot eingegeben hat. 30

Die gestrichenen Passagen erklären viele Informationen des Berichts, indem sie sie auf kontingente Informationen der Zeit, insbesondere Zeitungsberichte, zurückführen. Ohne diese Aufklärung, diese Entzauberung ist der Roman rätselhafter. Es bleiben als Quellen für die Informationen die durch den Herausgeber bestätigten Angaben über die Ereignisse um den Tod von Eugen Bischoff. Eine weitere Quelle sind alte ›Schuldgefühle‹, genauer Erinnerungen an Handlungen von Yoschs, die ca. 20 Jahre zurückliegen. In die Geschichte, die von Yosch in Abwehr seiner Schuld wegen des Todes eines Menschen erzählt, sind Elemente einer weiteren Geschichte um eine vergleichbare Schuld verwoben.31 Diese Form der mehrfachen Motivierung der Ereignisse hat auffällige Ähnlichkeit mit Freuds Beschreibung der Traumarbeit, wenn man von dem nicht unwesentlichen Punkt absieht, dass das Verdrängte nichts Sexuelles ist. Akzeptiert man diese struktu––––––– 29

30 31

Vgl. Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages. Handschriftliche Fassung. Deutsche Bibliothek Frankfurt/M., Deutsches Exilarchiv 1933–1945. { markiert den Anfang der Streichung; } markiert das Ende. \| bezeichnet eine Einfügung; xxx unlesbaren Text. Der Text vor der Streichung fehlt im gedruckten Text, ist also wohl in den Fahnen gestrichen worden. Der Text fehlt im Druck, ist also wohl in den Fahnen gestrichen worden. Klotz zeigt, dass diese ›Produktivkraft der Schuld‹ auch in der Form der Assoziationen deutlich wird; so muss von Yosch, als er das schottische Plaid sieht, das über Bischoff gebreitet ist, an seine Darstellung des Macbeth denken, hat dann aber die Worte der schlafwandelnden Lady Macbeth im Ohr: »Here’s the smell of the blood still: all the perfumes of Arabia – « (S. 55). Die Fortsetzung des Zitats lautet bei Shakespeare: »will not sweeten this little hand« und verweist auf das Schuldgefühl, das ihren Geist zerstört. Vgl. Klotz: Drogen und modifizierte Wirklichkeit (Anm. 6), S. 100f.

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relle Ähnlichkeit zwischen dem Bauprinzip des Textes mit der Mehrfachmotivierung, wie Freud sie in der Traumdeutung beschreibt, dann würde sich die psychogenetische Theorie des Herausgebers präziser als Beschreibung einer Sublimierung beschreiben lassen, einer Sublimierung, nicht aufgrund verdrängter Sexualität, sondern als Umgangsweise mit der Schuld und Qual.

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Turlupin oder: Und wo bleibt das Ethische, Herr Perutz? »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« (Karl Marx: Thesen über Feuerbach)

Der Schriftsteller Ernst Weiß mochte die Romane seines Freundes Leo Perutz durchaus, aber er liebte sie nicht. Weiß bewunderte an Perutz’ Arbeiten die kompositorische Stringenz, es fehlte ihnen nach seiner Überzeugung aber an dem ethischen Impetus, den er als Kierkegaard-Verehrer für einen unverzichtbaren Bestandteil großer Dichtung hielt. Zu einer frühen Fassung des Romans Die dritte Kugel, die Perutz ihm zugesandt hatte, merkte Weiß in diesem Sinne etwas gönnerhaft an, dass »die Sache ja Niveau« habe, um sogleich den Wunsch anzuschließen, dass sich Perutz in Zukunft statt ästhetischer Kombinationsspiele lieber seriösen Fragestellungen widmen möge: Nach wie vor, trotz aller Anerkennung und gerade deshalb, weil ich sie für neu, das Resultat einer starken Begabung halte, würde ich sie bitten, sich […] nach Beendigung dieser Arbeit der Schilderung der modernen Seele von gestern und morgen zuzuwenden.1

Noch deutlicher wurde Weiß, nachdem er 1918 das Manuskript von Zwischen neun und neun gelesen hatte: Der Roman sei zwar, so ließ er Perutz in einem Brief wissen, »in seiner Art das fabelhafteste«, das er kenne; die Schlusswendung des Textes aber erscheine ihm schlicht »schnitzlerisch resigniert«, sie arbeite dem »Wienerisch Sentimentalen« nicht hinreichend entgegen.2 Ein Kommentar von Weiß zu Perutz’ fünftem Roman Turlupin ist nicht überliefert – es lässt sich aber vermuten, dass sein Urteil über den 1923 entstandenen und 1924 erschienenen Text ähnlich ausgefallen sein dürfte.3 Der Roman näm––––––– 1

2 3

Ernst Weiß an Leo Perutz, o.D. (nach Mai 1912). In: »… ein guter Freund und Kamerad täte mir oft hier sehr wohl«. Ernst Weiß’ Briefe an Leo Perutz. Hrsg. v. P. Engel u. H.-H. Müller. In: Modern Austrian Literature 21 (1988) Heft 1, S. 27–59, S. 43. Weiß an Perutz, 9. September 1918. In: Ebd., S. 46. Zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Romans vgl. Hans-Harald Müller: Leo Perutz. München 1992, S. 52f. und Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Leo Perutz: Turlupin. Hrsg. v. H.-H. M., Wien 1995, S. 191–207, S. 193. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan im Text durch Angabe der betreffenden Seitenzahlen nachgewiesen.

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lich weicht in seiner Anlage und seinem Aufbau nicht wesentlich von Perutz’ Texten des vorangegangenen Jahrzehnts ab: Mit Turlupin legte er ein weiteres Mal einen historischen Roman vor; wiederum gliederte er den Text in Rahmen- und Binnenerzählung, und wiederum nutzte er die Rahmenerzählung zur Formulierung eines Rätsels samt Lösung und die Binnenerzählung zur Präsentation des Wegs, auf dem die Lösung erreicht wird.4 Auch die Geschichte des Barbiergehilfen Tancrède Turlupin dürfte Weiß in seiner Überzeugung bestätigt haben, es gehe Perutz in seinen Texten nicht um ethische Fragestellungen, sondern um den ästhetischen Genuss, den eine ebenso unwahrscheinliche wie einleuchtende narrative Umsetzung der Lösung eines intrikaten Rätsels zu bereiten vermag. Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass Weiß’ Urteil, dem sich die Forschung vielfach angeschlossen hat, zumindest im Hinblick auf den Turlupin und damit vermutlich auch im Hinblick auf Perutz’ Romane der Folgezeit zu kurz greift. Beim Turlupin mag es sich zwar um einen ›proleptischen Rätselroman‹5 handeln; der Text geht aber nicht darin auf, das Strukturmodell ›RätselLösung-Lösungsweg‹ in kunstvoller Form umzusetzen. Um dies zu verdeutlichen, werde ich in denkbar einfacher Weise vorgehen: Ich werde mir zunächst die Rahmenerzählung des Werks anschauen (1), sodann die Binnenerzählung (2) und anschließend das Verhältnis, das zwischen beiden Erzählebenen besteht (3). Am Ende meiner Interpretationsskizze werde ich kurz die Folgen meiner Rekonstruktionen für die Frage nach der ethischen Dimension von Perutz’ Roman erläutern (4).6

1. Der Erzähler des Turlupin wartet in seiner Vorbemerkung, wie bereits erwähnt, nicht allein mit einem Rätsel, sondern gleich auch mit dessen Lösung auf. Nachdem er unter Berufung auf eine Vielzahl historischer Quellen die revolutionäre Atmosphäre im Frankreich des Kardinal Richelieu heraufbeschworen und dessen ––––––– 4 5

6

Vgl. die historischen Romane Die dritte Kugel (1915) und Der Marques de Bolibar (1920) sowie den Zeitroman Der Meister des jüngsten Tages (1923). Zum Begriff des ›proleptischen Rätselromans‹ vgl. Matías Martínez: Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz. In: B. Forster u. H.-H. Müller (Hrsg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 107–129. Zur Sicht des Verhältnisses zwischen Erzählanalyse und Textdeutung, von der im Folgenden ausgegangen wird vgl. Tom Kindt, Hans-Harald Müller: Narrative Theory and/or/as Theory of Interpretation. In: Dies. (Hrsg.): What Is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory, Berlin/New York 2003, S. 205–219.

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Geheimplan einer »Bartholomäusnacht des französischen Adels« (S. 11) offengelegt hat, hält der Erzähler inne und erklärt: Es gehört zu den großen Rätseln der Menschheitsentwicklung, daß die französische Revolution erst im Jahre 1789 zum Ausbruch gekommen ist. Frankreich war im Jahre 1642 reif zur großen Revolution. Jene Kombination von Menschen, Ideen und besonderen Umständen, die am Ende des 18. Jahrhunderts den Sturz des Königtums herbeigeführt hat, war schon im Jahre 1642 gegeben. (S. 14)

So bemerkenswert die Frage ist, die der Narrator seinen Schilderungen voranstellt, so erstaunlich erscheint die Antwort, die er am Ende seiner Vorbemerkung umreißt, um damit auf die Pointe seines Berichts zu verweisen. Das »Schicksal« sei, so schreibt er, gegen eine Vorwegnahme der Revolution im 17. Jahrhundert gewesen: Das Schicksal ging seine eigenen Wege. Noch einmal sollte das alte, dem Tod geweihte Frankreich über die Ideen einer neuen Zeit triumphieren. Die Welt sollte um den Glanz des Sonnenkönigtums nicht betrogen werden. Um die Pläne des Titanen Richelieu zu durchkreuzen, bediente sich das Schicksal eines Narren namens Turlupin. (S. 17)

Damit endet die Vorbemerkung, die prima facie tatsächlich wie die Eröffnung eines ästhetischen Experiments erscheint, bei dem es darum geht, in möglichst einleuchtender Weise eine äußerst unwahrscheinliche Geschichte zu erzählen. Dass ein solcher Eindruck der Rahmenerzählung nur bedingt gerecht wird, macht eine genauere Betrachtung der Art und Weise deutlich, in der in ihr das Rätsel und die Lösung vorgestellt werden, die den Schilderungen der Binnenerzählung zugrunde liegen. Die These, dass ein Narr mit dem Namen Turlupin eine Verzögerung der französischen Revolution um eineinhalb Jahrhunderte verursacht habe, wird dem Bericht nicht einfach vorangestellt – ihre Formulierung stellt vielmehr den Schlusspunkt eines stillschweigend vollzogenen und zugleich grundlegenden Rollenwechsels des Narrators dar. Der Erzähler des Turlupin beginnt im Stile eines Chronisten, der mit seinen Ausführungen wissenschaftlichen Ansprüchen an historische Rekonstruktionen zu genügen versucht. In seiner Vorbemerkung beruft er sich nicht allein auf vorliegende geschichtliche Darstellungen; zur Stützung seiner Hinweise führt er zudem Briefe, Straßenlieder, Gerichtsprotokolle und anderes Quellenmaterial ins Feld (S. 7 13). Sofern seine Einschätzungen durch vorhandene Dokumente nicht oder nicht hinreichend gedeckt werden, scheint er das mit seinem Selbstverständnis als Historiker nur schwer vereinbaren zu können. Anschaulich zeigt sich dies gleich in seinen Anmerkungen zur einleitenden Anekdote: Nach dem quellengestützten Bericht über einen Angeklagten im Paris des Jahres 1642, der seine Verurteilung mit dem Hinweis zur Kenntnis nimmt, dass er vor dem Haftantritt noch am »Federballspiel des Herrn von Saint-Chéron« teilnehmen

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werde, merkt der Erzähler an: »Aus den Prozeßakten ist nicht zu ersehen, wie diese Bemerkung von den Richtern, den Beisitzern und den Schreibern angenommen wurde. Vielleicht hat sie nur verwundertes Kopfschütteln hervorgerufen« (S. 7). An der Rolle des Historikers verliert der Erzähler jedoch schon bald den Gefallen – und zwar umso mehr, je näher er dem Kern der Exposition kommt. Die recht kühne Vermutung, »daß für den St.-Martins-Tag des Jahres 1642 eine Bartholomäusnacht geplant war« (S. 11), sichert er nur durch die Behauptung ab, es gebe Quellen, die dies zeigten. Welche Art von Belegen er im Auge hat, was ihnen zu entnehmen ist und wo sie einzusehen sind, lässt der Erzähler offen. Auch zur Stützung seiner These, dass Kardinal Richelieu der Drahtzieher bei den Vorbereitungen zu jener Bartholomäusnacht gewesen sei, begnügt er sich mit einem Hinweis auf vorhandene Untersuchungen, um knapp anzumerken, dass er ein Referat ihrer Ergebnisse für »nicht nötig« (ebd.) halte. Im Fall der Behauptungen schließlich, durch die der Erzähler die Umrisse der im weiteren präsentierten Geschichte skizziert, finden Belege nicht einmal mehr Erwähnung. Ohne Absicherung äußert er sich in den betreffenden Passagen zum ›Willen des Schicksals‹ – am Ende seiner Vorbemerkung hat der Erzähler ganz offensichtlich »die Rolle des Geschichtsschreibers mit der des Geschichtenerfinders vertauscht«.7

2. Der eigentliche Bericht des Narrators schildert den Weg Tancrède Turlupins zwischen dem 8. und dem 11. November 1642. Die zentralen Ereignisse dieser letzten vier Lebenstage des Barbiergehilfen, die in einem chronologisch aufgebauten und zumeist intern fokalisierenden Bericht dargestellt werden, sind schnell zusammengefasst: Turlupin, der als Findelkind zunächst von einem Korbflechter großgezogen und anschließend von einem Barbier und dessen Frau aufgenommen und ausgebildet worden ist, lebt in dem festen Glauben, adliger Abstammung zu sein. Bei einer Beerdigungsfeier, an der er aufgrund einer Verwechslung teilnimmt, meint er in der Herzogin von Lavan seine Mutter zu erkennen. In der Absicht, den ihm nach seiner Auffassung zukommenden Platz in der Familie von Lavan einzunehmen, verschafft sich Turlupin unter falschem Namen Zutritt zu ihrem Landsitz bei Paris, in dem gerade Vertreter des französischen Adels versammelt sind, um zu beratschlagen, wie sie sich gegen einen von Richelieu geplanten Volksaufstand zur Wehr setzen können. Dass die ––––––– 7

Müller: Nachwort (Anm. 3), S. 196.

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Rebellion im Keim erstickt, liegt allerdings nicht am entschlossenen Handeln der Adelsvertreter – es ist vielmehr die Konsequenz einer Begegnung, zu der es kommt, als die aufgebrachte Menge den Landsitz der Familie von Lavan einzunehmen versucht. Turlupin, der in den vordersten Reihen der Adligen Stellung bezogen hat, trifft im Augenblick des Angriffs auf den Vicomte von SaintChéron, den Kopf der Aufständigen, der ihm aus seiner Zeit als Barbier unter dem nom de guerre Gaspard bekannt ist: Die beiden standen einander gegenüber, Aug’ in Aug’, und erkannten einander. Und dennoch erkannten sie einander nicht. Der Vicomte von Saint-Chéron sah den Perükkenmacher Turlupin, der ihm alle Wochen den Bart geschoren hatte, und ahnte nicht, daß es der Schwertadel Frankreichs war, der vor ihm stand, der aus tausend Wunden blutende, von Richelieu zu Tode getroffene Adel Frankreichs, der zu seinem letzten, furchtbaren Streich gegen die neue Zeit ausholte. Und Turlupin – er sah den Gehilfen eines Tuchhändlers aus der Apostelgasse, Monsieur Gaspard, der mit höflichem Gruß alle Wochen in der Barbierstube der Witwe Sabot erschienen war – und wußte nicht, daß mit dem Mann, dem er jetzt sein Dolchmesser in die Brust stieß, die Revolution zu Boden sank, um sich erst nach hundertundfünfzig Jahren wieder zu erheben. Mit dem Tode des Vicomte von Saint-Chéron war der Aufruhr zu Ende, ehe er noch begonnen hatte. (S. 174f.)

Mit der Geschichte Turlupins liefert der Erzähler zweifellos eine eindrucksvolle Veranschaulichung seiner These, dass ein Narr den Ausbruch der Revolution im Frankreich Richelieus verhindert habe. Wie im Erzählrahmen lassen sich allerdings auch im Erzählbericht einige Indikatoren dafür finden, dass der Roman über eine ästhetisch ansprechende Realisierung des Musters ›Rätsel-LösungLösungsweg‹ hinaus geht. Vor allem zwei Aspekte des Berichts legen diese Hypothese nahe: zum einen die Beschreibung Turlupins (2.1) und zum anderen die Bestimmung seiner Stellung in der Welt des Textes (2.2). (2.1) In seinem Bericht liefert der Erzähler eine recht differenzierte Charakterisierung Turlupins, die sich mit dessen wiederholter pauschaler Kategorisierung als »Narr« (S. 21) nicht ohne weiteres in Einklang bringen lässt.8 Turlupin nämlich wird vom Erzähler nicht bloß als ein Mensch dargestellt, der unfähig ist, seine Erlebnisse angemessen zu beurteilen; charakteristisch ist für den Barbiergehilfen vielmehr, dass er Ereignisse, Handlungen und Äußerungen systematisch missversteht. Turlupins verzerrte Weltsicht gründet, so macht der Erzähler deutlich, in dem Gefühl des ›Erwähltseins‹: »Als elfjähriger Knabe war er aus einem ––––––– 8

Zur Figur Turlupin vgl. Brigitte Forster: Absichtliche Unabsichtlichkeit. Motive Quellen und Erzählarchitekturen in Leo Perutz’ Turlupin. In: Forster u. Müller (Hrsg.): Leo Perutz (Anm. 5), S. 160–190. Vgl. ferner Bettina Hey’l: Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik, Tübingen 1994, S. 263–270.

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brennenden Haus gerettet worden, und seit diesem Ereignis fühlte er die Gewißheit in sich, daß er zu großen Dingen ausersehen sei, daß das Schicksal ihn am Leben erhalten hatte, weil es seiner bedurfte.« (S. 21) Freilich ist sich Turlupin des göttlichen Beistands nicht immer so sicher, wie es diese und andere Textpassagen nahelegen könnten.9 Die Überzeugung, im Auftrag Gottes unterwegs zu sein, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Kehrseite eines grundlegenden Gefühls der Unsicherheit, die anschaulich in seiner Haltung gegenüber Bettlern zum Ausdruck kommt: »[N]iemals ging er an einem […] vorüber, ohne ihn mit einem Almosen zu bedenken. Er tat dies aus Vorsicht und Klugheit, denn in Wirklichkeit haßte er die Bettler […]. Sie waren Spione Gottes, Angeber, elende Verräter.« (S. 22) Wie unklar sich Turlupin über sich und seine Stellung in der Welt ist, zeigt sich in der Bereitwilligkeit, mit der er sich von der Idee seiner adligen Abstammung verabschiedet, als er feststellt, dass ihm die Rolle des Herrn von Josselin, in der er sich Zutritt zum Landsitz der Familie von Lavan verschafft hat, nur »Angst, Gefahren und tausend Verlegenheiten« (S. 160) einbringt – nachdem ihm das Kammermädchen Jeanneton begegnet ist, fasst er den Plan, gemeinsam mit ihr zu fliehen: Es ist besser so, daß ich kein Edelmann bin, denn damit zwei Menschen glücklich leben, ist es notwendig, daß sie von gleichem Stand sind. Sie wird Augen machen, wenn ich ihr sage, daß ich nicht der Herr von Josselin bin, sondern nur ein Perückenmacher. (Ebd.)10

Im Zentrum der Erzählung steht kurzum eine Figur, die als ›Narr‹ nur unzureichend beschrieben ist – bei Turlupin handelt es sich um einen Charakter, der über seine Identität im Unklaren ist und sich deshalb in Phantasien des ›Erwähltseins‹ flüchtet. (2.2) Dass der Erzähler nicht einfach einen reizvollen Konnex zwischen einem Einzelschicksal und der Weltgeschichte herstellt, legt auch ein Blick auf Turlupins Verhalten im Kontext der Welt des Romans nahe. Die Art und Weise, in der Turlupin seine Erlebnisse deutet, scheint in dem Paris des Jahres 1642, das in der Erzählung entworfen wird, durchaus nicht der närrische Ausnahmefall zu sein. Wie eine Reihe von Situationen zeigt, sieht hier jeder vor allem das, was er sehen will, neigen hier fast alle Akteure zu egozentrischen und zugleich idiosynkratischen Interpretationen von Geschehnissen und Handlungen. Eine in dieser Hinsicht exemplarische Passage schildert Turlupins Besuch der Beerdigungsfeier, ––––––– 9 10

Vgl. etwa S. 70: »Gott selbst ist es, der mich gerufen hat«, oder S. 160: »Gott selbst hat uns zusammengeführt«. Zu Turlupins Selbstsicht vgl. auch Peter Lauener: Die Krise des Helden. Die IchStörung im Erzählwerk von Leo Perutz, Frankfurt/M. u.a. 2004, S. 162–167.

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auf der er in der Herzogin von Lavan seine Mutter zu erkennen glaubt. Da er überzeugt ist, der Beerdigung eines Bettlers beizuwohnen, wundert sich der Barbiergehilfe über die Feierlichkeit der Veranstaltung und fragt einen Schaulustigen, in welcher Kirche er sich gerade befinde: »In der Trinitarierkirche, Ihnen zu dienen, mein Herr«, sagte der alte Mann. »Auch ich bin zum erstenmal hier. Ich beichte bei den Barfüßern, und die Sonntagspredigt höre ich in der Kirche Saint Jacques de la Boucherie. Pater Eustache ist es, der dort die Predigt hält.« »Das ist zum Staunen«, sagte Turlupin, der nun wußte, wo er war, und versank in Schweigen. »Zum Staunen, wahrhaftig«, fuhr der Mann fort. »Der gute Pater ist heut weit über achtzig Jahre alt. Siebenundvierzig Jahre, daß mich mein Vater zum erstenmal in die Sonntagspredigt nahm […].« (S. 41)

Wie Turlupin und der Schaulustige so reden die meisten Figuren des Romans stetig aneinander vorbei. Der Erzähler entwirft eine Welt, in der es keine Verständigung gibt, weil niemand von seinen Ideen und Vorhaben abzusehen und die Äußerungen und Handlungen anderer unbefangen auszulegen vermag. Mit besonderer Anschaulichkeit wird dies auch in den Gesprächen in der Babierstube der Witwe Sabot deutlich, die gemeinhin aus Ketten von Missverständnissen bestehen.11 In der Darstellung der Kommunikationsprozesse in der Handlungswelt des Turlupin mag sich nicht zuletzt Perutz’ skeptische Sicht der Geschichte als »anomisches Geschehen«12 zeigen. Im vorliegenden Zusammenhang braucht dies jedoch nicht weiter verfolgt zu werden. Durch einen kurzen Blick auf die fehlschlagenden Verständigungsversuche der Figuren sollte hier lediglich verdeutlicht werden, dass sich Turlupin durchaus als typischer Akteur der Welt des Romans einstufen lässt. So wurde zugleich die Grundlage für eine Beschäftigung mit dem Erzähler und dem Verhältnis zwischen Erzählrahmen und Erzählbericht geschaffen.

3. Die Beschreibung Turlupins und die Verortung seines Verhaltens in der erzählten Welt machen nicht allein anschaulich, welche Freiheiten sich der Erzähler bei ––––––– 11 12

S. z.B. S. 67f. oder 76f. Vgl. hierzu Müller: Leo Perutz (Anm. 3), S. 107f. – Vgl. zu Perutz’ Geschichtsbild grundlegend Michael Mandelartz: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz, Tübingen 1992.

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der Umsetzung der kühnen Ankündigungen seiner Vorbemerkung nimmt. Sie geben zudem einen Hinweis auf die Beschaffenheit des Verhältnisses, in dem Erzählrahmen und Erzählbericht zueinander stehen. Ausgehend von den angesprochenen Eigenheiten der Geschichte Turlupins liegt der Schluss nahe, dass der Erzähler in ihr nicht nur über den wunderlichen Barbiergehilfen, sondern zugleich über sich selbst Auskunft gibt. Anders ausgedrückt: Ohne es zu bemerken, legt der Erzähler im Zuge seine Ausführungen die Hintergründe seines Erzählverhaltens offen. Zur Verdeutlichung dieser Vermutung ist es sinnvoll, sich klar zu machen, wie viel Turlupin und der Erzähler, die zunächst wenig zu verbinden scheint, miteinander gemein haben. Wie sein Held ist auch der Erzähler unzufrieden mit seiner Stellung in der Welt, und wie jener versucht er darum, eine Rolle anzunehmen, die seinem Selbstverständnis eher entspricht. Turlupin sieht sich nicht als Barbiergehilfen, sondern als Feldherrn und Edelmann (S. 20), und der Erzähler will offensichtlich kein bloßer Wiederkäuer gesicherter Tatsachen sein, er versteht sich vielmehr als Kenner des Schicksals (S. 17). In beiden Fällen erfolgt die Neubestimmung der eigenen Rolle durch eine Umdeutung von Fakten; in beiden Fällen zeugt das Bemühen, eine neue Identität zu erlangen, von einem unbefriedigten Geltungsbedürfnis: Turlupin legt sich die Welt so zurecht, dass er an der fixen Idee festhalten kann, vom Schicksal ausersehen zu sein. Der Narrator versichert sich des Gefühls der eigenen Bedeutung, indem er die Geschichte Frankreichs und die eines Narren einleuchtend miteinander verknüpft. Befriedigend ist dies für ihn offenkundig nicht allein, weil es ihm gelingt, eine Episode der Weltgeschichte grundlegend umzuschreiben, ohne mit der Überlieferung in Konflikt zu geraten. Die Schilderung der letzten Lebenstage Turlupins scheint dem Erzähler vor allem deshalb Gefallen zu bereiten, weil sich seine Deutung der Geschichte zugleich als Eingreifen in die Geschichte verstehen lässt.13 Dass ihm der Bericht über den Narren, der Richelieus Vorhaben durchkreuzt, ein Gefühl der Macht vermittelt, zeigt sich etwa in dem Urteil des Erzählers über die Zeitgenossen des Kardinals, die von dessen Plan einer neuerlichen Bartholomäusnacht gewusst haben sollen: »Zitternd, vor dem Gewicht der Verantwortung erdrückt, standen neben Richelieu die wenigen Eingeweihten, unfähig, die ––––––– 13

Vgl. hierzu auch Müller: Nachwort (Anm. 3). Er sieht in dieser Beobachtung allerdings keinen Grund, die Zuverlässigkeit des Erzählers in Frage zu stellen, ebd. S. 207: »Mit seiner ingeniösen Erfindung eines in sich gespaltenen Erzählers beläßt der Autor des Turlupin beide in ihrem ironisch relativierten Recht. Durch die Entlarvung des Geschichtsschreibers verdeutlicht er, daß er von der schicksalhaften ›Logik‹ der Geschichte nichts, von der Logik des Geschichtenerfinders fast alles hält. Nur ›fast‹ alles, denn ohne die wie immer brüchige Konstruktion des Historikers hätte der Geschichtenerfinder kein ›historisches‹ Terrain […].«

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Größe seines Gedankens zu erfassen, unfähig, sich ihm entgegenzustellen.« (S. 14) Im Gegensatz zu den Zeitgenossen hält sich der Erzähler – so klingt aus dieser Bemerkung deutlich heraus – für einen ebenbürtigen Gegenspieler des »Titanen Richelieu« (S. 17). Er sieht sich imstande, die Gedanken des Kardinals ›zu erfassen‹ und sich ihnen ›entgegen zu stellen‹: Als Geschichtsschreiber vermag er den Plan Richelieus zu verstehen, als Geschichtenerfinder vermag er ihn zu vereiteln. Mit Geschichte des Narren Turlupin sucht der Erzähler mithin nicht allein, sein Können als Autor, sondern zudem seine Größe als Akteur unter Beweis zu stellen. In Perutz’ historischem Roman Turlupin, so lässt sich festhalten, werden zwei Geschichten erzählt: die Geschichte des Barbiergehilfen Turlupin und die Geschichte des Erzählers jener Geschichte. Auf beiden Ebenen des Textes geht es um eine bestimmte Form der Reaktion auf die Unzufriedenheit mit der eigenen Rolle, beide Geschichten schildern das Ausweichen vor der Identität in Phantasien des ›Erwähltseins‹, in die Vorstellung, von der Vorsehung auserkoren oder gar das Schicksal selbst zu sein.

4. Die Romane und Novellen von Leo Perutz nehmen im Zusammenhang der Literatur der Wiener und Prager Moderne zweifellos eine Sonderstellung ein. Gleichwohl weist eine Reihe seiner Texte zwei Merkmale auf, die kennzeichnend sind für nicht wenige Werke von Autoren des ›Jüngsten Wien‹ und der ›Prager deutschen Literatur‹ wie etwa Franz Kafka, Ernst Weiß, Franz Werfel oder Hermann Ungar.14 Das eine Merkmal ist ein inhaltliches: Perutz setzt sich in vielen seiner Romane und Novellen mit der so genannten ›Krise des Ich‹ auseinander; er behandelt, genauer gesagt, eine bestimmte Variante dieser ›Krise‹, es geht ihm um die Frage der Identität als Problem der Selbstannahme. Das andere Merkmal ist ein erzählerisches: Perutz bedient sich in der literarischen Auseinandersetzung mit jenem Thema oftmals eines spezifischen narrativen Verfahrens, er nutzt Strategien und Techniken erzählerischer Unzuverlässigkeit.15 ––––––– 14

15

Zu den Vertretern des ›Jüngsten Wien‹ und der ›Prager deutschen Literatur‹ vgl. den Überblick in Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft, Wien/Hamburg 1987. Vgl. hierzu (mit Hinweisen auf weitere Literatur) Hans-Harald Müller: Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme? Zur Erzählkonzeption von Leo Perutz dargestellt an der Novelle »Nur ein Druck auf den Knopf«. In: Th. Eicher (Hrsg.): Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang, Oberhausen 2000, S. 177–191 und Tom Kindt: Werfel, Weiss, and Co. Unreliability in the Austrian Novel

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Beide Merkmale werden in Perutz’ Turlupin gekonnt miteinander verbunden. Wie gesehen, wird das Problem der Selbstannahme hier nicht allein auf der Ebene der Handlung, sondern auch auf der ihrer Darbietung zum Thema. Held und Erzähler versuchen gleichermaßen vor ihrer Identität auszuweichen: Turlupin in die Rolle eines Edelmanns, der Narrator in die Rolle Gottes. Die Präsentation der Geschichte Turlupins erweist sich als Ausdruck des Geltungsbedürfnisses, von dem sie handelt; im Roman wird Erzählen als anmaßendes Spiel mit dem Schicksal vorgeführt. Unterstrichen wird dies durch den letzten Satz des Textes, eine Bemerkung des Gewürzhändlers Coquereau gegenüber der Witwe Sabot über das Schicksal ihres einstigen Gehilfen: »Vielleicht hat Gott nach der Art der großen Herren sich einen guten Tag aus einem einfältigen Menschen gemacht.« (S. 180)16 Narratologisch gesprochen, entlarvt sich der Erzähler des Turlupin also durch seine Geschichte und die Art und Weise, in der er sie darbietet, als unzuverlässig im klassischen Sinne: Er handelt nach Werten, die nicht denjenigen des Werkes entsprechen, dessen Teil er ist.17 Perutz’ Roman Turlupin ist, so kunstvoll er gebaut sein mag, nicht als bloßes Spiel mit historischen Dokumenten und historiographischen Konventionen zu verstehen. Mit dem Thema der Selbstannahme nimmt er ein Problem in den Blick, dem die Wiener und Prager Autoren der Zwischenkriegszeit große Bedeutung zumaßen, weil sie in ihm weniger ein psychologisches als vielmehr ein existenzielles und mithin ethisches Problem sahen. Dies ließe sich durch eine Fülle von Zitaten belegen – im vorliegenden Zusammenhang mag eine Passage aus Werfels Roman Barbara oder Die Frömmigkeit ausreichen. Perutz fand den Text unendlich langweilig, dem Inhalt der Passage aber wird er sich angeschlossen haben: Das seelische Gesellschaftsleben der Menschen besteht, wenn man aufrichtig sein will, aus einem unablässigen Kampf um Überlegenheiten, wenn auch zumeist um Überlegenheiten der lächerlichsten Art. Wie man den Luftdruck nach »Atmosphären« mißt und die elektrische Stromspannung nach »Volt«, so könnte man die seelische Spannung des menschlichen Verkehrs nach »Überlegenheitseinheiten« messen, die dem Selbstge-

–––––––

16 17

of the Interwar Period. In: E. D’hoker u. G. Martens (Hrsg.): Tradition and Renewal in the 20th Century First-Person Novel, Berlin/New York [im Erscheinen]. Vgl. zum letzten Satz des Romans jetzt Hans-Harald Müller: Leo Perutz. Biographie, Wien 2007, S. 193f. Zu diesem Begriff erzählerischer Unzuverlässigkeit vgl. Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction, Chicago u.a. 1961, S. 158f. und Tom Kindt: »Erzählerische Unzuverlässigkeit« in Literatur und Film. Überlegungen zu einem Begriff zwischen Narratologie und Interpretationstheorie. In: H. Hrachovec u.a. (Hrsg.): Kleine Erzählungen und ihre Medien, Wien 2004, S. 55–66.

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fühl zugeführt oder entzogen werden. Die Güte eines Menschen erweist sich nirgends reiner als in der Großmut, mit welcher er den Reichtum seines Nächsten an solchen Überlegenheitseinheiten anerkennt und erträgt. 18

––––––– 18

Franz Werfel: Barbara oder Die Frömmigkeit, Frankfurt/M. 1996, S. 100. Der Roman ist erstmals 1929 erschienen.

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Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen …

»Wohin?« – In großen Lettern auf signalfarbenem Grund leuchtete diese Frage am 4. März 1928 von den Litfasssäulen Berlins. Sieben Tage danach war an demselben Ort zu lesen: »Wohin rollst du, Äpfelchen?«, weitere sieben Tage später hieß es: »›Wohin rollst du, Äpfelchen?‹ Der neue Fortsetzungsroman in der ›Berliner Illustrirten Zeitung‹. Von Leo Perutz. Beginn: 25 März.« Mit dieser aufwendigen Kampagne hat der Ullstein-Konzern den Vorabdruck von Perutz’ Roman in der mit knapp zwei Millionen Auflage größten illustrierten Wochenschrift Deutschlands seinerzeit vorbereitet. Der Einsatz war nicht vergeblich: Infolge des Abdrucks von Wohin rollst du, Äpfelchen … ist die Auflage der ›Berliner Illustrirten‹ merklich gestiegen, in der Reihe der ›Gelben Ullstein-Bücher‹ war der Roman bald ein Bestseller, und sein schon im Voraus so trickreich verbreiteter Titel wurde schnell zum geflügelten Wort.1 Offensichtlich hatte Leo Perutz in seinem ersten großen, zwischen Oktober 1924 und Juni 1927 geschriebenen Zeitroman also nicht nur eine packende Geschichte erzählt, sondern auch den Nerv seiner Zeit getroffen. Tatsächlich reiht sich Wohin rollst du, Äpfelchen … auf den ersten Blick nahtlos in die Reihe der seinerzeit so populären Werke ein, die eine zeittypische Erfahrung aufgreifen und – wie etwa Ernst Tollers Der deutsche Hinkemann oder Joseph Roths Flucht ohne Ende – in unterschiedlichen Formen das Schicksal eines Kriegsheimkehrers gestalten. Perutz’ Roman erzählt allerdings eine Heimkehrergeschichte der besonderen Art. Denn Georg Vittorin, der aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassene Protagonist, will ja zunächst nicht in die Heimat zurück, sondern in die Fremde hinaus. Der Umschlagtext der aktuellen Taschenbuchausgabe des Romans fasst die Handlung denn auch in aller Kürze wie folgt zusammen: »Wien 1918/1919. Der ehemalige Offizier Georg Vittorin will sich an dem Lagerkommandanten Seljukow für erfahrene Demütigungen rächen. Eine klassische Verfolgungsjagd führt durch ganz Europa, bis es endlich zu dem ––––––– 1

Vgl. Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen … Hrsg. v. H.-H. Müller, Wien u.a. 1987, S. 249 268, S. 249 251.

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›Duell ohne Zeugen‹ kommt.«2 Wie verknüpft Perutz, der »Meister des spannenden Romans« (Egon Erwin Kisch), die zeittypische Figur des Kriegsheimkehrers mit den Elementen einer ›klassischen Verfolgungsjagd‹ einschließlich eines ›Duells ohne Zeugen‹? Dieser Frage nach dem Aufbau des Textes möchte ich nachgehen und mich dem Roman nach dem Prinzip der phänomenologischen Beschreibung nähern. Dabei nutze ich das begriffliche Instrumentarium und das Analysemodell, das Matías Martínez und ich in unserer Einführung in die Erzähltheorie entwickelt haben. In seinem Sinne unterscheide ich zwischen dem ›Wie‹ und dem ›Was‹ eines narrativen Textes, wobei ich in einem ersten Schritt die Ebene der ›Darstellung‹ (mit den Parametern ›Zeit‹, ›Modus‹ und ›Stimme‹) untersuche und mich anschließend der ›Erzählten Welt‹ und der ›Handlung‹ des Romans zuwende.3 Zu den Besonderheiten der Erzählform von Wohin rollst du, Äpfelchen … gehört, dass Perutz in diesem Fall auf das Prinzip der analytischen Erzählung und auf einen proleptischen Erzählrahmen verzichtet, der nach dem Muster des Kriminalromans einen rätselhaften, im Verlauf der Erzählung aufzuklärenden Sachverhalt präsentiert. 4 Ohne weitere Erläuterungen beginnt die Erzählung medias in res mit der Rückfahrt des soeben zusammen mit vier Kameraden aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Georg Vittorin. Von hier ab wird im Wesentlichen chronologisch und im Wechsel von szenischem und summarischem Erzählen ein Geschehen dargestellt, das einen Zeitraum von rund zwei Jahren umfasst (wobei die an acht Kapitel- und innerhalb dieser Kapitel an zahlreiche Absatzgrenzen gebundenen Ellipsen im Maximalfall einen Zeitraum von mehreren Wochen umgreifen). Im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, d.h. im Blick auf die Erzählgeschwindigkeit ist dabei ein gewisses Profil zu beobachten: Tendenziell nimmt das Erzähltempo gegen Ende des Romans zu, d.h. die ersten Stationen der Suche von Georg Vittorin nach seinem ehemaligen Peiniger Seljukow bis hin zu seinem Aufenthalt in Moskau werden relativ ausführlich szenisch dargestellt; die Darstellung von Vittorins Aufenthalt in Konstantinopel ist dagegen schon stark ausschnitthaft, von allen folgenden Stationen gibt es nur noch ––––––– 2

3 4

Vgl. die dtv-Ausgabe des Romans: Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen … Hrsg. v. H.-H. Müller, München 2004. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan im Text durch Angabe der betreffenden Seitenzahlen nachgewiesen. Vgl. Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl., München 2005. Zu der von Perutz vielfach genutzten Form des ›proleptischen Rätselromans‹ vgl. Matías Martínez: Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz. In: B. Forster u. H.-H. Müller (Hrsg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 107 129.

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summarische Erzählungen, bis sich das Erzähltempo mit dem Wiedertreffen von Vittorin und seiner ehemaligen Freundin Franzi in Paris sowie Vittorins Rückreise nach Wien wieder stark verlangsamt. Offensichtlich ist der Erzählrhythmus also an die Perspektive des Protagonisten, d.h. an seine zunehmende Unruhe und Desorientierung gebunden. Im Blick auf den ›Modus‹ bestätigt sich, was die Untersuchung der Zeitgestaltung bereits angedeutet hat: In Wohin rollst du Äpfelchen … wird in weiten Passagen personal erzählt, d.h. es herrscht eine im Wesentlichen auf den Protagonisten Vittorin fixierte interne Fokalisierung vor. Im Rahmen einer variablen Distanz finden sich verschiedene Formen der Darstellung von Figurenbewusstsein, es dominiert jedoch von Beginn an das Prinzip der erlebten Rede (und insofern eine Verschränkung der Standorte von erlebender Figur und narrativer Instanz, wie sie etwa auch Franz Kafka in vielen seiner Erzähltexte verwendet)5. Dabei wird das vorherrschende Prinzip der ›Mitsicht‹ mit der erlebenden Figur im Wesentlichen nur dann vom Prinzip der ›Übersicht‹ abgelöst, wenn es gilt, Auslassungen in der szenischen Erzählung durch die summarische Erzählung zu füllen oder auch einen Rahmen für die einzelnen Szenen zu entwerfen (ein Beispiel dafür ist etwa der Anfang des Kapitels ›La Furiosa‹, der Vittorins Auftritt in Moskau vorbereitet, indem eine narrative Instanz vergleichsweise ausführlich die historischen Verhältnisse in »Moskau im März des Jahres 1919« schildert)6. Der Wechsel von der Mit- in die Übersicht wird vereinzelt allerdings auch genutzt, um die Begrenztheit von Vittorins Bewusstseinshorizont zu markieren. Nur in diesen Ausnahmefällen wird dem Leser ein Geschehen vor Augen gestellt, das Vittorin selbst verborgen bleibt. Ein Beispiel dafür sind die Umstände, unter denen der Revolutionär Artemjew in der ehemals von Seljukow bewohnten Wohnung zu Tode kommt – eine Szene, in deren Rahmen die narrative Instanz ausdrücklich kommentiert, dass Vittorin nicht weiß, was wir als Leser wissen: »Er ahnte den Zusammenhang der Dinge nicht«, so heißt es, als Vittorin vom Tod Artemjews erfährt, »er wußte nicht, daß er selbst Artemjew den Händen seiner Feinde überliefert hatte« (S. 189).7 ––––––– 5

6 7

Zu den Folgen dieser ›Verschränkung‹ und zur personalen Erzählweise bei Kafka am Beispiel von Das Urteil vgl. Michael Scheffel: »Das Urteil« – Eine Erzählung ohne ›geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn‹? In: O. Jahraus u. Stefan Neuhaus (Hrsg.): Kafkas »Urteil« und die Literaturtheorie: Zehn Modellanalysen, Stuttgart 2002, S. 59 77. Vgl. S. 153 156. Mit einer vergleichbaren Funktion wird auch ein Wechsel in die Mitsicht von anderen Figuren inszeniert. So erfahren wir z.B. dank Einblicken in das Bewusstsein von Vittorins beiden Freundinnen Franzi und Lucette, was dieser nicht weiß – nämlich, dass die noch jungfräuliche Franzi ihm von Liebhabern erzählt, die sie nicht hat (vgl. z.B. S. 57), und dass die erfahrene Lucette ihm den Wiederauftritt ihres ehemaligen Lieb-

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Im Bereich der ›Stimme‹ entspricht dem Prinzip einer dominanten Mitsicht die Zurückhaltung einer scheinbar neutral, zuverlässig, kommentar- und adressatenlos erzählenden heterodiegetischen narrativen Instanz. Anders als etwa in den zeitgenössischen Romanen von Musil oder Broch und ähnlich wie in den Romanen von Schnitzler oder Kafka finden wir dementsprechend nur mimetische und keine theoretischen Sätze. Und ähnlich wie bei Schnitzler und Kafka hat die skizzierte Zurückhaltung den Effekt, dass von den zwei epistemischen Perspektiven, die im Fall einer Erzählung zusammenwirken, nämlich die lebensweltlich-praktische der handelnden Figuren und die analytisch-retrospektive des Erzählers, durchgängig die lebensweltlich-praktische des Protagonisten im Vordergrund steht. Trotz der Erzählzeit des epischen Präteritums scheint hier kein zeitlicher Abstand zur Zeit des Erzählten zu bestehen (so dass das Erzähltempus in einigen Szenen denn auch gleichsam ›unbemerkt‹ in das Präsens wechselt)8, und im Verlauf der Lektüre scheinen wir auch zeitlich im Wesentlichen mit Vittorin auf der Höhe des Geschehens voran zu schreiten. Wo genau aber sind wir, wenn wir uns mit Vittorin auf der Zeitachse des erzählten Geschehens bewegen? Blicken wir auf die ersten Szenen des Romans, um die bereits angesprochene Verbindung von Fokalisierung und Zeitgestaltung genauer zu erfassen. Die Eingangsszene zeigt, daran sei nochmals erinnert, Vittorin zusammen mit vier entlassenen Kameraden in einem Sanitätszug. Die fünf ehemaligen Gefangenen, so wird aus ihren Gesprächen deutlich, werden bald die russische Grenze überschreiten, unmittelbar dahinter drei Wochen in Quarantäne verbringen und anschließend getrennt in ihre Heimatstadt Wien zurückreisen. Mit dem Voranschreiten auf der Achse der äußeren Zeit ist also sowohl die Auflösung der Gruppe als auch eine Raumbewegung verbunden, die aus der Fremde über eine Grenze in die Heimat führt. Nun gehört zur Rückkehr in die Heimat, so zeigt sich, dass die fünf Männer in der Gefangenschaft ein feierliches Gelübde abgelegt haben: Einer von ihnen, so haben sie sich geschworen, wird dem Lagerkommandanten Seljukow nach ihrer Entlassung als freier Mann gegenübertreten und ihn für die in der Gefangenschaft erlittenen Demütigungen zur Verantwortung ziehen. Von dem, was zur Vorgeschichte des aktuellen, szenisch und chronologisch dargestellten Geschehens gehört, erfahren wir nun allerdings nicht aus der Übersicht eines im Rückblick über Zeit und Ordnung seiner Erzählung frei verfügenden Erzählers, sondern aus der in der Form der erlebten Rede dargestellten –––––––

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habers verschweigt (S. 224). In dieser Aufweichung des Prinzips der fixierten internen Fokalisierung scheint mir eine gewisse Inkonsequenz und insofern auch ästhetische Schwäche des Romans zu liegen. Vgl. z.B. S. 198ff. (»Befehl zum Stürmen«) und S. 216ff. (»Wohin rollst du …«).

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Innensicht des im Sanitätszug sitzenden Protagonisten. Mit anderen Worten: Der Blick in die Vergangenheit wird über das Medium von Vittorins Bewusstsein eröffnet, wobei es schon zu Beginn der Erzählung eine aufschlussreiche Entwicklung gibt. Als Dr. Emperger in der ersten Szene erleichtert davon spricht, zum letzten Mal in seinem Leben »russische Erde« betreten zu haben, blickt Vittorin misstrauisch auf den Kameraden und denkt an das Ehrenwort, das die fünf Männer sich, so lautet die von Vittorin erinnerte Formel, »als Offizier und Mann von Ehre« gegeben haben;9 kurz darauf überlegt er, wie er selbst sich den Racheauftrag der Gruppe verschaffen kann, und im Augenblick des Grenzübertritts und der bevorstehenden Trennung der Gruppe hält Vittorin den vollen Namen Seljukows zusammen mit den Heimatadressen aller Beteiligten in seinem Notizbuch fest. Erst drei Wochen später, als Vittorin die Quarantänezeit hinter sich hat und nunmehr allein im Zug nach Wien sitzt, taucht ein, wie es heißt, »Bild aus der Vergangenheit, eine Erinnerung« auf, die »ihn unerbittlich verfolgte« (S. 17). Nach einer Ellipse (die Ereignisse im Verlauf der Quarantänezeit sind aus der Darstellung ausgespart) und im Darstellungsrahmen einer zweiten Zugfahrt wird uns dieses so genannte »Bild« jetzt in Gestalt einer detailliert ausgeführten Szene vor Augen gestellt. Sie ist im Präsens erzählt und als interne Analepse im Sinne Genettes, bzw. als aufbauende Rückwendung in der Terminologie von Lämmert angelegt, die dem Leser sowohl das folgende als auch das unmittelbar vorhergehende Geschehen überhaupt erst verständlich macht. Denn offensichtlich liegt der Schlüssel für Vittorins Fixierung auf Seljukow nicht in dessen rücksichtloser Behandlung eines Kameraden (an dessen offenem Grab die fünf Männer ihren Racheschwur geleistet hatten), sondern in einer persönlichen Kränkung: Vittorin, so offenbart die jetzt unmittelbar vor der Heimkehr erinnerte Szene, hat dem Lagerkommandanten seinerzeit im Namen seiner Kameraden eine bescheidene Bitte vorgetragen, und diese Bitte um das Aufheben einer aus disziplinarischen Gründen verhängten Postsperre ist von Seljukow – anders als von Vittorin erhofft und erwartet10 – nicht nur nicht erhört worden, sondern dieser hat den Bittsteller überdies beleidigt und mit einem Stubenarrest von zehn ––––––– 9

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Vgl. S. 5f.: »Sie hatten alle fünf feierlich ihr Ehrenwort verpfändet. Ich schwöre als Offizier und Mann von Ehre – das war die Formel gewesen. Es gab kein Zurück mehr. Vielleicht war sich Doktor Emperger der Tragweite seiner Bemerkung gar nicht bewußt vielleicht hatte er einfach ohne jede Überlegung gesprochen. In diesem Falle war ein Verweis, der ja im freundschaftlichen Ton gehalten sein konnte, durc haus am Platz.« Vittorins Überraschung durch das Verhalten Seljukows wird durch seine Erwartung deutlich: »[…] er stand vor der Tür der Kanzlei. Er hatte eine Bitte vorzubringen. – Seljukow kann auch charmant sein. ›Tragen Sie Ihr Anliegen vor, Herr Leutnant‹, wird er sagen, ›ich höre, ce qui est dans mon pouvoir de faire pour les prisonniers de guerre‹ […].« (S. 17)

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Tagen bestraft (»Sie kommen zum drittenmal, mich belästigen mit Bitte und Beschwerde«, so spricht Seljukow in Vittorins Erinnerung, »Das ist nicht Benehmen von Offizier […]. In Frankreich nennt man das Bochisme. Sie haben zehn Tage Zimmerarrest, damit Sie sich merken russische Gesetz.« [S. 18]). Und was offenbar das Schlimmste ist: Vittorin hat die Möglichkeit einer Antwort ungenutzt verstreichen lassen, d.h. statt Seljukow zu entgegnen, was er sich auf Französisch zurechtgelegt hat, macht er die Erfahrung, »kein Wort« herauszubringen und »dem Augenblick nicht gewachsen« zu sein.11 Zur Erinnerung der Kränkungsszene gehört für Vittorin aber auch ein Blick in die Zukunft.12 Die Präsenz einer Szene aus der Vergangenheit verknüpft sein Bewusstsein offenbar fest mit dem, was in Vittorins Denken »die Stunde der Abrechnung« (S. 19) heißt. Der Kränkungsszene folgt dementsprechend unmittelbar eine zweite, ihrerseits im Präsens imaginierte Szene des Wiedersehens mit Seljukow, die auf der Achse der erzählten Zeit in die Zukunft gehört (und die insofern als eine interne Prolepse bzw. als zukunftsungewisse Vorausdeutung im Sinne von Lämmert angelegt ist): »Da bin ich, erkennen Sie mich, Herr Stabskapitän? Leutnant Vittorin aus dem Lager Tschernawjensk, Pavillon Nr. 4. Ganz richtig, in Frankreich nennt man das Bochisme. Warum werden Sie so blaß, Euer Hochwohlgeboren? Sie haben mich nicht erwartet? Sie dachten, ich werde vergessen? O nein, ich habe nicht vergessen. Wie? Pascholl? Nein, Herr Stabskapitän, ich bleibe, ich habe mit Ihnen zu sprechen.« (S. 20) Die oben bemerkte Perspektivierung in der Darstellung des Geschehens schließt also, so lässt sich nunmehr präzisieren, eine Reihe von Besonderheiten im Bereich der Zeitgestaltung ein (und hier, d.h. in der offensichtlich besonderen Bedeutung von Zeit liegt ein formaler Unterschied zu der im Ansatz vergleichbaren personalen Erzählweise in vielen Erzähltexten von Franz Kafka). Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass das Prinzip der chronologischen Ordnung nur für ––––––– 11

12

Vgl. S. 18f.: »Vittorin geht nicht. Er will sprechen, sich rechtfertigen, er legt es sich auf französisch zurecht, was er zu sagen hat, Seljukow soll sehen, daß er es mit einem Menschen von Bildung und Erziehung zu tun hat, dem die französische Sprache geläufig ist. […] Er bringt kein Wort heraus, er ist dem Augenblick nicht gewachsen. Der Stabskapitän streift die Asche seiner Zigarette ab. Dann winkt er dem Unteroffizier. ›Pascholl‹ […] Der Unteroffizier macht kehrt, fasst den Leutnant Vittorin an der Schulter und stößt ihn zur Tür hinaus.« Und auch dieser Blick nach vorn ist in mehreren Schritten vorbereitet. So heißt es in der Form der erlebten Rede, als sich Vittorin die Adressen seiner Kameraden und den Namen von Seljukow notiert: »Damit war der erste Schritt getan. Schwarz auf weiß alles niedergelegt. Michael Michajlowitsch Seljukow gegenüber stand nun eine fest gefügte Organisation, ein Bund von fünf Menschen, die ihr Ziel vor sich sahen und bereit waren, jedes Opfer zu bringen, um dieses Ziel zu erreichen. Nun mußte die Sache ihren Lauf nehmen.« (S. 11f.)

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Michael Scheffel

die Übersicht der narrativen Instanz und für die Darstellung des äußeren Geschehens im Verlauf der vierundzwanzig Monate nach Vittorins Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft gilt. Zur Mitsicht und der Darstellung des Bewusstseins von Vittorin gehört dagegen eine systematische Verwendung des Prinzips der Anachronie: Tatsächlich wird die skizzierte Szene von Vittorin im Verlauf der erzählten Geschichte immer wieder erinnert und imaginiert. Im Rahmen der Mitsicht gibt es dementsprechend zwei, in der Form des repetitiven Erzählens präsentierte Vor- und Rückgriffe im Blick auf die erzählte Geschichte in Gestalt einer partiellen, sich wiederholenden internen Analepse und Prolepse von jeweils geringem Umfang und variierender Reichweite. Dabei stehen die erinnerte und die projektierte Szene in einem unmittelbaren Zusammenhang, d.h. das imaginierte Wiedersehen mit Seljukow ist in Vittorins Bewusstsein als Wiederaufnahme und Fortsetzung der erinnerten Begegnung angelegt. Offensichtlich ist Vittorins Bewusstsein also fest auf eine bestimmte Szene in der Vergangenheit und ihren Protagonisten fixiert, und diese Fixierung bestimmt zugleich die Perspektive seines Handelns in Gegenwart und Zukunft. Ist Vittorins Geschichte demnach mit Hans-Harald Müller als die Darstellung eines Falls von »Hypermnesie«13 zu verstehen, d.h. als eine Art Parallelfall zur Heimkehrergeschichte des Reservekorporals Pichler, die Perutz in seiner Novelle »Dienstag, 12. Oktober 1916« erzählt? Bevor ich die ermittelten Spezifika in der Zeitdarstellung zu deuten versuche, sei zunächst der formale Aufbau von Erzählter Welt und Handlung untersucht. Im Unterschied zu anderen Romanen von Perutz wie Der Marques de Bolibar oder Zwischen neun und neun steht das Profil der in Wohin rollst du, Äpfelchen … erzählten Welt insofern in der poetologischen Tradition des realistischen Romans, als diese Welt homogen, stabil und ohne Inkonsistenzen gebaut ist und sich überdies unmittelbar auf die zeitgenössische Lebenswirklichkeit bezieht (d.h. in diesem Fall die Jahre zwischen 1918 und 1920). Explizit thematisiert wird das Schicksal des aus der Fremde in die Heimat zurückkehrenden und wieder in die Fremde ausziehenden ehemaligen Weltkriegssoldaten Georg Vittorin; implizit thematisiert sind Ereignisse von welthistorischer Bedeutung: die historischen Umwälzungen, die sich nach dem Ausbruch der Oktoberrevolution und dem Frieden von Brest-Litowsk vollziehen und deren soziale und geopolitische Konsequenzen auch für die zeitgenössischen Leser des Romans im Jahr 1928 noch lange nicht abzusehen sind. Im Rahmen einer unübersichtlichen, von historischen Erschütterungen gezeichneten Welt ist die erzählte Geschichte nach dem Prinzip des Suchens und ––––––– 13

Vgl. Hans-Harald Müller: Leo Perutz, München 1992, S. 119.

Leo Perutz: Wohin rollst du Äpfelchen …

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Findens konstruiert. Mit Vittorins festem Entschluss, nach Russland zurückzukehren und sich an dem Kommandanten seines Lagers zu rächen, beginnt der Roman; im Folgenden bereitet Vittorin in Wien seine Rückkehr nach Russland vor, sucht in dem durch den Ausbruch der Revolution verursachten Chaos zwei Jahre lang nach Seljukow, und in dem Augenblick, da er ihn schließlich zu Hause findet, enden sowohl die erzählte Geschichte als auch der Text. Berücksichtigt man das Handlungsschema der Suche sowie Vittorins Bewegung in Zeit und Raum, so lässt sich die Struktur des Romans also wie folgt darstellen: Handlungsschema: Raumbewegung/Chronologie:

Fremde

Heimat

Suchen

Finden

Fremde

Heimat

Orientiert man sich an der Darstellung des äußeren Geschehens und liest die erzählte Geschichte im Sinne der im Umschlagtext der Taschenbuchausgabe angesprochenen ›klassischen Verfolgungsjagd‹, so gilt, dass der Protagonist am Ende den Mann findet, den er seit seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft sucht – wobei er allerdings einen doppelten Kursus durchläuft und einen gewaltigen Umweg macht: Im Verlauf seiner Suche zieht Vittorin ein zweites Mal in die Fremde aus und kehrt zweimal nach Hause zurück; vom Ende seiner Suche her betrachtet, sucht er, wo er nicht findet, und findet, wo er nicht gesucht hat. »Daheimbleiben und warten und dann eines Tages eine Straße hinaufgehen und um die Ecke biegen. Mehr wäre nicht zu tun gewesen« (S. 233) – so muss Vittorin erkennen, als er nach zwei Jahren Jagd quer durch Europa von Seljukows Aufenthalt und seiner Adresse »Währinger Gürtel 124, II. Stock, Tür 16« in Wien erfährt. Dabei betrifft der Abstand von intendiertem und erreichtem Ziel im Fall von Vittorins Suche nicht nur sein eigenes Handeln. Denn während Vittorins Auszug in die Fremde einerseits in keinem notwendigen Zusammenhang zum Erfolg seiner Suche steht, bewirkt sein Handeln andererseits, was Vittorin nicht beabsichtigt hat, nämlich den Tod einer Reihe von Menschen, die ihrerseits ganz unterschiedliche Ziele verfolgen und diese infolge ihres zufälligen Zusammentreffens mit Vittorin nicht erreichen. Im Rahmen der historischen Umwälzungen in Russland decken diese Personen ein breites Spektrum von sozialen Gruppen, politischen Lagern und Handlungszielen ab: Mit dem Grafen Gagarin, der Vittorins Rückkehr hinter die Front ermöglicht, stirbt ein junger Vertreter des Adels, der die Bolschewiken bekämpft; mit dem Grafen Pistolkors wird ein Vertreter des alten Hofadels erschossen, der sich in Seljukows ehemaliger Wohnung versteckt und aus den Wirren der Zeit in das Reich der Musik zu flüchten versucht; mit dem von Vittorin ebenfalls unwissentlich an die Bolschewiken verratenen Revolutionär Artemjew scheitert ein Führer der gegen die Weißen und

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Roten kämpfenden Anarchisten, und mit den Rotarmisten, die der fiebernde Vittorin überraschend in seine Befehlsgewalt bekommt und in seiner »Traumverworrenheit« (S. 201) wider alle militärische Vernunft in das Sperrfeuer der Granaten bei Miropol führt, wird eine große Zahl von Kämpfern für die bolschewistische Revolution vernichtet. Blickt man von Vittorins offensichtlich sinnlosem, so viele Opfer kostenden Weg auf den Zweck seiner Suche, so steht offenbar auch hier am Ende ein Scheitern: Was Vittorin mit seiner Suche ermöglichen will, nämlich die Rache an Seljukow, findet nicht statt. Vittorin trifft Seljukow, aber es kommt nicht zu dem ›Duell ohne Zeugen‹, das er sich zwei Jahre lang ausgemalt hat. Im Gegenteil, das Auseinanderklaffen von beabsichtigter und tatsächlicher Handlung scheint in diesem Fall besonders krass. Statt die erträumte Abrechnung zu halten, erkundigt sich Vittorin nach Seljukows Wohlergehen, kauft seinem ehemaligen Peiniger selbst geschnitztes Holzspielzeug ab und erfüllt überdies noch die Rolle eines treuen Boten, indem er Seljukows altem Diener Grischa Grüße aus seinem Heimatdorf und eine seit langem versprochene Uhr überbringt. So gesehen trifft für Wohin rollst du, Äpfelchen … also geradezu idealtypisch zu, was Hans-Harald Müller einmal als den »Basissatz der Handlungsgrammatik von Perutz’ Helden« bezeichnet hat: »Was sie wollen, erreichen sie zumeist nicht, was sie bewirken, haben sie zumeist nicht gewollt«.14 Aber scheitert Vittorin wirklich in jeder Hinsicht? Ich komme auf die Frage nach der Bedeutung der auffälligen Zeitdarstellung in Perutz’ Roman zurück. Berücksichtigen wir neben der Darstellung des äußeren Geschehens auch die des Bewusstseins von Vittorin und damit die eingangs angesprochene spezifische Verbindung von Fokalisierung und zeitlicher Ordnung, so ist das oben entwickelte Schema im Blick auf die beiden Schlüsselszenen im Bewusstsein Vittorins wie folgt zu ergänzen:

––––––– 14

Vgl. Müller: Leo Perutz (Anm. 13), S. 123f.

Leo Perutz: Wohin rollst du Äpfelchen …

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Handlungsschema:

Suchen

Finden

Fremde

Heimat

Raumbewegung/Chronologie: Fremde

Heimat

Bewusstseinsdarstellung:

Erinnerung/Projektion

Gegenüber: Handlung: Rolle:

Seljukow Kränkung Opfer

Seljukow Rache Täter

Tatsächlich bietet Wohin rollst du, Äpfelchen … nicht nur die packende Geschichte einer Verfolgungsjagd im Zeichen einer psychischen Fixierung und eine deprimierende Chronik des Scheiterns unterschiedlicher Formen von zielorientiertem Handeln in einer Welt ohne Ordnung. Wesentlich für die erzählte Geschichte ist, dass sich ein junger Mann in seiner personalen und sozialen Identität als Mann und als Offizier schwer verletzt fühlt und dass er diese tief greifende Erfahrung von Ohnmacht und Hilflosigkeit nicht vergessen kann und will; gleichwohl unterscheidet sich Vittorins Geschichte z.B. von der des monomanischen Kapitän Ahab, der von einem weißen Wal verletzt wurde, diesen ohne jede Rücksicht auf sein und anderer Menschen Leben quer durch die Weltmeere verfolgt, den Kampf mit der Natur verliert und in den Tiefen des Ozeans versinkt. Wie die Geschichte Ahabs entspricht auch Vittorins Geschichte einem »TraumaSchema«;15 anders als Melvilles Roman Moby Dick erzählt Wohin rollst du, Äpfelchen … neben der Geschichte eines Traumas aber auch die seiner Überwindung. Dank der aktorialen Fokalisierung auf das Erleben des Protagonisten können wir in einer Art Bewussteinsprotokoll gewissermaßen in actu miterleben, wie sich Vittorins Haltung gegenüber Vergangenheit und Zukunft im Verlauf der Zeit ändert und wie er zu vergessen beginnt. Im engeren Sinn ist Vittorin kein von ›Hypermnesie‹ Gezeichneter, denn in der Erinnerung seiner Kränkung und in der Haltung gegenüber seinem Gegner ist durchaus eine Entwicklung zu erkennen. Zu dieser Entwicklung gehört, dass Vittorin die Erinnerung an das Gesicht ––––––– 15

Zu diesem Schema und seiner literarischen Darstellung vgl. die einschlägige Studie von Hannes Fricke: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie, Göttingen 2004. Vgl. zuletzt auch Günter H. Seidler u. Wolfgang U. Eckart (Hrsg.): Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung, Gießen 2005.

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seines Peinigers verliert, sobald er sich auf den Weg zurück nach Russland macht,16 und dass in seinem Bewusstsein an die Stelle der Erinnerung an seine Kränkung zunehmend Visionen treten, in deren Rahmen sein Gegner alle konkreten menschlichen Züge verliert: Seljukow erscheint Vittorin als ein Dämon, in dem das Böse der Zeit sich verkörpert.17 Dabei beschränkt sich Perutz’ Roman nicht auf die Darstellung eines traumatisierten Bewussteins und seiner Entwicklung. Überdies führt er im Rahmen der Mitsicht vor, wie sich unter dem Einfluss der Zeit neben der Erinnerung auch ihr realer Bezugspunkt verwandelt. Zu diesem Zweck konfrontiert der Roman die Geschichte des Bildes, das sich Vittorin von seinem Gegner macht, mit seiner Wahrnehmung des wirklichen Seljukow. Der Seljukow, den Vittorin so lange gesucht hat, so offenbart die letzte große, mit so viel Spannung erwartete Szene des Romans, ist infolge des Wandels der Zeit für immer verschwunden. Aus dem gepflegten und hochmütigen Offizier auf der Höhe seiner Kraft ist ein alter Mann geworden, ein ungepflegter, ärmlich gekleideter Zivilist, der sich fern der Heimat mit dem Verkauf von russischem Kunsthandwerk mühsam über Wasser hält. An die Stelle von Macht ist Ohnmacht getreten, was sich auch in Seljukows Verhältnis zum anderen Geschlecht und darin äußert, dass der – jedenfalls aus Vittorins neidischer Perspektive – ehemals erfolgreiche Verführer18 sein Glück nunmehr in einer eigenartigen Form von Treue findet: Im Zeichen eines interesselosen Wohlgefallens erfreut sich Seljukow jetzt, so erläutert er Vittorin, am heimlichen Anblick seiner frühe––––––– 16

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Vgl. S. 105: »Er war mit seinen Gedanken bei Seljukow, soeben trat er, den Diener Grischa beiseite stoßend, in das Zimmer des Stabskapitäns und forderte Rechenschaft. Er sah die Uniform, das Georgskreuz, die schmale, leicht gebräunte Hand, die die Zigarette hielt, die Rauchringe, das Feuer im Kamin, die Bücher auf dem Schreibtisch, das alles sah er ganz deutlich, nur Seljukows Gesicht bleibt wesenlos und schemenhaft, er fand es nicht in seiner Erinnerung, er hatte das Gesicht seines Todfeindes vergessen, jawohl, er hatte es vergessen […].« Als sich Vittorin unterschiedliche Untaten Seljukows ausmalt, heißt es dementsprechend: »Und während Vittorin an all dies dachte, kam ihm plötzlich das Gesicht Seljukows, das verhaßte Antlitz, das er vergessen hatte, wieder in Erinnerung. Die Augen eines Raubvogels, ein grausam-spöttisches Lächeln auf den schmalen Lippen, keine menschlichen Züge, die Maske Satans – so sah er jetzt Seljukow« (S. 145). Vgl. auch S. 219: »Seljukow ist der böse Geist einer entarteten Zeit. In ihm haßt Vittorin die Schieber, die Valutageier, die Raubtiermenschen, die sich in den Besitz der Welt geteilt haben.« Zu der von Vittorin erinnerten Szene gehören der Geruch eines »fremdartigen Parfüms« und der Gedanke, dass Seljukow in seinem Zimmer »Damenbesuch« (S. 18) erhält; wenig später etwa erinnert Vittorin auf Seljukows Schreibtisch einen französischen Roman mit einer »nackten Dame« (S. 63f.) auf dem Titelblatt; und angesichts des Bildes eines Offiziers der Roten Armee denkt Vittorin: »Wie er dasteht mit seinen Lackstiefeln und Reithose, elegant, soigniert bis zu den Fingerspitzen, der parfümierte Mörder, zu Hause wäscht er sich die Hände in Kölnisch-Wasser, liest französische Romane, und die Weiber sind hinter ihm her.« (S. 117f.)

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ren, ihm nunmehr genau gegenüber wohnenden Moskauer Geliebten, wobei zu seiner Zufriedenheit beiträgt, dass diese offenbar ohne neuen Liebhaber lebt.19 Angesichts der gewaltigen Differenz zwischen dem vorgestellten und dem wahrgenommenen Seljukow erwacht Vittorin plötzlich wie aus einem langen Traum und realisiert den Wandel der Zeit, dem er sich bis dahin mit aller Kraft verweigert hat. Der Anblick des verwandelten Seljukow im neuen Bezugsfeld von Vittorins alter Heimat bewirkt, dass sich Vittorins Blockade gegenüber der Gegenwart löst und er sich nunmehr auch innerlich von der Vergangenheit trennen kann, ohne die Klammer zwischen erinnerter und projizierter Szene, zwischen erinnerter Opfer- und imaginierter Täterrolle durch einen realen Racheakt zu schließen. Auf einem Umweg erreicht Vittorin damit letztlich doch die Freiheit, nach der er so lange gesucht hat: Er überwindet die erlittene Kränkung und schafft die persönlichen Voraussetzungen, um sich in der Alltagswelt der Gegenwart zu orientieren. Welche Ziele aber wird Vittorin künftig verfolgen, und wo wird er einen Platz in den Turbulenzen der Nachkriegszeit finden? Im Blick auf die Zukunft des Protagonisten bleibt das Romanende offen. Die Frage ›Wohin?‹ gilt aber nicht nur in diesem konkreten Sinn. Wenn Vittorin von Seljukow ablässt und mit der erinnerten Kränkung zugleich umstandslos »zwei Jahre, in denen er Abenteurer, Mörder, Held, Kohlentrimmer, Spieler, Zuhälter und Landstreicher gewesen war, aus seinem Leben« (S. 254) streicht, so nimmt er am Ende gegenüber der Vergangenheit doch genau die Haltung ein, für die er seine Kameraden seinerzeit so sehr verachtet hatte. »Aber endlich einmal muß man doch damit fertig werden!« So hatte ihm unmittelbar nach seiner ersten Rückkehr nach Wien einer der Mitgefangenen, Professor Junker, zu seinem großen Unwillen vorgehalten: »Sie sind wieder zu Hause, alles ist vorüber. Jetzt heißt es arbeiten, wieder von vorn beginnen, den Krieg vergessen. […] Den Krieg vergessen, alles, was wir durchgemacht haben, auslöschen aus der Erinnerung. Sibirien war nur ein böser Traum, Tschernawjensk ein Alpdruck. Was zum Teufel, schert Sie denn heute noch der Stabskapitän? Lassen Sie ihn doch ruhig in Moskau oder sonstwo sein« (S. 47). Kann man Vittorins Auslöschen der Erinnerung wirklich als ›Heilung‹ begrüßen, oder anders gefragt: Welcher Preis wird hier für die Lösung von einem Trauma und den Wiedergewinn von Gegenwart und Zukunft bezahlt? Tatsächlich lässt sich Wohin rollst du, Äpfelchen … nicht nur als die Geschichte einer Verfolgungsjagd, als Darstellung des Scheiterns von Handlungsplänen und als das Protokoll einer zeittypischen, von vielen Kriegsteilnehmern erlittenen Traumatisierung und ihrer Überwindung lesen. Mit der unterschiedlichen Haltung von ––––––– 19

Vgl. S. 252.

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Vittorin und seinen Kameraden gegenüber dem in der Vergangenheit Erlebten, mit der Entwicklung Vittorins, aber auch im Blick auf sein Gegenüber, den offensichtlich anpassungsfähigen und in verschiedenen Lebenslagen zufriedenen Seljukow, greift der Roman die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Zeit und damit ein Problem auf, das letztlich an die Grundfesten des Menschseins rührt. Wo liegt die Grenze zwischen einer pathologischen Fixierung auf die Vergangenheit und bewundernswerter Treue gegenüber dem eigenen Selbst, zwischen zweifelhaftem Verdrängen und gesundem, weil lebenserhaltendem Vergessen? Unmittelbar vor den für viele Zeitgenossen traumatischen Erfahrungen des ersten Weltkriegs hat Hugo von Hofmannsthal schon in aller Prägnanz formuliert, was Perutz’ Chronik einer verspäteten ›Heimkehr‹ als Dilemma gestaltet: »Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen. Und dennoch ist ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft.«20

––––––– 20

Vgl. Hugo v. Hofmannsthal: Ariadne. Aus einem Brief an Richard Strauß. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. R. Hirsch u.a., Bd. 14, Frankfurt/M. 1985, S. 204 207, S. 205.

Ulrich Baron

Was geschah, als gar nichts geschah? Zur Rekonstruktion und Konstruktion von Wirklichkeit in Leo Perutz’ Roman Sankt Petri-Schnee

In seinem 1987 erschienenen Nachwort zu Sankt Petri-Schnee1 hat Hans-Harald Müller den 1933 erschienenen Roman auf wenigen Seiten so knapp und präzise zusammengefasst, dass man sich fragen könnte, warum Leo Perutz selbst fast anderthalb Jahre und gut zweihundert Buchseiten für dessen Erzählung gebraucht hat. Er hat überzeugend erklärt, warum der Orpheus dieses Buchs sich am Ende nicht nach seiner Geliebten umschaut, und er hat den Roman so einleuchtend und pointiert als die Geschichte eines elaborierten und gegenüber der Wirklichkeit abgesicherten Wunschtraums interpretiert, dass jeder weitere Ansatz in dieser Hinsicht allenfalls Ergänzungen liefern könnte. Statt Eulen nach Athen zu tragen, möchte ich mich deshalb mit einigen Detailuntersuchungen beschäftigen, die das Verhältnis von Erzählung und kritischer Interpretation sowie von Poetik und Analyse und generell die Frage streifen, worauf sich die Interpretation eines fiktionalen Werks überhaupt stützen kann. Dabei ist vorauszuschicken, dass Sankt Petri-Schnee in einer Äquidistanz zu historisch-phantastischen Romanen wie Die dritte Kugel und Gegenwartsromanen wie Wohin rollst Du, Äpfelchen … und Der Meister des Jüngsten Tages steht. Gemeinsam ist diesen Werken das meist scheiternde Bemühen ihrer Helden, gewisse Mängel ihrer Biographie zu korrigieren: Sei es, dass dem Hauptmann Glasäpflein die Erinnerung an sein Vorleben abhanden gekommen ist, sei es, dass der Held vom Äpfelchen sich für eine als kränkend empfundene Behandlung rächen will, sei es, dass der Held des Meisters sich zu exkulpieren versucht indem er eine phantastische Geschichte (re-)konstruiert. In den historischen Romanen, zu denen auch Turlupin und Der Schwedische Reiter zu zählen wären, finden diese Korrekturbemühungen vor dem Hintergrund alternativer Erklärungen großer geschichtlicher Ereignisse statt, an deren Zustandekommen sie selbst oft maßgeblichen Anteil haben. Das gilt zum Teil auch für Sankt Petri-Schnee, dessen historische Alternativthese besagt, dass gewisse religiöse ––––––– 1

Leo Perutz: Sankt Petri-Schnee. Hrsg. v. Hans-Harald Müller, Wien 1987. Zitate aus dieser Ausgabe werden fortan im Text durch Angabe der betreffenden Seitenzahlen nachgewiesen.

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Erweckungsbewegungen durch die massenhafte Ausbreitung eines Getreidepilzes ausgelöst wurden, dessen Einnahme zu Rauscherscheinungen und quasireligiösen Visionen führt. Doch auch der Glaube unterliegt dem historischen Wandel, und so scheitert der Versuch, das Heilige Römische Reich auf biochemischen Weg wiederzuerwecken, kläglich. Welche Implikationen eine solche Geschichte hat und welche sie im Jahre 1933 hatte, soll hier nicht weiter untersucht werden. Alles läuft vielmehr auf jenen Georg Friedrich Amberg zu, den Hans-Harald Müller zwar ausdrücklich als einen »unzuverlässigen Ich-Erzähler« (S. 198) bezeichnet, auf dessen Aussagen aber seine Interpretation sich stützt und auch jede andere Interpretation sich stützen muss, weil es die einzigen sind, die vorliegen. Mit einer kleinen Einschränkung vielleicht, auf die ich später eingehen werde. Ich halte den Ausdruck »unzuverlässiger Ich-Erzähler« hier und auch generell deshalb für nicht sehr glücklich, auch wenn er bei den Helden etwa eines Perutz oder eines Ernst Weiß durchaus nahe liegt. Zum einen hat er etwas abwertend Tautologisches, das sein logisches Gegenstück, den anständigen und zuverlässigen Ich-Erzähler auf eine Objektivität zu verpflichten scheint, die auch diesem als durchaus subjektivem und oft in die Handlung verstricktem Beobachter gar nicht zukommen kann. Zum anderen ergeben sich gewisse argumentative Konsistenzprobleme, wenn man den einzigen Zeugen, den man hat, als unzuverlässig klassifiziert. Modellhaft lässt sich dieses Problem an einem idealtypischen Kriminalroman illustrieren, der aus der Perspektive eines Ich-Erzählers einen Mordfall beschreibt. Nach und nach geraten darin alle Hausbewohner und Nachbarn in Verdacht und werden dann aber entlastet. Der Täter ist nämlich der Ich-Erzähler und beschreibt schließlich auch, wie er am Schluss gestellt wird. Hat er gelogen, hat er unzuverlässig berichtet, indem er uns seine Täterschaft verschwieg? Und wenn sein Geständnis ihn als unzuverlässigen Erzähler diskreditiert hat, wie zuverlässig ist dann dieses Geständnis? Wenn alle Kreter lügen, wie zuverlässig lügen sie dann? Angesichts der Helden eines Perutz stellen sich solche Fragen immer wieder, und die Antworten bleiben offen. Sicher ist nur, dass seine Ich-Erzähler uns die Geschichte erzählen wollen, die sie brauchen, so schwer es auch sein mag, diese mit einer ›Realität‹ in Einklang zu bringen, die selbst aber nie mehr ist als eine literarische Fiktion. Hilfreich ist hier eine Motivanalyse, die rekonstruiert, welcher Strategie ein Ich-Erzähler folgt, wenn er den Leser und vielleicht auch sich selbst auf Abwege führt. Aber nicht immer. Die meisten Ereignisse in Zwischen neun und neun haben sich offenbar im erlöschenden Bewusstsein des sterbenden Helden abgespielt, doch die Szenen, in denen er noch einmal rastlos durch sein schon verlorenes Leben streift, werden aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers und auch aus Sicht außenstehender Dritter dargestellt. Dass es sich nach der

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Logik dieser Erzählung um den inneren Monolog eines Sterbenden handelt, bleibt so länger verborgen als die Handschellen, derer er sich nicht mehr entledigen kann. Daran knüpft sich die Frage, ob sich solche Widersprüche bei Perutz überhaupt auflösen lassen, oder ob sie der Preis für gewisse angestrebte Effekte sind? Wer eine bestimmte Sorte von Kriminalromanen liest, kennt jenes Gefühl der Verärgerung, wenn dort am Ende der Eindruck erweckt wird, mit ein wenig Verstand hätte man den Fall eigentlich auch selbst lösen können. Wer sich solche Romane nach einigen Jahren ein zweites Mal vornimmt, stellt manchmal fest, dass die erzählerischen Fallen, die einem der Autor gestellt hat, zuverlässiger funktionieren als das eigene Gedächtnis. Gute Bücher, so zudem die Erfahrung, gewinnen bei wiederholter Lektüre an Bedeutung hinzu, und die Untersuchung, wie solche Bedeutungsvielfalt erreicht wird, steht in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zu analytisch-hermeneutischen Verfahrenen, die zu einer möglichst eindeutigen Aussage kommen wollen. Der Erfolg fiktionaler Literatur spricht dafür, dass der Leser in gewisser Weise und zumindest zeitweilig betrogen sein will und kraft seiner Phantasie sogar selbst daran mitwirkt. Besonders innerhalb der Genreliteratur haben sich dabei ungeschriebene Konventionen herausgebildet, aus denen sich bestimmte Erwartungen ableiten. Dazu gehört etwa, dass der Held eines Kriminalromans oder einer Verschwörungsgeschichte nach und nach alle Beweise zusammenträgt, die aus Sicht Dritter zur Klärung des Falls notwendig sind. Sankt Petri-Schnee aber verstößt gegen solche Konventionen, weil sein Held gerade die Suche nach solchen Beweise vermeidet. »Der Leser«, so Müller in seinem Nachwort zu, »wird vermutlich noch einige Male zurückblättern, bevor er selbst seinen Weg aus dem kunstvoll und ironisch konstruierten Labyrinth von Traum und Wirklichkeit gefunden hat.« (S. 201) Aber wird er das wirklich? Und soll er wirklich herausfinden? Gibt es überhaupt einen Ausweg? Im Gegensatz zum Irrgarten führt ein Labyrinth seine Besucher, wenn auch auf verschlungenen Pfaden, sicher an ein Ziel, das aber keineswegs deren Erwartungen entsprechen muss. Sankt Petri-Schnee ist oberflächlich zwar labyrinthisch, aber konventionell angelegt, und präsentiert am Ende eine Lösung, mit der zumindest der Ich-Erzähler offenbar leben kann. Im Gegensatz zu Romanen wie Die dritte Kugel, Zwischen neun und neun oder Der Meister des Jüngsten Tages wird seine Geschichte weder explizit von außen in Frage gestellt noch bleibt sie im Sinne ihres Protagonisten unvollendet, sondern endet mit den zuversichtlichen Worten Ambergs: »Es schien, als wolle es noch heute Frühling werden.« (S. 189) Am Anfang stand solcher Lesart zufolge zwar ein Ereignis, das die Existenz des Protagonisten in Frage gestellt hat, doch im weiteren Verlauf erzählt er selbst, wie er damit schließlich fertig wird. Als Georg Friedrich Amberg im Krankenhaus von Osnabrück aus tiefer Bewusstlosigkeit erwacht, sieht er sich bald mit zwei konkurrierenden Versionen

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der Ereignisse konfrontiert, die diesen Zustand herbeigeführt haben sollen. Zunächst völlig desorientiert, erinnert er sich schließlich, als Dorfarzt auf dem Gut des Freiherrn von Malchin das Scheitern eines wahnwitzigen chemo-politischen Experiments erlebt und dabei Schuss-, Stich- und Platzwunden erlitten zu haben. Das Klinikpersonal aber insistiert darauf, dass Amberg niemals das Gut und das Dorf Morwede erreicht habe, schon auf dem Weg zum Bahnhof von einem Auto überfahren worden sei und einige Wochen im Koma gelegen habe. Als Amberg feststellt, dass der russische Fürst Praxatin, ein Mann, der in Morwede eine höchst fatale Rolle gespielt hat, nunmehr in der Klinik als Pfleger arbeitet, scheint dies auf eine Verschwörung hinzudeuten, die jene Ereignisse auf dem Gut vertuschen soll. Egal welcher Version man auch zuneigt, ist man doch ganz auf Ambergs Erzählung angewiesen. Es gibt keinen auktorialen Erzähler, der die Geschichte, wie in Zwischen neun und neun, als Phantasien eines Sterbenden darstellt. Es gibt auch keine Herausgeberfiktion, welche die Geschichte eines Ich-Erzählers, wie in Der Meister des Jüngsten Tages, am Ende als apologetische Erfindung entlarven könnte. Hans-Harald Müller bezeichnet Amberg zwar als »unzuverlässigen Ich-Erzähler«, doch vertraut er ihm immerhin genug, um seine Interpretation auf dessen Aussagen zu stützen. Was bliebe ihm auch anderes übrig? Doch wenn man Ambergs Erzählung als unzuverlässig betrachtet, dann bringt das gravierende Probleme mit sich. Sowohl Amberg als auch Müller gehen zunächst davon aus, dass lediglich Ambergs – durchaus fragwürdige – Erinnerungen für die Realität der Morwede-Handlung sprechen, während der Realitätsgehalt seiner Vorgeschichte sowie derjenige der Rahmenhandlung im Krankenhaus für sie außer Zweifel steht. Innerhalb dieser Rahmenhandlung nun kommt es so weit, dass Amberg selbst an seiner Version der Ereignisse zweifelt, als ihm sein Studienkollege Dr. Friebe vorhält, es handele sich um einen bloßen Wunschtraum, in dem sich seine unerwiderte Liebe zur griechischen Chemikerin Bibiche erfüllt habe. Friebes Analyse, die durch verschiedene einschlägige Äußerungen von Amberg selbst plausibel gemacht wird, ist ein Eckpfeiler von Müllers die TraumThese vertretender Interpretation, an dem hier auch gar nicht gerüttelt werden soll. Friebes Argument ist so schlagend, dass Amberg daran zu zerbrechen droht, doch dann taucht – als deus ex machina – der Pfarrer von Morwede an seinem Krankenbett auf. Neben Amberg selbst ist dieser Geistliche die einzige Person des Romans, die nicht nur in beiden Sphären der Handlung auftritt, sondern sich selbst auch dazu bekennt. Andere wie etwa der Krankenpfleger, in dem Amberg den Fürsten Praxatin zu erkennen glaubt, gehen entweder vollkommen in ihrer neuen Rolle auf oder sind in Wirklichkeit harmlose Zeitgenossen, die der delirierende Amberg in seine Fiktion eingebaut hat. Der Auftritt des Pastors hat eine doppelte Funktion. Zum einen gibt der Gottesmann Amberg den Glauben an

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seine Version wieder. Zum anderen liefert er ihm ein schlagendes Argument dafür, auf keinen Fall öffentlich darauf zu beharren. Denn Ambergs Geliebte Bibiche soll nicht nur in die Verschwörung verstrickt sein, als Frau des Klinikchefs dürfte sie sich auch auf keinen Fall zu ihrer Liebesbeziehung mit Amberg bekennen. »Ein Traum, der an der Wirklichkeit zu zerschellen drohte, wird mit Hilfe eines weiteren Traums gegen jede Widerlegung durch die Wirklichkeit geschützt« (S. 200), schreibt Müller folgerichtig. Doch was sagt das Auftreten dieser Traumgestalt dann über jenen Teil der Handlung, der bislang als realistisch verstanden wurde? Wenn das Auftauchen des Pfarrers im Krankenhaus eine Fiktion Ambergs ist, warum nicht auch das Dr. Friebes, ja die ganze Klinik? Kann es sich bei beiden oft nebelverhangenen, dann wieder von betäubenden Dämpfen durchwehten Versionen der Geschichte nicht ebensogut um die widerstreitenden Wunsch- und Alpträume eines Sterbenden handeln, der die Welt nicht lassen kann, bevor sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen ist? Ist Sankt Petri-Schnee gar am Ende eine erzählerisch konsequentere Variante von Zwischen neun und neun? Verbirgt sich hinter Ambergs finaler Frühlingserwartung der Tod? Solche Lesart würde Hans-Harald Müllers Interpretation keineswegs widersprechen, sondern ihr nur eine ontologische Schraubendrehung hinzufügen. Und solche Schraubendrehungen kommen schon in der Morwede-Handlung vor, deren Realitätsgehalt für Amberg durchaus nicht einheitlich ist. Zwar handelt es sich dem Erzähler zufolge um Erinnerungen, die dann auch im Präteritum wiedergegeben werden, doch sind die Ereignisse auf dem Gut, vor allem manche dialogische Passagen als unmittelbar erlebte Wirklichkeit gestaltet. Besonders dann, wenn Amberg voller Zweifel und Ungeduld auf etwas wartet, was er doch eigentlich längst erlebt haben will, gewinnt die Vergangenheit übermächtige Präsenz. Vor allem natürlich wartet Amberg in Morwede darauf, dass Bibiche endlich zu ihm kommen möge, und als sie nicht kommt, stellt er sich vor, statt dessen sei der unausstehliche Fürst Praxatin zu Besuch erschienen. Er lässt seine Phantasiegestalt neben sich vor dem Kaminfeuer Platz nehmen und malt sich die Anfänge eines Gesprächs aus, das schon bald eine unangenehme Richtung einschlägt, weil der schattenhafte Gast ihm hartnäckig alle Hoffnung auf Bibiches Eintreffen auszureden sucht: »Sie kommt nicht«, lautet dessen düstere Prognose, die dieser penetrante Mensch dann auch noch auf perfide Weise empirisch zu begründen sucht: »Auch ich habe gewartet, ein ganzes Jahr lang habe ich gewartet, und sie ist nicht gekommen.« (S. 136) Am Ende kann Amberg seinen Versucher nur loswerden, indem er statt zum Tintenfass zum Lichtschalter greift. Zuvor gibt eine Passage, die genau gegenläufig angelegt ist. Darin spielt Amberg in Morwede ein Spiel und versucht recht erfolgreich, sich einzureden: »Das

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alles, den Schnee auf der Dorfstraße, die Krähe dort auf dem Baum, den Nebel, die Häuser, die bleiche Sonne am Winterhimmel, – das alles träumte ich.« (S. 75) Zuletzt gerät er in Panik, läuft zu seinem Wohnhaus zurück, stürzt die Treppe hinauf, öffnet die Tür: »... und der vertraute Geruch von Chloroform schlug mir entgegen, der leise Geruch des Chloroforms, der nie aus meinem Zimmer wich, der tat mir wohl, der vertrieb die törichten Gedanken.« (Ebd.) Ist dieser Geruch hier nun stets gegenwärtig, weil es sich um Arzt- oder weil es sich in Wirklichkeit um einen Krankenhauszimmer handelt? Solche Szenen wirken wie Vorübungen Ambergs in Sachen Konstruktion und Dekonstruktion von Fiktionen und Ängsten, die dann später mit dem Erscheinen des Pfarrers zum Meisterstück entwickelt werden. Auch wenn die Morwede-Geschichte ein Wunschtraum sein mag, bleibt Amberg selbst darin nicht von Zweifeln und teils expliziten Einsprüchen verschont, ob er wirklich ans Ziel seiner Wünsche gelangen könne. Zudem sind Morwede-Handlung und KlinikHandlung von Elementen der jeweils anderen Sphäre, von Geräuschen, Gerüchen, Vor- und Nachahnungen, durchdrungen, und Ambergs Vorgeschichte als Sohn eines Historikers, Arzt und Laborkollege Bibiches enthält bereits viele tragende Elemente beider Versionen. Will man die Dichotomie von realer Klinik- und erträumter Morwede-Handlung trotzdem aufrecht erhalten, so kann man sich nicht auf Ambergs Aussagen verlassen. Man kann sich nur auf das stützen, was er nicht tut beziehungsweise nicht erzählt. Hans-Harald Müller weist darauf hin, dass der Roman zunächst wie die »simple Variante eines analytischen Kriminalromans« anmute, »in dem ein unliebsamer Mitwisser irgendeiner Verschwörung mit allen erdenklichen Mitteln und Listen dazu gebracht werden soll, sein Wissen für sich zu behalten oder gar seinen eigenen Erinnerungen zu mißtrauen« (S. 195). Da hat der Held eins über den Kopf bekommen, und hinterher soll alles ganz anders gewesen sein. Wahrscheinlich kennt jeder solche Geschichten, doch es ist nicht so einfach, zu rekonstruieren, woher und seit wann man sie wirklich kennt. Leo Perutz hat Benjamins Unterstellung, er habe mit Zwischen neun und neun einen Kriminalroman verfasst, bekanntlich energisch, aber diskret zurückgewiesen, und was an Sankt Petri-Schnee auffällt, ist die Konsequenz, mit der darin gegen genretypische Regeln verstoßen wird. Diese Regelverstöße sind konsequent, weil Sankt Petri-Schnee zunächst etwas zu sein vorgibt, was dieser Roman nicht ist – eben eine »simple Variante eines analytischen Kriminalromans«, wie Müller erwägt. Man könnte hier von poetischer Mimikry oder auch von unzuverlässigen Genre-Indikatoren sprechen, die den Leser dazu bringen, den Selbsttäuschungen des Ich-Erzählers ebenfalls zu erliegen. Die erste dieser gebrochenen Genre-Regeln, ja die raison d’être des Verschwörungskrimis lautet, dass der Held oder die Heldin die Verschwörung um jeden

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Preis aufdecken wollen muss, denn daraus bezieht er seine Dynamik und Spannung. Doch Amberg interessiert sich viel mehr für seine Geschichte als dafür, sie zu beweisen, ja am Ende hat er sie so weit entwickelt, dass er auf keinen Fall versuchen darf, sie zu beweisen. Schon zuvor aber verhält er sich vollkommen regelwidrig. Geht man von einer Verschwörung aus, an der das Klinikpersonal beteiligt ist, so hätte das genretypische Verschwörungsopfer zwei Optionen. Auf jeden Fall sollte es versuchen, aus diesen Kreisen zu entkommen, um die Ereignisse in Morwede vor Ort zu überprüfen. Doch Amberg ist zu schwer verletzt, und als er entlassen wird, hat er an harten Beweisen schon kein Interesse mehr. Er hätte jedoch vom Krankenbett aus die Hilfe von Außenstehenden suchen, sich etwa an die Polizei wenden können, auch wenn so etwas in Kriminalromanen immer schief läuft. Dass Amberg keine dieser Optionen in Erwägung zieht, muss zunächst seltsam anmuten, denn das Schweigegebot wird ihm erst sehr viel später durch den Pfarrer auferlegt. Doch folgt man dem Erzählmuster ›Verschwörungskrimi‹ weiter, so werden in Ambergs Fall zwei Punkte, die harte Beweise für oder gegen seine Version liefern könnten, zumindest angesprochen. Als Amberg erwacht, gehört zu seinen ersten Erinnerungen an Morwede eine Szene, in der er auf einer Dorfstraße steht und seine Uhr betrachtet, deren Glas er »im Fallen zerbrochen« (S. 8) habe. Sie zeigt auf acht Uhr, doch sein angeblicher Autounfall hat gegen Mittag stattgefunden. Die Uhr, die zur Tatzeit stehengeblieben ist und diese damit festhält, gehört zu den bekanntesten Indizien des frühen Kriminalromans, und eigentlich sollte Amberg im Krankenbett zumindest daran denken, noch einmal zu überprüfen, was eigentlich die seine anzeigt. Zeigt sie auf acht? Ist sie überhaupt beschädigt? Er tut es aber nicht. Warum führt Perutz gleich zu Beginn ein geradezu klassisches Motiv ein, ohne dessen Funktion zu aktivieren? Wohin auch immer die Uhr verschwunden sein mag, die härtesten Beweise trägt Amberg am eigenen Leib. Gleich beim ersten bewusst erlebten Verbandswechsel widerspricht er heftig, als Dr. Friebe von »Rißquetschwunden« (S. 15) spricht: »›Rißquetschwunden?‹ rief ich. ›Das ist doch Unsinn. Die Verletzung am Arm stammt von einem Revolverschuß und die an der Schulter von einem Messerstich. Das muß sogar ein Laie sehen‹.« (Ebd.) Doch was sieht Amberg selbst? Immerhin ist er doch Arzt. »Ich wies auf die Schußverletzung an meinem Arm« (ebd.), heißt es. Er weist darauf hin, aber sieht er auch hin? Danach kommt er nicht mehr darauf zurück, obwohl seine Schussverletzung für ihn doch angesichts jener Zweifel, die Friebe später bei ihm weckt, der letzte empirische Rettungsanker hätte sein müssen. Folgt man Müllers Traumthese, so ist Ambergs Verhalten nur zu verständlich, denn er muss alle Beweise ausklammern, die seine Version widerlegen könn-

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ten. Doch wäre auch sein Aufenthalt in der Klinik nur ein Traum, dann könnte die Uhr jede beliebige Zeit anzeigen (was sie in der Morwede-Handlung ja auch tut), und sein Arm könnte jede beliebige Verletzung aufweisen. Der Umstand, dass Amberg gerade diese Elemente innerhalb der Klinik-Handlung verdrängt, spricht deshalb dafür, dass sie real sind und dass es für Amberg noch eine wirkliche Außenwelt gibt. Der Leser jedoch wird gerade durch solche Elemente auf eine falsche Fährte gelenkt. Die Uhr und die Zeit, die sie in Morwede anzeigt, wird schon erwähnt, bevor Amberg mit seiner Geschichte auf Widerspruch stößt. Obwohl sie nur innerhalb der Morwede-Handlung anzeigt, was die Stunde geschlagen hat, wird sie wie ein genretypisches Beweismittel eingeführt. Und die Überzeugung, mit der Amberg aus seiner Geschichte auf die Art seiner Verletzungen schließt, überspielt den Umstand, dass man nirgendwo erfährt, wie diese wirklich aussehen. Amberg schließt von dem, was erst bewiesen werden soll, auf das zurück, was er als Beweis ansieht, aber nicht wirklich überprüft. Solche fragwürdigen Rückschlüsse werden auch in jener zentralen Passage gezogen, wo Amberg den Anschluss zwischen unumstrittener Vor- und umstrittener Hauptgeschichte herstellen will. Darin geht es um jenen Unfall, der ihn ins Krankenhaus gebracht haben soll. Nach Ambergs Auffassung hat dieser Unfall nie stattgefunden, doch in seiner Rekonstruktion der Ereignisse läuft alles darauf hinaus. Zugleich werden darin Erinnerungen an Bibiche geweckt, aus denen hervorgeht, dass jene Liebesbeziehung, die Amberg sich erträumt hat, allen realistischen Erwartungen zuwiderlief. Amberg ist auf dem Weg zum Bahnhof von Osnabrück, hat den Kopf voller Gedanken und die Hände voller Zeitungen, als er plötzlich Bibiche, die für immer verloren geglaubte Frau seiner Träume, wiedersieht. Beim Schaufensterbummel ist ihm zuvor ein Buchtitel ins Auge gesprungen: »Warum verschwindet der Gottesglaube aus der Welt?« (S. 35) Und ein Marmorbildnis Friedrich II. Amberg ist auf dem Weg, sich in der Provinz zu vergraben. »Und nun ging ich, um ein anderes Leben zu beginnen«, sagt er, »ein Leben, an das ich nur geringe Erwartungen und kaum eine Hoffnung knüpfte, eintönig-grau und freudlos sah ich es vor mir liegen.« (S. 29) Doch statt dieser freudlosen Zukunft sieht er plötzlich die Liebe seines Lebens in einem grünen Cadillac vorüberfahren. Oder sollte man sagen: Amberg liegt im Krankenbett und erinnert sich oder glaubt sich zu erinnern? Es kommt hier zu einer Art Aufspaltung, bei der der Erzähler sich einerseits zu erinnern und andererseits unmittelbar zu sprechen scheint. Lebewohl, Bibiche! – sagte ich leise. – Zum zweitenmal habe ich dich verloren. Das Schicksal hat mir eine Chance gegeben und ich habe sie versäumt. Das Schicksal? Warum das Schicksal? Gott hat mir dich in den Weg geschickt, Bibiche. Gott, nicht das Schicksal. – Warum verschwindet der Gottesglaube aus der Welt? – schoß es mir durch den Kopf, und einen Augenblick sah ich das starre, marmorne Gesicht aus dem Schaufenster des Antiquitätenladens. – (S. 35)

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Kann man verlieren, was man nie besessen hat? »Wir Akademiker zählen für sie nicht« (S. 30), habe es über die schöne Griechin geheißen: »Man muß, um von ihr bemerkt zu werden, zumindest einen Mercedes besitzen.« (S. 31) Da müsste gerade ihr Erscheinen in einem Cadillac Amberg doch noch einmal klargemacht haben, dass ihm nur der Zug in die Provinz blieb. In dem halben Jahr, das er mit Kallisto Tsanaris im selben Raum gearbeitet hat, habe er »nicht mehr als zehn Worte mit ihr gewechselt« (S. 32), gesteht er selbst. Doch gerade er, der verwaiste Habenichts, muss sich als Bibiches Traumpartner empfunden haben. »Bis zum letzten Tag« (S. 34), wenn auch ohne eine Detektei einzuschalten, habe er nach ihr gesucht, nachdem sie plötzlich nicht mehr im Labor erschienen sei. Solches Verhalten wird heutzutage als ›Stalking‹ bezeichnet und ist durchaus justiziabel. Es ist bisweilen Ausdruck einer gravierenden Bewusstseinsstörung, die dazu führt, dass jemand glaubt, ein bisweilen völlig fremder Mensch sei ihm unsterblich verfallen. Jede Geste, jedes völlig belanglose Grußwort kann dabei als untrüglicher Liebesbeweis angesehen werden. Dass die spröde Bibiche sich in Morwede als Ambergs glühende Verehrerin zu erkennen gibt, die von ihm aber nie gebührend beachtet worden sei, entspricht vollkommen der Logik solcher Selbsttäuschung, solchen Liebeswahns: »Ich gestehe Ihnen, daß ich mir rechte Mühe gegeben habe, von ihnen bemerkt zu werden; aber Sie schienen entschlossen, mich nicht zur Kenntnis zu nehmen« (S. 72), sagt Bibiche kokett, und darauf folgt einer von vielen kurzen Einwürfen des Erzählers, die von ihm selber immer wieder überspielt werden: »Warum sagte sie das?« fragt sich Amberg: »Es war doch nicht wahr.« (S. 72) Doch Bibiche fährt im selben Tonfall fort, und der nächste Erzählerkommentar wirkt schon weniger apodiktisch: »Ich begann nachzudenken. – Hatte sie am Ende recht? Lag nicht wirklich doch die Schuld an mir? War ich nicht allzu zurückhaltend, zu ängstlich, zu scheu, zu feig, – vielleicht zu stolz gewesen?« (S. 73) Es ist bemerkenswert, wie Amberg die Wirklichkeit hier in ihr genaues Gegenteil verkehrt, und sich selbst schließlich jenes Attribut – den Stolz – zuschreibt, das doch eigentlich Bibiche zukäme. Dies alles und mehr ist in jener Szene vor dem Bahnhof angelegt, in der Amberg zunächst das Schicksal und dann Gott persönlich für seine überaus flüchtige und einseitige Wiederbegegnung mit Bibiche in Anspruch nimmt. Neben dem Gedanken an Bibiche schießt ihm die Frage nach dem Gottesglauben durch den Kopf – und jenes Marmorantlitz, das er in Morwede gewissermaßen in Fleisch und Blut treffen wird. In diesem Moment kommen also schon drei wesentliche Elemente der Morwede-Handlung zusammen. Und dann? Was passiert dann? Ich fuhr auf und sah mich um. Ich stand mitten auf dem Platz, rings um mich her war ein Höllenlärm, die Taxichauffeure schrieen auf mich ein, ein Motorradfahrer sprang unmittelbar vor mir von seinem Rad, fluchte und drohte mir mit der Faust; der Ver-

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Ulrich Baron kehrspolizist gab mir mehrmals hintereinander irgend ein Zeichen, ich verstand ihn nicht, – sollte ich stehenbleiben oder weitergehen? Geradeaus? Nach rechts? Nach links? Ich machte einen Schritt nach rechts, und dabei fielen mir die Zeitungen und die Magazine, die ich unter dem Arm hielt, auf die Erde. Ich bückte mich, um sie aufzuheben, da hörte ich hinter mir ein Hupsignal, ich ließ sie liegen und sprang zur Seite. (S. 36f.)

Doch sofort widerspricht Amberg sich selbst: »Nein! Ich muß die Zeitungen aufgehoben haben, denn ich las sie ja dann später während der Bahnfahrt.« (S. 36) Hier liegt die entscheidende Bruchstelle von Ambergs Erzählung, an der die Erinnerung von einer Schlussfolgerung abgelöst wird. Kann sich Amberg aus dieser hochdramatischen Situation befreit haben, indem er seine Zeitungen aufhob und seelenruhig zum Bahnsteig ging? Wohl kaum, und man kann bestenfalls annehmen, dass ein Filmriss in dieser Szene dazu geführt habe, dass sein Gedächtnis zeitweilig aussetzte. Man kann allerdings auch feststellen, dass Rissquetschwunden an Arm und Schulter sehr gut zu einem Verkehrsunfall passen würden, dessen Opfer sich beim Aufprall in gebückter Haltung befand. Doch Amberg entscheidet sich dafür, wie später immer wieder, mögliche Widersprüche zwar anzuführen aber zu ignorieren. »Ich hob sie also auf und sprang zur Seite«, heißt es: »und dann – was geschah dann?« (S. 36) Als folgsamer Leser könnte man diese Frage durchaus als Rekonstruktion eines etwas mühsamen Erinnerungsprozesses verstehen und in diesem Sinne weiterlesen: »Gar nichts geschah.« Das hätte, ernst gemeint, das Ende allen Erzählens bedeutet, doch Amberg will damit sagen, dass nichts Besonderes geschah und erzählt weiter so, als wäre nichts geschehen, aber was er beschreibt, ist nicht mehr als die Routine einer beginnenden Bahnreise: »Ich kam auf den Gehsteig, ging zum Bahnhof, löste die Fahrkarte und holte mein Gepäck«, heißt es weiter, und das wirkt so, als habe Ambergs Gedächtnis nun wieder Tritt gefasst. Doch dann folgt der Zusatz »das alles ist ja selbstverständlich« (S. 36). Amberg erinnert sich also nicht, sondern sagt lediglich, was er selbstverständlich getan hätte, wenn er den Bahnhof erreicht hätte. In diesem Licht betrachtet, kann man den Satz »Gar nichts geschah« tatsächlich wörtlich nehmen. Amberg bückte sich, hörte das Auto kommen, versuchte zur Seite zu springen, und dann geschah – gar nichts mehr. Das einzige Beweismittel, das Amberg anführt, seine Erinnerung, weist hier nicht nur eine Leerstelle auf, sondern alles, an das er sich zuvor erinnert hat, läuft auf eine dramatische Situation hinaus, die in einem Unfall kulminiert. Und nachdem »gar nichts« geschehen sein soll, gibt sich Ambergs Rekonstruktion der weiteren Ereignisse erstaunlich lakonisch: »Und dann saß ich im Zug« (ebd.), lautet der kurze Satz, der den ganzen Weg von Osnabrück bis nach Rheda überbrücken muss, wo ein Schlitten des Freiherrn wartet. Gerade noch sollen Am-

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berg die wildesten Gedanken durch den Kopf geschossen sein, und wenig später will er nur ruhig im Zug gesessen und Magazine gelesen haben, an deren Inhalte er sich nicht erinnert? In Morwede aber braucht er jene verwirrten Gedanken nicht fortzusetzen, weil sie sich dort materialisiert haben, und erst damit findet seine Rekonstruktion oder Konstruktion der äußeren Handlung einen halbwegs konsistenten Anschluss an jene Szene vor dem Osnabrücker Bahnhof. Das alles spricht eher dafür, dass der Unfall tatsächlich stattgefunden und Amberg dabei sein Bewusstsein für die Außenwelt nahezu vollständig verloren hat. Er ist geschlagen, schwer verletzt, am Boden zerstört. Nur in seinem Kopf spuken Gedanken umher, die keine Ruhe geben. Gedanken an Bibiche, den Gottesglauben, das Staufferreich und Morwede, wo alles geschehen könnte, weil er es niemals erreichen wird. Und damit hat die Geschichte eigentlich erst richtig begonnen, doch Georg Friedrich Amberg ist längst dabei, sich als ein außerordentlich zuverlässiger IchErzähler zu beweisen, der seinem Schöpfer alle Ehre macht. Denn wie heißt es in Der Meister des Jüngsten Tages: Auflehnung gegen das Bestehende und nicht mehr zu Ändernde! – Aber ist dies nicht – von einem höheren Standpunkt aus gesehen – seit jeher der Ursprung aller Kunst gewesen? Kam nicht aus erlittener Schmach, Demütigung, zertretenem Stolz, kam nicht de profundis jede ewige Tat? Mag die gedankenlose Menge vor einem Kunstwerk in Beifallsstürmen toben – mit enthüllt es die zerstörte Seele seines Schöpfers.2

Sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Sankt Petri Schnee erschien in Argentinien ein Buch, das ebenfalls ein wahnwitziges wissenschaftliches Projekt mit der Geschichte einer fast hoffnungslosen Liebe verknüpfte. Es entstammte der Feder von Adolfo Bioy Casares, und dessen Freund Jorge Luis Borges hat seine Fabel vollkommen genannt. Schon der Titel La invención de Morel ist zweideutig und lässt offen, ob es sich bei dem Mann, dessen Name an Wells’ Dr. Moreau erinnert, um einen Erfinder oder um eine Erfindung handelt. Auch Bioys Ich-Erzähler weckt Zweifel. Als politisch Verfolgter hat er sich auf eine Insel geflüchtet, deren Einsamkeit eine Seuche garantiert, die alle Bewohner dahingerafft hat. Doch inmitten regelmäßig überschwemmter Sümpfe gibt es eine Art Sanatorium, das zunächst verlassen ist, um sich dann plötzlich mit Besuchern zu füllen. Der Erzähler reagiert erst mit Panik, dann mit Neugierde, dann verliebt er sich in eine der Frauen, Faustine, deren Beziehungen er eifersüchtig überwacht. Trotz seiner Zerlumptheit scheut er nicht vor Liebesbeteuerungen zurück und legt der Angebeteten ein Blumenbeet zu Füßen, das deren Begleiter Morel achtlos zertritt. ––––––– 2

Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages, Linz o. J., S. 234.

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Aber Faustine reagiert weder mit Schrecken noch mit Zuneigung. Sie sieht ihn nicht. Nachdem der Erzähler eine Reihe möglicher Erklärungen verworfen hat, entdeckt er, was es mit den Maschinen im Keller auf sich hat. Morels Erfindung ist ein perfektes Aufzeichnungsgerät, das auch Gerüche, Temperatur- und Tastempfindungen festhält. Auch Morel hatte sich in Faustine verliebt, und als seine Liebe nicht erwidert wurde, hat er ein Privatparadies geschaffen, hat seine besten Freunde für eine Woche dorthin eingeladen, sie aufgenommen und ihnen damit ein Stück Unsterblichkeit verliehen. Was der Erzähler sieht, ist die ewige Wiederkehr dieser Woche, deren Fortdauer ein Gezeitenkraftwerk gewährleistet. Doch der Preis dieser Wiederkehr ist furchtbar. Morels Erfindung raubt ihren Objekten die Seele und tötet sie. Faustine und ihre Freunde sind gestorben und haben so die Legende jener Seuche geschaffen, die ihre Phantome vor Zuschauern schützt. Das Objekt seiner Liebe unerreichbar vor Augen, schaltet der Erzähler die Aufzeichnungsapparaturen noch einmal ein und spielt die Rolle seines Lebens: Faustines Liebhaber. Schon todgeweiht richtet er eine Bitte an jenen Menschen, der, auf seinen Bericht gestützt, die Maschine erfinden könnte, die imstande wäre, »die zerfallenden Anwesenheiten« zu vereinen: »Er möge Faustine und mich suchen und mich eingehen lassen in den Himmel von Faustines Bewußtsein. Es wäre ein Akt des Erbarmens.«3 Es gehört zur Ironie von Adolfo Bioy Casares, dass sein Erzähler sich keine Gedanken macht, wie er in diesem Himmel auf Faustine wirken würde. So ist es verständlich, dass er am Ende vergisst, sein Tagebuch tatsächlich unter das auserkorene Motto, Leonardos »Ostinato Rigore«, zu stellen. Mit seinen technischen Phantasien und Anklängen an die literarische Phantastik ist Morels Erfindung ein vollkommenes Labyrinth – ein Labyrinth nicht nur der Einsamkeit, sondern auch der Illusionen und der Hoffnungen. Der Akt des Erbarmens, den sein Erzähler erhofft, findet darin nicht mehr statt, nicht einmal in Form eines frommen Selbstbetrugs. Anders bei Perutz, dessen Held jenen Himmel im Bewusstsein der Geliebten schon erreicht zu haben meint: »Ich ging über den Hof. Bibiche stand am Fenster und sah mir nach, ich wußte es – ohne hinzusehen, wußte ich es, ich fühlte ihren Blick.« (S. 189)

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Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung, Deutsch von Gisbert Haefs, Frankfurt/M. 2003, S. 133.

Simone Winko

Emotionsvermittlung in Leo Perutz’ Der schwedische Reiter

Der vorliegende Beitrag behandelt ein Thema, das in der Forschung zu Leo Perutz’ Werk nicht unbedingt im Mittelpunkt steht. Es geht weder um die Rätselstruktur seines Textes noch um logische bzw. semantische Paradoxien1 oder um die Identitätsproblematik,2 es geht nicht um die Gattung des historischen Romans3 und auch nicht um das Phantastische in diesem Text.4 Stattdessen geht es um die Emotionsvermittlung im Schwedischen Reiter, um das emotionale Wirkungspotential dieses Romans.5 Das allerdings hängt, wie sich zeigen wird, mit einigen der eben ausgeschlossenen Themen zusammen. Es gibt in der sprachanalytischen Emotionsforschung mehrere wichtige Beiträge, die zu der leitenden Frage verfasst wurden »How can we be moved by the fate of Anna Karenina?«6 Ich möchte diese Frage abwandeln und auch ein wenig pragmatischer formulieren: ›How are we moved‹, wie werden wir denn vom fiktiven Schicksal der Figur des schwedischen Reiters bewegt? Diese Frage zielt auf keine empirische Untersuchung von tatsächlichen Leserreaktionen ab, sondern auf das Potenzial, das der Text enthält, ––––––– 1 2

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So z.B. Michael Mandelartz: Die Herrschaft der Ökonomie. Leo Perutz: »Der schwedische Reiter«. In: Studies in Humanities 27 (1993), S. 213 220, S. 213f. Dazu Jan Christoph Meister: »Der schwedische Reiter« – Von der Schuld der Identität. In: B. Forster u. H.-H. Müller (Hrsg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 143 159; Peter Lauener: Die Krise des Helden. Die Ich-Störungen im Erzählwerk von Leo Perutz, Frankfurt/M. u.a. 2004, S. 151 158, 162. Dazu Michael Niehaus: Der historische Roman als Konstrukt. »Der schwedische Reiter« von Leo Perutz. In: Sprachkunst 26 (2000), S. 1 15. Z.B. Hans Krah: ›Fantastisches‹ Erzählen – Fantastisches ›Erzählen‹. Die Romane Leo Perutz’ und ihr Verhältnis zur fantastischen Literatur der Frühen Moderne. In: H. Krah u. C.-M. Ort (Hrsg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel 2002, S. 235 257. Einer der wenigen Forschungsbeiträge, der diese Frage verfolgt, ist Matías Martínez: Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz. In: Forster u. Müller (Hrsg.): Leo Perutz (Anm. 2), S. 107 129, bes. S. 119. So Colin Radford: How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina? In: Proceedings of the Aristotelian Society 49 (1975), S. 67 80; Michael Weston: How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina? In: Proceedings of the Aristotelian Society 49 (1975), S. 81 93.

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um eine solche emotional bewegende Wirkung zu erzielen. Dass Leser den Roman auch ohne emotionale Anteilnahme lesen können, steht ebenso außer Frage wie die Tatsache, dass es Leser gibt, die am Ende des schwedischen Reiters starken Anteil nehmen; auch wenn ich für diese Behauptung nur eine unsystematisch vorgenommene Umfrage unter – immerhin professionellen – Lesern anführen könnte.7 Diese bewegten Leser reagieren nicht ungehemmt subjektiv, sondern, wie im Folgenden gezeigt werden soll, durchaus ›im Sinne des Textes‹, indem sie sich von den lenkenden Strategien des Erzählers leiten lassen. Um die Emotionsvermittlung in Perutz’ Roman zu analysieren, müssten zahlreiche sprachliche Merkmale wie auch formale und inhaltliche Bausteine des Textes untersucht werden.8 In diesem Beitrag will ich jedoch exemplarisch vorgehen und nur eine besonders ›emotionshaltige‹ Szene herausgreifen, die im Roman in zwei Fassungen vorkommt, sowie ihre textinternen und wirkungsbezogenen Zusammenhänge. Dabei sind zwei Fragenkomplexe einzubeziehen. Erstens spielt die narrative Informationsvergabe eine wichtige Rolle. Welche Informationen welchen Typs werden den Lesern wann und vom wem vermittelt? Für die Frage nach der emotionalen Wirkung eines Textes ist diese Dramaturgie der Informationsvergabe entscheidend, weil sie ein wichtiges Mittel der indirekten Sympathielenkung darstellt. Um zeigen zu können, wie es Perutz bzw. seinem Erzähler gelingt, die Anteilnahme der Leser in eine bestimmte Richtung zu lenken, ist es entscheidend, dass die Analyse dem Verlauf der Lektüre folgt. Der zweite Fragenkomplex bezieht sich auf die Emotionskodes, die Perutz verwendet. Diese Kodes sind äußerst langlebige, kulturell geprägte Muster der Weltwahrnehmung, mit deren Hilfe Emotionen formuliert oder eben vermittelt werden. Weder Literatur noch Alltagskommunikation würden ohne sie funktionieren. Zu fragen ist, welche dieser Kodes auf welche Weise eingesetzt werden. Im Folgenden werde ich zunächst knapp die Vorrede des Romans betrachten, die einen ersten Einblick in seine Erzähltechnik gibt, und seine Handlung skizzieren (1). Anschließend werden die exemplarischen Passagen unter der Perspektive ihrer emotionsvermittelnden Kapazitäten untersucht (2). Ein knappes Fazit soll Konsequenzen aus den Befunden für künftige Forschungen zu Perutz’ Werk skizzieren (3). ––––––– 7

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Dazu ein Autoritätsargument: Hans-Harald Müller spricht in seinem Nachwort zur Ausgabe des Romans von 2002 von dem »unendlich traurige[n] Ende des Romans«, Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Leo Perutz: Der schwedische Reiter. Roman. Hrsg. v. H.-H. Müller, Wien 2002, S. 247 255, S. 255. Nach Michael Niehaus kennzeichnet unter anderem »tiefe Melancholie« den Roman, vgl. Niehaus: Der historische Roman (Anm. 3), S. 15. Zum Verfahren vgl. genauer Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003, Kap. 4.

Emotionsvermittlung in Leo Perutz’ »Der schwedische Reiter«

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1. Der Vorbericht und seine Funktion Eingebettet ist die Erzählung in einen Vorbericht, der Einblick in die Memoiren der Maria Christine v. Blohme, der Tochter Christian v. Tornefelds, genannt »der schwedische Reiter«, gibt. Den Aufhänger der Erzählung bietet eine historische Unstimmigkeit, von der nur die Verfasserin weiß: Das Rätsel liegt in dem eigentümlichen Sachverhalt, dass der schwedische Reiter im Heer Karls des XII. in Russland aufs tapferste kämpft und zugleich des Nachts am Fenster seines schlesischen Gutshofes erscheint und mit seiner kleinen Tochter Maria Christine spricht. Dieses Rätsel wird allerdings sehr schnell aufgeklärt. Was für Maria Christine ein lebenslanges Geheimnis bleibt, enttarnt der Erzähler sofort: »Es ist die Geschichte zweier Männer« (S. 16).9 Wie diese Geschichte sich zugetragen hat, entdeckt die anschließende Erzählung. Sie handelt in vier Teilen von einem namenlosen Dieb, dessen Weg sich zufällig mit dem des schwedischen Adligen Christian v. Tornefeld kreuzt. Tornefeld ist desertiert und will sich in die Dienste des schwedischen Königs Karl XII. begeben, um im Krieg sein Glück zu machen. Es gelingt dem namenlosen Dieb mit geschickter Täuschung, den schwachen und leichtgläubigen Tornefeld zu einem Rollentausch zu bewegen: Der junge Adlige geht in die »Hölle des Bischofs«, ein Arbeitslager in einem Kalksteinwerk, in dem er sich verstecken zu können glaubt, bis Gras über sein Vergehen gewachsen ist; der Dieb wird, nach einer Zwischenstation, zu Christian v. Tornefeld. Ein halb geträumtes Gottesgericht verurteilt ihn später wegen dieses Verrats dazu, seine Sünden alleine tragen zu müssen, also niemandem gestehen zu dürfen. Zunächst aber wird er Anführer einer Bande, die Kirchen ausraubt und daher »die Gottesräuber« genannt wird. Mit dem Geld, das er auf diese Weise erbeutet, kauft er, nachdem er seine Bande aufgelöst hat, das heruntergewirtschaftete und verschuldete Landgut der Cousine und versprochenen Braut Tornefelds, Maria Agneta v. Krechwitz. Der jetzt »schwedischer Reiter« genannte vermeintliche Christian v. Tornefeld heiratet Maria Agneta, bringt es mit Fleiß und Sachverstand zu Wohlstand und führt gemeinsam mit Frau und Tochter Maria Christine für sieben Jahre ein überaus glückliches Familienleben. Als ihn seine Vergangenheit in Gestalt eines seiner Bandenmitglieder wieder einholt, bleibt ihm kein Ausweg mehr als die »Hölle des Bischofs«. Auf dem Weg dorthin trifft er den echten Christian v. Tornefeld, der die menschenunwürdigen Bedingungen in den Gruben überlebt hat und wieder auf dem Weg zum schwedischen Heer ist. Erneut tauschen sie die Rollen und setzen die vor Jahren unterbro––––––– 9

Zitiert nach Leo Perutz: Der schwedische Reiter. Roman. Hrsg. v. H.-H. Müller, Wien u.a. 1990; die Seitenzahlen aus dieser Ausgabe setze ich im Text in Klammern hinter die Zitate. Die Hervorhebung in diesem Zitat stammt von mir.

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chenen Wege fort. Christian v. Tornefeld erreicht höchsten Ruhm als schwedischer Offizier und fällt schließlich in der Schlacht bei Poltawa. Der nun wieder Namenlose dagegen arbeitet tagsüber in den Kalköfen des Bischofs und schleicht sich nachts unter Lebensgefahr ans Fenster seiner Tochter, um mit ihr zu sprechen. Bei einem dieser Ausflüge stürzt er ab und stirbt mit dem unerfüllbar scheinenden letzten Wunsch, seine Tochter möge von seinem Tod erfahren und ein Vaterunser für seine Seele beten. Wenn die Erzählinstanz bereits in der Vorrede das Rätsel der Memoirenschreiberin löst, kann es ihr nicht um das Rätsel selbst gehen. Vielmehr sorgt sie dafür, dass sich die Was-Spannung der Leser sofort in eine Wie-Spannung verwandelt, auf die die vier Hauptteile des Romans Antwort geben. Das ist in der Forschung bereits thematisiert worden.10 Nicht so deutlich hervorgehoben wurde dagegen ein kleiner erzählerischer Kunstgriff, der Konsequenzen hat. Er liegt darin, dass die eigentliche Erzählung bereits in der Vorrede beginnt und in den vier Hauptteilen des Buches – wenn auch zum allergrößten Teil – nur fortgesetzt wird. Wir lesen: Es ist die Geschichte zweier Männer. Sie trafen einander an einem bitterkalten Wintertag zu Beginn des Jahres 1701 in eines Bauern Scheune und schlossen Freundschaft miteinander. Und dann gingen sie zu zweit die Landstraße weiter, die von Oppeln durch das verschneite schlesische Land hinüber nach Polen führte. Den Tag über hatten sie sich versteckt gehalten, jetzt in der Nacht wanderten sie durch den schütteren Kiefernwald. Sie hatten beide Ursache, den Menschen aus dem Weg zu gehen, mußten trachten, ungesehen zu bleiben. (S. 16f.)

Wo endet der Vorbericht, wo beginnt die Erzählung? Ich habe den Bruch nicht markiert, und wer nicht über eine besonders gute Textkenntnis verfügt, wird ihn überlesen; denn sprachlich und inhaltlich ist er kaum erkennbar.11 Die ersten drei Sätze des Zitats stehen in der Vorrede, während die eigentliche Erzählung erst mit dem vierten der zitierten Sätze (»Den Tag über …«) beginnt. Nur der paratextuelle Hinweis, die Kapitelgrenze, markiert diesen Satz deutlich als den Anfang von etwas Neuem. Tatsächlich schließt der vierte Satz aber nahtlos an das Ende des Vorberichts an. Das heißt zugleich, dass der Erzähler bereits in der Vorrede den sprachlichen Duktus wechselt, um das zu gestalten, was die Sprache seiner gesamten Erzählung kennzeichnen wird und was Alfred Polgar die ›archaistische Färbung‹ genannt hat.12 Im Zitat wird sie etwa durch die Inversion »in ––––––– 10 11 12

Genauer und mit Bezug auf das für Perutz typische analytische Erzählverfahren bei Martínez: Proleptische Rätselromane (Anm. 5), S. 107 111 und 119. Das »jetzt« in Verbindung mit dem Präteritum bildet einen dezenten Hinweis auf den Gattungswechsel. Alfred Polgar: Turlupin. In: Die Weltbühne 20 (1924), Nr. 40, S. 507.

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eines Bauern Scheune« geleistet, eine Ausdrucksweise, die der modernen Sprache am Beginn des Vorberichts noch fremd ist. Zwar zeichnet sich der Text durch keine minutiöse Rekonstruktion der historischen Situation aus, in der der Roman spielt,13 und auch die konkreten geschichtlichen Ereignisse oder Konstellationen haben in diesem Text eine weniger prominente Bedeutung als in Perutz’ anderen historischen Romanen, etwa in Turlupin. Dennoch ist es ein historischer Roman, den in der Gestaltung des ›setting‹ wie in der Sprache eine »Durchtränkung mit Gewesenheits-Farbe […] bis in die kleinste Nebensächlichkeit« charakterisiert.14 Im Schwedischen Reiter zielt die Sprachverwendung darauf ab, die fiktive Welt authentisch erscheinen zu lassen, gewissermaßen eine dichte ›spät-barockisierende‹ Atmosphäre zu vermitteln.15 Diese historische Atmosphäre wird ergänzt durch eine ebenso dichte emotionalisierte ›Stimmung‹,16 die ebenfalls zum Teil sprachlich etabliert wird, auch wenn die Wörter sachlich gewählt zu sein scheinen. Darauf wird im Abschnitt 2 zurückzukommen sein. Der aufgezeigte erzählerische Kunstgriff verschränkt Vorbericht und Hauptteil des Romans sehr eng und hat mehrere Funktionen. Mich interessiert hier vor allem eine wirkungstechnische: Es entsteht der Eindruck, die Vorrede gehöre mindestens partiell bereits zur Erzählung. Der Sprecher des Vorberichts ist zugleich der Erzähler der »Geschichte zweier Männer«. In beiden Textteilen arrangiert er die Informationen gleichermaßen geschickt: Vorbericht und Erzählung sind einer Intention zuzuschreiben. Damit liegt ein guter Grund vor, die Informationen genauer zu betrachten, die die ersten Seiten des Buches dem Leser mitgeben und die seinen Weg durch die Erzählung bestimmen. Wir erfahren zunächst, dass die eindrücklichsten Passagen aus Maria Christines Memoiren diejenigen sind, in denen sie »in schwärmerischen, doch beinahe dichterisch zarten Worten ihres früh entrissenen Vaters […] gedenkt«, und dass sein früher Tod »einen Schatten auf ihre Jugendjahre geworfen« habe (S. 12). Auch wenn die Fünfzigjährige nur noch »ein verschwommenes Bild« von ihrem Vater hat, weiß sie doch noch, dass, wenn er sie ansah, es ihr war, »als stünde über mir der Himmel offen« (S. 12). Was nun an Informationen folgt, liefert ––––––– 13

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Von 1928 bis 1936 arbeitete Leo Perutz an seinem Roman Der schwedische Reiter und trieb dabei offenbar auch Studien, um sich mit der Landwirtschaft im 17. und 18. Jahrhundert vertraut zu machen, vgl. dazu Hans-Harald Müllers Nachwort zur 1990 bei Zsolnay erschienenen Ausgabe des Romans; Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Leo Perutz: Der schwedische Reiter, Wien u.a. 1990, S. 241 259, S. 245. Polgar: Turlupin (Anm. 12), S. 507. Zu dieser besonderen ›historischen Atmosphäre‹ in Perutz’ Romanen vgl. auch Hans Eichner: Perutz, Meister des Erzählens: Bemerkungen aus Anlaß seiner Wiederentdeckung. In: German Quarterly 67 (1994), S. 493 499, S. 494. Zum Stimmungsbegriff vgl. Winko: Kodierte Gefühle (Anm. 8), S. 77f. und 109.

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nicht nur die Eckdaten für das Rätsel; es trägt auch dazu bei, die Beziehung zwischen dem schwedischen Reiter und Maria Christine als eine besondere auszuweisen. Dazu verhilft unter der Hand auch eine Szene, die für unser Verständnis des Rätsels nicht entscheidend ist. Denn sie fügt dem, was wir bis dahin schon wissen, keine neuen Informationen hinzu. Gemeint ist die Vaterunser-Passage (S. 15f.). Die Mutter fordert ihre Tochter auf, für die Seele des verstorbenen Vaters ein Vaterunser zu sprechen. Da Maria Christine ja einerseits davon überzeugt ist, dass ihr Vater noch lebt, andererseits aber der tieftraurigen Mutter gegenüber nicht ungehorsam sein möchte, richtet sie ihr Gebet an den unbekannten Toten, der gerade – scheinbar zufällig – in einem ärmlichen Leichenzug vor dem Fenster vorbeigefahren wird. Im Vorbericht ist dies eine Szene unter mehreren, die aus den Memoiren wörtlich zitiert werden. Wir lesen sie, wie die anderen auch: mit Interesse. Am Ende des Romans werden wir sie aus anderer Sicht noch einmal präsentiert bekommen. Und dann wird eine interessierte Distanz kaum noch möglich sein: Dieselbe Szene nehmen wir anders wahr, vor einem gänzlich anderen Wissenshintergrund und mit einer jetzt deutlich stärker Anteil nehmenden Einstellung dem Erzählten gegenüber. Die Szene in ihren beiden Varianten bietet sich daher geradezu an, um an ihr Perutz’ Kunst der emotionalen Lenkung zu illustrieren. Die entscheidende Frage lautet: Wie gelingt es dem Autor, zwei Textpassagen fast gleichen Inhalts, die aus Sätzen bestehen, deren propositionaler Gehalt gleich oder doch sehr ähnlich ist, so zu präsentieren, dass sie ganz unterschiedlich wirken?

2. Analyse der beiden Vaterunser-Passagen Vergleicht man die beiden Passagen,17 so fällt auf, dass die Emotionswörter und emotional konnotierten Bilder, die in ihnen vorkommen, kaum voneinander abweichen. Der Ko-Text in beiden Passagen ist emotional gleich markiert. Beide erzählen eine hochgradig gefühlsbetonte Szene. Die Küsse der Mutter, ihre traurig-leise Stimme, ihre Tränen und ihr Klagen kommen in beiden Versionen vor. Das gleiche gilt für die Anweisung an die Tochter, ein Gebet für die Seele des Vaters zu sprechen und damit ein Ritual zu vollziehen, das seinen festen Ort in der christlichen Toten-Zeremonie hat. Eine prototypische Trauer-Situation also, wenn auch mit einer Irritation. Sie liegt darin, dass die Tochter vom Tod des ––––––– 17

Da es für meine Analyse wichtig ist, den Wortlaut der Passagen präsent zu haben, werden sie im Anhang abgedruckt.

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Vaters alles andere als überzeugt ist und darum abweichend handelt. Sie betet heimlich für die Seele eines anderen, wirklich Toten. Das kulturell vorgegebene emotionale Potenzial der Szene wird durch diesen Bruch abgeschwächt, die Aufmerksamkeit des Lesers auf eben diese Abweichung gelenkt. Und hier beginnen auch schon die Unterschiede zwischen beiden Varianten. Sie liegen (1) in der narrativen Vermittlung, (2) im abweichenden, textintern gewonnenen Hintergrundwissen der Leser, das ihre Sympathien lenkt, und (3) in den unterschiedlichen kulturellen Kodes, die hier eingesetzt werden. (1) Narrative Vermittlung. Die beiden Passagen haben unterschiedliche Sprecher: Variante I ist eine Ich-Erzählung der Tochter, die die Szene aus der Erinnerung wiedergibt, Variante II spricht eine übergeordnete Erzählinstanz. Das hat Konsequenzen zum einen für den Status des Erzählten. Da kein Zweifel am autoritativen Status des Erzählers besteht, gibt Variante II das wieder, was sich ›tatsächlich‹ zugetragen hat. Zum anderen, und für meine Argumentation wichtiger, unterscheiden sich die narrativen Modi, in denen die Szenen jeweils erzählt werden. Die Variante I der Memoiren, in der den Lesern die Vaterunser-Szene zum ersten Mal präsentiert wird, ist textsortengemäß autodiegetisch. In dieser Passage dominiert das Narrative: Die Erzählerin gibt zwar die Worte der Mutter als Zitat wieder, fasst aber den Rest der Szene in ihrer Erinnerung zusammen, ordnet und kommentiert das Geschehen. Sie schildert, was sie vor ungefähr 44 Jahren sah, erklärt kurz die Motive ihrer Handlungsweise und erzählt dann weiter. Anders die später zu lesende Variante II. Hier herrscht das Dramatische vor, die szenische Präsentation. Das Dargestellte scheint unmittelbar präsent. Erreicht wird dieser Eindruck dadurch, dass der heterodiegetische Sprecher zurücktritt, scheinbar auf ordnende Eingriffe verzichtet und vermehrt wörtliche Rede bringt. So werden etwa die rituellen und allen bekannten Worte des Vaterunsers – erweitert um einen entscheidenden Satz – in dieser Szene in direkter Figurenrede ausgesprochen. Auch einige der narrativen Passagen vermindern die Distanz zwischen Leser und Erzähltem. Dies gilt beispielsweise für die aktualisierende Zeitangabe »Jetzt faltete sie die Hände« (S. 240). Der Satz kann zeitlich oder kausal als Reaktion darauf gelesen werden, dass das Kind den Sarg durch das Fenster erblickt und nun einen Ausweg aus seinem Dilemma gefunden hat. Das Verhalten des Mädchens wird aber nicht erklärt, sondern gezeigt. Schlüsse auf seine Motive müssen die Leser selbst ziehen bzw. sie können diese Motive bereits kennen, wenn sie den Vorbericht noch im Gedächtnis haben. Für die Erinnerung an diese Szene aus den Memoiren der Tochter sorgt, wie noch zu zeigen ist, der Erzähler. (2) Damit bin ich beim zweiten Grund für die Abweichung zwischen den Varianten: beim Hintergrundwissen der Leser, das in beiden Fällen – wie sollte es auch anders sein – unterschiedlich ist. Zu diesem Hintergrundwissen zähle ich

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hier das Wissen, das die Leser im Durchgang durch den Roman, also textintern, generieren können. Das Wissen setzt sich aus Kenntnissen über Sachverhalte der erzählten Welt zusammen und hat Konsequenzen auch für die Einstellungen der Leser gegenüber den Figuren. Diese Einstellungen sind keineswegs beliebig; vielmehr machen textinterne Strategien der Sympathielenkung deutlich, wie bestimmte Figuren aufgefasst werden sollten.18 Zuerst aber kurz zum Wissen im propositionalen Sinne. Erst in der zweiten Variante der Szene wissen wir, dass es sich bei dem unbekannten Toten um den Vater Maria Christines handelt, also um den schwedischen Reiter. Über diese Figur wiederum haben wir eine Fülle von Informationen erhalten, die ein komplexes Bild und eben eine bestimmte Einstellung haben entstehen lassen. Wir haben für seine Geschichte zwei Deutungsmodelle angeboten bekommen. Sie ist einerseits eine unglaubliche und dazu ziemlich befriedigende Erfolgsgeschichte, wenn auch nur bis zum Auftreten des Brabanters, der über den Frontenwechsel der roten Lies berichtet (S. 187ff.). Andererseits ist sie die Geschichte eines sündhaften Verrats und seiner Folgen. Das zumindest legt das Gottesgericht nahe, dem sich der Protagonist in der Rolle des schwedischen Reiters stellen muss (S. 142ff.). Diese Geschichte des Verrats eines »Kameraden im Elend« (S. 146) bildet den Rahmen der Erfolgsgeschichte und ermöglicht sie erst. Also müsste das Scheitern des schwedischen Reiters am Schluss des Romans eigentlich nach dem Muster ›Sieg der Gerechtigkeit‹ oder ›gerechte Strafe für sündhaftes Verhalten‹ wahrgenommen werden. Ist er doch vom Gottesgericht schuldig gesprochen worden. Dennoch liefert der Roman Signale dafür, dass diese Wertung textintern nicht vollzogen wird. Diese Signale liegen zum einen in der Schicksalsmetaphorik und zum anderen in den Informationen, die man zusammenfassend als Hinweise auf die Rollenadäquatheit des Protagonisten bezeichnen kann. Die Schicksalsmetaphorik legt schon zu Beginn der Handlung nahe, dass der namenlose Dieb nicht anders kann, als sich gerade so zu verhalten, wie er es tut.19 Zwar ist es auch das Bild des verlockenden Spiels, das eingesetzt wird, um sein Verhalten zu motivieren: »Das große Würfelspiel lockte ihn, er wollte noch einmal einen Wurf wagen.« (S. 74f.) Er will die Mächte herausfordern, »die ihm sein Leben lang feindlich gewesen waren« (S. 74), und wagt den Rollentausch. Dennoch scheint er keine wirkliche Wahl zu haben. Seine Erlebnisse auf dem he––––––– 18 19

Dass individuelle Vorlieben solche textuelle Information ›überschreiben‹ können, steht auf einem anderen Blatt und braucht mich hier nicht zu interessieren. Auch der echte Christian v. Tornefeld gibt als Motivation, zum schwedischen Heer stoßen zu wollen, einen unentrinnbaren inneren Zwang an (S. 81). Zu dieser Technik Perutz’, die Handlung als vorherbestimmt bzw. determiniert erscheinen zu lassen, vgl. Martínez: Proleptische Rätselromane (Anm. 5), S. 121f.

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runtergekommenen Hof führen ihn anscheinend ›unentrinnbar‹ zu eben dieser Entscheidung. Es ist ihm, als »müßte« er »wiederkommen« und »Ordnung machen unter den Knechten« (S. 73), er weiß, dass er dem Mädchen gegenüber verschweigen muss, dass ihn Christian v. Tornefeld geschickt hat, aber er weiß nicht, warum er das muss (S. 69). Und von dem Eindruck, den Maria Agneta beim ersten Anblick auf ihn gemacht hat, kann er sich nicht lösen. Ebenso wie Christian v. Tornefeld auf seinem Weg zum schwedischen Heer handelt der Protagonist unter einem kaum erklärbaren Zwang (S. 69ff., S. 81). Wörter und Bilder, die Unausweichlichkeit und Schicksalhaftigkeit nahe legen, ziehen sich durch alle folgenden Handlungssequenzen bis zum Romanende. Unter dem Aspekt der Sympathielenkung betrachtet, sind das Verhalten des Diebes und damit auch der Verrat an seinem Kameraden zwar nicht exkulpiert, jedoch plausibilisiert. Wer könnte seinem Schicksal entgehen? Dazu kommt das, was ich oben die Rollenadäquatheit des Protagonisten genannt habe. Sie steht in einem Spannungsverhältnis zur Schicksalsmetaphorik. Was der Dieb im Moment der Bestrafung durch die Knechte über die rechtmäßigen Besitzer des Gutes denkt, das entspricht ja zweifellos der fiktiven Realität: »Ich bin von anderm Holz. Besser als sie könnt’ ich als Edelmann bestehen« (S. 73). In der Tat ist der spätere schwedische Reiter ein vorbildlicher Gutsherr, der seine Ländereien mit ungewöhnlicher Sachkenntnis und Liebe zum Blühen bringt. Damit erfüllt er seine Aufgabe deutlich besser als der Mann, den er in die »Hölle des Bischofs« geschickt hat und der, wie die meisten Adligen des Romans, weder für Natur noch für Landwirtschaft einen Sinn zeigt. Dazu ist der schwedische Reiter als treuer und liebender Ehemann der treuen und liebenden Maria Agneta ebenbürtig – auch dies im Unterschied zum echten Christan v. Tornefeld, der das Mädchen, dem er die Treue geschworen hatte, fast schon vergessen hat (S. 81). Als Gutsbesitzer, Ehemann und Vater ist der namenlose Dieb also der richtige Mann am richtigen Ort, wenn auch unter falschem Namen. Die Figur erfüllt auch damit ein Schema, das es den Lesern äußerst schwer macht, in ihm den Verbrecher oder gar Sünder zu sehen und ihm die gerechte Strafe zu wünschen. Eher noch ist er ein Verirrter, dem die Leser das entgegenbringen, was der Protagonist dem echten Christian v. Tornefeld und der roten Lies verweigert, nämlich Mitleid.20 Er ist also bereits deutlich als Sympathieträger markiert, als »der Blitzstrahl niederfuhr, der das Glück des schwedischen Reiters in Trümmer schlug« (S. 185). Die Wirkung der ›höheren Macht‹, die den Dieb unausweichlich dazu gebracht hat, die fremde, aber ihm angemessene Rolle zu übernehmen, wird ––––––– 20

Z.B. S. 83: »Aber er fühlte kein Mitleid. Zu Stein gefroren war sein Herz«; ähnlich S. 136. Auf die Funktion des Mitleids und seines Fehlens hat Jan Christoph Meister zu Recht hingewiesen, vgl. Meister: »Der schwedische Reiter« (Anm. 2), S. 156.

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eben wegen der Erfolgsgeschichte, die der Rollentausch für den schwedischen Reiter nach sich zieht, als sinnvoll wahrgenommen; wenn sie den Rollentausch wieder rückgängig macht, scheint sie sich zu irren. Der Wert der Gerechtigkeit steht hier gegen die Werte der Angemessenheit und Stimmigkeit und gegen die Einstellung der Sympathie. Das klägliche Ende des schwedischen Reiters kann nicht mehr nach dem Schema ›gerechte Strafe‹ wahrgenommen werden – es kann allenfalls, unter bestimmten Voraussetzungen, so gedeutet werden.21 Das gleiche gilt für unser Wissen über den letzten Wunsch des nun wieder Namenlosen. Es zählt zu dem propositionalen Wissen, das wir ausgehend von textinternen Informationen generieren und über das wir bei der Lektüre der zweiten Vaterunser-Szene verfügen. Auch dieses Wissen ist aber keineswegs neutral, sondern durch unsere Einstellung zum Protagonisten deutlich affektiv besetzt. Der Namenlose muss ja, dem Gottesurteil entsprechend, sterben, ohne irgendjemandem seine Schuld gestehen zu können. Sein letzter Wunsch, die Tochter solle von seinem Tod erfahren und für seine Seele beten, scheint unerfüllbar zu sein. Dennoch gewährt ihm sein ehemaliger Ankläger, nun »der Engel des Todes« (S. 239), diese Bitte. Was bedeutet das für die Leser? Ihnen muss an dieser Stelle des Textes klar sein, dass der letzte Wunsch des Sterbenden erfüllt werden wird; denn der religiöse, vor allem der volksreligiöse Verweisungszusammenhang ist in dem Roman dominant,22 und Beispiele für falsche Prophezeiungen oder Irrtümer auf diesem Gebiet hat es im Text bislang noch nicht gegeben. Die Leser werden also zum einen ihr gespanntes Interesse auf die Frage richten, auf welche Weise denn die Bitte am Ende doch noch eingelöst wird. Auch hier setzt Perutz also auf die Wie-Spannung. Zum anderen aber kann diese Haltung der Neugier auf das ›Wie‹ wohl kaum noch eingenommen werden, ohne ein mehr oder minder starkes Maß an Anteilnahme: Der letzte Wille des Namenlosen – wenigstens er – soll erfüllt werden. (3) Einbezogene kulturelle Muster. In beiden Varianten der Vaterunser-Szene ist das kulturelle Muster, das die Mutter aufruft, das angemessene Verhalten und Fühlen beim Verlust eines besonders nahe stehenden Menschen. Die entsprechenden Ausdruckskonventionen sind intensive Trauer als begleitende Emotion, manifest in verschiedenen Trauersignalen, und das christliche Ritual, für die Seele ––––––– 21

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Eine dieser Voraussetzungen kann die Anwendung eines Interpretationsschemas sein, das aus Kontextbereichen hergeleitet wird, auf die im Text angespielt wird, etwa das religiöse Bezugssystem des Romans, das ja auch den legitimatorischen Rahmen des Gottesgerichts abgibt. Auch wenn es schlüssig angewendet werden kann, widerspricht es der vom Text her nahe gelegten gefühlsmäßigen Einstellung zum Ende des schwedischen Reiters. Beispiele finden sich in allen vier Teilen des Romans, etwa »richtige Segen« gegen den toten Müller, S. 79, oder der »rechte Segen« der roten Lies, S. 110f.

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des Toten zu beten. Dieses Muster kann die Tochter nicht aufnehmen, weil sie ja vom Tod des Vaters nicht überzeugt ist. Die vorausgesetzte Emotion ›Trauer‹ kann sich nicht einstellen, und für den Vollzug des Rituals fehlt ihr das Objekt. Dennoch erfüllt sie mit dem gehorsam absolvierten Gebet nicht nur mechanisch die Konvention. Vielmehr sucht sie mit dem vermeintlichen toten Landstreicher ein anderes Objekt, zu dem sie allerdings in einer neutralen Beziehung steht, und realisiert damit ein abweichendes kulturelles Muster, das der Anteilnahme am Schicksal eines toten Menschen. Die begleitende Emotion ist nicht intensive Trauer, sondern Mitgefühl oder Mitleid. Entsprechend deutet Maria Christine aus der Rückschau ihre Handlung: »[F]ür dieses armen Mannes Seele sprach ich das Vaterunser« (S. 16). Das aufgerufene Muster charakterisiert sie als mitleidigen Menschen, der das christliche Ritual konventionsgemäß erfüllt. In der Variante I, also der erinnerten Vaterunser-Szene (S. 15f.), ist das für die Leser nicht weiter aufregend. Dass es sich aber um ein kulturelles Muster handelt, das für den Roman besonders wichtig ist, wird spätestens gegen Ende des dritten Teiles deutlich, wo ein ähnliches Szenario geschildert wird. Hier erblickt der schwedische Reiter einen Leichenzug, der, von den Gruben des Bischofs kommend, an seinem Haus vorüberzieht, und er hält seine Tochter nachdrücklich an, »ein Vaterunser [zu] beten für eines armen Mannes Seele« (S. 176f.). Die Situation ist auf Seiten des Protagonisten durch Ernst und Eindringlichkeit bestimmt, während das Kind, wie der Erzähler deutlich hervorhebt, aus seinem fröhlichen Spiel gerissen wird und, durch den »fremden[n] Klang« in der Stimme des Vaters erschreckt, »dem Weinen nah« ist (S. 177). Die Szene hat mehrere Funktionen. Für die Figur Maria Christines hat sie initiatorischen Charakter: Die Tochter wird in den ›Kode‹ eines Rituals eingeübt, das am Ende des Romans eine entscheidende Funktion erhält. Was sie hier unter Zwang und mit der begleitenden Emotion ›Angst‹ vollzieht, geschieht in der erinnerten Passage der Memoiren bereits in einer angemessenen Haltung, der des Mitleids. Die Initiation durch ihren Vater war erfolgreich; die Tochter beherrscht den Kode. Für den Leser hat die Szene vorausdeutenden Charakter und verweist auf die weitere Entwicklung der Handlung; zugleich aber ruft sie die Vaterunser-Passage der Vorrede wieder in Erinnerung und hält sie für die Schlussszene bereit. Wenn wir nun diese Schlussszene, also die Vaterunser-Variante II des Erzählers lesen, dann wissen wir, dass das Kind für einen nur vermeintlich unbekannten Toten betet. Die Beziehung, in der das Mädchen zu dem Toten, seinem Vater, steht, zählt zu den stärksten menschlichen Bindungen in unserer Kultur. Das gilt auch in den allermeisten fiktiven Welten. Zudem hat der Text keinen Zweifel daran gelassen, dass zwischen dem schwedischen Reiter und Maria Christine sogar eine noch intensivere Bindung besteht, als das kulturell ohnehin schon nahe liegt. Der verwendete Emotionskode, der die Trauer beim Tod des Vaters ver-

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mittelt, wird also nicht erwartungsgemäß eingesetzt, sondern noch gesteigert, und zwar durch eine textinterne Figurenkonstellation, über deren Kenntnis wir erst im Laufe des Romans verfügen. Damit aber nicht genug. Auch die Beziehung der Leser zur Figur des schwedischen Reiters hat sich, wie eben gezeigt, gewandelt. Seinem Tod stehen wir keineswegs neutral gegenüber. Unter diesen Voraussetzungen wird nun die Tatsache, dass das Kind von dem Trauer-Muster, das die Mutter vorgibt, abweicht, inhaltlich und wirkungstechnisch zum entscheidenden Faktor. Denn es erfüllt ja unwissentlich gerade mit dieser Abweichung den letzten Wunsch seines Vaters. Dass diese unwahrscheinliche Konstellation überhaupt zustande kommt, ist wiederum einer höheren Instanz zuzuschreiben, die am Ende doch noch alles zu einem sinnvollen Ende bringt, wenn auch zu keinem guten. »Dein Wille geschehe« – diese vorgegebenen Worte spricht das Kind und schließt dann die gezielte Bitte um die Seligkeit für den Toten an: »[F]ür diesen armen Mann bet’ ich, der dort im Sarge liegt, es weint keiner um ihn, gib ihm die Seligkeit!« (S. 240). Damit aber wird die erweiterte Gebetsformel zu einer performativen Aussage: Indem sie ausgesprochen wird, geschieht der göttliche Wille. Was das Kind mit seiner Abweichung vom Ritual bewirkt, ist den Figuren der erzählten Welt unbekannt; nur der Erzähler und die Leser des Romans wissen davon. Der Erzähler verhält sich dem Erzählten gegenüber neutral: Der lapidare Schlusssatz des Romans enthält ebenso wenig explizit emotionalisierende Wörter oder Bilder wie die vorausgehende Schilderung der Vaterunser-Szene, wenn man von der Darstellung der Mutter absieht. Erst der Leser, wenn er denn alle Hinweise des Erzählers aufgenommen hat, stellt eine emotionale Gemengelage her, deren wichtigste Komponente neben der Traurigkeit über den elenden Tod des Protagonisten und der Genugtuung über die Erfüllung seines letzten Wunsches wohl Mitgefühl ist – jene ›Bewegung‹ eben, die nicht nur reale, sondern auch erfundene Figuren hervorrufen können. Mit diesem Konstatieren emotionalen Bewegtseins ist die Untersuchung der Emotionsvermittlung des Romans aber noch nicht an ihrem Ende angekommen. Es liegt eine interpretative Einbindung nahe, die auf einer These von Jan Christoph Meister aufbauen kann. Wenn man Meisters Annahme akzeptiert, dass die Idee bzw. das Postulat der ›misericordia‹ eine entscheidende Funktion im Schwedischen Reiter einnimmt,23 dann ließe sich diese Strategie der Erzeugung emotionalen Involviertseins für diesen Roman folgendermaßen deuten: In ihrer Reaktion auf das Schicksal des schwedischen Reiters erfüllen die Leser die Vorgabe, die dem Protagonisten selbst nicht immer gelingt: Sie zeigen Mitgefühl und ––––––– 23

Vgl. Meister: »Der schwedische Reiter« (Anm. 2), S. 156f.

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Mitleid. Sie tun dies zwar nur reflexiv, und, wie meine Analyse hoffentlich gezeigt hat, nicht ganz freiwillig bzw. nicht ohne leise Lenkung durch den Erzähler. Wenn sie aber auf diese Weise reagieren, dann nehmen sie eine ethische Haltung einem – wenn auch nur erdachten – leidenden Menschen gegenüber ein, die als erster Schritt zum höchsten Wert des Romans, zum nicht mehr in Frage gestellten »ethische[n] Postulat«24 des tätigen Mitleids einzustufen ist.

3. Fazit Die Einschätzung von Perutz’ Romanen, zu der die neuere Forschung gekommen ist, muss um einen wichtigen Punkt ergänzt werden. Perutz’ Kunst zeigt sich nicht allein darin, dass es ihm gelingt, in seinen historischen Romanen »in einer auskonstruierten, ungemein spannenden Versuchsanordnung eine ganz fremde historische Welt [zu] schildern, in der der Leser nach Belieben Züge und Probleme seiner eigenen Welt entdecken und entziffern kann«.25 In dieser Aufzählung fehlen die kunstvollen Mittel der affektiven Einbindung der Leser, die Strategien der Emotionsvermittlung. Außer der Spannung wären unbedingt noch weitere, vor allem eben die bewegenden Gefühle zu nennen. Sie gehören keineswegs dem Bereich des Trivialen an. Erst sie binden die Aufmerksamkeit der Leser über das Interesse an der Konstruktion und am Rätsellösen hinaus. Das unterscheidet Perutz’ Texte z.B. von vielen Sherlock Holmes-Erzählungen, in denen eben diese emotionale Ebene deutlich weniger stark ausgeprägt ist. So ist die Lektüre des Schwedischen Reiters, wie die der meisten Perutz-Romane, ein ›Gesamterlebnis‹. Darüber hinaus kann die systematische Berücksichtigung der Emotionsvermittlung aber auch neue Interpretationsperspektiven eröffnen, wie die exemplarische Untersuchung des Schwedischen Reiters gezeigt hat. Die Gefühle lenkenden Strategien sollten nicht allein aufgezeigt werden, denn sie stehen nicht für sich, sondern sie sollten möglichst in eine Deutung des Textes integriert werden, indem ihre Funktionen für das Verständnis der Romane herausgearbeitet werden. Hier bleibt der Perutz-Forschung, und nicht nur ihr, noch viel zu tun. Bleibt abschließend zu fragen, warum die emotionale Wirkung in Perutz’ Texten so selten untersucht wird. Ein Grund dafür liegt wohl in der Tatsache, dass die Strategien starker emotionaler Lenkung eines der Kennzeichen von Unterhaltungsliteratur sind, die ja im deutschsprachigen Raum notorisch unterschätzt wird. Wem daran liegt, Perutz’ Werk in den Kanon der Texte zu integrie––––––– 24 25

Ebd., S. 157. Müller: Nachwort (Anm. 13), S. 258.

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ren, die einer literaturwissenschaftlichen Analyse für wert erachtet werden – und darin besteht ein Anliegen der Perutz-Forschung seit der Wiederentdeckung des Autors durch Hans-Harald Müller –, wird den Aspekt emotionaler Leserlenkung gerade nicht betonen. Dennoch macht der Aspekt meines Erachtens ein wesentliches Merkmal dieser Romane aus, neben den ›ungemein spannenden‹ und hochintelligenten Konstruktionen. Gehören Perutz’ Romane also zur Unterhaltungsliteratur? Definitiv zur unterhaltenden Literatur – und zwar zur komplexesten und bestgemachten, die nicht nur die deutschsprachige Tradition zu bieten hat.

Anhang: Die beiden exemplarisch untersuchten Textpassagen Vaterunser-Szene, Variante I (S. 15f.): Sie nahm mich auf den Arm und küßte mich. Anfangs konnte sie nicht sprechen. »Kind!« sagte sie dann mit Weinen in ihrer Stimme. »Dein Vater ist im schwedischen Krieg gefallen. Er kommt nicht wieder. Falt’ die Hände und bet’ ein Vaterunser für seine abgeschiedene Seele.« Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte ich für die Seele meines Vaters beten, da ich doch wußte, daß er am Leben war. »Er kommt wieder«, sagte ich. Die Augen meiner Mutter füllten sich wiederum mit Tränen. »Er kommt nicht wieder«, schluchzte sie. »Er ist im Himmelreich. Falt die Hände, tu deine kindliche Schuldigkeit, bet ein Vaterunser für deines Vaters Seele.« Da ich sie nicht durch Ungehorsam noch mehr betrüben wollte, betete ich, aber nicht für meines Vaters Seele, denn der lebte ja. Ich sah draußen auf der Landstraße einen Leichenzug, der den Hügel herabkam. Es war nur ein Karren, auf dem lag der Sarg, der Kutscher schlug auf das Pferd ein, und nur ein einziger alter Mann, der Priester, gab dem Toten das Geleite. Es mochte wohl ein alter Landstreicher sein, der so zu Grabe geführt wurde. Und für dieses armen Mannes Seele sprach ich das Vaterunser und bat Gott, daß er ihm sollt’ die Seligkeit geben. Vaterunser-Szene, Variante II (S. 240): Gegen Abend bat sie, man möge ihr das Kind bringen. Als Maria Christine kam, nahm sie sie auf die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Kind!« sprach sie mit leiser Stimme. »Dein Vater ist im Krieg gefallen, du wirst ihn nicht mehr sehen. Es ist drei Wochen her, daß man ihn begraben hat. Falt die Hände, bet ein Vaterunser für seine Seele!« Maria Christine sah sie an und schüttelte den Kopf. Sie wollte und sie konnte es nicht glauben. »Er wird wiederkommen«, sagte sie. Die Augen Maria Agnetas füllten sich von neuem mit Tränen. »Nein, er kommt nicht wieder«, klagte sie. »Nie wieder kommt er, nie wieder. Verstehst

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du’s nicht? Er ist im Himmelreich. Falt die Hände, tu deine kindliche Schuldigkeit, er hat dich lieb gehalten, so wie ich dich lieb halt’ als mein Kleinod, und nun bet ein Vaterunser für seine Seele!« Maria Christine schüttelte den Kopf. Doch da sah sie draußen auf der Landstraße einen Karren mit einem Sarg dahinschleichen, der kam vom Stiftsgut. Jetzt faltete sie die Hände. »Unser Vater im Himmel«, betete sie. »Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe – für diesen armen Mann bet’ ich, der dort im Sarge liegt, es weint keiner um ihn, gib ihm die Seligkeit! Und führe uns nicht in Versuchung, erlöse uns von dem Übel, denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Amen.« Langsam zog der Karren, der den Namenlosen zu Grabe führte, an den Fenstern des Hauses vorbei.

Jan Christoph Meister

Leo Perutz’ Novellenroman Nachts unter der steinernen Brücke oder: Vom Hunger der Interpretation

Nachts unter der steinernen Brücke ist ein Großprojekt Leo Perutz’ gewesen. Nicht ohne Stolz teilte er nach dem Abschluss 1951 in einem Brief an Freunde mit: »Ich glaube, das Buch ist mir wirklich gelungen.« – »Das Buch«, das sind 14 Novellen und ein Epilog, die in einem Zeitraum von insgesamt 27 Jahren entstanden und miteinander verknüpft worden sind. Auf die knappste Formel gebracht handeln sie dabei von Folgendem: von der unmöglichen und verbotenen Liebe zwischen Kaiser Rudolf und der schönen Esther, die nur in einem immer wiederkehrenden Traum ihre Erfüllung finden kann, den der Rabbi Löw mit magischen Kräften gestiftet hat, um von den Juden Prags und Böhmens Unheil abzuwenden. Diese Liebe ist doppelt erzwungen: zum einen von Rudolf, der den Rabbi unter Androhung ebendieses Unheils zwingt, seine magischen Kräfte spielen zu lassen, zum anderen vom Rabbi, der in das vorherbestimmte Weltgeschehen eingreifen muss, um die Traumerfüllung zu bewirken: sie ist mithin erzwungen in einem brutalen und profanen wie in einem metaphysischen und religiösen Sinn. Von diesem thematischen Kern ausgehend und ihn beharrlich umkreisend entfaltet Perutz in den Einzelnovellen dann jedoch weitere Stränge: einen, in dem es um die Beziehung zwischen Geld und Macht, zwischen dem Kaiser und dem reichen Juden Meisl geht; einen, in den es um den Bildnischarakter der Kunst, einen dritten, in dem es um die Beziehung von Christentum und Judentum überhaupt geht. Die in der einen oder anderen Form im ganzen Œuvre nachweisbaren thematischen Konstanten tauchen dabei auch hier auf: die Frage nach der Gewalt der Prophezeiungen, die Frage nach der Reichweite und Relevanz menschlicher Absichten angesichts eines uneinsehbaren Determinismus, die Frage nach dem ethischen Gebot der Barmherzigkeit – es ließe sich vieles aufzählen. Für die positive Resonanz der Kritiker hat indes wohl weniger diese inhaltliche und gedankliche Substanzhaltigkeit des historischen Novellenromans Nachts unter der steinernen Brücke gesorgt als vielmehr seine exzeptionelle kompositorische Qualität. Denn Perutz verbindet die traditionelle Anlage des gerahmten Novellenzyklus mit einer zunächst verwirrenden Durchmischung der Einzelnovellen, was deren chronologische Anordnung im Handlungssyntagma angeht. Auch die ihrerseits in mehrere Erzählfragmente aufgesplitterte Rahmenhandlung, deren Fragmente an vier der Einzelnovellen angefügt worden sind, wird erst im

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Epilog motiviert. Hierin spiegelt sich noch einmal das sehr ambitionierte kompositionelle Prinzip des Romans: zunächst scheint es so, als verknüpfe er die immanent geschlossenen Handlungserzählungen nur über thematische und szenische Gemeinsamkeiten, wie sie bei einem historischen Prag-Roman selbstverständlich erscheinen. Dann aber merkt der Leser, dass es sich bei den Novellen offensichtlich um die Komponenten eines Gesamthandlungsstrangs handeln muss, der auch syntagmatisch organisiert ist. Der Genuss des Romans resultiert damit in ganz besonderem Maße aus der leserseitig zu leistenden aktiven Rekonstruktionsarbeit, die sich auf die Gesamthandlung richtet. Perutz hat, das wissen wir aus einem Brief an seinen Verleger Zsolnay, ganz bewusst auf diesen wirkungsästhetischen Effekt spekuliert, den der Leser erfährt, wenn ihm endlich mit dem allerletzten Kapitel die folgerichtige chronologische Reihung und damit die Integration der 14 Kapitel zu einem durchgehenden Handlungsstrang gelingt.1 Was dabei nun im Einzelnen herauskommt und wie dieses syntagmatische Konstrukt wiederum mit den thematischen Linien des Romans vermittelt ist, das hat Hans-Harald Müller in seinem vorzüglichen Nachwort gezeigt.2 Abgesehen von werkgenetischen Details, deren Diskussion eine genaue Auseinandersetzung und Recherche des überlieferten Materials und der historisch verbürgten Faktenlage voraussetzte – ein Unterfangen, das allenfalls lohnt, wenn es einem um etwaig anzubringende positivistische Korrekturen oder Ergänzungen geht –, gibt es kaum einen Aspekt, der von Müller nicht schon zumindest erwähnt worden wäre. Ich möchte deshalb in aller Deutlichkeit vorwegschicken, dass ich hier weder zu dem ›Was‹ des Romans, noch zum ›Wie‹ seines Erzählens etwas Neues beizutragen beanspruche. Was ich vorstellen möchte, hat mehr mit dem ›Warum‹ seiner Rezeption – sei sie kritisch, sei sie naiv – zu tun. Es geht mir dabei um die Frage, wie dieser Text es schafft, uns trotz seines anspruchsvollen und den Leser auf die Folter spannenden Formprinzips von Anfang an davon zu überzeugen, dass seine Bestandteile – unbeschadet ihrer inneren Geschlossenheit – ein Ganzes ergeben müssen. Um diesen rezeptionssteuernden Effekt auf einen Begriff zu bringen, möchte ich im Folgenden von der Evozierung einer ›Kohärenzvermutung‹ sprechen. Diese Vermutung ist Ausdruck einer leserseitigen Erwartungshaltung, die der Roman gezielt zu stimulieren weiß. Sie richtet sich erstens auf die diegetische Geschlossenheit des Erzählten – wir erwarten also, dass die Ereignisse sich schließlich doch noch irgendwie in eine folgerichtige handlungslogische oder ––––––– 1

2

Die relevante Passage des Briefes vom 15.03.1951 ist abgedruckt und kommentiert in Hans-Harald Müller: Nachwort. In: Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke, München 1994, S. 277. Zitate im Text aus dieser Ausgabe. Ebd., S. 271–294.

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zumindest chronologische Reihe bringen lassen;3 zweitens insistiert sie auf semantischer Geschlossenheit – mithin darauf, dass unser Gegenstand jener ästhetischen Konvention entspricht, nach der literarische Texte sich auf ein homogenes Sinnsubstrat bringen lassen, d.h. auf eine ›Bedeutung‹ jenseits der bloßen Bedeutungen, die die Wörter und Sätze eines Textes als symbolische Stellvertreter von Wahrnehmungsobjekten und Ereignissen besitzen.

1. Der Roman im Werkzusammenhang Wie steht Nachts unter der steinernen Brücke im Werkzusammenhang gesehen da? Der Hiat zwischen Fakten und deren widersprüchlichen, weil von subjektiven Interessen bestimmten Interpretationen ist im Perutz’schen Romanwerk ein immer wiederkehrender Topos. So gesehen traktiert das Œuvre in bester Nietzsche-Tradition die Idee eines objektiven Sinns als eine ebenso absurde wie handlungsbestimmende Illusion. Das Besondere an Perutz ist nun allerdings, dass er es nicht etwa dabei belässt, uns dieses philosophische Dilemma an seinen Figuren vorzuführen – man denke nur an die grandiose Anfangsszene in Der schwedische Reiter, in der die Hauptfigur beim Gang über die verschneiten Felder aus geringsten Anzeichen herauslesen will, wie es um die Geschicke und die Geschichte eines Gutshofes bestellt ist, den er noch nie gesehen hat! –, sondern vielmehr uns selber, die Leser, in eben dieses Dilemma verstrickt. Formal beschrieben scheint der von Perutz in seiner ersten Werkphase immer wieder bemühte Handgriff ein einfacher Trick zu sein: Man konstruiere und schildere mit narrativen Mitteln eine Ereignissequenz, für die sich dem Leser mindestens zwei Rekonstruktionen aufdrängen. Dabei gelten für die Rekonstruktionen und ihr Verhältnis untereinander fünf Bedingungen: ― Plausibilität: Jede Rekonstruktion ist für sich genommen – d.h. in Bezug auf ihre Prämissen – logisch folgerichtig; ― gegenseitige Unverträglichkeit: Konkurrierende Rekonstruktionen schließen einander aus, weil sie auf unverträglichen Prämissen beruhen oder zu einander widersprechenden Schlussfolgerungen bei der Plausibilisierung des Geschehens zwingen; ― partielle Reichweite: Keine Rekonstruktion des Geschehens kann jedoch folgerichtig alles entwickeln; ––––––– 3

Ich verwende hier also ›Diegese‹ in der Genette’schen Bedeutung von ›erzählte Welt‹ und nicht in der umfassenderen, von Plato stammenden, in der ›Diegesis‹ synonym ist mit ›Handlungserzählung‹.

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― Überlappung: Was von einer Rekonstruktion nicht erfasst werden kann, stellt einen ›blinden Fleck‹ dar, der jedoch von der je konkurrierenden Rekonstruktion abgedeckt wird; ― interpretationskritisches Erklärungsdefizit: Die ›blinden Flecken‹ sind interpretationskritisch, d.h. sie betreffen nicht irgendwelche marginalen Details, sondern sie müssen ausgeräumt werden, will man eine kohärente Gesamtrekonstruktion als Basis für eine kohärente Gesamtinterpretation ausweisen. Von dieser konzeptionellen Infrastruktur zur narrativen und sprachlichen Oberflächenstruktur ist es indes ein sehr weiter Weg, soll aus dem Ganzen nicht ein langweiliger Ideenroman werden, der das philosophische Dilemma nur expliziert – eine Gefahr, der Perutz zu begegnen wusste, wie Die dritte Kugel (1915), Zwischen neun und neun (1918), Der Marques de Bolibar (1920), Der Meister des Jüngsten Tages (1923) und St. Petri Schnee (1933) variationsreich belegen. Ein Gegenmodell zu dem den Leser einbeziehenden logischen Vexierspiel legte Perutz erstmals bereits mit Turlupin (1924) vor.4 Hier wie in den späten Romanen Der schwedische Reiter (1936) und Der Judas des Leonardo (1958, posthum) behandelt uns der Erzähler im Blick auf die Figuren und deren aus ihrer subjektiven Position heraus oft unumgänglich scheinenden Fehldeutungen des Geschehens als gleichberechtigte Partner, versucht also nicht mehr, uns um des finalen Aha-Effektes willen auf jene falschen Fährten zu locken, denen die Figuren nachspüren. Damit verlagert sich der Akzent deutlich von der – oft als ›Fantastik‹ missverstandenen – Behandlung der formalen Struktur und subjektiven Dimension intentionsgeleiteter Fehldeutungen von Erfahrungstatsachen zu einer Erzählweise, die stärker an den geschichts-, moral- und kunstphilosophischen Implikationen voraussetzungshafter Deutung interessiert scheint. Vor den Hintergrund dieser sehr knappen Skizze der Werkentwicklung gestellt erweist sich Nachts unter der steinernen Brücke (1953) nun allerdings im Vorwie im Rückblick als ein denkwürdiger Ausnahmefall. Im Vergleich mit den Romanen der Frühphase fällt auf, dass Perutz (mit Ausnahme der bei Rahmenerzählungen unumgänglichen Pro- und Analepsen) dort in der Regel chronologisch erzählt, aber mit logischen Anomalien Verwirrung stiftet, während es sich in Nachts unter der steinernen Brücke genau andersherum verhält: Für Verwirrung sorgt hier allein die Komposition, während eine schlüssige handlungslogische und chronologische Rekonstruktion des Geschehens selbst nie in Frage gestellt scheint. Im Vergleich zum Schwedischen Reiter und zum Judas – Romanen der ––––––– 4

Den in Koproduktion mit Paul Frank verfassten Roman Das Mangobaumwunder (1916) sowie den in der Berliner Illustrierten Zeitung erschienenen Fortsetzungsroman Wohin rollst du, Äpfelchen … (1928) vernachlässige ich hier bewusst.

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späteren Werkphase also – sehen wir andererseits, dass die Erzählinstanz in den Einzelnovellen von Nachts unter der steinernen Brücke wiederum nicht nur entschiedene Distanz zu den Figuren wahrt; ähnlich wie im Schwedischen Reiter wird zudem eine die Binnennovellen beglaubigende Rahmenerzählung verwendet, in der diese Erzählinstanz personalisiert, ja mit dem faktischen Autor Leo Perutz identifiziert wird. Und wie im Schwedischen Reiter schlüpft dieser Erzähler dann zugleich in die Rolle eines fiktiven Herausgebers – nur liegen die Dinge jetzt wesentlich komplizierter, weil ja eigentlich gar nicht dieser ›Leo Perutz‹, sondern mit dem cand. med. Meisl ein weiterer Erzähler als Gewährsmann ins Feld geführt wird; ein Gewährsmann jedoch, der die wiedergegebenen Geschichten seinerseits Akten entnommen und von dritten erzählt bekommen hat, die ihrerseits – usw. Diese rekursive Verschachtelung von Erzähler- und Herausgeberrollen ist in der Anlage deutlich komplexer als die plane Herausgeberfiktion im Schwedischen Reiter. Andererseits jedoch geht die komplexere Logik diskursiver Instanzen einher mit deren entschieden realistischen handlungslogischen Verknüpfung mit der Binnenhandlung. Noch im Schwedischen Reiter läuft die Binnenerzählung bekanntlich auf eine metaleptische Pointe hinaus, insofern ein in der Rahmenerzählung explizit ausgewiesenes faktuales Erklärungsdefizit von der Binnenhandlung aufgehoben wird. In Nachts unter der steinernen Brücke dagegen ist der rahmende Epilog genau das, was er zu sein behauptet: ein Nachwort; der Versuch, die thematisch-kommentierende Bezugnahme noch mit Hilfe einer überraschenden handlungslogischen Verklammerung von Binnen- und Rahmenerzählung zu überhöhen, unterbleibt. Dieses Insistieren auf einem reinen historischen Erzählen, das ebenso frei von geschickt gegeneinander ausgespielten Rekonstruktions- und Deutungsmöglichkeiten des Erzählten wie von einer kalkulierten Durchbrechung von Erzählebenen ist, verleiht dem Roman eine Klarheit und Strenge, die die Einzelnovellen für sich selber sprechen lassen. Inwieweit Nachts unter der steinernen Brücke Abstinenz auch gegenüber der poetischen bzw. künstlerischen Autoreflexion wahrt, die Perutz in seinem Schlusswerk Der Judas des Leonardo im abermals historischen Gewand anstellt, ist hingegen schwieriger zu beurteilen. Immerhin gibt sich in der Rahmenerzählung von Nachts unter der steinernen Brücke ja erstmals der reale Autor Leo Perutz als Person zu erkennen, wenn er die Überlieferungsgeschichte der Einzelnovellen offenlegt, die er von seinem Hauslehrer in der Jugend gehört zu haben vorgibt. Ästhetische Fragen lassen sich allerdings nicht mit einer solchen Anmerkung zur faktualen (wenn sie es denn war) Rezeptionsgeschichte behandeln – und schon gar nicht in einem Text, der uns seinerseits die sich fortschreibende Wirkungsgeschichte des ehemals Gehörten buchstäblich vor Augen führt, indem er es uns neu erzählt. Ja, die Rahmenerzählung um den cand.med. Meisl suspendiert offenbar kraft ihrer behaupteten Realitätshaltigkeit, die das historische Sujet als rein historisches, erzählerisch objektiviertes Sujet qualifiziert, geradezu jeden autopoetischen Dis-

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kurs. Erst im ungebrochen fiktionalen Judas des Leonardo, der ästhetischen Summa des Leo Perutz also, wird dies wieder möglich werden. Umso eigentümlicher indes ist, dass ausgerechnet eine der Binnenerzählungen in Nachts unter der steinernen Brücke ein Zentralthema des großen posthumen Schlusswerks vorwegnimmt. Im Judas kann bekanntlich Leonardo das Bildnis des Christusverräters erst malen, nachdem ihm dieser in Gestalt des Rosshändlers sinnlich anschaulich geworden ist. In »Der Maler Brabanzio«, der neunten Teilnovelle in Nachts, geht es ebenfalls um den Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung, innerer Anschauung und künstlerischem Ausdruck. Dort hört Kaiser Rudolf inkognito einem Gespräch zwischen dem Juden Meisl und dem Maler Brabanzio zu, der mit der Anfertigung eines Bildes von Meisls verstorbener Frau Esther beauftragt ist und sich diese von Meisl wortreich beschreiben lässt. Meisl weiß seine Esther nur in Gleichnissen oder über ihr Verhalten zu schildern; einen visuellen Vorwurf für ein Bild vermag er dem Maler nicht zu liefern. Rudolf indes, der Esther einmal im Vorüberreiten gesehen und sie seitdem nur als Traumgeliebte geschaut hat, wirft beim Zuhören gedankenverloren ein Bildnis Esthers aufs Papier. Das Bild gibt Esthers äußere Erscheinung akkurat wieder – jedoch nur in Meisls Augen, dem das Blatt später, nach Rudolfs Abgang, in die Hände fallen wird. Der Kaiser hingegen vermag die Traumgeliebte in seiner eigenhändigen Skizze nicht zu erkennen: Nein, sie war es nicht. Eine andere war es, ihr in manchem ähnlich, aber nicht sie. Ein Judenmädchen mit großen erschrockenen Augen, auf die vielleicht damals, als er durch die Gassen der Judenstadt ritt, sein Blick gefallen war. Aber nicht sie, seine Traumgeliebte. Vielleicht, sagte er sich, habe ich zu sehr in ihr Antlitz gesehen und zu wenig in ihr Herz, so konnt’ ich’s nicht zuwege bringen. – Achtlos lies er das Bild zu Boden fallen. (S. 158)

2. Hypothese und Methode Rekonstruktion und Interpretation: unsere Leitfrage hat Leo Perutz also durchaus nicht nur als philosophisches, sondern auch und gerade im Sinne eines ästhetischen Problems zutiefst beschäftigt. Nachts unter der steinernen Brücke konfrontiert uns als Leser in besonderem Maße mit der Frage der jeder Interpretation vorgelagerten Rekonstruktion. Was wir im Interesse einer schlüssigen Gesamtinterpretation des Romans zu rekonstruieren suchen, ist zweierlei: erstens die thematische, zweitens die handlungslogische Kohärenz eines Erzähltextes, der in vierzehn Einzelnovellen segmentiert ist, die in anachronischer Folge organisiert sind. In Ansätzen ist unserer Frage bereits von Dagmar Fretter nachgegangen worden, wobei in Fretters Arbeit das Augenmerk insbesondere der Vernetzung der

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Erzählsegmente über rekurrente Figuren galt.5 Dass zunächst autonom erscheinende Erzählungen, in denen jedoch die immergleichen Figuren auftreten, letztendlich nichts als perspektivisch und chronologisch definierte Ausblicke auf eine umfassende Geschichte bieten, diese intuitive Kohärenzvermutung scheint uns nur natürlich. Wie so oft erweist sich jedoch auch hier das vermeintlich Natürliche in einer (literatur)geschichtlichen Perspektive als ein Kulturprodukt. Die Verknüpfung von Erzählpartien über Figurenrekurrenz statt über handlungslogische Kausalketten spielt als narratives Ordnungsprinzip eine besondere Rolle in den Frühformen des Romans: im Barockroman, im pikaresken Roman und schließlich im Schelmenroman. Die beiden letzten stellen in der Regel Helden dar, die in eine wüste und in jeder Hinsicht unberechbar gewordene Welt geworfen sind, der der Ordo abhanden gekommen scheint; eine Welt, die ihren Zusammenhang eigentlich nur noch der Tatsache verdankt, dass sie sich einem Individuum – eben dem Helden – als biographischer Erfahrungszusammenhang präsentiert (womit man dann eigentlich auch schon wieder in der Postmoderne angelangt wäre …). Die geschichtliche Situierung des Sujets von Nachts unter der steinernen Brücke im Übergang vom späten 16. zum 17. Jahrhundert hätte insofern durchaus den Rückgriff auf diese figurenkonzentrierte Erzählästhetik erlaubt, aber: So leicht macht es Perutz weder uns noch sich selbst. Insbesondere die an die Auftaktnovelle anschließenden drei Erzählungen »Des Kaisers Tisch«, »Das Gespräch der Hunde« und »Die Sarabande« handeln von Protagonisten, die nirgendwo sonst erscheinen und auch zu keiner der immer wieder erwähnten Leitfiguren (Meisl, Rabbi Löw, Esther und Kaiser Rudolf) in irgendeinem nennenswerten handlungslogischen oder motivationalen Verhältnis stünden. Besonders eklatant wirkt dies im Fall der »Sarabande«, die nicht allein sprachlich ein Meisterstück im Meisterstück darstellt, sondern in exemplarischer Weise das Mitleidsgebot und damit das profunde moralphilosophische Diktum augenscheinlich macht, das Leo Perutz auch in anderen Romanen – insbesondere in Der schwedische Reiter – thematisiert hat.6 Und dennoch hat man selbst bei der Lektüre der »Sarabande«, die so völlig vom zweiten großen Erzählstrang um die ideelle ménage a trois von Esther, Meisl und Rudolph separiert ist, sofort den Eindruck, dass sie irgendwie ›dazugehört‹ – und das nicht nur aus dem trivialen Grund, dass sie ––––––– 5

6

Siehe Dagmar Fretter: Geschichte als poetische Konstruktion. Das Bild der Geschichte in Leo Perutz Roman »Nachts unter der steinernen Brücke«. Magisterarbeit, Hamburg 1987. Siehe Jan Christoph Meister: »Der schwedische Reiter«. Von der Schuld der Identität. In: B. Forster u. H.-H. Müller (Hrsg): Leo Perutz: Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 143– 159.

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ebenfalls im Prag des frühen 17. Jahrhunderts spielt und in ihr der Rabbi Löw erscheint. Wenn wir Perutz’ Roman bei der Lektüre von Anfang an ein profunderes Kompositionsprinzip als das der bloßen Reihung von chronologisch durcheinander gewürfelten Einzelnovellen unterstellen, wenn wir also die der literarischen Konvention geschuldete Kohärenzvermutung bereits zu einem Zeitpunkt unserer Lektüre bestätigt fühlen, wo die schiere Kontiguität auf der Geschehensebene für uns analytisch noch lange nicht durchschaubar sein kann, so gibt es hierfür nur zwei mögliche Erklärungen. Entweder wir selbst sind autoritätshörige bzw. ungemein vertrauensselige und auf closure erpichte Leser – oder aber wir haben es mit einem Text zu tun, der auf einem vorbewussten Register zu spielen und eine folgenschwere Interpretationprämisse mit Mitteln zu evozieren weiß, die normalerweise jenseits unserer Wahrnehmungsschwelle liegen. Um die Erhellung genau dieses Zusammenhangs soll es im Folgenden gehen; salopper gesagt also um die Frage, wie der Text es macht, dass wir ihn schon mit der zweiten Novelle als einen geschlossenen Erzählzusammenhang zu lesen versuchen. Sicher, es gibt auch paratextuelle Signale – auf dem Buchdeckel (wenigstens dem der neueren Ausgaben) steht immerhin ›Historischer Roman‹. Aber auf derlei scheinheilige Selbstankündigungen war schon zu Perutz’ Lebzeiten kein Verlass mehr. Ich möchte den Roman Nachts unter der steinernen Brücke deshalb zum Anlass einer methodischen Reflexion nehmen, die den funktionalen Zusammenhang von (Re-)Konstruktion und Interpretation mit den Mitteln formaler Textbeschreibung transparent machen will. Mein Beitrag läuft dabei auf das Experiment hinaus, zwei mögliche Ansätze zu einer Rekonstruktion von Semantik und PlotStruktur von Nachts unter der steinernen Brücke zu erproben, die in methodischer Hinsicht komplett frei von Interpretationsleistungen sind. Es geht damit um eine entschiedene und bewusste Non-Interpretation. Zu diesem Zweck werden im Folgenden zwei Zugriffe auf den Text unverbunden nebeneinander gestellt werden, ohne ihre integrierende Interpretation zu leisten. Was die beiden Zugriffe im Einzelnen zutage fördern, wird für uns allerdings insofern nicht neu sein, als es sich ganz offenkundig in das gewohnte Bild unseres Textverständnisses fügt. Um der Gefahr einer self fulfulling prophecy wenigstens ansatzweise zu entgehen, möchte ich im Folgenden deshalb auch nicht über Nachts unter der steinernen Brücke reden, sondern über einen anderen, bislang noch nicht bekannten Perutz-Roman. Dieser Roman heißt Unter einer steinernen Brücke, nachts. Der verfremdete Titel steht als Symbol für eine wichtige methodische Prämisse – eben für die methodische Suspendierung von (Vor-)Interpretationen, um die es mir zu tun ist. Um diesem Ziel möglichst nah zu kommen, soll im ersten Schritt zudem eine computerphilologische Methode verwendet werden, die schon aufgrund rein technologischer Restriktionen notwendig interpretationsneutral verfährt, die also nur beschreiben, nicht jedoch deuten kann.

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Nochmals: Weder zu dem ›Was‹ noch zu dem erzählerischen ›Wie‹ des Romans soll hier etwas Neues gesagt werden, wohl aber zu dem ›Warum‹ seines wirkungsästhetischen Effekts, in uns Kohärenzvermutungen zu evozieren.

3. Rekonstruktion I: Paradigmen und semantische Matrix Im ersten Zugriff auf den Text von Unter einer steinernen Brücke, nachts konzentrieren wir uns ausschließlich auf das, woraus Texte gemacht sind: auf Wörter. Ich habe dazu sechs der 14 Einzelnovellen gescannt und in eine elektronische Datei umgewandelt: ― ― ― ― ― ―

»Die Pest in der Judenstadt« »Des Kaisers Tisch« »Die Sarabande« »Nachts unter der steinernen Brücke« »Der Maler Brabanzio« »Der Engel Asael«

Die kombinierte Textdatei wurde dann mit dem Kollationsprogramm TACT in zwei Schritten bearbeitet. 7 Im ersten Schritt wurde eine Gesamtwortliste erstellt. Diese Liste beinhaltet alle individuellen Zeichenfolgen – und zwar einschließlich der offensichtlichen Lesefehler des Scanners8 – die der Computer formal als ›Wort‹ identifiziert hat. Neben jedem Eintrag ist in dieser Liste die Häufigkeit der Vorkommnisse verzeichnet, die für das ›Wort‹ im Gesamttext ermittelt wurde. Diese Wortliste nun wurde – wiederum automatisch – auf so genannte Kollokationen untersucht. Zunächst haben wir in der Gesamtwortliste die hochfrequenten Einträge in den Kategorien ›Eigenname‹ und ›Generische Begriffe‹ ermittelt und diese dann zu folgenden sechs Themenfeldern gruppiert. Da die einzelnen Wörter in unserer Gesamtwortliste nicht lemmatisiert sind, haben wir morphologisch und/oder semantisch verwandte Terme ebenfalls unter die entsprechenden Schlagworte subsumiert.

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TACT steht für Textual Analysis Computing Tools. Näheres zu dem Programm siehe in: Ian Lancashire u.a.: Using TACT with Electronic Texts. Genauer gesagt handelt es sich um Erkennungsfehler des Programms, das die vom Scanner gelieferten graphischen Informationen in Buchstaben umwandelt, d.h. des so genannten OCR (Optical Character Recognition)-Programms.

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Christ (beinhaltet: Christ, Christen, Christenheit, Christo, Christus) Esther Jesus (Jesu, Jesusbild etc.) Jude (Jud, Judenhaus, Judenstadt etc.) Meisl Rudolf (Kaiser, Herrscher, Löwe etc.)

Für jedes der Schlagworte wurde nun eine automatische so genannte statistische Kollokationsanalyse vorgenommen. Das heißt, vereinfacht gesagt: Wir haben (unter Herausrechnung der Verzerrungen, die sich durch die absolute Häufigkeit hochfrequenter Terme in der Gesamtwortliste naturgemäß ergibt) vom Computer errechnen lassen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein anderes Wort aus der Gesamtwortliste ›nicht-zufällig‹ in der Nachbarschaft des jeweiligen Schlagwortbegriffs (oder seiner Synonyme) plaziert worden ist. ›Nicht-zufällig‹ heißt hier nicht mehr, als dass eine positive Abweichung von der zu erwartenden statistischen Normalverteilung innerhalb der Gesamtwortmenge vorliegt. Die so ermittelte Maßgröße drückt sich aus in einer Zahl, die in der Statistik und Computerlinguistik als ›Z-Score‹ bekannt ist. Hier die Resultate dieser sechs Einzelanalysen, in Form einer Tabelle zusammengefasst:

Abbildung 1: Semantische Matrix Wohlgemerkt: ›Nicht-zufällig‹ heißt nicht schon ›bewusst‹; es geht bei dieser computerphilologischen Beschreibung zunächst um eine rein statistische Maßgröße. Will man die Ergebnisse korrekt interpretieren, dann tut man dies am besten nicht, indem man umstandslos zu einer hermeneutischen (sinnverstehensorientierten) literaturwissenschaftlichen Auswertung übergeht. Im ersten Schritt sollte man es vielmehr bei einer relationalen Betrachtung belassen, die die Zuordnungswahrscheinlichkeit als numerischen Ausdruck semantischer Kohäsion auffasst. Was das im Klartext heißt, kann man am Beispiel der dem hochfrequenten Wort ›Christ‹ zugeordneten Wörter verdeutlichen: In Nachts unter der steinernen

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Brücke steht das Wort ›Erbfeinde‹ mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht-zufällig neben dem Suchwort ›Christ‹ als das Wort ›Handelschaft‹, ›Handelschaft‹ wiederum ist ihm mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht-zufällig beigeordet als ›Trieb‹, wohingegen statistisch betrachtet schon mehr für eine zufällige Beiordnung der Wörter ›Judentum‹ und ›Land‹ spricht – relativ ›mehr‹, wohlgemerkt. Für jedes der hochfrequenten Wörter ergibt sich so ein semantisches Paradigma. In metaphorischer Redeweise könnte man sagen, dass der Text uns mithilfe dieser Paradigmenbildung bereits ›wörtlich‹ vorzuschreiben versucht, was wir später als gedankliche Assoziation aus freien Stücken zu extrahieren glauben sollen. Diese Rezeptions- und Interpretationssteuerung gelingt natürlich nur zum Teil, denn der Text – wenn wir ihn einmal hypothetisch wie ein bewusst agierendes Subjekt behandeln wollen – kann ja nicht wissen, welches Wissen und welche Assoziationen wir wiederum aus eigener Kraft an ihn herantragen. Außerdem kann es leicht zu numerischen Verzerrungen kommen, wenn ein Teil-Text rhetorisch oder stilistisch aus der Norm fällt, die der Gesamttext etabliert. Dass zum Beispiel das Wort ›Tisch‹ im semantischen Paradigma ›Rudolf‹ als hochgradig nicht-zufällige Beiordnung errechnet wird, hat ganz offensichtlich etwas damit zu tun, dass die Novelle »Des Kaisers Tisch« ihren eigenen Titel mehrfach verbatim zitiert und wir zugleich ›Kaiser‹ als Synonym von ›Rudolf‹ definiert haben. Ich möchte die obige Tabelle bewusst nicht hermeneutisch deuten, denn das hieße nichts anderes, als die non-intentionale Rekonstruktion der semantischen Paradigmen durch den Computer umstandslos in den Dienst der interessegeleiteten Interpretation des Menschen zu stellen – und damit genau dem Irrtum zu verfallen, den die Perutz’schen Helden so oft begehen und den nachzuvollziehen uns gerade die frühen Romane auf subtilste Weise immer wieder einladen. Was diese – ja nur auf der Basis von sechs Novellen angestellte – computerphilologische Auswertung belegt, ist, dass das ›Warum‹ unserer Kohärenzvermutung zum Teil schon von der bloßen Textoberfläche her zu erklären ist. Die Textoberfläche nehmen wir im allerersten Zugriff immer als Reihe von Zeichen – Wörtern – wahr. Diesen Wahrnehmungsprozess haben wir soeben mit dem Computer simuliert. Wer den Blick in der Horizontalen wie der Vertikalen über die oben abgebildete Tabelle gleiten lässt, der wird, so wage ich zu behaupten, unumgänglich Umrisse jener semantischen Matrix erkennen, die seiner oder ihrer subjektiven Interpretation von Nachts unter der steinernen Brücke als thematisch kohärentem Ganzen unterliegt. Diese semantische Matrix aber ist – ein textgesteuertes Konstrukt.

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4. Rekonstruktion II: Syntagma Kommen wir nun zu dem zweiten Aspekt, unter dem unser hypothetischer Text Unter einer steinernen Brücke, nachts non-interpretativ betrachtet werden soll. In diesem Zugriff habe ich die 14 Einzelnovellen und den Epilog zunächst – und zwar in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text – spiralförmig als Blöcke angeordnet (die Fragmente der Rahmenerzählung, die den Novellen 2, 4, 8 und 9 angefügt sind, habe ich der Übersichtlichkeit halber vernachlässigt). Jeder Block trägt dabei zugleich einen Zeitstempel. Zeitangaben, die wortwörtlich im Text stehen, können als absolute (»Frühsommer 1598«) oder relative (»drei Jahre nach Esthers Tod«) erscheinen. Davon zu unterscheiden sind zeitliche Einordnungen, die wir nur über Schlussfolgerungen oder unter Rückgriff auf historisches Wissen vornehmen können (»vorher«, »später«, »vor Rudolfs Krönung«). Für die Unterscheidung der drei Typen habe ich eine typographische Codierung verwendet (absolut = Fettdruck, relativ = Kursivierung, implizit = Unterstreichung):

Abbildung 2: Lineare Plot-Rekonstruktion Diese Graphik visualisiert die anachronische Anordnung der Einzelnovellen, wie wir sie in der vorgegebenen Textanordnung – also vollkommen interpretationsfrei – vorfinden. Wir werden nun versuchen, unter ausschließlichem Rückgriff auf die durch Fettdruck und Kursivierung markierten Zeitangaben die StoryOrdnung zu rekonstruieren.

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Unerwarteterweise ergibt sich bei diesem Experiment, das allerdings einige Geduld und Kombinationstätigkeit verlangt, dass man in der Tat ein relativ festes und widerspruchsfreies relationales Zeitgefüge rekonstruieren kann, ohne auf Kontextwissen (durch Unterstreichungen markiert) zurückgreifen zu müssen. Das Resultat ist in der folgenden Graphik präsentiert, in der die Pfeile die zeitlichen Determinationen symbolisieren, die von den jeweiligen Novellen ausgehen:

Abbildung 3: Chronologische Plot-Rekonstruktion Wie die Graphik zeigt, sind es vor allen Dingen zwei Novellen, deren zeitliche Lokalisierung besonders viele untergeordnete Novellen im Temporalgefüge determiniert: nämlich – wie zu erwarten – die Auftaktnovelle 1, die 3 Knoten determiniert (14, 9, 5), mehr noch aber die Novelle Nr. 3, »Das Gespräch der Hunde«, die auf stolze 6 von ihr abhängige Novellen kommt (4, 10, 11, 12, 13, 14)! So viel Kohärenz also ergibt sich trotz der kunstvollen Durchwürfelung der Einzelnovellen bereits bei einer bloßen Auswertung der Zeitinformationen, mit denen Perutz in diesem Roman ungewöhnlich freigiebig umgegangen ist – wir

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dürfen vermuten: bewusst. Denn wer die handlungslogische Kohärenz dieses ›historischen Romans‹ (so der Untertitel) rekonstruieren will, kommt zwar seltsamerweise ohne jegliches historische ›Weltwissen‹ über die biographischen Daten von Kaiser Rudolf oder Rabbi Löw aus, aber durchaus nicht ohne eine sehr aufmerksame Lektüre des Textes selbst.

5. Von der Rekonstruktion zur Interpretation An diesem Punkt nun wäre das Limit einer vollkommen interpretationsfreien Rekonstruktion des hypothetischen Perutz-Textes Unter einer steinernen Brücke, nachts erreicht. Damit aber drängt sich die Frage auf: Wie viel von Nachts unter der steinernen Brücke erkennen wir darin zu diesem Zeitpunkt? Der Bogen, der hier von der interpretationsfreien Rekonstruktion zur wiedererkennenden Interpretation zu schlagen wäre, hat eine gewaltige Spannbreite. Wer behauptet, dass eine formale Textbeschreibung wie die oben in drei Schritten vorgeführte sich notwendig in eine spezifische Textauslegung überführen lässt, der lügt. Wer aber darauf nur hofft, der verkennt, dass solche Art Gegenstandsbeschreibung einen heuristischen Zweck hat, aber kein definitives hermeneutisches Telos begründen kann – Deutungsmöglichkeiten, nicht Deutungsnotwendigkeiten sollen beschreibend plausibilisiert werden. Andererseits: Das Ethos vorinterpretativer Rekonstruktionsarbeit mag zwar unvoreingenommene, zweckfreie Genauigkeit bei der Beschreibung unserer Gegenstände verlangen; ihre Motivation indes ist allemal die des Wiedererkennen-Wollens. Eben dies führt uns Perutz in der Novelle »Der Stern des Wallenstein« selber vor. Darin wird von Johannes Kepler erzählt: Er sah eine Schneeflocke, die an dem Ärmel seines Mantels hängengeblieben war, und betrachtete sie durch ein Brennglas. Dann griff er zur Feder und schrieb mit dem Lächeln eines, der seine Meinung wiederum bestätigt gefunden hatte, auf ein Blatt Papier die Worte: »De nive sexangula – Von dem sonderlichen, vielgestaltigen, aber immer sechswinkligen Wesen der Schneesternlein.« (S. 113)

Wagen wir also ein weiteres Experiment und formulieren zunächst ›auf einem Blatt Papier‹, welches ›Wesen‹ des Perutz’schen Erzählens wir in diesem Roman denn gerne im Detail seiner formalen Beschreibung wiedererkennen würden. Anders als im Falle Keplers, den die formale Gestalt der ›Schneesternlein‹ interessiert, fasziniert uns in letzter Linie am literarischen Text das Sinnsubstrat. Und so sollte man sich hier ehrlicherweise auch nicht hinter rein formalen oder erzähltechnischen Beobachtungen verstecken, sondern einmal unumwunden über die inhaltliche Dimension reden:

Leo Perutz’ Novellenroman »Nachts unter der steinernen Brücke«

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Ich für meinen Teil möchte den Roman zweier Liebender wiederfinden, für die der Traum das wirkliche Leben, denen andererseits das wirkliche Leben Trug und Lüge und Verstellung geworden ist. Den Roman zweier Liebender jedoch, deren Glück geteilt bleiben muss, solange sie unter der Macht zweier im Widerstreit liegender Götter stehen – also den Roman, in dem Rudolf II. die Traumliebe zu Esther als ein ihm zustehendes Geschenk des barmherzigen und lächelnden christlichen Gottes deutet, wohingegen Esther diese Liebe in der Furcht vor dem strafenden alttestamentarischen Gott erlebt: »Er zürnt dir nicht«, sagte der Kaiser. »Wie könnt er dir zürnen! Er sieht dich und lächelt und verzeiht.« – »Nein«, flüsterte sie. »Er lächelt nicht. Ich habe mich vergangen gegen sein Gebot. Er ist kein Gott, der lächelt und verzeiht.« (S. 101)

Dies, so scheint mir, ist die große religiöse Grundproblematik, die den von Perutz selbst als ›jüdisch‹ bezeichneten Roman durchzieht: der Widerstreit zweier grundverschiedener Vorstellungen, die die beiden großen monotheistischen Religionen von ein und demselben Gott haben. Der christliche Gott Rudolfs scheint dem Gläubigen direkt zugänglich und gilt ihm, je nach Bedarf, mal als barmherziger Weltenlenker, mal als ein berechenbarer Geschäftspartner. Der Gott Esthers und Meisls hingegen ist absolut, furchtbar und gerecht. Sein Wille erschließt sich nur dem hohen Rabbi, der die Zeichen zu lesen weiß – wobei dieses ›Lesen‹ kein Interpretieren im herkömmlichen Sinne des Symbolverstehens ist, sondern im magischen Sinn des Für-Wahr-Nehmens des Zeichens als Wirklichkeit selbst. Die positive Konsequenz dieser magischen Zeichenkonzeption demonstriert die »Sarabande«: Christliche Zeichen und Symbole können zur konsequenzlosen Äußerlichkeit verkommen, sind semiotisch wie ethisch arbiträr und können mit Schläue umgangen werden – die magischen Zeichen hingegen sind unverrückbar und wirken auf jeden, der mit ihnen konfrontiert wird, sei er nun Jude oder Christ. Sie bedürfen keiner Interpretation; selbst einem Juranic braucht man sie nur aufzuzeigen. Welchem Gott, welcher Zeichenkonzeption gehört in Nachts unter der steinernen Brücke die Sympathie des Erzählers? Das ist wohl falsch gefragt. Denn dessen Aufmerksamkeit gilt nur vordergründig den Abstrakta, gehört aber letztlich weder Gott noch den Zeichen oder Religionen an sich, sondern richtet sich auf den einzelnen Menschen, der dieses Dilemma erfährt und sich darin zu behaupten sucht. Es sind die menschlichen Motive und Sorgen, die für den Erzähler von Nachts unter der steinernen Brücke und, so denke ich, auch für den Autor Perutz ethische Relevanz haben. Gottes Wort steht jenseits dieser Ethik – den einen ist es zur wohlfeilen politischen Ware und Legitimation verkommen, den anderen ist es eine erdrückende Gewalt geblieben, die die Umdeutung des eigenen Leids zur Auserwähltheit als letzten Ausweg lässt.

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Der Perutz’sche Erzähler in Nachts unter der steinernen Brücke aber ist, so lese ich den Text, im tiefsten und umfassendsten Sinne ein Humanist. Für ihn ist der Mensch nicht nur das Maß der Dinge, sondern auch jenes, an dem sich das Tun der Götter messen lassen muss. Das Glück der Menschen ist das höchste Gut, sei es auch verbannt in die Nacht, an die Ufer eines Flusses, der die Glaubensgemeinschaften voneinander trennt, unter eine Brücke, über die der lärmende, geschäftige Austausch der Ökonomien sich vollzieht, in einen Traum, der jeden Morgen ein jähes und zu frühes Ende finden muss.

6. Vom Hunger nach Interpretation Über welche Brücke aber könnten wir nun vielleicht doch noch von der formalen Textbeschreibung zu dieser weit reichenden Textauslegung kommen? Betrachten wir noch einmal jene Novelle, die sich im Netz der Zeitbezüge als so unerwartet relevant für unsere Rekonstruktion der handlungslogischen Gesamtstruktur erwiesen hat. Es ist »Das Gespräch der Hunde«. In dieser Groteske wird die Geschichte des Berl Landfahrer erzählt, eines armen Hundes, den das Unglück auf Schritt und Tritt verfolgt und der schließlich an den Galgen kommen soll, weil er unwissentlich ein Gebot des Kommandanten der kaiserlichen Truppen missachtet hat. Die Ursache dafür: Berl hatte sich derart in den Talmud versenkt, dass er darüber vergaß, in die Synagoge zu gehen, in der das Verbot des Kommandanten bekannt gemacht wurde. In der Todeszelle sitzend gibt sich Berl abermals der mystischen Versenkung und Spekulation hin, um so seiner Angst Herr zu werden. Beigesellt sind ihm zwei Hunde, und infolge eines Irrtums beim Zitieren eines magischen Verses hat Berl plötzlich die Gabe, die Sprache der Hunde zu verstehen und zu sprechen. Eines der beiden Tiere nun ist ausgerechnet »Meisls seligen Angedenkens Pudelhund«; der erzählt dem armen Berl von einem Schatz, den Meisl extra für Berl habe vergraben lassen und dessen Fundort er, der Pudel, ihm gerne verraten werde, sobald sie nur aus dem Gefängnis heraus seien. Es kommt, was kommen musste: Berl wird zwar unerwarteterweise begnadigt, der Pudel jedoch entwischt auf Nimmerwiedersehen. Und so verbringt der arme Berl den Rest seines Lebens damit, die Hunde des Ghettos nach des Pudels Verbleib zu befragen, um doch noch an die achtzig Gulden zu kommen, die Meisl ihm hinterlassen haben soll. »Der arme Berl Landfahrer! Er hat in jener Nacht in der Zelle vor Angst seine Menschenseele verloren« (S. 50), so kommentieren die Mitmenschen dieses groteske Schicksal eines menschlichen armen Hundes, dem die animalischen Leidensgenossen zu verständigen Artgenossen geworden sind. – Sicher, die Geschichte mag grotesk sein, aber sie ist von Perutz durchaus anspielungsreich gestaltet worden. Denn die sprechenden Hunde haben ehrwürdige literarische Vor-

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fahren, die man u.a. bei Cervantes und E.T.A. Hoffmann finden kann. HansHarald Müller hat nicht nur hierauf, sondern auch auf Perutz’ eigene Leistung bei der Adaption des Motivs hingewiesen und bemerkt, dass in dem »Dialog zwischen dem ›Bauernköter‹ und dem urbanen ›Pudelhund‹ […] die Kommunikationsschwierigkeiten über Wälder, Füchse und Gänse sprachphilosophische Dimensionen annehmen.«9 Der Dialog weist indes kraft Inszenierung und Thematik auch noch auf einen anderen, wesentlich älteren Vorläufer zurück. Sprechende Tiere begegnen uns in erster Linie in den Fabeln des Äsop, darunter in Die Stadtmaus und die Landmaus. Dieser Mäusediskurs nun dreht sich bekanntlich nicht nur um den Stadt-Land-Gegensatz, sondern er will auch eine Maxime propagieren: Die Landmaus kommt nach ihren haarsträubenden Erlebnissen in der Stadt zu dem Schluss, dass dem kargeren, aber sichereren Leben auf dem Lande denn doch entschieden der Vorzug zu geben sei, womit der Ethik der Bescheidung in das Einfache das Wort geredet werden soll. Wenn Perutz mit seinem Hundegespräch auf Äsop anspielt, dann allerdings in einer bezeichnenden Kontrafaktur: Nicht die Tiere sprechen als und für Menschen, sondern ein Mensch versteht die Sprache der Tiere, und was dabei herauskommt ist das genaue Gegenteil dessen, was Äsop lehren wollte, denn Berl Landfahrer sucht nach der Belehrung durch den Pudel nicht länger nach seinem spirituellen, sondern nurmehr nach seinem materiellen Vorteil. Man kann Perutz’ vermutliche Persiflage auf die von Äsop postulierte Simplicitas in materieller wie spiritueller Hinsicht also folgerichtig auf den armen Berl Landfahrer – nomen est omen? – anwenden. Aber um solche vordergründige Lesart soll es hier eigentlich gar nicht gehen. Wichtiger ist für uns die Feststellung, dass die folgerichtige handlungslogische Lesbarkeit von Nachts unter der steinernen Brücke von Perutz ausgerechnet von einer grotesken, ihrerseits weder mittels Figurenrekurrenz noch über handlungslogische Verknüpfung in den Gesamtstrang eingebetteten Anekdote abhängig gemacht worden ist. Dabei handelt es sich allerdings um eine Erzählung, die nicht nur literarischen Anspielungsreichtum und abgrundtiefe Komik aufweist, sondern an einer leicht überlesenen Stelle das vielleicht unbescheidenste menschliche Bemühen – nämlich das um die Deutung der Zusammenhänge der Welt – als ein fundamental hoffnungsloses Unterfangen ausweist. Wenn es sich denn bei dem Hundegespräch also tatsächlich um eine Kontrafaktur zur Äsop’schen Fabel handeln sollte, dann läuft ihre Moral auf die Forderung nach einer ganz anderen Art von Bescheidung hinaus: nämlich auf eine hermeneutische. Berl sitzt mit dem schweigsamen Bauernköter in seiner Zelle und denkt über die Kabbala nach: ––––––– 9

Müller: Nachwort (Anm. 1), S. 285.

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Jan Christoph Meister Er ließ die Buchstaben des Alphabetes mit ihrer nur dem Wissenden verständlichen Bedeutung an sich vorüberziehen; wie er aber zur Betrachtung des Caf gelangte, das, wenn es am Ende eines Wortes steht, das Lächeln Gottes ist, da wurde die Türe aufgeschlossen und geöffnet, und der Schließer stieß den zweiten Hund zu ihm hinein. Dieser Hund war ein weißer Pudel mit zottigem Haar … (S. 43)

Mit dem Buchstaben Caf, dem ›Lächeln Gottes‹, nimmt die Groteske ihren Lauf; mit einer Buchstabenverwechslung wird sie unumkehrbar, als Berl »unter den ersten der sieben Gottesnamen den Buchstaben Thet« setzt (S. 46) und so die verkehrte magische Formel spricht. Gott, so scheint es, will sich durchaus nicht in die Karten schauen lassen. Berls Dilemma ist das Dilemma jedes unvorsichtigen Lesers von Perutz. Die Wörter wie die Strukturen seiner Texte evozieren wie die Kabbala unmerklich jene Prämisse, die jede unserer Interpretationen auf ihre Weise überzeugend einzuholen sich bemühen wird: die einer semantischen wie diegetischen Kohärenz. Was Nachts unter der steinernen Brücke in dieser Hinsicht von den anderen Romanen unterscheidet, ist allerdings, dass dieser Wirkungszusammenhang sich hier vornehmlich über das Formprinzip des Textes herstellt und weniger über seine Inhalte. Die Brücke, über die wir gehen müssen, um Rekonstruktion und Interpretation miteinander zu verbinden – und nicht zuletzt die hier beschrittene! – ist damit eine sehr abstrakte; man kann also nur hoffen, dass es uns bei diesem Gang nicht wie dem armen Berl Landfahrer geschieht und Gott uns die Ordnung der Zeichen durcheinanderbringt … Dem Interpreten jedoch, der sich zu Perutz’ großem Roman Nachts unter der steinernen Brücke partout etwas zusammenreimen will, was über das Gerüst einer nüchternen Textbeschreibung sinnstiftend in die Leere hinausruft, diesem Leser wollen wir seinen interpretatorischen Furor mit der pragmatischen Erklärung vergeben, die Meisls Pudel für Berls klagende Anrufung seines Gottes parat hat: »Ich weiß nicht, warum er schreit. Nicht immer kann man sie verstehen. Vielleicht hat er Hunger«, sagte in diesem Augenblick der Pudel zu dem Bauernköter. (S. 45)

Oliver David Krug

Leonardo: Perutz: Mancino »Der Wind weht, wie er will, und du hörst sein Sausen wohl; / aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.« (Johannes 3,8)

Es mag dieses Sausen des Windes gewesen sein, das eines Nachts im Jahre 1498 der Mancino, Behaim und die anderen vernahmen, als alles still war und nur die armen Seelen im Rauchfang klagten und weinten, als der Mancino ihnen dartat, dass er der Dinge Lauf, den Tod und des Lebens Auf und Ab, all das nur zu gut kenne, nur sich selbst, sich selbst eben nicht. Und ein ganz ähnliches Sausen wird vielleicht auch dem herzoglichen Hofzuckerbäcker angeklungen sein, als er angesichts seiner allzu zerbrechlichen Werke über der Vergänglichkeit allen weltlichen Ruhmes in grüblerischer Trostlosigkeit versank. All das mag schließlich auch Leo Perutz nicht allzu ferne gelegen haben in den Jahren seines Exils, über seinen Manuskripten des Judas des Leonardo. Dass Perutz dagegen kaum etwas ferner lag, als sein literarisches Schaffen mit autobiographischen Zügen anzureichern,1 soll die nachfolgenden Überlegungen nicht daran hindern, den Judas des Leonardo daraufhin zu befragen, in welcher Beziehung die in der erzählten Welt abgehandelten Kunstauffassungen zu derjenigen stehen, die sich in der Konzeption des Romans selbst niederschlägt. Zwei Thesen möchte ich dazu im Folgenden wagen: Was den Protagonisten wie auch den durch sie exemplifizierten Typen in Perutz’ letztem Roman allensamt gemeinsam ist, ist das Scheitern ihrer Lebensentwürfe an der Wirklichkeit. Und: Die Kunstkonzeption, der Perutz’ Leonardo auf dem Wege zur Fertigstellung des Abendmahls huldigt, in der Rahmenhandlung also, die alle Einzelschicksale funktional aufeinander bezieht, ist in einer Hinsicht dieselbe, die dem Aufbau des Romans zugrunde liegt. Dass aber diese Kongruenz in anderer Hinsicht gerade nicht zum dominanten ästhetischen Programm des Romans gerät, sondern mit einer abschließenden Verneigung vor dem künstlerischen Gegenpol des Mancino beide Auffassungen in eine Balance gebracht werden, ist keine der Figurenkonzeption geschuldete Beiläufigkeit der Geschichte, sondern das Ergebnis künstlerischer Überlegungen, die dem Judas des Leonardo zugrunde liegen. Inwiefern ––––––– 1

Vgl. dazu Hans-Harald Müller: Die Bedeutung der Kunst und des Exils in Leo Perutz’ Roman »Der Judas des Leonardo«. In: J. Thunecke (Hrsg.): Echo des Exils. Das Werk emigrierter österreichischer Schriftsteller nach 1945, Wuppertal 2006, S. 219–231.

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dahinter ein ästhetisches Programm steht, das als poetische Konzeption gelten könnte, die Perutz’ Gesamtwerk unterliegt, wird hier völlig offen bleiben. Beide Thesen stehen aber, so möchte ich hier zu zeigen versuchen, in einem intimen Zusammenhang, der sie, und damit zugleich den Roman selbst, zu seinem eigenen Gegenstand macht. Damit darf der Judas des Leonardo zurecht nicht nur als Künstler-, sondern auch als Kunstroman gelten.

1. Perutz und der Judas Niemand arbeitet sorgfältiger als dieser Fruchtbare. […] Er versenkt sich jahrelang in die Geschichtsquellen: sucht die seltensten; dann versteht er es, vergessen zu lassen, daß irgendein Studium seine Phantasie beschwerte. Es ist alles echt, und so, als hätte er sich’s aus dem Finger gesogen. 2

Als Richard A. Bermann dies über Leo Perutz im Jahr 1923 zu Papier brachte, konnte er noch nicht wissen, wie sehr er mit eben dieser Charakterisierung Recht behalten würde. Denn Perutz begann erst in den Jahren 1937–1938 mit den Quellenstudien zu seinem letzten Roman, dem Judas des Abendmahls, so der ursprünglich von ihm vorgesehene Titel.3 Zweimal sechs Jahre verwendete er daraufhin für die Fertigstellung, von 1941–1947, sowie von 1951–1957, bis kurz vor seinem Tod. Die Erstveröffentlichung 1959 erlebte Perutz somit nicht. Ob, wie Ernst Stein angibt,4 der ursprüngliche zugleich auch der bessere Titel gewesen wäre, sei dahingestellt, besteht die Pointe beider Varianten wohl gleichermaßen darin, dass sich in ihnen Verweise auf die maßgeblichen, im Folgenden zu umreißenden Handlungsstränge des Romans finden. Im Jahre 1498 begibt es sich, dass der Künstler Leonardo und der böhmische Kaufmann Joachim Behaim beim Herzog von Mailand ein erstes Mal aufeinander treffen; es wird nicht die letzte Begegnung dieser Art sein. Ganz unterschiedliche Pläne treiben die beiden um, und zu einer wechselseitigen Kenntnisnahme wird es erst später, dann unter gänzlich anderen Umständen kommen. Denn während der eine, Behaim, bereits seinen Handel zu vorteilhaftem Abschluss gebracht hat, befindet sich der andere, Leonardo, noch auf der Suche nach dem, ––––––– 2 3

4

Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel: Hollywood – Wien und zurück. Feuilletons und Reportagen, Wien 1999, S. 83. Vgl. Michael Mandelartz: Kunst als Instrument der Erkenntnis. Zur Poetik des Spätwerks von Leo Perutz. In: B. Forster u. H.-H. Müller (Hrsg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 190–210, S. 209. Ebd.

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was ihm erst ermöglichen wird, seine langwierige Arbeit am Gemälde des Abendmahls zu einem Ende zu bringen: Eine Vorlage für das Bildnis des Judas. Und so kommt es, dass bei dieser ersten flüchtigen Begegnung der Maler Leonardo ebenso wenig in der Lage ist, zu erkennen, dass der Anblick seines Gegenübers ihm dereinst die gesuchte Vorlage abgeben wird, wie der Kaufmann Behaim es sich träumen ließe, dass die folgenreichen Geschehnisse während seines unvorhergesehen verlängerten Aufenthaltes im Herzogtum Mailand ihn eben zu dieser Vorlage qualifizieren würden. Um aber gerade diese Ereignisse, die den zweiten Handlungsstrang der Geschichte abgeben, in raffinierter Weise mit dem ersten zu verweben, bedarf es neben Behaim und Leonardo noch eines Dritten. Und so muss sich Mancino zunächst und alles andere als bereitwillig einfinden, dem Kaufmann nach dessen Willen behilflich zu sein, die Tochter des herzlosen Pfandleihers Boccetta für sich zu gewinnen. Dann aber wird er erneut antreten, um nach Behaims schändlicher Preisgabe seiner Liebe dem Künstlerfreund Leonardo die Augen zu öffnen, dass eben dieser Liebesverrat als das herbeigesehnte Exempel der Judassünde zu gelten vermag. Dass die Konzeption des Romans für die Figur des Mancino noch deutlich weiter reichende Funktionen vorsieht, wird uns noch eine Weile vorenthalten bleiben. Machen wir uns zunächst mit den Protagonisten des Judas des Leonardo ein wenig näher vertraut, »denn man möchte doch immer gerne wissen, in welchem Wasser man fischt«.5

2. Behaim und Mancino Bedient man sich musikalischer Metaphern, dann fungiert das erste Kapitel am Hofe des Herzogs von Mailand als Exposition des Judas des Leonardo; es enthält das thematische Material, die beiden Handlungsstränge sowie das übergreifende Motiv der Judassünde, und führt in kurzer Folge die Protagonisten Leonardo und Behaim, noch ohne wechselseitigen Bezug, ein. Mancino dagegen, in der eingeschränkten Betrachtungsweise, die wir seiner Figur fürs Erste noch beimessen wollen, darf zwar ebenfalls bereits in besagter Eröffnung auf der Bildfläche erscheinen, erhält aber zunächst eine Rolle, die eher der dichteren Verfugung, der Durchführung der vorgestellten Themata in den verbleibenden 13 Kapiteln zu dienen scheint. Letztere findet in den Schlusskapiteln in Form einer Engführung der beiden Handlungsstränge ihren Höhepunkt, indem Behaim kraft seines Lie––––––– 5

Die Seitenangaben im Text orientieren sich im Folgenden an der Ausgabe Leo Perutz: Der Judas des Leonardo. Hrsg. v. H.-H. Müller, Wien 1994. Zitate ohne Verweis, wie das hier kommentierte, steuern nichts Substanzielles zum vorliegenden Text bei, sie finden sich gleichfalls im Roman.

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besverrats unwissentlich die Gelingensbedingung für Leonardos Kunstwerk erfüllt. Die Schlussbemerkung des Verfassers erst vermag der Figur des Mancino eine nachgereichte deutliche Eigenständigkeit dieser funktionalen Charakterisierung gegenüber einzuräumen; dies wird zu späterem Zeitpunkt noch eine Rolle spielen. Die Metaphorik von Exposition und stringenter Durchführung des Materials soll noch von weiterem Nutzen sein, denn ersichtlich handelt es sich beim Judas des Leonardo um einen Figurenroman. Zum einen scheint sich das Fortschreiten der Romanhandlung unmittelbar aus den Charakteristika seiner Personen zu ergeben: Wenn Leonardos Kunstverständnis ihn zur Suche nach einer geeigneten Vorlage verdammt und Behaims Handlungen durch seine Krämerseele determiniert scheinen, dann bedarf es seitens des Erzählers kaum der Einführung weit reichender Hilfsannahmen, um eine dichte Handlung aus diesen Motiven zu knüpfen. Zum anderen aber werden die Figuren schon dadurch in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt, dass der Modus ihrer Charakterisierung überwiegend ein mittelbarer ist: Nicht explizite Verdikte eines Erzählers legen ihnen ihre Attribute bei, vielmehr sind es die gewichtigen Strecken der Figurenrede, die Anlass zu Rückschlüssen auf die Verfasstheit ihrer Sprecher zu geben geeignet sind. Und obgleich auf diese Weise den Akteuren reichlich Gelegenheit zur Selbstdarstellung gegeben ist, wird man sich des Eindrucks kaum erwehren können, dass ihr Auftreten im Roman stets mindestens im gleichen Maße der Exemplifikation bestimmter Typen dient, wie der Schilderung kontingenter Individualitäten. Solche Veranschaulichung eines Figuren-Typus ausgerechnet anhand der individuell ausgeformten Redeanteile einer Einzelfigur zu erzeugen, gelingt Perutz mittels einer raffinierten Erzähltechnik, die dem Roman in allen Kapiteln unterliegt. Während nämlich die eigentümliche und historisch glaubhafte ›Ausdrucksweise‹ ihrer Rede den Figuren persönliche und lebhafte Züge verleiht, leisten Bestandteile des ›Gehalts‹ ihrer Äußerungen die Sortierung der Figuren zum zugehörigen Typus: »›Nehmt Euch in acht!‹ fuhr der Deutsche auf. ›Wie vermeßt Ihr euch, von ihr zu reden? […] Ich will meinen Spaß mit ihr haben, und das ist alles. Was Ehre! Blitzelement, wenn die Suppe gut ist, was schert mich da der Teller?‹« (S. 37) Ohne Gefahr zu laufen, seine Figuren durch explizite moralische Wertungen von seiner Warte aus zu holzschnittartigen Simplifizierungen verkommen zu lassen, kommuniziert der Erzähler auf diese Weise normative Aussagen, in deren Geltungsbereich für mehr als nur ein Individuum Platz zu sein scheint. All das, was wir über die Protagonisten auf diese Weise in ihren eigenen Worten erfahren, steht überwiegend im Bezug zur erzählten Gegenwart, weder umfangreiche Vorgeschichte noch Hintergrundmalerei geben Anlass, von den Haupthandlungen allzu weit abzuschweifen. Schenkte man seiner eigenen Auskunft Glauben, so ist die Geschichte des Kaufmanns Behaim »eine geringe Sa-

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che, kaum des Erzählens wert« (S. 189). Dass es sich hierbei wohl doch eher um ein understatement anlässlich der willkommenen Audienz beim Meister Leonardo handelt; dass auch er selbst die Geschehnisse der letzten Tage, die er daraufhin zu berichten anhebt, nicht für ein ganz so Geringes erachtet, lässt schon die Art und Weise erkennen, wie Behaim sich während seines Berichts geriert: »Er hielt inne und blickte in tiefes Nachdenken versunken vor sich hin, und dann fuhr er sich mit der Hand heftig über die Stirne, als wollte er aus seinen Gedanken das Bild verscheuchen, das er mit seinen Worten hervorgezaubert hatte.« (S. 190) Man sollte doch meinen, es koste einen, der wirklich nur auf die Suppe aus war, ohne sich aber um den Teller zu scheren, weit weniger Mühe, das Bild seiner verflossenen Geliebten hinter sich zu lassen, auf deren Kosten er es vortrefflich verstanden hat, sich seinen Spaß zu verschaffen. Deutet sich hier etwas wie ein moralisches Bewusstsein des Kaufmanns an? Sollte eine Nacht des inneren Zwiespalts es tatsächlich vermocht haben, Behaim in kritische Distanz zu seiner noch kurz zuvor vollmundig verkündeten Handlungsmaxime zu bringen? In der Erzählung findet sich eine Passage, die für sich genommen diesen Eindruck zu erwecken im Stande wäre: »Nein, es ist nichts als eine törichte und lästige Begehrlichkeit, die über mich gekom men ist, und, wahrhaftig, ich bin auf gutem Weg, sie zu überwinden!« […] In seine Erinnerung drängte sich der unvergeßliche Augenblick, in dem er erkannt hatte, daß alle Wunder der Welt nur Plunder waren gegen die Freuden, die er in ihren Armen genoß, aber statt der Seligkeit und des Entzückens jenes Augenblicks fühlte er Schmerz, Scham, Trauer und Verzweiflung, die wie eine Sturmflut über ihn hereinbrachen. »Es ist ja nicht wahr!« schrie es in ihm auf. »Alles Lüge! Warum belüge ich mich? Wie kann ich’s denn überwinden, es ist zu schwer, wie kann ich sie vergessen, sie wird immer da sein [...].« (S. 145)

Für die moralische Bewertung der Figur des Behaim gleichermaßen wie für eine angemessene Charakterisierung des durch ihn exemplifizierten Typus ist es nicht unerheblich, ob man den Erzähler hier beim Wort nehmen darf. Denn handelt es sich bei dem, was Behaim seine verzückte Erinnerung vor Augen führt, wirklich um eine Wahrheit, wie die Wahl des faktiven Verbums in eben angeführter Stelle uns unmissverständlich zu verstehen gibt,6 so wäre es an Behaim, dem erworbenen Wissen die angemessenen Konsequenzen folgen zu lassen – zumal ihm doch die Antwort auf die selbstaufgeworfene Frage, warum eigentlich er sich in selbstbetrügerischen Lügen übe, mit erstaunlicher Leichtigkeit von den Lippen geht, wenn er konstatiert: »Ich hatte sie allzusehr geliebt, und das ließ mein Stolz ––––––– 6

Verben wie ›erkennen‹, nenne ich ›faktiv‹, da das Erkennen von p bereits die Wahrheit von p verbürgt – wenn wir hier davon ausgehen dürfen, dass »erkennen, dass p« »wissen, dass p« impliziert.

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und meine Ehre nicht zu.« (S. 191) Behaims seelische Zerrissenheit vermag also mitnichten eine Wandlung seines ethischen Bewusstseins herbeizuführen, die von Dauer ist; was er im Moment seiner Verzweiflung zum Ausdruck bringt, ist nichts als das Zeugnis einer allzu rasch vergänglichen Hellsichtigkeit. Die charakterliche Verfehlung des von Behaim verkörperten Personentyps besteht darin, dass er letztendlich dort kaufmännische Rationalität walten lässt, wo sie keinen Platz hat – in Dingen der Liebe –, zugleich aber seinen Emotionen die Oberhand über seine Entscheidungen gewährt, wo allein ökonomische Rationalität schon ihm den Verzicht nahe legen müsste: Der Umstand, dass er sich für eine nach seinen eigenen Maßstäben unbedeutende Summe bereit findet, seine Liebe aufzuopfern, belegt dies nicht weniger, als Behaims geradezu zwanghafte Gewohnheit, sich auch im Ausdruck seiner Gefühle des Vokabulars der Kaufmannstätigkeit zu bedienen.7 Eine Variation dessen, was an anderer Stelle über Leonardos Kunstschaffen befunden wird, könnte, nun aber auf Behaim gemünzt, folgendermaßen lauten: Er müsste ein Weniges von seinem Stolz und seinem Geschäftssinn vergessen, um wieder lieben zu können.8 Mit dieser Einschätzung qualifiziert sich Behaim nicht nur dafür, seinen Teil zum Abendmahl des Leonardo beizutragen, sondern reiht sich zugleich noch in den Kreis der Gescheiterten des Judas des Leonardo ein, ist es ihm doch gelungen, in einem Handstreich sich und andere um einen glücksverheißenden Lebensentwurf zu bringen, dessen Erreichbarkeit in seinen Händen lag und für dessen Umsetzung er nicht einen Finger zu rühren gewagt hat. Es gibt einen, der wohl noch das Wenige, was er besaß, dafür gegeben hätte, im rechten Augenblick an Behaims Stelle vor der Tochter des Boccetta stehen zu dürfen. Und so führt mit der Gestalt des Dichters Mancino die Geschichte ein genaues Gegenstück zum Handlungskalkül des Kaufmanns vor – dass dabei das Einzige, was Mancino in einem verzweifelten Ehrenrettungsversuch Niccolas letztendlich lassen darf, ausgerecht sein Leben ist, verleiht seiner Figur nicht nur Glaubwürdigkeit in moralischer Hinsicht, sondern unterlegt dieser vor allem einen bitteren Zug. Denn schließlich ist es auch Niccola nicht entgangen, wie es um Mancinos Verehrung ihrer selbst steht, wenn sie den Dichter dem Kaufmann gegenüber folgendermaßen ins Verhältnis setzt: »Er liebt mich, müßt ihr wissen, ––––––– 7

8

Vgl, dazu besonders S. 105: »›Du hast mir‹, sagte Behaim, ›als wir uns zum erstenmal begegneten, einen Kuß und noch viel mehr verheißen.‹ […] ›In deinen Augen lag ein Versprechen. Und nun, da unsere Sache in gutem Gang ist, verlange ich, daß du es einlöst.‹« Im Original der Schatzmeister Landriano: »Er müßte ein Weniges von seiner Kunst und seinem Wissen vergessen, um wieder schöne Werke zustande zu bringen« (S. 12); vgl. dazu auch Behaim: »Ja, in Wahrheit, das wäre ja wider alle Vernunft, daß ich in Liebe zu der Tochter des Boccetta verharre […]« (S. 145).

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er liebt mich weit mehr, als Ihr mich jemals lieben werdet […]« (S. 93). Warum aber der Kaufmann letztendlich den Vorzug erhält, das wiederum scheint Mancino nicht unbekannt zu sein, wenn er sich seine eigene Lage so vor Augen führt: Oh wehe, wie kam es, daß meine Jugend von mir schied, wie ist mir das geschehen, wann war das? […] Hohl die Augen, stumpf der Blick, die Wangen faltig wie ein alter, verschrumpfter, weggeworfener Handschuh von Hammelleder. Das bist du, und du willst Liebe von ihr, und dabei weißt du, daß sie deiner nicht achtet und sich mit einem anderen zusammengetan hat. (S. 154)

Dass Mancinos Scheitern in gänzlich kontingenten Umständen seiner Lebenswirklichkeit begründet liegt und nicht durch Züge der Selbstverschuldung wie in Behaims Fall bestimmt ist, wird in obiger Selbsteinschätzung Mancinos unschwer auszumachen sein. Vielmehr mag es aber verwundern, solch zutreffende Rede gerade aus dem Munde desjenigen zu vernehmen, der doch in der »Ballade von den Dingen …« von sich zu berichten weiß, dass er sich selbst am allerwenigsten kenne. Gerade diese interne Spannung soll uns dazu verhelfen, den durch Mancino vorgestellten Künstlertypus näher in den Blick zu bekommen. Zunächst ist es bezeichnend, dass es sich bei den Werken Mancinos, die dem Leser zuteil werden, um Balladen und Lieder handelt. Dieser musikalische Anklang bringt seine Kunst in gewollte Nähe eines Diktums, das ganz in Mancinos Umfeld über musikalischen Kunstwerke gewagt wird. Dort heißt es, dass sie dank ihres temporalen Charakters, kaum geboren, schon zum Sterben verdammt seien.9 Auf diese Weise bildet Mancinos Schaffen in der erzählten Geschichte den künstlerischen Gegenpol zu jenen Werken, die wie solche der Malerei antreten, um »ruhmvoll und in Herrlichkeit« bestehen zu dürfen. Diese Opposition geht Hand in Hand mit dem durch die Figur des Mancino verkörperten Lebenskonzept. Denn seine Kunst ist eine intuitive, deren Produktion nicht von Konzepten der Veranschaulichung oder der Erkenntnisträchtigkeit gesteuert erscheint; seine Werke sind nicht auf die Generalisierbarkeit ihrer Aussagen gerichtet. Ihr Entstehungsprozess unterliegt allenfalls der Eingebung eines Augenblicks, das eine Mal die Verehrung für die angebetete Niccola, das andere Mal die Aussicht, sich auf diese Weise zu einem Abendessen verhelfen zu können. Entsprechend wechselhaft stellt sich Mancinos Lebenswandel dar, der seine Begrenzungen weder in der Reibung zu den Gesetzen des Herzogtums, noch aber in der Befolgung eines erkennbaren abstrakten Prinzips zu finden vermag. Schließt also die »Ballade von den Dingen …« mit der Klage des Künstlers darüber, in Unkenntnis des eigenen Ichs befangen zu sein, so findet sich darin kein Wider––––––– 9

Vgl. S. 132: »Denn sie stirbt nicht wie die Musik, kaum daß sie geboren ist, nein, ruhmvoll und in Herrlichkeit bleibt die Malerei bestehen – «.

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spruch zur Fähigkeit des Künstlers, zutreffende Einschätzungen der eigenen Lage und Verfasstheit geben zu können.10 Vielmehr drückt sich in der fraglichen Sentenz eine Diskontinuitätserfahrung aus, die ganz dem umrissenen Lebenskonzept verpflichtet scheint. Denn was Mancino vorenthalten bleibt, ist nicht ein präziser gegenwartsbezogener Zugriff auf seine Persönlichkeit – diesen vermag er in traumwandlerischer Sicherheit zu leisten –, sondern ein Wissen, das es ihm ermöglichen würde, mit seiner Identität eine konsistente Geschichte assoziieren zu können. Ohne diese Anschließbarkeit aber verbleiben ihm nur ungewisse Träume und Ahnungen um die eigene Vergangenheit, und es ist die hieraus resultierende Ungewissheit, der im stets momentbezogenen Charakter seiner Kunst Ausdruck verliehen wird. Einer Figur wie der des Mancino ist bereits in motivischer Hinsicht nur eine äußerst bescheidene Portion des Glücks in der Welt des Romans beschieden. Dass nämlich ausgerechnet der eigentlich Behaim zubestimmte Vino Santo des Lammwirts nach Vortrag seiner Verse an Mancino geht (S. 51), dem er in jeder Hinsicht viel eher zur Ehre gereicht, als dem Kaufmann, bleibt nicht die einzige anspielungsreiche Verknüpfung der beiden Handlungsträger. Denn gelingt es Mancino zwar, ahnungsvoll zu prophezeien, dass es mit Behaim, Niccola, dann aber auch mit ihm selbst letztlich kein gutes Ende nehmen wird, so muss es gerade jenes Tüchlein sein, welches er Niccola einst zum Geschenk reichte, das die unglückselige Verbindung ganz gegen seinen Willen erst in die Wege leiten wird (S. 74). Und so fungiert Mancino gleich in zweifacher Weise als Brückenfigur. Denn mit der gleichen gefühlsmäßigen Treffsicherheit wie der seiner Voraussagen vermag er schließlich auch Leonardo in der Gestalt Behaims denjenigen zu geben, der tatsächlich unter Leonardos Begriff der Judassünde fällt – ohne aller Wahrscheinlichkeit nach dafür überhaupt über die entsprechende begriffliche Kompetenz verfügen zu müssen. Verweilen wir, bevor wir uns der zweiten These und damit erst dem fehlenden Dritten des Romans zuwenden, einen Augenblick bei diesen beiden so gegensätzlichen Protagonisten. Ihre Geschichten mögen auf inhaltlicher Ebene noch so komplex, andeutungsschwanger oder künstlerisch verwoben sein, legt man einen moralischen Maßstab an die durch sie vorgestellten Typen an, dann ergibt sich nach der hier vorgeschlagenen Lesart zunächst kein großer Spielraum für interpretatorische Wagnisse: Der Kaufmann versündigt sich, seinem rationalistischen Berufsgebaren zum Opfer gefallen, in Willensschwäche an seinem und dem Glück anderer und wird schließlich kontrastiert vom Künstler und Außenseiter der Gesellschaft, der mindestens so uneigennützig wie nutz- und folgenlos ––––––– 10

Die »Ich«-Anfänge der Verse dieser Ballade dürften von daher kein Zufall sein.

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sein Leben ungewollt der Angebeteten zur Verehrung darreicht, die sich nach einem missglückten Befreiungsversuch aus den erbarmungswürdigen Zuständen im Haus des Vaters selbst ins beschauliche Familienleben zurückziehen darf. Der Künstler Leonardo aber, wie wir noch sehen werden, steht dem Guten in der Sterbestunde zur Seite, lauscht ihm bei dieser Gelegenheit die Verfehlungen des Kaufmanns ab, um damit den Schuft und sein Schicksal ein für alle Mal der Welt mahnend vor Augen zu führen. Eben diese Lesart scheint aber der Literatur zum Judas zuweilen ein Dorn im Auge zu sein: Die im Judas des Leonardo durchaus angelegte Eindeutigkeit der moralischen Wertung: Behaim als Täter, Niccola als Opfer wird auf der Ebene der Interpretation ungefragt weitergeführt, anstatt sie kritisch auf die Anlage des Ganzen zu beziehen. Mit dieser affirmativen Lesart gerät das Werk aber in bedenkliche Nähe zur Trivialliteratur. 11

Tatsächlich muss das hohe Maß an Linearität und Einfachheit der dargestellten Handlung spätestens dann aufmerken lassen, wenn die Stoffe anderer Perutz’scher Werke als Kontrastklasse hinzugezogen werden. Dort nämlich wird der Leser mit schöner Regelmäßigkeit vor die Wahl gestellt, sich entweder mit einer einfachen Lektüre abfinden zu müssen, die ein Erfassen der erzählten Geschichte in Gänze deutlich nicht gewährleistet, oder aber ein interpretatorisches Engagement an den Tag zu legen, das es erlaubt, nicht explizierte Bestandteile oder Facetten von Handlungen und Figuren erst aufgrund der Analyse der Erzählstrukturen zu erschließen. Verglichen damit ermangelt es dem Judas des Leonardo tatsächlich an erzählerischer Doppelbödigkeit: Die Figuren samt der ihnen zugeordneten Typen weisen keine erst implizit erschließbaren Charakterebenen auf, Handlungsmotive und seelisches Innenleben müssen nicht erforscht werden, sondern werden verlässlich präsentiert; die Verknüpfung der Handlungsstränge erfolgt nach dem Prinzip der Funktionalität. Hält man bei diesem Befund einer spannungserzeugenden erzählerischen Kunstfertigkeit inne, was die Gesamtwertung des Romans betrifft, so steht die Schublade der gehobenen Unterhaltungsliteratur tatsächlich weit offen. Nun gibt es unterschiedliche Wege, solch einem Befund die Schärfe zu nehmen. Eine vom Leser mittels komplexer Hilfsannahmen zu erschließende Lesart in Anschlag zu bringen, der zufolge Mancino zum Judassünder an der eigenen Poetik wird, Behaim aber unvermutet als Christus identifiziert werden kann, der, von Leonardo zu Unrecht angeklagt, als Bote der Völkerverständigung in die

––––––– 11

Mandelartz: Kunst als Instrument (Anm. 3), S. 192.

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Welt fahren darf,12 ist mit den bisher konstatierten Befunden zur Figurenkonzeption im Judas schlichtweg nicht verträglich. Vielleicht aber muss eine derartige tour de force dem Leser auch nicht zugemutet werden. Was nämlich einer Trivialitätsthese für gewöhnlich zugrunde liegt, ist die Annahme, dass eine Erzählung in dem Maße der Unterhaltungsliteratur zuzuordnen sei, wie sie ohne sichtbaren Leserappell zur Reflexion des Dargestellten auf die Bedienung konsumistischer Lesebedürfnisse zurechtgeschnitten ist. Aufgehoben wird solches Verdikt der Trivialität dagegen in mindestens zwei Fällen. Erstens, wenn die angegebene Bedingung nur scheinbar erfüllt ist, sich also eine inhaltlich angereicherte Lesart ermitteln lässt, zweitens aber, wenn die zunächst angeprangerte erzählerische Konventionalität einem übergeordneten ästhetischen Ziel als Mittel zur Umsetzung zu dienen vermag. Findet sich tatsächlich kein interpretatorischer Spielraum für das erste Manöver;13 bleibt uns immer noch die zweite Hintertreppe. Schließlich wird es dem aufmerksamen (wenn auch nicht dem süffig konsumierenden) Leser kaum entgehen können, dass mit den beiden Künstlertypen Mancino und Leonardo unter der Hand auch Kunstkonzepte in den Roman eingeschleust werden, deren eines wir bereits kennen gelernt haben. Die, so mein Vorschlag hier, angemessenste Weise also, auf einen Trivialitätsvorwurf zu reagieren, führt uns direkt zu der noch ausstehenden zweiten These und damit zu demjenigen, dessen Figur wir bisher ausgespart hatten. »Dann also zur Sache!«

3. Leonardo und Perutz »[Ein] Basissatz der Handlungsgrammatik von Perutz’ Helden lautet: was sie wollen, erreichen sie zumeist nicht, was sie bewirken, haben sie zumeist nicht gewollt.«14 So wird der Eindruck, den wir bisher von Mancino und Behaim gewonnen haben, an anderer Stelle elegant auf eine Formel gebracht. Trifft sie zu, dann wohl auch auf die Figur des Leonardo. Wem diese Schlüsselfigur des Romans sein Leben verschrieben hat, daraus macht die Geschichte wahrlich kein Geheimnis: »›Ich diene‹, sagte Leonardo, ›keinem Herzog und keinem Fürsten, und ich gehöre keiner Stadt, keinem Lande und keinem Reich. Ich diene allein meiner Leidenschaft des Schauens, des Erkennens, des Ordnens und des Gestaltens, und ich gehöre meinem Werk.‹« (S. 196) Nimmt man diese Festlegung auf eine ––––––– 12

13 14

Siehe Mandelartz: Kunst als Instrument (Anm. 3), darin besonders Teil II. Meine Lesart hält es dagegen eher mit einer der Randfiguren des Romans, die von Behaim zu berichten weiß: »Auf einem solchen Acker läßt Gott keinen Samen aufgehen.« Was ich hiermit behauptet, aber nicht gezeigt haben will. Hans-Harald Müller: Leo Perutz, München 1992, S. 125.

Leonardo: Perutz: Mancino

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künstlerische Maxime ernst, und das sollte man, dann wird deutlich, dass die Anleihe, die Leonardo für sein Werk bei der Geschichte des Behaim tätigt, vielleicht ein Schelmenstück ist, das ihm nicht ganz ungelegen kommt, dass aber das ästhetische Ziel seiner Kunst sich in der beiläufigen moralischen Verurteilung oder Brandmarkung des Kaufmanns nicht erschöpft. Kaum ein künstlerisches Konzept könnte in größerem Gegensatz zu dem des Mancino stehen, als das des Malers Leonardo. Denn während der Dichter seiner Aufgabe gerecht wird, indem er seiner schwer zugänglichen und verworrenen Persönlichkeit in Momentaufnahmen ohne Allgemeingültigkeit Ausdruck verleiht, trachtet Leonardo danach, durch präzise Beobachtung der Wirklichkeit zur Erkenntnis allgemeingültiger Prinzipien zu gelangen, deren Anspruch weder auf die Person des Künstlers zurückverweist, noch auf diesen beschränkt ist. Dementsprechend anders gelagert sind die Adäquatheitskritierien seiner Werke in Bezug auf diesen Anspruch. Ihre Ordnung und Gestaltung können nur dann als gelungen gelten, wenn sie nicht nur detailgetreu in der Wiedergabe der Wirklichkeit ausfallen, sondern darüber hinaus eine Veranschaulichungsleistung erbringen, die es erlaubt, den dargestellten Einzelfällen abstrakte Begriffe zuzuordnen, die den maßgeblichen kognitiven Gehalt dieser Werke ausmachen. Vor diesem Hintergrund erlegt sich Leonardo auf, im Abendmahl dem Begriff der Judassünde in seiner Auslegung bildliche Exemplifikation zu verleihen. Mit seinem strengen Anspruch der Wirklichkeitsentsprechung seiner Darstellungen hat es die Geschichte dabei diesmal scheinbar gut gemeint; der Kaufmann Behaim ist ein Musterexemplar desjenigen, der seine Liebe dem Stolz zum Opfer fallen lässt. Dass aber sein Kunstkonzept an anderer Stelle zum Scheitern verurteilt ist, das hätte dem kognitiv hochentwickelten Künstler Leonardo eigentlich gerade angesichts der Geschichte des Kaufmanns auffallen dürfen. Seine Werke zielen darauf ab, dem Betrachter eine Transferleistung zu ermöglichen, die im Falle des Abendmahls von der Physiognomie des Dargestellten zu den veranschaulichten Begrifflichkeiten führen müsste. Dafür, dass ein solcher Übergang aber alles andere als eine Trivialität ist – wie hoch die Detailtreue einer bildlichen Darstellung auch sein mag –, ist Leonardo tückischerweise selbst der beste Beleg; in eben der gesuchten Pose mit gezücktem Münzbeutel tritt Behaim Leonardo nämlich nicht das erste Mal unter die Augen bei seiner abschließenden Audienz. Seine eigene Kunstkonzeption bringt ihn in eine Zwangslage, aus der ihm nur der hochgeschätzte Künstlerkollege Mancino helfen kann. Denn erst als dieser ihn im Sterben auf den Kaufmann verweist, hat der Maler die Bausteine zusammen, auf die im Roman planvoll verwirrend Bezug genommen wird und zwischen denen hinsichtlich des Gemäldes eigentlich nur Leonardo noch trennscharf unterscheiden kann. Da wäre zunächst der singuläre Term ›Der Judas‹, in der Verwendungsweise, wenn mit ihm auf den historischen, biblisch verbürgten Judas Bezug genommen wird, die Person, deren Sünde Leonardo auslegt und zu veranschaulichen trachtet. Dann

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aber derselbe singuläre Term mit ganz anderer Bedeutung, wenn er nämlich im Munde der Betrachter des Gemäldes der Bezugnahme auf den Kaufmann Behaim dient.15 Weiterhin wird in abgeleiteter Bedeutung auch Leonardos Bildnis des historischen Judas mit ›Judas‹ bezeichnet und schließlich findet der Ausdruck ›Judas‹ nicht zuletzt Verwendung als genereller Term, um so den Begriff auszudrücken, unter den solche fallen, die sich der Judassünde schuldig gemacht haben. Da mag es nicht verwundern, dass die Kunstreisenden im Kloster Santa Maria della Grazie beim gleichzeitigen Anblick des bildlichen sowie des lebendigen Judas dem Gemälde eine nur ganz eingeschränkte Deutung zukommen lassen: seine Auslegung als Verweis auf den unter ihnen weilenden Sünder und damit, wer will es den Betrachtern verübeln, nicht zwischen Geltungsanspruch und Genesekontext eines Werkes unterscheiden. Leonardos Leidenschaft des Ordnens und Erkennens seines Vorlagenmaterials sollte nun auch dem akribischen Quellensammler Perutz nicht ganz unbekannt vorkommen. Denn auch ohne dessen umfangreiche Studien nachvollziehen zu müssen, ermöglicht der Judas des Leonardo dem Leser bereits ein ständiges Wiedererkennen historischer Leihgaben auf Schritt und Tritt,16 ohne dass aber der Roman schon dadurch in das Fahrwasser der kognitiven Überforderung seiner Rezipienten gerät wie Leonardos Abendmahl. Wie das? Obgleich nämlich die Figuren des Romans in vielerlei Hinsicht ihr Korrelat in der Wirklichkeit besitzen mögen, ist es ihnen nicht vergönnt, mit der Abbildung eben dieser Wirklichkeit das ausschließliche thematische Material der Erzählung abzugeben. Vielmehr verweist gerade der Umstand, dass die künstlerische Gestaltung und somit der Genesezusammenhang eines Werkes selbst zum Gegenstand der erzählten Welt werden, den Leser auf eine Reflexionsebene, die weit über die bloße Veranschaulichung eines Prinzips wie das der Judassünde hinausreicht. Sollte damit bereits eine Trivialitätsthese in Bezug auf die Handlung abgewendet sein, so mag dennoch »Eine Schlussbemerkung des Verfassers« hier das letzte Wort haben. Denn will die Affinität Perutz’ zu Leonardos Sammlerleidenschaft noch so augenfällig wirken, so wirft dieser abschließende Bittgang des Verfassers für den Versedieb Mancino, der sich in seinem dichterischen Schaffen großzügig bei seinem Vorgänger Villon bedienen durfte, noch einmal ein anderes Licht auf die Frage nach der Kunstauffassung, der Perutz’ selbst im Judas huldigt. Der Künstler Mancino wird durch eben dieses Nachwort einer bloß funktionalen Rolle als Brückenfigur der Handlungsstränge enthoben und sein ästhetisches Konzept einer gefühlsmäßig hervorgebrachten und nur ebenso erschließbaren ––––––– 15 16

Siehe S. 202: »Hast du’s gesehen? Judas hat sich den Judas angesehen.« Vgl. dazu Müller: Die Bedeutung der Kunst (Anm. 1).

Leonardo: Perutz: Mancino

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Kunst auf elegante Weise in Balance zu Leonardos kognitiv anders gelagertem Werkkonzept gebracht: Sollte es im Laufe der Geschichte so gewirkt haben, als seien die liedhaften Verse eines François Villon nicht dazu geschaffen, wie die Malerei die Zeit zu überdauern, so wird ihnen hier eine Würdigung der besonderen Art zuteil, wenn sie stets auf wundersame Weise durch Gestalten wie die des Mancino zu neuem Leben erweckt werden dürfen. So mag Richard Bermann einmal mehr Recht behalten, wenn er Perutz’ Werke, erinnern wir uns, so charakterisierte: »Es ist alles echt, und so, als hätte er sich’s aus dem Finger gesogen« – dass also Perutz sich vor dem Hintergrund des Judas des Leonardo eher als Grenzgänger zwischen beiden Kunstkonzepten ausnimmt, der sein Material in der Manier des Leonardo zwar sichtet und studiert, dessen Durchführung der Stoffe aber keinerlei historischem Realismus verpflichtet ist und dem es schließlich gelingt, gerade in dieser Freude am Fabulieren sein Werk zu dessen eigenem Gegenstand zu machen. »Das war das Resümee. Es enthält in nuce alles, was ich zu diesem Gegenstand zu sagen hatte.«

Leo Perutz

Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto

Da wir eben das offene Meer verlassen wollten und der Mündung des Stromes zustrebten, da erreichte uns die schwarze Galiote, die schon des Morgens hinter uns aufgetaucht war. Jetzt aber fürchteten wir sie nicht mehr, denn inzwischen waren zwei florentinische Galeeren zu uns gestoßen. Und als sie an uns vorüber glitt, da erst erkannten wir sie und sahen, daß es das Schiff des Prinzen Michael von Byzanz war, jenes häßlichen und grausamen Mannes, der Irene, unseres Herzogs Enkelkind, zur Gemahlin hatte. Und da wir das Schiff erkannten, gerieten wir alle in Zorn, da doch Prinz Michael es war, der den edlen Herrn Guidotto Procida ermorden hatte lassen in der Stadt Byzanz von den gedungenen Knechten. – Wir riefen sie an und schrieen, sie mögen uns vorüberlassen, denn wir führten die Leiche des Herrn Guidotto an Bord. Sie aber taten das nicht, sondern segelten vorbei, doch ihr Kapitän, Simon Nicetius, der Bruder des einäugigen Nicolaus, des wildesten aus der Schar des Prinzen Michael, trat an den Bug des Schiffes, das »Maria vom Rosenkranz« hieß, und legte die Hände an den Mund und schrie: »Heda, Ihr! Wir können nicht warten! Wir segeln Tag und Nacht – !« Und: »Tag und Nacht – « klangs herüber und: »traurige Botschaft« und: »Prinzessin Irene ist todt – « und schon ganz aus der Ferne vom Winde herüber getragen: »Viertägig Fieber.« Darüber staunten und klagten alle unsere Schiffsleute sehr, ich aber nicht, der ich dies Ende schon lange geahnt.1 Denn nicht an Fieber ist die er––––––– 1

Perutz hat an mehreren Stellen auf den Rückseiten des maschinenschriftlichen Manuskripts Sätze notiert, die – wie auch der Haupttext ihrerseits handschriftlich nachkorrigiert – vermutlich als teils erzählende, teils dialogische Textbausteine für den auf der jeweils gegenüberliegenden Seite zu findenden Erzählabschnitt gedacht waren. Dies sei hier exemplarisch an den ergänzenden Fragmenten zur Manuskriptseite 2 (markiert durch die Einfügungen und ) demonstriert. Auf der gegenüberliegenden Rückseite der Typoskriptseite 1 notierte Perutz hierzu wie folgt: Und wer es nicht glaubt, wird ohne Zweifel in Ewigkeit verdammt sein. [Es gibt auch unverstandene und höchst liederliche Geistliche, die nimmt man bei uns als Seelsorger auf Galeeren.] »Galeerenpfaff« Verständige und gelehrte Männer, die in der hlg. Schrift bewandert sind.

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lauchte Frau gestorben, sondern an Gift. So fuhren wir stromaufwärts, bis wir nach Florenz kamen, wo wir die Leute in Scharen auf den Straßen stehen und um die Prinzessin Irene klagen sahen. Denn sie war unseres Herzogs, des Herrn Walther von Brienne, Enkelkind und unter den Bürgern dieser Stadt groß geworden, alle hatten sie lieb gehabt. Um Herrn Guidotto, dessen Leiche ich aus dem fernen Byzanz auf meinem Schiffe nach Florenz geführt, um Herrn Guidotto Procida klagte niemand. Denn er war für alle, die ihn einst gekannt hatten, todt seit langem. Sie hatten es wohl gewußt, daß er nicht mehr lebend zurückkehren könne aus der Stadt Byzanz, weil ihn die Griechen haßten, wie man die böse Pest haßt. So groß war die Feindschaft dieses Volkes, daß es sogar einstmals in unserer Mitte, hier in der Stadt Florenz, beinahe zum Kampf gekommen wäre zwischen Herrn Guidotto und den Leuten des Prinzen Michael. Bei jenem Gastmahl nämlich, das die Ubertis zu Ehren der Gesandtschaft aus Byzanz der ganzen Signoria gaben. Und auch lange vorher schon waren ihm die Griechen oftmals voll Feindschaft und Arglist entgegengetreten bei vielen seiner höchst seltsamen und traurigen Abenteuer. Aber dies alles wußte Herr Guidotto besser als wir und ist dessen ohngeacht in jene Stadt des Meuchelmords gefahren. Und warum er dies tat, das weiß keiner und keiner wird es erraten. Nur ich allein, ich weiß es, und ich sage Euch, es ist Torheit, was viele Leute sagen, daß er nämlich in Byzanz die schöne Evergisle suchen wollte, von deren sehnsüchtiger Liebe ihm späte Kunde geworden war. Denn wiewohl es wahr ist, daß die Jungfrau Evergisle ihr Leben in ungestillter Liebe zu unserem Herrn Guidotto Procida verbracht hat, so ist doch diese Heilige schon seit mehr als huntert Jahren todt; das wußte Herr Guidotto wohl. Nein, ein Anderes war es, das meinen Herrn Guidotto nach Byzanz gelockt hat, das aber weiß nur ich allein, der ich an einem herbstlichen Morgen voll Regen und Nebel und pfeifender Winde viele seiner vergangenen und kommenden Abenteuer an seiner Seite durchlebte, einstmals, an den Fenstern seines Landhauses am Flusse Arno. Und glaubt es mir, Leute, den Dolch, der ihm zu Byzanz

––––––– Allenthalben in Italien habe er gepredigt und überall ist er aufs höchste geehrt worden. Er ist kein Gottesgelehrter, aber ein tüchtiger und wackerer Mann, der überall geachtet wird. Er ist bei seinen Studien ergraut und hat noch dazu eine Menge Bücher bei sich. Er kann kaum in seinem Missale lesen. Lieblich ist die Barmherzigkeit. Große Verdienste erwirbt sich, der sie übt. Jener Glorreiche. Er ist der Bekenner, der gebenedeite heilige Martin. Denn er war vom heiligen Geiste entzückt. Und damit pax und benedictio.

Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto

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das Leben raubte, den trug er schon lange in Florenz im Herzen und – so beganns: ***** Wie erging es Euch doch damals, Ihr Händler und Krämer, mit Herrn Guidotto Procida! Als Ihr erfuhrt, daß er wieder nach Florenz zurückgekehrt sei, nachdem er drei Jahre in der Ferne geweilt, da kamt Ihr eilig mit Euren Brokaten und Damasten, mit Eurem silbernen Tafelgeschirr, mit Euren Perlen und Spangen und geschnittenen Steinen und hofftet, daß er dies alles wieder als Geschenk für Madonna Tessa und Madonna Helena und Madonna Bella kaufen und teuer bezahlen werde, wie er es früher so oft getan. Denn diese drei Damen, die hatte er sehr geliebt zu Zeiten, bald der einen, bald der andern war er verehrend zu Füßen gelegen, der edeln Bella Ginori zumal, in deren Haus viele der vornehmen Jünglinge dieser Stadt auch heute noch als Gäste ein und ausgehn. Aber so erging es Euch diesmal, Ihr Händler und Krämer mit Herrn Guidotto! Eure kostbaren Steine und Eure edeln Stoffe, die sah er kaum an und so mußten Eure Esel den weiten Weg so schwer beladen zurücktraben, wie sie gekommen. Und Ihr ginget scheltend neben ihnen her in der Sonnenglut. Und als Ihr des Mittags vor Eure Häuser kamt, da rieft Ihr den Nachbarn hinauf, daß Messer Guidotto Procida nicht mehr in die schöne Bella Ginori verliebt sei. Und Eure Weiber begannen zu fragen und zu schwatzen und von Fenster zu Fenster hin und her zu rufen, und viele Tage lang sprach man in den Gassen der Goldschmiede und der Seidenweber fort und fort von Messer Guidotto und Madonna Bella und daß des Herrn Guidotto Herz in der Fremde erkaltet sei. Aber was wißt Ihr, Leute, von Herrn Guidottos traurigen Abenteuern in fernem Land! Was wißt ihr vom tapferen Marschall Syrgiannes, seinem Freunde, den er in seinen Armen verbluten sehen mußte! Was wißt Ihr von Giovanni, dem stolzen Grafen von Arta, den Herrn Guidotto nicht zu retten vermochte, vor dem Gifte der Byzanthiner. Und was wißt Ihr von Evergisle von der schönen heiligen Evergisle, die ihm ein falscher Grieche vor mehr als hundert Jahren entrissen! Was wißt Ihr von ihr, die Herrn Guidottos schwermütigstes Erlebnis war, Ihr Händler, Ihr Krämer! ***** Durch die Gasse St. Giorgio schritt die junge Irene, des Herzogs Enkelkind, zweimal des Tages hindurch, wo sie ihr Weg in das Kloster der Unschuldigen führte. Ihr alle kennt sie, Bürger von Florenz, die heute todt ist. Ihr Gang ist wie ein Hüpfen der schlanken Rehe gewesen und manchmal wieder, da schien es als tanze eine junge Welle des Arno durch die Straßen. Schwarz waren ihre Augen,

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wie ein versprengtes Stücklein dunkler Nacht, das sich in den lachenden Tag verirrt. Und die Leute, die warteten stundenlang in der Straße von St. Giorgio auf ihr Kommen und die Weiber gar, die drehten und wendeten und reckten die Hälse an den Fenstern und hoben die Kinder empor, und nur Herr Guidotto Procida, der ging damals stumm und achtlos an ihr vorbei. Leichten Schrittes kam sie ihm entgegen, ihre Blicke verfingen sich in seinem dunkeln Gelock und lösten sich, da sie vorüber mußte, nur langsam and schwer von seinem Antlitz, er aber ging in tiefen Träumen. Er dachte an die Regennacht, vor Giovanni d’Artas trostlosem Sterben, da er das blanke Schwert in der Faust Wache hielt vor dem Turm von Arta, er dachte an das traurige Lächeln der heiligen Evergisle, das nie von ihrem Antlitz gewichen war. Und erst, als Irene längst vorüber geschritten war, da erwachte ihm ein seltsamer und sehnsüchtiger Schmerz in der Brust, so daß er stehen blieb und sich ans Herz griff mit der rechten Hand und sagte: »Wie ist mir? Komme ich nicht eben aus dem Schlafgemach der dunkeln Königin Dione, ihre leisen Küsse und das Streicheln ihrer sanften Hand noch auf der Stirne? Oder war es nicht heute, nicht eben erst, daß ich mit der Fürstin von Arta, Isabella, der schlanken, und Juliana, ihrem zarten Kind, zu Pferd nach den Blauen-Hügeln von Krine jagte? Schritt nicht eben Syrgiannes stahlgepanzert klirrend neben mir her? Mir ist als fühlte ich den süßen Schmerz der vergangenen Jahre. Was suchst Du bei mir, Du seltsamer Schmerz, hier in den Straßen der Stadt Florenz! Wie fandest Du her zu mir aus den fernsten Ländern, Du Bote vergangener Zeiten, den ich weit jenseits der blauen Meere verloren wähnte? Wie kommst Du so plötzlich her und was suchst Du bei mir? Und bringst Du mir Grüße von der süßen Juliane, die im Meere ruht, oder von meinem Helden Syrgiannes? Sind denn nicht alle todt, von denen Du mich grüßt?« Es ließ aber dieser Schmerz nicht nach, so daß der Herr Guidotto sich umkehrend fragte: »Was hab’ ich doch eben Süßes und Betörendes gesehen, daß mir mit einem Male so kühn und fröhlich zumute ist? Mein Herz ist plötzlich voll von stolzen und verwegenen Plänen! Was war’s doch, das ich sah?« So ging er langsam den Weg, den er gekommen war, zurück, die Straße hinab, die aber lag nun still und leer. Und grübelnd und sinnend schritt er dahin, und scheuchte die Tauben vor sich auf mit jedem seiner Schritte in der stillen Gasse und ging, bis er an den Laden des Goldschmieds Ruggieri Zotto kam, dort trat er ein und sagte: »Meister! Welchem unter Deinen Steinen ist ein Leuchten eigen solcher Art, daß man ihn weit, bis über die ganze Straße hin erblickt. Gott helfe mir, Meister! Einer von Deinen Steinen war’s, dessen Zauber mich aus dem schweren Bann meiner traurigen Gedanken gerissen hat und mich so fröhlich gemacht hat, als stünde mir ein großes Glück bevor.« Und der Goldschmied Ruggieri zeigte ihm eifrig die Rubine und die edeln Smaragde und seinen seltenen und wunderkräftigen Stein Heliotrop, doch Messer Guidotto griff nach einer Perle und sprach: »Meister, bei Gott, wahrlich nun

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entsinne ich mich! Dieser Stein war’s, dessen Leuchten über die Straße hüpfte.« Und er kaufte die Perle, die war schwarz von Farbe; die war wie ein versprengtes Stücklein dunkler Nacht, wie eines tiefen Frauenauges Glänzen. ***** Seht, es taucht ein Name auf unter den Bürgern der Stadt Florenz, der ihnen allen fremd war, den keiner kannte. »Evergisle«, so hieß dieses Wort, niemand wußte, wer diesen Namen trug, aber alle sprachen ihn nur flüsternd und voll ehrfürchtiger Scheu. Es ging eine Rede unter den Leuten, daß dies eine Jungfrau sei, von hohem Adel und stolzer Schönheit, eines Heidenkönigs dunkles Kind, das Herrn Guidottos Herz also hätte vergiftet, daß ihn keines Mädchens Lächeln mehr erfreute, daß er keines Mädchens Lippen mehr begehrte. Andere aber sagten, daß sie eines Fischers fromme Tochter sei, am See Genezareth im heiligen Lande, eines Erzengels angelobte Braut, und für immer verloren für Herrn Guidotto. Herr Sandra Baronci aber, den die Leute oftmals fragten, weil ihn seine arge Häßlichkeit und Mißgestalt und der Spott der schönen Damen von Florenz bis auf die fernsten Inseln getrieben, selbst dieser kannte sie nicht und hatte diesen Namen nie vernommen, ob er gleich vieler Völker Städte und Länder gesehen hatte und dem Herrn Guidotto oftmals begegnet war auf seinen Fahrten. Es ward dieses fremde Wort »Evergisle« den jungen Rittern dieser Stadt wie eine Verheißung von kommenden Taten, wie ein Sang von den Herrlichkeiten der fernen Länder. Es ward ihnen dieser Name wie ein lockender Ruf, der die kühnen Jünglinge in die weiten Reiche des Ostens zieht, wie ein leises Lied in einer stillen Nacht vom Winde über Meere und Länder geweht. Und oftmals hatten sie den Herrn Guidotto mit Fragen bestürmt und zu hören verlangt, wo er diese Jungfrau gefunden und was sie ihm gewesen und welche Sprache jene sei, in der die Leute ihres Volkes beteten. Aber nichts konnten sie ihm von diesem seltsamen Erlebnis entreißen und nur dieser eine Name »Evergisle« blutete fort und fort aus seinem Munde. Und als dieses Wort also eilte von Mund zu Mund, da geschah es, daß es auch dem Herzoge zu Ohren kam, dem Herrn Walther von Brienne, der damals in Florenz herrschte und er berief Herrn Guidotto Procida zu sich. Und als der vor ihm stand, da erkannte er ihn anfangs lange nicht. Denn er entsann sich zwar wohl eines wilden und tollen Messer Guidotto aus dem Feldzug wider die Lucchesen, eines Jünglings der stets voll kühner Gedanken und übermütiger Pläne war. Nun aber fand er einen, der stand stumm und mit gesenktem Haupte vor ihm und wartete seiner Rede. Dies sprach der Herzog: »Messer Guidotto, lieber Freund, Ihr waret so lange in den fernen Ländern und kennet vieler Völker Sprache und Sitte. Und so dachte ich mir denn, daß ihr wohl der tüchtigste wäret, dem Prinzen Michael und sei-

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nen Leuten, die in wenigen Tagen diese Stadt besuchen, nach Rom entgegenzureiten und sie wohl hieher zu geleiten.« Da war dem Herrn Guidotto bleich das Antlitz vor Zorn und Unmut und er sprach: »O Herr, so Ihr wollt, daß ich dies tue, was Ihr befehlt, dann sollt Ihr mir die rechte Hand abschlagen und aus dem Munde die Zunge reißen. Denn so oft ich dem Prinzen Michael begegnete, da mußte meine Rechte nach dem Schwerte greifen und meine Zunge suchte nach den wildesten Worten!« Da fragte der Herzog: »Was tat Euch der erlauchte Prinz? Und wo seid Ihr ihm begegnet?« Herr Guidotto hub zu klagen an: »Ein Dämon der Hölle ist der Prinz Michael, kein erlauchter Herr, und Satan selbst hat ihn auf meine Fersen gehetzt. Wie eine Meute toller Hunde sind sie hinter mir, der Prinz und seine Leute, und wo sie mich ereilten, hub ein Würgen und ein Morden an. Immer bin ich ihnen unterlegen. In ihrem Haß zerfleischten und zerrissen sie alles, was meinem Herzen teuer war. Wo ist der Marschall Syrgiannes, der gewaltige Held? Andreas Theodoropulos hat ihn heimtückisch erdolcht, als der Edle dem Prinzen Michael die Hand zum Frieden bot. Wo ist Giovanni d’Arta, mein stolzer Freund? Vergiftet von Philippos Lystras, dem Leibarzt des Michael, und ich konnt ihn nicht retten. Und mit eigener Hand hat der Prinz meine Braut, die Königin Dione, im Schlosse Tramissene erwürgt, wahrend ich auf der Treppe mit Simon und Nicolkas Nicetius‚ seinem Gesellen, focht. Und mich selbst hat er mit brennendem Pech ins Meer gejagt, beim Sturm auf Galata, als ich das Bild der heiligen Evergisle aus der Kapelle entführte. Und wo ist Juliane, des Grafen von Arta zartes und schönes Kind, mit der ich des Nachts Boot über das Meer floh, als die Griechen die Burg Arta zerstörten? Wo ist die schlanke Juliane d’Arta? Versunken im tiefen Meer.« So Herr Guidotto, und diese Worte waren wie Frostschauer und voll Bangigkeit, und diese Worte waren wie eine rauschende klagende See voll Traurigkeit und Schmerz, diese Worte: »Versunken im tiefen Meer. – « »Dies alles hat mir Prinz Michael getan. Und wenn er wirklich kommt, in wenigen Tagen, dann helfe mir Gott! Dann wird mir wieder ein großes Leid widerfahren, wenngleich ich niemand habe, den ich noch lieben und betrauern könnte in dieser großen Stadt Florenz.« Da war ein langes Schweigen, dann aber sprach der Herzog: »Seltsam ist, was ihr berichtet. Doch nanntet Ihr nicht eben das Wort ›Evergisle‹? Den Namen hab’ ich jüngst gar oft gehört? Sprecht, was bedeutet dieses Wort!« Und Herr Guidotto: »Eine Heilige, die ob ihrer Liebe zu mir und ob des Kusses, den sie mir gewährte, viel Übles erleiden mußte von den Byzanthinern.« Und der Herzog fragte: »Wie geschah dies? Erzählet mir mehr von ihr!« Und Herr Guidotto begann von Evergisles Schönheit zu sprechen und er sang von ihr mit vielerlei bunten und funkelnden und leuchtenden Worten, bis ihn der Herzog lächelnd unterbrach: »Sagt mir, Ihr Schwärmer, welcher Art war ihre Schönheit?

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War ihr Auge schwarz oder blau, und war ihr Haar blond oder braun?« Da fuhr sich Herr Guidotto mit der Hand über die Stirne und schwieg lange, dann sprach er, Traurigkeit und Qual in der Stimme: »Dies Herr, verzeiht mir, weiß ich nicht mehr, dies alles hab’ ich vergessen! Wie ihr Auge war und wie ihr Haar, die Frage quält mich selbst seit vielen Tagen. O, wer mir das sagen könnte! War ihr Haar blond oder braun?« Da sprang der Herzog auf, und rief: »Wenn sie schön ist, wie Ihr sagt, dann, Herr Guidotto, hütet Euch wohl, daß Ihr sie nicht verliert, wie alle andern. Ihr werdet weise tun, sie an meinen Hof zu bringen; ich will sie Euch schützen, das seid getrost!« Da sah Herr Guidotto ihm lang ins Antlitz, dann sprach er mit einer Stimme voll Schmerz und Zorn und Staunen und Bitterkeit: »O Herzog, sorgt Euch nicht. Evergisle ist lange todt. Hundert Jahre lang!« ***** Es soll berichtet werden, wie nah an einem Tage Messer Guidotto Procida seinem eigenen Leben kam. Denn wir alle durchleben immer nur die Schicksale anderer Menschen und weben fremde Abenteuer in unser Dasein. Und was Herr Guidotto Jahre hindurch in der Ferne erlebt und erlitten, dies alles war wohl nicht ihm bestimmt, sondern eines Anderen trauriges Schicksal. Die Tränen eines Anderen hatte er geweint, die Schmerzen eines Anderen hatte er erduldet, die Kämpfe eines Anderen hat er durchfochten. Fremde Erlebnisse klammerten sich an ihn und hielten ihn fest, sein eigenes Leben aber stand still und verträumt in der Stadt Florenz und harrte seiner. Aber damals, als er die Treppe des Herzogsschlosses hinabschritt, da streifte er mit dem Ärmel seines Kleides hart an sein eigenes Schicksal. So nah kam an jenem Tage Messer Guidotto seinem eigenen Leben: Er ging die Treppe hinab mit bleicher Stirn und gesenktem Haupt, denn des Herzogs Forschen nach Evergisle hatte ihn traurig gestimmt. Und er sann und grübelte und träumte: »Wie waren doch Evergisles Augen? War ihr Haar blond oder braun?« Aber das Bild der todten Jungfrau wollte nicht aufsteigen in seiner Seele. Da rief ihn des Herzogs Falkenträger an: »Edler Herr! Hört doch! Edler Herr!« Und als der Herr Guidotto stehen blieb, da sprach der Falkenträger geheimnisvoll: »Ein schönes Fräulein hat nach Euch gefragt! Ein vornehmes Fräulein begehrte zu erfahren, wie Ihr hießet!« Aber Herr Guidotto hörte kaum hin, sondern träumte weiter und eine Frage tauchte tief in ihm auf und quoll empor und rollte reif von seinen Lippen. Träu-

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mend von der todten Evergisle sprach er leise und halb für sich: »War ihr Auge blau oder braun«? Der Diener des Herzogs aber sprach sehr eifrig: »Schwarz, edler Herr! – Des Herzogs Enkelkind Irene war’s ich will es euch verraten!« So nah kam damals Messer Guidotto seinem eigenen stillen und freundlichen Leben. Doch er ging dahin träumend von fernen Abenteuern und der Name Irene blieb leer für ihn und verhallte und verklang. Und so ging Messer Guidotto schweigend und mit gesenktem Haupte weiter, die Treppe hinab, vorbei an seinem eigenen Leben. ***** Von jenem Gastmahl, das die jungen Leute aus dem Geschlechte der Uberti den scheidenden Gästen aus Byzanz zu Ehren gaben, wird man noch lange reden, wenn auch die Byzanthiner längst die Stadt verlassen haben. Denn es wäre fast übel ausgegangen, wär nicht zur rechten Zeit der Herzog gekommen und hätte dem Streit ein Ende gemacht. Denn der Herzog und der Prinz Michael von Byzanz, die beiden hatten an jenem Gastmahl nicht teilgenommen, sondern sie waren an dem warmen Abend mit Irene, des Herzogs Enkelin, in das Landhaus nach Mugello geritten. Sonst aber waren alle Gesandten, auch die beiden Bulgaren-Fürsten, Fürst Milos und Fürst Lazar und fast der ganze Adel von Florenz bei jenem Gastmahl anwesend das im Hause des Paolo Uberti stattfand, und sogar Guidotto Procida kam, doch spät nachts erst und lange nach den Tafelfreuden, als schon die Gäste alle schwatzend und trinkend im Garten saßen. Da waren lange Tische aufgestellt auf den Rasenplätzen und nun saßen die Herren und tranken, Vernaccia die einen, Malvasier die andern und sprachen über vielerlei, nur die Gesandten blieben schweigsam und hörten den Gesprächen zu. Bis dann die jungen Leute allerlei Schwänke und Historien zum Besten gaben und einige von den tollen Streichen, die man sich von den fröhlichen Malern in unserer Stadt erzählt. Die aber den Gesandten zunächst saßen, begannen leise von den schnurrigen Liebesabenteuern der Baroncis zu erzählen, deren Umarmung selbst die alten und häßlichen Weiblein fliehen; wobei sie heimlich auf Herrn Sandro Baronci deuteten, der sein bleiches, mißgestaltetes Köpfchen auf seine große, haarige Hand stützte und tat, als ob er dies alles nicht merke. Dann wieder sprach man vom Treiben der verliebten Mönchlein und Nönnchen in manchen Klöstern und das erlustigte die Byzanthiner sehr, so daß sie kichernd miteinfielen in das Gelächter der Andern und sich die Hände rieben. Fürst Milos aber und Fürst Lazar, die Bulgaren, die unsere Sprache gar nicht und von den Reden der Byzanthiner nur wenig verstanden, die saßen auch jetzt still und schweigsam und starrten in ihre Becher. Nur wenn sich ein Gelächter erhob rechts und links von ihnen, da lachten sie beide mit, ob sie auch die Ursache nicht verstanden, und lauter und

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rauher lachten sie als die Andern, aber mit starren und ernsthaften Mienen. Und es klang ihr Gelächter länger als das der Andern und man hörte es noch über alle Tische hinweg, wenn wir längst schon schwiegen und neuen Erzählungen lauschten; bis sie dann mitten in ihrem dröhnenden Lachen plötzlich abbrachen, beide zugleich wie mit einem Schlage und wieder ernsthaft und mit unbeweglichen Mienen in ihre Becher starrten. Als wir so wohl eine Stunde lang bei Weine in fröhlicher und ausgelassener Laune gesessen waren, da sah ich, als ich von ohngefähr auf die Byzanthiner blickte, daß sie nicht mehr auf die Schwänke, die rings um sie her erzählt wurden, horchten, sondern mit bösen und feindlichen Mienen alle in eine Richtung schauten. Und Fürst Lazar, der eben den Becher an die Lippen führen wollte, setzte ihn so hart nieder, daß der Tisch erzitterte. Eben hatte Ghino Donati, der jüngste der drei Brüder Donati, eine seltsame und über alle Massen scherzhafte Geschichte von der Liebe eines heidnischen Gottes zu einer Schäfersdirne beendet, und fröhliches Lachen erhob sich an allen Tischen, aber die Byzanthiner vergaßen einzufallen in dies Gelächter, sondern saßen stumm da und ihre Mienen waren voll Haß und wie eine Reihe böser, verkrümmter Spiegel, wie sie die Sterndeuter haben, waren ihre Mienen, wie Spiegel, in denen ein einziges Bild in vielerlei seltsam verzerrten Formen und Farben erglänzt. Und als ich dorthin blickte, wohin ihre lauernden Blicke wiesen, da sah ich durch die halberleuchteten Alleen Guidotto Procida langsam auf uns zuschreiten. Und er grüßte mit einem leichten Neigen seines Hauptes und setzte sich an das Ende der langen Tafel zwischen die beiden Freskobaldis und den armen mißgestalteten Zwerg Sandro Baronci, dem er von altersher ein guter Freund war. Und alsbald kam der greise Paolo Uberti auf ihn zu und hieß ihn willkommen und sagte, nun wolle er ihn auch an die Plätze der Gäste führen, damit er unseren neuen lieben Freund aus Byzanz kennen lerne. Guidotto aber stand auf und sprach laut: »Messere! Ich dank Euch, spart Euch die Mühe. Ich kenne die Herren gar wohl und sie auch mich. Wir sind einander öfter schon begegnet. Ist’s nicht so, Ihr Herren?« Die Byzanthiner nickten langsam und ernsthaft mit den Köpfen und blickten ihn mit bösen und tückischen Augen an, Andreas Theodoropulos aber, der Vornehmste von ihnen, dessen Antlitz gefurcht war wie von den Schlägen einer Geißel, lächelte mit schmalen Lippen und sagte: »Es ist so. Öfter schon. Im Heerlager des Syrgiannes? Nicht war? Und an dem Todtenbett der Königin Dione? Und auf den Trümmern von Arta? Seid uns willkommen, alter Freund!« Und Herr Guidotto fuhr sich mit der Hand über die Stirne und sagte: »Und beim Kampf um Galata, vergeßt das nicht!« Da nickte Herr Andreas Theodoropulos eifrig mit dem Kopfe und begann zu hüsteln und plötzlich kreischte er mit heiserer Stimme: »Feuer in ihre Löcher!«, daß wir alle erschreckend zusammenfuhren, doch keiner von uns wußte was dies Rufen bedeutete; gleich aber kicherte der Grieche wieder und

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rieb sich die Hände. Die Fürsten Milos und Lazar aber fielen plötzlich ein mit ihrem dröhnenden Lachen, wohl weil sie glaubten, daß sich Herr Andreas über einen der Späße und Schnurren vergnüge und blickten einander erstaunt und verwundert an, als alles ringsum still blieb. Herr Guidotto aber ging stumm an seinen Platz und setzte sich zwischen die Freskobaldis und den Baronci. Die jungen Ritter aber scherzten und lachten weiter, bis plötzlich Michele Agolanti aufsprang und rief, he und nun mögen die Gäste etwas zum Besten geben. Da erhob sich einer der Griechen und sagte, bei ihnen zuhause, da sei das Leben nicht so heiter wie in Florenz, und Byzanz sei eine kriegerische Stadt, und sie wüßten nichts fröhliches zu erzählen. Aber der Agolanti gab nicht nach, sondern verlangte, dann mögen die werten Gäste eines ihrer Kriegslieder singen und auch andere riefen dasselbe, bis der Grieche Andreas aufstand und den beiden Bulgaren wenige Worte in ihrer Sprache zurief. Dann wandte er sich wieder uns zu und verbeugte sich und sprach: »Ihr Herren, Fürst Milos und Fürst Lazar werden Euch ein Schlachtlied singen, so wie Ihr’s begehrtet. Aber die Kämpfe, in denen es erklang, sind längst zu Ende und der Mann, von dem diese Lieder singen, ist lange todt. Vergessen sind die schweren blutigen Kriege in denen es ertönte und von dem Feind, dem diese Schlachten galten, hat wohl keiner von Euch je vernommen. Syrgiannes hieß er, ein Rebell. Seine Missetaten sind längst verschollen, seine Ungedanken längst verweht. Und nun horchet!« Da er dies gesprochen hatte, da ließ er sich wieder nieder, doch am anderen Ende der Tafel, wo die Freskobaldis saßen, hörte man ein Rücken der Stühle und es erhob sich dort Herr Guidotto Procida und ging mit schweren, langsamen Schritten bis an die Mitte der Tafel. Vor den Griechen aber blieb er stehen, lehnte sich an den Stamm der Pinie, die dort den Tisch überschattete, kreuzte die Hände über die Brust und wartete. Da begannen die beiden Bulgaren ihr Singen; ihre Stimmen tönten weich und stark und das Singen des Fürsten Milos klang tief und traurig und war sehr böse und war wie eines großen Fisches langsames Gleiten am Grunde eines dunklen Weihers. Fürst Lazar aber sang mit einer Stimme, die schien gar hell und licht und schwebte leicht und leise in allen Höhen, wie manche Vögel es tun, die ohne die Flügel zu regen, steigen und sinken, im blauen Äther hoch über uns. Da aber hörten wir plötzlich lauter als das Lied der beiden einen Ruf des Guidotto Procida, der ganz nahe herangetreten war. Niemand von uns verstand, was er rief, nur die Byzanthiner, die verstanden es wohl und das Lied verstummte sogleich. Messer Guidotto stand da todtenbleich und schwer atmend, Schweißtropfen auf der Stirne und die Byzanthiner drängten sich zusammen wie schwere dunkle Regenwolken. Und eine kurze Zeit blieb alles grabesstill, dann aber brach es los, und es zuckten ihre wilden Rufe und Flüche wie Gewitterblitze aus der Wolke. Messer Guidotto aber blieb nicht stumm, sondern stützte die Hand auf

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den Tisch und beugte sich vor, seine Worte verstand keiner von uns, doch sie waren wie ein Schauer dichter Pfeile. Da rissen die Byzanthiner die Klingen aus den Scheiden und schrien in einer Sprache, die uns allen fremd war, doch auch Herr Guidotto griff nach seinem Schwerte und wich nicht zurück. Wir Andern – keiner von uns dachte daran, zwischen die Kämpfenden zu treten. Denn uns schien es, als geschähe dies alles weit von uns in einem fremden Lande und würde durch ein seltsames Spiel der Lüfte vor unser Auge gespiegelt. Als wäre dies alles nur der Widerhall von längst vergangenen Dingen, den der Wind aus weiter Ferne zu uns herübergetragen. Keiner von uns verstand, was Herr Guidotto rief, aber wir standen voll Ehrfurcht und wußten, daß dies alles nur der letzte schwache Schimmer großer und trauriger Ereignisse sei, von denen wir nichts ahnten. Und so fern war unseren Seelen dies Geschehen, daß es uns schien, als läge ein tiefes, schweigendes Meer zwischen uns und Herrn Guidottos traurigen Abenteuern, als kämpfe Herr Guidotto den Kampf des todten Syrgiannes weiter, von dessen Ende die Byzanthiner gesungen hatten in ihrem Liede. Und so standen wir und schauten mit Scheu und Grauen in das Getümmel, das immer wilder und lauter wurde. Und es tauchte ein Wort auf vor unseren Augen und stand zwischen uns und den kämpfenden Männern, ein bleiches, trauriges Wort, das wir oftmals aus Herrn Guidottos klagendem Mund gehört und es hieß dieses Wort: »Versunken in tiefem Meer«. Und es ging eine Kälte aus von diesem Wort und eine dumpfe Bangigkeit und fröstelndes Sehnen nach dem todten Kinde Juliane d’Arta versunken in tiefem Meer. Und wir sahen in stummer Verzweiflung, wie die Bvzanthiner wütend auf Herrn Guidotto eindrangen und hörten seine Stimme voll Zorn und Verachtung wie von fernher klingen, – und hörten das Klirren der Schwerter und das Krachen der stürzenden Tische und standen da, stumm und voll Angst und Wehe und hilflos, wie von einen Zauber gebannt – – – bis endlich der Herzog kam und dem Spuk ein Ende machte. Die Byzanthiner drängten sich wieder zusammen wie schwere, schwarze Wolken, Messer Guidotto aber ging hinweg mit stummem Gruß und wir sahen ihm lange nach, wie er langsam und mit gesengtem Haupte durch den Garten schritt, bis er verschwand in den dunklen Alleen. – Was suchen die Griechen noch in Florenz. Längst sollten sie schon fort sein. Die Pferde stehen gesattelt in den Ställen, bereit zur Reise, die Boten sind schon nach Rom geeilt, die Ankunft zu melden, doch Prinz Michael, der denkt nicht an die Weiterfahrt, der vergaß der Stadt Byzanz und ihres Wartens. Er ist zu finden in den Läden der Goldschmiede, dort feilscht er um Edelsteine und goldene Ketten. Er ist zu finden in den Gemächern des Herzogs, dort geht er ein und aus, und sorgengefurcht ist des Herzogs Stirne. Er ist zu finden in den Gärten von Mugello, dort kniet er vor der Prinzessin Irene, die hingestreckt ruht auf der Rasenbank und mit verweinten Augen in die Ferne schaut. Dort kniet er und spricht mit heiserer und gieriger Stimme von den Herrlichkeiten der Stadt By-

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zanz. Er spricht von den goldschimmernden Dächern der stolzen Paläste, er spricht von den Springbrunnen hinter den Mauern der stillen Gärten, von den Brunnen, die in den einsamen Nächten ihre Stimmen erheben, er spricht von den eisernen Kriegern, die am Ufer des Meeres wachen und jahraus, jahrein über das Meer hinweg in ein Land Asia blicken, er spricht von dem heißen Duft der wilden Rosen, die zu Tausenden in den verwilderten Gärten des Kaisers blüh’n. Langsam taucht empor unter dem Hauch seiner Worte das Schimmern der Stadt Byzanz. Doch Irene hörte nicht auf ihn, sie blickte mit verweinten Augen über die Hecken, über die Blumenbeete hinweg suchend und wartend in das Tal des Arno, wo zwischen Gärten und Wäldern gebettet das stolze Haus des Herrn Guidotto liegt. In jener Nacht vor der Abreise der Byzanthiner, da hielt’s mich nicht in meinem Hause, denn es kam eine plötzliche Angst um Herrn Guidotto über mich wie eine Ahnung kommenden Unheils. Und ich traf den edlen Herrn in seinem Landhause am Arno und Herrn Sandro Baronci bei ihm. Sie saßen beide an den hohen Fenstern, die einen weiten Fernblick gaben, über den Fluß hinweg auf die Weingärten und Ackerfelder, die im Dämmer lagen. Und auf Herrn Guidottos Knie wiegte sich funkelnd die schwarze Perle, gefesselt an goldener Kette, und sein Blick hing zärtlich an diesem Kleinod. Und Herr Guidotto sprach, als er meine Fragen sah: »Ich liebe diese Perle. Es schlummert in ihr ein Zauber und ein heimliches Leuchten, und sie spricht zu mir mit halben und geflüsterten Worten, die wie leise Erinnerungen sind. Ich lasse sie nicht von mir, denn sie, die nun stumm hierliegt, und müde und leise funkelt, hat mich, als ich sie zum erstenmal sah, in einer engen Gasse so mit Sehnsucht und Traurigkeit und Liebesqual erfüllt, daß es mir schien, als sei mein ganzes, vergangenes und verlorenes Leben nur ein wildes Jagen und Suchen nach dieser Perle gewesen. Es leuchten und leben verborgene Kräfte in ihr und drum halt’ ich sie gefesselt an goldener Kette, sonst rauben mir die Byzanthiner auch die.« Da sprach der Baronci: »Fürchte nichts, Guidotto; heute mit dem Morgengrauen zieh’n die Byzanthiner nach Byzanz zurück.« Und Guidotto sprach: »Seltsam ist dies und kaum kann ich’s glauben. So oft die Byzanthiner sonst von mir wichen, stand ich mit zersplittertem Schwerte auf Trümmern und klagte um Verlorenes. Diesmal aber nahmen sie mir nichts und auch nichts Feindliches haben sie begangen.« »Die Griechen«, sagte Sandro Baronci, »die hatten diesmal ihre eigenen Kümmernisse und ihre eigenen Freuden. Sie haben sich eine Braut erwählt unter den Enkelkindern des Herzogs für ihren Prinzen Michael. Die Prinzessin Irene ist es, sie ist noch jung und Du sahst sie wohl nie bei Hof. Nun sind sie voll Eifer und Eilfertigkeit und haben vielerlei Mühe und Sorge und wenig Zeit, an Dich zu denken.« Doch Herr Guidotto schüttelte das Haupt und sprach: »Lieber, das ist mitnichten so! Meinetwegen nur kamen sie nach Florenz und nicht, sich eine Braut

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zu suchen. Mich suchten sie hier und wollten mir ein letztes Liebes rauben, das ich noch besäße. Aber seht: So ist’s bestellt um Guidotto Procida! Nichts fanden sie, das sie ihm rauben konnten, denn auf der ganzen Welt ist nichts, das ich noch liebe, es sei denn diese Perle. Die aber halt’ ich gefesselt. Und so kreuzten sie diesmal umsonst meinen Weg. Guidotto Procida hat nichts mehr, das man ihm nehmen könnte.« Ein Weilchen schwieg Herr Guidotto und dann sprach er zu mir gewandt: »Viele waren es, die ich sehr liebte, Du kennst sie, Sandro Baronci! Wo sind sie nun? Fern sind sie mir für immer an den hellen Tagen, nur in tiefer Nacht, da kommen sie oft. Da hör’ ich den Marschall Syrgiannes schweren Schritt’s durch das Zimmer klirren, seh’ seinen weißen Helmbusch durch das Dunkel leuchten. Da fühl’ ich um meinen Hals geschlungen des schönen Kindes Juliane zarte Arme, wie damals als ich es auf schwankendem Kahn durch’s wilde Meer dahinführte, hinter mir her Prinz Michael und die Griechen auf raschen Galeonen. Und Giovanni d’Arta, mein edler Freund, und auch die Königin Dione erscheint mir oft. Nur Du kamst nie, Evergisle, des Nachts, gehüllt in Dunkel. Du küssest niemals meine Lippen!« Und Guidotto trat hin in einem Winkel des Gemachs, dort hing ein zerbrochenes Schwert und eine wirre Locke hing dort und ein verblichener Reifen von Gold, geschmiedet für den schmalen Arm eines Kindes. Dort kniete Herr Guidotto nieder und sprach in das Dunkel: »Wenn ich Dich seh’ in der stillen Nacht, Du Schwert, Du Reif, Du Locke, dann steigt vor meinem Auge das Antlitz dessen empor, der Dich einst trug, und gibt mir Trost. Nur Du, Evergisle bist nie gekommen, nur Dich hab’ ich ganz verloren, du Heilige, nie wirst Du mir erscheinen.« Da stand der Baronci auf und sprach: »Guidotto, ich habe sie alle wohl gekannt, um die Du klagst. Ich sah Dich einst an der Seite des großen Syrgiannes durch das Lager reiten, ich entsinne mich des Tages, da Dir der Marschall die Wunde auf der Stirne wusch, die dir der Grieche Nicolaus heimtückisch geschlagen. Ich traf Dich in Ruhm und Glück am Hof des Giovanni d’Arta und entsinne mich auch der Stunde, da Du Hand in Hand mit der Heidenkönigin Dione vor das Fenster des Palastes tratest und das Maurenvolk von Tramissene jubelte Euch zu. Aber das Mädchen Evergisle hab ich nicht gekannt. Ich bin durch alle Länder und Städte geritten, ich kam bis an das Ende der Erde, wo neun demantene .Pfade hinabführten in den Schlund der Hölle und einer in das Paradies – aber den Namen dieser Fürstin hab’ ich nie gehört. Bin ich an ihrem Reich vorbeigeritten? Sprich, Guidotto, wo fandest Du das Mädchen Evergisle?« Herr Guidotto stand am Fenster und starrte hinaus. Es quoll von allen Seiten ein Morgen empor, ein trüber und trauriger, noch wußten wir nicht: Wird dies ein sonniger Tag oder ein müder voll Einsamkeit und Wolken und Regen. Ein wildes Wogen und Kämpfen des Nebels und des matten fernen Lichtes und der

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Morgenluft. Es wehte feucht und kalt zu uns herein, Herr Guidotto aber stand am Fenster und starrte lange in das Brauen des Nebels und begann zu erzählen. Und es waren seine Worte so, als ob uns ein Sturmwind erfaßte und hinführte mitten hinein in eines seiner wilden Abenteuer, dessen Anfang wir nicht kannten. – »Ich trat ein in die Kapelle, während Carlo Gobbi und Polo Alfani, die Genuesen, die Gasse weiter gingen und mit Fackeln in die Nischen der Häuser leuchteten. Aber sie holten den Andronikus, den die Griechen seiner Behendigkeit wegen den ›Affen‹ nannten, nicht mehr ein und auch ich fand ihn nicht, den Bösewicht, in der Kapelle, denn diese Kapelle stand kahl und leer und nur ein einziges Bild hing an der Wand. Und so ist’s geschehen, daß ich einen Gaukler und Narren verfolgend, der mir mein Pferd geblendet hatte aus Tücke, mein Schicksal fand und ein Stück meines Lebens auf einem Bilde in der Kapelle zu Galata am Meere, die ich nie zuvor betreten. Ich trug in der Hand eine Fackel, die erfüllte den engen Raum mit ihrem Leuchten, also daß ich auf dem Bilde mich selbst erkannte und knien sah vor einer Jungfrau von solchem Adel, daß mich plötzlich mein ganzes Leben gereute und mir leer und nichtig erschien, was ich erlebt und erlitten hatte. Es war dieser Jungfrau Antlitz nicht hart noch stolz, sondern ich sah sie sich milde zu mir hinabneigen und meine Stirne küssen. Ich stand lange vor diesem Wunder und durchsann meine vergangenen Jahre, doch es kam mir kein Erinnern, daß ich dieser Jungfrau Antlitz jemals gesehen und ihren Kuß empfangen habe. Es war mir diese Jungfrau fremd und niemals erblickt, mich aber erkannte ich wohl auf dem Bilde und erkannte auch mein Schwert und meine Helmzier und das Wappen auf meinem Schilde, den goldenen Reiher, den mir der Marschall Syrgiannes einst verliehen. Also stand ich in Staunen vor diesem Bilde viele Stunden lang und fluchte meiner Torheit, daß ich an die schönste und heiligste Stunde meines Lebens, an die Stunde, da ich den Kuß dieser Jungfrau empfing, hatte vergessen können. Denn so sehr ich mich auch quälte, konnt’ ich mich doch nicht erinnern, jemals dies Bild erlebt zu haben. Aber ich schwur mir zu mit vielen Eiden, nicht zu ruhen, bis ich die Jungfrau gefunden. So stand ich in Träumen und Wünschen und Zweifeln, bis es ein kühler Morgen geworden war. Da trat ein Greis herein, ein Diener mit frischem Öl, die Lämpchen, die schon lange nicht mehr brannten, damit zu füllen, ich trat ihm entgegen und rief ihn heftig an und verlangte den Namen jener Jungfrau zu erfahren und wo sie weile. Er aber konnte mir nichts sagen, sondern wies erschrocken auf eine Platte von Stein unter jenem Bilde und es stand auf jener Platte mühevoll in den Stein gegraben ihr leichter und zarter Name: ›Evergisle‹. So ging ich nun hinaus und durch die Straßen der Stadt Byzanz viele Tage lang und fragte alle, die mir entgegenkamen nach jener Jungfrau, doch niemand kannte sie in der Stadt Byzanz. Und ich irrte durch die Gassen der Städte, die am

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Meere liegen und auch durch jene Städte, die hinter den Bergen schlafen und durchwanderte viele Königreiche der Christen und Heiden; doch nirgends fand ich eine Jungfrau, die jenem Bilde glich. Und ich ritt durch die Länder und ich kam über die weiten Meere, doch nichts hörte ich von Evergisle, bis ich in ein Kloster kam auf einer Insel im Meer, wo seit altersher gute und weise Mönche wohnten. Und der unter ihnen der weiseste war, der hat mir aus einem alten Buche mein Schicksal gelesen, der hat mir mein Leben gedeutet, der hat mir dies traurige Rätsel gelöst. Es lebte eine Jungfrau in der Stadt Byzanz vor mehr denn hundert Jahren, die diente Gott und den Heiligen mehr als es die anderen Menschen vermögen. Es war ihrer Rechten hohe Kunst gegeben, also daß sie verstand, Jesum und die heilige Jungfrau in großer Anmut zu malen, und nicht müde ward ihre Hand, wenn sie das Leben der Heiligen pries mit leuchtenden Farben. Auch war ihrem Antlitz hohe Schönheit gewährt und viele von den Mächtigen kamen und beehrten ihrer. Ihr aber mißfielen sie alle und es war nur eines Mannes Antlitz, das ihr schön und liebenswert erschien, der aber lebte nicht in Byzanz, auch hatte sie ihn nie gesehen, sondern ersonnen hatte sie sich das Antlitz in den Stunden der Einsamkeit. Oftmals erzählte sie den frommen Frauen, die um sie waren, von diesem Antlitz, das ihr gar klar vor Augen schwebte, dieses Antlitz aber, ihr Herren, dieses Antlitz war das meine und alle Freier wies sie zurück, denn ihre Seele war erfüllt von meinem Bilde. Aber es erblickte sie des Kaisers Oheim, der des Prinzen Michael Vatervater war und obwohl sie ihn auch zurückwies gleich den anderen, so lief der Greis doch eilig zu seinem Kaiser und drang in ihn und so haben die beiden mir Evergisle geraubt und so ist es gekommen. Da sie des Greises Gattin geworden war, da ging sie stumm und traurig in seinem Hause umher, er aber durfte ihr nicht nahen. Es vergingen seine greisen Lüste vor der Heiligkeit ihres Blickes und niemals wagte er es, sie zu berühren. An vielen Tagen aber verschloß sie sich in ihrem Gemache mit Pinsel und Malgerät, Bilder der Heiligen zu malen. Doch es erträumte ihr dort ihre sehnende Seele die Sünde und sie malte das Antlitz des Mannes, von dem sie so oft gesprochen und der doch niemals gekommen war. Und es trieb sie, zu malen, wie sie sich ihn ersehnte, diesen Mann, vor ihr knieend und in heißer Liebe zu ihr emporblickend und also schuf sie sich Trost und ein Abbild jenes Glückes, das ihr versagt geblieben. Und immer stärker wurde in ihrem Herzen die Sehnsucht nach der Sünde, und nun malte sie sich selber nach schweren Kämpfen und langen Qualen hinzu, und neigte sich milde hinab und küßte meine Stirne. Als aber dieses Bild vollendet war, schritt voll Argwohn ihr Gatte in das Gemach und erspähte das Bild, und sah, daß sie eines fremden Mannes Antlitz küßte, den er nicht kannte, und erdolchte sie mit seinem Dolche.«

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***** »O Ihr Glücklichen, die Ihr die Frauen aus euren Gassen liebt, o wie ich Euch beneide, Ihr die Ihr klagt und leidet, wenn Euer Mädchen in der Ferne weilt. Und lebten, die Ihr liebt, im fernen Lande Indien –‚ Schiffe gibt es und Wege, die gehen weit nach Osten! Und begehrst Du, Sandro Baronci, die stolzeste Königin: Du kannst sie doch, vergessend alle Gefahr vor des Königs Augen an die Brust reißen und ihre Lippen mit Küssen bedecken. Und mögen Dich dann des Königs Schergen in Stücke hauen, Du hast ihren Leib doch an dem Deinen gefühlt, Sandro Baronci! Ich aber, zwischen mir und meiner Sehnsucht Erfüllung sind hundert Jahre verflossen. Mir war ihre Liebe bestimmt, meiner hat sie geharrt, um mich gebangt und gelitten –‚ ich aber fühlte von alldem nichts, sondern sah es nur aus der Ferne im Vorübereilen, nach hundert Jahren, als ich einen Gaukler und Narren verfolgte. Um eines Weibes Liebe, um eines Mannes Haß bin ich betrogen. Mich hat sie geküßt, mit mir hat sie gesündigt nach langen Kämpfen, um dieser Sünde willen und ihrer Liebe zu mir ist sie gestorben. Ihr Gatte hat sein Leben lang voll Haß und Rachsucht nach mir geforscht und gesucht, und da er mich nicht fand, auf seinem Sterbebette mich verflucht mit solchen Flüchen, wie kein Christ sie findet. Ich aber wußte von alldem nichts, nichts von ihrer Liebe, nichts von seinen Flüchen und nur von fernher hörte ich davon sprechen die weisen Mönche auf einer Insel im Meer.« ***** »Da ich dies alles erfahren, da litt’ mich’s nicht länger fern von Byzanz, denn ich wollte heimlich des Nachts Evergisles Bild aus der Kapelle entführen. Ich fuhr und ritt viele Wochen hindurch und als ich von fern die Zinnen der Stadt erblickte, da glühte wie von Feuerschein über ihr der Himmel und ein schwerer Qualm lag einer Wolke gleich auf ihren Dächern. Ich betrat die Straßen der Stadt, da hört’ ich Lärm und Schwerterklirren und verworrene Rufe, und es kämpften die Söldner von Genua mit den Truppen des Kaisers. Es lagen die Genuesen verschanzt in ihren Gassen mit vielerlei Volk, Siechen und Weibern, und wehrten sich und mit großer Kraft. Prinz Michael aber ließ Feuer legen an ihre Häuser, er kämpfte hier und dort mit Ungestüm hin und hereilend und er sang trunken vor Mordlust und Kampfesgier jauchzend diese Worte: ›Feuer in ihre Löcher! Feuer in ihre Löcher! Feuer in ihre Löcher! Feuer in ihre Löcher!‹, ob auch schon längst ihre Gassen brannten. Und hinter ihm her liefen in wildem Jubel seine Getreuen, Alexis Zaida zumal und Nikolaus, der Einäugige, und sein Bruder Simon und Andreas Theodoropulos, den einstmals der Marschall Syrgiannes hat peitschen lassen als Spion, Andronikus, der ›Affe‹

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und Lazar und Milos, die Bulgaren, alle singend und heulend: ›Feuer in ihre Löcher! Feuer in ihre Löcher!‹ Und alsbald gelang es den Griechen einzudringen in die brennenden Gassen und sie stürmten vor, jauchzend und jubelnd: ›Feuer in ihre Löcher‹ und es begann ein Morden. Ich aber eile vorbei an Todten und Sterbenden, vorbei an den plündernden Griechen, die die Kleider der Gefallenen durchwühlten, bis ich die Kapelle erreichte. Ich sah vielerlei, das mich traurig machte, sah fechten und sterben viele, die ich kannte; Carlo Gobbi, den Genuesen und die beiden Ugones, Vater und Sohn, die Ihr aus Florenz vertrieben habt und sah den starken Angelo Illici den Slavonen, wie er todtwund und blind von Schmerz nach Griechen und Baumstämmen und den steinernen Säulen der Häuser schlug. Als ich eintrat, in die Kapelle, da fand ich sie voll von jammernden Weibern und Greisen und Kindern, weithin tönte das Angstgeschrei dieser Menschen. Und sie erkannten mich und riefen mich mit Namen und riefen: ›Guidotto Procida!‹ und: ›Herr! Rette uns!‹ Die von ihnen Schwerter hatten, scharten sich um mich und schrien, ich soll sie gegen die Feinde führen. Ich aber kniete hin vor das Bild Evergisles, die unter diesen Unglücklichen allein still und ohne Klage ihren Schmerz ertrug. Da erklang draußen Lärmen und wildes Anstürmen der falschen Griechen und ich hörte des Prinzen Michael heisere Stimme kreischen: ›Feuer in ihre Löcher!‹ Und alsbald züngelten die Flammen empor und Funken sprühten über unsere Köpfe, Steine und verbrannte Balken stürzten auf uns herab und Qualm und Not kam von allen Seiten. Da hatte ich Evergisles Bildnis von der Wand gelöst und in den Mantel gehüllt, und bahnte mir einen Weg über Todte und Sterbende und über die jammernden Weiber hinweg ohne Mitleid und ohne Träne und noch heute kann ich’s nicht verstehen, daß mir von dem schauerlichen Todesschrei der armen Verlorenen, von ihrem Röcheln, ihrem Bitten, ihrem tollen Schmerzgeheul und ihrem leisen Flehen kein Ton, kein Laut blieb haften im Ohre. So gewann ich das Freie und überrannte den Griechen Basilius Phokas mit dem Schwerte, daß er aufschrie: Jesus Erlöser und hinfiel, doch mußt ich am Prinzen Michael vorbei und der erkannte mich gleich. Und einige von seinen Leuten, die begannen hinter mir her zu springen mit großem Geschrei und suchten mich zu fassen, doch ich war schneller als sie. Es ging mein Fliehen dem Meere zu, sie aber, als sie mich nicht erreichen konnten, da hatten sie Pechkränze in den Händen, und diese schleuderten sie in meinen Mantel mit vielem Lärm, dann blieben sie ermattet stehen und nur ihr Hohngelächter tanzte hinter mir her. So kam ich an das Ufer des Meeres, doch hatte das Feuer sich in meinem Mantel genistet und zehrte an meinen Kleidern, und Bart und Haare waren mir versengt. Und als ich am Ufer lag und meine Wunden in den Wässern des Mee-

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res kühlte, da hielt ich statt Evergisles Bildnis ein Häuflein Asche in der Brust gepreßt, das mir die Wellen sanft aus den Händen spülten.« ***** Da schwieg Messer Guidotto, doch nicht lange, und alsbald fing er an zu klagen: »Also ging mir durch die Griechen Evergisle verloren und das Bild, das sie einst gemalt und da dies geschehen war, da begann auch ihr Angesicht zu erblassen und zu entschwinden, das ich immer vor Augen hatte. Verloren hab’ ich das sanfte Neigen ihres Kopfes, verloren das weiße Schimmern ihrer Hand. Sie hat, ob sie mich auch nie erblickt, mein Bild vor Augen geseh’n und nicht verloren. So nah war ihr mein Antlitz, daß sie dieses Bildes wegen lieben und sündigen und sterben mußte. Wir haben uns Treue gelobt über hundert Jahr hinweg und Evergisle hat die Treue gehalten bis an ihr Ende. Ich aber habe ihr Antlitz bald vergessen, sosehr ich auch dagegen kämpfte und mich wehrte, so schnell entschwand es mir, daß es mir oftmals scheint, als wär’ dies alles der Traum eines Andern gewesen, mir beim Wein erzählt, des Nachts in der Schenke. Doch manchmal, da reißt mich die Qual aus dem Schlafe, also daß ich die Hände an die Schläfen pressen muß und angstvoll sinnen: Wie war das Lächeln ihrer Lippen? Wie war das Leuchten ihrer Augen? Und war ihr Haar blond oder braun? Dies, Ihr Herren, ist das traurige Abenteuer von Messer Guidotto und der Jungfrau Evergisle. Und es ist so gekommen, daß ich nun einsam gehe durch die Stadt und daß einst und ohne Sehnsucht und ohne Abenteuer mein kommendes Leben sein wird. Niemals mehr wird’ ich die Schmerzen der Liebe fühlen, nie mehr die Qualen der Sehnsucht, sondern hier in meinem Landhaus werde ich am Fenster sitzen, des Morgens und des Abends und voll Ruhe auf das Leben der Andern sehen und ich freue mich nicht dieses Glückes.« Ich aber stand auf und trat hin zu Herrn Guidotto. Und lange blickte ich ihm in’s Antlitz und es war mir, als ob ich ihn und sein kommendes und vergangenes Leben deuten und verstehen könnte. Ich sah ihn sitzen, sinnend und in Qualen nach Evergisles verschwundenem Bildnis suchend, mir aber stand es doch so klar vor Augen! Und ich sah sie, eine Jungfrau, bleich, weiße Rosen im braunen Haar, und mit großen, traurigen und müden Augen in die fernen Zeiten schauend, sehr ähnelnd der Schwester Eva, die im vorigen Jahr im Kloster der heiligen Heimsuchung am viertägigen Fieber gestorben ist. Und Herrn Guidottos Schicksal lag da vor meinen Augen, als hätt’ ich dies alles selbst erlebt und gefühlt, als dürft’ ich nie mehr von seiner Seite weichen und müßte ihn schirmen und behüten. Ich sprach zu ihm: »Herr Guidotto! Glaubet mir! Eure Seele hängt an allem, was Eurem Auge entgleitet. Ihr liebt die Verlorenen und die dem Sterben Geweihten. Ihr liebt alle, die im Meere versinken und alle, deren Handgelenk der

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Tod mit festem Griff umspannt. Eure Sehnsucht steht auf den sinkenden Schiffen. Eure Liebe gilt den erbleichenden Sternen. Wartet doch, Messer Guidotto, bis Euch wieder in weiter Ferne ein Antlitz langsam verblaßt und für immer entschwindet; Wartet doch, dann seh’ ich Euch in Euer letztes Abenteuer zieh’n.« So sprach ich und meine Stimme war eines Ahnenden Stimme. Denn nichts wußte ich damals von den Schmerzen der kommenden Tage, da ich Herrn Guidotto Procida in die Stadt Byzanz begleitete. Nichts wußte ich von den Abenteuern jener Nacht im Schlosse zu Byzanz, da ich mit Herrn Guidotto spähend die Gärten des Prinzen Michael durchschlich. Von den Schrecknissen jenes Abends, da ich mit der Wache lärmend um die Wette zechte und die lautesten Flüche fluchte damit niemand von ihnen Herrn Guidottos leises Lautenspiel vernähme. Von dem Dämmern jenes letzten Morgens, da Prinz Michael blaß vor Wut unter die schlafenden Knechte trat und mit zitternder Stimme tobte: »Her mit dem Florentiner! Alexis! Simon! Her mit dem Florentiner!« Und wie alsbald ihrer zehn wohl auf die Pferde sprangen und dahin ritten durch die schlaftrunkene Stadt, und ich in rasender Eile ihnen nach, immer mit lauter Stimme durch die einsamen Gassen rufend: »Hütet Euch, Herr Guidotto! Hütet Euch, Herr Guidotto!« Doch ich konnte sie nicht ereilen, immer blieb ich ein Stücklein hinter ihnen zurück, laut schreiend: »Hütet Euch!« Herrn Guidotto zu warnen. Aber sie trafen ihn in den Gärten des Kaisers, bei den wilden Rosen am Meeresufer, dort stand er und harrte voll Ungeduld der Prinzessin Irene. Und ich hörte näherkommend, Schwerterklirren und Wiehern der Pferde und Herrn Guidottos stolzes Hohngelächter. Und es begann dieses Lachen hell und voll Siegerfreude und Hohn und endete als ein langer und schauervoller Todesschrei, der sich langsam verlor in dem Brausen der Uferwellen. Von allen diesen kommenden Dingen aber wußte ich damals noch nichts, als ich an jenem Morgen zu Herrn Guidotto Procida die ahnenden Worte sprach. Denn wir Florentiner, wie waren wir alle blind! Wir gingen an Herrn Guidotto vorbei und hüllten uns vor dem kalten Hauch seiner traurigen Abenteuer fröstelnd in unsere Mäntel und schüttelten die Köpfe. Auch wie ein Singen von fremden, schönen, längstvergessenen Liedern, die niemals Wahrheit waren, schienen uns diese Abenteuer und wie Märchen aus fernen Ländern, die man den Kindern erzählt. Aber alle waren wir achtlos dahingegangen und keiner von uns hatte gesehen, wie sich plötzlich ganz in unserer Nähe ein seltsames Gespenst erhob aus dem Staube der Straße, hager, bleich, Herrn Guidotto Procida letztes Abenteuer. Und es dehnte und reckte sich und ging unhörbaren Schritts an uns vorbei und auf ihn zu, und keine Intemerata scholl ihm entgegen, es in die Hölle zurückzuscheuchen. Und es folgte ihm auf Schritt und Tritt, dies Gespenst, sein letztes Abenteuer, und starrte ihn an aus bösen, grünen Augen und stand ganz nahe hinter ihm, die Faust geballt, vornübergebeugt und bereit, ihn plötzlich mit jähem Griff an die Kehle zu fahren.

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Leo Perutz

Und Herr Guidotto, der stand an seinem Fenster und sprach ahnungslos mit leiser ruhiger Stimme: »Du irrst, mein Freund! Ohne Sehnsucht weiß ich mein kommendes Leben. Denn ich lebe in der Vergangenheit und fern sind mir alle Dinge und fremd die Leiden der Menschen in den Häusern und Gärten und auf den Straßen der Stadt Florenz. Also stehe ich hier an meinem Fenster und blicke in Ruhe hinab auf alle, die vorüberziehen und dies ist der Sinn des seltsamen Wortes ›Friede‹: Keinem nah sein und nichts besitzen und nichts verlieren können und kühlen Auges Dinge vorüberwandeln sehen aus dem Fenster eines einsamen Hauses: Dies ist der ›Friede‹. Nun aber hört, nun will ich weitererzählen von vergangenen Dingen und will Euch berichten von dem Tod der Königin Dione von Tramissene – « So sprach Herr Guidotto, doch plötzlich stockte er und stöhnte laut; ließ die Perle fallen und beugte sich weit hinaus aus dem Fenster, weit hinaus. Wir wußten nicht, was er auf der Straße erblickte, doch war sein Antlitz schreckensbleich und voll Qual klang seine Stimme. Wir standen sehr verwundert und blickten staunend auf die schimmernde, schwarze Perle, die Herr Guidotto achtlos hatte zu Boden fallen lassen. Und mit einem Male rief er auf die Straße hinab: »Michael, Du Satan, stiehlst du schon wieder?!« Und dann wandte er sich mir zu und schrie: »Die Pferde gesattelt! Ihm nach!« Und es war mir, als hätte ihn ein Wahnwitz gefaßt, als er auf das dunkle Geschmeide wies, das am Boden lag und stöhnte: »Er hat mir die schwarze Perle geraubt!« Es sind drei Wege, die zum Meere führen. Der eine breit und wohlgeglättet, beschattet von schlanken Pappeln, den gehen die Kaufleute mit ihren beladenen Wagen, doch auch die vornehmen Herren, die die wohlgebauten und wenig steilen Straßen lieben; der zweite, der führt an den großen Olivenhainen, die vor der Stadtmauer liegen, vorbei und dann weiter immer hart am Walde, über sanfte Hügel und dann bergab, bis er zum Flusse kommt und weiterlängs des Ufers des Arno. Es ist dieser Weg nicht gar sehr breit, aber wohl geschaffen für Lustwandelnde, und sonderlich für jene, die sich an den dunklen Wäldern und sonnigen Matten erfreuen. Der dritte Weg, der ist ein seltsamer Weg. Er führt in vielen Windungen anfangs ringsum die Stadt und erst später gegen Westen. Es liegt viel Sonnenglut und Staub auf dieser Straße und wenn man wohl zwei oder drei Stunden gewandert ist, da sieht man in der Ferne, die weißen Mauern eines stolzen Baues, welcher des Guidotto Procida Eigen ist, eines vornehmen und adeligen Ritters der Stadt Florenz. Lange sieht man nichts von dem Hause, als das weiße Leuchten der Mauern, zwischen den Baumkronen. Später aber, da kommt man immer näher und der Fernblick von der Höhe des Weges ist solcher Art, daß man in die weiten Gärten des Herrn Guidotto hineinblickt, wo zwei Springbrunnen fließen

Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto

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und die schönen, stolzen Pfaue zwischen den Blumenbeeten schreiten. Auch große seltene Vögel mit prächtigem Gefieder sind da und schaukeln auf den Zweigen der Bäume; denn ihr sollt wissen, daß Herr Guidotto lange geweilt hat in fernen Ländern. Und immer näher kommt man, dann führt der Weg längs der Mauer des Parkes, daß man lange Zeit das Rauschen der Bäume hört; und dazu das Kläffen der schlanken Hunde. Wie aber der Weg plötzlich sich wendet, da steht man vor der stolzen Vorderseite des Hauses; man sieht breite und hohe Fenster und die schmalen Erker und Blumengewinde, die von Terrasse zu Terrasse führen, und die Pfaue schreiten auch hier auf den Kieswegen, die Hunde tummeln sich auf den Treppen, an dem Fenster aber steht Herr Guidotto Procida und hält einen Falken auf seiner Faust. Und so nah führt der Weg an den Fenstern des Herrn Guidotto vorbei, daß es scheint, als läge sein Leben offen da, ausgebreitet gegen die Straße hin, als ob man seinen Falken greifen könnte mit ausgestrecktem Arm. Dann führt die Strasse hinab, doch lange noch fühlt man Herrn Guidottos Blicke auf seinem Haupt, dann drängen sich Bäume dazwischen und ihrer mehr und mehr, aber die Giebel und Türme des Hauses schimmern noch immer hindurch und leuchten noch lange. Und ist man den ganzen Tag gewandert und hat man endlich das weite Meer vor Augen, so sieht man, nach rückwärts sich wendend, noch immer ein fernes, weißes Schimmern. Und man fragt sich mit Staunen: »Ist’s eine Wolke? Oder ist’s wirklich noch das Haus des Herrn Guidotto?« – Dieser Weg war’s den Irene wählte, da man sie zwang, als des Prinzen Michael Gattin mit den Griechen in das ferne Byzanz zu ziehen. Nun sind sie beide tot, Irene und Herr Guidotto, doch so hat es begonnen. ***** Sie ist tot. Auch Herr Guidotto ist tot und so hat es begonnen.2

––––––– 2

Die bislang unveröffentlichte Erzählung ist 1909 entstanden. Sie folgt der Handschrift, die sich im Besitz von Robert Karle befindet; unbedeutende Verschreibungen wurden stillschweigend korrigiert. Für die Abdruckgenehmigung danken die Herausgeber den Perutz-Erben und dem Zsolnay Verlag, für den Hinweis auf den Text Hans-Harald Müller.

Michael Mandelartz Bibliographie Leo Perutz

In den gut eineinhalb Jahrzehnten, die seit der Bibliographie von Hans-Harald Müller und Wilhelm Schernus (Leo Perutz. Eine Bibliographie. Frankfurt a. M., u.a. 1991) vergangen sind, hat sich die Perutz-Forschung etabliert. Dies zeigt schon ein flüchtiger quantitativer Vergleich. Der Abschnitt ›Wissenschaftliche Untersuchungen‹ bestand damals aus einer Handvoll Magisterarbeiten und Dissertationen; in der vorliegenden Bibliographie nimmt die Sekundärliteratur mehr als die Hälfte des Raums ein. Die Rechtfertigung einer neuen Perutz-Bibliographie liegt denn auch vor allem darin, ein aktuelles, möglichst vollständiges Verzeichnis der wissenschaftlichen Literatur zu Leo Perutz (unter Einschluss der vor 1990 erschienenen Titel) vorzulegen. Der Abschnitt ›Primärliteratur‹ schließt dagegen chronologisch an Müller und Schernus an. Der größere Teil der Titel wurde nicht autopsiert, sondern sekundär aus Bibliothekskatalogen, Zuschriften der Autoren und anderen Quellen ermittelt. Trotz des Bemühens um Korrektur zweifelhafter Angaben können daher einige unvollständige und fehlerhafte Einträge stehengeblieben sein, insbesondere bei fremdsprachigen Titeln. Sekundärliteratur, die keinem Werk von Perutz zugeordnet werden konnte, wurde dem Abschnitt ›Zum Gesamtwerk‹ eingeordnet. Nicht aufgenommen wurden Zeitungsartikel. Redaktionsschluss war Ende Juni 2007. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch die angegebenen URLs überprüft. Eine Online-Version der Bibliographie1 wird gelegentlich auf den neuesten Stand gebracht. Über ein Kontaktformular können dem Verfasser von dort aus auch neue oder neu gefundene Titel zur Aufnahme angezeigt werden. Für Hinweise habe ich zu danken CHOI Yun-Young (Seoul), HAMAZAKI Keiko (Kobe) und Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck).

––––––– 1

Vgl. .

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Michael Mandelartz

Gliederung 1

Primärliteratur 1.1 1.2 1.3 1.4

Nachlass Werke Briefwechsel Übersetzungen

Sekundärliteratur

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Bibliographien, Ausstellungskataloge, Lexikonartikel Sammelbände Biographisches Zur Rezeption Zum Gesamtwerk Zu einzelnen Werken

1 Primärliteratur 1.1 Nachlass Der Nachlass liegt in der Deutschen Bibliothek Frankfurt a. M., Archivalien des Deutschen Exilarchivs 1933–1945, Signatur: EB 86/94. Er enthält die Korrespondenz, u.a. mit Richard A. Bermann, Anna Mahler, Friedrich Reck-Malleczewen, Joseph Weinheber, Ernst Weiß; Lebensdokumente; Manuskripte der belletristischen und publizistischen Arbeiten sowie mathematischer Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften; Notizbücher aus der Zeit 1909–1957; Zeitungsausschnitte von und über Perutz; Erstausgaben, Übersetzungen sowie Rezensionen seiner Werke. 1.2 Werke Die dritte Kugel (1915) 1 2 3

Die dritte Kugel. Roman. München: Droemer Knaur 1993 (Knaur Tb., 3204) Die dritte Kugel. Roman. Hrsg. u. mit e. Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien: Zsolnay 1994 Die dritte Kugel. Roman [Blindendruck]. 4 Teilbde. Leipzig: Deutsche Zentralbücherei für Blinde 1996

Bibliographie Leo Perutz

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Das Mangobaumwunder (1916) 4

5

(Mit Paul Frank) Das Mangobaumwunder – Der Kosak und die Nachtigall. Zwei Romane in einem Band. München: Langen Müller o. J. [1991]. Neuaufl. 1999 (Mit Paul Frank) Das Mangobaumwunder. Eine unglaubwürdige Geschichte. Roman. München: Droemer Knaur 1998 (Knaur Tb. 60100)

Zwischen neun und neun (1918) 6 7 8

Zwischen neun und neun. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. HansHarald Müller. Wien: Zsolnay 1993 Zwischen neun und neun. Roman. München: Droemer Knaur 1993 (Knaur Tb., 3205) Zwischen neun und neun. Roman. Mit einem Nachw. hrsg. v. HansHarald Müller. München: DTV 2004 (Dtv, 13229)

Der Marques de Bolibar (1920) 9 10 11

Der Marques de Bolibar. Roman. München: Droemer Knaur 1993 (Knaur Tb., 3212) Der Marques de Bolibar. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. HansHarald Müller. Wien: Zsolnay 2004 Der Marques de Bolibar. Roman. Mit einem Nachw. hrsg. v. Hans-Harald Müller. München: DTV 2006 (Dtv, 13492)

Der Meister des Jüngsten Tages (1923) 12 13 14 15 16 17

Der Meister des Jüngsten Tages. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990 (Rororo, 12286) Der Meister des Jüngsten Tages. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien: Zsolnay 1992 (Zsolnay-Edition) Der Meister des Jüngsten Tages. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. München: Droemer Knaur 1995 Der Meister des Jüngsten Tages. Roman. München: DTV 2003 (Dtv, 13112) Der Meister des Jüngsten Tages. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien: Zsolnay 2006 Der Meister des Jüngsten Tages. Mit Ill. von Bodo Rott. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg 2007

Turlupin (1924) 18 19

Turlupin. Roman. München: Droemer Knaur 1993 (Knaur Tb., 3206) Turlupin. Roman. Mit einem Text von Alfred Polgar hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien: Zsolnay 1995

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Michael Mandelartz

Turlupin. Roman. Mit einem Nachw. hrsg. v. Hans-Harald Müller. München: DTV 2006 (dtv, 13519)

Der Kosak und die Nachtigall (1928) 21 22

(In einem Band mit: Das Mangobaumwunder) Nr. 4 (Mit Paul Frank) Der Kosak und die Nachtigall. Roman. München: Droemer Knaur 1999 (Knaur Tb., 60815)

Wohin rollst du, Äpfelchen … (1928) 23 24

Wohin rollst du, Äpfelchen … Roman. Mit einem Nachw. v. HansHarald Müller. München: Droemer Knaur 1994 (Knaur Tb. 3215) Wohin rollst du, Äpfelchen … Roman. Mit einem Nachw. hrsg. v. HansHarald Müller. München: DTV 2005 (dtv, 13349)

Herr, erbarme dich meiner (1930) 25 26 27

28

Herr, erbarme dich meiner. Wien, Hamburg: Zsolnay 1993 Herr, erbarme dich meiner. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. von Hans-Harald Müller. München: Droemer Knaur 1993 (Knaur Tb., 3214) [Auszug] Der Mond lacht. In: Das große Österreich-Lesebuch. Ein literarisches Kaleidoskop. Meisterwerke von Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard und vielen anderen. Bergisch-Gladbach: Lübbe 1994 (Bastei-Lübbe Tb, 12230), S. 332 ff. Herr, erbarme dich meiner. Hrsg. und mit einem Nachw. von HansHarald Müller. Wien: Zsolnay 1995

St.-Petri-Schnee (1933) 29 30 31

Sankt-Petri-Schnee. Roman. Mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. München: Droemer Knaur 1994 (Knaur Tb, 3213) St. Petri-Schnee. Roman. Mit einem Nachw. hrsg. v. Hans-Harald Müller. München: DTV 2005 (Dtv, 13405) Sankt Petri-Schnee. Roman. Wien: Zsolnay 2007

Der schwedische Reiter (1936) 32 33 34 35

Der schwedische Reiter. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Harald Müller. Wien u.a.: Zsolnay 1990 Der schwedische Reiter. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. Harald Müller. München: Knaur 1993 (Knaur Tb., 63012) Der schwedische Reiter. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Harald Müller. Wien: Zsolnay 2002 Der schwedische Reiter. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Harald Müller. Wien: Buchgemeinschaft Donauland u.a. 2002

HansHansHansHans-

Bibliographie Leo Perutz

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181

Der schwedische Reiter. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. HansHarald Müller. München: DTV 2004 (Dtv, 13160)

Nachts unter der steinernen Brücke (1953) 37 38 39 40 41 42 43 44

Nachts unter der steinernen Brücke. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990 (Rororo, 12281) [Auszug] Die Sarabande. In: Böhmen (1992), S. 39–51 Nachts unter der steinernen Brücke. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien: Zsolnay 1994 Nachts unter der steinernen Brücke. Roman. München: Droemer Knaur 1994. 2. Aufl. 1995 (Knaur Tb., 63036) Nachts unter der steinernen Brücke. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller [Neuaufl.]. Wien: Zsolnay 2000 Nachts unter der steinernen Brücke. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien: Buchgemeinschaft Donauland u.a. 2000 Nachts unter der steinernen Brücke. Roman. München: DTV 2002 (dtv, 13025; 2. Aufl. 2003) Nachts unter der steinernen Brücke. Ein Roman von Leo Perutz. Hrsg. u. mit einem Nachwort vers. v. Hans-Harald Müller. Furth im Wald, Prag: Vitalis u.a. 2003 (Bibliotheca Bohemica, 58)

Der Judas des Leonardo (1959) 45 46 47 48

Der Judas des Leonardo. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991 (Rororo, 12284) Der Judas des Leonardo. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. HansHarald Müller. Wien: Zsolnay 1994 Der Judas des Leonardo. Roman. Hrsg. und mit einem Nachw. v. HansHarald Müller. München: Droemer Knaur 1996 (Knaur Tb., Bd.) Der Judas des Leonardo. Roman. Mit einem Nachw. hrsg. v. Hans-Harald Müller. München: DTV 2005 (dtv, 13304 )

Mainacht in Wien (1938) [und andere Texte aus dem Nachlass] 49

Mainacht in Wien. Romanfragmente. Kleine Prosa. Feuilletons – Aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Hans-Harald Müller. Wien: Zsolnay 1996 (Ausgew. Werke in Einzelbänden). 2. Aufl. 1997. – Darin: I Romanfragmente 1 Der Vogel Solitär [1920/22)], S. 7–56 2 Mainacht in Wien [Juli/August 1938], S. 57–88 II Kleine Erzählprosa 1 Armes Kasperl! [1906], S. 91f. 2 Der Feldwebel Schramek [1907], S. 93–114

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Michael Mandelartz

3 Der Tod des Messer Lorenzo Bardi [1907], S. 115–121 4 Der Bruder des Leonardo. Ein Gespräch [1908], S. 122–128 5 Pour avoir bien servi [um 1911], S. 129–137 6 Die Hatz auf den Mond [1915], S. 138–145 III Reisefeuilletons 1 Skizzen aus der Ukraine [1918], S. 149–153 2 Die zweitteuerste Stadt der Welt [1918], S. 154–156 3 Skizzen aus dem Südosten [1918], S. 157–160 4 Karthago [1924], S. 161–165 5 Der Nationalfeiertag im Dorfe [1924], S. 166–170 6 Fantasia in Kairouan [1925], S. 171–177 7 Arabische Cafés [1924], S. 178–183 8 Der letzte Kreuzzug [1927], S. 184–188 IV Literaturfeuilletons 1 Indien [1907], S. 191–195 2 Um 1750 [1907], S. 196–200 3 Gustav Wied [1907], S. 201–205 4 Schnitzler [1908], S. 206–210 5 Paul Madsack: Der schwarze Magier [1925], S. 211–212 6 Diskussion im Schaufenster [1919], S. 213–215 7 Vae victis [1925], S. 216–219 8 Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey [1929], S. 220– 222 9 Klage um einen Toten [1939], S. 223–228 Mainacht in Wien. Romanfragmente. Kleine Erzählprosa. Feuilletons aus dem Nachlaß. Mit einem Nachw. hrsg. v. Hans-Harald Müller. München: DTV 2007 (dtv, 13544 )

Zwei neu entdeckte Texte 51

Leo Perutz – Zwei unbekannte Texte: »Wenn jemand eine Reise tut …«; »Mein neuester Roman«. Gefunden von Murray G. Hall und Sigurd Paul Scheichl. In: Müller, Hans-Harald; Forster, Brigitte (Hrsg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Wien: Sonderzahl 2002, S. 257–260

1.3 Briefwechsel 1

Ein Fundstück von Leo Perutz [Brief von Leo Perutz an Eugen Gömöri]. In: Literatur und Kritik. Österreichische Monatsschrift 33 (1998), H. 321/322, S. 40–41

Bibliographie Leo Perutz

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Müller, Hans Harald; Engel, Peter (Hrsg.): Unveröffentlichte Briefe von Ernst Weiß an Leo Perutz. Edition und Kommentar. In: Modern Austrian Literature 21 (1988), S. 27–60

1.4 Übersetzungen Baskisch 1

[Zwischen neun und neun] Bederatzietatik bederatzietara. O. O. [Irún]: Alberdania & Elkar 2003 (Literatura unibertsala, 107). Übers.: Anton Garikano

Dänisch 2 3

[Der Meister des jüngsten Tages] Den yderste dags mester. Kopenhagen: Gyldendal 1990. Übers.: Leif G. Berthelsen [Wohin rollst du, Äpfelchen?] Hvor triller du hen, lille æble? Kopenhagen: Gyldendal 1990. Übers.: Leif G. Berthelsen

Englisch 4 5 6 7 8 9 10 11 12

13 14

[Der Marques de Bolibar] The marquis of Bolibar. A novel. 1. U.S. ed. New York, N.Y.: Arcade Publ. 1989. Übers.: John Brownjohn [Der Meister des Jüngsten Tages] The Master of the day of judgment. New York: Arcade Publishing 1994. Übers.: Eric Mosbacher [Turlupin] Turlupin. London: Harvill 1996 [Wohin rollst du, Äpfelchen] Little apple. 1. publ. London: Harvill 1991. Übers.: John Brownjohn [Wohin rollst du, Äpfelchen?] Little apple. 1. North American ed. New York, NY: Arcade Publ. 1992. Übers.: John Brownjohn [Sankt Petri-Schnee] Saint Peter’s snow. 1. publ. in Great Britain. London: Harvill 1990. Übers.: Eric Mosbacher [Der schwedische Reiter] The Swedish cavalier. London: Harvill 1992. Übers.: John Brownjohn [Der schwedische Reiter] The Swedish cavalier. London: Harper Collins 1993. Übers.: John Brownjohn [Nachts unter der steinernen Brücke] By night under the stone bridge. 1. publ. in Great Britain. London: Harvill 1989. Übers.: Eric Mosbacher. Neuaufl. 1991 [Der Judas des Leonardo] Leonardo’s Judas. London: Collins Harvill 1989. Übers.: Eric Mosbacher [Der Judas des Leonardo] Leonardo’s Judas. A novel. 1. U.S. ed. New York, N.Y.: Arcade Publ. 1989. Übers.: Eric Mosbacher

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Michael Mandelartz

Estnisch 15 16

[Turlupin] Turlupin. O. O. [Tallinn]: Kirjastus Perioodika 1998. Übers.: Jaanus Vaiksoo [Der schwedische Reiter] Rootsi ratsanik. O. O. [Tallinn]: Varrak 2002. Übers.: Jaanus Vaiksoo

Finnisch 17

[Der schwedische Reiter] Ruotsalainen ritari. Hämeenlinna: Karisto 2. painos 1992. Übers.: Werner Anttila

Französisch 18

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[Die dritte Kugel] La troisième balle. Roman. Paris: Librairie générale française 2002 (Le Livre de poche. Biblio, 3128). Übers.: Jean-Claude Capèle [Das Mangobaumwunder] Le miracle du manguier. Une histoire invraisemblable. Paris: Michel 1994. Übers.: Jean-Jacques Pollet. Neuaufl. 1997 [Der Marques de Bolibar] Le marquis de Bolibar. Roman. Paris: Michel 1991. Übers.: Odon Niox Chateau. Neuaufl. Paris: Librairie générale française 1995 (Le livre de poche. Biblio, 3236) [Der Meister des jüngsten Tages] Le maître du jugement dernier. Roman. Paris: Fayard 1989 (Littérature étrangère Fayard) Übers.: Jean-Claude Capèle. Nachdr. 1992 [Der Meister des jüngsten Tages] Le maître du Jugement dernier. Roman. Paris: Librairie générale française 2001 (Le livre de poche. Biblio, 3173). Übers.: Jean-Claude Capèle [Zwischen neun und neun] Le tour de cadran. o. O. [Paris]: Bourgois 1988. Übers.: Jean-Jacques Pollet. Neuaufl. 1991 [Turlupin] Turlupin. Roman. Paris: Librairie générale française 1991 (Le livre de poche. Biblio, 3150). Übers.: Jean-Claude Capèle [Turlupin] Turlupin. Paris: Stock, 1998 (La bibliothèque cosmopolite). Übers.: Jean-Claude Capelle [Der Kosak und die Nachtigall] Le cosaque et le rossignol. Roman. Paris: Michel 1994 (Les grandes traductions). Übers.: Jean-Jacques Pollet. Neuaufl. 1998 [Wohin rollst Du, Äpfelchen] Ou roules-tu, petite pomme. Roman. Paris: Fayard 1989 (Littérature étrangère Fayard). Übers.: Jean-Claude Capèle [Wohin rollst du, Äpfelchen?] Où roules-tu, petite pomme? Roman. Paris: Librairie générale française 1992 (Le livre de poche. Biblio, 3186). Übers.: Jean-Claude Capèle. Nachdr. 2002 [Herr erbarme dich meiner] Seigneur, ayez pitié de moi. Paris: Michael 1989. Übers.: Ghislain Riccardi. Neuaufl. 1995

Bibliographie Leo Perutz

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[Der schwedische Reiter] Le cavalier suédois. Roman. Paris: Phébus 1999. Übers.: Martine Keyser (Phébus libretto, 32). Neuaufl. 2002 [Mainacht in Wien] Nuit de mai à Vienne. Paris: Fayard 1999. Übers.: Jean-Jacques Pollet [Nachts unter der steinernen Brücke] La nuit sous le pont de pierre. Roman. Paris: Fayard 1987. Übers.: Jean-Claude Capèle. Nachdr. Libr. Générale Française 1990 [Der Judas des Leonardo] Le Judas de Léonard. Roman. Paris: Phébus 2003. Übers.: Martine Keyser

Italienisch 34 35 36 37 38 39 40

[Zwischen neun und neun] Dalle nove alle nove. Postfac. di Paola Maria Filippi. Trento: Reverdito 1988 (Biblioteca, 13). Übers.: Marco Consolati [Zwischen neun und neun] Dalle nove alle nove. Milano: Adelphi 2003 (Biblioteca Adelphi, 447). Übers.: Marco Consolati [Wohin rollst du, Äpfelchen …] Tempo di spettri. Milano: Adelphi 1992 (Biblioteca Adelphi, 254). Übers.: Rosella Carpinella Guarneri [St.-Petri-Schnee] La neve di San Pietro. Introd. di Marino Freschi. Roma: Fazi 1998. Übers.: Carlo Sandrelli [Der schwedische Reiter] Il cavaliere svedese. 3. ed. Milano: Adelphi 1999 (Biblioteca Adelphi, 234). Übers.: Elisabetta Dell’Anna Ciancia [Nachts unter der steinernen Brücke] Di notte sotto il ponte di pietra. 1. ed. Roma: Ed. E/O 1992 (Tascabili E/O, 18). Übers.: Beatrice Talamo [Der Judas des Leonardo] Il Giuda di Leonardo. Roma: Fazi, 1997 (Le porte, 31). Übers.: Sabrina Di Gaspere

Ivrit 41 42 43

[Zwischen neun und neun] Bên tesa le-tesa. Tel-Aviv: Zemôra-Bît 1993. Übers.: .Hann’a Livnat [St. Petri-Schnee] has- Seleg sel Pe.trôs haq-q’adôs. Tel-Aviv: Sifriyyat Pôalîm 2000. Übers.: Ary’e Ûrî'’el [Nachts unter der steinernen Brücke] Bal-layl’a mit-ta.hat le-geser h’aeven. Rôm’an mip-Pra^g h’a-attîq’a. Tel-Aviv: Gew’anîm 1998. Übers.: Rût Bôndî

Japanisch 44 45

[Die Dritte Kugel] Daisan no Madan. Tokyo: Kokusho Kankohkai 1986 (Sekai Gensou Bungaku Taikei, 37). Übers.: MAEKAWA Michisuke [Der Judas des Leonardo] Reonarudo no Yuda. Tokyo: Edition q/Quintessence 2001. Übers.: SUZUKI Yoshiko

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Michael Mandelartz

[Der Meister des jüngsten Tages] Saigo no Shinpan no Kyoshou. Tokyo: Shobunsha 2005 (Shobunsha Mystery). Übers.: TARUNOSOU Ichirou [Epilog (Auszug aus: Nachts unter der steinernen Brücke)] Shuuen. In: Doitsu no Seikimatsu, 2: Puraha Yanusu no Soubou [Deutsche Jahrhundertwende, 2: Janusköpfige Ansichten Prags]. Tokyo: Kokusho Kankohkai 1986, S. 325–331. Übers.: HIRANO Yoshihiko [Der Mond lacht] Tsuki ha warau. Hayakawa’s Mystery Magazine No. 340, August 1984, S. 206–213. Übers.: MAEKAWA Michisuke. Wiederabdruck in: Doitsu Kaiki Shousetsu Shuusei. Tokyo: Kokusho Kankohkai 2001, S. 163–171

Koreanisch 49

[Das Mangobaumwunder] Manggo-Namuoibimil. Seoul: Iyu 2002. Übers.: OH Yong-Rok

Lettisch 50 51

Der Meister des Jüngsten Tages] Pastaras dienas meistars. Romans Riga: Izdevnieciba AGB 2002. Übers.: Aija Jakovica [Nachts unter der steinernen Brücke] Naktis zem akmens tilta. Hansa Haralda Millera pecvards. Aizpute: von Hirschheydt 2003. Übers.: Janis Krumins

Niederländisch 52 53 54 55

[Der Marques de Bolibar] De marques de Bolibar. Roman. Amsterdam: De Arbeiderspers 1990. Übers.: Nelleke van Maaren [Der Meister des jüngsten Tages] De meester van de jongste dag. Amsterdam: De Arbeiderspers 1992. Übers.: Nelleke van Maaren [Der schwedische Reiter] De Zweedse ruiter. Roman. Amsterdam: De Arbeiderspers 1997. Übers.: Nelleke van Maaren [Der Judas des Leonardo] De Judas van Leonardo. Roman. Amsterdam: De Arbeiderspers 1993. Übers.: Nelleke van Maaren

Polnisch 56

[Nachts unter der steinernen Brücke] Noca pod kamiennym mostem. Wyd. 1. Warszawa: Wydawn. ›ALFA‹ 1992 (Biblioteka dzieł wyborowych Tukan, 7). Übers.: Krzysztof Jachimczak

Rumänisch 57

[Der schwedische Reiter] Călăreţul suedez. Bucureşti: Humanitas, 2006 (Raftul Denisei). Übers.: Ana Popa

Bibliographie Leo Perutz

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Russisch 58 59 60 61

[Der Meister des Jüngsten Tages] Master strašnogo suda. Moskva: Kniga i Biznes 1992. Übers.: I. B. Mandel’štama [Der Meister des Jüngsten Tages] Master strasnogo suda. Sankt-Petersburg: Kristall 2000 (Enthält 7 Romane) [Der schwedische Reiter] Švedskij vsadnik i drugie magičeskie romany. Ekaterinburg: Izdat. Ural’skogo Universiteta 1998 [Der Judas des Leonardo und andere Geschichten] Iuda »Tajnoj večeri« i drugie sočinenija. Ekaterinburg: Izdat. Ural’skogo Univ. 2000

Spanisch 62 63 64 65 66

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[Die dritte Kugel] La tercera bala. Madrid: Ed. Debate 1992 (Colección literatura, 103). Übers.: Amalia Bosch [Zwischen neun und neun] Mientras dan las nueve. Barcelona: Destino 2005 (Áncora y delfín; 1033). Übers. Amalia Bosch Benítez [Der Marques de Bolibar] El marques de Bolivar. 1. ed. Barcelona: Destino 2006 (Ancora y delfin; 1062) [Der Meister des Jüngsten Tages] El maestro del Juicio Final. LaHabana, Cuba: Ed. Arte y Literatura 1999 (Colección Dragón: Policial) [Der Meister des Jüngsten Tages] El maestro del juicio final. 1. ed. Barcelona: Destino 2004 (Colección Áncora y delfín; 996). Übers.: Jordi Ibáñez [Turlupin] Turlupin. Barcelona: Muchnik o. J. [1993]. Übers.: Cristina García Ohlrich [Wohin rollst du, Äpfelchen?] ¿Adónde vas, manzanita? Barcelona: Muchnik 1992. Übers.: Juan Leita [Herr erbarme dich meiner] Señor, apiádate de mí. Madrid: Debate, 1990 (Colección Literatura, 39). Übers.: Anton Dieterich [Der schwedische Reiter] El caballero sueco. Barcelona: Muchnik 1989. Übers.: Christina García Ohlrich [Nachts unter der steinernen Brücke] De noche, bajo el puente de piedra. Barcelona: Muchnik 1991. Neuaufl. 1998. Übers.: Cristina García Olrich [Der Judas des Leonardo] El Judas de Leonardo. Ed. y epílogo de HansHarald Müller 2. ed. Barcelona: Destino 2004 (Áncora y delfín; 997). Übers.: Antón Diederich [Der Judas des Leonardo] El Judas de Leonardo. 1. ed. Barcelona: Destino 2005 (Booket; 6082). Übers.: Antón Diederich [Der Judas des Leonardo] El Judas de Leonardo. Barcelona: Planeta-De Agostini 2006 (Misterios y enigmas de la historia)

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Tschechisch 75

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[Der Meister des Jüngsten Tages] Mistr posledního soudu. Fantastický román. Olomouc: Votobia 1998 (Edice světových autorů; 9). Übers.: Lucy Topol’ská [Der schwedische Reiter] Švédský jezdec. Praha: Argo – Panda 1995. Übers.: Irena Kunovská [Nachts unter der steinernen Brücke] Noc pod kamenným mostem. Vyd. 1. Praha: Vyšehrad 1990. Übers.: Tomáš Kratěna

2 Sekundärliteratur 2.1 Bibliographien, Ausstellungskataloge, Lexikonartikel 1 2

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Giffuni, Cathe: Leo Perutz. An English Bibliography. In: Bulletin of Bibliography (Westport), Dec. 1991, 48, S. 195–197 Kindt, Tom: Leo(pold) Perutz. In: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. v. der historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 20: Pagenstecher – Püterich. Berlin: Duncker & Humblot 2001, S. 207f. Kluth Cothran, Bettina: Leo Perutz. In: Dictionary of Literary Biography, 81: Austrian Fiction Writers, 1875–1913. Ed. by James Hardin und Donald Daviau. Detroit, Mich.: Gale Research 1989, S. 232–243 Lüth, Reinhard: Leo Perutz. In: Bibliographisches Lexikon der utopischphantastischen Literatur. Hrsg. v. Joachim Körber. Meitingen 1988. Loseblattsammlung, 13. Ergänzungs-Lieferung (März 1988), S. 1–9 [Biographie], 1–8 [Bibliographie] Mandelartz, Michael: Bibliographie zu Leo Perutz. Im Internet unter der URL erreichbar. Mandelartz, Michael: Leo Perutz. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Begr. und hrsg. v. Friedrich Wilhelm Bautz. Fortgef. v. Traugott Bautz, XVIII. Hamm, Herzberg: Bautz 2001, Sp. 1141–1149. Im Internet unter der URL erreichbar. Müller, Hans-Harald: Leo Perutz. In: Metzler Lexikon der deutschjüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Andreas B. Kilcher. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 458f.

Bibliographie Leo Perutz

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Müller, Hans-Harald; Eckert, Brita: Leo Perutz 1882–1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt a. M., Wien, Darmstadt: Zsolnay 1989 (Sonderveröffentlichungen der Deutschen Bibliothek, 17) Müller, Hans-Harald; Schernus, Wilhelm: Leo Perutz. Eine Bibliographie. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Lang 1991 (Hamburger Beiträge zur Germanistik, 15) [Primär- und Sekundärliteratur, einschließlich Übersetzungen]

2.2 Sammelbände 1

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Daviau, Donald G. (Hrsg.): Major Figures of Austrian Literature. The Interwar Years 1918–1938. Riverside, California: Ariadne Press 1995 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought) Müller, Hans-Harald; Forster, Brigitte (Hrsg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Wien: Sonderzahl 2002 (Dokumentation des zweiten internationalen Perutz-Kolloquiums in Wien und Prag, 20.–23. September 2000). – Rezensionen: Évelyne Jacquelin in: Germanistische Mitteilungen 56 (2002); Stifter Jahrbuch N. F. 17 (2003); Gerald Funk in: literaturkritik.de 4, Nr. 7 (Juli 2002). Im Internet erreichbar unter der URL

Pollet, Jean-Jacques (Hrsg.): Leo Perutz ou l’ironie de l’histoire. Rouen: l’Univ. de Rouen 1993 (Études autrichiennes, 2; Dokumentation des ersten internationalen Perutz-Kolloquiums im Österreichischen Kulturinstitut in Paris, 8./9. März 1991)

2.3 Biographisches 1 2 3 4 5

Amort, Michaela: Leo Perutz (1882–1957). Arbeiten für Presse, Theater und Film; Exil (1938–1957). Wien, Univ., Dipl.-Arb., 1991 Amort, Michaela: Wanderer zwischen zwei Welten. Facetten des Schriftstellers und Multitalents Leo Perutz. Wien: Selbstverlag 1994 Ben-Chorin, Schalom: Leo Perutz’ Haus mit den zwei Fenstern. In: Der Literat 36 (1994), H. 5, S. 13–15 Berthold, Werner: Richard A. Bermann et Leo Perutz. Notes sur une amitié. In: J.-J. Pollet (2.2, Nr. 3), S. 27–43 Berthold, Werner: Richard A. Bermann und Leo Perutz. Anmerkungen zu einer Freundschaft. In: ders.: Exilliteratur und Exilforschung. Ausgewählte Aufsätze, Vorträge und Rezensionen. Mit einer Einleitung von Wolfgang Frühwald hrsg. v. Brita Eckert und Harro Kieser. Wiesbaden: Harassowitz 1996 (Gesellschaft für das Buch, 3), S. 171–187

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Drescher, Stefan: Leo Perutz. Leben und Werk. Erlangen-Nürnberg, Univ., Mag.-Arb., 1990 Eckert, Brita: »… bis die deutsche Seele sich Werken jüdischen Geistesguts wieder eröffnet …«. Die mühsame Rückkehr des Leo Perutz in den deutschsprachigen Literaturbetrieb nach 1945. In: »Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde«. Acta-Band zum Symposium »Beiträge jüdischer Autoren zur deutschen Literatur seit 1945« (Universität Osnabrück, 2.–5. Juni 1991). Hrsg. v. Jens Stüben und Winfried Woesler. Darmstadt: Häusser 1994, S. 169–182 Eckert, Brita: »… daß mich ›mein Herz‹ unaufhörlich ›nach Wien treibt‹ …«. Die vergeblichen Rückkehrversuche des Leo Perutz. In: Rückkehr aus dem Exil. Emigranten aus dem Dritten Reich in Deutschland nach 1945. Essays zu Ehren von Ernst Loewy. Hrsg. v. Thomas Koebner und Erwin Rotermund. Marburg: Wenzel 1990, S. 31–42 Engel, Peter; Müller, Hans-Harald: »… ein guter Freund und Kamerad täte mir oft hier sehr wohl«: Ernst Weiß’ Briefe an Leo Perutz. In: Modern Austrian Literature (San Bernardino, CA), 21 (1988), S. 27–59 Freschi, Marino: Leo Perutz. All’ insegnimento di Praga. In: ders.: La Praga di Kafka. Letteratura tedesca a Praga. Napoli: Guida 1990, S. 97–102 Gimpl, Georg: Späte Heimkehr? Leo Perutz und das jüdische Prag. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 219–245 Meister, Jan Christoph: Leo Perutz (1882–1957). In: Major Figures of Austrian Literature (2.2, Nr. 1), S. 327–353 Mossel, Erik: Herinneringen aan Leo Perutz van Gerty Kelemen. In: Maatstaf. Maandblad voor letteren, 41 (1993), issue 6, p. 73 Müller, Hans-Harald: »So geht es einem, der allzuviele Vaterländer hat«. Leo Perutz – eine Skizze zu Leben und Werk. In: Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Wien: Braumüller 1989 (Schriftenreihe der Franz-Kafka-Gesellschaft, 3), S. 118–126 Müller, Hans-Harald: Leo Perutz – eine biographische Skizze. In: Exil Nr. 2 (1986), S. 5–17 Müller, Hans-Harald: Leo Perutz. München: Beck 1992 (Autorenbücher; Beck’sche Reihe, 625). – Rezension: Michael Mandelartz in: Arbitrium, 1995, S. 224–226 Müller, Hans-Harald: Prag, Wien, Tel Aviv. Zu Leben und Werk von Leo Perutz (1882–1957). In: Der Deutschunterricht 56 (2004), S. 30–46 Müller, Hans-Harald: Leo Perutz. Biographie. Wien: Zsolnay 2007 Schmidt-Dengler, Wendelin: Der Autor Leo Perutz im Kontext der Zwischenkriegszeit. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 20), S. 9–22

Bibliographie Leo Perutz

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Schmoll, Helma: Deutschsprachige Literatur in Palästina und Israel. Ein Überblick mit Biographien von Leo Perutz, Max Brod und Heinz Weissenberg sowie Interpretationen ihrer Geschichtsromane. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 1990 Siebauer, Ulrike: »Kameradschaft über alles. Selbst über Saufen und Weibergeschichten«. Leo Perutz und Friedrich Reck-Malleczewen, 1926– 1931. In: Bespiegelungskunst. Begegnungen auf den Seitenwegen der Literaturgeschichte. Hrsg. v. Georg Braungart. Tübingen: Attempto 2004, S. 231–243 Siebauer, Ulrike: Leo Perutz – »Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich«. Biographie. Gerlingen: Bleicher 2000 (zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 1998). – Rezensionen: Sigurd Paul Scheichl in: Austriaca (Rouen) 50 (2000), S. 247f.; O. Vogel in: literaturkritik.de 2, Nr. 6 (Juni 2000). Im Internet erreichbar unter der URL .

2.4 Zur Rezeption 1

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Eckert, Brita: Romancier métaphysique ou auteur de romans populaire? Leo Perutz vu par la critique littéraire et la Recherche universitaire après 1945. In: J.-J. Pollet (2.2, Nr. 3), S. 7–25 Mix, York-Gothart: Das richtige Buch für den richtigen Leser und die falschen Bücher von Leo Perutz, Armin T. Wegner und Karl Kautsky. Öffentliches Bibliothekswesen, Volksbildung und Zensur in Ostdeutschland zwischen kulturpolitischer Entnazifizierung und Stalinisierung (1945–1953). In: Geschichte des Bibliothekswesens in der DDR. Hrsg. v. Peter Vodosek und Konrad Marwinski. Wiesbaden: Harrassowitz 1999, S. 117–131 Müller, Hans-Harald: »Ich bin für Europa ein forgotten writer«. Zur Rezeption des Werks von Leo Perutz in Deutschland und Österreich von 1945 bis 1960. In: Die Resonanz des Exils. Gelungene und mißlungene Rezeption deutschsprachiger Exilautoren. Hrsg. v. Dieter Sevin. Amsterdam u.a.: Rodopi 1992, S. 326–337 Orlowski, Hubert: Die Rezeption österreichischer Exilliteratur in Polen, methodisch reflektiert. In: Österreicher im Exil 1934–1945. Protokoll des internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934–1945. Abgehalten vom 3. bis 6. Juni 1975 in Wien. Hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst 1977, S. 564–574

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2.5 Zum Gesamtwerk 1

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Alefeld, Yvonne-Patricia: Poetische Geschichte und jüdische Identität. Zu Themen und Motiven im Werk von Leo Perutz. In: Deutsche Autoren des Ostens als Gegner und Opfer des Nationalsozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblematik. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll. Berlin: Duncker & Humblot 2000, S. 297–319 Aust, Hugo: Unterhaltungen deutscher Lehrenden über Poetik, Geschichte und Gegenwart der Novelle (Goethe – Benn – Perutz). In: Hinauf und Zurück/in die herzhelle Zukunft. Deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Birgit Lermen. Hrsg. v. Michael Braun und Peter J. Brenner. Bonn: Bouvier 2000, S. 83–106 Becher, Martin Roda: Bewohner zweier Welten. Zur Neuausgabe der Romane von Leo Perutz. In: Merkur, 42 (1988), S. 683–688 Berg, Stephan: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1991 Buchner, Martina: Die Form der Identität in den phantastischen Romanen Leo Perutz’. Graz, Univ., Diss., 1994 Carbonell, Veronica Jaffé: Leo Perutz. Ein Autor deutschsprachiger phantastischer Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. München, Diss. phil., 1986 Cersowsky, Peter: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradition der ›schwarzen Romantik‹ insbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubin und Franz Kafka. München: Fink 1983. 2. unveränd. Aufl. 1989 Chassagne, Jean-Pierre: Le scepticisme dans l’oeuvre narrative de Leo Perutz. Thèse de Doctorat, Université Grenoble III, Juin 1999 Cothran, Bettina F.: Der ›Einbruch der E. T. A. Hoffmannschen Welt‹ in den Werken von Leo Perutz. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft Bamberg 36 (1990), S. 36–47 Demet, Michel-François: Temps et histoire chez Leo Perutz. In: J.-J. Pollet (2.2, Nr. 3), S. 45–52 Doppelhofer, Michael: Das strukturierende Motiv. Ein Beitrag zum Werk von Leo Perutz. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 1998 Eichner, Hans: Leo Perutz, Meister des Erzählens. Bemerkungen aus Anlaß seiner Wiederentdeckung. In: The German Quarterly 67 (1994), S. 493–499. Wiederabdruck in: ders.: Against the grain – Gegen den Strich. Selected essays. Ed. by Rodney Symington. Bern, Berlin u.a.: Lang 2003 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 47), S. 365–374

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Eisterer, Matthias: Die Frauengestalten in den Romanen von Leo Perutz. Protagonistinnen zwischen Aktivität und Passivität. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 2001 Englmann, Bettina: Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Tübingen: Niemeyer 2001 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 109; zugl: Augsburg, Univ., Diss., 2000) Eschapasse, B.: Autriche. Perutz ou la force des choses. In: Jeune Afrique Nr. 1966 (1998), S. 62ff. Finazzi, Maria Tosca: L’insidia della memoria e la lesione della colpa nei personaggi di Leo Perutz. In: Studia austriaca V. Hrsg. v. Cercignani Fausto. Milano: Ed. Minute 1997, S. 111–133 Finazzi, Maria Tosca: Leo Perutz. Enigmi e teoremi fantastici. Milano, Universita degli studi, Tesi datt, 1993. 4 microfiche Fleckinger, Markus: Der unzuverlässige Erzähler bei Leo Perutz. Innsbruck, Diss. 2006 Frank, Eduard: Leo Perutz, der Visionär des jüngsten Tages. In: Sudetenland 5 (1963), S. 99–107 Hall, Murray G.: Der Zsolnay Verlag und sein Autor Leo Perutz. In: HansHarald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 130–142 Hass, Kai: Modelle der Weg-Ziel-Struktur in den Romanen von Leo Perutz. München, Univ., Mag.-Arb., 1992 Hochmuth, Andrea: Vergessen und Vergegenwärtigen. Die Bedeutung des Phantastischen in den Romanen von Leo Perutz. Innsbruck, Univ., Dipl.Arb., 1989 Osols-Wehden, Irmgard: Im Labyrinth der Meister: Leo Perutz und die Analytische Psychologie C. G. Jungs. In: Compass. Mainzer Hefte für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft II (1997) Jacquelin, Évelyne: Leo Perutz et l’héritage de la Jeune Vienne ou les avatars du moi insauvable. In: Les Jeunes Viennois ont pris de l’âge. Les œuvres tardives des auteurs du groupe Jung Wien et de leurs contemporains autrichiens. Éd. par Rolf Wintermeyer et Karl Zieger. Presses Universitaires de Valenciennes 2004 (Recherches valenciennoises, No. 16) Jacquelin, Évelyne: Leo Perutz, écrivain fantastique? Théories et lectures, d’un bord à l’autre du Rhin. In: Merveilleux et fantastique dans les littératures centre-européennes. Éd. par Bernard Banoun et Delphine Bechtel. Publications du Centre Interdisciplinaire de Recherches Centre-Européennes, Université de Paris-Sorbonne (Paris IV) 2002 (Cultures d’Europe centrale, No. 2) Jacquelin, Évelyne: Variations fantastiques. L’exemple de Leo Perutz. Thèse de doctorat, École doctorale de l’Université d’Artois, 2002

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Jacquelin, Évelyne: »Aus der Hölle hab ich sie mir geholt.« Guerriers sidérés et fatales innocentes. Les représentations de la rencontre amoureuse dans les premières œuvres de Leo Perutz (1906–1920). In: L’amour autour de 1900. Actes du colloque international Aix-en-Provence, 3, 4 et 5 mars 2005. Èd. par Ingrid Haag. Aix-en-Provence: Blanc 2006, S. 99–110 Jacquelin, Évelyne: L’espace germanique en crise dans les mystifications historiques de Leo Perutz. Contribution au colloque international et pluridisciplinaire Ruptures modernes et contemporaines organisé sous la direction de Jacqueline Bel par le Centre d’études et de recherche sur les Civilisations et les Littératures Européennes de l’Université du Littoral Côte d’Opale, 16–18 novembre 2006 (im Druck) Jauert, Bettina: Musikzitate. Zur Funktion und Bedeutung der ›Musikstellen‹ im Werk von Leo Perutz. Hamburg, Univ., Mag.-Arb., 1994 Kaiser, Birgit: Der Tod in der Literatur der Jahrhundertwende als sozialgeschichtliche Reflexion. Dargestellt an den Werken Heimito von Doderers, Alexander Lernet-Holenias und Leo Perutz. Graz, Univ., Dipl.-Arb., 1992 Klotz, Alexander: Drogen und modifizierte Wirklichkeit bei Leo Perutz. RWTH Aachen, Philosophische Fakultät, Mag.-Arb., 2000 Klotz, Alexander: Drogen und modifizierte Wirklichkeit bei Leo Perutz. In: Quarber Merkur 99/100 (2004), S. 85–124 Krah, Hans: ›Fantastisches‹ erzählen – fantastisches ›Erzählen‹. Die Romane Leo Perutz’ und ihr Verhältnis zur fantastischen Literatur der Frühen Moderne. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Hrsg. v. Hans Krah und Claus-Michael Ort. Kiel: Ludwig 2002, S. 235–257 Krieger, Arndt: Mundus symbolicus und semiotische Rekurrenz. Zum ironischen Spiel der Wirklichkeitssignale in Romanen von Leo Perutz. Berlin: Tenea 2000 (zugl.: Düsseldorf, Univ., Diss., 2000). – Rezension: J. J. Pollet in: Etudes Germaniques 57 (2002), H. 1, S. 175 Lauener, Peter: Die Krise des Helden. Die Ich-Störung im Erzählwerk von Leo Perutz. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2004 (Hamburger Beiträge zur Germanistik, 41). Teilw. zugl. Diss. Universität Bern 2003 Lüer, Edwin: Zeit und Zeitung. Über eine Parallele zwischen Ernst Weiß, Leo Perutz und Thomas Mann. In: Brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei 5 (1997), S. 107–114 Lüth, Reinhard: Drommetenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Meitingen: Corian 1988 (Studien zur Phantastischen Literatur, 7; zugl. Köln, Univ., Diss., 1987) Lüth, Reinhard: Im Dämmerlicht der Zeiten. Ein Porträt des phantastischen Schriftstellers Leo Perutz. In: Die dunkle Seite der Wirklichkeit. Aufsätze

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zur Phantastik. Hrsg. v. Franz Rottensteiner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987 (Phantastische Bibliothek, 199), S. 60–89 Lüth, Reinhard: Leo Perutz und das Fin-de-Siècle. Zu den literarischen Anfängen des Romanautors Leo Perutz und ihren Wurzeln in der Wiener Literatur um 1900. In: Modern Austrian Literature 23 (1990), S. 35–53 Mandelartz, Michael: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz. Tübingen: Niemeyer 1992 (Conditio Judaica, 2). Auszüge sind im Internet unter der URL erreichbar. Mandelartz, Michael: Kunst als Instrument der Erkenntnis. Zur Poetik des Spätwerks von Leo Perutz. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 190–210. Im Internet unter der URL erreichbar. Martínez, Matías: Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 107–129 Marzin, Florian F.: Die phantastische Literatur. Eine Gattungsstudie. Frankfurt a. M., Bern: Lang 1982 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Deutsche Sprache und Literatur, 569) Meister, Jan Christoph: Eviter le superflu. A propos du minimalisme narratif chez Leo Perutz. In: J.-J. Pollet (2.2, Nr. 3), S. 67–77 Müller, Hans-Harald (2.3, Nr. 16) Müller, Hans-Harald (2.3, Nr. 18) Müller, Hans-Harald: Leo Perutz. Erzähler zwischen den Welten. In: Konturen. Magazin für Sprache, Literatur und Landschaft 1 (1992), S. 59–69 Murayama, Masato: Leo Perutz. Die historischen Romane. Diss.phil., Wien 1979 Neuhaus, Dietrich: Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk Leo Perutz’. Frankfurt a. M. u.a.: Lang 1984 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 765) Neuhaus, Dietrich: Im Hinterhof der Geschichte. Beobachtungen zum Werk Leo Perutz’. In: Phaicon 5. Almanach der phantastischen Literatur. Hrsg. v. Rein A. Zondergeld. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982 (Phantastische Bibliothek, 86) Niehaus, Michael: Der Doppelgänger als Figur der Enthüllung. In: Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Hrsg. v. Ingrid Fichtner. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 1999, S. 59–77

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Michael Mandelartz

Pichler, Christoph: Nachrichten von Büchern und vom Jüngsten Gericht. Eine vergleichende Untersuchung der Romane von Leo Perutz. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 1997 Pollet, Jean-Jacques: Einige Randbemerkungen zu Perutz’ Novellistik oder »Wie dem armen Kasperl seine Pointe gestohlen wurde«. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 94–106 Pollet, Jean-Jacques: Essai sur la littérature fantastique allemande du début du XXe siècle (1900–1930). Lille: Atelier National de Reproduction des Thèses 1985 (Paris, Univ., X, Diss., 1985) Pollet, Jean-Jacques: L’énigme de l’obstination dérisoire. In: J.-J. Pollet (2.2, Nr. 3), S. 95–107 Pollet, Jean-Jacques: Leo Perutz, Gustav Meyrink. Éléments de réflexion sur la littérature fantastique ›pragoise‹. In: Allemands, juifs et tchèques à Prague. Actes du colloque international de Montpellier, 8–10 décembre 1994. Éd. par Maurice Godé. Montpellier: Université Paul-Valéry 1996, S. 285–296 Pollet, Jean-Jacques: Les Fatalités ordinaires de Leo Perutz. In: La littérature fantastique (ouvrage collective, actes du colloque de Cerisy 1989). Éd. par A. Faivre und J. J. Pollet. Paris: Michel 1991, S. 157–169 Quack, Josef: Phantasien der Notwendigkeit. Über Leo Perutz’ Erzählungen. In: ders.: Die fragwürdige Identifikation. Studien zur Literatur. Würzburg: Königshausen und Neumann 1991, S. 40–63 (zuerst 1988) Rabinovici, Doron: Wohin oder Der Preis der Nacht. Ein Nocturno für Leo Perutz. In: ders.: Credo und Credit. Einmischungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 22–47 Rauchenbacher, Marina: Wege der Narration. Subjekt und Welt in Texten von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Wien: Praesens Verlag 2006 Ruthner, Clemens: Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert. Tübingen u. a.: Francke 2004. Zugl. Wien, Univ., Diss. – Darin S. 217–266: Randthemen … (Otto Soyka vs. Leo Perutz) Schmoll, Helma (2.3, Nr. 20) Scholl, Sabine: Über Leo Perutz. In: postscriptum 1996 (Die Rampe, Sonderheft 2), S. 43–53 Schweikert, Rudi: Leo Perutz und der Erzählergeist Karl Mays. Aus der Sicht von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky. In: Mitteilungen der Karl May-Gesellschaft 26 (1994), H. 101, S. 13–14 Serke, Jürgen: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien, Hamburg: Zsolnay 1987, S. 258–281 Sigmund, Karl: Musil Perutz Broch. Mathematik und die Wiener Literatur. In: Wien und der Wiener Kreis. Orte einer unvollendeten Moderne. Ein Begleitbuch. Hrsg. v. Volker Thurm. Wien: Facultas 2003, S. 180–185

Bibliographie Leo Perutz

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Sigmund, Karl: Musil, Perutz, Broch. Mathematik und die Wiener Literaten. In: Fiction in science – science in fiction. Zum Gespräch zwischen Literatur und Wissenschaft. Hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: HölderPichler-Tempsky 1998 (Schriftenreihe Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst, 3), S. 27–39 Staudinger, Martin: Götter, Teufel und Dämonen. Zur Mythologie der österreichischen phantastischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen anhand ausgewählter Werke von Alfred Kubin, Gustav Meyrink, Franz Spunda, Karl Hans Strobl, Paul Busson, Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 1993 Talamo, Beatrice: Leo Perutz. Un ebreo praghese contro l’oblio. Firenze: Polistampa 1999 (Biblioteca della Nuova antologia, 3) Tenenbaum, Florence: Die phantastische Erzählweise im Werk von Leo Perutz. Asnières [o. V.] 1994 (Études germaniques, Paris III, 1994) Terrile, Cristina: La Crise de la volonté ou le romanesque en question. Borgese, Green, Perutz, Pirandello, Kafka. Paris: Honoré Champion 1997. – Rezensionen: Romanische Forschungen 111 (1999), S. 756–757; Canadian review of comparative literature 26 (1999), S. 366–369 Uhl, Patrice: Leo Perutz sotz terra du roman de Flamenca. Un souterrain pluriel. In: L’imaginaire du souterrain. Hrsg. v. Gaillard Aurelia. Université de la Réunion. L’Harmattan 1998, S. 37–52 Veselá, Gabriela: Leo Perutz und die Anderen. Das Rudolfinische Prag in der böhmischen Literatur. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 246–256 Wünsch, Marianne: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890– 1930). Definition – Denkgeschichtlicher Kontext – Strukturen. München: Fink 1991

2.6 Zu einzelnen Werken Der Tod des Messer Lorenzo Bardi (1907) 1

Lüth, Reinhard: Leo Perutz und das Fin de siècle. Zu den literarischen Wurzeln des Romanautors Leo Perutz und seiner frühen Erzählung »Der Tod des Messer Lorenzo Bardi«. In: Quarber Merkur, Jg. 26, Nr. 70, (1988), S. 3–14

Pour avoir bien servi (um 1911) 2

Meek-Therstappen, Marianne: Hörspielbearbeitung als eine Form der Interpretation. Untersucht am Beispiel der Erzählung »Pour avoir bien servi« von Leo Perutz. Hamburg, Univ., FB Sprachwiss., Mag.-Arb., 1989

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Michael Mandelartz

Scheichl, Sigurd Paul: Leo Perutz. Ein früher Meister der deutschsprachigen short story. In: New-Found-Lands. Festschrift für Harro Heinz Kühnelt. Tübingen: Narr 1993, S. 27–42

Die dritte Kugel (1915) 4

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Chassagne, Jean-Pierre: L’ironie du récit dans La Troisième Balle de Leo Perutz. In: Écriture comique, écriture politique. Éd. par Licien Calvié. Grenoble: CERAAC 1996 (Chroniques allemandes, 5), S. 63–74 Jacquelin, Évelyne: Et le verbe s’est fait chair. Formule magique et malédictions dans La troisième balle de Leo Perutz. In: J.-J. Pollet (2.2, Nr. 3), S. 53–65 Krup-Ebert, Agnes: Geschichte und Identität. Zur Geschichts- und Erzählkonzeption von Leo Perutz’ Roman Die dritte Kugel. Hamburg, Univ., Mag.-Arb., 1987 Licht, Kerstin: Selbstbestimmungspostulate und ihr Scheitern in Die dritte Kugel (1915) und Die Geburt des Antichrist (1921) von Leo Perutz, dargestellt an den beiden Hauptfiguren. München, Univ., Mag.-Arb., 1997 Lüth, Reinhard: Leo Perutz’ Roman Die dritte Kugel (1915). In: Quarber Merkur 63, Jg. 23, Nr. 1 (Juli 1985), S. 15–35 Mandelartz, Michael (Nr. 0), S. 46–91 Meister, Jan Christoph: Das paralogische Lesen von Identität. Leo Perutz’ Roman Die dritte Kugel. In: Modern Austrian Literature 22 (1989), S. 71–91 Oswald, Georg: Die Eroberung Mexikos in den Romanen Die dritte Kugel von Leo Perutz und Die weißen Götter von Eduard Stucken. In: Actas del IX Congreso Latinoamericano de Estudios Germanísticos. Concepción (Chile) 2000, S. 465–470

Zwischen neun und neun (1918) 12

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Guntsche, Ewald: Der Sturz als Metapher des Untergangs. Leo Perutz: Zwischen neun und neun. Klagenfurt, Univ. für Bildungswiss., Dipl.-Arb. 1991 Schwirz, Ortrud: Zum Problem der Differenzierung verschiedener Realitätsebenen im Roman. Eine Untersuchung zu Leo Perutz’ Romanen Zwischen neun und neun und Der Meister des Jüngsten Tages. Hamburg, Univ., Mag.-Arb., 1986 Valiser, Olga: Zum Phantastikbegriff in Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun. In: Österreichische Literatur und Kultur. Tradition und Rezeption. Hrsg. v. Alexandr W. Belobratos. St. Petersburg: Peterburg XXI 2003 (Jb. der Österreich-Bibliothek in St. Petersburg, 5), S. 98–104

Bibliographie Leo Perutz

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Viaud, Didier: Zeit und Phantastik. Die Zeit als Mittel des Phantastischen in den Romanen von Leo Perutz Zwischen neun und neun und Sankt PetriSchnee. In: Quarber Merkur 30 (1992), Nr. 77, S. 28–46

Der Marques de Bolibar (1920) 16

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Bader, Silvia: Identität und Identitätswechsel in den Romanen Der Marques de Bolibar (1920), Turlupin (1924), Der schwedische Reiter (1936) von Leo Perutz. München, Univ., Mag.-Arb., 1995 Barthélémy, Lambert: L’abolition mimétique. In: Otrante. Art et littérature fantastiques, No 1 (April 1991) Gerth, Horst: Von der Kunst des Romanschreibens bei Leo Perutz. Eine Gegendarstellung zur Zuordnung des Werkes von Leo Perutz zur Gattung der Phantastischen Literatur am Beispiel der Romane Der Marques de Bolibar und Nachts unter der steinernen Brücke: Eichstätt, Univ., Zulassungsarbeit, 1993 Hampl, Barbara R.: Geschichte und Phantastik im Werk von Leo Perutz. Unter spezieller Berücksichtigung von Turlupin, Nachts unter der steinernen Brücke und Der Marques de Bolibar. Wien, Univ., Diplomarbeit, 1995 Hey’l, Bettina: Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik. Tübingen: Niemeyer 1994 (Studien zur deutschen Literatur, 133) Körte, Mona: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der ›Ewige Jude‹ in der literarischen Phantastik. Frankfurt a. M. u.a.: Campus 2000 (zugl: Berlin, Techn. Univ., Diss., 1999) Lüth, Reinhard: Leo Perutz’ Der Marques de Bolibar. In: Quarber Merkur 64, Jg. 23, Nr. 2 (1985), S. 20–35 Martínez, Matías: Zwischen Apokalypse und Wahn. Leo Perutz, Der Marques de Bolibar (1920). In: ders.: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1996, S. 177–202 (Palaestra, 298; zugl: Göttingen, Univ., Diss., 1993). – Rezension: Michael Mandelartz in: Arbitrium, 2000, H. 1, S. 19–21 Matoni, Jürgen: Gott kommt. Leo Perutz. In: Orbis Linguarum. Legnickie Rozprawy Filologigiczne, 2. Hrsg. v. Edward Bialek und Eugeniusz Tomiczek. Legnica 1995, S. 23–28 Rieß, Carmen: Phantastik im Werk von Leo Perutz. Die unterschiedliche Ausformung von Phantastik in historischem und Gegenwartsroman. Der Marques de Bolibar und Der Meister des Jüngsten Tages. Ein Vergleich. Stuttgart, Univ., Mag.-Arb., 1998 Scheichl, Sigurd Paul: Der Marques de Bolibar – Leo Perutz’ Letzte Tage der Menschheit. In: H.-H. Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 73–93

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Michael Mandelartz

Die Geburt des Antichrist (1921) 27

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Aust, Hugo: »Amen! … Die Suppe steht auf dem Tisch«. Versuch über das Ende der Geburt des Antichrist von Leo Perutz. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 34–49 Licht, Kerstin (2.6, Nr. 7) Weigl, Brigitte: Leo Perutz als Novellist im Novellenroman Nachts unter der steinernen Brücke und in der Novelle »Die Geburt des Antichrist«. Salzburg, Univ., Dipl.-Arb., 2005

Der Meister des Jüngsten Tages (1923) 30

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Cieschinger, Almut: Die Ambiguität des Erzählens bei Leo Perutz. Zur Struktur des Deutungsproblems in Der Meister des Jüngsten Tages und Sankt Petri-Schnee. Kiel, Univ., Mag.-Arb., 1999 Ebenberger, Patrizia: Literaturverfilmungen. Die Probleme bei der audiovisuellen Umsetzung phantastischer Literatur am Beispiel von »Der Sandmann« von E. T. A. Hoffmann und Der Meister des Jüngsten Tages und St. Petri-Schnee von Leo Perutz im Vergleich mit Rosemary’s Baby von Ira Levin. Wien, Univ., Diss., 1997 Koseler, Michael: Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages. Enquête et mise en énigme. In: Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche (Rouen) 27 (1988), S. 111–125 Koseler, Michael: Leo Perutz’ Der Meister des Jüngsten Tages. Detektion und Verrätselung. In: Quarber Merkur 33 (1995), Nr. 83, S. 3–15 Lüth, Reinhard: Leo Perutz’ Der Meister des Jüngsten Tages (1923). In: Quarber Merkur, Jg. 24, Nr. 65 (1986), S. 36–52 Prinz, Barbara: Leo Perutz Der Meister des Jüngsten Tages. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Form. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 1995 Rettig, Detlev: Phantasie und Mathematik. Der Roman Der Meister des Jüngsten Tages von Leo Perutz. In: diskussion deutsch, H. 131 (1993), S. 275f. Rieß, Carmen (2.6, Nr. 25) Schwirz, Ortrud (2.6, Nr. 13) Stangl, Oliver: Der Meister des Jüngsten Tages. Untersuchungen zur Hörspieladaption eines Romans von Leo Perutz. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 2005

Turlupin (1924) 40 41

Bader, Silvia (2.6, Nr. 16) Chassagne, Jean-Pierre: L’histoire comme farce ou la déconstruction de l’histoire dans Turlupin de Leo Perutz. In: Germanica (Université Charles de Gaulle, Lille) 23 (1998), S. 143–161

Bibliographie Leo Perutz

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Wohin rollst du, Äpfelchen … (1928) 46

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Belobratow, Alexandr W.: Traum und Trauma: Literarische Russlandreisen der 1920er Jahre bei Joseph Roth, Leo Perutz und Stefan Zweig. In: Russland-Österreich. Literarische und kulturelle Wechselwirkungen. Hrsg. v. Johann Holzner u.a. Bern: Lang 2000 (Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext, 1), S. 221–234 Chassagne, Jean-Pierre: Le voyage transfrontalier en boucle comme image de l’alienation dan Où roules-tu, petite pomme? de Leo Perutz. In: Frontières, transferts, échanges transfrontaliers et interculturels. Actes du 36. congrès de l’Association des germanistes de l’Enseignement supérieur. Éd. par Pierre Béhar et Michael Grunewald. Bern u. a.: Lang 2005 (Convergences, 38), S. 459–472 Clausen, Bettina: Der Heimkehrerroman. In: Mittelweg 36 (1992), S. 57–73 Leidinger, Simone: Wohin rollst du, Äpfelchen …. Analyse eines Romans von Leo Perutz. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 1999

Die Reise nach Preßburg (1930) 50

Vaiksoo, Jaanus: Morgen ist Feiertag und Die Reise nach Preßburg. Zwei vergessene Dramen von Leo Perutz. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 211–218

Herr, erbarme Dich meiner! (1930) 52

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Clausen, Bettina: Ein Leben für die Wissenschaft. Zu einem Modell des Schriftstellers, Versicherungsmathematikers und Wahrscheinlichkeitstheoretikers Leo Perutz, »Der Tag ohne Abend«. In: New Science und alte Dichtung? Beiträge aus der Sektion Literatur und Technikwissenschaften im Dialog bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung, Dezember 1993. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin 1994, S. 23–29 (Kommentar von H.-H. Müller S. 28–29) Clausen, Bettina: Leo Perutz: »Herr, erbarme dich meiner!« Ein LesartVorschlag. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 50–72

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Michael Mandelartz

Krah, Hans: »Nur ein Druck auf den Knopf«. Zur Genese einer Denkfigur im ästhetischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts. In: MusilForum 27 (2003), S. 63–87 Müller, Hans-Harald: Bourdieu – Perutz – Goethe. Die Wissenschaftlerbiographie zwischen Dichtung und Wissenschaft: Leo Perutz’ Erzählung »Der Tag ohne Abend«. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 23–33 Müller, Hans-Harald: Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme? Zur Erzählkonzeption von Leo Perutz – dargestellt an der Novelle »Nur ein Druck auf den Knopf«. In: Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang. Hrsg. von Thomas Eicher. Oberhausen: Athena 2001, S. 177–191

St. Petri Schnee (1933) 57 58 59 60 61 62

Cieschinger, Almut (2.6, Nr. 30) Ebenberger, Patrizia (2.6, Nr. 31) Lüth, Reinhard: Leo Perutz’ Roman St. Petri-Schnee. In: Quarber Merkur 24, Nr. 66 (1986), S. 3–18 Steinberger, Barbara: St. Petri Schnee. Analyse eines Romans von Leo Perutz. Wien, Univ., Dipl.-Arb., 1990 Viaud, Didier (2.6, Nr. 15) Winthrop-Young, Geoffrey: Ansichten der Traumverwertungsgesellschaft. Literarische und kulturelle Aspekte der Massendroge in Otto Soykas Die Traumpeitsche und Leo Perutz’ Sankt Petri-Schnee. In: Modern Austrian Literature 35 (2002), S. 53–77

Morgen ist Feiertag (1935) 63

Vaiksoo, Jaanus (2.6, Nr. 50)

Der schwedische Reiter (1936) 64 65 66

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Bader, Silvia (2.6, Nr. 16) Barthélémy, Lambert (2.6, Nr. 17) Jacquelin, Évelyne: Le péché salvateur ou: les paradoxes de l’imposture dans Le cavalier suédois de Leo Perutz. In: La figure de l’imposteur dans la littérature de langue allemande au XXe siècle. Éd. par Marion Dufresne. Lille: Univ. Charles-de-Gaulle 2004 (Germanica, 35), S. 105–118 Krieger, Arndt: Literarische Geschichtsbilder – ›Schlesien‹ im Roman Der Schwedische Reiter von Leo Perutz. In: Gustav Freytag Blätter, H. 51 (1994/95). Ratingen 1995, S. 44–71 Mandelartz, Michael: Die Herrschaft der Ökonomie. Leo Perutz’ Der schwedische Reiter. In: Studies in Humanities [Zeitschrift der Philosophi-

Bibliographie Leo Perutz

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schen Fakultät der Universität Shinshu, Matsumoto/Japan], No. 27 (1993), S. 213–220. Im Internet unter der URL erreichbar. Meister, Jan Christoph: Der schwedische Reiter – Von der Schuld der Identität. In: Hans-Harald Müller und Brigitte Forster (2.2, Nr. 2), S. 143–159. Niehaus, Michael: Der historische Roman als Konstrukt. Der schwedische Reiter von Leo Perutz. In: Sprachkunst 21 (2000), H. 1, S. 1–15 Rauchenbacher, Marina: Numinositäten. ›Chronotopoi‹ und (un-)mögliche Welten in Leo Perutz’ Der schwedische Reiter und Alexander LernetHolenias Beide Sizilien. Salzburg, Univ., Dipl.-Arb., 2005

Mainacht in Wien (1938) 72

Müller, Hans-Harald: Mainacht in Wien. Das Bild des ›Anschlusses‹ in einem Romanfragment von Leo Perutz. In: Austrian writers and the Anschluss: Understanding the past – overcoming the past. Ed. by Donald G. Daviau. Riverside, California 1991 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought), S. 187–206

Nachts unter der steinernen Brücke (1953) 73

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Becker, Karin: Mit antikem Material moderne Häuser bauen. Zur narrativen Konzeption von Leo Perutz’ historischem Roman Nachts unter der steinernen Brücke. Bielefeld: Aisthesis 2007 (zugl. München, Univ., Mag.Arb., 2006) Eismann, Sarah: Leo Perutz und seine jüdische Identität. Die Verarbeitung seiner jüdischen Erfahrung in dem historischen Roman Nachts unter der steinernen Brücke. Berlin, Freie Univ., Mag.-Arb., 2005 Fretter, Dagmar: Geschichte als poetische Konstruktion. Das Bild der Geschichte in Leo Perutz’ Roman Nachts unter der steinernen Brücke. Hamburg, Univ., Mag.-Arb., 1987 Geißler, Rolf: Zur Lesart des magischen Prag. Perutz, Meyrink, Kafka. In: Literatur für Leser 12 (1989), S. 159–178 Gerth, Horst (2.6, Nr. 18) Hampl, Barbara R. (2.6, Nr. 19) Knafl, Arnulf: Die wunderbare Erzählung. Zur narrativen Ordnung in Leo Perutz’ Roman Nachts unter der steinernen Brücke. In: Die Zeit und die Schrift. Österreichische Literatur nach 1945. Hrsg. v. Karlheinz F. Auckenthaler (Acta Germanica, 4). Szeged: Jate 1993, S. 113–122 Kos, Ulla: Die Figur des Juden und der Jüdin in Gustav Meyrinks Roman Der Golem und in Leo Perutz’ Nachts unter der steinernen Brücke. Graz, Univ., Dipl.-Arb., 2001

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Michael Mandelartz

Lorenz, Dagmar C. G.: Transcending the boundaries of space and culture. The figures of the Maharal and the Golem after the Shoah. Friedrich Torberg’s Golems Wiederkehr, Leo Perutz’s Nachts unter der steinernen Brücke, Frank Zwillinger’s Maharal, and Nelly Sachs’s Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels. In: Transforming the center, eroding the margins. Essays on ethnic and cultural boundaries in German-speaking countries. Ed. by Dagmar C. G. Lorenz and Renate S. Posthofen. Columbia, SC: Camden House 1998, S. 285–302 Mandelartz, Michael (2.5, Nr. 40), S. 92–176 Mandelartz, Michael (2.5, Nr. 41) Preibisch, Frauke: Die Erzählproblematik in Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz. Siegen, Univ., Mag.-Arb., 1994 Skolnik, Jonathan: Die seltsame Karriere der Familie Abarbanel. In: Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Hrsg. v. Joseph A. Kruse, Bernd Witte und Karin Fuellner. Stuttgart: Metzler 1998, S. 322–333 Skolnik, Jonathan: Who Learns History from Heine? The German-Jewish Historical Novel as Cultural Memory and Minority Culture. Columbia Univ., Diss., 1999 Weigl, Brigitte (2.6, Nr. 29)

Der Judas des Leonardo (1959) 87 88

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Castellari, Paola: Die romaneske Darstellung der Renaissance in Leo Perutz’ Der Judas des Leonardo. Bonn, Univ., Phil. Fak., Mag.-Arb., 2001 Chassagne, Jean-Pierre: De la fresque au roman et du roman à la fresque. Le dialogue au service de la polyphonie dans Le Judas de Léonard de Leo Perutz. In: Dialogues. En hommage au René Girard. Éd. par Jean-Charles Margotton. Aix-en-Provence: Univ. Provence, Inst. d’Etudes Germaniques 2004 (Cahiers d’Etudes Germaniques, 47), S. 185–195 Mandelartz, Michael (2.5, Nr. 41) Müller, Hans-Harald: Die Bedeutung der Kunst und des Exils in Leo Perutz’ Roman Der Judas des Leonardo. In: Echo des Exils. Das Werk emigrierter österreichischer Schriftsteller nach 1945. Hrsg. v. Jörg Thunecke. Wuppertal: Arco Wissenschaft 2006, S. 219–231 Volgger, Verena: Leo Perutz: Der Judas des Leonardo. Wien, Univ., Dipl.Arb., 1998