»Von der Geschichte zur Natur« – Die Politische Hermeneutik von Leo Strauss [1 ed.] 9783428541621, 9783428141623

Das Gesamtwerk des Politischen Philosophen Leo Strauss (1899–1973) durchzieht die immerwährende Grundspannung des »theol

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»Von der Geschichte zur Natur« – Die Politische Hermeneutik von Leo Strauss [1 ed.]
 9783428541621, 9783428141623

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Philosophische Schriften Band 81

„Von der Geschichte zur Natur“ – Die Politische Hermeneutik von Leo Strauss Von Ulrike Weichert

Duncker & Humblot · Berlin

ULRIKE WEICHERT

„Von der Geschichte zur Natur“ – Die Politische Hermeneutik von Leo Strauss

Philosophische Schriften Band 81

„Von der Geschichte zur Natur“ – Die Politische Hermeneutik von Leo Strauss

Von

Ulrike Weichert

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder.

Der Fachbereich Medienwissenschaft der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 83 Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-14162-3 (Print) ISBN 978-3-428-54162-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84162-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Vielleicht ist aber, o Sokrates, das Sprichwort wahr, dass das Schöne schwer ist.“ Platon1

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Platon, Politeia, 435c.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Fachbereich Medienwissenschaften der Technischen Universität Berlin und im Rahmen einer Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ erarbeitet und mit einem Dissertationsabschlussstipendium der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster fertig gestellt. Die Druckkosten wurden vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ übernommen. An dieser Stelle möchte ich mich bei Julia Simoleit für ihre Unterstützung bedanken, vor allem dafür, dass ich mein Forschungsprojekt auf nationalen und internationalen Konferenzen und Workshops vorstellen konnte. Ebenso danke ich Prof. Dr. Norbert Bolz für seine Bereitwilligkeit, diese Arbeit zu betreuen. Mein besonderer Dank gilt PD Dr. Michael Städtler für die keineswegs selbstverständliche Übernahme der Aufgaben als Zweitgutachter. Prof. Dr. Heinrich Meier verdanke ich Auskünfte und Hinweise zum Werk von Leo Strauss sowie die Formulierung „Von der Geschichte zur Natur“ im Titel dieser Arbeit. Kurt Hilgenberg äußerte von Anfang an dankenswerterweise sowohl berechtigte Kritik als auch Zuspruch. PD Dr. Thomas Meyer half mir beim Abgleich mit der Originalfassung der Korrespondenz zwischen Kojève und Strauss und ermöglichte meine Teilnahme an der Strauss-Tagung im ZfL. Meiner lieben Schwester Christine und meinen Berliner Freunden bin ich dankbar für die zahlreichen Gespräche und Abende, die ich sehr zu schätzen weiß und immer sehr genossen habe. Gleichermaßen bleiben mir die Diskussionen über Auswege aus der „Krise unserer Zeit“ mit meinen antimodernen Freunden Stefan Ahrens und Christoph Roth in sehr guter Erinnerung. Jan Woltering danke ich besonders für die schöne Zeit in Berlin und das verständnisvolle Zusammenleben mit mir und meinen Büchern. Der größte Dank gebührt jedoch meinen Eltern Helga und Eberhard Weichert für ihre Unterstützung während der gesamten Arbeit und die fürsorgliche Beherbergung in der Endschreibphase. Ihnen möchte ich dieses Buch widmen. Ludwigshafen, im Herbst 2013

Ulrike Weichert

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung: Politische Hermeneutik als Ausweg aus der „entzauberten Welt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. „Die dialogische Stadt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das „theologisch-politische Problem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Die Krise des Westens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Athen“ und „Jerusalem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Philosophie und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Strauss’ Rehabilitierung des Vorurteils als proteron pros hemas . . . . . . . II. Das Politische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Carl Schmitts Der Begriff des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Position des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Philosophische Politik der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Problem des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Politische als Gegenstand und Modus der Philosophie . . . . . . . . . . . IV. Politische Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Platons antirhetorische Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strauss’ platonische Politische Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Platonische Politische Rhetorik und „Liberal Education“ . . . . . . . . . . . . . a) Der Philosoph und der „Gentleman“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der „Gentleman“ und Nietzsches „vornehmer Mensch“ . . . . . . . . . . . c) Kalokagathia und das Problem mit Alkibiades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schriftlichkeit und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schriftlichkeit und die „kunstmäßige“ Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Platonbild von Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das „hermeneutische Paradigma“ der „Tübinger Schule“ . . . . . . . . . . . . 4. Die textimmanente Esoterik von Leo Strauss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zur Notwendigkeit der Verschriftlichung von Philosophie . . . . . . . . . . . . VI. Politische Philosophie und die „Kunst des Lesens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur „Intention des philosophischen Autors“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Gespräch „verwandter Naturen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Aktivität des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35 36 45 56 63 69 70 78 84 100 100 105 126 126 137 145 146 158 166 173 174 187 193 205 210 218 218 238 249

C. „Von der Geschichte zur Natur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 I. Historisches Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

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Inhaltsverzeichnis 1. Historismuskritik und historisches Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Quentin Skinners kontextualistische Kritik am „historischen Verstehen“ der philosophischen Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gadamers unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit“ . . . . . . . . . . . . . III. Hermeneutische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Alexandre Kojèves hermeneutische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Naturrecht oder Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Theologische Politische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Origenes’ theologisch-politische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strauss’ Interpretation des ersten Buches Genesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Carl Schmitts politisch-theologische Geschichtsdeutung . . . . . . . . . . . . .

258 273 281 295 298 310 328 331 336 342

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374

A. Einleitung: Politische Hermeneutik als Ausweg aus der „entzauberten Welt“ „[T]he title of Platonist belongs by far better right to those who have been nourished in, and have endeavored to practise Plato’s method of investigation, than those who are distinguished only by the adoption of certain dogmatical conclusions.“ John Stuart Mill 1

Der Sokrates-Schüler Platon schrieb 35 Dialoge2 und 13 Briefe. Platon tritt in keinem der Dialoge selbst als sokratischer Gesprächspartner auf, und seine Abwesenheit wird nur einmal indirekt durch Krankheit entschuldigt.3 Bis auf den im Theaitetos bloß angekündigten Dialog Philosophos in der Dialogtrilogie Sophistes – Politikos – Philosophos4 und die von Aristoteles erwähnten, nur mündlich vorgetragenen „ungeschriebene Lehren“ (agrapha dogmata) sind alle Schriften von Platon, die in antiken Quellen erwähnt werden, erhalten.5 Jedoch lässt sich aus der Tatsache, dass gegenwärtig alle Schriften vorliegen, keineswegs schließen, wie diese zu lesen seien – geschweige denn, wie Platon zu verstehen sei. Die Frage nach der richtigen Lesart wird darüber hinaus durch die über 2000 Jahre währende Wirkungsgeschichte erschwert, die, trotz zahlreicher Wendungen, Wertungen und Schwerpunktverlagerungen, durch Unterstellung metaphysischer Kernthemen und eine Hervorhebung von Leitdialogen das Platonbild bestimmt. Darüber hinaus resultiert aus der zeitlichen Distanz die Problematik, inwiefern aus den platonischen Dialogen Lehren für die gegenwärtige Zeit gezogen werden können. Vor allem im Hinblick auf die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens lässt sich fragen, inwiefern Erkenntnisse und Lehren antiker Denker über das politische Denken der Gegenwart relevant sind und worin letztendlich der Sinn in einer Rückschau der Anfänge der politischen Philosophie bestehen kann.

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Mill (1960), S. 16. Es sei hier nur kurz darauf verwiesen, dass Leo Strauss die Apologie des Sokrates zu den platonischen Dialogen zählt, weil Sokrates mit der Stadt Athen spricht (vgl. Strauss (1997h), S. 56). 3 Platon, Phaidon, 59b. 4 Die Textpassage Platon, Sophistes, 217a deutet eine Fortsetzungsreihe an, die in dem Dialog Philosophos gipfeln soll. 5 Vgl. Aristoteles, Physik 2, 209b. Zu den „ungeschriebenen Lehren“ wird nach der Überlieferung auch die Vorlesung Peri agathou gezählt, die in Form von Mitschriften fragmentarisch erhalten ist. 2

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A. Einleitung

Dies verweist auf die generelle Frage, auf welchem abstrakten Niveau sich diese möglichen Antworten oder zeitlosen Fragestellungen befinden und inwiefern sie, gerade bei den politischen Dialogen, konkret in unserer Zeit anwendbar sind. Die Frage, wie Platon zu lesen und zu verstehen sei, ist die grundlegende Ausgangsfrage dieser Arbeit gewesen. Vor allem seit Schleiermachers Einleitung zu seinen Platonübersetzungen von 1804, in der der aktive Leser eine tragende Rolle spielt, ist das Studium des platonischen Œuvres eng mit Fragen der Hermeneutik verbunden. Insbesondere durch die Darstellung des philosophischen Inhalts in nahezu literarischer Form scheinen die platonischen Dialoge eine eigene Hermeneutik zu verlangen. Darüber hinaus werfen Platons eigene Äußerungen über die Vor- und Nachteile von geschriebenen Texten Fragen zum Wesen und Verhältnis von Philosophie und philosophischer Vermittlung auf. Die hermeneutische Herangehensweise an die platonischen Dialoge fragt daher nicht nur nach dem Inhalt, sondern auch danach, wie sich der Leser in die Lektüre einzubringen habe. Gerade die lebendige Darstellung der Dialoge macht es einem schwer, dem Leser allein die Rolle des passiven Zuschauers zukommen zu lassen. Die Kontroverse dreht sich daher um Platons Selbstverständnis als Philosoph hinsichtlich des neuen Mediums Schrift und seiner diesbezüglichen Selbstaussagen. Daraus resultiert die generelle Frage, an wen er sich richtet und was er seinen Adressaten zu lehren beabsichtigt. Dabei spielen die so häufig in Aporien endenden Dialoge eine tragende Rolle, in denen eine Lösung des aufgeworfenen Problems nicht zustande kommt und der Leser sich fragen muss, ob Platon wirklich einen „Leerlauf“ intendiert habe. Wichtig ist dabei Sokrates’ Erwähnung, dass Philosophieren als Streben nach Wissen bedeute, sich auf einen „längeren Weg“ (makrotera periodos) zu begeben.6 Hinsichtlich dieses Umweges gibt es vielzählige Textstellen, dass ein Problem an einer Stelle des Dialoges jetzt noch nicht, sondern erst zu einem anderen Zeitpunkt wieder aufgegriffen werden soll. In seinen Dialogen äußert sich Platon selbst über die Möglichkeit, Wissen zu vermitteln, und nimmt dabei Rekurs auf die unterschiedlichen zur Philosophie begabten menschlichen Naturen. Indem Platon gerade keine systematisch ausgearbeitete Lehre präsentiert, zeigt er, dass intellektuelles Interesse an Philosophie nicht ausreicht, sondern eine „Verwandtschaft“ zwischen der philosophischen Sache und der philosophischen Natur des Menschen bestehen müsse. Nur wer bereit sei, sich auf die Sache der Philosophie einzulassen, könne diese verstehen. Diese Verwandtschaft zeichnet sich nicht äußerlich über das Aussehen oder den Familiennamen aus, sondern wird durch das philosophische Gespräch über eine „philosophische Sache“ erkannt. Durch die gemeinsame Ausrichtung auf ein drittes, „zuerst Geliebtes“ (proton philon) resultiert für Platon Philosophieren in philoso-

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Platon, Politeia, 504a–521b, 435d.

A. Einleitung

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phischer Freundschaft.7 Dementsprechend ist er der Auffassung, dass Philosophieren nur unter Freunden und den „wohlmeinenden Widerlegungen“ 8 (eumenesin elenchois) erfolgen könne. Dazu ist vor allem das, was Platon mit Wohlwollen (eunoia) bezeichnet, ausschlaggebend, die philosophische, neugierige Natur letztendlich jedoch ein unerlässliches Kriterium. Die Verlagerung des lebendigen Gespräches auf schriftliche philosophische Abhandlungen erschwert jedoch die richtige Einschätzung des Gegenübers und somit auch die Umsetzung jener Kriterien für die gute Rede, die Platon im Phaidros darlegt. Da verschriftlichte philosophische Erkenntnisse im Nachhinein nicht korrigiert werden können, muss der Autor gewisse Möglichkeiten der Irritation oder des Missverstehens von Vorhinein mitbedacht haben. Besonders groß wäre die Gefahr für einen philosophischen Autor, gleich nach erstem Lesedurchgang von Seiten des Lesers Inkonsistenz, Verwirrtheit oder gar das Vorenthalten wesentlicher Lehren vorgeworfen zu bekommen. Eng mit dieser Problematik verbunden ist die Frage, warum Platon überhaupt geschrieben hat. Bekannterweise hat sein Lehrer Sokrates gerade nichts Schriftliches hinterlassen; und auch Platons Selbstaussagen, in denen er Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegeneinander abwägt, betonen größtenteils die Nachteile der Niederschrift philosophischer Inhalte. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfachte erneut eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über die wahren Quellen der direkten und indirekten Überlieferung, um die platonische Philosophie zu rekonstruieren. Aus dieser Kontroverse resultiert die Frage, ob Platon „ungeschriebene Lehren“ (agrapha dogmata) hatte, die er vornehmlich mündlich lehrte. Aussagen seines Schülers Aristoteles9 sowie seiner Nachfolger in der Akademie lassen vermuten, Platon habe eine so genannte Prinzipientheorie oder Protologie dem mündlichen Unterricht vorbehalten, aber in seinen Dialogen diese Lehre mit Hinweisen und Auslassungsstellen angedeutet. Dementsprechend könne das „wahre“ Wissen über die „wichtigeren Dinge“ (timiotera) nicht aus den Dialogen gelesen werden, sondern sei von Platon nur mündlich überliefert worden und lasse sich daher nur durch externe Quellenaussagen rekonstruieren. Aus Letzterem resultiert eine Hermeneutik, die Platon das Motiv des bewussten Verbergens seiner Philosophie als eine Art Geheimlehre unterstellt, in der er das Wesentliche den mündlichen, direkten Dialogen vor einem eingeweihten Publikum vorbehalte. Dabei muss man sich natürlich fragen, um was für eine Art Wissen es sich dabei handeln soll, das er absichtlich zurückhalte. Sicherlich kann es kein Wissen sein, das sich einfach in Worte oder Lehrsätze fassen lässt, da es ansonsten schwierig wäre, die Philosophen auf ihrem 50-jährigen Ausbildungs7 8 9

Platon, Lysis 217a–220a; vgl. auch Politikos 258a. Platon, Siebenter Brief, 344b. Vgl. Aristoteles, Physik 2, 209b; Metaphysik 1, 987a.

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A. Einleitung

weg in der Politeia davon abzuhalten,10 sich voreilig Informationen und philosophisches Wissen aus der letzten Ausbildungsstufe zu verschaffen. Eine derartige Deutung erfuhren die platonischen Werke jedoch durch die so genannte „Tübinger Schule“ 11, die, sich an Aristoteles orientierend, davon ausgeht, dass Platon bewusst sein Wissen zurückhalte und er seine „ernsten“ Ansichten esoterisch einem kleinen Kreis an Zuhörern mündlich mitgeteilt habe. Dementsprechend weisen fast alle Dialoge an kompositorisch hervorgehobenen Stellen über sich hinaus auf die „wichtigeren Dinge“ (timiotera), die Prinzipienlehre. Die Dialoge seien demnach lediglich als „Adonisgärtchen“, als spielerische, literarische Abhandlung zu verstehen, die nur in Bezug auf die Komposition, nicht jedoch auf den philosophischen Inhalt als vollkommenes Schriftstück betrachtet werden könnten. Die „Tübinger Schule“ richtet sich gegen das „hermeneutische Paradigma“ Friedrich Schleiermachers, der sich, inspiriert durch den romantischen Gedanken der Dialogizität, bei seiner Platoninterpretation ausschließlich auf die überlieferten Dialoge konzentriert. Im Anschluss an Hans Krämer und Konrad Gaiser versucht Giovanni Reale in seinem umfassenden Buch Platon die „hermeneutischen Paradigmen“ der Platonlesart anhand der Hauptkriterien „esoterisch-esoterisch“ zu rekonstruieren. Auffällig ist dabei, dass bei Reale die mittelalterliche arabische Platonrezeption völlig fehlt. Ebenso wird Leo Strauss, der durch seine Wiederentdeckung des Phänomens des esoterischen Schreibens bekannt geworden ist, in dem Werk nur indirekt und in Fußnoten über die Platoninterpretation seines Schülers Stanley Rosen erwähnt.12 Auch bei Thomas Szlezák, der mit seiner Analyse der dialogimmanenten Verweise die Lesart der „Tübinger Schule“ abgeschwächt weiterführt, wird Leo Strauss lediglich in einer einzigen Fußnote im Anhang genannt. Dabei versteht Szlezák Strauss’ Platonkommentare fälschlicherweise als eine „Weiterführung des Schleiermacher’schen Paradigmas“ 13. Zwar eint Strauss und Schleiermacher in der Tat eine „textimmanente Esoterik“, die ausschließlich die schriftlichen Dialoge als Grundlage für das Verstehen von Pla-

10 Vgl. Platon, Siebenter Brief, 341c–d; vgl. Platon, Politeia, 540a. Dieser Annahme widerspricht allein schon der Ausbildungsplan der Philosophen, der eine lange Erziehung in den verschiedensten Disziplinen und Dialektik vorsieht, die zu kritischem Hinterfragen anregen soll. 11 Die umstrittenen Rekonstruktionsbemühungen der esoterischen, ausschließlich mündlich vermittelten Lehre Platons der „Tübinger Schule“ stehen in der Tradition der Platonphilosophie des 18. Jahrhunderts und wurden aufgrund ihrer Ablehnung, die direkten schriftlichen Quellen als einzigen Zugang zu Platons Lehre zu erachten, von philologischer Seite zutiefst kritisiert (vgl. Görgemanns (1994), S. 171 ff.; vgl. Krämer (1959); vgl. Gaiser (1968); vgl. Stenzel (1961); Wippern (1972); Reale (2000)). 12 Und dies auch nur von dem Herausgeber Josef Seifert in einem Nachwort in den Fußnoten 13 und 14 in: Reale (2000), S. 547 f., 553, 556 ff. 13 Szlezák (1985), S. 331.

A. Einleitung

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tons Lehre annimmt, jedoch äußert sich Strauss selbst äußerst kritisch gegenüber Schleiermacher. Diese ungenügende Beachtung und falsche Zuordnung ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit gewesen: Warum und inwiefern kann die Herangehensweise von Leo Strauss mit Friedrich Schleiermacher gleichgesetzt werden, wenn sich Ersterer in einem frühen Aufsatz mit dem Titel Exoteric Teaching (1939) dezidiert gegen ihn wendet? Von der anderen Seite hingegen, verweist Clemens Kauffmann in seiner Einführung zu Leo Strauss darauf, dass dessen Auffassung von Esoterik zwar nicht der „Tübinger Schule“ entspreche, geht jedoch nicht auf die grundlegenden Unterschiede ein, aus denen die Eigenständigkeit von Strauss’ Platonhermeneutik innerhalb der Platonrezeption hervorgehoben werden kann.14 Wissenschaftliche Aufmerksamkeit in Bezug auf Hermeneutik erlangte Strauss allerdings nicht für seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher in seinem frühen Aufsatz Exoteric Teaching, sondern durch den 1952 erschienenen Sammelband Persecution and the Art of Writing, in dem er nicht nur die Gründe für eine tiefenhermeneutische Herangehensweise darlegt, sondern diese „Kunst des Schreibens“ anhand von drei Kommentaren zu den Werken von Halevi, Maimonides und Spinoza veranschaulicht. Der Band provozierte eine große Anzahl kritischer Stellungnahmen.15 Divergenz besteht vor allem hinsichtlich der Frage, ob das Werk eines philosophischen Autors der Vergangenheit als Beitrag zur Philosophiegeschichte aufzufassen sei oder ob es eine transhistorische philosophische „Intention des Autors“ beinhalte. Die Kritik an Persecution and the Art of Writing betrifft zum größten Teil die unkonventionellen Interpretationen, denen scheinbar jeglicher Bezug zur Wirkungsgeschichte des jeweiligen Werkes fehle und es daher an Wissenschaftlichkeit mangele. Obwohl eine tiefgreifende Analyse von Strauss’ Werkinterpretationen und deren hervorgerufene Reaktionen seine außergewöhnliche Vorgehensweise unterstreichen, wird in dieser Arbeit, die zwar Strauss’ hermeneutische Herangehensweise fokussiert, lediglich auf die größten Kritikpunkte hinsichtlich seiner Theorie der Politischen Hermeneutik eingegangen werden können. Zwar können, wie im Folgenden gezeigt wird, Strauss’ Werkinterpretation und seine „Theorie“ der hermeneutischen „Methode“ nicht voneinander getrennt werden, jedoch müssen „philologische“ Einwände zu konkreten Textstellen in den Interpretationen vor der Frage nach dem Grund für Strauss’ Herangehensweise in den Hintergrund treten. Hinsichtlich der eingangs eröffneten Frage, warum Platon überhaupt geschrieben hat, soll im Anschluss an die Diskussion der „Tübinger Schule“ um die „ungeschriebene Lehre“ betont werden, dass sich auch Leo Strauss auf Platons 14

Vgl. Kauffmann (1997), S. 153. Dies antizipiert Strauss bereits im Titelaufsatz insofern, dass „das Zwischen-den Zeilen-Lesen nicht zu völliger Einheit zwischen den Forschern“ führt (Strauss (1988c), S. 30; dt. Strauss (2009), S. 38). 15

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A. Einleitung

Äußerungen zur Schriftlichkeit im Dialog Phaidros bezieht, die das Problembewusstsein von esoterischer und exoterischer Kommunikation sowie philosophischer Adressierung betreffen. Wenn es Strauss’ Politische Hermeneutik demnach zwar verdient hätte, als eigenständiges „hermeneutisches Paradigma“ in Reales umfassende Rezeptionsgeschichte mit aufgenommen zu werden, so trotzt gerade die aus seinem sokratischen Verständnis von Philosophie resultierende Eigenständigkeit jeglicher Zuordnung im Sinne einer „Methode“, eines „Paradigmas“ oder gar einer systematischen „Lehre“ 16. Darüber hinaus verdient Leo Strauss’ Politische Hermeneutik eine tiefere Auseinandersetzung, als es in drei Fußnoten der Fall sein kann, gerade weil es sich bei ihr nicht nur um eine Platonlesart hinsichtlich der Debatte um die mündliche und schriftliche Debatte handelt, sondern weil sie darüber hinaus den Umgang mit Autoren der Vergangenheit betrifft. So fragt sich Strauss darüber hinaus, warum man Platon 2500 Jahre nach seinem Tod überhaupt noch lesen sollte. Sie wirft die Frage nach dem Anspruch auf, den Schriften von Philosophen der Vergangenheit in der Gegenwart noch haben und haben können. Eng damit verbunden ist daher auch die Frage nach dem Anspruch, was Philosophie heute noch bedeutet. Philosophie, vor allem politische Philosophie befindet sich nach Strauss in einer tiefen Krise, die durch die modernen Denkansätze des Historismus und Positivismus bedingt sei.17 Sich der antiken Philosophie zuzuwenden, liegt daher nicht in einer „selbstvergessenen und schmerzliebenden Liebhaberei“ und auch nicht in einer „selbstvergessenen und berauschenden Romantik“ 18, die Strauss mit leidenschaftlichem Ernst und uneingeschränkter Wissbegier zu den antiken politischen Denkern führt, sondern ist eine Antwort auf die „Krise der Moderne“ und die Ablehnung des modernen Denkens, von philosophischen Autoren der 16 Die prinzipielle Offenheit des platonischen Denkens durch seine dialogische Form und deren inhaltliche Unabgeschlossenheit betonen ebenfalls Ulrich von WilamowitzMoellendorff, Paul Friedländer und Hans-Georg Gadamer, was jeglichen Versuchen einer systemorientierten Auslegung der Werke Platons als einer systematisch ausgearbeiteten Lehre, wie sie vor allem Paul Natorp und Nicolai Hartmann betreiben, entgegenstellt (vgl. dazu Friedländer (1960); von Wilamowitz-Moellendorf (1948); Natorp (1993); Hartmann (1926)). 17 Strauss (1989u), S. 82. 18 Strauss (1997h), S. 1. Strauss wählt im allerersten Satz der Einleitung zu The City and Man für „selbstvergessen“ statt „oblivious“ das Wort „self-fogetting“ – ein Wort, das es so im Englischen nicht gibt. In diesem Sinne verweist er auf die „Selbstvergessenheit“ Heideggers. In Sein und Zeit beschreibt dieser die Instanz, die das Dasein aus der Selbstvergessenheit, „der Verlorenheit in das Man“, herausreißen soll, die Stimme oder den „Ruf des Gewissens“ (vgl. Heidegger (2006), S. 268, 274 ff.). Heidegger versteht das Gewissen jedoch nicht moralisch; es ermöglicht vielmehr „dem Dasein allererst den Entwurf seiner selbst auf sein eigenstes Seinkönnen“ (ebd., S. 277). Es ruft es auf, aus der Uneigentlichkeit herauszutreten und sich seiner eigensten Möglichkeiten bewusst zu werden. Als einen solchen Befreiungsschlag erachtet Strauss die Lektüre der antiken Philosophen, was sich vor allem in seinem Konzept der „liberal education“ zeigt (vgl. dazu das Kapitel Platonische Politische Rhetorik und „Liberal Education“).

A. Einleitung

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Vergangenheit mehr als nur eine geschichtsphilosophische Perspektive erlangen zu können. Leo Strauss’ Politische Hermeneutik stellt demnach nicht nur eine weitere hermeneutische Position in der Platonlektüre dar, indem er eine neue Perspektive auf kanonisierte Texte eröffnet, sondern seine Lesart ist auf radikalste Art mit der Frage verknüpft, ob und wie politische Philosophie mit antiken philosophischen Schriften als Quellen überhaupt noch möglich ist, wenn sie mehr sein möchte als bloß Ideengeschichte. Leo Strauss setzt demnach alles daran, die „großen Denker“ der Vergangenheit mit neuer Kraft sprechen zu lassen. Was seine Herangehensweise an Interpretationen auszeichnet, ist, dass er einen Weg gefunden hat, eine Oberfläche eines Textes anzunehmen, ohne von der „Intention des Autors“ abzuweichen, die das ganze Werk durchdringt. Er erachtet dabei rhetorische und literarische Feinheiten nicht als ästhetischen „Schmuck“, sondern als notwendige Rhetorisierung der Philosophie aus politischen Gründen. Diese Arbeit möchte genau diesen Aspekt hervorheben: Sie will die Grundlagen und die Motivation der hermeneutischen Herangehensweise von Leo Strauss herausarbeiten und die signifikante politische Modifizierung der textimmanenten Dialogtheorie Schleiermachers verdeutlichen. Darüber hinaus soll Strauss’ Hermeneutik von dem Vorwurf befreit werden, esoterische Geheimlehre „zwischen den Zeilen“ zu propagieren, mit der er angeblich konkrete politische Ordnungsvorstellungen praktisch habe umsetzen wollen.19 Strauss hat seine hermeneutische Herangehensweise nicht systematisiert, da sie eine „hermeneutische Erfahrung“ beinhaltet, die für ihn Zweifel aufkommen lässt, ob, in Anlehnung an Gadamer, eine universelle hermeneutische Theorie überhaupt möglich ist.20 Dementsprechend beschreibt Joseph Cropsey die hermeneutische Herangehensweise von Leo Strauss hinsichtlich einer „Methode“ nicht mehr denn als „sorgfältiges Lesen“: „He employed and taught what came to be called ,careful reading‘, but he did no use or impart a ,method‘ for by the nature of the case there cannot be one; since reticent writing that could be made explicit through the application of rules would be a mere cipher and the interpretation of philosophic texts would be a form of cryptography.“ 21

Da Strauss’ Interpretationen vielmehr „Kunst“ (Art) als eine hermeneutische Methode sind, kann und will diese Arbeit keine systematische Ausarbeitung von 19 Zur Debatte um Strauss’ scheinbare politische Involvierung in der Bush-Administration vgl. die dahin aufgeführten Annahmen im Kapitel Mr. Strauss goes to Washington? in: Zuckert/Zuckert (2008), S. 1 ff. 20 Gadamer/Strauss (1978), S. 5, 12 ff. Dementsprechend betont Strauss, als er Gadamer seine Texte schickt, dass diese seine „Theorie“ – in Anführungszeichen – der Hermeneutik darstellen. 21 „Leo Strauss“ in: The International Encyclopedia for the Social science (1976), 750.

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Leo Strauss’ Politischer Hermeneutik darlegen, sondern begibt sich auf Spurensuche, wie und warum Strauss die „großen Autoren“ der westlichen Philosophietradition auf seine äußerst eigensinnige Art kommentiert hat. Seine Hermeneutik lässt sich dabei nicht ohne ein tieferes Verständnis der Leitgedanken seines Gesamtwerkes verstehen: Sein Œuvre durchziehen Grundprobleme der Philosophie als Politische Philosophie und deren theologisch-politische Alternativen, an die seine hermeneutische Herangehensweise gekoppelt ist. Mit der „Politischen Hermeneutik“ bietet Strauss einen für ihn äußerst dringenden Ausweg aus der „Krise der Moderne“, weswegen eine Einbindung in Strauss’ Denken unerlässlich ist. Leo Strauss entdeckte nicht bloß die textimmanente esoterische „Kunst des Schreibens“ durch das Studium der mittelalterlichen Rationalisten, sondern bot mit seiner Herangehensweise einen „post-modernen“ 22 Neuanfang der Philosophie in dem Sinn, dass er politisches Philosophieren über das moderne Denken hinweg wieder ermöglicht. Demnach ist Strauss’ Hermeneutik nicht bloß eine Wieder-Entdeckung einer „vergessenen Schreibweise“, sondern die Möglichkeit, Philosophie gegenwärtig und zukünftig zu ermöglichen. Im Gegensatz zu gängigen Auffassungen der Postmoderne wendet sich Strauss gegen eine rein ästhetische Herangehensweise an philosophische Schriften, denen jegliche moralischen, politischen oder trans-historischen Implikationen abgesprochen werden. Auch verschärft er moderne Strömungen nicht, sondern bemüht sich vorbildhaft in seinem Lebenswerk, Philosophie jenseits der modernen Denkrichtungen wieder zu ermöglichen. Diese Bemühung verläuft ähnlich seinem frühesten Lehrer, Martin Heidegger, zurück zur vormodernen griechischen Philosophie, die jedoch nicht bei den Vorsokratikern beginnt, sondern bei einer unkonventionellen Platonlesart ansetzt, die politische Philosophie aufs Engste mit Hermeneutik verbindet. Auch wenn Leo Strauss viel zu bescheiden war, sich selbst als Philosoph zu bezeichnen, sondern sich lediglich „scholar“ nannte, war er einer dieser „seltenen menschlichen Naturen“ 23. Strauss lag es daran, kein philosophisches System zu entwickeln, sondern Fragen klar und deutlich zu stellen, deren alternative Antworten und deren Prägnanz im Laufe der Philosophiegeschichte an Schärfe verloren haben. Strauss fokussiert die großen Fragen der Philosophie, die er als transhistorisch erachtet und gegen die moderne „Orthodoxie“ des Historismus und des Positivismus wiederbeleben möchte. Da Strauss selbst diese Fragen und die „philosophische Sache“ stark akzentuiert, wird in dieser Arbeit nicht weiter auf seine Biographie und Rezeptionsgeschichte eingegangen. Eine biographische oder historische Einordnung von Strauss’ Denken stünde seinem eigenen Anspruch entgegen, transhistorische Fragen neu zu stellen, um auf diese Weise Phi22 Für Catherine und Michael Zuckert hat Leo Strauss zwar den Weg zu einem „postmodernen Platonismus“ eröffnet, jedoch erachten sie ihn selbst nicht als „postmodernen Philosophen“, sondern als „postmodernen politischen Denker“ (vgl. Zuckert/ Zuckert (2008), S. 80 ff.). 23 Vgl. Bloom (1974), S. 376.

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losophie im sokratischen Sinne wieder zu ermöglichen. Insofern könnte eine zu intensive biographische Untersuchung vorschnell dazu verleiten, Strauss’ transhistorischen Ansatz der historischen Situation seiner Lebenszeit zuzuschreiben und ihn dadurch zu beschränken. Auf biographische Angaben, bibliographische Auflistungen sowie zu seiner zu Lebzeiten vor allem im deutschsprachigen Raum noch eher marginalen Rezeption werde ich nur an denjenigen Stellen verweisen, an denen es für das Verstehen von Strauss’ Schriften unerlässlich ist und für Fragestellungen, die in Auseinandersetzung mit dem Thema dieser Arbeit aus dem biographischen Zusammenhang aufgetaucht sind. Über Leo Strauss selbst und seine Wirkung auf sein akademisches Umfeld lässt sich hingegen keine bessere Formulierung als die Stanley Rosens finden: „[Leo] Strauss was an extraordinary scholar who knew so much more than his colleagues that they regarded him as incompetent.“ 24

Trotz dieser kritischen Haltung ihm gegenüber war er, wie Allan Bloom weiter ausführt, „einer jener wenigen Menschen“, die einen bahnbrechenden Einfluss auf das politische Denken hatten und mehreren Generationen ungewöhnlich hingebungsvolle Schüler hinterließen: „He was one of the very small number of men whose thought has had seminal influence in political theory in our time. [. . .] [He had] such a power of mind, such a unity and purpose of life, such a rare mixture of the human elements resulting in a harmonious expression of the virtues, moral and intellectual. [. . .] [H]e was dedicated to intransigent seriousness as opposed to popularization.“ 25

Für alle weiteren biographischen und bibliographischen Hinweise sei auf die Zusammenstellung der Werkgeschichte von Clemens Kauffmann sowie auf die rezeptionsgeschichtliche Analyse der Zuckerts verwiesen.26 Dennoch sollen an dieser Stelle vier wichtige Umstände seines Lebens hervorgehoben werden, die eng mit der Notwendigkeit seines radikalen antimodernen Ansatzes verbunden sind: 1. Leo Strauss wuchs in einem jüdischen Elternhaus im hessischen Kirchhain auf und litt zeitlebens unter eben jener Spannung zwischen Philosophie und jüdischem Offenbarungsglauben, die ihn, wenn auch selbst unter den Konsequenzen dieser Entscheidung leidend, zu einem radikalen Verfechter der Philosophie als Lebensführung machten. 2. Leo Strauss studierte in dem Land, dessen Sprache seit dem beginnenden 18. Jahrhundert die Philosophie prägte und deren innere Verwandtschaft mit der Sprache der Griechen und deren Denken zudem von Martin Heidegger her-

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Rosen (1987), S. 108. Bloom (1974), S. 372. 26 Zur Werkgeschichte vgl. Kauffmann (1997), S. 23 ff.; zur Rezeptionsgeschichte vgl. Zuckert/Zuckert (2008), S. 1 ff. 25

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vorgehoben wurde.27 In dem geistigen Umfeld seiner Studienzeit entstanden sehr intensive intellektuelle Freundschaften zwischen den nahezu gleichaltrigen Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900–2002), Gerhard Krüger (1902– 1972), Jacob Klein (1899–1978) und Karl Löwith (1897–1973), die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges zwar teilweise unterbrochen wurden, aber letztendlich nicht durch die räumliche Distanz des amerikanischen Exils abrissen.28 In diesen philosophischen Freundschaften erweist sich eine Themenstellung als zentral: der Zusammenhang von philosophischer Grundlegung durch Sokrates, Platon und Aristoteles vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rezeption. In Strauss’ geistigem Bildungsweg spielt dabei nicht der Neukantianismus seines Doktorvaters Ernst Cassirer eine maßgebende Rolle, sondern in erster Linie die Phänomenologie Edmund Husserls.29 Diese stellt für Strauss einen radikalen Neuanfang dar, die Philosophie als „erste Wissenschaft“ gegenüber der naturwissenschaftlichen Vorherrschaft zu re-etablieren.30 Der Wille zur Rückkehr „zu den Sachen“ befindet den Ursprung der Erkenntnis in den Erscheinungen selbst. Strauss interessiert dabei vor allem Husserls Einsicht, dass wissenschaftliche Theorie als Maßstab der Erkenntnis das „ursprüngliche Verstehen“ verdrängt habe. Husserl habe erkannt, dass Philosophie bei einem vortheoretischen Verstehen der Welt ansetzen müsse31 – eine Haltung, die Strauss mit dem antiken Verständnis des proteron pros hemas zum Ausgangspunkt allen Philosophierens macht. Zudem integriert er dieses vortheoretische Verstehen in seinen Ansatz der Politischen Philosophie, die, indem sie ihr politisches Umfeld mit reflektiert, unterschiedliche zur Philosophie begabte Naturen rhetorisch adressiert. 3. Das Land, in dem Leo Strauss aufwuchs, war zugleich jenes, in dem sich die Probleme der politischen Philosophie in der Moderne in ihrer schrecklichsten Form, nämlich im politischen Extrem des nationalsozialistischen Totalitaris27

Vgl. Heideggers Spiegel-Interview vom 31. Mai 1976, S. 217. Heinrich Meier machte erstmals 2001 die Korrespondenz von Strauss mit Krüger, Klein und Löwith im dritten Band der Gesammelten Schriften zugänglich, deren Inhalt und Kontext an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden können. Einen hervorragenden Einblick in dieses Weimarer Umfeld bietet Karl Löwiths Rückblick Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 (1989) sowie Söllner (1996). 29 Zu Strauss’ Verständnis von Husserls Grundlegung der Phänomenologie vgl. Strauss (1989r), S. 31. 30 Über eine Selbstaussage Husserls schreibt Strauss: „,the Marburg school begins with the roof, while I begin with the foundation‘“ (Strauss (1989m), S. 31). Um der Philosophie zu dem Rang einer „strengen Wissenschaft“ zu verhelfen, kritisiert Husserl, dass die meisten philosophischen Denkschulen nicht zu Erkenntnis, sondern zu Vorurteilen und Ideologien geführt hätten, weswegen er fordert, zu dem zurückzukehren, was sich vom Standpunkt des Erlebnisses ereigne und nicht durch Vorurteile, Interpretationen, Begriffsbildungen oder abstrakte Systematisierungen unkenntlich gemacht worden sei. 31 Vgl. Strauss (1989r), S. 31. 28

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mus, zeigten. Für die Indifferenz, wenn nicht gar den Ausfall, gegenüber jeglichen moralischen Instanzen, die zu einer Befürwortung oder Akzeptanz des Hitler-Regimes geführt hat, macht Strauss letztendlich die Szientifizierung aller Wissenschaften verantwortlich.32 Die zerstörerische Wirkung des Positivismus sei dabei auf die naturwissenschaftliche Herangehensweise zurückzuführen, die durch ihre Leistungsfähigkeit und Zweckorientierung den anderen Wissenschaften zum Vorbild dienen solle und dabei allein objektiv festgestellte Tatsachen als wissenschaftliche Erkenntnis im strengen Sinne anerkenne. Dabei ordnet sich die Theorie der Methode unter, was dazu führt, dass grundlegende Probleme, insbesondere metaphysische oder ontologische Fragen, die nicht clare et distincte beantwortbar oder durch szientifische Methoden zugänglich sind, als irrelevant erklärt werden. Im Fall der politischen Philosophie wurde der Fragezusammenhang über die normative Bestimmung zum Scheinproblem degradiert, weswegen für Strauss die totalitären Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts und das Versagen von Politik und Gesellschaft in Bezug auf die Vernichtung von Menschen auf diesen Verlust der philosophischen Prinzipien der Politik zurückzuführen sind. Strauss’ Wissenschaftskritik betrifft vor allem den einflussreichen sozialwissenschaftlichen Ansatz von Max Webers „wertfreier“ Wissenschaft, mit dem sich letzten Endes nicht positivistisch beweisen lasse, warum die Demokratie „gut“ oder „besser“ als andere Regime ist. Die liberale westliche Tradition steckt für Strauss deswegen in einer „Krise der Moderne“, da sie ihren eigenen Zweck, nämlich die universale Gemeinschaft freier und gleicher Menschen, nicht mehr mit ihren eigenen positivistischen Mitteln begründen und rechtfertigen könne.33 In seiner Modernekritik und dem Bewusstsein der problematischen Situation der politischen Philosophie ist Leo Strauss zutiefst von den geistigen Strömungen der Weimarer Zeit beeinflusst – des „philosophischen Extremismus zwischen den Weltkriegen“ (Bolz) –, die sich auf die Suche nach Ursachen für die gegenwärtige Krise und nach möglichen Auswegen aus dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ der zweckorientierten Rationalität macht. So reagiert Leo Strauss auf das anbrechende „Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ mit einer Bejahung des Politischen in Form seiner Politischen Philosophie. Auf die dekadenztheoretische Diagnose

32 „The biggest event of 1933 would [. . .] seem to have proved, if such prove was necessary, that man cannot abandon the question of the good society.“ (Strauss (1989x), S. 27). Im Vergleich mit Heidegger, den Strauss 1922 in Freiburg hörte, erscheint Max Weber daher für Strauss als ein „orphan child“, da auf dessen innerweltliche Askese einer „wertfreien“ Wissenschaft noch der Dezisionismus folgte (Strauss (1997a), S. 461). 33 Die „Krise des Westens“ sieht Allan Bloom vor allem darin, dass die Menschen nicht mehr an eine natürliche Hierarchie der seelischen Neigungen glauben und der Mensch unter dem seelischen Nihilismus leide und keine Werte mehr aufstellen könne (Bloom (1987), S. 155).

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der zum Tode geweihten politischen Philosophie antwortet er mit einem starken Begriff von Philosophie als sokratischem Philosophieren; und der geistigen Nivellierung stellt er ein emphatisches Bildungsprogramm, die liberal education, entgegen.34 Mit dieser „Exit-Option“, in der das Studium des Kanons der „great books“ eine große Rolle spielt, möchte Strauss der Massenkultur der „letzten Menschen“ und der „Fachmenschen ohne Geist“ ein „Gegengift“ anbieten. Insofern macht es sich Leo Strauss „im Schatten Max Webers“ 35 zur dringenden Aufgabe, politische Philosophie „post-modern“ wieder und weiterhin ermöglichen zu können, und stellt sich dabei durchgehend in seinem Gesamtwerk die Frage, wie sich Philosophie überhaupt noch begründen lassen kann. Strauss drängt es dementsprechend danach herauszufinden, was Philosophie in ihre derzeitige missliche Lage gebracht hat, indem er einerseits die gegenwärtigen Annahmen kritisch prüft und andererseits nach denjenigen Denkansätzen sucht, die zu einem Umbruch im Philosophieverständnis geführt haben. Philosophie versteht Strauss dabei nicht bloß als philosophisches Fachgebiet an einem universitären Institut, sondern er bezieht sich stets auf das antike sokratische Philosophieverständnis als Lebensführung sowie als philo-sophia, als ein Streben nach Wissen. 4. Als vorherrschende wissenschaftliche Hauptströmung des 20. Jahrhunderts kritisiert Leo Strauss jedoch nicht allein den „wertfreien“ Positivismus, sondern auch den Historismus, den Strauss zudem über seinen frühen Lehrer Martin Heidegger als historizistische Zuspitzung kennen und deren Konsequenzen für die Philosophie fürchten gelernt hat. Vor allem die historistische Annahme, Philosophie müsse vom Gedanken der Universalität Abschied nehmen, weil sich anhand der „historischen Erfahrung“ die Relativität allen menschlichen Denkens zeige, verbaut für Strauss die Möglichkeit, etwas von Philosophen der Vergangenheit lernen zu können. „Geschichte“ stellt demnach die große Herausforderung für eine Philosophie dar, die von transhistorischen „Wahrheiten“ ausgeht36 und den philosophischen Autoren unterstellt, 34 Es geht um die Wichtigkeit der „liberalen Erziehung“ angesichts ihres Verfalls und ihrer Verdrängung durch eine effiziente und immer spezieller werdende Wissenschaftlichkeit. Strauss warnt einerseits vor dem generellen Verblassen der scheinbar nutzlosen liberalen Erziehung sowie vor den falschen Konsequenzen einer liberalen Erziehung, wenn diese als politische Vision zu übermäßigem politischen Handeln ohne Moderation führt. Strauss sieht in seiner Hinwendung zu Platon einen Weg „the elementary and unobstrusive conditions of human freedom“ (Strauss/Kojève (2000), S. 27), dessen Horizont er zurückgewinnen will. 35 Bolz (1989), S. 7. 36 Strauss, der sich intensiv mit Wilhelm Diltheys historischen Studien auseinandersetzte, war vor allem daran interessiert, wie die Aufklärung als scheinbare Siegerin der querelles des anciens et des modernes den Zugang zu Philosophie als einer Lebensform mit dem Anspruch, das „richtige Leben“ zu führen, verstellt hat. Strauss sah in der Aufklärung und weit mehr noch im 19. und 20. Jahrhundert eine Entwicklung, die „Denken“ durch „Geschichte“ ersetzte.

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eine solche vermitteln zu wollen. Strauss’ Hermeneutik bemüht sich daher um ein „historisches Verstehen“, das Autoren der Vergangenheit gerade nicht unter historistischen Prämissen liest, sondern sie so zu lesen beansprucht, wie sie sich selbst verstehen. Er lehnt dementsprechend eine Haltung ab, die davon ausgeht, diese Denker besser als sich selbst verstehen zu können. Auf diese Weise versucht Strauss mit seinem hermeneutischen Ansatz, einen Ausweg aus der „zweiten Höhle“ des modernen Denkens zu finden, die sich unter der ursprünglichen platonischen befindet.37 Diese stellt eine Verschärfung der doxa-Problematik dar,38 die die jeweiligen Weltanschauungen, Konventionen und vorherrschenden Meinungen der doxa der ursprünglichen Höhle um die historistische Auffassung erweitert, dass ein Aufstieg aus der Höhle generell unmöglich sei, wenn jegliche Erkenntnis immer nur historisch bedingt wäre. Strauss rekonstruiert daher den Prozess der Untergrabung der „platonischen Höhle“: In seinen Kommentaren zur Philosophiegeschichte, versucht er demnach durch eine „unhistorische Geschichte der Philosophie“ 39 jenen vormodernen philosophischen Horizont wiederzuerlangen, indem er die doxa der Wirkungsgeschichte in seinen Kommentaren „destruiert“. Um zu dem „klassischen“ Verständnis von Philosophie zurückzukommen, greift er zudem die scheinbar überwundene querelle des anciens et des modernes der aufklärerischen Enzyklopädisten wieder auf, die er als Ausgangspunkt für das moderne historistische Denken erachtet. Seine Kommentare können daher als „propädeutische Analyse“ 40 verstanden werden, die durch eine Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte zu einer Philosophie im sokratischen Sinne auf vier Arten „hinführen“: Zum einen will seine Herangehensweise an philosophische Bücher der Vergangenheit die doxa jener autoritären, wirkungsgeschichtlichen und historistischen Annahmen aufdecken, die Philosophie daran hindern, Philosophie in eben diesem Sinn zu sein. Zweitens führt sie zu den wesentlichen Fragen „Was ist Philosophie?“ und „Warum Philosophie?“ hin. Drittens setzt sie sich historisch mit der Intention des jeweiligen philosophischen Autors auseinander und versucht, über das „historische Verstehen“ der jeweiligen gesellschaftlichen doxa des Autors hinaus dessen Denkbewegung zu rekonstruieren. Viertens: Indem Strauss sich selbst der „Platonischen Rhetorik“ bedient und keine systematische Lehre ausgearbeitet hat, setzt er beim Leser ein sehr sorgfältiges Studium nicht nur seiner, son37 Strauss verwendet das erweiterte Gleichnis von Platons Höhle aus der Politeia zuerst 1931 in Über die Fortschritte der Metaphysik. Heinrich Meier verweist auf eine autobiographische Notiz aus den 30er Jahren, die sich im Nachlass befindet, die sein Zitat belegt: „Das historische Bewußtsein ist an eine bestimmte geschichtliche Situation geknüpft; wir heute müssen Historiker werden, weil wir nicht über die Mittel verfügen, die sachliche Frage angemessen zu beantworten“ (Meier (1996), S. 22). 38 Zur gegenwärtigen doxa vgl. Strauss (1997d), S. 451–52, 461 ff. 39 Bloom (1974), S. 384. 40 Meier (1996), S. 26.

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dern auch der Quelltexte voraus und animiert auf diese Weise zum philosophischen Nachvollziehen der Denkbewegung des Autors in Bezug auf die philosophische „Sache“. In diesem Sinne ist Strauss’ Hermeneutik nicht nur eine Hinführung zur Philosophie, sondern das Studium seiner Kommentare erweist sich selbst als Philosophieren.41 Leo Strauss’ Politische Hermeneutik stellt sich insofern als „Exit-Option“ aus der Sackgasse des modernen Denkens dar, welches politische Philosophie für unmöglich und unnötig erachtet. Seine hermeneutische Herangehensweise kulminiert daher aus diesen Spannungsfeldern: der Auseinandersetzung mit der Herausforderung des Offenbarungsglaubens und der Politik für die Philosophie als eine Lebensführung sowie mit der „Krise der Moderne“, die durch den Historismus und Positivismus hervorgebracht wurde. Dabei muss an dieser Stelle erneut betont werden, dass Strauss zwar eine Antwort auf bestimmte historisch gegebene Herausforderungen bietet – eben jene wissenschaftlichen „Orthodoxien“ –, jedoch ist die Spannung zwischen Offenbarungsglauben und Philosophie, ebenso wie die zwischen Gemeinwesen und Philosophie, eine grundsätzliche und somit geschichtlich unabhängig, so dass sein hermeneutischer Ausweg aus diesen Spannungsfeldern, der zwischen esoterischer und exoterischer Ebene unterscheidet, ebenfalls ein transhistorischer ist. Zu seiner Aktualität äußert sich Strauss dementsprechend vorausschauend selbst: „We cannot reasonably expect that a fresh understanding of classical political philosophy will supply us with recipes for today’s use. For the relative success of modern political philosophy has brought into being a kind of society wholly unknown to the classics, a kind of society to which the classical principles as stated and elaborated by the classics are not immediately applicable. Only we living today can possibly find a solution to the problems of today. But an adequate understanding of the principles as elaborated by the classics may be the indispensable starting point for an adequate analysis, to be achieved by us, of present-day society in its peculiar character, and for the wise application, to be achieved by us, of these principles to our task.“ 42

Dieses inzwischen berühmte Zitat betrifft die Frage nach der Aktualität von politischer Philosophie sowie das Verhältnis von Hermeneutik der klassischen politisch-philosophischen Texte und ihrer politischen Umsetzung und praktischen Anwendbarkeit – eine Fragestellung, für die Strauss vor allem in der amerikanischen Rezeption als „hermeneutischer Politiker“ missverstanden wurde. Indem er die real-politischen Lösungen einer jeweiligen Zeit von den grundlegendenden politischen Fragen und Alternativen unterscheidet, erklärt er es zur Aufgabe der Politischen Philosophie, auf eben diese grundlegenden Alternativen aufmerksam zu machen, die nur im konkret politischen Sinn von doxa rhetorisch als alternativlos betrachtet werden können. Diese Forderung, kompromisslos zu den grund41 42

Vgl. ebd., S. 28 ff. Strauss (1997h), S. 11.

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legenden Fragen vorzudringen und deren Alternativen abzuwägen, spiegelt sich daher auch in Strauss’ Denk- und Schreibweise wider. So bewundert Karl Löwith „die geradlinige Energie und Zähigkeit“, indem er „durch ein virtuoses Verwenden von polemischen Alternativen [seinen] Grundgedanken mit einer dichten und strengen Folgerichtigkeit bis an den Punkt vorantreib[t], wo sich das Problem als unlösbar herausstellt“ 43. Durch diese radikale Herangehensweise enttarnt Strauss das moderne Denken als Resultat einer bloß scheinbaren Überwindung des Konfliktes zwischen der Aufklärung und dem religiösen Offenbarungsglauben. Strauss wurde durch diese unüberwindbare offenbarungsreligiöse Herausforderung motiviert, sich auf die eigenen Voraussetzungen der Philosophie zu besinnen. Durch eine Wiederaufnahme und Zuspitzung dieses Konfliktes, den er zudem um die politische Dimension erweitert, entwickelt er seine Vorstellung von einer sich selbst reflektierenden Politischen Philosophie. Im Zentrum von Strauss’ Denken steht daher das „theologisch-politische Problem“, auf dem alle weiteren Ansätze, dementsprechend auch seine Hermeneutik, basieren. Die Offenbarungsreligion stellt für Strauss neben der Philosophie den anderen Strang der Wurzel der westlichen Tradition dar, die sich durch eine unaufhebbare Spannung auszeichnet, die er mit den tertullianischen Chiffren „Athen“ und „Jerusalem“ bezeichnet. Der Religionsbegriff, den Strauss dabei verwendet, ist eine eigenwillige Mischung aus instrumenteller Funktion und substanzieller Fassung von Religion in ihrer Bedeutung für politische Ordnung und das Zusammenleben.44 Da der Offenbarungsglaube in gerade dieser ordnungsstiftenden Funktion mit vernünftigen Argumenten nicht widerlegt werden kann, musste ihm von Seiten der Aufklärung ein funktionierendes alternatives System entgegengestellt werden. Dies zeigt sich, so Strauss, in der dringenden Motivation der philosophischen Aufklärung, die von nun an als menschenfeindlich aufgefasste Natur zu überwinden und somit eine fortschreitende Verbesserung der gesellschaftlichen Lage garantieren zu können. Die antike Natur als physis wurde dabei zur zu überwindenden Natur degradiert und durch geschichtliches Fortschrittsdenken ersetzt.45 Dass dadurch die Philosophie von den Händen der Theologie in die der Politik weitergereicht wurde, stellt für Strauss das „theologisch-politische Problem“ dar, mit dem er sich in seinem Gesamtwerk auseinandersetzt. Indem Strauss 43 Löwith/Strauss (1988), S. 180. In dieser Zuspitzung theoretische Radikalität und existenzielles Denken, das auf Alternativen und Entscheidungen fokussiert ist und große prinzipielle Alternativen und Entwürfe veranschlagt. So sucht auch Strauss nach Grundsatzfragen und nach letzten Ursachen, dabei aber nicht historisch, sondern „idealtypisch“ gearbeitet, also Wesensmerkmale herausgearbeitet und – meist polemisch – überzeichnet. 44 In seinen frühen Werken, vor allem in Philosophie und Gesetz (1935), bezieht sich Strauss vor allem auf die jüdische und islamische Gesetzesreligion. 45 Vgl. Bloom (1974), S. 379.

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den antiken Naturbegriff von physis als transhistorischen Maßstab wiederaufgreift und zu zeigen versucht, dass alle philosophischen Fragen immer noch offen sind und die fortschreitende Entwicklung diese und ihre alternativen Antworten verdunkelt hat, lässt sich seine Denkbewegung als eine Bewegung „von der Geschichte zur Natur“ 46 auffassen. Diese Bewegung umfasst in spezifischerer Weise ebenfalls seine hermeneutische Herangehensweise: Im Sinne des Wiederaufgreifens des „theologisch-politischen Problems“ für die Philosophie spricht Strauss zugleich von einer „Wiederentdeckung des Exoterischen“ und von einem „Wiederlesen“ (rereading) der „großen Bücher“ anstatt des Lesens.47 Es ist jedoch nicht eine Wiederentdeckung, weil diese Lesart, die zwischen esoterischer und exoterischer Ebene unterscheidet, lange Zeit ignoriert wurde und nun ein ideengeschichtliches Interesse durch eine Neulektüre entfacht. Vielmehr möchte Strauss betonen, dass ein philosophischer Autor immer zwischen Nicht-Philosophen und Philosophen unterscheiden muss und daher ein „Zwischen-den-Zeilen-Schreiben“ auch für liberale politische Systeme von Bedeutung ist. Das Politische tritt zur Philosophie nicht nur als Gegenstand im Sinne von „politischer Theorie“ hinzu, es ist ihr als Modus wesentlich. Die Reflexion der immerwährenden Spannung zwischen Philosophie und Gemeinwesen zeichnet für Strauss das Wesen der Politischen Philosophie aus, da sich Philosophie im Rahmen der polis die Frage nach dem „richtigen Leben“ stellt. Dieses begründen und ausleben zu können, sei das zentrale Anliegen der „klassischen politischen Philosophie“ gewesen. Dabei behaupten sowohl die griechische Philosophie als auch die biblische Offenbarung mit ihrer jeweiligen „nomos-Tradition“ 48, diese dringlichste Frage des Menschen beantworten zu können. Während die Philosophie das „richtige Leben“ jedoch allein durch die Vernunft zu erkennen beansprucht, verpflichtet der Offenbarungsglaube den Menschen zu demütigem Gehorsam gegenüber offenbarten Vorgaben. Obwohl die Politik die philosophische Lebensführung in ihrem erkenntnistheoretischen Anspruch nicht so existenziell in Frage stellt wie der Offenbarungsglauben, ist für Strauss die Frage dem „richtigen Leben“ immer zutiefst politisch: Durch die philosophische Radikalität, mit der sie gedacht werden müsse, sei Philosophie gegenüber allen konkreten gegebenen Lebensformen und politischen Ordnungen gefährlich, da sie radikal in Frage gestellt werden können. Andererseits läuft die Philosophie Gefahr, von Seiten der Politik verführt zu werden, obwohl sie sich eigentlich nicht als „Dienerin einer Autorität“ versteht. Ihre Verführbarkeit liegt dabei in der Möglichkeit, direkt Einfluss auf politische Handlungsempfehlungen als „politische Wissen46

Meier (1996), S. 33. Strauss (1997a), S. 463. 48 Brief von Strauss an Gerhard Krüger 17. November 1932 in: Strauss (2001d), S. 406. 47

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schaft“ zu nehmen. Philosophie verdrängt in dem Fall, dass sie dabei immer politisch eingebunden ist, selbst wenn sie sich gerade davon zu distanzieren bemüht und jegliche Politisierungen im Sinne einer Ideologie oder eines „notwendig falschen Bewusstseins“ (Marx) vermeiden möchte. Über das politische Engagement hinaus umschließt Philosophie für Strauss inhaltlich immer auch politische Aspekte, gerade wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden möchte, „das Ganze“ erkennen zu wollen, zu dem auch die „menschlichen Dinge“ (pragmata)49 zählen. Als sprachlich verfasste „Wissenschaft“, die in ein Gemeinwesen eingebunden ist, muss sie vor allem ihren Modus reflektieren: Philosophie muss sich mit den Implikationen ihrer öffentlichen Äußerungen, seien sie mündlicher oder schriftlicher Art, auseinandersetzen und darf gerade nicht davon ausgehen, dass die öffentliche Meinung in einem liberalen Zeitalter der Meinungsfreiheit keine Gefahr mehr darstellt. Um im Gemeinwesen Bestand haben zu können, muss es der Philosophie gelingen, ihre Erkenntnisse vor diesem sowie vor sich selbst rechtfertigen zu können. Sie muss sich daher über ihre Bedingungen, Möglichkeiten und mögliche autoritäre Strukturen, seien sie religiöser, politischer oder institutioneller Art, weiterhin selbst überprüfen und muss zu einer Politischen Philosophie werden, die sowohl ihren Gegenstand als auch ihren Modus reflektiert. Leo Strauss versteht Politische Philosophie daher doppeldeutig als genitivus subjectivus objectivus: Einerseits umfasst Politische Philosophie eine Philosophie der politischen Ordnung als „politische Theorie“. Andererseits reflektiert Politische Philosophie die Rolle der Philosophie in ihrem gesellschaftlichen Rahmen. Strauss’ grundlegende These ist daher, dass Philosophie im Sinne einer sokratischen politischen Philosophie immer für das Gemeinwesen gefährlich ist, gerade weil sie das ordnungsstiftende proteron pros hemas, jene Gegebenheiten, Selbstverständlichkeiten, Vorstellungen und Konventionen, kritisch zu hinterfragen wagt.50 Dabei gilt es hinsichtlich Strauss’ Philosophieverständnis ebenfalls zu bedenken, dass es gerade diese „politische doxa“ ist, von dem aus der Aufstieg zum Philosophieren beginnt. In dieser Reflexion der Spannung zwischen Philosophie und Gemeinwesen sowie Philosophen und Nicht-Philosophen betont Strauss, dass Philosophie nicht hörerunabhängig sein kann, sondern dieses politische Verhältnis in ihrer Rhetorik mit einbeziehen muss. Die „Kunst des Schreibens“ geht daher mit der Wiederentdeckung des „theologisch-politischen Problems“ als der Notwendigkeit zu einer Rhetorisierung von Philosophie einher, die unterschiedliche Adressaten unterschiedlich anspricht. Der Zusammenhang zwischen Rhetorik und Politischer Philosophie resultiert insofern aus dem „Problem des Sokrates“, dem es in seiner Apologie nicht gelang, sein philosophisches Leben vor der Stadt Athen rhetorisch angemessen zu rechtfertigen. 49 50

Vgl. Strauss (1997a), S. 458. Strauss (1997h), S. 19.

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Obwohl der Sokrates-Schüler Platon wirkungsgeschichtlich vor allem für seinen antirhetorischen Affekt gegen die Rhetorik bekannt geworden ist, hebt Strauss dessen verantwortungsvolle „Politische Rhetorik“ hervor, da er sich durch das öffentliche Scheitern seines Lehrers darüber bewusst geworden ist, dass Philosophie Rhetorik braucht. Rhetorik entlastet genau dort, wo Meinung nicht in Wissen transformiert werden kann, wie es im politischen Leben der Fall ist. Dies kann aus Zeitgründen der Fall sein, wenn es Zustimmung von vielen, einer konkreten politischen Handlungsempfehlung bei vielen Handlungsoptionen bedarf oder aus Normentbehrung, weil das „Wahre“ (noch) nicht erkannt wurde. Wo episteme fehlt, muss Rhetorik doxai und Konventionen als diese ausgeben.51 Diese Arbeit geht daher der Frage nach, wie sich Texte eines philosophischen Autors lesen lassen, der sich einer solchen „rhetorischen Strategie“ 52 im Form der „Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ bedient hat. Die grundlegende Frage ist dabei jedoch, warum sich der philosophische Autor überhaupt einer Redepraxis bedienen muss. Kann dies allein durch den Selbstschutz vor der politischen Öffentlichkeit als einen diskursiven Ausschließungsmechanismus motiviert sein? Oder spielt der Gedanke an die Rekrutierung zukünftiger potentieller Philosophen eine tragende Rolle? Inwiefern ist die Rhetorisierung der Philosophie ein Wesenselement der Philosophie? Hierbei soll vor allem Strauss’ Verständnis einer platonischen „Politischen Rhetorik“ herausgearbeitet werden, die aus der Verantwortung sowohl dem Gemeinwesen als auch sich selbst den sowie zukünftigen potentiellen Philosophen und der Philosophie generell gegenüber entstammt. Ein weiteres Anliegen dieser Arbeit ist es außerdem, Strauss’ hermeneutische Herangehensweise von dem Vorurteil zu befreien, dass sie nur in Zeiten von Verfolgung notwendig sei und daher in liberalen politischen Systemen nur unter einem historischen Aspekt Aufmerksamkeit verdiene. Das Problem der exoterischen Schrift, so die Grundthese dieser Arbeit, muss sich für jeden sich öffentlich äußernden philosophischen Autor in Strauss’ strengem Sinn stellen und gilt demnach nicht nur für philosophische Äußerungen über die „politischen Dinge“, sondern für alle „philosophischen Sachen“.53

51 Vgl. Kauffmann (1997), S. 189. Strauss wagt es, gewisse Naturen des Auditoriums rhetorisch zuordnen zu können, wobei „Natur“ für ihn generell ein Begriff der Unterscheidung und daher politisch ist. Darüber hinaus verweist er auf die antike Vorstellung des „tugendhaften Lebens“, das neben die unterscheidende Funktion der Natur als eine differenzierende Wesensbestimmung auf einen Maßstab, nahezu im Sinne eines telos, verweist, nach dem es zu streben gelte. Insofern bestimmt die Natur die Lebensweise und ist demnach auch in dieser zweiten Bedeutung zutiefst politisch. 52 Allan Bloom hingegen bezeichnet Strauss’ „Sokratische Rhetorik“ als „politische Taktik“ (vgl. Bloom (1987), S. 283). 53 So Bohlender (1995).

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Da Leo Strauss die „todgeweihte“ Politische Philosophie über seine hermeneutische Herangehensweise wiederzubeleben erachtet, akzentuiert diese Arbeit das Verhältnis zwischen Hermeneutik und Politik – sowohl in der Dimension der „Politischen Hermeneutik“ als auch der „hermeneutischen Politik“. Dabei muss betont werden, dass der Begriff „Politische Hermeneutik“ in der Forschung im Zusammenhang mit Leo Strauss nicht auftaucht. In eine ähnliche Richtung geht jedoch die Formulierung von Stanley Rosen in seinem gleichnamigen Buch Hermeneutics as Politics (1987), in dem er jedoch vielmehr auf die „hermeneutische Politik“ Alexandre Kojèves eingeht, die er zwar mit Strauss in einen Zusammenhang bringt, ohne jedoch explizit auf dessen Politische Hermeneutik als die „Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens“ einzugehen. Teresa Orozcos umstrittene Rekonstruktion von Gadamers Platondeutungen im Dritten Reich verwendet ebenfalls den Begriff „Politische Hermeneutik“ im Untertitel ihres Buches Platonische Gewalt. Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit (2004), ohne diesen jedoch mit Leo Strauss in Verbindung zu bringen, ihn zu systematisieren oder seinen Gehalt zu klären. Sie versteht „politische Hermeneutik“ lediglich als den Einfluss des politischen Umfeldes auf Gadamers philosophische Hermeneutik. Leo Strauss’ Politische Hermeneutik ist hingegen politisch, nicht nur weil sie „politische Dinge“ thematisiert, sondern vor allem, da sie das Verhältnis von politischem Umfeld, Philosophie und philosophischem Autor zu einem grundlegenden hermeneutischen Prinzip macht. Das „Politische“ ist demnach Thema aller philosophischen Bücher in Strauss’ strengem Sinn, da der Philosoph nur als Politischer Philosoph den das jeweilige politische Umfeld reflektierenden Ansprüchen von Philosophie gerecht wird. Andere Interpreten haben daher Strauss unterstellt, dass die Notwendigkeit dieser Verknüpfung von Philosophie, Politik und „Politischer Rhetorik, respektive Hermeneutik“ darin liege, dass die Philosophie Letztere als bloßes Mittel betrachte, um durch politische Eingriffe und „noble Lügen“ in Zukunft uneingeschränkt ein kontemplatives Leben führen zu können.54 Gegen diesen Vorwurf einer politischen Instrumentalisierung zugunsten der Philosophie wendet sich der Strauss-Schüler Allan Bloom folgendermaßen: „[Leo Strauss] was active in no organization, served in no position of authority and had no ambitions other than to understand and help others who might also be able to do so.“ 55

Die Politische Hermeneutik folgt keinen universell auf alle philosophischen Autoren übertragbaren Regeln, die stets zu eindeutigen und unanfechtbaren Ergebnissen führen. Die „Kunst des Lesens“ kann dementsprechend nicht mit einer Dekodierung verschlüsselter Texte oder einem Entziffern von Hieroglyphen verglichen werden. Vielmehr baut eine gelingende Interpretation auf gewissen Qua54 55

Drury (2005), S. xxi; vgl. dazu auch Steinberg (2003); Xenos (2008); Pfaff (2003). Bloom (1974), S. 373.

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litäten des Lesers, wie Klugheit, „Fingerspitzengefühl“ und Urteilsvermögen. Strauss verweist daher nur auf die fundamentalen Zusammenhänge zwischen Hermeneutik und Politik sowie auf grundlegende, „notwendige Anreize“, die zum Verstehen der „Intention des philosophischen Autors“ führen können, weigert sich jedoch, eine systematische Ausarbeitung einer hermeneutischen Methode zu präsentieren. Seine Hermeneutik wird demnach in dieser Arbeit durch seine eigene Herangehensweise in seinen Kommentaren, durch direkte Hinweise sowie ex negativo aus der Auseinandersetzung von Strauss mit anderen Denkern, wie etwa Friedrich Schleiermacher sowie seinen lebenslangen Freunden Alexandre Kojève und Hans-Georg Gadamer, rekonstruiert und mit hermeneutischen Konzepten, wie der Reader-Response-Theorie oder der textimmanenten Dialogtheorie, verglichen. Dabei versucht diese Arbeit, grundlegende Zusammenhänge und hermeneutische Prämissen zu formulieren, ohne selbst ein methodisches Regelwerk für die „Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens“ darlegen zu können und zu wollen. Der erste Teil, Die dialogische Stadt, versucht daher, die Herangehensweise, die Ursachen und die Gründe der Politischen Hermeneutik von Leo Strauss herauszuarbeiten und untersucht dementsprechend das „theologisch-politische Problem“ (Kap. 1) sowie das „Politische“ und die aus der entsprechenden Hermeneutik resultierende philosophische „Politik der Freundschaft“ (Kapitel 2). Dabei ist die Bestimmung des Politischen eng mit der Auseinandersetzung von Leo Strauss mit Carl Schmitt verbunden. Auch Strauss erachtet das Politische als primäre Tendenz der menschlichen Natur, exklusive Gruppen zu bilden, unterscheidet aber dennoch zwischen der reinen Abschließungstendenz, die in Freund-FeindBeziehungen resultiert, und dem konstitutiven Prinzip einer Ordnung im Sinne von polis. Aus der zugleich exklusiven und inklusiven Konzeption des Politischen erschließt sich Strauss’ Verständnis von Politischer Philosophie als Modus und Gegenstand (Kapitel 3). Aus dieser Reflexivität der Philosophie leitet sich wiederum die Notwendigkeit einer Rhetorisierung der Philosophie als verantwortungsbewusster platonischer „Politischer Rhetorik“ (Kapitel 4), die medienwissenschaftliche Betrachtung von verschriftlichter Philosophie (Kapitel 5) sowie, aus all diesen Aspekten letzten Endes kulminierend, eine Analyse und ein Vergleich von Strauss’ Herangehensweise an die „Kunst des Zwischen-den-ZeilenLesens“ (Kapitel 6) ab. Der zweite Teil trägt den Titel der Gesamtarbeit „Von der Geschichte zur Natur“, welcher auf eine Formulierung von Heinrich Meier zurückgeht, die die „Denkbewegung von Leo Strauss“ beschreibt.56 Diese Denkbewegung möchte ich hinsichtlich seiner Politischen Hermeneutik präzisieren und hierbei seine Auseinandersetzung akzentuieren, in der hermeneutische Aspekte einer zutiefst politisch-philosophischen Motivation auf andere hermeneutische Ansätze treffen, 56

Meier (1996), S. 33.

A. Einleitung

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die auf einem fundamental entgegengesetzten Geschichtsverständnis basieren. Da sich Strauss in seinem Œuvre darum bemüht, Politische Philosophie als Philosophieren wieder zu ermöglichen, darf er sich nicht von den Versuchungen einer „hermeneutischen Politik“ verführen lassen und muss sich ebenso von den historistischen Implikationen eines philosophischen Denkens befreien, das durch die Tradition der Wirkungsgeschichte oder den jeweiligen historischen Kontext bestimmt ist. Dabei konvergiert seine hermeneutische Herangehensweise des „historischen Verstehens“ vor allem mit dem kontextualistischen Ansatz des Cambridger Historikers Quentin Skinner (Kapitel 7) und Hans-Georg Gadamers wirkungsgeschichtlicher „Horizontverschmelzung“ (Kapitel 8). Als „hermeneutische Politik“, eine Interpretation von Texten hinsichtlich konkreter Politik unter den Bedingungen eines geschichtsphilosophischen Fortschreitens, lässt sich Alexandre Kojèves Hegel-Interpretation verstehen, die von Strauss hinsichtlich ihres ignorierten Naturverständnisses kritisiert wird (Kapitel 9). Parallelen der theologischen Politischen Hermeneutik zu Strauss’ Politischer Hermeneutik gibt es jedoch nicht nur in der Frage, was den Anspruch an die innere Einheit des Textes betrifft und ob dieser transhistorische Wahrheiten vermitteln kann, sondern auch in Bezug auf die rhetorische Adressierung. Zuletzt wird die Auseinandersetzung des „Dialogs unter Abwesenden“ von Leo Strauss und Carl Schmitt aus Kapitel 2 wieder aufgegriffen und um Schmitts theologisch motivierte politische Geschichtsdeutung anhand seiner Hobbes-Interpretation erweitert (Kapitel 10). Diese Arbeit versucht dabei Leo Strauss so zu lesen, wie er Platon gelesen hat, was allerdings die Frage nach dem Selbstverständnis von Strauss als Verfasser von esoterischen Schriften aufwirft.57 Zudem evoziert diese Herangehensweise die Frage, ob es demnach nötig sei, esoterisch über die Esoterik zu schreiben. Hier muss erneut betont werden, dass es sich bei Strauss’ Verständnis von textimmanenter Esoterik nicht um eine Art Geheimlehre handelt, über deren Zugang ebenfalls auf eine geheimniskrämerische Art kommuniziert werden kann. Es geht Strauss grundsätzlich um das Ermöglichen von Philosophieren mittels des Studiums philosophischer „großer Bücher“. Dabei gilt als grundlegendste Prämisse der Rückschluss, dass „sorgfältige Leser sorgfältige Schreiber sind“ 58, weswegen er den Zugang explizit in dieser ernsthaften und sorgfältigen Auseinandersetzung mit den „großen Denkern“ der Philosophiegeschichte erachtet. Der Zugang zum esoterischen Kern muss aus dem Leser selbst evoziert werden. Dabei gibt Strauss selbst den warnenden Hinweis für seine Kommentare, wie er selbst gelesen werden möchte:

57 In Thoughts on Machiavelli betont Strauss, einen Autor gemäß jenen Regeln lesen zu müssen, die er selbst als maßgeblich angesehen habe oder, wenn er dies nicht getan hat, die er selbst bei der Kommentierung der für ihn vorbildlichen Autoren angewandt hat (vgl. Strauss (2003), S. 30). 58 Strauss (1988d), S. 144.

32

A. Einleitung „[T]he patience of the interpreter does not render superfluous the patience of the reader of the interpretations.“ 59

Wenn man wie Strauss davon ausgeht, dass es einen wesentlichen, „natürlichen“ Unterschied zwischen den Menschen gibt, die entweder „die Ohren haben zu hören“ oder nicht, so kann ihnen keine „systematisierte“ Methode den Weg zur „philosophischen Sache“ ebnen, da die eigentliche Aufgabe des Lesens, dem philosophischen Autor in der „dialogischen Stadt“ zu begegnen, immer noch ansteht. An dieser Stelle kann demnach Strauss der Gedanke nachgesagt werden, den er Lessing zugeschrieben hat: die Aberkennung derjenigen philosophischen Schriftsteller als Philosophen, die exoterisches Schreiben generell ablehnen.60 Philosophie wird durch ihre exoterische Rhetorik immer zu einem politischen Akt,61 der einerseits aus Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen und gegenüber dem Philosophen als Schutzmaßnahme vor Verfolgung jeglicher Art selbst, aber vor allem aus Verantwortung gegenüber der Philosophie, indem sie als Schutz vor Hybris den zu Philosophie Unbegabten sowie als Protreptikos jener potentiellen Philosophen dient. Was für Strauss demnach Farabi als Philosophen auszeichnet, sind nicht seine Überzeugungen und seine Inhalte, sondern die Haltung und die Art, mit der er diese erlangte und in der er sie weitergab: „[T]hey were intimated rather than preached from the house-tops.“ 62

Strauss’ Anliegen in Natural Right and History ist, wie die Majuskeln der Eröffnungsformulierungen verlauten lassen: „It is to understand Socrates“ – was in der deutschen Übersetzung leider verloren ging. Gerade im Hinblick auf die vielen Platon-Interpretationen betont Strauss dabei, dass es jenen nicht gelungen sei zu erwägen, „dass das Anliegen seines Sokrates ebenso sehr im Verstehen dessen, was Gerechtigkeit ist, d.h. im Verstehen der ganzen Verwickeltheit des Gerechtigkeitsproblems, wie im Lehren [preaching] der Gerechtigkeit bestand.“ 63 Strauss versteht Platon demnach nicht platonistisch als einen systematischen Philosophen, sondern als sokratischen. Dieser „platonische Liberalismus“ (Smith) stellt durch radikales Fragen alle politischen Lösungsvorschläge oder Utopien in Frage, die ein Ende der philosophischen Erörterung evozieren wollen. Strauss liest Platon als „Politischen Rhetoriker“, der über die verschriftlichten Dialoge zetetisches Philosophieren ermöglichen möchte – auch wenn er letzten Endes als Begründer der skeptischen Schule und des dogmatischen Platonismus behandelt wird. Die platonischen Dialoge sind für Strauss jedoch vielmehr protreptischer Art und stellen einen Ersatz für einen Lehrer in schriftlicher Form dar, ohne eine 59

Strauss/Kojève (2000), S. xx. Strauss (1989b), S. 67. 61 Strauss schreibt dies zunächst Farabi zu, erweitert dies jedoch auf jegliche Philosophie (Strauss (1997a), S. 463). 62 Strauss (1945), S. 393. 63 FN 24 in: Strauss (1989g), S. 155; im englischen Original S. 150. 60

A. Einleitung

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leicht erkennbare, systematisch verfasste und abrufbare Lehre zu beinhalten. Für Strauss ist der platonische Dialog daher nicht nur das Medium, sondern auch die Botschaft. „The Platonic dialogue has a function – the function is to make us understand.“ 64

Der platonische Dialog präsentiert gerade keine Lehre, sondern bereitet den Weg für ein Philosophieren im Sinne Sokrates’ vor. In diesem Sinn veranlassen sie auf eine viel subtilere Art als ein Traktat zum Selber- und Weiterdenken: Der Leser muss selbst philosophieren, um sie verstehen zu können.65 Strauss’ Politische Hermeneutik ist wiederum eine Hinführung zu der Politischen Rhetorik der platonischen Dialoge, deren textimmanente Esoterik als protreptische Hinführung zur Philosophie gelesen werden muss. Strauss’ Auseinandersetzung mit den Texten der Tradition der klassischen politischen Philosophie in seinen vielzähligen Kommentaren zeigt, was er unter Philosophieren vorstellt. „They [Aristotle, Plato and Thucydides] are no longer the beginning from which, they are now the beginning to which he goes.“ 66

Die von Strauss und seinen Schülern geschriebene Anthologie History of Political Philosophy (1963) beginnt daher mit einem Text über den Historiker Thukydides, dem Autor des Peloponnesischen Krieges. Durch diesen Anfang möchte Strauss die Geschichtsfixiertheit der Moderne mit der Geschichtslosigkeit der antiken Griechen konfrontieren, die weder Lehren noch Orientierungen oder gar eigene Kategorien liefert. Insofern steht die Geschichtsauffassung des Thukydides für Strauss radikal der modernen Auffassung von Geschichte gegenüber, die sich in den modernen Phänomenen der „Geschichtlichkeit“, des „historischen Bewusstseins“ und des „Historismus“ manifestiert. Letztere verbaut den Zugang zur Ersteren, weswegen Strauss mit seiner eigenen „Geschichte der Politischen Philosophie“ auf die Wichtigkeit verweist, ein angemessenes „historisches Verstehen“ der „Alten“ wieder zu ermöglichen, ohne die das moderne Denken nicht erklärt werden kann. Deswegen fordert er, die querelles des anciens et des modernes zu wiederholen und die Grundüberzeugungen von Philosophie und Historismus offenzulegen. Dies eröffnet einen Zugang zu Philosophen der Vergangenheit, wie sie sich selbst verstehen, ohne den sich eine Beschäftigung heutzutage sonst letztendlich nur noch als philologisch oder ideengeschichtlich rechtfertigen ließe.67 Da der Zugang zu jenen Philosophen der Vergangenheit über ihre Schriften erfolgt, ist demnach eine Frage, wie diese zu lesen seien, unerlässlich. In 64

Strauss (2001e), S. 5. Vgl. hierfür auch Allans Blooms Interpretation dieses Zusammenhanges in: Bloom (1991), S. xxi. 66 Bernadete (1978), S. 1. 67 „Classicists are and will remain philologoi when it comes to language but misologoi when it comes to an alien mode of thinking directed at their texts“ (Cantor (1991), S. 262). 65

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A. Einleitung

diesem Sinne wird die Philosophie letztendlich immer durch Hermeneutik herausgefordert und zu einer Reflexion ihrer medienwissenschaftlichen Bedingungen gezwungen. „[W]hat philosophy is seems to be inseparable from the question of how to read Plato.“ 68

Die Frage nach dem Wesen der Philosophie sowie der „philosophischen Sache“ ist untrennbar mit ihren medialen Bedingungen verknüpft, die sie als Politische Philosophie reflektieren muss. Strauss untersucht daher in seinem Gesamtwerk den schriftlichen Aspekt in den Schriften der „großen Denker“, der sokratisches Philosophieren letztendlich über das „Zwischen-den-Zeilen-Lesen“ wieder ermöglicht. Dass demnach eine medienwissenschaftliche Fragestellung zunächst Vorrang vor Fragen nach dem Naturrecht, dem gerechten Regime, dem richtigen Leben hat, macht nicht nur Platon, sondern auch Leo Strauss hinsichtlich dieses Anliegens zu einem „Medienphilosophen“.

68

Bernadete (2000), S. 407.

B. „Die dialogische Stadt“ I. Das „theologisch-politische Problem“ „Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche, was die Häretiker mit den Christen?“ Tertullian1

Im August 1962 schreibt Leo Strauss im Vorwort zu der englischen Übersetzung eines seiner ersten Werke, Die Religionskritik Spinozas (1930), dass er in der Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit Spinozas Tractatus theologicopoliticus in den Jahren 1925–28 sich selbst im theologisch-politischen Dilemma verfangen habe.2 Dass er sich nicht nur in seinen frühen Jahren, sondern während seines gesamten Lebens im theologisch-politischen Bannkreis befand, bezeugt seine nahezu lakonische autobiographische Angabe, mit der er im Vorwort von Hobbes’ Politische Wissenschaft im Oktober 1964, kurz nach seinem 65. Geburtstag, seinen Denkweg skizziert: „Das theologisch-politische Problem ist seitdem [seit seinem Studium über die Anfänge der Bibel-Kritik] das Thema meiner Untersuchungen geblieben.“ 3 Damit widerspricht er den Erwartungen seiner Freunde und Schüler, die im gleichen Jahr die Festschrift Ancients and Moderns4 herausgegeben haben, dass der „rote Faden“ in seinem Lebenswerk die Auseinandersetzung zwischen den „Alten“ und den „Modernen“ sei. Die Herausforderung des Offenbarungsglaubens und der Politik für die Philosophie, die jeweilige religiöse oder politische Alternative zur philosophischen Lebensführung, sind als das einheitsstiftende Thema seiner Untersuchungen zu betrachten.5 Sie stellt das Herzstück seiner Politischen Philosophie dar, auf dem alle anderen Themen, wie 1

Tertullian, Prozesseinreden gegen die Häretiker, 7; Übs. H. Kellner. Vgl. Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Die Religionskritik Spinozas in: Strauss (2001b), S. 5. Im Spinoza-Buch, das Strauss ursprünglich als Auftragsarbeit für die Akademie der Wissenschaften des Judentums begonnen hatte, lässt er Baruch Spinoza nur bedingt die Rolle als Begründer der Bibelwissenschaft zukommen, da sich dessen Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift mit einem rationalistischem Verständnis nähere, die dem Phänomen der Offenbarung nicht gerecht werde (vgl. das Vorwort in: ebd., S. 55; vgl. hierfür auch das Kapitel Theologische Politische Hermeneutik). 3 Vgl. Strauss (2001d), S. 7 f. 4 Die Festschrift „zu Ehren von Leo Strauss“ wurde von Joseph Cropsey unter dem Titel Ancients and Moderns: Essays on the Tradition of Political Philosophy in Honour of Leo Strauss (New York, 1964) herausgegeben. 5 Die These von der Zentralität des theologisch-politischen Problems in Strauss’ Œuvre vertritt vor allem Heinrich Meier, am explizitesten in Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss (2003). 2

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B. „Die dialogische Stadt‘‘

seine Kritik an Historismus und Positivismus und letztendlich seine Politische Hermeneutik, aufbauen. Im Namen der Philosophie und des philosophischen Selbstverständnisses kontrastiert Strauss mit größter Farbschärfe deren religiöse und politische Alternative. Eine solche Gegenüberstellung hätten bereits vor allem die mittelalterlichen arabischen und jüdischen Philosophen vorgenommen, deren Erkenntnisse durch die Philosophie der Aufklärung jedoch weitestgehend verdrängt wurden, so dass sie in der Moderne nahezu keine Rolle mehr spielen. Insofern greift Strauss die querelle des anciens et des modernes der französischen Enzyklopädisten wieder auf und prüft die Position der „Alten“ in jenen „verstaubten Büchern“ vor allem hinsichtlich der Frage, ob die „Modernen“ in der querelle tatsächlich argumentativ gewonnen oder sich lediglich durchgesetzt haben. In seiner Kritik am modernen Denken, das für ihn mit Descartes’ Meditationes (1641) einsetzte und in Hobbes’ Leviathan (1651) politisch weitergedacht wurde,6 diskutiert Strauss das Verhältnis von Offenbarungsreligion und Philosophie, das durch den Gesetzesbezug letztendlich auch das Verhältnis von Philosophie und Politik umfasst. Da sich die Religion nicht nur in ihrer Forderung von Gehorsam, sondern auch hinsichtlich ihres erkenntnistheoretischen Anspruchs an alle richte, Philosophie jedoch nur an wenige, entwickelt Strauss über die mittelalterlichen Rationalisten die verstärkte Notwendigkeit des Adressatenbezugs durch die Unterscheidung von exoterischer und esoterischer Ebene. Das „theologisch-politische Problem“ ist sofern mit Heinrich Meiers Worten „das Thema, in dem die anderen Themen sich treffen, durch das sie gebündelt werden und in dessen Licht sie ihren besonderen Ort erhalten“.7 1. „Die Krise des Westens“ „Western civilization has two roots: the Bible and Greek philosophy.“ Strauss8 „[O]ne may say of [political science] that it fiddles while Rome burns. It is excused by two facts: it does not know that it fiddles, and it does not know that Rome burns.“ Strauss9

In seinem frühen Werk Philosophie und Gesetz (1935) entwickelt Strauss eine Moderne-Kritik im Rahmen einer Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Phi6 Insofern erachtet Strauss das moderne philosophische Denken in Philosophie und Gesetz durch Descartes und Hobbes begründet (Strauss (1935), S. 10) und bestimmt in Hobbes’ politische Wissenschaft sowie in seinen Anmerkungen zu Carl Schmitt ,Der Begriff des Politischen‘ Hobbes als Begründer der liberalen, modernen politischen „Wissenschaft“, während er diese Rolle in seiner Auseinandersetzung mit Machiavelli eben diesem zuschreibt (vgl. dazu Strauss (1989u), S. 84 ff.). 7 Meier (2003a), S. 16. 8 Strauss (1989p), S. 239. 9 Strauss (1995a), S. 223.

I. Das „theologisch-politische Problem‘‘

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losophen. Sein Beweggrund ist dabei, die von ihm diagnostizierte „Krise des Westens“ zu überwinden, die für ihn darin begründet liegt, dass die querelle des anciens et des modernes zugunsten der „Modernen“ ausgegangen sei und dadurch die Vorstellungen der „Alten“ dahingehend verdrängt worden seien, dass die dadurch ausgelöste Krise zu einer „crisis of our times“ geworden sei. Indem er sich auf die querelle bezieht, die im Kern nach dem verbleibenden Vorbildcharakter der Antike fragt, bekommt die „Antike“ einen normativen Charakter. Mit „Moderne“ bezeichnet er demnach keinen Epochenbegriff, sondern sie dient ihm mit ihrem historistischen und positivistischen Wissenschaftsverständnis, ihrem Fortschrittsglauben sowie ihrem individualistischen Menschenbild als Kontrastmittel zum vormodernen Philosophieverständnis und dessen Bildungs-, Wissenschafts- und Gesellschaftsidealen. Da diese durch den „Bruch mit dem vormodernen Denken“ 10 verloren gegangen sei und sich seit Hobbes’ Leviathan ein auf das individuelle Eigenwohl angelegtes politisches Denken durchgesetzt habe, das lediglich das sichere und bequeme Leben anstrebe, sei es zur „crisis of liberal democracy“ gekommen, da der Westen seine eigene Bestimmung nicht mehr kenne. Demnach mangele es vor allem in den politischen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts an ernstzunehmenden Bewertungskriterien für das gute Leben oder die gute Ordnung, die der totalen Machtpolitik eine Alternative hätten liefern können.11 Die Krise drücke sich darin aus, dass der moderne Mensch nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden könne, geschweige denn wisse, was die beste Ordnung des Gemeinwesens oder das richtige Leben sei.12 In dem Aufsatz The three waves of Modernity erkennt Strauss daher Nietzsche als den „Vollender der Aufklärung“, der ihre letzten Konsequenzen zu Ende gedacht habe und alle christlichen und konventionellen Moralvorstellungen verwerfe.13 Strauss’ Moderne-Kritik ist dabei nicht nur Aufklärungskritik am politischen Fortschrittsglauben, am Volksbildungsideal und an ihren erkenntnistheoretischen Ansprüchen, sondern zudem eine Abrechnung mit dem wissenschaftlichen Historismus und Positivismus sowie jeglicher „Kulturphilosophie“.14 Die „Krise der Moderne“ wird dabei für Strauss wesentlich zu einer „Krise der Politischen Philosophie“ 15 und, auch wenn er in keinster Weise zu einer arendt’schen vita activa

10

Strauss (1989u), S. 83. Strauss (1997h), S. 3. „Man musste feststellen, dass die ,zweck- und wertfreie‘ Natur der modernen Naturwissenschaft dem Menschen nichts über ,Zwecke und Werte‘ sagen kann“ (Strauss (1935), S. 20). 12 Strauss (1989u), S. 81. 13 Vgl. ebd., S. 93 ff. Nietzsche als „unerbittlichen Vollender der Aufklärung“ erachten auch Adorno und Horkheimer in: Horkheimer/Adorno (2009), S. 6. 14 Zu den Grundzügen von Strauss’ Moderne- und Aufklärungskritik vgl. Bluhm (2002), S. 82. 15 Strauss (1989u), S. 82. 11

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B. „Die dialogische Stadt‘‘

aufruft,16 hinsichtlich des Verfalls der römisch-griechisch geprägten Demokratievorstellungen, eine „Krise der liberalen Demokratie“. In dieser Krisenproblematik liegt für Strauss die Notwendigkeit eines Neustarts der Philosophie begründet, für die er an eben jenem Umbruch im 17. Jahrhundert genau hinsieht, an dem sich das moderne Denken gegen das „alte“ durchsetzte und sich dementsprechend intensiv mit jenen vormodernen philosophischen Denkern auseinandersetzt, die sich gegen die moderne Denkströmung wenden und die philosophische und theologische Wurzeln der westlichen Zivilisation, die Strauss mit den tertullianischen Chiffren „Athen“ und Jerusalem“ versieht, als unwiderlegbare Alternativen erachten. Strauss setzt seine Untersuchung zum theologisch-philosophischen Spannungsfeld in Philosophie und Gesetz bei den „verstaubten Büchern“ 17 der Rationalisten im Mittelalter an. Vor allem über den jüdischen Philosophen Maimonides18 konfrontiert er den modernen Rationalismus mit dem mittelalterlichen, um dem scheinbar „aufgeklärteren“ Rationalismus vorzuführen, dass dieser die ursprüngliche Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Offenbarungsreligion letztendlich lediglich geschickt umgangen habe. In der Verdrängung der grundlegenden gegenseitigen Infragestellung von Religion und Philosophie liegt für Strauss die „Krise unserer Zeit“ begründet, in der das Paradigma der Aufklärung selbstverständlich geworden ist: „Die Aufklärung scheint längst ,überwunden‘, ihrem berechtigten, nunmehr ,trivial‘ gewordenem Anliegen scheint Rechnung getragen, ihre ,Seichtheit‘ hingegen der verdienten Verachtung verfallen zu sein. [. . .] Alle Auseinandersetzungen vollziehen 16 Zu einer Auseinandersetzung zwischen Strauss’ und Hannah Arendts ModerneKritik vgl. die Analyse der Lectures der Walgreen Foundation in: Bluhm (2002), S. 245 ff. 17 Strauss (1935), S. 18. 18 In einem Brief an Jakob Klein vom 16. Februar 1938 erwähnt Strauss, dass, wenn er die „Maimonides-Bombe“ (Klingenstein (2011), S. 4) zünde, ein Kampf über seine „häretische“ Ansicht beginne, in der er Maimonides als „Averroisten“, d.h. nicht als jüdischen Denker, sondern als einen doppelbödig schreibenden Philosophen erachtet (vgl. Strauss (2001d), S. 549). Strauss arbeitete seit 1937 an dem Buch über den Moreh nevuchem, über die Geheimlehre des Moreh und den Sinn der Esoterik, und glaubte, mit seiner Maimonides-Interpretation The Literary Character of the Guide for the Perplexed (1941) den Beweis für die Unvereinbarkeit von Judentum und Philosophie erbringen zu können. Die Mishne Torah interessierte Strauss nicht, da sie eine unphilosophische Kodifizierung des jüdischen Gesetzes (Halacha) sei. Maimonides doppelbödiges Schreiben war für Strauss der Schlüssel zu einem Platon-Verständnis jenseits der etablierten platonischen Philosophie. Warum Strauss einen Kampf befürchten muss, zeigt der Brief von „Gerhard“ Scholem an Walter Benjamin vom 29. März 1935 über Philosophie und Gesetz: „In diesen Tagen erscheint bei Schocken zum Maimonidesjubiläum ein Buch von Leo Strauß [. . .], das – ein bewundernswerter Mut für ein Buch [. . .] – mit einem ausführlich (wenn auch völlig irrsinnig) begründeten verstellten Bekenntnis als der wichtigsten jüdischen Losung beginnt. [. . .] Ich bewundere diese Moral und bedaure den offenbar bewusst und gewollt provozierenden Selbstmord eines so guten Kopfes“ (Scholem (1985), S. 192).

I. Das „theologisch-politische Problem‘‘

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sich nunmehr auf einer Ebene, auf der die großen Streitfragen, die zwischen Aufklärung und Orthodoxie verhandelt worden sind, nicht einmal mehr gestellt werden brauchen, am Ende sogar als ,falsch gestellt‘ abgewiesen werden müssen.“ 19

In seiner Kritik an der Aufklärung unterscheidet Strauss zwischen der radikal religionskritischen und der gemäßigten Aufklärung. Obwohl er keine Autoren nennt, bezieht er sich mit der radikalen Aufklärung auf die materialistischen und daher atheistischen Denker des 17. und 18. Jahrhunderts, denen es nicht gelungen sei, angemessen mit der Unwiderlegbarkeit der letzten Voraussetzungen der Offenbarungsreligion umzugehen. Die religiösen Fundamente, die Wirklichkeit von Schöpfung, Wunder und Offenbarung, können rational nicht verstanden werden, sondern sollen geglaubt werden – es fehlt ihnen demnach „die eigentümliche Verbindlichkeit des Gewussten“ 20. Nach Strauss kann somit von einer Widerlegung der Offenbarungsreligion nicht die Rede sein, da „alle diese Behauptungen auf der unwiderleglichen Voraussetzung [beruhen], dass Gott allmächtig, dass sein Wille unergründlich ist. Ist Gott allmächtig, so sind auch Wunder und Offenbarung der Bibel möglich.“ 21 Die Aufklärung erzielte lediglich eine methodische Spaltung zwischen Glauben und Wissen: Die rationale, aufklärerische Methode konnte zwar erfolgreich mit ihren eigenen naturwissenschaftlichen Mitteln die Unerkennbarkeit, jedoch nicht die Unwirklichkeit von Wundern nachweisen und blieb somit in einem methodischen Zirkelschluss befangen.22 Da es keine Möglichkeit gibt, den Offenbarungsglauben mit rationalen Argumenten zu widerlegen oder eine seiner Grundannahmen, das Wunder, mit naturwissenschaftlichen Methoden zu beweisen, konnte sich die Aufklärung letztendlich allein defensiv des Spottes bedienen, um die Religion aus ihrer starken Position „herauszulachen“.23 Aufgrund der prinzipiellen Unwiderlegbarkeit24 kann Strauss behaupten, dass der Konflikt zwischen Religion und Philosophie der Aufklärung nicht überwunden 19 Strauss (1935), S. 10. Strauss zeigt bereits in seiner Untersuchung Die Religionskritik Spinozas, dass die Aufklärung den Offenbarungsglauben mit ihrer eigenen Methode nicht habe widerlegen können (vgl. Strauss (2001a)). 20 Strauss (1935), S. 20. 21 Ebd., S. 18. 22 Ebd., S. 18, 23 ff. 23 Ebd., S. 19. 24 Während Strauss in Philosophie und Gesetz die Unmöglichkeit der Widerlegung des Offenbarungsglaubens durch die Philosophie stark macht, fragt Strauss nach der verbleibenden Möglichkeit der Philosophie im Hinblick auf den Umgang mit Religion. Heinrich Meier sieht darin die Erklärung des Offenbarungsglaubens und verweist in Fußnote 3 auf die ursprüngliche Zwischenüberschrift der Skizze zu dem Aufsatz Reason and Revelation Philosophy cannot refute revelation –?, in der refute durch explain ersetzt wurde (vgl. Meier (2003b), S. 53, 57 ff.). Wenn die Unmöglichkeit der Widerlegung der Orthodoxie von Anfang an das Argument für das Scheitern der Aufklärung in Philosophie und Gesetz sowie in der Religionskritik Spinozas gewesen sei, bemühe sich Strauss nun in dieser Skizze, philosophisch zu erklären, warum das radikale historische Ereignis der Offenbarung notwendig sei und die Allumfasstheit des Offenbarungsglaubens legitimiere.

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B. „Die dialogische Stadt‘‘

ist und wieder aufgenommen werden muss, da diese Spannung letztendlich „das Geheimnis [der] Vitalität“ 25 der westlichen Tradition ausmacht. Für Strauss liegt das Problem der westlichen Moderne darin begründet, dass das Spannungsfeld Religion und Philosophie einseitig durch die Philosophie der Aufklärung aufgekündigt wurde und diese sich paradigmatisch durchsetzte. Dieser Sieg über die Religion erfolgte jedoch nicht durch eine direkte Konfrontation, sondern mittels der „Napoleonischen Strategie“ der Umgehung oder „Untergrabung“ 26. Allerdings schaufelte sich die Philosophie der Aufklärung ihr eigenes Grab, indem sie transzendentes Wissen als unevident ablehnte und nur noch empirisch szientifiziertes Wissen als wahres Wissen deklarierte.27 Zudem teilte sie sich, beflügelt von ihrem Sieg, mit zunehmendem Wissenserwerb in unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen auf, in denen Philosophie in ihrem ursprünglichen und ganzheitlichen Sinne immer mehr verdrängt wurde.28 „Die Absicht der Aufklärung war die Rehabilitierung des Natürlichen durch die Leugnung (oder Einschränkung) des Übernatürlichen; aber ihre Leistung war die Entdeckung eines neuen ,natürlichen‘ Fundaments, das alles weniger als natürlich, vielmehr gleichsam das Residuum des ,Übernatürlichen‘ ist.“ 29

Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Satz Strauss’ Betonung des Wortes „natürlich“ in seiner Doppeldeutigkeit. Er hebt dadurch hervor, dass der Natur-Begriff der Aufklärung sich von dem entfernt hat, was mit „Natur“ als physis gemeint ist. Das antike Verständnis von physis meint ein Fragen und Forschen nach dem Wesen der Dinge30, „[which is] the character a thing has when its growth is completed, when it can do what only the fully grown thing of the kind in question can do or do well. Things like shoes or chairs do not ,grow‘ but are ,made‘: they are not ,by nature‘ but ,by art‘.“ 31 In diesem klassischen Sinn beinhaltet physis immer eine Unterscheidung: einzelne Dinge als Klassen, die wiederum im antiken Verständnis Teile des großen Ganzen (kosmos) sind. Strauss verbindet in seinen Betrachtungen die Natur des Menschen als qualitative Norm zugleich als Maßstab sowohl für das richtige Leben als auch für die ge-

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Strauss (1989p), S. 270. „Die Aufklärung hat das Fundament der jüdischen Tradition untergraben“ (Strauss (1935), S. 11). Meines Erachtens bezieht sich Strauss’ Metapher der „Napoleonischen Strategie“ (vgl. ebd., S. 21) darauf, einen Sieg in einer Schlacht als Gesamtsieg auszulegen. 27 Vgl. Strauss (1989u), S. 81 ff.; vgl. auch Strauss’ Weberkritik in: Strauss (1989g), S. 37 ff. 28 „The sciences, both natural and political, are frankly non-philosophic“ (Strauss (1989x), S. 18). 29 Strauss (1935), S. 13. 30 Strauss (2004b), S. 227. 31 Strauss (1989d), S. 161; vgl. Strauss (1995e), S. 3. Gerade für den später erläuterten Gegensatz zwischen physis und nomos vgl. Strauss (1997h), S. 14. 26

I. Das „theologisch-politische Problem‘‘

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rechte Ordnung der Gesellschaft.32 Kurz gesagt, „Natur“ ist für Strauss sowohl eine Wesensunterscheidung als auch eine normative Idee, auf die sich die Ordnung des Ganzen richtet. Der „Bruch“ mit dem antiken Natur-Verständnis erfolgte durch das Ziel der Aufklärung, nach der Leugnung des Übernatürlichen das „Natürliche“ rehabilitieren zu wollen. In der Ablehnung der christlichen Denkweise trennte sie sich dabei von christlich-antiken naturphilosophischen Vorstellungen und setzte gänzlich auf empirisch erkennbare positivistische Naturwissenschaft. Doch da die Aufklärung in ihrer rationalen Widerlegung des Offenbarungsglaubens scheiterte, musste sie nicht nur eine neue Methode zur Generierung von „sicherem“, d.h. clare et distincte erkennbarem Wissen entwickeln, sondern war dazu gezwungen, ein eigenes System zur Erklärung und Bewältigung der Welt aufzubauen, um die Offenbarungsreligion auch in ihrer Funktion zu entwaffnen. Sie wandte sich von der theoretischen Auseinandersetzung ab und versuchte, die Religion praktisch durch aufgeklärte Naturbeherrschung33 zu überwinden und damit zu widerlegen. Durch dieses aufklärerische Ziel ist die „Natur“ von nun an negativ konnotiert.34 „Der Mensch musste sich theoretisch und praktisch als der Herr seines Lebens erweisen, die von ihm geschaffene Welt musste die ihm bloß ,gegebene‘ Welt zum Verschwinden bringen, dann war die Orthodoxie mehr als widerlegt – sie war ,überlebt‘.“ 35

Der praktische Plan bestand darin, zu zeigen, dass die Welt ohne einen Gott und offenbarte Gesetze verstanden und geordnet werden kann. Dafür wurde kein übernatürliches, sondern ein natürliches Erklärungsmodell herangezogen, in dem es die „Natur“ nunmehr jedoch nicht allein zu erklären, sondern auch zu beherrschen galt. Gegen den christlichen Beweggrund, ein Leben in Gehorsamkeit, Demut und Glauben zu führen, um auf gnädige Erlösung von der menschlich bösen Natur zu hoffen, setzte die Aufklärung auf Kultivierung und Zivilisierung, kurz gesagt, auf fortschreitende Optimierung der menschlichen Lebensbedingungen. Mit dieser Akzentuierung will Strauss zeigen, dass Offenbarungsreligion und Aufklärung zwar in ihren epistemologischen Grundbedingungen unvereinbar sind, ihr politisches Ziel jedoch das gleiche ist: die Errichtung und Bewahrung einer Ordnung, die das Zusammenleben zwischen den Menschen regelt. Da die 32 Vgl. Strauss (1989g), S. 131; vgl. auch Bluhms ausführliche Analyse des Ordnungsproblems, der „Ordnung der Ordnung“ als Leitthema in Strauss’ Œuvre in: Bluhm (2002). 33 Die Unterwerfung der Natur ist nicht allein unter einem erkenntnistheoretischen Aspekt zu sehen, sondern vor allem, wie Hobbes’ Leviathan zeigt, unter einem politischen. 34 Zur Gegenüberstellung von Natur und Kultur vgl. vor allem Rickert, Heinrich: Natur und Kulturwissenschaft, (1899), in der Kultur letztendlich das Handeln nach Werten bezeichnet, während Natur lediglich das faktisch Gegebene bezeichnet. 35 Strauss (1935), S. 21.

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negativ konnotierte „Natur“ nach aufklärerischen Ansprüchen nur noch „ent-wertet“ und objektiv sicher erkannt werden kann, verliert sie dadurch ihren normativen Maßstab und legt den Weg frei für Nietzsches Nihilismus.36 Anders als die radikale Aufklärung, aber für Strauss nicht weniger bahnbrechend für die „Krise des Westens“ ist das Vorgehen der gemäßigten Aufklärung. Sie basiert nicht auf einer Vermeidung der theoretischen Konfrontation mit dem Offenbarungsglauben, sondern auf einer Synthese der eigentlich unvereinbaren, fundamentalen Gegensätze. Gemäßigte Aufklärer wie Christian Wolff oder für Strauss vor allem Moses Mendelsohn37 versuchten, den Glauben an Offenbarung und die Selbstgenügsamkeit der Vernunft in einer Art theologia naturalis zu synthetisieren, in der sich Glaube und Vernunft gegenseitig ergänzen. Statt der von Strauss akzentuierten Antithetik, die allein in der Betonung der Unvereinbarkeit das Themengebiet angemessen behandeln kann, bemühten sich die gemäßigten Aufklärer um die Synthese – oder, wie gegenwärtige Aufklärer, um Konsens durch fortschreitende Lernprozesse mit Hilfe gegenseitiger Übersetzungen.38 Der Streit zwischen Aufklärung und Offenbarungsglauben kann aber, so Strauss, nicht gelöst werden, da beide von gänzlich unterschiedlichen Ansprüchen und Voraussetzungen ausgehen. Um zu einem ausgleichenden Kompromiss zu gelangen und, vor allem nach den Konfessionskriegen des 17. Jahrhunderts, eine politische Ordnung generieren zu können, wurde der religiöse Anspruch auf absolute Wahrheit „verinnerlicht“ in die Privatsphäre verbannt. Die Verinnerlichung religiöser Wahrheiten ist für Strauss jedoch eine „völlig unverträgliche Position“, da sie auf verheerende Weise der Religion ihren Sinn nimmt.39 Jede Synthese zwischen aufgeklärtem Vernunftanspruch und Offen36 Die Indifferenz, wenn nicht gar der Ausfall gegenüber jeglichen moralischen Instanzen durch eine wertfreie Wissenschaft macht Strauss letztendlich für die Machtübernahme Hitlers verantwortlich: „The biggest event of 1933 would [. . .] seem to have proved, if such prove was necessary, that man cannot abandon the question of the good society“ (Strauss (1989x), S. 27). Darüber hinaus äußert Strauss, dass eine wertneutrale Politikwissenschaft die Produktion, wenn nicht gar die Benutzung der Atombombe letztendlich bewerten muss (vgl. Strauss (2001e), S. 2). 37 Strauss erachtet die Arbeit Moses Mendelsohns als ausschlaggebenden Umbruch „am Boden der modernen Aufklärung“. Jenem sei es zwar gelungen, den „Gehalt der Bibel“ besser als seine mittelalterlichen Vorgänger zu bewahren, jedoch habe er dabei den Anspruch des Offenbarungscharakters aufgegeben. Strauss kritisiert an Mendelsohn, dass er offenbarte Wahrheiten als unvernünftig darstellt und sie auf einen sehr eingeschränkten Sinn reduziert, so dass „ihm für die Wahrheit der geschichtlichen Offenbarung kein Platz übrig“ bleibt (Strauss (1935), S. 33). 38 Wie Habermas, als Fürsprecher der „unvollendeten“ gemäßigten Aufklärung, in Religion in der Öffentlichkeit vorschlägt (vgl. Habermas (2005)). 39 Strauss (1935), S. 11, 13. „Alle ,Verinnerlichungen‘ der Grundbehauptungen der Tradition haben aber ihren Grund darin, dass von der ,reflektierten‘ Voraussetzung, von der ,höheren‘ Ebene der nachaufklärerischen Synthese aus das Verhältnis Gottes zur Natur nicht mehr verstanden werden kann und daher nicht einmal mehr interessiert“ (ebd., S. 12).

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barungsglauben, die auf eine verinnerlichte und äußerliche Seite baut, ist für Strauss unhaltbar. Daher ist es sein Anliegen, der Aufklärung – und zwar sowohl der radikalen als auch der gemäßigten – den Spiegel vorzuhalten, um ihre Selbsttäuschung zu entlarven. Deswegen lässt er sich erneut auf den klassischen Streit zwischen Aufklärung und Offenbarungsreligion ein, in dem „um die eine, ewige Wahrheit gekämpft worden ist und gekämpft werden konnte, weil das natürliche Verlangen nach Wahrheit noch nicht durch das neuere Dogma, dass ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ eine jede die ihr zugeordnete ,Wahrheit‘ meinen, erörtert worden war“.40 Darüber hinaus entlarvt Strauss gegenwärtige Formen der Orthodoxie im „öffentlichen Dogma“ der political correctness41, die er vor allem in der Annahme „Pluralismus ist Monismus“ 42 sieht. Da der Streit zwischen Aufklärung, Offenbarungsglauben und politischer Orthodoxie mitnichten durch die scheinbaren Siegeszüge der gemäßigten und radikalen Aufklärung überwunden wurde,43 muss der „mögliche Streit zwischen Aufklärung und Orthodoxie ,wiederholt‘ [werden], oder vielmehr, wie man erkennt, wenn man nur die Augen nicht vorsätzlich verschließt, der längst schon, immer noch währende Streit zwischen Aufklärung und Orthodoxie muss wieder verstanden werden.“ 44 Strauss plädiert bezüglich seiner Vorgehensweise vor allem dafür, dass man beide Parteien betrachten muss und das Spannungsfeld von Orthodoxie und Aufklärung, d.h. von Religion und Philosophie, nicht allein aus Perspektive und mit der Methode der zwar durchsetzungsstarken, aber keineswegs überlegenen Aufklärung untersuchen darf.45 Vielmehr müssen die nunmehr verborgenen Voraussetzungen und Strategien beider Seiten freigelegt werden, vor allem die der radikalen Aufklärung, die das Spannungsfeld lediglich „umgangen“ hat, statt auf eine direkte Konfrontation einzugehen. Durch die konfliktvermeidende Vorgehensweise sei jegliches Verständnis für die Möglichkeit, Offenbarungsreligion als fundamental andere, aber dennoch gleichberechtigte Alternative zu verstehen, verloren gegangen, denn Letztere habe keinen Anteil mehr an der aufgeklärten Kultur.46 Es habe bislang keine grundsätzliche Revision des Streits zwischen Aufklärung und Orthodoxie gegeben, da diese durch die Annahme, Religion sei die niederste Stufe eines Entwicklungsprozesses,47 für längst überwunden gehalten wurde. Als 40

Strauss (1935), S. 15. Zum Ersatz religiöser Richtigkeit durch political correctness vgl. Bolz (2009), S. 30. 42 Strauss (2004a), S. 111. 43 Strauss (1935), S. 17. 44 Ebd., S. 15. 45 Ebd., S. 18; vgl. auch Strauss (2004a), S. 114. 46 Strauss (1935), S. 20. 47 So bestimmt Auguste Comte im Discours sur l’esprit positif (1844) drei universalgesetzliche, teleologisch ausgerichtete Phasen (la loi des trois états) im Denken mit Fol41

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Konsequenz wendet sich Strauss der Zeit vor dem „,mechanistischen Umbruch‘ der Metaphysik in der Neuzeit“ 48 zu – dem mittelalterlichen Rationalismus, in dem Religion und Philosophie weder methodisch voneinander gesondert noch synthetisiert, sondern inhaltlich miteinander ausgeglichen wurden.49 Strauss methodische Vorgehensweise ist zunächst eine Stärkung der durch die Aufklärung übergangenen und seitdem vernachlässigten Position des Offenbarungsglaubens. Das führt so weit, dass Strauss auch den Anspruch von Wundern und Prophetie ernst nimmt und nehmen muss, um nicht der Selbsttäuschung der Aufklärung zu verfallen – ohne dabei jedoch theologische Prämissen anzunehmen.50 Im Gegensatz zu rein funktionalistischen Betrachtungen der Religionssoziologie51 untersucht Strauss die Substanz der Religion, den Glauben an Wunder und die Möglichkeit der göttlichen Offenbarung. Er nimmt die Religion radikal ernst, um mit ihr als herausfordernder Alternative die philosophische Notwendigkeit zu begründen.52 Obwohl Strauss die Seite des Offenbarungsglaubens stark macht, darf er dabei jedoch nicht als Befürworter einer religiösen Lebensweise missverstanden werden, da es ihm vornehmlich um eine Wiederaufnahme des grundsätzlichen Streites und um die Selbstbestimmung der Philosophie auf Augenhöhe mit ihrer religiösen oder politischen Alternative geht. Ein der modernen Wissenschaft angemessenes Verständnis des Offenbarungsglaubens durch eine rein formale und funktionale Betrachtung müsse den Preis gen für den fortschreitenden Geschichtsverlauf: die „kindliche“ Religion, die „jungenhafte“ Metaphysik und die „männliche“ positive Wissenschaft. 48 Strauss (1935), S. 33. 49 Vgl. ebd., S. 32. 50 Vielmehr sucht Strauss in seiner Interpretation der Schöpfungsgeschichte On the Interpretation of Genesis als auch in Jerusalem and Athens nach verständlichen Annahmen, die er als herausfordernde Polemik von Seiten des Offenbarungsglaubens versteht (vgl. Strauss (2004a), S. 114; Strauss (1997e), S. 361). Seine Interpretation des ersten Buches Genesis begründet er aus philosophischer Perspektive folgendermaßen: „For the Bible does not require us to believe in the miraculous character of events that the Bible does not present as miraculous.“ Dementsprechend kann Strauss trotz seines Selbstverständnisses als Philosoph die Heilige Schrift analysieren und bezieht gleich im ersten Satz Position: „I am not a biblical scholar; I am a political scientist specializing in political theory“ (ebd., S. 359; vgl. dazu das Kapitel über Strauss’ Interpretation des ersten Buches Genesis). 51 Ihrem Selbstverständnis als empirische Wissenschaft entsprechend muss sich die Religionssoziologie von religiösen Geltungsansprüchen distanzieren und kann das Phänomen Religion in der Gesellschaft deshalb nur rein funktionalistisch untersuchen. So betrachtet Luhmann das System Religion in seiner Funktion der Kontingenzbewältigung, unaussprechbares Transzendentes durch immanente „Chiffren“ aussprechbar und dadurch kommunikativ anschlussfähig zu machen (vgl. Luhmann (1997)). Zu den sozialen Funktionen der Religion zählt Franz-Xaver Kaufmann Angstbewältigung, Handlungsführung im Außeralltäglichen, Legitimation von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration, Kosmisierung der Welt sowie Protesthaltung als Funktionen der Religion (vgl. Kaufmann (1989), S. 83 ff.). 52 Vgl. Meier (2003a), S. 40.

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des Glaubens an die Autorität der Offenbarung zahlen.53 In dieser Hinsicht kritisiert Strauss Julius Guttmanns Die Philosophie des Judentums, da sich dieser dem Religiösen rein wissenschaftlich zuwende und daher dem Anspruch und dem Selbstverständnis des Judentums nicht gerecht werden könne.54 Seine formale analytische Betrachtung stehe dem substanziellen Glaubenskern gegenüber, die die Möglichkeit von Vornherein ausschließt, dass es sich bei der Bibel um ein unverfälschtes Dokument der Offenbarung handeln könnte. Indem Strauss den alten Streit zwischen Offenbarungsreligion und Philosophie der Aufklärung wieder aufgreift und dabei die Seite der Religion als gleichberechtigte Alternative stark macht, verneint er die Möglichkeit eines gegenseitigen Verständnisses. Demnach erachtet er das Spannungsfeld der beiden fundamental unterschiedlichen Strömungen als die Wurzel der westlichen Tradition, deren einseitige Aufkündigung durch die Aufklärung zur „Krise des Westens“ geführt hat. Alle Versuche, die Offenbarungsreligion widerlegen zu wollen, setzen einen Unglauben an deren Grundannahmen voraus. Umgekehrt bedeutet eine Widerlegung der Philosophie von Seiten der Religion mittels philosophischer Skepsis Ungehorsam gegenüber den offenbarten Forderungen: „There seems to be no ground common to both, and therefore superior to both.“ 55 2. „Athen“ und „Jerusalem“ „Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannt, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben. [. . .] Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind [. . .].“ Paulus, 1. Kor. 1,21–25 „Jede Philosophie, die in dem, was sie ist, sich selbst versteht, muss als das faktische Wie der Lebensauslegung gerade dann, wenn sie dabei noch eine ,Ahnung‘ von Gott hat, wissen, dass das von ihr vollzogene sich zu sich selbst Zurückreißen des Lebens, religiös gesprochen, eine Handaufhebung gegen Gott ist. Damit allein aber steht sie ehrlich, d.h. gemäß der ihr als solcher verfügbaren Möglichkeit vor Gott [. . .].“ Martin Heidegger56

Der Apostel Paulus hat das Verhältnis des christlichen Glaubens zur griechischen Philosophie durch seine berühmte Gegenüberstellung von pistis und sophia 53

Vgl. Strauss (1935), S. 34. Ebd. Zudem kritisiert Strauss vor allem auch Guttmanns überhebliche Ansicht, ein „angemesseneres philosophisches Verständnis des Gehalts der jüdischen Tradition als das viel lebenskräftigere mittelalterliche Judentum“ (ebd., S. 35) zu haben. 55 Strauss (2004b), S. 232; vgl. auch Strauss (2004a), S. 111. 56 Heidegger (1989), S. 246. 54

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anthropon im 1. Korintherbrief 2,5 maßgeblich bestimmt: Der christliche Glaube soll sich gerade nicht auf Menschenweisheit, sondern, credo quia absurdum, auf Gottes Kraft stützen. Das Motiv des irrationalen Glaubens und die daraus resultierende Unvereinbarkeit von Philosophie und Offenbarungsglauben wurden vor allem in Tertullians De praescriptione haereticorum durch das Gegensatzpaar „Athen“ und „Jerusalem“ zugespitzt.57 Diese radikale Gegenüberstellung wurde jedoch durch die julianische Synthese von Philosophie und Christentum verdrängt und in seiner Schärfe – tertium non datur58 – erst durch den modernen Existentialismus, vor allem von Leo Schestov59, wieder aufgegriffen und auch von Leo Strauss stark gemacht.60 Grundlegend für Strauss’ Verständnis von „Athen“ ist das sokratische Philosophieren als „zetetische“ 61 Suche nach Wissen. Dabei greift er allerdings auf ein anderes erkenntnistheoretisches Begriffspaar zurück, nämlich die antike Unterscheidung von doxa und episteme, die noch keine Verschärfung durch die Offenbarungsreligion erfahren hat.62 Episteme kann dabei Gewissheit beanspruchen, da über gewusste Sachen Rechenschaft abgelegt wird (logon didonai), indem sie mit den jeweiligen Gründen 57 Tertullian, De praescriptione haereticorum, Kap. 7. Tertullian hebt in diesem Abschnitt hervor, dass die philosophischen Methoden des Forschens nach Wahrheit nichts mit den autoritativen Lehren der Schrift zu tun haben. Der Herr solle in der „Einfachheit des Herzens“ gesucht werden, weswegen sich Tertullian gegen ein zusammengesetztes Christentum aus stoischer, platonischer und dialektischer Komposition richtet. Mit diesen Chiffren geht ein sehr reduziertes Verständnis von griechischer Philosophie als strikt rationaler Lebensführung sowie vom Judentum als den strengen, legalistischen Ordnungsvorstellungen des Talmuds und den Gerechtigkeitsvorstellungen der Propheten einher. Die Vielfalt an ethischen Motiven und philosophischen Positionen verkürzt Strauss demnach sehr formelhaft, verschärft sie dadurch jedoch umso mehr. 58 Vgl. Brief von Strauss an Voegelin vom 25. Februar 1951 in: Strauss/Voegelin (2004), S. 78. 59 Vgl. dafür Schestov (1994). 60 Strauss dreht die Reihenfolge jedoch um und setzt in seinem Aufsatz Jerusalem and Athens Jerusalem an erste Stelle. Es wurde viel Kritik an Strauss’ Zuspitzung des Konflikts zwischen Glaube und Vernunft geäußert. Ein vielgenannter Punkt ist dabei, dass dieser höchst artifiziell und konstruiert erscheine. Demnach sei der Konflikt, auf den Strauss besteht und seine gesamte weitere Theorie baut, durch seine trugschlüssige Vorstellung der beiden Antagonisten verursacht. So argumentieren Neuthomisten gegen Strauss, dass Vernunft und Glaube nicht unbedingt exklusiv sein müssten (vgl. Wilhelmsen (1978), S. 218; Sokolowski (1982), S. 157 ff.). Vielmehr entspringe der Glaube der Vernunft: Man müsse vernünftige Gründe haben, um zu glauben, weswegen Vernunft und Glauben nicht als zwei Antagonisten betrachtet werden dürften, die sich feindlich gegenüberstünden, sondern als Zugangsformen zu verschiedenen Wissensbereichen, die sich gegenseitig ergänzen. 61 zeteo: gr. suchen, erforschen, verlangen, streben. 62 Platon, Menon, 96d; Politeia, 475e, 510a ff., 533d. Während doxa wahr oder falsch sein kann – es gibt zufällige (tyche) „wahre doxa“ ohne Einsicht und demnach ohne Gewissheit –, ist episteme immer wahr (Theaiteos, 187b; Gorgias, 463b).

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und Ursachen verknüpft wird.63 Sokrates hinterfragt Definitionen von angeblichem Wissen und stellt dabei nicht nur dieses, sondern auch die Lebensführung des Dialogpartners in Frage. Dabei erachten Platon und Aristoteles64 doxa und endoxon als die öffentlich anerkannte Meinung, die allen oder den meisten als wahr scheint. Auch wenn Platon episteme der doxa gegenübergestellt, erkennt er doxa als Ausgangslage für epistemisches Wissen.65 Leo Strauss kontrastiert hingegen „human knowledge“ 66 sowohl mit doxa, aber auch, wohlgemerkt in seinen Betrachtungen des Mittelalters, mit dem offenbarungsreligiösen Begriff pistis. Während Strauss den Weg der Philosophie als Aufstieg aus der doxa der öffentlichen Meinungen beschreibt und demnach, wie bei Platon, die politische doxa die Ausgangslage jedem philosophischen Erkennen (noein) darstellt,67 ist diese von pistis zu unterscheiden, die Strauss in existenzieller Weise von philosophischem Wissen und philosophischer Lebensführung abgrenzt. Während pistis in der griechischen Philosophie noch wie doxa Vertrauen in das Wissen der Wissenden meint und sich demnach auf eine anerkannte Meinung bezieht,68 die jedoch, da sie nicht auf eigener Erkenntnis basiert, nicht gerechtfertigtes Wissen ist, erhielt pistis erst durch die Übersetzung des Alten Testamentes ins Griechische ihre religiöse Bedeutung und Verschärfung im Sinne des Glaubens an die geoffenbarte Wahrheit. Auch wenn sich noein verstärkt durch den christlichen Platonismus auf metaphysische und kosmologische Erkenntnisse bezieht, trennt Strauss dieses philosophische Streben nach wahrem Wissen vom Glauben (pistis): „Whatever noein might mean, it is certainly not pistis in some sense.“ 69

Strauss plädiert daher für „die principielle[!] Unvereinbarkeit von Philosophie und Judentum“ 70, was sich bereits in der Auseinandersetzung mit Julius Guttmann in den 30er Jahren um den Begriff „jüdische Philosophie“ zeigt, den Strauss als einen Widerspruch in sich selbst erachtet. Am 25. Februar 1951 63

Strauss/Kojève (2000), S. 196; vgl. Platon, Theaitetos, 201c–210b; Menon, 98a. Aristoteles, Topik, 100b. 65 In der Betonung dieses Aspektes von sokratischem Philosophieren ignoriert Strauss völlig die platonische Tradition, die episteme auf das ewig Seiende bezieht und demnach nicht aus dem Veränderlichen erkannt werden kann (vgl. hierfür Platon, Politeia, 475e–480a; Timaois, 51d–e). 66 Brief von Strauss an Voegelin vom 25. Februar 1951 in: Strauss/Voegelin (2004), S. 78. 67 Vgl. Strauss (1989j), S. 93 ff.; vgl. auch Strauss (1989x), S. 11. 68 Vgl. Platon, Politeia, 601e–602a. 69 Brief von Strauss an Voegelin vom 10. Dezember 1950 in: Strauss/Voegelin (2004), S. 76. Strauss lehnt demnach eine metaphysische Gesamtdeutung des Wissens über Gott, die Welt und den Menschen ab und reduziert sie im Sinne von noesis als dianoia, aber nicht von nous, als Sinneswahrnehmung und logische Folgerungen (Strauss (1997h), S. 45 ff.). 70 Brief von Strauss an Klein vom 16. Februar 1938 in: Strauss (2001d), S. 550. 64

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schreibt Strauss in einem Brief an Eric Voegelin, dass er in Bezug auf die Unvereinbarkeit von Judentum und Philosophie zwar noch auf demselben Boden wie in Philosophie und Gesetz steht,71 in seinen weiteren Schriften diese Problematik jedoch viel allgemeiner zu fassen versucht.72 Dafür rekurriert er auf das antike Philosophieverständnis als Lebensführung. Da sich das hen anangkeion der antiken griechischen Philosophie gänzlich anders als im biblischen Glauben erweist, behandelt er außerdem in seinen späteren Schriften ausführlicher, was die Grundsätzlichkeit des Spannungsfeldes verursacht, während das Dass, die Notwendigkeit, die nur scheinbare Widerlegung des Offenbarungsglaubens durch die Philosophie der Aufklärung wieder aufzunehmen, Hauptanliegen in Philosophie und Gesetz gewesen ist. Da er dazu aufruft, beide Seiten zu betrachten,73 veröffentlicht er zwei Kommentare über das erste Buch Genesis, die zeigen sollen, dass auch von Seiten des Offenbarungsglaubens die Position des unüberwindbaren Konflikts zwischen Glaube und Philosophie reflektiert wird. Seine Aufsätze On the Interpretation of Genesis (1957), Jerusalem and Athens (1967) sowie The Mutual Influence of Theology and Philosophy (1952) erachten Offenbarungsreligion und Philosophie, „Jerusalem“ und „Athen“, als zwei unterschiedliche Weisen der Lebensführung. Strauss formuliert die Gegenpositionen jedoch nicht argumentativ und systematisch aus, sondern bedient sich der Bibelexegese, um aus einer Kommentierung die Gegensätze zu verdeutlichen. Das Spannungsfeld umzieht dabei die fundamental gegenläufigen Positionen von Glauben und Wissen sowie Gehorsam und Freiheit. Kernaussage seiner Interpretation des Schöpfungsberichtes ist, dass die Bibel von Anfang an Philosophie ablehne. Die Bibel verbiete Philosophie, weil sie Berichte und Gebote auf Vernünftigkeit hin überprüfe und daher mit dem Glauben in Konflikt gerate. Shadia Drury interpretiert dabei Strauss’ Aussage „[that] faith could not be meritorious if it were not faith against heavy odds“ 74 dahingehend, dass die Bibel in sich widersprüchlich sei und demnach ein credo quia absurdum verlange. Die Bibel sei unvernünftig und Glaube daher nicht nur formal unlogisch, sondern beziehe sich auch inhaltlich auf Irrationales. Dagegen steht jedoch Strauss’ eigene Bemerkung in Jerusalem and Athens, dass beide, sowohl die philosophische als auch die religiöse Lebensführung, nicht nur Weisheit (wisdom) anstreben, sondern auch Wissen voraussetzen. Darüber hinaus hebt er vernünftige, rational verständliche Elemente der Bibel hervor.75 Demnach ist es 71

Strauss/Voegelin (2004), S. 78. Vgl. dafür die am 8. Januar 1948 gehaltene Lecture Reason and Revelation am Theologischen Seminar Hartford, abgedruckt in: Strauss (2006a). 73 Zu den Gründen vgl. auch das vorangegangene Kapitel „Die Krise des Westens“. 74 Strauss (1997e), S. 360. 75 „The Bible begins reasonably“ (Strauss (2004a), S. 114); vgl. auch Strauss (1997e), S. 361. 72

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Strauss’ Anliegen, den Unterschied zwischen der philosophischen und der religiösen Weisheit zu verstehen, wobei er von zwei unterschiedlichen Arten von Wissen ausgeht.76 Wissen über Gott geht demnach mit Ehrfurcht einher, indem seine Überlegenheit gegenüber bloß menschlichem Wissen anerkannt wird. Die Furcht vor Gott stammt folglich nicht allein aus der Furcht vor Bestrafung, sondern aus Ehrfurcht, die nicht gänzlich als irrational verstanden werden darf. Auch wenn das Wesen und die Wege Gottes unergründlich sind, sind die Ehrfurcht und die daraus folgende demütige Haltung durch die Selbsterkenntnis der menschlichen Unvollkommenheit begründet. Der Mensch bedarf eines gewissen Grundverständnisses (understanding) über die eigene Unzulänglichkeit und die Angewiesenheit auf göttliche Gnade, um gottesfürchtig sein zu können, indem er Gottes Anweisungen versteht und danach handelt: „[Man] could not be freely obedient if he did not have understanding. But at the same time this very fact allows man to emancipate the understanding from the service, from the subservient function, for which it was meant, and this emancipation is the origin of philosophy or science from the biblical point of view.“ 77

Philosophie wird in obigem Zitat als eine Emanzipation von den Gehorsam verlangenden Forderungen des religiösen Verstehens (understanding) beschrieben. Obwohl die menschliche Selbsterkenntnis der eigenen Unvollkommenheit und folglich das epistemologische Streben nach Weisheit für Offenbarungsglauben und Philosophie gleich sind, so sind sie doch in ihrem Zugang und der daraus resultierenden Lebensführung grundverschieden: „According to the Bible, the beginning of wisdom is fear of the Lord; according to the Greek philosophers, the beginning of wisdom is wonder. We are thus compelled from the very beginning to make a choice, to take a stand.“ 78

Der Mensch muss sich daher hinsichtlich der Frage nach der „richtigen“ Lebensführung entscheiden, ob er sich auf die selbstgenügsame Suche nach dem Guten beruft oder ob er dafür der göttlichen Offenbarung von verbindlichen Geboten oder Gesetzen bedarf, die dem unergründlichen Willen Gottes entstammen und absoluten Gehorsam verlangen. Heinrich Meier betont daher, dass die gesetzgebende Offenbarung der Kapitulation der menschlichen Vernunft entspreche, „da sie gleichbedeutend ist mit der radikalsten Verneinung des Grundes menschlicher Selbstbehauptung im Wissen. Sie verneint, dass die Erkenntnis des Guten dem Menschen als Menschen möglich sei.“ 79

76 In diesem Sinn hat Ehud Luz Strauss richtig interpretiert, indem er zwei unterschiedliche Arten von Wissen gegenüber stellt (vgl. Luz (2005), S. 264 ff.). Luz führt das biblische Wort für „wissen, kennen“ auf eine Beziehung in Ehrfurcht und Furcht zurück. 77 Strauss (2004a), S. 116. 78 Ebd., S. 112. 79 Meier (2003b), S. 66.

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Absoluter Gehorsam verlangt daher, dass der gottesfürchtige Mensch weder Gottes Werke noch seine Gesetze hinterfragt oder gar kritisiert. Für einen Philosophen gilt es jedoch, keinen Behauptungen, Forderungen oder der „ungebrochenen Kette vertrauensschaffender Tradition“ blind zu gehorchen, sondern diese zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen, wenn sie sich als falsch erweisen.80 Philosophen weigern sich, ihr Leben in freier Forschung gegen ein Leben im verstehenden, aber nicht wissenden Glauben, Gehorsam und demütiger Unterwerfung einzutauschen. Stattdessen „transzendieren“ sie die Dimension der Gehorsamkeit und Frömmigkeit.81 Sie leben ein Leben, das dem Verstehen, als noesis, gewidmet ist.82 Daher stellt Strauss dem Verstehen und Befolgen des Willens Gottes die philosophische Suche nach dem „Wesen der Dinge“ (ti estin) entgegen und erklärt in Naturrecht und Geschichte die Natur, wohlgemerkt im Sinne von physis, zur höchsten Autorität für den Philosophen.83 Der Gegensatz zwischen Philosophie und göttlicher Autorität hat seine Ursache in dem Anspruch beider, zwei Lebensweisen zu sein, die von sich behaupten, die einzig legitime zu sein. „Keine Alternative ist grundlegender als diese: menschliche Führung oder göttliche Führung. [. . .] Dem Dilemma kann man weder durch Harmonisierung noch durch Synthese ausweichen, denn sowohl die Philosophie als auch die Bibel proklamieren etwas als das eine, das Not tut, als das einzige, was letztlich zählt, und das durch die Bibel proklamierte einzig Notwendige ist das Gegenteil von dem, was die Philosophie proklamiert: ein Leben gehorsamer Liebe gegenüber einem Leben der freien Einsicht.“ 84

Aus diesem Zitat wird deutlich, dass es nicht nur um den grundsätzlichen Gegensatz in der Beanspruchung der höchsten Autorität jeder Seite geht, eben jenes „einzig Notwendige“ (hen anagkeion)85 für das „richtige Leben“ zu sein, sondern, wie der letzte Satz verdeutlicht, um eine Lebensführung. Auf der einen Seite, „ist der Mensch so veranlagt, dass er seine Befriedigung und seine Seligkeit in der freien Forschung finden kann. Andererseits aber sehnt er sich so sehr nach einer Lösung des Rätsels des Seins, [. . .] dass das Bedürfnis nach göttlicher Erleuchtung nicht verleugnet [. . .] werden kann.“ 86 Dieses Bedürfnis zieht ihn zu den Offenbarungsreligionen hin, weswegen für Strauss nur wenige für ein philosophisches Leben, in seinem radikal zetetischen Sinn, geeignet sind.

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Strauss (1997b), S. 409. Vgl. Strauss (2004b), S. 219. 82 Vgl. ebd., S. 219. Diese noesis übersetzt Strauss mit understanding, intellect und vorsichtig mit awareness, als die Selbsterkenntnis des menschlichen, unvollkommenen Wissens. 83 Strauss (1989g), S. 83. 84 Strauss (1989g), S. 77. 85 Vgl. Brief von Strauss an Voegelin vom 25. Februar 1951 in: Strauss/Voegelin (2004), S. 78. 86 Strauss (1989g), S. 78. 81

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Mit dieser radikalen Gegenüberstellung von „Athen“ und „Jerusalem“ als zwei unterschiedlichen Positionen der Lebensführung befasst sich die Strauss-Forschung, die ihn einerseits gerne noch als jüdischen Denker verstehen möchte,87 andererseits, wie hier dargestellt, den Philosophen akzentuiert, der in lebenslanger Auseinandersetzung mit seinen jüdischen Wurzeln gehadert hat. Gemäß der Aussage seines Freundes Hans Jonas habe Strauss zeitlebens unter der Spannung seiner jüdisch-orthodoxen Erziehung und seines radikalen Verständnisses von Philosophie als zetetischer Lebensführung gelitten, sich jedoch konsequent an die einmal getroffene Entscheidung für „Athen“ gehalten.88 Auch Jacob Klein schildert in einem akademischen Nachruf Strauss’ Zerrissenheit zwischen den „zwei Welten“. Letztendlich beschreibt er ihn aber als ursprünglich orthodoxen Juden, „[who] later changed his religious orientation radically, tying the question of god or gods to his political reasoning without letting his own life be dependent on any divinity or on religious rites.“ 89 Das durch eros90 motivierte philosophische Streben nach Weisheit bestimmt Strauss’ sokratisches Philosophieverständnis: Philosophie ist die Suche nach Weisheit, nicht Weisheit selbst, die alles Wissen dialektisch prüft und skeptisch hinterfragt. Durch diese Prüfung erkennt der Philosoph das eigene Nichtwissen und die Grenzen der menschlichen Weisheit (anthropopine sophia), weswegen das philosophische Leben für Strauss immer ein zetetisches ist.91 Auch wenn Strauss in Farabi’s Plato wortwörtlich äußert, dass Philosophie skepsis im ursprünglichen Sinne sei,92 muss diese Auffassung vom Skeptizismus unterschieden werden. Obwohl aus dem Sokrates-Schüler Platon zwei Schulen hervorgingen, die die westliche Tradition dermaßen tiefgreifend prägten, dass man meinen könnte, sokratisches Philosophieren beinhalte in ihrer Fortführung bei Platon eine Lehre, betont Strauss: „Plato himself was neither dogmatist nor skepticist.“ 93 Zetetische Philosophie ist dabei die einzige Möglichkeit der Philosophie, die weder dogmatisch noch skeptisch sein möchte. Strauss’ Verständnis von Lehre meint demnach keine dogmatische, systematisch ausgearbeitete Lehre (dogmata)94,

87 So bezeichnet Kenneth Hart Green Strauss als „one of the most important Jewish thinkers of the present century“ (Green (1993), S. XI); vgl. ebenso die Interpretation von Söllner in: Söllner (1996). 88 Jonas (2005), S. 93 ff. 89 Klein (1974), S. 2. Bildlich am treffendsten formuliert hat diesen Zusammenhang Milton Himmelfarb: „His heart was in Jerusalem, his head was in Athens, and the head is the organ of the philosopher“ (Himmelfarb zitiert in: Arkes (1996), S. 17). 90 Vgl. eros als Mittler zwischen menschlichem und göttlichem Wissen in Platons Symposion, vor allem 210a–212b. 91 Vgl. auch Strauss/Kojève (2000), S. 210 ff. 92 Strauss (1945), S. 393. 93 Strauss (2001e), S. 4. 94 Zu Strauss’ Ablehnung von Lehre als dogmata siehe Strauss (1945), S. 360.

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sondern vielmehr einen an sokratisches Hinter- und Weiterfragen angelehnten pädagogisch motivierten Protreptikos zum Philosophieren: „Es gibt keine Lehre des Sokrates. Sokrates konnte ja nicht lehren; er konnte nur fragen und durch sein Fragen anderen zur Einsicht verhelfen. Zuerst zu der Einsicht, dass sie das, was sie zu wissen vermeinten, in Wahrheit nicht wussten. [. . .] Selbst dieses Wissen des Nichtwissens ist keine Lehre: Sokrates ist auch kein Skeptiker. Eine Lehre, zum mindesten eine philosophische Lehre ist eine Antwort auf eine Frage. Sokrates aber antwortet nichts. [. . .] Sokratisch philosophieren heißt: fragen.“ 95

Philosophie liefert daher auch keine Lösungen für fundamentale Probleme, vielmehr hilft sie, diese zu artikulieren. Doch nur weil das Wissen über das Ganze dem menschlichen Wissen (human knowledge) nicht zugänglich ist, heißt das nicht, dass Philosophie überhaupt kein Wissen beanspruchen kann.96 Eine wichtige Rolle spielt dieses Philosophieverständnis daher, wenn es um die „basic truths“ und letztendlich Strauss’ esoterische Lehre geht, gerade im Hinblick auf die Frage, ob Philosophie stets bloß provisorische Antworten geben kann. Vor allem Stanley Rosen und Steward Umphrey ziehen den Schluss, dass Strauss in erster Linie Skeptiker ist und es für ihn überhaupt kein sicheres philosophisches Wissen geben kann.97 Gerade deswegen sei Philosophie für die meisten gefährlich, vor allem aber für das politische Gemeinwesen, da es kein Wissen, sondern immer nur Meinungen geben könne, die machtpolitisch durchgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund wäre jede Art von philosophisch erkanntem Wissen eine exoterische Schutzmaske, die sich nur politisch, nicht aber philosophisch „wahrheitsliebend“ rechtfertigen könne. Auch wenn Strauss’ Philosophieverständnis in Anlehnung an Sokrates zutiefst skeptisch und letztendlich zumeist aporetisch ist, gibt es für ihn philosophisches Wissen, das einerseits aus dem eigenen Nichtwissen besteht und sich andererseits den grundlegenden Fragen und Alternativen zuwendet, ohne jedoch konkrete Lösungen anbieten zu können.98 „Philosophy as such is nothing but genuine awareness of the problems, i. e., of the fundamental and comprehensive problems. It is impossible to think about these problems without becoming inclined toward a solution, toward one or the other of the very few solutions. Yet as long as there is no wisdom but only quest for wisdom, the evidence of all solutions is necessarily smaller than the evidence of the problems.“ 99

Die Erfahrungen mit diesen transhistorischen philosophischen Fragen zeigen die „großen Bücher“, die Strauss dahingehend kanonisiert, dass sie sich gerade jenen Problemen und Alternativen zuwenden. Denn Philosophie ist für Strauss 95 Strauss (1997b), S. 411; vgl. auch Strauss (1997h), S. 51; Strauss (1989g), S. 37 ff. 96 Strauss (1989y), S. 23. 97 Vgl. Umphrey (1991). 98 Vgl. Strauss (1989g), S. 129. So sieht es auch Ward (1981). 99 Strauss/Kojève (2000), S. 196.

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nur dann möglich, „wenn der Mensch, obschon unfähig Weisheit oder rein volles Verständnis des Ganzen zu erwerben, doch fähig ist, ,das zu wissen, was er nicht weiß‘, d.h. wenn er die Grundprobleme und damit die grundlegenden Alternativen erfassen kann, die grundsätzlich immer dieselben bleiben.“ 100 Stanley Rosen ist für seine Kritik an Strauss in seinem Buch The Elusiveness of the Ordinary (2002) bekannt geworden, dessen Leitgedanke die Unmöglichkeit von Philosophie behandelt. Die Auseinandersetzung zwischen Strauss und Rosen basiert auf einer unterschiedlichen Auffassung von Philosophie, obwohl sich beide auf Sokrates als Ausgangspunkt beziehen. Während für Strauss Philosophie im Wesentlichen ein Aufstieg vom Meinen zum Wissen ist, akzentuiert Rosen das Staunen (thaumazein)101. Philosophieren ist für Rosen eine isolierte, individuelle Tätigkeit, weswegen er den doppelseitigen Sinn einer Politischen Philosophie, die die politischen Meinungen mit reflektiert, nicht unterstützt.102 Für Strauss ist sokratisches Philosophieren hingegen nicht allein das Stellen von Fragen, um zur „mäieutischen“ Einsicht in das eigenen Nichtwissen zu verhelfen, sondern vor allem ein „Zusammenfragen“ 103. Philosophen, so hingegen Rosen, können zwar Nicht-Philosophen erziehen, jedoch hält er das Gespräch unter Gleichen für unmöglich, da Philosophen nicht miteinander sprechen, sondern sich nur kritisieren und sich bemühen, ihre einstigen Lehrer zu übertrumpfen.104 Stanley Rosen liest Strauss esoterisch und geht davon aus, dass seine esoterische Lehre die Unmöglichkeit der Philosophie konstatiert.105 Da für Rosen Philo100

Strauss (1989g), S. 37, Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 201. „Philosophy begins in an individual’s wonder, and consists primarily in unitary vision.“ (Rosen (2002), S. 3). 102 Während für Strauss Philosophie eine moderate Haltung gegenüber der Stadt einnehmen muss, da diese von den öffentlichen Meinungen ausgeht und diese hinterfragt, kann für Rosen Philosophie ruhig ihren „manischen“ Charakter behalten. Dieser zeigt sich daher in Rosens zutiefst ironischem und polemischem Stil. 103 Strauss (1997b), S. 412. 104 Dies treffe sowohl auf Hegels Kritik an Kant, Heideggers Kritik an Husserl, wiederum Derridas Kritik an Heidegger zu – allerdings ebenso auf Rosens Kritik an Strauss. Alle großen Denker wollen ihre Lehrer überwinden – wie es Nietzsche im Zarathustra fordert: So sei auch Aristoteles gegenüber Platon respektvoll aufgetreten, doch habe er versucht zu zeigen, um wie viel besser seine eigenen Gedanken als die seines Lehrers seien. 105 Rosen (1987), S. 125, 136 ff. Deren Inhalt ändere sich jedoch in seinen Schriften: In seinen früheren Aufsätzen schreibt er Strauss’ exoterischer Lehre zu, dass er sein Konzept der durch „liberal education“ erzogenen „natürlichen Aristokratie“ mit der Aristokratie als der präferierten politischen Ordnung der griechischen Antike identifiziert, da deren politische Tugend die Philosophie im Gemeinwesen freundlich aufnehme. Rosen versteht Strauss’ exoterische politische Philosophie demnach auch im Sinne eines politischen Programms, das eine Modifikation des derzeitigen Liberalismus mit den Aspekten sowohl der antiken als auch der aufklärerischen Denker des 17. und 18. Jahrhunderts darstellt. Rosen bemerkt jedoch zugleich, dass sich Strauss sehr wohl im Klaren gewesen sein müsse, dass auch der tugendhafteste Politiker sich nicht verlässlich und völlig hinter die Philosophie stelle. Die späteren Schriften betonen hingegen in 101

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sophie keine Ideen und auch nicht das „von Natur aus Gerechte“ erkannt werden kann und daher alle Ansichten darüber auf Nichtwissen basieren, erachtet er die Notwendigkeit für esoterisches Schreiben darin, das theoretische Nichtwissen exoterisch als Wissen darzustellen.106 Die Philosophie habe erkannt, dass sich mit dieser Ausgangslage keine politische Ordnung konstituieren und legitimieren lasse. Strauss’ exoterische politische Rhetorik diene daher dem Schutz des politischen Gemeinwesens, um dieses vor einem Zerfall in Anarchie zu schützen. Ohne die Möglichkeit des Naturrechts könne es keine Philosophie und keinen Weg zurück zur antiken Philosophie geben.107 „Strauss (rightly) attributes to Nietzsche the view that the theoretical analysis of the relativity of all comprehensive views, if publicly disseminated, would make human life itself impossible.“ 108

Die Notwendigkeit für esoterisches Schreiben sieht Rosen dabei nur in ihrem politisch-philosophischen Charakter, nicht jedoch im pädagogischen begründet.109 Da die Aufklärung nicht zu einem Fortschritt im Wissen geführt habe, bedürfen gerade die moderne Politik wie auch die Philosophie mehr denn je des Schutzes durch eine exoterische Lehre.110 Das Anliegen der Strauss’schen politischen Rhetorik sei es daher, in ihrem rücksichtsvollen öffentlichen Auftreten den Mythos zu bewahren, dass eine philosophische Erkenntnis von „Wahrheit“ möglich sei. Für Stanley Rosen ist daher die Möglichkeit von Philosophie selbst eine „noble Lüge“.111 Catherine und Michael Zuckert werfen Rosen vor, dass er sein Verständnis von Strauss’ Politischer Philosophie einseitig darauf beschränke, diese als öffentliche Darstellung von Philosophie zu verstehen. Für Rosen sei Politische Philosophie nichts anderes als die Form, in der sich philosophisches Wissen, das er als unmöglich erachte, rhetorisch präsentiere.112 In diesem Sinne sei politische Philosophie nichts anderes als beschönigende und beruhigende Propaganda.113 Für Strauss kann Philosophie in seinem sokratischen Verständnis jedoch nennenswertes Wissen vorweisen, auch wenn die Fragen zumeist offensichtlicher sind als die ihrem esoterischen Kern die Unmöglichkeit von philosophischem Wissen und die Schutzbedürftigkeit des politischen Gemeinwesens durch exoterische Lehren. 106 Ebd., S. 148. 107 Vgl. ebd., S. 129. Dass Strauss jedoch gerade durch sein Rückgehen auf Sokrates und das sokratische Fragen einen Ausweg schafft, dass der Philosoph nämlich gerade das Wissen habe, dass er nicht wisse. Das höchste philosophische Wissen stellt sich dann als Bewusstsein, aber immer noch als Wissen heraus, dass die Suche nach Weisheit stets unvollkommen ist und bleibt. 108 Ebd., S. 124. 109 Vgl. Zuckerts Kritik an Rosens Auslegung in: Zuckert/Zuckert (2008), S. 142 ff. 110 Rosen (1987), S. 88. 111 Vgl. ebd., S. 125, 137, 139 ff. 112 Vgl. Zuckert/Zuckert (2008), S. 145. 113 Rosen (1987), S. 109, 111 ff.

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Antworten. Ihr gelingt es vor allem, die Frage mit äußerster Dringlichkeit zu formulieren, nämlich die Frage nach dem richtigen Leben: „Sokrates gibt also eine Antwort auf die Frage nach dem rechten Leben: das Fragen nach dem rechten Leben – das allein ist das rechte Leben.“ 114

Stanley Rosen wendet zu diesem Aspekt jedoch ein, dass für Strauss der Philosoph letztendlich doch nur glauben kann, dass der philosophische Lebensentwurf als zetetische Suche der richtige Lebensentwurf ist und Philosophie daher auf einer Entscheidung als „act of the will“ basiert.115 Strauss setzt sich selbst intensiv mit dieser Frage auseinander, vor allem in seinen offenbarungsreligiös-philosophischen Gegenüberstellungen, aber auch in Naturrecht und Geschichte, besonders weil es ihm um die „Aufrichtigkeit“ in der Philosophie geht. Es ist für Strauss daher gerade dieses Infragestellen der eigenen Lebensweise, das dem Philosophen die Notwendigkeit der Begründung der philosophischen Lebensweise vor Augen hält: Mit dieser Frage habe er sich stets zu befassen. Wenn Philosophie als Streben nach Wissen des Ganzen aufgefasst wird und sich durch zetetisches Suchen danach auszeichnet, in dem die Probleme zumeist viel offensichtlicher sind als die Antworten, sind alle Antworten und Lösungen fragwürdig und müssen geprüft werden – ebenso auch die Ansicht, dass das philosophische Leben das richtige Leben ist. Die Problematik liege darin, dass das „richtige Leben“ nicht bestimmt werden könne, ohne den Zusammenhang der „Natur“ des „Ganzen“ zu kennen. Wenn die Bestimmung des „richtigen Lebens“ dahingehend nur metaphysisch bestimmt werden kann, setzt sie eine „vollständige“ Metaphysik voraus. Wenn es diese jedoch nicht gibt oder diese noch nicht erkannt ist, bleibt die Frage nach dem „richtigen Leben“ in der Tat fragwürdig.116 Strauss verweist jedoch darauf, dass die Entscheidung für das philosophische Leben keiner „inevident premises“ 117, keines Glaubensaktes oder metaphysischer Spekulation bedürfe,118 sondern sich in dem erotischen Streben nach Wissen manifestiere, das als „nature’s grace“ keine göttliche Gnade benötige, sondern in der intellektuellen Neugier, der philosophischen Natur des Menschen begründet liege. Philosophie als erotisch begründetes Streben nach Weisheit ist daher keine willkürliche, sondern eine „natürliche“ Entscheidung. 114

Strauss (1997f), S. 411 ff.; Hervor. im Original. Rosen (1987), S. 123, 137 ff.; vgl. Strauss (2004b), S. 232 f. 116 Strauss (2004b), S. 223; vgl. auch Strauss (1997e), S. 361. 117 Strauss (2004b), S. 233. Harald Bluhm interpretiert Strauss’ Darstellung der Problematik dahingehend, dass die Entscheidung für das philosophische Leben für Strauss auf einem, wenn auch säkularisierten, Glaubensakt basiere, da sie ihren eigenen Wert nicht rational begründen könne (vgl. Bluhm (2002), S. 299). 118 Strauss (1989p), S. 269. Strauss führt diese Debatte in der Diskussion der Weber’schen Wertefreiheit an: „[T]he whole structure of science does not rest on evident necessities. [. . .] If science or reason cannot answer the question of why science is good, science says in effect that the choice of science is not rational: one may choose with equal right pleasing and otherwise satisfying myths“ (Strauss (1989a), S. 33). 115

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B. „Die dialogische Stadt‘‘ „The question of utmost urgency, the question which does not permit suspense, is the question of how one should live. Now, this question is settled for Socrates by the fact that he is a philosopher. As a philosopher he knows he is ignorant of the most important things. The ignorance, the evident face of this ignorance evidently proves that quest for knowledge of the most important things is the most important thing for us. [. . .] At any rate, philosophy is meant, and that is the decisive point, not as a set of propositions, a teaching, or even a system, but as a way of life, a life animated by a peculiar passion, the philosophic desire, or eros.“ 119

Auch wenn Philosophieren im Vergleich mit ihrem angestrebten Ziel als „Sisyphos-Arbeit“, hässlich oder gar, wie Rosen behauptet, unmöglich erscheinen mag, so wird sie dennoch durch die „natürliche“ Kraft des eros motiviert und unterstützt: „It is graced by nature’s grace.“ 120 3. Philosophie und Gesetz Während Strauss in seinem Spätwerk vornehmlich auf die Spannung zwischen Offenbarungsreligion und Philosophie im Hinblick auf den Zugang zu Weisheit eingeht, beschäftigt er sich in einem seiner ersten Werke, Philosophie und Gesetz (1935), mit der politischen Dimension, die sein Leitthema zu Recht zum „theologisch-politischen Problem“ werden lässt. Die Forderungen einer Offenbarungsreligion hinsichtlich der Lebensführung resultieren in einem mehr (Judentum) oder weniger (Christentum) expliziten Gesetz121, das das politische Zusammenleben prägt und letztendlich ermöglicht.122 In dieser säkularen Dimension des Konflikts zwischen Philosophie und Offenbarungsglauben geht es einerseits um 119

Strauss (1989p), S. 259. Strauss (1989x), S. 40; Platon, Symposion, 201e–204c; vgl. auch: Strauss (2004b), S. 218 ff. 121 Mit „Gesetz“ bezieht sich Strauss zunächst nur auf das jüdische Gesetz, den Talmud und die Thora. Erst später, in dem am 8. Januar 1948 gehaltenen Vortrag Reason and Revelation (mit der Skizze der Genealogie des Offenbarungsglaubens) und in Jerusalem and Athens (1967), schließt Strauss alle drei monotheistischen Offenbarungsreligionen in den religiösen Gesetzesbegriff mit ein. Strauss zentriert, anders als die Judaistik des 19. Jahrhunderts, die jüdische Philosophie auf das legalistische Verständnis des Gesetzes statt auf Glauben. Der Strauss-Schüler Harry Jaffa unterscheidet in diesem Sinne streng zwischen jüdischem und christlichem Glauben an das offenbarte Gesetz Gottes. Während im Judentum Gehorsamkeit gegenüber dem Gesetz als grundlegendes Zeichen von Frömmigkeit und Gläubigkeit betrachtet wird, legt das Christentum stärkeren Wert allein auf den Glauben. Daher verbindet er Strauss’ Begriff des religiösen Gesetzes vorwiegend mit dem mosaischen Gesetz, wie es im Judentum behandelt wird (vgl. Jaffa (1998)). 122 Zu Strauss’ Auffassung, dass die (religiöse oder konventionelle) doxa fundamental notwendig für das menschliche Zusammenleben sei, vgl. Strauss (1989g), S. 13; Strauss (1989p), S. 253 f. Auch Niklas Luhmann betont die Funktion des Vertrauens als einen elementaren Tatbestand des sozialen Lebens. Dabei sei Vertrauen in Selbstverständlichkeiten notwendig, um mit der lähmenden Komplexität der Welt umgehen zu können, indem sie als „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“ den Aufbau von „höheren“ Ordnungen zulasse (vgl. Luhmann (2000)). 120

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das Denken einer konkreten Ordnung, vor allem um die Frage, in welchem Zusammenhang politische und religiöse123 Macht generell stehen und in welchem Verhältnis sie stehen sollten, aber andererseits ebenso um den Entwurf des idealen Regimes, der „vollkommen gerechten Stadt“ 124. Die konkrete Herausforderung der Philosophie durch die Offenbarungsreligion findet dabei auf der Ebene des politischen Ordnungsdenkens statt, „insofern sie der Philosophie das Gebot des Gehorsams entgegenhält, das das philosophische Leben im Namen der höchsten Autorität verwirft, die sich ausdenken lässt, und es mit der schwersten Sanktion belegt, die sich ausdenken lässt.“ 125 Für Strauss sind Philosophie und Offenbarungsglauben, in dem Fall Philosoph und Prophet, Quellen politischer Ordnung, wenn es um die Gründung und den Erhalt des auf die menschliche, seelische Vollkommenheit ausgerichteten Gemeinwesens geht. Der klassische philosophische Entwurf des „idealen Staates“ entspricht für Strauss der platonischen Politeia, die jedoch nicht mit den biblischen Prophezeiungen übereinstimmt.126 Strauss verweist dafür auf Avicennas Aussage gegen Ende seines Metaphysik-Kompendiums Kitab al-Shifa, dass Platons Nomoi die Behandlung der Prophetie und des göttlichen Gesetzes beinhalten.127 Das heißt jedoch nicht, dass ein messianischer Prophet wie Jesajah dem platonischen Philosophenkönig entspricht oder die vollkommene Gemeinschaft der Offenbarungsreligion mit dem platonischen Entwurf des Idealstaates gleichzusetzen sei, wie es etwa Georges Tamer meint.128 Der theokratische theios nomos ist nicht der nomos physei der Politeia. Der Philosophenkönig ist nicht der, der zu Prophetie fähig ist, sondern ganz im Gegenteil, er baut als Philosoph auf rein rationales Wissen, ist sich jedoch der Notwendigkeit des religiösen Bezugs für die „Vielen“ zur Bewahrung der Ordnung des Gemeinwesens bewusst. Wie Averroes unterscheidet Strauss demnach zwischen dem philosophischen, naturrechtlichen Entwurf des Idealstaates und der prophetischen Alternative und bestimmt das Verhältnis beider anhand der mittelalterlichen Philosophen. Der Um123 In Bezug auf das Judentum muss hier nach dem Verhältnis und der Vereinbarkeit von Gehorsam gegenüber dem offenbarten und den säkularen Gesetzen gefragt werden. Zu Strauss’ frühem Zionismus vor der „Maimonidischen Wende“ vgl. Smith (2007), S. 23–26, 30–36. 124 Strauss (1989r), S. 171. 125 Meier (2003a), S. 18. 126 Strauss (1935), S. 113. 127 Vgl. ebd., S. 64 f.; vgl. auch Meier (2003a), S. 25. Avicenna, Kitab al-Shifa, 453/4, (13), 680 f. Dies ist zudem wichtig, wenn Strauss ernsthaft behauptet, dass es immerwährende Probleme und Fragestellungen gebe, dass die antiken (politischen) Philosophen das Problem der Offenbarung mitbedacht hätten. Außerdem behauptet Strauss, dass das, was Platon über „divine retribution“ in den Nomoi behauptet, buchstäblich identisch mit Versen aus Amos und Psalm 139 sei (vgl. Strauss (1989p), S. 247 f.). 128 Tamer (2001), S. 150. Tamer liest Strauss’ Avicenna-Interpretation dahingehend, dass der Prophet Gründer des platonischen Staates ist, d.h. den von Platon antizipierten Staat verwirklicht.

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gang mit den unterschiedlichen Antworten auf das beste Regime der beiden grundlegenden Strömungen der westlichen Tradition ist demnach das Kernthema in Philosophie und Gesetz. Strauss betrachtet dabei das „theologisch-politische Problem“ aus zwei Perspektiven: einerseits Die gesetzliche Begründung der Philosophie und andererseits Die philosophische Begründung des Gesetzes. Erstere untersucht die „Rechtfertigung des Philosophierens vor dem Forum der Offenbarung“ 129 anhand der mittelalterlichen Autoren Ibn Ruschd, Maimonides und Lewi ben Gerschom. Strauss geht davon aus, „dass die Wirklichkeit der Offenbarung, des offenbarten Gesetzes, die maßgebende vorphilosophische Voraussetzung dieser Philosophen ist“.130 Alle drei Autoren nehmen das Gesetz der Offenbarung als gegeben, als „Faktum vor allem Philosophieren“ und untersuchen den Freiheitsgrad der Philosophie in dem religiös vorgegebenen Rahmen. Diese religiöse Einschränkung und Infragestellung erweist sich als der wichtigste Unterschied zur modernen, aufgeklärten Perspektive: „Unter der also vorphilosophischen Voraussetzung des Faktums der Offenbarung, und nur unter ihr, unter ihr aber notwendig, kommt es zu dem Desiderat einer gesetzlichen Begründung der Philosophie. Denn das offenbarte Gesetz macht zunächst einmal das Philosophieren von Grund auf fragwürdig. Ein von Gott gegebenes, also vollkommenes Gesetz genügt notwendig dazu, das Leben auf sein wahres Ziel hin zu leiten.“ 131

Im diesem Satz befindet sich die wesentliche Herausforderung der Philosophie: Wenn das „wahre Ziel“ die Vollkommenheit des Menschen ist, so ist der Zweck des religiösen Gesetzes identisch mit dem der Philosophie – nur ihre Zugangsweise eine andere. Während Erstere absoluten Gehorsam gegenüber dem offenbarten Gesetz verlangt, setzt Letztere auf eine strikt rationale, eigenmächtige Lebensführung. Die philosophische Antwort auf die Frage nach dem „richtigen Leben“ wird durch einen legalistisch verstandenen Offenbarungsglauben radikal angezweifelt. Wenn es nämlich eine göttliche, d.h. absolute offenbarte Wahrheit gibt, ist das menschliche Bemühen, Wahrheit aus dem eigenen vernünftigen Vermögen erkennen zu wollen, gegenüber der Offenbarung zweitrangig, wenn nicht gar gänzlich sinnlos. Damit steht die Philosophie vor der Frage, ob die Wahrheit nicht grundsätzlich verfehlt wird, wenn der Mensch sie eigenmächtig sucht. Da die Offenbarung Zugang zu übernatürlichem Wissen bietet, ist sie darüber hinaus dem bloß menschlichen Wissen überlegen. Durch diesen „Primat des offenbarten Gesetzes“ berufen sich Ibn Ruschd und Maimonides auf die Ansicht, dass Philosophie dann, und nur dann, vom Gesetz geboten wird, wenn es um das richtige Verständnis des Glaubens geht. 129 130 131

Strauss (1935), S. 68. Ebd. Ebd.

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„Glauben ist aber nicht bloßes Bekennen mit den Lippen, sondern Verständnis des Geglaubten; der Glaube ist erst dann vollkommen, wenn der Mensch eingesehen hat, dass das Gegenteil des Geglaubten in keiner Weise möglich ist. Das Gesetz ruft also auf zum Verständnis und zum Beweis der von ihm mitgeteilten Wahrheiten.“ 132

Die Aufgabe der vom offenbarten Gesetz ermächtigten Philosophie ist es demnach, die bereits offenbarten Wahrheiten zu erkennen, zu beweisen und anzueignen.133 Dadurch ist die Philosophie als unterlegene Wissenschaft an das Gesetz als thematischen Rahmen gebunden, ist jedoch insofern frei, als sie nicht an dessen wortwörtlichen Sinn gebunden ist. Zusammenfassend zeigt der Abschnitt Die gesetzliche Begründung der Philosophie in Philosophie und Gesetz anhand mittelalterlicher Autoren, dass Philosophie einen kleinen Spielraum hatte und sich demnach allein als „religiöse Philosophie“ legitimieren konnte. Doch auch wenn ihr Freiheitsgrad eingeschränkt ist, verhilft die religiöse Autorität durch das „Faktum der Offenbarung“ der Philosophie zur Selbsterkenntnis und -bestimmung über ihre eigenen Aufgaben, Möglichkeiten und Herangehensweise. Dies, aber vor allem die Reflexion des politischen Umfelds ist daher Thema des zweiten Abschnittes Die philosophische Begründung des Gesetzes. Hier, und ausführlicher noch in Naturrecht und Geschichte, geht Strauss auf die politische Dimension ein, wobei er im späteren Werk die „theologisch-politische“ Autorität erweitert sowohl als vor-philosophische Konventionen als auch in deren Verschärfung im offenbarten Gesetz erachtet. Das bewusst gewählte philosophische Leben als die Antwort auf die Frage nach dem richtigen und gerechten Leben sieht sich dabei nicht nur durch das autoritative „faktisch vorliegende offenbarte Gesetz“ herausgefordert, sondern trifft auf konventionelle Verbindlichkeiten und etablierte Forderungen. Der philosophische Entwurf des gerechten Lebens wird demnach mit dem Gesetz des Gemeinwesens konfrontiert, das auf göttlichen oder menschlichen Geboten und Verboten basiert.134 Als Politische Philosophie „muss sich [die Philosophie] im Ernst auf die Erwartungen und Forderungen einlassen, die das politische Leben auszeichnen, und sich mit den moralischen Verbindlichkeiten, mit den Vorstellungen vom Gemeinwohl und von der gerechten Herrschaft Gottes oder der Menschen auseinandersetzen, die dieses Leben bestimmen“.135 Hinsichtlich des einheitsstiftenden Überthemas, der Frage nach dem „richtigen Leben“, fängt die Auseinandersetzung der Philosophie für Strauss bei dem Gemeinwesen, bei den Meinungen und Erwartungen der Bürger an. Dabei stellt er das politische Leben generell als die unreflektierte Vorstellung vom „richtigen Leben“ dar, das entweder auf offenbarungsreligiöse oder auf konventionelle Quellen zurückgreift, die religiösen Charakter 132 133 134 135

Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 75, 79. Meier (2003a), S. 19. Ebd., S. 21.

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haben. Von Seiten der Philosophie sei das vorsokratische Äquivalent von physis demnach ethos, was im Hebräischen durch das Wort mishpat (Gewohnheit, Konvention) ausgedrückt werde.136 Das Gerechte ist zunächst das „Angestammte“, das den Erwartungen und den typischen, vertrauten Verhaltensweisen entspricht.137 Das Gesetz wird in diesem Sinne durch die Tradition legitimiert.138 Generell betont Strauss jedoch, dass es für das menschliche Zusammenleben immer eines „sozialen fiat“ 139, autoritativer Meinungen, „öffentlichen Dogmas“ oder einer „Weltanschauung“ bedürfe, oder, um es zugespitzt zu formulieren: Das menschliche Zusammenleben basiert auf Ideologien140. Damit sei hier keineswegs ein sozial absolut determinierender Ideologiebegriff im Sinne Karl Mannheims141 gemeint noch ein „falsches Bewusstsein“, das es zu überwinden gilt, sondern vornehmlich die Rehabilitierung von politischer doxa als die Ausgangslage gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit und Bedingung des Zusammenhalts der Gesellschaft. Damit nimmt Strauss eine Haltung gegenüber der Ideologie ein, die nicht den kritischen Unterton, den sie seit der Aufklärung und vor allem seit Marx hat, um religiöse, ideengeschichtliche oder soziale Vorurteile prinzipiell mit Hilfe menschlicher Vernunft und wissenschaftlicher Methode zu überwinden, sondern um sie als Ausgangspunkt zur Ermöglichung von Ordnung zu betrachten. Ideologie meint demnach ein weltanschauliches System von Überzeugungen, dogmatischen Gedankenkomplexen, ein Glaubenssystem, Weltdeutung mit umfassendem Horizont, die die soziale Realität durch die Behauptung vor allem moralischer Regeln, Standards und Werte, so genannter „conceptual social maps“ 142, gestalten. In dieser ordnungsstiftenden Funktion trügen Ideologien, so vermerkt Michael Freeden, einen durchaus rationalen Charakter.143 Generell beinhalten alle politischen Systeme, auch die rationalsten, 136

Vgl. Strauss (1989p), S. 253. Vgl. Meier (2003b), S. 60. Deswegen weist Strauss als auszeichnendes Moment der jüdischen Kultur die extreme Ehrerbietung der Eltern zu (vgl. Strauss (2004a), S. 110; vgl. auch Luhmann (2000), S. 1). 138 Auf die religiöse Verschärfung dieses Aspektes verweist Strauss in On the Interpretation of Genesis sowie in The Mutual Influence, indem er die Genealogie des Offenbarungsglaubens zu erklären versucht. Das Traditionale beanspruche göttliche Herkunft und gegen die daraus resultierende Vielfalt der göttlichen Gesetze die normative Begründung des einen göttlichen Gesetzes (vgl. Strauss (2004b), S. 218; Strauss (1997e), S. 363). 139 Strauss (1989f), S. 102. 140 Zur Doppeldeutigkeit des Wortes eidos bei Strauss vgl. das nachfolgende Kapitel. 141 Mannheim unterscheidet in Ideologie und Utopie (1929) das ideologische Denken der herrschenden Gruppen als erstarrte Sicht auf die Wirklichkeit und trennt es von einem veränderungsfähigen, utopischen Denken. 142 Freeden (1998), S. 31 f. 143 Freeden schreibt Ideologien in ihrer Funktion generell rationalen Charakter zu, der in den jeweiligen historischen Gesellschaften sowohl aus rationalen als auch irrationalen Inhalten bestand und in dem jeweiligen Kontext von dem Gemeinwesen als für wahr gehalten wurde. Zwar wird Ideologien, vor allem in Bezug auf Massenideologien, 137

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Komponenten extra-rationaler Annahmen, die sich zu „öffentlichen Dogmen“ formieren. Indem Strauss Philosophieren als Aufstieg vom Meinen zum Wissen versteht, stellen im Hinblick auf das politische Gemeinwesen die Meinungen und Konventionen das „öffentliche Dogma“ als politische doxa dar. „Philosophizing means, then, to ascend from public dogma to essentially private knowledge. The public dogma is originally an inadequate attempt to answer the question of all-comprehensive truth or of the eternal order.“ 144

Strauss ist sich der ordnungsstiftenden Funktion „ideologischer Weltanschauungen“ bewusst, weswegen er die Philosophen zu äußerster Vorsicht und moderatem Auftreten aufruft, um diese nicht zu gefährden.145 Das Verhältnis zwischen Philosophie und dem „öffentlichen Dogma“, das sie eigentlich überwinden will, ist durch große Verantwortung geprägt und ist Thema im zweiten Abschnitt von Philosophie und Gesetz. Strauss untersucht darin die Werke der mittelalterlichen Autoren im Hinblick auf die Möglichkeit der Philosophie, das „göttliche Gesetz“ philosophisch zu hinterfragen, sich aber gleichzeitig darüber bewusst zu sein, dass dieses als Richtlinie, welche „die Handlungen der Individuen derart reguliert“ 146, das menschliche Zusammenleben konstituiert. Strauss betont dabei die politische Funktion des Propheten als Gesetzgeber, der als „Philosoph–Staatsmann–Seher (Wundertäter) in einem“ 147 eine Gesellschaft stiftet, die auf die eigentliche Vollkommenheit des Menschen ausgerichtet ist und auf dem göttlichen Gesetz basiert. Beide, Philosophie und Prophetie, gehen davon aus, dass der Mensch im vollkommen gerechten Staat sich selbst vervollkommnen kann, welcher für die klassische Philosophie der platonische Staatsentwurf der Politeia ist.148 Die mittelalterlichen Philosophen untersuchten dabei die Politeia unter der „unplatonischen Voraussetzung“ 149, dem gegebenen ein emotionaler und irrationaler Charakter zugeschrieben. Jedoch sei Irrationalität, so Freeden, nicht das vorherrschende Merkmal politischer Ideologien, da dies nicht mit den psychischen anthropologischen Studien vereinbar wäre, nach denen der Mensch und auch sein politisches Umfeld, in dem er lebt, ein Mindestmaß an Reflexion und an interner Kohärenz bedürfen. Hingegen bedienen sich Ideologien auch wissenschaftlicher „objektiver“ Rationalität, um ihre Prinzipien zu begründen, so dass sie rationale und emotionale Elemente, z. B. in ihrer Rhetorik, aus vernünftigen Argumenten und emotionaler Sprache mischen (vgl. Freeden (1998), S. 27 ff.). Zur bekräftigenden Emotionalität von Ideologien und zu dem „emotional need“ zur Stabilisierung von Gesellschaften vgl. (Feuer (1975), S. 75 ff.). 144 Strauss (1989f), S. 102. 145 Vgl. hierfür das Kapitel Politische Philosophie. 146 Strauss (1935), S. 109. 147 Ebd., S. 108. 148 „Justice is the common good par excellence“ (Strauss (1997h), S. 16; vgl. auch Strauss (1935), S. 115). 149 Ebd., S. 117.

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„Fakt des offenbarten Gesetzes“, welches die Frage nach der besten politischen Ordnung bereits beantwortet. Dadurch steht der Philosoph im Hinblick auf die Möglichkeit der Erkenntnis der besten Ordnung unter dem Propheten und daher auch unter der Autorität des Gesetzes. Um diesen autoritären Rahmen nicht zu sprengen, darf der Herrscher des idealen Staates unter der „unplatonischen Voraussetzung“ der Offenbarung kein Philosophenkönig, sondern mehr als dieser, ein Prophet als politischer Führer sein.150 Der Philosoph, der sich auf sein menschliches Wissen beschränkt und damit das vom Propheten „offenbarte Gesetz“ hinterfragt, muss dabei die „Angewiesenheit des Menschengeschlechts auf die Prophetie“ 151 mit bedenken. Es geht der Philosophie demnach nicht nur darum, die faktisch vorliegende Offenbarung auszulegen und zu verstehen, sondern auch, das meint die Überschrift Die philosophische Begründung des Gesetzes, die ordnungsstiftende Funktion des göttlichen Gesetzes hinsichtlich der unterschiedlichen Naturen der Menschen anzuerkennen. Da dies ein Motiv aus Platons Nomoi ist, in dem sich die Philosophen in einer „nächtlichen Versammlung“ (nukterios syllogos)152 treffen, um aus Rücksichtnahme auf das Gesetz im Verborgenen zu philosophieren, schreibt Strauss in diesem Sinn, entgegen der Auffassung Cohens,153 den mittelalterlichen Philosophen eine platonische Haltung zu. Was die mittelalterlichen Philosophen zu Platonikern macht, ist, dass sie sich unter den Staat stellen und sich vor dem Staat verantworten, während Aristoteles die Philosophie völlig frei gegeben hat. Platon hingegen gestattet diese Freiheit der reinen theoria nicht, sondern zwingt zum Mitbedenken des theologisch-politischen Umfelds und fordert, dass Philosophie unter einer höheren Instanz, unter dem göttlichen oder konventionellen Gesetz stehen müsse, was vor allem durch das offenbarte göttliche Gesetz verschärft wird.154 Das heißt, dass sie den „unplatonischen Rahmen“ der offenbarten besten Ordnung stillschweigend hinterfragten sowie die Möglichkeit der Philosophie im Horizont der Offenbarung durchdachten. Die mittelalterlichen Philosophen waren somit Platoniker, gerade weil sie sich dem gegebenen offenbarten Gesetz verpflichtet fühlten, auch wenn sie, so Strauss’ radikale These, als Philosophen selbst nicht daran glaubten.

150

Ebd., S. 115. Ebd., S. 111. 152 Strauss (1975), S. 181; Platon, Nomoi, 962b–964d. 153 Vgl. Hermann Cohen, Charakteristik der Ethik Maimunis (1908) (zuerst erschienen in: Moses ben Maimon, Leipzig 1908, 63–134). 154 Strauss (1935), S. 121. 151

I. Das „theologisch-politische Problem‘‘

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4. Strauss’ Rehabilitierung des Vorurteils als proteron pros hemas „Philosophieren heißt demnach, vom öffentlichen Dogma zum wesentlich privaten Erkennen aufsteigen.“ Leo Strauss155

In Anlehnung an die antike Erkenntnistheorie versteht Leo Strauss den Zugang zu Wissen als den platonischen Höhlenaufstieg aus der doxa der Meinungen zur episteme sowie als den aristotelischen Weg vom proteron pros hemas zum proteron physei.156 Bei Aristoteles beginnt der Mensch den Weg der Erkenntnis mit dem proteron pros hemas, um im Laufe seines philosophischen Forschens immer weiter zum proteron physei vorzudringen. Das „Erste für uns“ bezeichnet die Vorstellungen, Meinungen und Erwartungen der jeweiligen politischen Gemeinschaft – im Strauss’schen Sinn von sokratischer politischer Philosophie vor allem auch die „menschlichen Dinge“ (pragmata)157. „[A]ccording to Socrates the things which are ,first in themselves‘ are somehow ,first for us‘; the things which are ,first in themselves‘ are in a manner, but necessarily, revealed in men’s opinions.“ 158

Strauss verweist in diesem Zusammenhang auf die Unschärfe des Ausdruckes eidos für das Wesen bzw. die Idee einer Sache.159 Durch den sinnlichen Bezug bezeichne dieser zwar zunächst das für jeden ohne Mühe Sichtbare (oida), die Oberfläche. Jedoch nähere sich der Mensch dem Wesen der Dinge zumeist nicht phänomenologisch, sondern durch Meinungen über diese Dinge. Das Verstehen des „Was“ erfolgt daher über die bereits vorliegenden Ansichten – „premises that are generally agreed upon“ 160 –, die Strauss gleichwertig als opinion, prejudice 155

Strauss (1989g), S. 13. Vgl. Platon, Menon, 96d; Politeia, 475e, 510a ff., 533d; Theaiteos, 187b; Gorgias, 463b; vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139b 26; vgl. auch Strauss (1989j), S. 93 f.; Strauss (1989x), S. 11. 157 Vgl. Strauss (1997a), S. 458; vgl. zu Strauss’ Verständnis von sokratischer politischer Philosophie ausführlicher das Kapitel Das Problem des Sokrates. 158 Strauss (1997h), S. 19. 159 Vgl. Brief von Strauss an Gadamer vom 26. Februar 1961 in: Gadamer/Strauss (1978), S. 6. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Strauss’ Auseinandersetzung mit Husserls Grundlegung der Phänomenologie: „Husserl [. . .] had realized more profoundly than anybody else that the scientific understanding of the world, far from being the perfection of our natural understanding, is derivative from the latter in such a way as to make us oblivious of the very foundations of the scientific understanding: all philosophic understanding must start from our common understanding of the world, from our understanding of the world as sensibly perceived prior to all theorizing“ (Strauss (1989r), S. 31). Strauss verschärft die phänomenologischen Grundlagen um die politische Dimension im Sinne sokratischer politischer Philosophie, indem er das proteron pros hemas nicht allein in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern in den öffentlichen Meinungen und politischen Konventionen verortet. 160 Strauss (1989j), S. 93 f. 156

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B. „Die dialogische Stadt‘‘

und mere belief oder aber, mit religiöser Nuancierung von doxa, als Orthodoxie und „öffentliches Dogma“ bezeichnet.161 Diese bestimmen sich nicht individuell, sondern sind als gesellschaftlich geformte Vor-Urteile autoritative Meinungen, auf denen das Zusammenleben basiert. Sie prägen das „öffentliche Dogma“ 162 durch moralische Konventionen, religiöse Vorgaben oder durch „politische Korrektheit“, die im säkularen Zeitalter passgenau die religiöse Richtigkeit ersetzt, indem ihre moralische Gewissheit die kognitive Ungewissheit kompensiert.163 Die soziale Konstruktion dieser Setzungen bedeutet, dass jedes kritische Hinterfragen unvermeidbare politische Konsequenzen haben kann, da sie immer in das jeweilige politische Umfeld eingebunden sind. Aus Rücksichtnahme auf die politische Ordnung besteht Philosophie daher im Wesentlichen im Aufsteigen vom „öffentlichen Dogma zum wesentlich privaten Erkennen“ 164. Da es jedoch verschiedene private Erkenntnisse geben kann, muss ein Hinterfragen und Weiterfragen dieser im philosophischen „Zusammenfragen“ 165 erfolgen, was als freundschaftlicher Disput für Strauss im Wesentlichen das sokratische Philosophieren ausmacht.166 Wenn Philosophie ihrem Anspruch gerecht werden möchte, Kenntnis über das Ganze zu erlangen, zu dem sowohl die menschlichen als auch göttlichen Dinge gehören, muss sie auch andere Informationszugänge, wie Dichtung und Mythen, auf denen das politische Gemeinwesen fußt, zulassen und untersuchen, auch wenn diese nicht auf philosophisch gesichertem, d.h. gerechtfertigtem Wissen basieren. Der platonische Aufstieg von den Meinungen zum Wissen bedarf daher einer Theorie der politischen Meinungen. Strauss erachtet Meinungen daher als „Bruchstücke der Wahrheit“ 167, die als einschränkende (horizo) „umfassende Anschauung“ als Ausgangslage für den Aufstieg zum Wissen (episteme) erforderlich sind. „Jede wie auch immer begrenzte oder ,wissenschaftliche‘ Erkenntnis setzt einen Horizont, eine umfassende Anschauung voraus, innerhalb derer Erkenntnis möglich ist.“ 168

Es erscheint zunächst als Paradoxon, wenn Strauss in seinem Œuvre für seine streng aufgefasste Vorstellung der sokratischen Philosophie plädiert, die, sich allein auf vernünftige Erkenntnis berufend, jeglichem Autoritätsanspruch durch „öffentliche Dogmen“ entgegensteht, während er eben jene autoritativen Vor-Ur161 162 163 164 165 166 167 168

Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 193. Strauss (1989g), S. 13. Bolz (2009), S. 30. Strauss (1989g), S. 13, meine Hervorhebung. Strauss (1997b), S. 412. Strauss (1989g), S. 127; Strauss (1997h), S. 239 ff. Strauss (1989g), S. 128. Ebd., S. 129.

I. Das „theologisch-politische Problem‘‘

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teile als unerlässlich für jegliche Erkenntnis erachtet und eine Einbeziehung dieser in das Philosophieren für unabdinglich hält. Ganz zu schweigen davon, dass er selbst einen autoritativen Kanon der „great books“ der „Geschichte der Politischen Philosophie“ erstellt hat, sich zudem für einen autoritären Begriff des philosophischen Autors stark macht und dementsprechend selbst Gehorsam verlangt: Man muss sich letztendlich auf sein Verständnis von Politischer Philosophie einlassen, um sein Philosophieren verstehen zu können. Diese Forderung nach Gehorsam lässt sich nur mit dem erkenntnistheoretischen Verständnis antiken griechischen Philosophierens in Einklang bringen, wenn man Philosophie als Aufstieg von doxa zum Wissen versteht, indem das proteron pros hemas sowohl aus epistemologischen, aber vor allem auch aus politischen Gründen mit reflektiert wird. Dieses Vorverständnis von konventionell oder religiös bedingten Anschauungen, das in der aristotelischen Bezeichnung wortwörtlich als Vor-Urteil verstanden werden kann, bildet als das bereits Bekannte den Ausgangspunkt für den „epagogischen“ Weg zum proteron physei. Strauss ist sich insofern mit seinem lebenslangen Freund aus Marburger Studienzeiten, Hans-Georg Gadamer,169 einig, dass die „ungebrochene Kette vertrauensschaffender Tradition“ nicht nur für allgemeines Verstehen, sondern vor allem auch für jegliche philosophische Erkenntnis unerlässlich ist. Der Glaube, dass religiöse Ansichten, offenbarungsreligiöse Fakten oder gesellschaftliche Konventionen und Meinungen in gewisser Weise das proteron pros hemas ausmachen, dass alles Wissen zuerst auf diesem basiert, ist eine wichtige Prämisse in Strauss’ Weg zur Selbsterkenntnis der Philosophie als Politische Philosophie und in seinem pädagogischen Konzept der liberal education, die er als eine Befreiung aus eben diesem konventionellen oder religiösen Vor-Verständnis erachtet.170 Zwar versteht Strauss in diesem Sinne „Vorurteil“ als „polemisches Korrelat“ zu „Freiheit“,171 bemüht sich aber gleichzeitig, das Vor-Urteil in dem antiken Verständnis als proteron pros hemas zu rehabilitieren. Jenes erforderliche „Erste für uns“ ist daher für Strauss ein Kampfbegriff gegen „das große Wollen der Aufklärung“, alle Vorurteile durch freie, unbefangene Prüfung zu überwinden. In seinem Kampf gegen den aufklärerischen Kampf gegen alle Vorurteile wendet sich Strauss sowohl gegen die fortschrittsgeschichtliche als auch anti-theologische Auffassung. Erstere gehe davon aus, dass im aufklärerischen fortschreitenden Geschichtsverlauf letztendlich alle Vorurteile überwunden werden können. Mit dieser Ansicht bleibt für Strauss die Aufklärung jedoch im Horizont der Aufklärung verhaftet, da diese die Vorurteile, die sie eigentlich zu bekämpfen beabsichtigte, lediglich durch neue ersetzt habe. Wissenschaft könne nie vorurteilslos

169 Zur Freundschaft zwischen Gadamer und Strauss vgl. ausführlicher das Kapitel Gadamers unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit“. 170 Strauss (1997h), S. 241. 171 Strauss (2001a), S. 229.

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argumentieren und habe immer Voraussetzungen, die sich gegen Descartes’ aufklärerisches Ideal in den Meditationes richten, an allem grundsätzlich zu zweifeln, um sich von allen Vorurteilen zu befreien. In seiner zweiten Kritik an dem aufklärerischen Kampf gegen das Vorurteil bemerkt Strauss, dass die Aufklärung das Vorurteil lediglich als Bequemlichkeit und Trägheit missverstanden und dadurch die Unselbstverständlichkeit ihres Kampfes verkannt habe. Der Kampf gegen das Vorurteil hätte durch die offenbarungsreligiöse Dimension verschärft werden können, wenn die Tatsache mit hinzugezogen worden wäre, dass das Vorurteil als göttliches Urteil vor allem Menschlichen liege: Es ist das Vor-Urteil schlechthin.172 Strauss stellt das Vorurteil im aristotelischen Sinne als proteron pros hemas gegen diese offenbarungsreligiöse Alternative des zeitlichen und ontischen Vor-Urteils. Zwar ist das Vor-Urteil im Aufstieg von den Meinungen zum Wissen auch ein „früheres Wissen“ (proteron), jedoch kein „faktisches“ Urteil, das immer Vor-Urteil bleiben wird. Auf dem Weg der philosophischen Erkenntnis enthalten die Auffassungen des jeweiligen politischen Umfeldes als Ausgangslage zwar eine zeitliche Dimension,173 stellen aber keineswegs ein geschichtsphilosophisches Phänomen dar, das mit wissenschaftlich fortschreitender Beseitigung aller Vorurteile überwunden werden kann. Wie Strauss plädiert auch Hans-Georg Gadamer für die „Anerkennung der wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens“ 174 und rehabilitiert in seiner Untersuchung der „Vorstruktur des Verstehens“ gegen die „Pauschalforderung der Aufklärung“ 175, alle Vorurteile überwinden zu wollen, nicht nur Autorität und Tradition, sondern vor allem das Vorurteil.176 Gadamer plädiert für ein Bewusstsein der Unvermeidbarkeit der Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens. Ihm geht es mit der „grundsätzlichen Rehabilitierung des Begriffes des Vorurteils“ 177 vordringlich um die Klärung der hermeneutischen Situation, in der Vorurteile als legitime Funktion des Verstehens fungieren. Da ein Text, so Gadamer, stets mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin gelesen werde, ist das Verstehen für ihn immer schon vom Vorverständnis des Interpreten und von seinen

172

Vgl. Strauss (2001a), S. 230, 233 ff., vgl. auch Bluhm (2002), S. 65 ff. Diese zeitliche Dimension zeigt sich in der Deutung von Sokrates’ „zweiter Seefahrt“ (Platon, Phaidon, 99c–d). Diese Metapher verdeutlicht, dass der Zugang zu Wissen nicht direkt über Wahrnehmung, sondern durch das dialektische Gespräch erfolge (vgl. dazu die Platon-Interpretation von Seth Benardete in: Benardete (1992)). Die „Tübinger Schule“ verwendet die Metapher hingegen als Symbol für den Aufstieg zum Übersinnlichen und für die Unterscheidung der zwei Ebenen der Metaphysik, die für Giovanni Reale die ontologische Ideenlehre und die nur mündlich vermittelte protologische Prinzipientheorie sind Reale (2000), S. 135 ff. 174 Gadamer (1990), S. 274. 175 Ebd., S. 280. 176 Vgl. ebd., S. 275. 177 Ebd., S. 281. 173

I. Das „theologisch-politische Problem‘‘

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jeweiligen Vormeinungen geprägt.178 Dem Verstehen liege dabei eine relative Bedingtheit zugrunde, die jedoch nicht als Deutungsbeliebigkeit ausgelegt werden dürfe, sondern vielmehr als kritisch reflektierte Antizipation der Sinnerwartungen, die als Vormeinungen den Zugang zum jeweiligen Text bestimmen. Für Gadamer ist eine Sache allein über Vorurteile zugänglich, weswegen sein Wahrheitsbegriff durch die Richtungsstruktur der eigenen, vorurteilsvollen Sinnerwartungen immer ein Sinngeschehen ist, wodurch es keinen vom Interpreten unabhängigen Sinn im Sinne einer Übereinstimmung von Vorstellung und Sache (adaequatio intellectus et rei) mehr geben kann.179 Die zu verstehende Sache konstituiert sich immer über die Vorurteile des Interpreten, weswegen Verstehen immer anders ist, wenn man überhaupt versteht.180 Gadamers Rechtfertigung des Vorurteils als funktionales Vorverständnis des Verstehens darf keinesfalls als Appell zu blindem Gehorsam gegenüber Texten missverstanden werden. Gadamer begründet den autoritativen Charakter des Vorurteils „in einem Akt der Anerkennung und der Erkenntnis – der Erkenntnis nämlich, dass der andere einem an Urteil und Einsicht überlegen ist und dass daher sein Urteil vorgeht, d.h. vor dem eigenen Urteil Vorrang hat“.181 Die Anerkennung der Autorität fußt auf der vernünftigen Einsicht, einem anderen bessere Einsicht zuzutrauen. Daher ist Autorität an Erkenntnis und nicht an willkürlichen Gehorsam gebunden, weswegen Vorurteile entsprechend als „legitim“ erachtet werden können. In Wahrheit und Methode rehabilitiert Gadamer zudem die Autorität der Tradition durch die Bedingtheit alles Verstehens durch die Wirkungsgeschichte. Während das Eingebundensein in die Wirkungsgeschichte die Vorstruktur des Verstehens darstellt, aus dem „sich seine [Gadamers] gesamte Hermeneutik nahezu deduzieren lässt“ 182, lehnt Strauss diese Annahme dezidiert ab. Autoren der Vergangenheit so verstehen zu wollen, „wie sie sich selbst verstehen“, ist unmöglich, wenn der Mensch immer in seine jeweilige geschichtliche „hermeneutische Situation“ eingerückt ist183 und den „Wirkungen der Wirkungsgeschichte“ 184 unterliegt. Auch wenn Strauss das autoritative Vorverständnis als Bedingung alles Verstehens befürwortet, kritisiert er Gadamer vor allem wegen seiner historistischen Auffassung des wirkungsgeschichtlich bedingten Verstehens, das zudem als eine Verschmelzung von zwei Horizonten vorgestellt wird. Während für Ga178

Vgl. ebd., S. 271 f. Vgl. dazu die Kritik Hans Krämers an Gadamer in: Krämer (2007); vgl. auch Gandner (2007), S. 112. 180 Vgl. Gadamer (1990), S. 302. 181 Ebd., S. 284. 182 Grondin (2001), S. 147. 183 Gadamer (1990), S. 307. 184 Ebd., S. 305. 179

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damer wirkungsgeschichtliche Tradition wesentlich die „geschichtliche Vermittlung zwischen der Vergangenheit mit der Gegenwart“ strukturiert,185 lehnt Strauss die Konsequenz daraus ab, dass jeder Interpret auf passive Weise „ständig in Überlieferung“ 186 steht und daher Verstehen nicht mehr als ein „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ 187 sein kann. Strauss wirft Gadamer in seinem Brief vom 26. Februar 1961 vor, dass er mit seinem Verständnis von Wirkungsgeschichte selbst einem illegitimen Vorurteil, nämlich dem des historistischen Verstehens, verfallen sei.188 Dieses vertiefe jenen „Graben“, der den Leser von der „Intention des philosophischen Autors“ trenne. Für Strauss stellt das historistische Vorurteil eine Verdoppelung der Vorurteilsstruktur, die so genannte „zweite Höhle“ dar, aus der sich der Interpret erst befreien müsse, um das proteron pros hemas, das historisch bedingte politische Umfeld des Autors, vom proteron physei, der transhistorischen philosophischen Intention, unterscheiden zu können. Die Unterscheidung zwischen proteron pros hemas und proton physis entspricht der exoterischen und esoterischen Ebene in Strauss’ Auffassung der „Kunst des Schreibens“. Da das Gemeinwesen, die „politische Höhle“ 189 auf dem Medium der doxa aufbaue, müsse der Philosoph die Meinungen seines politischen Umfelds zum eigenen Schutz und aus pädagogischen Gründen mit bedenken und in seine Lehre integrieren. Politische Philosophie habe daher eine „fully conscious form of the common sense understanding of political things“ 190 mit zu reflektieren. Die exoterische Lehre eines philosophischen Autors betreffe somit die „provisional acceptance of the accepted opinions“ 191, des proteron pros hemas, des für uns Selbstverständlichen. Indem jedoch diese Gewissheiten und Sinnstrukturen auf esoterischer Ebene hinterfragt werden, verschwindet das Selbstverständliche und erzeugt beim Leser Staunen – den Beginn des Philosophierens,192 der zum proteron physei führen kann.

185 186 187 188 189 190 191 192

Ebd., S. 295. Ebd., S. 289. Ebd., S. 295. Gadamer/Strauss (1978), S. 6. Vgl. Strauss (1989g), S. 13. Strauss (1997h), S. 12. Strauss (1988c), S. 17. Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 2, 982b; vgl. auch Platon, Theaitetos, 155d.

II. Das Politische

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II. Das Politische „Gewöhnlich wird die Tatsache übersehen, dass es ein Klasseninteresse der Philosophen qua Philosophen gibt, und dieses Übersehen ist letzten Endes der Verneinung der Möglichkeit der Philosophie zuzuschreiben.“ Leo Strauss1

Die Politikwissenschaft bestimmt sich über die pragmatische Ausrichtung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis. Dabei differenziert sie eine Reihe von methodischen Herangehensweisen sowie Einzel- und Unterdisziplinen, die sowohl empirische, praktische als auch theoretische und normative Fragen abdecken. Diesen Forschungsfeldern liegen unterschiedliche Begriffe zugrunde, die versuchen, die Realität der Forschungspraxis auf dem jeweiligen Gebiet abzubilden und ihr Gegenstandsfeld zu strukturieren. So wird in der Politikwissenschaft nicht nur zwischen den Dimensionen polity, policy und politics unterschieden,2 sondern auch zwischen Politik und dem Politischen. Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe differenziert zwischen Politikwissenschaften, die sich mit den empirischen Lösungsvorschlägen zu Fragen der Politik beschäftigen, und Politischer Theorie, die sich ideellen und normativen Ansätzen sowie dem Wesen des Politischen widmet. Der Politikwissenschaft könne daher, um mit Heidegger zu sprechen, eine ontische und dem Politischen eher eine ontologische Natur zugeschrieben werden. Politik beschäftige sich demnach mit den vielfältigen Machenschaften konventioneller Politik, während das ontologische Politische sich auf gesellschaftliche Konstitutionen beziehe.3 Im Folgenden wird sich dem Begriff des Politischen auf „ontologische“ Art genähert, da diese Herangehensweise die Unterscheidung von Leo Strauss zwischen Politikwissenschaften (political science) und Politischer Philosophie (political philosophy) aufgreift.4 Darüber hinaus befasst sich dieses Kapitel mit dem Begriff des Politischen, wie er von Carl Schmitt in seinem gleichnamigen 1

Strauss (1989g), S. 147 f. Vgl. Rohe (1994), S. 61 ff. Policy umfasst dabei die inhaltliche Dimension der Politik, was die Regierung bspw. in einem bestimmten Bereich gemäß ihrem Programm zu tun beabsichtigt. Politics hingegen versteht Politik als Regierungskunst im Sinne eines konflikthaften Prozesses um Macht und Einfluss. Während politics und policy sich auf den Handlungsrahmen beziehen, orientiert sich Politik als polity an dem ordnenden politischen Rahmen, der meistens in Form einer (rechtsstaatlichen) Verfassung gegeben ist. 3 Vgl. Mouffe (2007), S. 8. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die gleichbedeutende Verwendung von Politik und dem Politischen in: Sternberger (1984). 4 Vgl. dazu das Kapitel Politische Philosophie. John G. Gunnell unterscheidet hingegen in der Politikwissenschaft zwischen empirisch-praktischer „political theory“ und meta-theoretischer „Political Theory“. Letztere habe Strauss unter dem Namen „political philosophy“ mit seinen meta-theoretischen Fragen und unsystematischen Grundbegriffen in die amerikanische Political Science eingebracht (vgl. Gunnell (1978); Gunnell (1985)). 2

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B. „Die dialogische Stadt‘‘

Werk Der Begriff des Politischen herausgearbeitet und von Leo Strauss sowohl kritisiert als auch aufgegriffen wurde.5 Im Folgenden wird daher nicht auf den Reichtum an Spannungen und divergierenden Abgrenzungen um den Begriff des Politischen in der Politikwissenschaft eingegangen, sondern das Schmitt’sche Kriterium soll daraufhin untersucht werden, inwiefern es zu einem Verständnis von Strauss’ Politischer Hermeneutik beiträgt. 1. Carl Schmitts Der Begriff des Politischen „[T]he opposition of ,We and They‘ is essential to the political association.“ Leo Strauss6

Die im Ausgang der Weimarer Republik 1927 zuerst veröffentlichte Schrift Carl Schmitts Der Begriff des Politischen erlangte – nicht nur im deutschsprachigen Raum – sowohl großen Einfluss als auch, ihrer politischen Thematik und dem Begriff entsprechend, fundamentale Kritik. Schmitt ist es in dieser Schrift gelungen, die funktionalen und ideologisch gehandhabten Gegensätze von politischen Gemeinschaften, die sich jeweils substanziell artikulieren, so weit formalisiert zu haben, dass allein die Grundstruktur möglicher Gegensätze sichtbar wird.7 Ganz zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere erreichte Leo Strauss bereits große Aufmerksamkeit durch seine Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932). Aufgrund dieser Rezension betrachtete Schmitt Strauss als einen, der ihn „wie kein anderer durchschaut und durchleuchtet“ 8 hat, und verhalf ihm durch ein Gutachten zu einem Rockefeller-Stipendium.9 Will 5 Strauss bezieht sich in seiner Rezension Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen auf die zweite Fassung von Der Begriff des Politischen (1932). Sie wurde zuerst im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Tübingen, 6/67, S. 732–749 veröffentlicht und in Hobbes’ politische Wissenschaft. Neuwied 1965, S. 161–181 wieder veröffentlicht. Die Zitation folgt einer weiteren Wiederveröffentlichung in: Meier (1988), S. 97 ff., die, bis auf einige korrigierte Druckfehler, dem Erstdruck von 1932 entspricht. Der Begriff des Politischen wurde 1927 im Ausgang der Weimarer Republik zuerst verfasst, 1932 geändert und 1963 unverändert neu aufgelegt. Zudem gibt es eine dritte Version von 1933, über deren politisch angreifbare Äußerungen Schmitt sich bewusst gewesen sein muss, weswegen er 1963 die zweite Version nachdruckte. Im Folgenden wird aus der nachgedruckten Version von 1963 zitiert, die 2009 in einem Neusatz bei Duncker & Humblot erschienen ist. Wenn auf die beiden anderen Versionen verwiesen wird, wird mit den gängigen Abkürzungen BdP (1927) und BdP (1933) darauf hingewiesen. 6 Strauss (1997h), S. 111. 7 Koselleck (2010), S. 258 f. 8 So berichtet der Jurist Günther Krauss, dass Schmitt ihn seinerzeit auf die Lektüre von Strauss’ Anmerkungen hingewiesen habe (zitiert in: Meier (1988), S. 158). 9 Zum Rockefeller-Stipendium vgl. die drei erhaltenen Briefe von Strauss an Schmitt in: Meier (1988), S. 131 ff. Karl Löwith bemerkt in einem Brief an Strauss vom 28.

II. Das Politische

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man das „Politische“ in Strauss’ Politischer Hermeneutik verstehen, kommt man um seine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt nicht herum, weswegen der Begriff des Politischen und vor allem die Anmerkungen an dieser Stelle ausführlich behandelt werden. Zunächst sei darauf verwiesen, dass es divergierende Lesarten bezüglich des Verhältnisses und der theoretischen Ansätze zwischen Schmitt und Strauss gibt. Dass der Unterschied beider Positionen zwischen politischer Ideengeschichte bei Strauss und politischer Praxis bei Schmitt liege, wie John McCormick behauptet,10 muss nicht nur aufgrund der von Schmitt hervorgehobenen formalen Grundstruktur des „Politischen“ zurückgewiesen werden, sondern ebenso hinsichtlich seiner späteren Schriften, in denen er sein politisches Denken gerade nicht als allgemeingültige, konkrete Handlungsanweisungen für die politische Praxis versteht. Auch die äußerst polemische Darstellung Shadia Drurys, die kaum einen Unterschied zwischen dem „Nazijuristen“ Schmitt und dem „Lehrer der Tyrannis“ Strauss sehen kann und möchte, ist gerade in der Bestimmung des politischen Ordnungsdenkens genauer zu betrachten. Denn Drury meint, bei Strauss eine eindeutige und inhaltlich enge Verbindung zu Schmitts politischem Denken aufweisen zu können, indem sie ihm unterstellt, dass er dem Feind, vor allem dem inneren Feind, einen zentralen Platz zuweist.11 Viel offensichtlicher ist jedoch, dass beide Denker eine Liberalismuskritik verbindet, die Strauss letztendlich dazu veranlasste, sich mit Schmitt zu beschäftigen.12 Die Antworten der beiden fallen hingegen in fundamental unterschiedlichen Lösungsansätzen aus, die Heinrich Meier in der Analyse Carl Schmitt, Leo Strauss und ,Der Begriff des Politischen‘. Zu einem Dialog unter Abwesenden (1988) sowie in Die Lehre Carl Schmitts (1994) kontrastiert.13 Beide eint eine

Juni 1956, dass er dessen Spinozabuch mit handschriftlichen Randbemerkungen von Carl Schmitt aufgefunden hätte, in denen Schmitt auf der ersten Seite drei mehr oder weniger fragwürdige Begegnungen aufgelistet hat (vgl. Strauss (2001d), S. 683). Über die vorbereitenden Treffen zwischen Schmitt und Strauss in Berlin zwischen November 1931 und Juli 1932 informieren nunmehr Schmitts folgende Tagebucheinträge in: Schmitt (2010b), S. 149, 159, 170 f., 181, 195, 200 ff. 10 Vgl. McCormick, S. 22. Darüber hinaus unterstellt McCormick Schmitt und Strauss ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. 11 Drury (2005), S. xxi. Weniger polemisch als Drury, jedoch ebenfalls von einer engen Verbindung der beiden ausgehend, gibt Robert Howse einen Überblick aus rechtswissenschaftlicher Perspektive über das Verhältnis von Strauss und Schmitt in: Howse (1997). 12 Vgl. hierfür vor allem Schmitts scharfe Liberalismuskritik in Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916), insbesondere Schmitt (1991b), S. 63 ff. 13 Meier führt diese Gegenüberstellung in seinem Aufsatz Eine theologische oder philosophische Politik der Freundschaft? (1998) fort, die über die theologisch-philosophische Kontrastierung hinausgeht, indem er eine Strauss’sche „Politik der Freundschaft“ auf einen „Begriff des Politischen“ zurückführt, der vom Freund her konzipiert wird.

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B. „Die dialogische Stadt‘‘

Bejahung des Politischen, wobei sie sich jedoch in den Antworten, der Politischen Theologie Carl Schmitts und der Politischen Philosophie Leo Strauss’, auf existenzielle Art gegenüberstehen. Strauss kritisiert den Begriff des Politischen von 1932 zunächst dafür, dass Schmitt dem liberalistischen Denken verhaftet bleibe und es ihm scheinbar nicht gelinge, einen Horizont jenseits des Liberalismus zu finden.14 Grund dafür sei, wie Strauss in seiner einzigen Fußnote bemerkt, dass Schmitt kein „angemessenes“ 15 Verständnis von Thomas Hobbes und in ihm nicht den grundlegend antipolitischen Denker erkannt habe.16 Hobbes sei der Begründer des Liberalismus, da er die Entpolitisierung und Neutralisierung zum Kern seiner politischen Theorie gemacht habe. Im Leviathan habe Hobbes eine apolitische Basis der Politik erschaffen, indem nicht nur die ehemals vorherrschende Adelstugend durch eine an Sicherheit und Frieden orientierte Bürgertugend ersetzt worden sei17, sondern damit verbunden jegliche wahrheitsbeanspruchenden Überzeugungen ins Private verdrängt und somit neutralisiert worden seien. Für Strauss ist es von äußerster Bedeutung, dass auf diese Weise die existenziell äußerst dringliche Frage nach dem richtigen Leben der Frage nach dem bloßen, sicheren Leben gewichen ist. Schmitt, so zeigt es Meier in seiner Rekonstruktion des Dialog unter Abwesenden, sei sich jedoch durchaus darüber im Klaren gewesen, dem Liberalismus einen Gegenentwurf entgegenstellen zu müssen, der gerade nicht auf Elemente des liberalen Denkens baut. Deswegen verzichte Schmitt auf eine systematische, „erschöpfende Definition“ und liefere nur einen vorläufigen Ausgangspunkt für eine sachliche Erörterung.18 Dementsprechend macht Schmitt in seinem Vorwort zur Auflage von 1963 erneut darauf aufmerksam, dass „alles, was hier zum Begriff des Politischen gesagt wird, nur ein ,unermessliches Problem theoretisch encadrieren‘ soll“.19 Für das Politische soll ein formaler Rahmen abgesteckt werden, in dem Kriterien entwickelt werden, um bestimmten – scheinbar rechtswissenschaftlichen – Fragen eine Topik ihrer Begriffe zu geben. Strauss ahnt an die14 Meier (1988), S. 125. Heinrich Meiers Rekonstruktion des Dialogs unter Abwesenden fußt auf der Annahme, dass Schmitt mit seiner Version von 1933 auf die Strauss’sche Kritik geantwortet und darin seine Position der Politischen Theologie kenntlicher gemacht hat. Gerade durch den aufgeworfenen Punkt, inwiefern Hobbes als politischer oder antipolitischer Denker zu verstehen sei, war Schmitt dementsprechend zutiefst daran interessiert, ob Strauss seinen Aufsatz Die vollendete Reformation gelesen und die theologische Herausforderung verstanden hat (FN 153 in: Meier (2009), S. 184). Zur Diskussion von Schmitts Politischer Theologie und Strauss’ Politischer Philosophie vgl. Kapitel Politische Philosophie sowie das Kapitel Carl Schmitts politischtheologische Geschichtsdeutung. 15 Meier (1988), S. 125. 16 FN 1 in: Meier (1988), S. 109. 17 Vgl. Strauss (2001c), S. 61 ff. 18 Meier (1988), S. 101. 19 Schmitt (2009a), S. 9.

II. Das Politische

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ser Stelle, dass Schmitt mehr als bloße Ausgangspunkte zu „encadrieren“ beabsichtigt haben muss, weswegen er an die Pflicht der kritischen Leser appelliert, „mehr auf das hinzuhören, worin sich Schmitt von der herrschenden Ansicht unterscheidet, als auf das, worin er bloß der herrschenden Ansicht folgt“.20 Im Begriff des Politischen bestimmt Schmitt das Politische als einen Intensitätsgrad, der in eine Freund-Feind-Gruppierung münden kann. Dabei ist das Politische nicht als ein „eigenes Sachgebiet“ 21 neben anderen aufzufassen, sondern als ein formales Kriterium, dessen Letztunterscheidung, auf die sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, die Unterscheidung von Freund und Feind ist.22 Während 1927 die Unterscheidung von Freund und Feind noch genauso neben anderen Differenzierungen von „Sachgebieten“ steht, wie etwa „schön und hässlich“ oder „moralisch und unmoralisch“, grenzt Schmitt in der Version von 1932 „Sachgebiete“ von der Eigenständigkeit des Politischen ab: „Jedenfalls ist sie [die Bestimmung des Politischen] selbstständig, nicht im Sinne eines eigenen neuen Sachgebietes, sondern in der Weise, dass sie weder auf einem jener anderen Gegensätze oder auf mehreren von ihnen begründet, noch auf sie zurückgeführt werden kann.“ 23

Das Politische wird total, da letztendlich alles, vom wirtschaftlichen Streit bis zum wissenschaftlichen Disput, politisch werden kann.24 Das Politische als Kriterium ist demnach an kein bestimmtes Themengebiet gebunden, so dass sich jede Gruppierung potentiell bis hin zum äußersten Intensitätsgrad der Freund- und Feindschaft politisieren kann.25 Das Politische zeichnet sich durch seine Formalität aus und liefert dissoziative Endpunkte möglicher Antithesen, ohne diese konkret zu bestimmen. Reinhart Koselleck wie auch Heinrich Meier betonen, dass es sich um Erkenntniskategorien der symmetrischen Gegenpositionen handelt, die sich durch die Selbst- bzw. Feindbestimmung herausbilden. Konkretisiert 20 Dass Strauss diese Selbstbezeichnung des Aufsatzes als „Ausgangspunkt“ nicht entgangen ist, betont er in den Anmerkungen in: Meier (1988), S. 101. 21 In der ersten Fassung von 1927 steht „das Politische [. . .] selbstständig als eigenes Gebiet neben anderen“ (Schmitt, BdP 1927, S. 238). Unter „Gebieten“ versteht Schmitt „Sachgebiete menschlichen Denkens und Handelns“ wie Wirtschaft, Moral und Kunst, die durch eigene Letztunterscheidungen ausdifferenziert sind, was nicht nur auf einen Vergleich, sondern sogar auf die äußerst fragwürdige Unterstellung hinauslief, die Luhmann’sche Systemtheorie vorweggenommen zu haben (vgl. Brodocz (2002)). 22 Schmitt (2009a), S. 25. 23 Ebd. 24 Für Hobbes können „Überzeugungen des Wahren, Guten und Gerechten die schlimmsten Feindschaften bewirken“ (ebd., S. 60). Hobbes weist im Leviathan auf die Gefahr des Bürgerkrieges hin, dass alles, aber vor allem wissenschaftliche Disputationen um der Wahrheit willen kriegsauslösend werden könnten, die daher zugunsten von Frieden und Sicherheit unterdrückt werden müssten. Strauss hat in dieser Hinsicht recht, wenn er Hobbes in seiner einzigen Fußnote in den Anmerkungen als den unpolitischen Denker bezeichnet (vgl. FN 1 in: Meier (1988), S. 109). 25 Schmitt (2009a), S. 36.

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werden diese formelhaften Begriffe durch die „geschichtliche Erfahrung einer asymmetrischen Auffüllung der beiden Wortfelder“ 26 oder durch die existenzielle Selbsterkenntnis, die den Menschen politisch ganzheitlich bestimmt.27 Ganzheitlich bedeutet für Schmitt dabei zunächst, dass das Politische suprapolitisch alle Sachgebiete betreffen kann und demnach der Begriff des Politischen vom Begriff des Staates notwendig getrennt werden muss: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ 28

Mit dieser provozierenden Eingangsthese zeigt Schmitt, dass das Politische nicht mehr vom Staat her definiert werden kann und daher eine weitere konkretere Bestimmung des Staates nicht mehr erforderlich ist.29 Vielmehr ist zu beachten, dass Schmitts Begriff des Politischen den Begriff des Feindes voraussetzt, den er auf das anthropologische, theologische Grunddogma der radikalen Sündhaftigkeit des Menschen zurückführt, dem als ein von Grund auf böses Wesen unterstellt werden muss, potenziell jeden im äußersten politischen Grad töten zu können.30 Das „anthropologische Glaubensbekenntnis“ 31 von der Boshaftigkeit des Menschen kann für Schmitt in seiner Letztbegründung allein im Ermessen des Glaubens liegen. Die hinsichtlich politischer Ordnungen stets mitzubedenkende Möglichkeit der Tötung aufgrund der radikalen Boshaftigkeit des Menschen bestimmt Schmitt als Erkennungsmerkmal aller „einzig wahren“ politischen Theorien, zu denen er vor allem Machiavelli, Hobbes, Cortés, aber auch Hegel zählt. Aus der Gefährlichkeit des Menschen leitet sich für Schmitt das Bedürfnis nach einem starken Staat ab, so dass seine Konzeption des Politischen als 26

Koselleck (2010), S. 258 f.; vgl. auch Manemann (2002), S. 221. Meier (2009), S. 51 ff. 28 Schmitt (2009a), S. 19. Mit diesem Satz verweist Schmitt auf die Differenzierung zwischen Politik im Sinne von policy als eine an den Staat gebundene, ordnende Institution und zwischen dem ordnungsbestimmenden Politischen, das dieser vorausgeht. 29 Schmitt belässt es bei der kurzen und knappen Umschreibung des Staates als eine nach innen geschlossene Einheit, die von einem Souverän regiert wird und von anderen Souveränen als geschlossene Einheit erkannt wird (vgl. Schmitt (2009a), S. 22 ff.). Zum Verfall des Staates als „Großbetrieb“ und der Durchmischung von Staat und Gesellschaft vgl. Schöneberger (2003). 30 Schmitt (2009a), S. 60. Hobbes betont in einem ganzen Kapitel im Leviathan, dass sich kein Mensch im Vertrauen auf seine Kraft überlegen fühlen könne, da selbst der Schwächste stark genug sei, den Stärksten zu töten – entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen. Selbst wenn nicht jeder ein Mörder ist, so müsse der Ausnahmefall, dass einer unter vielen so handeln könnte, mit bedacht werden (vgl. Kapitel XIII in: Hobbes (2008), S. 94 ff.). Der Mensch des christlichen Glaubens ist der gefallene Sünder, der von Gott verstoßen wurde und nun als erlösungsbedürftiges Wesen auf die Gnade Gottes angewiesen ist. Eine Annahme, den Menschen zum Guten erziehen zu können, ist für Schmitt genauso fraglich wie die Position des Juristen, der innerhalb des gesetzlichen Rahmens dem Menschen bis zum Gegenbeweis Gutes unterstellen muss (unus quisque praesumitur bonus) (vgl. Schmitt (2009a), S. 59). 31 Schmitt (2009a), S. 54; aufgenommen von Strauss in den Anmerkungen in: Meier (1988), S. 112. 27

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eine grundlegende gegenseitige Bedingung von Feind- und Gemeinschaftsbewusstsein verstanden werden kann.32 Durch die grundsätzliche Gefährlichkeit des Menschen zeichnet sich die Feindschaft, und entsprechend das Politische, durch „die reale Möglichkeit des Kampfes“ 33 aus. Dies meint Schmitt nicht metaphorisch als eine bloße Konkurrenz oder eine geistige Auseinandersetzung, sondern als den aus Feindschaft resultierenden Kampf, der als „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ „auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung“ hinauslaufen kann.34 Schmitts Position darf jedoch nicht bellizistisch aufgefasst werden, da das Politische weder einen konkreten Krieg noch eine an Clausewitz angelehnte Aufforderung zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln meint. Indem das Politische von dem äußersten Extremfall der kriegerischen Feindschaft her gedacht wird und erst von diesem möglichen Kampf die existenzielle Konsequenz deutlich wird, setzt der Krieg vielmehr das Politische voraus.35 Das menschliche Leben gewinne, so Schmitt, von diesem möglichen Extremfall erst seine spezifisch politische Spannung und konstituiere daraus seine „maßgebende“ Einheit.36 Diese Einheit kann sich aus den moralischen, ökonomischen oder anderen Sachgebieten bilden, „wenn der Gegensatz stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren [. . .] [und] in der klaren Erkenntnis der eigenen, dadurch bestimmten Situation und in der Aufgabe, Freund und Feind richtig zu unterscheiden“.37 Das Politische bestimmt sich dabei aus dem Ernstfall, einem Feind gegenüberzustehen. Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem existenziellen Sinn zu verstehen – weder als Metaphern noch abgeschwächt wie z. B. als wirtschaftliche Konkurrenten oder Diskussionsgegner.38 Was und wer der Feind konkret ist, der die Bedingung für die Sphäre des Politischen schafft, kann daher von Schmitt über seine rein formale Grundstruktur hinaus nicht weiter konkretisiert werden.39 32 Ladwig (2003), S. 50. Anders als im Hobbes’schen Naturzustand ist bei Schmitt der äußerste Intensitätsgrad der Feindschaft kein bellum omnium contra omnes, in dem jeder gegen jeden kämpft, sondern eine Zuspitzung zum bewaffneten Kampf zwischen Gruppen oder Gemeinschaften. Während der Begriff des Feindes in Der Begriff des Politischen noch als außenpolitische Feindschaft gedeutet werden kann, nimmt der Feind in Schmitts späteren Schriften immer individualistischer geprägte Züge an. 33 Schmitt (2009a), S. 31. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 33. 36 Ebd., S. 33, 36, 41, 42 ff. 37 Ebd., S. 35; vgl. die Abweichungen zum BdP 1927 und BdP 1933, auf die Heinrich Meier in: Meier (2009), S. 51 aufmerksam macht. 38 Vgl. Schmitt (2009a), S. 27. 39 Eine einzige Definition, die Schmitt im Begriff des Politischen für den Feind darlegt, erfolgt nur in einer Fußnote, die wiederum nicht von Schmitt direkt, sondern von Hegel stammt: „[Der Feind] ist die sittliche (nicht im moralischen Sinne, sondern vom

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In Bezug auf die existenzielle Konsequenz für das menschliche Leben sei darauf hingewiesen, dass Schmitt im Begriff des Politischen den Feind über die politische Gruppierung als öffentlichen Feind und nicht als privaten Gegner betrachtet. „Für den Einzelnen als solchen gibt es keinen Feind, mit dem er auf Leben und Tod kämpfen müsste, wenn er persönlich nicht will.“ 40

Er bezieht sich etymologisch auf die Unterscheidung zwischen echthros und polemios41 und verweist auf Platons Differenzierung in der Politeia zwischen dem Krieg zwischen Staaten (polemos) und dem innerstaatlichen Aufruhr (stasis).42 Stasis meint dabei auch den Krieg unter Menschen, die durch Verwandtschaft, Herkunft (oikeion kai syngenes) oder ehemals freundschaftliche Bande verbunden sind, während polemos der Krieg zwischen Fremden ist. Neben dem Distinktionsgrad „öffentlich und privat“ gibt es demnach auch den Grad familiärer Bekanntheit, der vor allem in Schmitts späterer Schrift Die Theorie des Partisanen (1963) durch den autochthonen Charakter der regionalen Herkunft und Abstammung des inneren Feindes eine tragende Rolle spielt. Die Theorie des Partisanen ermöglicht es, auch Bekannte oder gar Verwandte als Feinde denken zu können, die dann „eben der andere, der Fremde“ 43 werden. Die Trennung von polemos und stasis kann dabei als Feindbegriff nicht länger aufrechterhalten wer-

,absoluten Leben‘ im ,Ewigen des Volkes‘ aus gemeinte) Differenz als ein zu negierendes Fremdes in seiner lebendigen Totalität“ (ebd., S. 58). 40 Ebd., S. 65. Eine politische Einheit existiert nur, wenn sie aus sich selbst heraus, nicht durch einen Fremden von außen zwischen Freund und Feind unterscheiden kann. Dies ist eine öffentliche Unterscheidung, „denn ein Privatmann hat keine politischen Feinde“ (ebd., S. 49). 41 Mit Unterscheidung zwischen polemios und echthros kann Schmitt das christliche Gebot „Liebet eure Feinde (agapate tous echthrous hymon)“ für sinnvoll erachten: „Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird. Feind ist hostis, nicht inimicos im weiteren Sinne; polemios nicht echthros. [. . .] Den Feind im politischen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen, und erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen ,Feind‘, d.h. seinen Gegner zu lieben“ (ebd., S. 28). Ansonsten erweist sich Schmitts Versuch, den Feind-Begriff etymologisch herzuleiten, als unmöglich. Außer in der deutschen Sprache (fijan – hassen) sei der Feind sprachlich nur negativ als Nicht-Freund bestimmbar, was andererseits wiederum die Notwendigkeit umso mehr hervorhebt, den Feind richtig erkennen zu können (vgl. ebd., S. 35). 42 Platon, Politeia, 470b–c. Was Schmitt an dieser Stelle nicht explizit erwähnt, ist der Gedanke, dass polemos durch Sieg oder Niederlage Ordnung schafft, während stasis die Ordnung zerstört (vgl. FN 5 in: Schmitt (2009a), S. 27). Allerdings ermahnt Platon die Bürger seines idealen Staates dazu, sich feindlich gegenüber Feinden zu verhalten, indem er fordert, dass man den Feinden so begegnen müsse, wie jetzt die Hellenen (d.h. eigentlich die echthroi) untereinander. Obwohl Schmitt auf diese Politeia-Stelle wegen ihrer polemios-echthros-Distinktion verweist, werden die Begriffe bei Platon vermischt. 43 Ebd., S. 26.

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den, wodurch die Notwendigkeit, den Feind richtig erkennen und bestimmen zu können, umso stärker hervortritt. Schmitt genügt es demnach nicht, das Politische „nur“ 44 als Intensitätsgrad zu bezeichnen, da es viele agonale Auseinandersetzungen gibt, ohne dass das „Anderssein des Fremden“ „die Negation der eigenen Existenz“ bedeuten würde. Wenn alles der Gradualisierung des Politischen unterliegt und alles potentiell den Intensitätsgrad der Feindschaft mit der „realen Möglichkeit der physischen Tötung“ erreichen kann, stellt sich die Frage, an welchen Kriterien Schmitt das „Wesen des Feindes“ festmacht. Schmitt nennt dabei in der Fassung von 1932 die „Höhepunkte der großen Politik“ als „Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird“.45 Der Feind wird erkannt, wenn er als Negation des eigenen Wesens, der eigenen Identität festgestellt wird. Feindschaft als intensivste Dissoziation des Politischen erkennt so den Feind als „den Anderen“, der kraft seines bloßen Seins das eigene Sein negieren kann. Daraus folgt die Aufgabe des „richtigen Erkennens und Verstehens“ 46 des Feindes zunächst durch das Erkennen der eigenen seinsmäßigen Art, die es zu bewahren gilt. Heinrich Meier verweist an dieser Stelle auf Schmitts subtile Korrekturen, die von der politischen, staatlichen Einheit wegführen.47 In der Erstfassung von Der Begriff des Politischen 1927 sei es noch der politische Feind, der im Konfliktfall die Negation der eigenen Art von Existenz bedeute. 1932 könne jeder „nur selbst entscheiden [. . .], ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktfall die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren“.48 Das Anderssein des Feindes bedeutet die Negation der eigenen Existenz, so dass das Politische von einem staatlichen Gebietskonzept entkoppelt als Intensitätsgrad existenziell für Gruppierungen aller Art werden kann. Wen Carl Schmitt mit dem Feind meint, fand Jacob Taubes hingegen nicht in seinen großen und lautstarken Texten, sondern vielmehr in seinen gebrochenen Konfessionen, die unter dem Titel Ex Captivitate Salus 1950 erschienen sind.49 In diesem „kleinen Büchlein“, das er in der Gefangenschaft geschrieben hatte, als er „wie das so üblich war, ,befragt‘ wurde und einer demokratischen Umerziehung unterworfen werden sollte“ 50, findet Schmitt jene sich in seinen Schriften

44 Ebd., S. 36. Meier verweist darauf, dass Schmitt 1933 das „nur“ gestrichen habe (BdP 1933, S. 21), zitiert in: Meier (1988), S. 35. 45 Schmitt (2009a), S. 62. Als historisches Beispiel eines solchen Moments der Feindbestimmung nennt Schmitt Cromwells Kampf gegen das papistische Spanien. 46 Ebd., S. 35. 47 Vgl. Meier (1988), S. 31 und 34 ff. 48 Schmitt (2009a), S. 26. 49 Taubes (1987), S. 7. 50 Ebd., S. 13.

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bereits herauskristallisierende Neubestimmung des Feindbegriffs. Wird er im Begriff des Politischen eben noch als „der Andere, der Fremde“ 51 bestimmt, so ist es in Ex Captivitate Salus „unsere eigene Frage als Gestalt“ 52. Um den wahren Feind erkennen zu können, muss die eigene Frage einer Gruppierung erkannt werden. Die Aufgabe, Freund und Feind richtig zu unterscheiden, setzt Wissen über den Feind voraus, der nun als der charakterisiert wird, der die jeweils eigene Existenz in Frage stellt und negiert. In diesem Sinne setzt Meier für die Bestimmung des Feindes Selbsterkenntnis voraus, indem die eigene Identität einer politischen Gruppierung maßgebend durch das bestimmt wird, was diese seinsmäßig negiert.53 Der Feind als „die eigene Frage in Gestalt“ kann somit nicht gänzlich fremd, sondern allein grundsätzlich anders sein. Insofern kann laut Manemann das „Feinddenken als Ort der Selbstvergewisserung“ verstanden werden.54 2. Die Position des Politischen „Worüber also müssten wir uns wohl streiten und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden? [. . .] Es ist wohl dieses, das Gerechte und Ungerechte, das Edle und Schlechte, das Gute und Böse.“ Platon55

Da Carl Schmitts Beschäftigung mit dem Politischen auf seine Kritik am Liberalismus zurückgeht, deutet Strauss die Hervorhebung der Möglichkeit einer seinsnegierenden Feindschaft als Absage an die Existenz des Bourgeois. Es gehe Schmitt um den „Verzicht auf die Sekurität des status quo“ 56 in einer endgültig pazifizierten und entpolitisierten Welt. Strauss bezieht sich dabei vor allem auf folgende Aussage:

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Schmitt (2009a), S. 26. Schmitt (1950b), S. 90. Der Vers stammt aus Theodor Däublers Sang an Palermo aus der Hymne an Italien (1916). Schmitt greift diese Formel in der Theorie des Partisanen wieder auf: Ein jeder Krieg, ob nun Zweifrontenkrieg oder Bürgerkrieg, wirft die Frage auf, „wer denn nun der wirkliche Feind ist. Ist es nicht ein Zeichen innerer Gespaltenheit, mehr als einen einzigen wirklichen Feind zu haben? Der Feind ist unsere eigene Frage in Gestalt“ (Schmitt (2006), S. 87). 53 Meier (2009), S. 80. Durch diese Bestimmung des Feindes nicht als Staatsfeind unterstellt Raphael Gross, dass Schmitt sich damit auf den innenpolitischen Feind beziehe und der wahre Feind demnach die Juden sind, die durch die rechtliche Gleichstellung in Deutschland eben nicht mehr eigentlich die „anderen“ bzw. „die Fremden“ sind (vgl. Gross (2005), S. 306). Gross interpretiert daher auch die Formel, der Feind ist unsere eigene Frage in Gestalt, auf die Juden. 54 Manemann (2002), S. 226. 55 Platon, Eutyphron, 7c–d. 56 Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen in: Schmitt (2009a), S. 85. 52

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„[H]ört [. . .] die Unterscheidung von Freund und Feind auch der bloßen Eventualität nach auf, so gibt es nur noch politikreine Weltanschauung, Kultur, Zivilisation, Wirtschaft, Moral, Recht, Kunst, Unterhaltung, usw., aber weder Politik noch Staat.“ 57

Das menschliche Leben liefe auf die Hervorbringung einer „Welt der Unterhaltung, des Amüsements, einer Welt ohne Ernst“ 58 hinaus. Zwar könne es, so Schmitt, noch „mancherlei vielleicht sehr interessante Gegensätze und Kontraste geben, Konkurrenzen und Intrigen aller Art, aber sinnvollerweise keinen Gegensatz, auf Grund dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte“.59 Strauss betont in seinen Anmerkungen Schmitts „Ekel vor dieser Interessantheit, die nur möglich ist, wenn der Mensch vergessen hat, worauf es eigentlich ankommt“.60 Eine Verständigung um jeden Preis sei nur möglich, wenn darauf verzichtet werde, die eigene Frage, die Frage nach dem richtigen Leben zu stellen, die, wenn ernsthaft gestellt, einen Kampf auf Leben und Tod evozieren könne. Demnach ist das Politische, folglich die Freund-Feind-Gruppierung, in der Frage nach dem Richtigen begründet.61 Schmitt wiederum bestätigt Strauss’ Interpretation in einer Fußnote im Anhang zur Ausgabe von 1963: „In seiner Besprechung von 1932 [. . .] S. 745 legt Leo Strauß den Finger auf das Wort Unterhaltung. Mit Recht. Das Wort ist hier ganz unzulänglich und entspricht dem damaligen unfertigen Stand der Reflexion. Heute würde ich Spiel sagen, um den Gegenbegriff zu Ernst (den Leo Strauß richtig erkannt hat) mit mehr Prägnanz zum Ausdruck zu bringen . . . In allen diesen Darlegungen wäre Spiel mit play zu übersetzen und ließe noch eine, wenn auch konventionelle Art von Feindschaft zwischen den ,Gegenspielern‘ offen.“ 62

Heinrich Meier merkt dazu an, dass der „Gegenspieler“ kein angemessener Ersatz für den „Feind“ sein kann.63 Auch wenn „Spiel“ gegenüber „Unterhaltung“ den Vorzug einer konventionellen Feindschaft als Antagonismus habe, so fehle ihm der Bezug auf die „reale Möglichkeit der physischen Tötung“ 64 und es mangele ihm deswegen an Ernsthaftigkeit. Schmitt und Strauss sind sich somit einig in der Absage an die entpolitisierte Welt, in der Sicherheit, Komfort, Unterhaltung und Interessantheit den „Status quo“ bilden und das menschliche Zusammenleben auf eine „Konsum- und Produktivgenossenschaft“ 65 reduziert wird. Strauss stellt sich die Frage, was verloren geht, wenn Friede und Sicherheit um den Preis grundsätzlicher Neutralisierung und des Verzichts auf jegliche Kon57 58 59 60 61 62 63 64 65

Schmitt (2009a), S. 51. Strauss, Anmerkungen in: Meier (1988), S. 118. Schmitt (2009a), S. 33; Strauss, Anmerkungen in: Meier (1988), S. 118. Ebd. Ebd., S. 121. FN 51 in: Schmitt (2009a), S. 111 f. Meier (1988), S. 52. Schmitt (2009a), S. 31. Schmitt (2009a), S. 54.

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flikte gezahlt wird. Demnach nähme das „Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ dem menschlichen Leben jeglichen Ernst und Sinn: „Die Verständigung um jeden Preis ist nur möglich als Verständigung auf Kosten des Sinns des menschlichen Lebens; denn sie ist nur möglich, wenn der Mensch darauf verzichtet, die Frage nach dem Richtigen zu stellen; und verzichtet der Mensch auf diese Frage, so verzichtet er darauf, ein Mensch zu sein. Stellt er aber die Frage nach dem Richtigen im Ernst, so entbrennt angesichts ,der unentwirrbaren Problematik‘ (90) dieser Frage der Streit, der Streit auf Leben und Tod: im Ernst der Frage nach dem Richtigen hat das Politische – die Freund-Feind-Gruppierung der Menschheit – seinen Rechtsgrund.“ 66

Indem Schmitt hinsichtlich der Charakterisierung des menschlichen Lebens im „Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ auf die hegelsche Bestimmung des Bourgeois verweist, „der die Sphäre des unpolitisch risikolos-Privaten nicht verlassen will“ 67, lässt sich darin eine auffallende Ähnlichkeit zum post-historischen Menschen Alexandre Kojèves sehen, zu dem sowohl Strauss als auch Schmitt in Kontakt standen.68 Dieser geht in seiner inzwischen berühmt gewordenen zweiten Fußnote der Introduction à la lecture de Hegel davon aus, dass der dialektische Prozess der Geschichte in der bereits gegenwärtigen liberaldemokratischen Wohlstandsgesellschaft des American Way of Life an seinem Ende angekommen sei. Da mögliche religiöse, politische oder philosophische Wahrheitsansprüche zur „Privatsache“ erklärt würden, könne es keine sich ändernden und daher bestreitbaren Grundsätze mehr geben. Ähnlich Strauss’ Diagnose, verschwindet in diesem Sinne das Menschliche des Menschen,69 da sich der post-historische Mensch mit dem bloßen sicheren Leben begnügt und nicht länger nach dem richtigen Leben oder nach menschlicher Exzellenz strebt.70 Das eigentlich ersehnte marx’sche „Reich der Freiheit“, in dem die Menschen sich vorbehaltlos als Gleiche anerkennen, deutet Kojève 1962 als Rückkehr des Menschen in den Zustand der Animalität, mit dem sich das „post-historische Tier der Spezies Homo sapiens (die im Überfluss und in voller Sicherheit leben werden) [. . .] per definitionem zufrieden geben wird“.71

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Strauss, Anmerkungen in: Meier (1988), S. 120. Schmitt (2009a), S. 58. 68 Die Fußnote zu dieser Fußnote ist die einzige Änderung, die Kojève zur zweiten Auflage der Introduction à la lecture de Hegel als Note de la Seconde Edition, S. 436– 437, ergänzt. Diese Passage wird nach der deutschen Übersetzung zitiert: Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Textanalytik (1980), S. 286–289. Strauss und Kojève verband eine enge Freundschaft seit Strauss’ Studienaufenthalt in Paris 1933, die sich in der gemeinsam veröffentlichten Auseinandersetzung über das Wesen der Tyrannis De la tyrannie (Paris, 1954) sowie einem umfassenden Briefwechsel zeigt. Zur Auseinandersetzung zwischen Strauss und Kojève vgl. Kapitel Hermeneutische Politik. 69 Kojève-Fußnote in: König (1980), S. 286. 70 Ebd., S. 287; Hervorhebung im Original. 71 Ebd.; Hervorhebung im Original. 67

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Sowohl Schmitt als auch Strauss befürchten eine weitreichende Entpolitisierung, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Bei Strauss steht dabei die von Kojève72 erwähnte Gefährdung des Menschen als Mensch im Vordergrund. In der entpolitisierten Welt der Sicherheit, des Friedens und des Genusses erkennt Strauss die Welt von Nietzsches „letztem Menschen“, der unter den Möglichkeiten seiner menschlichen Natur bleibt und dem es nicht länger gelingt, seine vornehmsten und vorzüglichsten Fähigkeiten auszubilden.73 Das Leben in Sicherheit und Komfort gefährdet die Möglichkeit des zukünftigen philosophischen Lebens, da eine zetetische Suche nach der Wahrheit nicht länger erstrebenswert erscheint. Während einer Japanreise entdeckte Kojève im Snobismus und Leben nach total formalisierten Werten eine Möglichkeit, um letztendlich auch im Posthistoire „menschlich“ bleiben zu können. Dem Menschen müsse es gelingen, rein formal im „Gegensatz von Subjekt und Objekt“ zu bleiben, selbst wenn das „das Seiende negierende Handeln“ verschwinde. Während Kojève dazu aufruft, „die Formen von ihren Inhalten zu lösen“, um „sich selbst als reine ,Form‘ sich selbst und den anderen als irgendwelche ,Inhalte‘ entgegenzusetzen“ 74, mangelt es dieser Lösung für Strauss an Ernsthaftigkeit, da es kein „seinsnegierendes“ Gegenüber mehr gebe, das eine andere Existenz radikal in Frage stellen kann. Strauss braucht diese existenzielle Herausforderung, da es nur auf diese Weise eine bewusste Entscheidung für das philosophische Leben geben kann. Die Notwendigkeit, die eigene Position des philosophischen Lebens zu kennen und diese rechtfertigen zu können, indem ernsthaft die Frage „Warum Philosophie?“ beantwortet werden kann, stellt für Strauss die fundamentale Bedingung für sein Verständnis von Philosophie dar, das beansprucht, nicht willkürlich zu sein.75 „[E]ine echte Entscheidung im Unterschied zu einer unechten oder verächtlichen Entscheidung [ist] nichts anderes als eine bestimmte oder todernste Entscheidung.“ 76

Carl Schmitt hingegen sieht im entpolitisierten „Zeitalter der Sekurität“ 77 den widergöttlichen Versuch, das Paradies auf Erden errichten zu wollen. In der Er72 Letztendlich beeinflusste Strauss Kojève zur kritischen Betrachtung der enthumanisierenden Folgen des „Ende der Geschichte“ (vgl. Kapitel Hermeneutische Politik). 73 Strauss (1997h), S. 4 ff.; vgl. auch Strauss/Kojève (2000), S. 211–215, 223, 226 ff. 74 Kojève-Fußnote in: König (1980), S. 289; Hervorhebung im Original. 75 An dieser Ernsthaftigkeit der Lebensgestaltung, die das Politische begründet, wird deutlich, dass der Ansatz von Chantal Mouffe in On the Political nicht das Politische im antagonistischen Sinne meint, sondern, wie sie es ja zumindest selbst im Text beschreibt, das Agonistische. In Mouffes Entwurf gibt es zwar noch jene Kontraste und Konflikte, über die noch gestritten wird, die aber den ernst zu nehmenden Endpunkt des Intensitätsgrades, die reale Möglichkeit der physischen Tötung, vermeiden. 76 Strauss (1989g), S. 6; vgl. auch Strauss (1997h), S. 110 f. 77 Der Begriff stammt aus Theodor Däublers Nordlicht (1910).

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gänzung von 1933 erwähnt Schmitt die augustinische Maxime, dass „man in diesem Leben keine volle Sicherheit erwarten soll“.78 Politische Versprechen nach „Frieden und Sicherheit“ verbindet Schmitt mit dem Antichrist, der „Christus nachzuahmen weiß und sich ihm so ähnlich macht, dass er allen die Seele ablistet“.79 Der Antichrist triumphierte, wenn es ihm gelänge, die Menschen davon zu überzeugen, dass der Gegensatz von Freund und Feind für immer überwunden sei und sie sich nicht mehr für oder gegen Christus entscheiden müssten. Indem Schmitt sich für das Politische einsetzt, möchte er keineswegs den anarchischen Hobbes’schen Naturzustand befürworten, sondern plädiert vielmehr für „einen eschatologisch konzipierten Stand der Geschichtlichkeit“ 80, der einer anspruchsvollen, existenziellen Entscheidung bedarf. Mit der Bejahung des Politischen eröffnet der Politische Theologe Schmitt somit die „schicksalshafte“ Entscheidungsschlacht der menschlichen Existenz. Die aufs Ganze zielende Positionierung des Politischen als Politische Theologie widerspricht der Parzellierung des Politischen in „autonome Kulturprovinzen“: Das Politische kann nicht im Nebeneinander der „Kulturen“ gefunden werden, in denen nichts „moderner“ ist als der Kampf gegen das Politische. Auf diesen „kulturellen“ Aspekt geht Strauss drei Jahre später in seinem Werk Philosophie und Gesetz (1935) in einer eindeutigen Absage an Julius Guttmanns Konzept der „Kulturen“ ein: Der nicht auflösbare oder synthetisierbare Konflikt zwischen Offenbarungsglaube und Philosophie könne nicht kulturell, sondern müsse politisch verstanden werden. In der Bejahung des Politischen nimmt Strauss eine Position für den Konflikt der beiden grundsätzlich unvereinbaren Lebensweisen ein und stellt sich gegen Gesellschaften, die annehmen, dass das Profane entweder völlig vom Heiligen absorbiert werden könne, oder in denen das Heilige in eine kulturelle Sphäre verdrängt werden könne.81 Was mit der Emanzipation der Philosophie von der Religion begonnen habe, münde nach Erschaffung einer Wohlstandswelt in reine Zweckrationalität und Gleichgültigkeit gegenüber der grundlegenden, nun aber privatisierten theologischen Alternative. Die parzellisierte Welt der „Kulturphilosophien“ und „Welt78 „[. . .] würde also die Unterscheidung von Freund und Feind auch der bloßen Eventualität nach ganz aufhören, so hätten die Menschen die volle Sicherheit ihres diesseitigen Lebensgenusses erreicht. Der alte Satz, dass man in diesem Leben keine volle Sicherheit erwarten soll – plena securitas in hac vita non expectanda – wäre überholt“ (Schmitt, BdP 1933, 36). Augustinus verwendet „Pax et securita [. . .]“; vgl. dazu die Verheißungen des Antichrist, Friede und Sicherheit etablieren zu können in: (1. Thess. 5,1–6). 79 So beschreibt Schmitt den Antichrist in: Schmitt (1991b), S. 65 f. 80 Meier (1988), S. 56. 81 Dieses Argument findet sich bei Strauss auch in seiner Auseinandersetzung mit Hermann Cohen wieder, den er als Fürsprecher für ein „kulturelles“ Verständnis von „Jerusalem“ und „Athen“ aufgrund seines Werkes Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten (1924) erachtet (vgl. dazu vor allem Strauss (2004a), S. 398).

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anschauungen“ verschließt sich jeglichem Wahrheitsanspruch, der aufs Ganze zielt. Strauss bejaht das Politische, wie es Carl Schmitt als Unterscheidung von Freund und Feind eingeführt hat, um auf die existenzielle Entscheidung der Philosophie hinzuweisen.82 Philosophie muss letztendlich politisch werden und sich ihrer Aufgabe bewusst werden, den Feind richtig erkennen zu können, der sie existenziell in Frage stellt. Der Feind als „unsere eigene Frage in Gestalt“ ist demnach das „Gute im Bösen“ 83, das zur Selbsterkenntnis und zu einer reflektierten und gerechtfertigten Lebensweise zwingt. Erst der existenziell radikal herausfordernde Feind gibt dem philosophischen Leben den notwendigen Anreiz zur Selbstbefragung und zur Selbsterkenntnis.84 In einem brieflichen Nachtrag an Schmitt vom 4. September 1932 zur Rezension von 1932 ergänzt Leo Strauss mit der Bitte um nachsichtige Kenntnisnahme folgenden Einwand: Wenn man von der ursprünglichen und wesenhaften Bosheit des Menschen ausgehe und daraus auf Herrschaftsbedingungen schließe, so sei die einigende Einheit immer ein notwendiger Abschluss gegen andere. Die Abschließungstendenz der Freund-Feind-Gruppierung sei somit von Natur gegeben.85 Strauss wendet an dieser Stelle ein, dass das Politische als exklusive Gruppenbildung nicht mit dem konstitutiven Prinzip im Sinne einer Ordnung verwechselt werden dürfe, sondern nur als Bedingung dieses Gemeinwesens zu sehen sei. Das Politische als reine Freund-Feind-Unterscheidung lasse sich im Sinne von polis nicht aufrechterhalten. Hierin wird der Unterschied in Schmitts und Strauss’ Ansatz deutlich: Zwar kritisiert auch Strauss die Implikationen des „Zeitalters der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ und bejaht das Politische aus Gründen der Notwendigkeit einer philosophischen Rechtfertigung. Bezüglich der Ordnung des politischen Gemeinwesens versucht er jedoch einen gänzlich anderen Weg als Schmitt zu gehen. Die politische Ordnung ist nicht von den Bedingungen der Feindschaft und des Ausnahmefalls her zu denken, sondern vom Normalfall einer transhistorisch gültigen konstitutiven Ordnung, weswegen Strauss nach der besten Ordnung in den Texten der klassischen Autoren sucht. Auch wenn Schmitt keine „zeitlose Wesenbestimmung“ beabsichtigt, sondern Kriterien, „um den Stoff und die Situation nicht aus den Augen zu verlieren“ 86, weise, so Meier, ein verstärktes Ordnungsdenken in der dritten Version von 1933 nach, dass Schmitt diesen Einwand, wie erbeten, nachsichtig zur Kenntnis genommen habe. Auch wenn Harald 82

Meier (1988), S. 178 sowie Meier (2000). So Meier (1988), S. 189. 84 Die Frage nach dem richtigen Leben basiert demnach nicht allein auf der SelbstBefragung, sondern ist wesentlich politisch bedingt; vgl. Strauss (1997b), S. 412. 85 Vgl. dazu Strauss (1997h), S. 70. 86 Schmitt (2009a), S. 9. 83

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B. „Die dialogische Stadt‘‘

Bluhm bestreitet, dass ein zeitgleiches Ordnungs- und Differenzdenken des Politischen vereinbar ist,87 zeigt der „Dialog unter Abwesenden“, wie ihn Heinrich Meier rekonstruiert hat, und vor allem Schmitts später Aufsatz Die vollendete Reformation die Möglichkeit, dass sich eine Bejahung des Politischen und ein grundsätzlich gegensätzliches politisches Ordnungsdenken nicht ausschließen müssen. Ob diese Ordnung jedoch theologisch oder philosophisch begründet ist, stellt den radikalen Gegensatz zwischen Schmitt und Strauss dar. Das letzte Wort hat, allein in diesem Abschnitt, Schmitt mit seinen letzten Worten in den Ausgaben von 1932 und 1963: Ab integro nascitur ordo. Letztendlich entscheidet die Auffassung, was „integres Wissen“ ist, aus dessen Kraft „die Ordnung der menschlichen Dinge“ entstehen kann, über ein politisch-philosophisches oder politisch-theologisches Ordnungsdenken.88 3. Philosophische Politik der Freundschaft „[T]he philosopher is as philosopher in need of friends.“ Leo Strauss89

Das Verständnis des Politischen bei Leo Strauss ist aufgrund seines Differenzund zugleich Ordnungsdenkens zwar ambivalent, aber nicht widersprüchlich: Als Differenzdenken im Sinne der existenziellen Unterscheidung in Freund und Feind begegnet er damit den entpolitisierenden Tendenzen, indem er von der philosophischen Lebensweise eine bewusste und gerechtfertigte Positionierung einfordert. Andererseits geht es Strauss um ein politisches Ordnungsdenken, das auf „integres Wissen“ baut, das er nicht von der Ausnahme, sondern vom Normalfall her denkt. Darüber hinaus ergänzt Strauss in diese Ordnung seine Überlegungen zu einer „sociology of philosophy“, indem er fragt, welchen Platz die Philosophie im politischen Gemeinwesen einnimmt, wenn sie sich selbst als „Klassengemeinschaft der Philosophen“ versteht.90 Unter diesen drei Aspekten des Politischen bedingen sich Differenz- und Ordnungsdenken wechselseitig. Als Politischer Philosoph begründet Strauss seine Philosophie der politischen Ordnung mit der Wesensbestimmung des Menschen, die Aristoteles gleich zu Beginn seiner Politik aufführt: Der Mensch als rationales Wesen (zoon logon echon) ist von Natur aus ein zoon politikon und bedarf anderer.91 Nur in der 87

Bluhm (2002), S. 96. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen in: Schmitt (2009a), S. 87. Heinrich Meier verweist auf Vergil, Ecloga 4, 5 als Quelle des Zitates in FN 136 in: Meier (2009), S. 256. 89 Strauss/Kojève (2000), S. 194. 90 Strauss (1989g), S. 147 f. 91 „Der Mensch selbst ist die Sozialität“ (Strauss (1989g), S. 133). Insofern gibt es für Strauss ein natürliches Zusammenleben des Menschen vor aller Kultur als einen vorkulturellen status naturalis (vgl. Meier (1988), S. 106). Das Gemeinwesen habe ihren 88

II. Das Politische

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Gesellschaft könne sich der Mensch gemäß der menschlichen Exzellenz selbst verwirklichen – einerseits aus Gründen der Arbeitsteilung, andererseits aus der Notwendigkeit der Selbstbeschränkung durch äußeren Zwang.92 Denn nicht jeder sei in der Lage, ein „tugendhaftes“ Leben, das nur durch Zügelung der niederen Impulse erfolgen könne, zu leben. Das politische Zusammenleben liegt daher in dem Bedürfnis begründet, ein „tugendhaftes“ Leben zu führen, wobei sich die Menschen in ihrer naturgegebenen Fähigkeit, diese Tugend zu verwirklichen, unterscheiden, so dass aus der Unfähigkeit einiger, untugendhaftes Verhalten aus sich selbst heraus zu unterbinden, politischer Zwang notwendig wird. Dementsprechend sucht und beschreibt Strauss’ philosophische Politik die Grenzen der menschlichen Freiheit, welche durch die menschliche Natur bedingt sind.93 „Die politische Aktivität ist dann richtig geleitet, wenn sie die menschliche Vervollkommnung oder Tugend zum Gegenstand hat. Somit hat die Polis letzten Endes kein anderes Ziel als das Individuum.“ 94

Catherine und Michael Zuckert verstehen das „Politische“ bei Strauss als „politische Philosophie“ im Sinne des antiken Ordnungsdenkens der politeia, das sich an der Natur orientiert.95 Indem sie allerdings das Differenzdenken lediglich auf die In- und Exklusion politischer Ordnungen beziehen, bestreiten sie, dass Strauss’ Verständnis des Politischen etwas mit der Freund-Feind-Dissoziation von Carl Schmitt zu tun hat.96 Sie erkennen dabei nicht, dass sich Strauss’ Ordnungsdenken, gerade im Hinblick auf eine „Soziologie der Philosophie“, auf ein Differenzdenken im Sinne Schmitts existenzieller Freund- und Feindbestimmung gründet. Die Zuckerts akzentuieren hingegen, dass eine naturgegebene politeia eine geschlossene Gesellschaft von kleiner Größe sein müsse, wenn sie es denn mit der Verwirklichung des „tugendhaften“ Lebens ihrer Bürger ernst meine. „Eine Gesellschaft, die darauf abzielt, die Vervollkommnung des Menschen zu ermöglichen, muss durch gegenseitiges Vertrauen zusammengehalten werden, und Vertrauen setzt Bekanntschaft voraus. [. . .] Ebenso wie das natürliche Vermögen des

Ursprung in menschlichen Bedürfnissen, die ein einzelner alleine nicht erfüllen könne, weswegen der Ursprung des Zusammenlebens von Menschen demnach im Einzelinteresse jedes Einzelnen liege (vgl. Strauss (1997h), S. 94; Aristoteles, Politik, 1278b; vgl. auch Platon, Politeia, 369c). 92 Strauss (1989g), S. 134. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 138. 95 Zuckert/Zuckert (2008), S. 191. Strauss gehe daher wie Aristoteles von einem „Primat“ des Politischen aus, indem er den Menschen als politisches Wesen beschreibt und darauf sein Ordnungsdenken aufbaut, während Schmitt mit Bezug auf Hobbes’ Souverän eine gänzlich andere Politik vertrete. Den Zuckerts gelingt es nicht, Differenz- von Ordnungsdenken zu trennen, so dass sie die Gemeinsamkeit hinter den gegensätzlichen Ordnungsvorstellungen nicht erkennen. 96 Ebd., S. 193.

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B. „Die dialogische Stadt‘‘ Menschen zu unmittelbarer Erkenntnis, so ist seine Kraft der Liebe oder des aktiven Interesses von Natur aus begrenzt.“ 97

Eine Gesellschaft, die sich am menschlichen Wesen orientiert, müsse daher eine geschlossene sein, da unmittelbare Kenntnis für das Verhältnis zwischen Freiheit, wechselseitiger Verantwortung sowie Überwachung bzw. Begrenzung von Handlungen unentbehrlich sei.98 Das Politische verstehen sie demnach letztendlich allein in Form einer policy unter den Kriterien der Freund- und Feindschaft. Dies ist zwar ein wichtiger Aspekt in Strauss’ philosophischer Politik, im Sinne einer philosophischen Reflexion der politischen Ordnung vernachlässigt jedoch das Anliegen seiner Politischen Philosophie, Philosophie als eine dem politischen Leben grundlegend entgegengesetzte Lebensführung im politischen Gemeinwesen zu verorten. Ausgehend von einer geschlossenen Gesellschaft vergleicht Strauss in seiner philosophischen Politik das Politische mit der Position von Polemarchos aus Platons Politeia, der auf die traditionelle Auffassung für Gerechtigkeit rekurriert, Freunden Gutes zu tun und Feinden zu schaden.99 Die Freund-Feind-Distinktion ist somit konstituierend für das politische Wesen eines guten und gerechten Gemeinwesens, da jede Gesellschaft eine partikularistische Entität sei, die sich in ihrer Identität von anderen Gesellschaften unterscheide und diese ausschließe.100 So verstanden wäre Gerechtigkeit nicht in jedem Gemeinwesen die gleiche, sondern könne sich immer nur auf die jeweils eigene beziehen.101 Strauss hebt in The City and Man hervor, „[that] the opinion of Polemarchos properly understood is the only one among the generally known views of justice discussed in the first book of the Republic which is entirely preserved in the positive or constructive part of the Republic“.102 Auch wenn die Distinktion von Freund und Feind demnach ein grundlegendes Kriterium ist, das sich durch den gesamten Dialog Politeia zieht, muss diese Auffassung „richtig verstanden“ (properly understood) werden. Strauss betont hierbei aus dem direkten Kontext der Politeia Platons Analogie zu einer Räuberbande,103 97

Strauss (1989g), S. 134 f. Mittelbare Kenntnis in größeren geschlossenen Gesellschaften setze hingegen voraus, dass die Individuen der politischen Masse als „Massenmenschen“ vereinheitlicht würden (ebd., S. 135). 99 Platon, Politeia, 332d. 100 Zur Anwendung der Distinktion von Freund und Feind auf politische Gemeinschaften in anderen platonischen Dialogen vgl. Platon, Klitophon, 410b und Lysis 213a–c. 101 Vgl. Strauss (1997h), S. 73. 102 Ebd., S. 70. Diese Schwierigkeit besteht nicht für Kephalos, der das Wissen über die Gerechtigkeit auf die Götter vertraut. Keine gesellschaftliche Verbindung kann für Strauss bestehen, wenn es keine „höhere“ Begründung der Gerechtigkeit unter ihren Mitgliedern gibt als den Freunden zu helfen und den Feinden zu schaden (vgl. ebd., S. 71 ff.; Platon, Politeia, 375b–376e). 98

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die ebenfalls das gleiche Gerechtigkeitskriterium verwendet und demnach als gerecht verstanden werden müsste, wenn es denn kein Drittes gibt, auf das sich diese Distinktion bezieht. Die polis sei jedoch wesentlich von der Räuberbande verschieden, da ihr Ziel nicht die kollektive, selbstsüchtige Bereicherung an materiellen Gütern, sondern die Vervollkommnung des Individuums sei. Mit diesem klassischen Tugendideal begründet Strauss sein Ordnungsdenken normativ. Da der normative Endzweck jedoch eine geschlossene Gesellschaft voraussetzt, folgt diese policy einer In- und Exklusion, die zu einer Freund- und Feinddistinktion führen kann. Doch auch wenn die Zuckerts davon ausgehen, dass Strauss allein in diesem Sinne einer policy Schmitts Kriterium des Politischen aufgenommen hat, liegt in dem Bezug auf das Dritte, das bei Platon das Gute ist, ein für die Philosophie existenzieller Differenzierungsaspekt zugrunde: denn nur „im Ernst der Frage nach dem Richtigen hat das Politische – die Freund-Feind-Gruppierung der Menschheit – seinen Rechtsgrund.“ 104 Im Weiteren unterscheidet sich Strauss nicht nur durch seine philosophische, naturrechtliche Herangehensweise an ein normatives Ordnungsdenken von Schmitt, sondern vor allem dadurch, dass er dieses vom Freund her denkt, während Schmitt die „Sphäre des Politischen letzten Endes von der Möglichkeit eines Feindes bestimmt“ 105. Den Freund lässt er, obwohl er eine Auseinandersetzung mit ihm anfangs ankündigt, im weiteren Verlauf seines Werkes außen vor. Hinsichtlich Schmitts Auffassung, dass der Begriff des Feindes dem des Politischen vorausgehe, bemerkt Strauss, dass „jede Gesamtheit von Menschen“ sich erst darum nach Freunden umsehe, da sie seit eh und je Feinde habe und das Wesen politischer Beziehungen stets von einer konkreten Gegensätzlichkeit ausgehe.106 Der Feind sei darum dem Freund vorrangig, weil „zum Begriff des Feindes“ – und nicht schon zum Begriff des Freundes als solchen – „die im Bereich des Realen liegende Eventualität des Kampfes“ gehöre und das Leben des Menschen aus eben dieser extremsten Möglichkeit des Ernstfalls seine spezifisch politische Spannung gewinne.107 Die Konstitution der Freundschaft lässt sich für Strauss hingegen nicht vom Ausnahme- und Extremfall her denken, da Freundschaft ohne normative Bindung 103

Platon, Politeia, 351c. Meier (1988), S. 121. 105 Schmitt (2009a), S. 59; vgl. Sternberger (1980). 106 Schmitt (2009a), S. 27, zitiert von Strauss in: Meier (1988), S. 104; vgl. auch Strauss (1997h), S. 70: „One might say for instance that every human being has friends from the moment of his birth, namely his parents [. . .], and therewith enemies, namely the enemies of his family: to be a human being means to have friends and enemies.“ 107 Schmitt (2009a), S. 31, zitiert von Strauss in: Meier (1988), S. 104. Analog zur Vorrangigkeit des Feindes für das Politische, betrachtet Schmitt die Rechtstheorie und -praxis, die notwendig aus der Negation des Rechts hervorgeht. Die Rechtsüberschreitung sei alles andere als ein „Primat“ des negierten Rechts, sondern mache Recht überhaupt erst denkmöglich (vgl. Schmitt (2009a), S. 14). 104

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nicht auskommt, die auf gewissen Vorstellungen und Erwartungen aufbaut, die wiederum Zeit bedürfen, um gegenseitiges Vertrauen durch deren Erfüllung und Entsprechung zu erlangen. Gemäß Strauss kann der Philosoph kein gänzlich zurückgezogenes Leben führen, weil er einerseits auf Spezialisierung durch Arbeitsteilung angewiesen ist und er andererseits gleichgesinnte Freunde braucht, um sich seiner Überzeugungen zu vergewissern und diese gemäß dem logon didonai vor anderen zu rechtfertigen.108 Während Schmitt im Der Begriff des Politischen sich nur in aller Kürze auf etymologische Spurensuche begibt, um den Freund vom Sippengenossen und Blutsverwandten herzuleiten109, versucht Strauss, das Wesen der Freundschaft philosophisch zu verstehen. Allerdings betont Strauss, dass es überaus schwierig sei, Freundschaft als ein objektivierendes „speaking about“ zu definieren, da Freundschaft vornehmlich subjektiv als ein „speaking to“ stattfinde.110 Das Verständnis von „Freundschaft“, auf das es Strauss letztendlich in seinem naturrechtlichen Ordnungsdenken ankommt,111 lässt sich aus dem platonischen Dialog Lysis112 ableiten, der mit „Über die Freundschaft“ (peri philias) untertitelt ist. In diesem verwickelt Sokrates die Jünglinge Menexenos und Lysis in ein Gespräch, um das Phänomen der Freundschaft mit all seinen Facetten zu verstehen, vor allem, wie und aus welchen Gründen jemand des anderen Freund wird.113 Platon betont zunächst den Aspekt der Gegenseitigkeit: Freundschaft (philia) sei im Gegensatz zur Liebe (eros) reziprok, da niemand mit jemandem befreundet sein könne, wenn der andere dies nicht ebenfalls wünschen würde.114 Ein weiterer Aspekt im Lysis setzt sich damit auseinander, welche Ursache und welchen Zweck Freundschaft hat. Philia wird hier nicht länger unter dem Punkt diskutiert, wer mit wem zuerst befreundet ist, sondern als ein gemeinsames Streben nach dem, was Platon als das „zuerst Geliebte“ (proton philon) bezeichnet, um deren Willen alles andere geliebt wird. Alle Bemühungen um Freundschaft sind demnach „nicht auf diejenigen Dinge gerichtet, die um etwas willen beschafft werden, sondern auf jenes, um dessentwillen alle diese Dinge beschafft 108

Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 194 f. Schmitt (2009a), S. 45. 110 Strauss (1989x), S. 29. 111 Strauss verweist auf die Anfangsszene von Platons Lysis (209d–210b) hinsichtlich des lehrbaren Charakters von Politikwissenschaft (political science) im Gegensatz zu Philosophie in: Strauss (1989t), S. 272. 112 Auch wenn Rezeptionsforschungen ergeben haben, dass Platons Lysis in der Antike kaum gelesen wurde, so übernimmt Platons Schüler Aristoteles das Konzept in der Nikomachischen Ethik und der Eudemischen Ethik und prägt dadurch das antike Verständnis der Freundschaft. 113 Platon, Lysis, 211d–212a. 114 Vgl. Nichols (2009), S. 180. „[F]riends are those who love and are loved“ (Nichols (2009), S. 169). Zur Unmöglichkeit, unwissentlich zu lieben, während einer unwissentlich geliebt werden kann, vgl. Derrida (2000), S. 28. 109

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werden“.115 Dieses Dritte stellt Platon zudem als das Gute dar, das im Lysis jedoch nicht weiter konkretisiert wird. Für Michael Bordt zeichnet sich das Wesen der Freundschaft aus dem Lysis daher nicht nur durch eine wechselseitige Beziehung zweier Menschen aus, sondern durch jenes Gute, weswegen man sich miteinander anfreundet: Das Streben nach dem Guten begründet die Freundschaft. Bordt folgert daraus, dass der nach Weisheit und nach dem Guten strebende Mensch auf freundschaftliche Unterstützung angewiesen ist, da er nicht selbst genügsam ist und als der „weder Gute noch Schlechte“ jene Mittelposition einnimmt, die im Symposion den Philosophen charakterisiert.116 Dass das gemeinsame Streben nach Wissen den Kern der Freundschaft ausmacht, zeigt ebenfalls eine Passage aus Xenophons Memorabilia, auf die Strauss mehrfach verweist.117 Dort verteidigt Sokrates seine philosophische Lebensweise gegen Antiphon vor allem in dem Punkt, dass er von seinen Schülern kein Geld nimmt. Er tue dies, da er als Lohn zwar kein Geld, aber dafür viel mehr zurückbekäme, nämlich „rechtschaffende und edle Freunde“. Wenn er etwas Gutes wisse, so lehre er es denen, von denen er glaube, sie hinsichtlich der Tugend gewinnen zu können. Die „Lehre“ erfolge im Lesen von Schriften „alter weiser Männer“, die er gemeinschaftlich mit seinen Freunden studiere. Es sei daher ein großer Gewinn, in diesen etwas Gutes zu finden und zu wissen, es mit Gleichgesinnten teilen zu können. Strauss hebt hervor, dass Antiphon nach dieser Rede bemerkt, dass Sokrates glücklich (hedone) ist. Mit dem Verweis auf diese Passage verknüpft Strauss die „Liebe zur Weisheit“ mit dem gemeinsamen Lesen „großer Bücher“, deren Studium zum philosophischen Leben und zum gegenseitigen Fragen und Prüfen anleitet.118 Der Philosoph bedarf daher Freunde,119 weil sie durch gleichgesinntes Streben nach dem Guten ihn auf etwas Gutes hinweisen oder sein eigenes Wissen prüfend in Frage stellen und ihn davor bewahren, vorschnelle Rückschlüsse als wahre Erkenntnis anzunehmen.120

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Platon, Lysis, 217a–220a. Ebd., 218a–b. Weise bzw. gut ist im strikten Sinne nur ein Gott als ens perfectissimum, während der Mensch nach Weisheit strebt (vgl. dazu Platon, Apologie, 23a; Symposion, 204a; Phaidros, 278d). Dass man aber über das Gute auch streiten kann, zeigt der Dialog Euthyphron (7c–d). Das Gute verweist hier auf das Politische als das, worüber man Freund oder Feind wird. 117 Xenophon, Memorabilia I 6,14. Vgl. vor allem das Kapitel Friends aus Xenophon’s Socrates in: Strauss (1972), S. 43 ff. sowie Strauss (1989s), S. 140; Strauss (1997h), S. 54; Strauss (1972), S. 30. 118 Strauss (1995e), S. 3. 119 Strauss/Kojève (2000), S. 194. 120 Till Kinzel überträgt diese Textstelle auf sein Konzept der „philosophischen Politik der Freundschaft“ und diese wiederum auf das Denken von Allan Bloom, der dieses Zitat auch in der Einführung seines posthum veröffentlichten Buches Love and Friendship verwendet (Kinzel (2002), S. 219). 116

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Hierbei sei zudem angemerkt, dass der Dialog Lysis nicht in einer eindeutigen Definition der Freundschaft endet, sondern vielmehr die Aufforderung enthält, das Gesagte in Bezug auf die scheinbare Aporie im letzten Abschnitt noch einmal zu überdenken.121 Er richtet sich damit an jene gleichgesinnten philosophischen Leser, die sich die Frage nach dem Wesen der Freundschaft stellen. Der Lysis enthält demnach nicht nur eine theoretische, sondern ebenso eine praktische Ebene, indem die theoretische Suche gleichzeitig eine philosophische Freundschaft entstehen lassen kann. Logos und ergon fungieren dabei als Protreptikos zum Philosophieren, indem Platon Sokrates’ mäeutische Gesprächskunst in schriftlicher Form fortführt. Gleicht man das Ziel der Philosophie mit ihren Ergebnissen ab, so könnte sie, gerade im Hinblick auf die aporetischen platonischen Dialoge, enttäuschend und nutzlos erscheinen. Strauss weist jedoch darauf hin, dass Philosophie stets von eros begleitet und emporgehoben wird.122 Das durch eros beflügelte philosophische Streben nach Weisheit ist das Leitthema der sokratischen Rede in Platons Dialog Symposion, die eros thematisch auf radikale Weise auf das begehrende Streben nach etwas Unerreichbarem verlagert. Der daimonische Halbgott Eros nimmt in Sokrates’ Rede, wie der Götterbote Hermes, eine Mittlerfunktion und zugleich eine Mittelposition zwischen Gott und den Menschen ein.123 Er wird im Symposion zum Urbild des Philosophen, der den Wert der Weisheit erkannt hat und sie deswegen begehrt, ohne sein Ziel je vollends erreichen zu können.124 Die Erkenntnis des eigenen Unwissens ist dabei die Voraussetzung für das erotisch motivierte Streben nach Wissen. Der platonische eros sollte jedoch rein geistiger Art sein und bedarf nicht nur der Mäßigung des körperlichen Begehrens wie im Phaidros,125 sondern, so betont es Strauss mehrfach, auch der Einschränkung des manisch-philosophischen Charakters: 121 Sokrates bittet seine Gesprächspartner „alles das, was wir gesagt haben, noch einmal zu überdenken“ (222e). Die scheinbare „Substanzlosigkeit“ des Lysis veranlasste Kommentatoren des 19. Jahrhunderts, die Autorenschaft Platons in Frage zu stellen. 122 Strauss (1989x), S. 40. 123 Platon, Symposion, 202e; zum Mythos vgl. 203b–204c. 124 Auch in Platon, Politeia, 486a. Strauss betont dabei, dass Sokrates selbst eine vermittelnde Position einnimmt. „[He is] one among the greatest minds who because of his common sense is the mediator between us and the greatest minds“ (Strauss (1995e), S. 6). Platons sokratische, geschriebene Reden verlangen dabei jedoch nach Interpretation, wobei wiederum eros als Vermittler zwischen Leser und Autor auftritt. 125 Platons Metapher der „Zeugung im Schönen“ verweist auf die zunächst offensichtliche Verbundenheit des eros mit dem Körperlichen und Geschlechtlichen (vgl. Platon, Symposion, 206d–207a). Auf den Geist übertragen, stellt für Strauss das Bild der „Kinder des geistigen eros“ einen Zusammenhang zur paideia her (vgl. Platon, Symposion, 209b–c). Friedrich Kittler hat es sich in seinem Spätwerk zur Aufgabe gemacht, dem kulturgeschichtlichen Wandel von einem Wissen über die Liebe (ta erotika) zu einer Liebe zum Wissen (philosophia) nachzugehen. Er schreibt es vornehmlich den attischen Philosophen Sokrates und Platon zu, Aphrodite als Symbol der zweigeschlechtlichen Liebe verdrängt und Eros an ihre Stelle gesetzt zu haben. Statt einer

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„Only in philosophy does eros come fully into its own.“ 126

Die Mäßigung des körperlichen eros verweist zudem auf eine weitere Problematik, nämlich auf das schwierige Verhältnis zwischen eros und der polis. So bemerkt Strauss in seinem Kommentar zu Platons Politeia, dass der erste Gesprächspartner, der Waffenhändler Kephalos, sich seines gerechten Lebens im hohen Alters deswegen erfreue, da er nun von den Übeln des körperlichen eros befreit sei.127 Die Verbindung zwischen eros und der polis bezieht sich im weiteren Gesprächsverlauf auf die familiären Bande und die Verteilung von Gerechtigkeit unter den daraus resultierenden Verhältnissen von Privateigentum. Platon habe daher zum Wohle des Gemeinwesens einen absoluten Kommunismus in den oberen zwei Klassen eingerichtet, der nicht nur die familiären Strukturen, sondern auch deren Ursache, den körperlichen eros, politisch kontrolliere.128 Die Parallele zwischen der Stadt und der Seele basiert auf einer wohlüberlegten Beseitigung, für Strauss sogar nahezu einer Verwünschung (curse)129 des körperlichen eros.130 Es gibt demnach eine tiefe Spannung zwischen eros und Gemeinwesen, insbesondere zwischen eros und Gerechtigkeit. Nur durch dessen politische Einhegung lasse sich die „gerechte Stadt“ verwirklichen, da eros seinen eigenen Gesetzen gehorche und sich nicht leichtfertig politischen, eugenischen Prokreationsprogrammen sowie der Abschaffung von Privateigentum und Privatsphäre unterordnen lasse. Das schwierige Verhältnis zwischen polis und eros liegt in dem scheinbaren Widerspruch begründet, dass die polis keine gänzlich körperlich-erotische Assoziation sein kann, obwohl sie diese voraussetzt.131 Beide, die politische wie auch die erotische Assoziation, sind exklusiv, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Liebende ziehen sich aus ihrem Umfeld zurück, ohne dabei die anderen abzulehnen. Das Gemeinwesen hingegen kann sich nicht aus ihrem Wirkungsbereich gänzlich zurückziehen, sondern kann sich nur als „das andere“ anderen Verbindungen gegenüberstellen und diese ablehnen.132 Die exklusive politische Assoziation ist demnach wesentlich eine „Wir-Sie“-Gegenüberstellung,

Nachahmung der Götter auf Erden sei von nun an der Fokus auf seinsvergessene Metaphysik gerichtet, die von eros beflügelt sei: Theoretische Prosa habe musikalische Poesie ersetzt (vgl. Kittler (2009)). Dementsprechend verkennt Kittler die politische Dimension der „Kunst des Lesens“ und diffamiert sie als „Ostereierkinderspiel“ rein metaphysischer Fragestellungen (vgl. Strauss (2009), S. 100). 126 Strauss (2001e), S. 90. 127 Strauss (1997h), S. 66; Platon, Politeia, 328d. 128 Strauss (1997h), S. 70: „One might say for instance that every human being has friends from the moment of his birth, namely his parents [. . .], and therewith enemies, namely the enemies of his family: to be a human being means to have friends and enemies.“ Vgl. auch ebd., S. 95. 129 Ebd., S. 111; Platon, Politeia, 329b. 130 Strauss (1997h), S. 111. 131 Ebd. 132 Ebd.

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die dem Schema der Freund-Feind-Distinktion folgt, während die erotische Verbindung lediglich eine „Wir“-Assoziation ist, in der der geliebte Mensch im Vordergrund steht.133 Die politische Kontrolle des körperlichen eros in der Politeia muss jedoch von der Tatsache unterschieden werden, dass letztendlich die Erziehung der Philosophen das Verhältnis zwischen polis, körperlichem und geistigem eros zugunsten der Ermöglichung des Letzteren reflektiert.134 Hinsichtlich des geistigen eros bleibt die Spannung zwischen polis und eros bestehen, da auch Letzterer als philosophische Lebensweise einen Rückzug aus den „politischen Dingen“ verlangt. Da der Philosoph das philosophische, kontemplative Leben als sein eigentliches Ziel anstrebt, führt er ein zurückgezogenes Leben am Rande der Gesellschaft.135 Zugleich bedarf der Philosoph jedoch des Gemeinwesens, um seinem Anspruch, Wissen über das „Ganze“ zu erlangen, gerecht zu werden und um philosophisch gleich gesinnte Freunde zu finden, die zudem nicht als Philosophen, sondern als potentielle Philosophen geboren werden. Dafür muss er jedoch den Gesetzen des Gemeinwesens gehorchen, auch wenn er diese für sich als unvernünftig erkannt haben sollte.136 In dieser ambivalenten Haltung zwischen Zurückgezogenheit und Teilnahme liegt die generelle Spannung zwischen polis und geistigem eros begründet.137 Um diese zu verringern und gleichzeitig seine ebenfalls erotisch 133 Die kulturell bedingte Einschränkung des körperlichen eros ist das Thema von Sigmund Freuds Das Unbehagen der Kultur (1929/30). Als Gegensatz zur Natur erachte es die politische Kultur für notwendig, den Menschen vor seinen natürlichen Instinkten zu schützen und die Beziehungen untereinander zu regeln (vgl. Freud (1977), S. 85, 123 ff.). Der Mensch befinde sich dabei in einem politisch-erotischen Dilemma: Einerseits sei er als Mängelwesen zu Spezialisierung durch Arbeitsteilung und zum rücksichtsvollen und teilweise selbstlosen Zusammenleben gezwungen, andererseits strebe er nach seinem persönlichen Glück und nach Befriedigung des „vollsinnlichen“ Sexualtriebes (vgl. ebd., S. 79). Dieser führe zur Herausbildung kleiner, familiärer Einheiten, die mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben in einem Interessenkonflikt stünden. Die Gesellschaft müsse im Zuge der Kultivierung und fortschreitenden Spezialisierung veranlasst haben, dass der „vollsinnliche“ egoistische Sexualtrieb in der Gesellschaft entweder unterdrückt oder als „zielgehemmter Eros“ durch nicht geschlechtliche Freundschaften eingedämmt werde. Für Freud besteht ein Gegensatz zwischen (politischer) Kultur und eros, da die sexuelle Liebe ein exklusives Verhältnis anstrebt, während das arbeitsteilige Gemeinwesen auf den guten nicht geschlechtlichen Beziehungen einer größeren Anzahl an Menschen fußt (vgl. ebd., S. 95 ff.). Shadia Drury sieht ebenfalls eine Parallele von Strauss’ Ansatz zu Freuds Analyse. Jedoch bedrohe nicht nur der körperliche, sondern vor allem der geistige eros die Gemeinschaft, weswegen Philosophie und Gesellschaft sich feindlich gegenüberstünden (vgl. Drury (2005), S. 67). 134 Strauss (1997h), S. 112; Platon, Politeia, 501d. 135 Strauss (1997h), S. 27; Strauss (1989g), S. 117. 136 Vgl. Strauss (1997h), S. 128; Platon, Politeia, 519e–520b. 137 So verweist auch der tragische Fall des Sokrates auf das schwierige Verhältnis von philosophischem eros und der polis: Sokrates behauptet zwar, die Stadt Athen zu respektieren und zu lieben (philo; Apologie, 29d), wird jedoch, statt auf Gegenliebe zu treffen, zum Tode verurteilt. Unter dem Aspekt des „erotischen“ „Streben nach dem

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motivierte pädagogische Aufgabe umsetzen zu können, muss sich der philosophische eros in das Gemeinwesen integrieren können. Auf diesem Zusammenhang beruht sowohl Strauss’ Ansatz einer „sociology of philosophy“ als auch sein Verständnis von Politischer Philosophie: „Gewöhnlich wird die Tatsache übersehen, dass es ein Klasseninteresse der Philosophen qua Philosophen gibt, und dieses Übersehen ist letzten Endes der Verneinung der Möglichkeit der Philosophie zuzuschreiben. Die Philosophen halten sich als Philosophen nicht an ihre Familien. Das selbstische oder Klasseninteresse der Philosophen besteht darin, dass man sie allein lässt und ihnen erlaubt, das Leben der Gesegneten auf Erden zu führen, indem sie sich der Erforschung der wichtigsten Dinge widmen.“ 138

Strauss nimmt dementsprechend erneut Bezug auf Platons Vergleich der „gerechten Stadt“ mit einer Räuberbande und betont, dass der nach dem Guten strebende eros die traditionelle Auffassung von Gerechtigkeit als die grundlegende Distinktion in Freunde und Feinde überrage.139 Strauss unterscheidet dabei jedoch zwischen dem Streben nach dem Guten, das vornehmlich durch eros motiviert ist, und dem fürsorglichen Interesse am Gemeinwesen, was auf philia zurückzuführen ist und sich auf eine Eigenschaft bezieht, die vor allem die Regierenden auszeichnet.140 Diese Forderung darf jedoch nicht als das christliche Ideal einer universellen Nächstenliebe verstanden werden, da dieses nicht bedenkt, dass Liebe und Freundschaft große Opfer und Pflichten mit sich bringen und es dem Menschen aufgrund seiner begrenzten Kräfte und Zeit demnach unmöglich ist, jeden zu lieben.141 Dies kann nur gelingen, wenn der Wert der Freundschaft herabgesetzt wird und pauschal, ohne jede Auswahl, jedem Menschen zugesi-

Guten“ lässt sich verstehen, warum Sokrates die Stadt Athen liebt, da er es auf ein Drittes abgesehen hat. Sokrates liebt die Stadt, weil er ihre Bürger als „Hebamme des schwangeren Geistes“ (Platon, Theaitetos, 573b) zum Guten führen will. Gegenseitigkeit erhält diese Freundschaft als philia aus der bloßen Tatsache, dass Sokrates selbst Bürger dieser Stadt ist und es ihm nur recht sein müsste, wenn sich die Stadt auf das Gute hin ausrichtet. Außerdem, so betont er im Phaidros, belehre ihn die Stadt, anders als Bäume und Felder, über das politische Leben und führe ihn zur Selbsterkenntnis über jene anthropopine sophia. 138 Strauss (1989g), S. 147 f. Die Gemeinsamkeit zwischen geistigem eros und der polis besteht in Bezug auf die Natur des Menschen als ein Mängelwesen. Erst die Arbeitsteilung der polis ermöglicht das philosophische Streben nach dem Guten, was durch die Erkenntnis des Nichtwissens und das geistig-erotische Streben nach Wissen motiviert wird Strauss (1997h), S. 99; Strauss (2001e), S. 90. 139 Strauss (1997h), S. 100. Die „gerechte Stadt“ unterscheidet sich von der Räuberbande, da die Wächterklasse und die regierende Klasse von einem philosophischen eros motiviert sind, welcher auf das Gute verweist. Dementsprechend ist Wissbegier ein grundlegendes Kriterium für die Wächter. 140 Ebd., S. 102. 141 So resultiert auch für Sigmund Freud das Unbehagen vor allem an der christlichen Kultur aus der Verteufelung des eros und der universellen Forderung, den Nächsten wie sich selbst zu lieben (vgl. Freud (1977), S. 127).

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chert wird.142 Da das Sicheinlassen auf eine andere Person Zeit einfordert (chronou dei)143, in der ein gewisses Vertrauen entstehen und den jeweiligen Interessen Aufmerksamkeit geschenkt werden kann, ist für Aristoteles die Freundschaft unter vielen (en pollois) aufgrund der begrenzten Lebenszeit der Menschen nicht möglich und verlangt nach einer vorherigen Prüfung einer begrenzten Anzahl bestmöglicher Freundschaften. Auch verbietet das im Lysis dargestellte wesentliche Kriterium der Reziprozität, der gegenseitigen Anerkennung144, zur selben Zeit eine hohe Anzahl oder gar universelle Freundschaften zu haben, weswegen u. a. Ähnlichkeit ein selektives, einschränkendes Kriterium für Freundschaft darstellt.145 Mit Auswahlkriterien für Freundschaft setzt sich Jacques Derrida in seinem Werk Politiques de l’amitié (1994) auseinander.146 Eine tragende Rolle spielen dabei Selektionsmechanismen von Freundschaft, da sich bislang alle „Politiken der Freundschaft“ durch eine begrenzende Zahl auszeichneten, die zumeist auf die „natürlichen Bande“ der Herkunft oder Verwandtschaft zurückführen.147 Ausgehend von der von Aristoteles überlieferten Phrase „O Freunde, es gibt keinen Freund“ durchforsten seine Interpretationen und Dekonstruktionen die Philosophiegeschichte zu Aussagen über das Verhältnis von Philosophie, Politik und Freundschaft, angefangen von Platon und Aristoteles über Montaigne, Nietzsche bis hin zu vier Kapiteln über Carl Schmitt. Derrida dekonstruiert dabei Qualifikationen und Beschränkungen der „Politiken der Freundschaft“ und macht es sich zur Aufgabe, auf ihre Unzulänglichkeiten hinzuweisen und ihre Begrenzungen zu überschreiten.148 Das Buch mündet letztendlich in Derridas eigener Deutung des Satzes als „Es gibt niemals einen einzigen Freund“ mit Verweis auf die wechselhaften und sich immer neu herausbildenden Kriterien von Freundschaften. Heinrich Meier überträgt Derridas Begriff „Politik der Freundschaft“ auf Strauss’ Denken, wobei er keineswegs seine dekonstruktivistische Herangehensweise in irgendeiner Weise übernehmen möchte, sondern das, worauf es, gemäß

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Ebd., S. 95. Aristoteles, Eudemische Ethik, 1237b, 1238a. Vgl. auch Derrida (2000), S. 46. 144 Zum Motiv der Anerkennung als eigentlichen Grund der öffentlichen Äußerung des Philosophen vgl. Kojève, Tyranny and Wisdom in: Strauss/Kojève (2000), S. 158. 145 Aristoteles, Eudemische Ethik, 1238b. 146 Dieses Werk geht, wie es Derrida im Vorwort mitteilt, auf die erste Sitzung des gleichnamigen Seminars zurück, die er am Collège de France im Semester 1988/89 gehalten hat. 147 Derrida betrachtet dabei vor allem die Beschränkungen, die den „Politiken der Freundschaft“ zugrunde liegen. Ziel seines Werkes ist deren Überschreitung hin zu einer „démocratie à venir“, zu einer zukünftigen Demokratie, deren Wesen es ist, immer zukünftig und dadurch eine stete Herausforderung für die Philosophie der Dekonstruktion zu bleiben. 148 Vgl. Derrida (2000), S. 154 ff. 143

II. Das Politische

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Meier, Derrida eigentlich ankommt – nämlich das philosophische Fragen.149 Derrida wende sich so sehr gegen den traditionellen Kanon der Philosophie, dass er verkannt habe, dass die „Dekonstruktion zuallererst die Magd der Philosophie“ 150 sei. Indem Derrida die westliche Philosophiegeschichte hinsichtlich des Verhältnisses von Politik, Freundschaft und Philosophie dekonstruiere, bringe er gerade das Wesen der „philosophischen Politik der Freundschaft“ zum Vorschein. Deren Freundschaftskriterium zeichne sich in dem Fall durch die Frage „Was ist Freundschaft?“ aus, da eine „philosophische Politik der Freundschaft“ in der Verbundenheit philosophischer Naturen entstehe, die sich mit der philosophischen Sache, in diesem Fall der Frage nach dem Wesen von Freundschaft, befasse. Diese von Meier in Strauss’ Denken hervorgehobene „Verwandtschaft“ philosophischer Naturen wird ebenfalls von Derrida in seiner Interpretation von Ciceros Verständnis von Freundschaft aus Laelius de Amicita erwähnt. In diesem Werk ergänzt der römische Philosoph die Übereinstimmung von Interessen um die charakterliche Ähnlichkeit und versieht dieses Kriterium mit dem vorbildhaften Idealbild (exemplar), durch das der Freund einerseits als Spiegel und andererseits zugleich als Aufruf oder Korrektur des eigenen, in dem Fall philosophischen Lebensentwurfes fungiert.151 Derrida drücke zwar das, „was die Philosophen seit mehr als zwei Jahrtausenden als Lust des Denkens und als jene Freude beschrieben haben, die aus der Begegnung verwandter Naturen wächst“,152 nicht explizit aus, jedoch bezeuge sein Buch selbst, dass gerade in den dekonstruierten Aporien die Selbsterkenntnis über das eigene Nichtwissen und die daraus resultierende Frage nach dem Wesen der Freundschaft in den Vordergrund rücken. Der Aspekt der „verwandten Naturen“, die sich in ihrem durch eros motivierten Streben nach Wissen ähneln, verweist auf die ursprüngliche Assoziation von philia und oikeitos,153 in der die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft auf Freundschaft begründet ist. Dabei versteht Strauss Freundschaft, in Anlehnung an Platons Lysis, einerseits im Sinne von Gegenseitigkeit und Ähnlichkeit, andererseits zugleich über den Bezug auf etwas Drittes. Der Freund ist demnach „der

149 Meier (1988), S. 178. Till Kinzel übernimmt Meiers Ansatz in dem Kapitel Eine philosophische Politik der Freundschaft in: Kinzel (2002), S. 231 ff. Das Problem bei Kinzel ist, dass er die Gründung der „dialogischen Stadt“ auf der esoterischen Ebene als Mittel zur „philosophischen Politik der Freundschaft“ erachtet. Diese Formulierung scheint mir unglücklich gewählt, da die hermeneutische, philosophische Erfahrung, die „dialogischen Stadt“ erkennen zu können, bereits eine freundschaftliche Verbundenheit zur Philosophie und vor allem eine philosophische Natur voraussetzt. 150 Meier (1988), S. 179. 151 „[. . .] wer sein Auge auf einen Freund gerichtet hält, schaut gleichsam auf ein Vorbild seiner selbst“ (Cicero, Laelius de Amicita, 22–23). 152 Meier (1988), S. 180. 153 Vgl. dazu Sokrates’ Verständnis vom Freund als ktema in Lysis 212b nicht als „Besitz“, sondern im Sinne der prozessualen, gegenseitigen „Aneignung“ von Freundschaft (vgl. dazu Nichols (2009), S. 167 f.).

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Ähnliche“ 154, der sich durch eine dem Philosophen „verwandte Natur“ auszeichnet, die jedoch nicht durch Äußerlichkeiten, wie Gesichtszüge oder den Namen, sondern durch das Gespräch erkannt wird.155 Strauss erwähnt in einem Brief an Jacob Klein vom 7. August 1939 den Aspekt der Ähnlichkeit vor allem auch als Gleichwertigkeit in der Freundschaft (philia), da „das Höhere nicht ,Freund‘ des Niederen sein“ kann.156 Darüber hinaus ist für Strauss eine „philosophische Politik der Freundschaft“ eine „union in pure thought“ oder eine an Derrida angelehnte „Gemeinschaft ohne Gemeinschaft“ 157. Zu diesem Aspekt betont Strauss die „notwendige“ Zweideutigkeit des Begriffs „politisch“, so dass auch Meiers Bezeichnung „philosophische Politik der Freundschaft“ dahingehend doppeldeutig aufgefasst werden muss. Diese Zweideutigkeit ist für Strauss so fundamental, dass „sie sich nicht [. . .] aus der Welt schaffen lässt [. . .]. Sie hat ihren Grund darin, dass das menschliche Leben als solches Zusammenleben und damit politisches Leben ist.“ 158 Der Mensch, demnach auch der Philosoph, bedarf als zoon politikon des politischen Gemeinwesens, weswegen alles menschliche Handeln und Denken demnach politisch ist. Dennoch, so fügt Strauss hinzu, könne der Mensch im Gemeinwesen mit oder ohne Verantwortung agieren. Das „Politische“ bezieht sich daher im Weiteren auf das verantwortungsvolle politische Leben des Philosophen, der sich nicht nur vor dem Gemeinwesen, sondern sowohl vor sich selbst als auch gegenüber der gegenwärtigen und zukünftigen „Klassengemeinschaft der Philosophen“ verantwortungsbewusst verhält. Im verantwortungsvollen Umgang des Philosophen im politischen Umfeld muss dabei der Begriff „politisch“ doppeldeutig verstanden werden, da es sich einerseits um eine differenzierende Exklusion und andererseits eine integrierende Öffnung handelt. Chantal Mouffe weist in ihrem Werk On the Political auf die Notwendigkeit eines politischen Antagonismus hin, der durch die Gegenüberstellung eines „Wir“ zu einem „Sie“ kollektive Formen der Identität schaffe.159 Dabei ginge es nicht darum, (feindliche) Gegensätzlichkeiten zu überwinden, sondern sie in einer anderen Art, dem Agonismus, zu etablieren. Der Politik müsse es gelingen, Antagonismus in Agonismus zu transformieren.160 Auch wenn Mouffe den eigentlichen Grund verkennt, auf den Schmitts und Strauss’ Bejahung des Poli154

Platon, Gorgias, 510b. Vgl. Platon, Politikos, 258a. 156 Strauss (2001d), S. 575 f. 157 Strauss (1997h), S. 17; Derrida (2000), S. 119: Eine solche Gemeinschaft „geht durch uns hindurch, sie durchdringt und durchfährt uns“. Gänzlich anders formuliert Allan Bloom die „philosophische Politik der Freundschaft“ als „real community of man“ (Bloom (1987), S. 381). 158 Strauss (1997b), S. 413. 159 Mouffe (2008), S. 11. 160 Ebd., S. 19 f. 155

II. Das Politische

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tischen gründet,161 so behält sie seine zentrale These bei, dass sich politische Identitäten über die Distinktion eines Gegenübers formen: Differenz erschafft Identität. „[T]he creation of an identity implies the establishment of a difference [. . .]. Once we have understood that every identity is relational and that the affirmation of a difference is a precondition for the existence of any identity, i. e. the perception of something ,other‘ which constitutes its ,exterior‘, we are, I think, in a better position to understand Schmitt’s point about the ever present possibility of antagonism and to see how a social relation can become the breeding ground for antagonism.“ 162

Der notwendige Agonismus könne sich nur dann über eine kollektive Identität bilden, wenn es zur Demarkation ein Gegenüber gibt. Da politische Identitäten nicht gegeben sind und auch nicht feststehend vorliegen, betont Mouffe mehrfach die Abhängigkeit der eigenen Identität von einem „constitutive outside“, die nur noch einmal verdeutlicht, dass die Bedingung eines spezifischen „Wir“ immer von dem differenzierten „Sie“ abhängig ist.163 In diesem Sinne ist das Politische als identitätsstiftende und daher differenzierende Exklusion zu verstehen, die bei Strauss und Schmitt jeweils existenzielle Züge trägt, welche Mouffe abzuschwächen versucht.164 Andererseits meint der Begriff „politisch“ bei Strauss inhaltlich ebenfalls ein Ordnungsdenken, aber vor allem auch ein nach innen gerichtetes Gemeinschaftsdenken, bei dem die „sociology of philosophy“ eine tragende Rolle spielt. Die „philosophische Klassengemeinschaft“ der Freunde verbindet eine gemeinsame Beziehung zu einer Sache, in dem Fall die philosophische Sache, deren Suche durch eros motiviert ist. Ausschlaggebend für Strauss’ sokratisches Verständnis von Philosophie ist dabei, dass Sokrates immer mit anderen philosophiert: Er fragt gemeinsam mit anderen, nicht weil er diese überzeugen will, sondern weil 161 Agonismus meint hierbei eine eingeschränkte, in Schmitts Worten „gehegte“ Form des Antagonismus, die durch die Möglichkeit zur Parteinahme kontroverse Gegensätzlichkeiten zu sämtlichen Themen zulässt, die Kontraste und Konkurrenzen aller Art hervorruft, wie Schmitt prognostiziert hat (vgl. Schmitt (2009a), S. 33). „It is a real confrontation but one which is played out under conditions regulated by a set of democratic procedures accepted by the adversaries“ (Mouffe (2008), S. 21; meine Hervorhebung). 162 Ebd., S. 15. Typisch für den angelsächsischen Schreibstil, aber doch bedenkensund daher erwähnenswert im Rahmen einer Arbeit über Politische Hermeneutik ist Mouffes’ Stil, den Leser direkt als „We“ anzusprechen. 163 Ebd., S. 18 f. „A collective identity, a ,we‘, is the result of a libidinal investment, but this necessarily implies the determination of a ,they‘“ (ebd., S. 26). 164 Mouffe äußert lediglich, dass es sich bei der Gegenüberstellung gerade nicht um die äußerste Distinktion einer Feindschaft handeln muss, ist sich jedoch darüber im Klaren, dass sich jeder Agonismus zu einer Freund-Feind-Unterscheidung intensivieren könnte. Dieser äußerste Fall tritt genau dann auf, wenn eine Gruppierung von der anderen existenziell negiert und in Frage gestellt wird. Ihr Anliegen ist es jedoch, jeglichen Antagonismus in Agonismus einzuhegen, den sie in seiner abgeschwächten Form als unerlässlich für demokratische Politik erachtet.

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das „Fragen nach dem rechten Leben, d.h. das Rechenschaftssuchen und Rechenschaftgeben jedes Einzelnen über sein Leben, ob er recht gelebt hat, d.h. sich verantworten über sein Leben“ 165 nur im Austausch mit anderen erfolgen kann. Dieses Fragen nach dem rechten Leben, Prüfen der eigenen Überzeugungen sowie Überprüfen der eigenen Lebensweise ist daher kein Sich-selbst-Fragen eines einsamen, zurückgezogenen Denkers, da man sich, so Strauss, immer nur vor einer Person rechtfertigen und verantworten könne. „Das Sokratische Fragen nach dem rechten Leben ist ein Zusammenfragen nach dem rechten Zusammenleben um des rechten Zusammenlebens, um des wahren Staates, willen. Das Fragen des Sokrates ist wesentlich politisch.“ 166

Strauss ist sich der Notwendigkeit des „Politischen“ als Selektions- und Identifikationsursache bewusst, die den Einzelnen existenziell zu einer bewussten Wahl eines Lebensentwurfes zwingt. Durch diese selektive Ausgrenzung erhält die „philosophische Politik der Freundschaft“ nicht nur ihre eigene Identität, sondern schließt andere Lebensentwürfe aus und stellt sich jenen radikal gegenüber, die sich als „eigene Frage in Gestalt“ erweisen. Jedoch denkt Strauss den Ursprung der daraus resultierenden Gemeinschaftsbildung der Philosophen nicht vom Feind her, sondern von dem ihm ähnelnden Freund, der sich durch die „eigene Frage in Gestalt“, die nach dem guten Leben, ausgibt – ohne jedoch existenziell negierend zu drohen. Die Doppelung des Begriffs „politisch“ bezieht sich daher auf die Exklusion der Nicht-Philosophen einerseits, wohl wissend, dass der Philosoph als zoon politikon nicht ohne das Gemeinwesen auskommt, andererseits verweist sie auf die Inklusion der philosophischen „verwandten Naturen“, die sich wiederum aus politischen und pädagogischen Gründen dem Gemeinwesen zuwenden müssen und sich darum für die potentiellen Philosophen als offene Gemeinschaft verhalten. Die Doppelung des Politischen, ihr exklusiver und zugleich inklusiver Charakter, entspricht der Doppelung der von Meier angeführten beiden Städte in der Politeia. Diese werfen einerseits inhaltlich die Grenzen des idealen Gemeinwesens auf, erzeugen andererseits jedoch durch eine „Politische Rhetorik“ auf esoterischer Ebene ein philosophisches Gespräch, so dass eine wahrhaft „philosophische Politik der Freundschaft“ über die „dialogische Stadt“ 167 durch den Text entstehen kann und daher „not ,in deed‘ but ,in speech‘“ existiert.168 Diese be165

Strauss (1997b), S. 412. Strauss (1997b), S. 412. 167 Strauss (1988d), S. 15. 168 Meier (1988), S. 180. Der Begriff „dialogic city“ stammt von Seth Benardete (1992), S. 47, 137, 140 ff. Laut Strauss verwechselt Karl Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde die „dialogische Stadt“ (en logo) als einen Entwurf für eine konkrete Regierungsform. Demnach zitiert Strauss Cicero, dass Platons Politeia nicht das bestmögliche Regime darstellt, sondern das Wesen der politischen Dinge aufweist: „the nature of the city“. Strauss argumentiert mehrfach, dass die „dialogische Stadt“ unnatürlich sei, da sie durch eine Beseitigung des körperlichen eros ermöglicht werde. Eine 166

II. Das Politische

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stimmt sich über die existenzielle Bedrohung von außen, stabilisiert sich jedoch über die eigene philosophische Sache in der Begegnung „verwandter philosophischer Naturen“ und muss sich gerade aus diesem Grund, um Letzteres zukünftig gewährleisten können, dem exkludierten „Außen“ gegenüber öffnen und dieses mit eingliedern. Die Exklusivität der „philosophischen Politik der Freundschaft“ darf nicht kulturell oder zeitlich begrenzt verstanden werden, da eros die eine natürliche Neigung sei, „[which is] always present in every society and beyond particular social or political principles, that links us indisputably“ 169. Die Freundschaft, die in Strauss’ Politischer Hermeneutik angestrebt wird, ist jedoch vor allem durch ihre Potentialität charakterisiert. Sie richtet sich nicht ausschließlich an tatsächliche Freunde, sondern vornehmlich an zukünftige Philosophen. Sie muss eine doppelseitige Politik im Interesse der Philosophie werden, um sich vor den „Feinden“, dem politischen Umfeld, das durch religiöse Meinungen bestimmt ist, zu schützen, aber auch, um sich diesem zuzuwenden und potentielle Philosophen von dort aus abzuholen und sie für die exklusive Gemeinschaft der Philosophen zu gewinnen. In diesen beiden Sinnen, sowohl dem exklusiven als auch dem inklusiven, ist die philosophische Freundschaft von Leo Strauss als eine „philosophische Politik der Freundschaft“ zu verstehen. Ziel seiner Politischen Hermeneutik ist es wiederum, mit seinen Schriften, angelehnt an die platonischen Dialoge, eine „philosophische Politik der Freundschaft“ erzeugen zu können. Bezüglich der politischen Freundschaft unter Philosophen macht Strauss jedoch auf ein Problem aufmerksam, das durch sein strenges Verständnis von Philosophie aufgeworfen wird. Der Philosoph könne nicht absolut zurückgezogen leben, da es ihm ohne Überprüfung und Rechtfertigung seiner Überzeugungen durch andere an Gewissheit mangele. „[L]egitimate ,subjective certainty‘ and the ,subjective certainty‘ of the lunatic are indistinguishable. Genuine certainty must be ,intersubjective‘.“ 170

Da sich die antiken Philosophen noch darüber im Klaren gewesen seien, sei deren Philosophieren daher als eine „Philosophie der Freundschaft“ zu verstehen. In diesem Sinne bedarf der Philosoph Freunde, denn auch er strebt wohlgemerkt nach kritischer dialektischer Überprüfung, nach Anerkennung seines Wissens, und bedarf zugleich der Unterstützung, um nicht seiner philosophischen Lebensführung zu entgleisen. Um sich in dieser Weise gegenseitig helfen zu können, müssen sich die philosophischen Freunde nicht nur ähnlich und gleichrangig sein, unter ihnen muss zumindest eine gewisse Einigkeit bestehen. Letzteres ersolche Stadt könne niemals als realpolitischer Entwurf dienen, wie Popper behauptet hat (vgl. Strauss/Cropsey (1995), S. 60, 68 ff.; Strauss (1997h), S. 111 f.; zur Dialogizität vgl. das Kapitel Das Gespräch „verwandter Naturen“). 169 Bloom (1993), S. 14 f. 170 Strauss, Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 194.

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achtet Strauss als problematisch: Zwar bedürfe der Philosoph als Philosoph philosophisch kompetenter Freunde, die ihn in seiner philosophischen Lebensweise unterstützen, jedoch zeichne sich diese „Verwandtschaft der philosophischen Naturen“ durch bewusste Übereinstimmung, zumindest in der Überzeugung, dass das Streben nach Wissen gut ist, aus.171 Jedoch, so wendet Strauss ein, könne Einigkeit unter philosophischen Freunden nicht auf einem Konsens über eine Sache oder Angelegenheit gründen, sondern nur auf Meinungen und Vorurteilen. „Friendship is bound to lead to, or consist in, the cultivation and perpetuation of common prejudices by a closely knit group of kindred spirits. It is therefore incompatible with the idea of philosophy.“ 172

Da dies zunächst dem Strauss’schen Verständnis von Philosophie zu widersprechen scheint, muss das Verhältnis zwischen Philosophie und Freundschaft daher ambivalent betrachtet werden. Der Philosoph bedarf einerseits der Freunde, die ihm etwas Gutes mitteilen und für seine Überzeugungen Rechtfertigung verlangen, andererseits muss ihm bewusst sein, dass auch dieser Austausch ihm keine subjektive Gewissheit bieten kann. Deswegen muss der Philosoph, wenn er Philosoph bleiben möchte, entweder den „closed and charmed circle“ seiner philosophischen Freunde verlassen oder stets deren Überzeugungen im Gemeinwesen entweder vor Nicht-Philosophen oder vor anderen philosophischen Gruppen überprüfen. Indem der Philosoph die Gewissheit seiner freundschaftlichen Gruppierung hinterfragt, widersteht er der gefährlichen Versuchung, eine attraktive Lösung der Probleme anzunehmen, und gründet in diesem Moment eine „Sekte“: Amicus Plato.173

III. Politische Philosophie „Wo der Historiker vor allem den Tod des Sokrates im Sinn haben mag, kommt es dem Philosophen zu, an die Geburt der Politischen Philosophie zu denken.“ Heinrich Meier1

1. Das Problem des Sokrates O andres Athenaioi – Mit der Adressierung der „Männer von Athen“ beginnt die Apologie des Philosophen Sokrates,2 wie sie von seinem Schüler Platon auf171

Ebd. Ebd. 173 „At this moment the sectarian is born“ (Strauss, Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 196). 1 Meier (2000), S. 11. 2 Apologia Sokratous ist unter den platonischen Werken das einzige, das Sokrates im Titel nennt und in dem Sokrates einen Dialog mit der Stadt Athen führt (Strauss 172

III. Politische Philosophie

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geschrieben wurde. Aus dieser Anrede wird sofort deutlich, worum es sich in dem Prozess handelt: Es geht um das Verhältnis von Philosophie und Polis. Indem sich der Philosoph Sokrates, der selbst Bürger von Athen ist, an die Männer von Athen in den ersten Worten seiner Verteidigungsrede richtet, spricht er die Stadt an und nicht, wie üblich, die Richter. Das Gericht, vor das Sokrates im Jahre 399 v. Chr. durch den Hauptkläger Meletos gerufen wurde, bestand aus 500 ausgelosten Bürgern Athens. Er wendet sich demnach nicht an einen kleinen Kreis von Schülern oder Philosophen auf der Agora, sondern an eine unüberschaubare Menge. Vor dieser Menge von Nicht-Philosophen3 hat sich der Philosoph zu rechtfertigen, denn sie richten letztendlich über ihn. Das Gericht des Philosophen, so der Philosoph Peter Trawny, sei daher die Polis.4 Sokrates fühlt sich mit seinen 70 Jahren jedoch fremd vor Gericht, nicht nur, weil er noch nie angeklagt wurde, sondern weil das Gericht eigentlich viel mehr der Ort der rhetorisch aufgeladenen Reden der Sophisten ist. Der Philosoph ist somit fremd vor Gericht, trotzdem, dies soll im Folgenden präzisiert werden, ist es sein eigentlicher Ort.5 Da die Athener die Verteidigungsrede gespannt erwarten und bereit sind, Sokrates anzuhören, schenken sie der Philosophie, die er verkörpert, eine gewisse Aufmerksamkeit. Auch wenn sich die Polis als richtende Instanz erweist, schreibt sie der Philosophie Bedeutung zu. Würde die Polis die Philosophie ignorieren, wäre der Philosoph zu keiner Rechtfertigung verpflichtet.6 Auf der anderen Seite erkennt Sokrates wiederum das Gesetz der Stadt an, wie sich am deutlichsten in der späteren Akzeptanz seiner Verurteilung zum Tode zeigt.7 Das Verhältnis zwischen Philosophen und Polis ist demnach nicht neutral, sondern der Philosoph muss sich vor der Stadt rechtfertigen. Diese defensive Beziehung bestimmt den ambivalenten Charakter der Philosophie in der Polis. Einerseits muss sich der (1989l), S. 38). Platon verfasste die Apologie nach den Regeln der Gerichtsrede, wobei zu beachten ist, dass die konventionelle Anrede o andres dikastai an die Richter gewesen wäre. Zu den Möglichkeiten der Anrede vgl. Meyer (1962), S. 42. 3 Strauss (1989x), S. 10. Strauss weist auf den Unterschied zwischen dem aristophanischen Sokrates aus Die Wolken hin, der im Phrontisterion nur mit Philosophen spricht, und dem platonischen Sokrates, der sich auf den Straßen Athens sowohl an Philosophen als auch an Nicht-Philosophen richtet (vgl. Strauss (1996), S. 30 ff. und Strauss (2001e), S. 6). 4 Vgl. Trawny (2007), S. 67. 5 Vgl. ebd., S. 70. 6 Vgl. ebd., S. 68. 7 Die Dialoge Kriton und Phaidon thematisieren die Zeit nach dem gerichtlichen Todesurteil, in der Sokrates die Möglichkeit gehabt hätte, aus dem Gefängnis nach Thessalien zu fliehen. Nach der Flucht müsste Sokrates ein für ihn sklavisches Leben, wie im Kriton (53e) geschildert, führen. Es wäre ein Leben um des bloßen Lebens willen und kein eu zen, das nach dem Guten und Gerechten strebt. Darüber hinaus würde eine Flucht nicht nur die gesetzlich bestimmte Gerechtigkeit der attischen Rechtsordnung verraten, sondern auch seine eigene Glaubwürdigkeit in Frage stellen (vgl. dazu Strauss (1989l), S. 65 f.).

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Philosoph Sokrates vor der Stadt verteidigen, andererseits sorgt er sich um die Stadt und will sie zum Guten hin verbessern.8 Die Anklagegründe, die den richtenden Bürgern, die durch ihre Menge die Polis verkörpern, gegen Sokrates vorgetragen werden, lauten folgendermaßen: „Sokrates tut Unrecht und treibt Unnützes, indem er erforscht, was unter der Erde und am Himmel ist, die schwächere Rede zur stärkeren mache, und dies auch Andere lehrt.“ 9

Des Weiteren heißt es in der Anklageschrift, dass er rechtswidrig handle, indem er die jungen Leute verderbe und die vom Staate anerkannten Götter nicht anerkenne, dafür andere, neuartige dämonische Wesen einführe.10 Als Anklagepunkt wurde Frevel wider die Religion (asebeia) genannt, was zunächst besagt, dass Sokrates gelehrt habe, die Götter, die in der Stadt Athen verehrt wurden, nicht mehr zu ehren. Indem er „das, was am Himmel ist“, d.h. die Götter, erforsche, verderbe er zusätzlich die Jugend dahingehend, anderen gottähnlichen Wesen zu gehorchen.11 Der Philosoph ist demnach angeklagt, weil er die Jugend lehre, der konventionellen Verehrung der Götter kritisch gegenüberzustehen, und er sie zu Unglauben erziehe12 – ein Anklagegrund, der aus dem historischen Kontext Sokrates zu Recht verurteilt sieht.13 Am Anfang der Apologie weist Sokrates darauf hin, dass der Prozess gegen ihn eigentlich schon seit Jahren laufe, nämlich in Form übler Nachrede vieler Athener gegen ihn. Mit diesem Hinweis 8 Strauss’ Begriff der „philosophic politics“ als philosophische Politik meint daher nicht, an der konkreten Macht, weder beratend noch ausführend, teilzuhaben, wie es etwa Matthias Bohlender suggeriert, sondern dass die Philosophen die Philosophie vor der Stadt verteidigen (Strauss/Kojève (2000), S. 205; Bohlender (1995), S. 217). 9 Platon, Apologie, 19b. 10 Ebd., 24b. 11 Vgl. ebd., 26b. Tatsächlich betrieb Sokrates in seinen frühen Forschungen Naturphilosophie (vgl. Phaidon, 96a–97d). Vor allem interessierte in die nous-Lehre des Anaxagoras, die er jedoch aufgrund von für ihn unzureichenden Antworten aufgab und nach einem neuen Ansatz suchte, Wissen über das Wesen der Welt zu erlangen. 12 Der Prozess war auf einen Tag angesetzt und bestand zu jeweils einem Drittel der Zeit aus Anklage, Verteidigung und Urteilsfindung. Die Apologie behandelt, wie der Name vorwegnimmt, allein die Verteidigung. Die Anklage wird in Platons Schrift lediglich als Zusammenfassung der Anklagepunkte erwähnt. 13 Vgl. dazu die ausführlichere Argumentation von Cartledge (2009). Cartledge erachtet die Anklage des Philosophen Sokrates als notwendige Verteidigungsstrategie der attischen Demokratie, für die Sokrates eine Bedrohung darstellt. Aufgrund der desaströsen Niederlage 404 v. Chr. gegen das oligarchische Sparta herrschte in der 403 v. Chr. erst jüngst wieder hergestellten demokratischen Polis Athen höchste Wachsamkeit gegenüber Aufrührern, die die politisch noch instabile Lage gefährden könnten. Sokrates’ höchst unkonventionelles Verhalten sowie der politische Verrat seines opportunen Schülers Alkibiades spielten aus Sicht der attischen Bürger eine tragende Rolle, die ökonomische, soziale, politische und nicht zuletzt ideologische Krise des Gemeinwesens herbeigeführt zu haben. Gerichtsverfahren stellten darüber hinaus eine anerkannte soziale Funktion dar, den inneren Zusammenhalt der attischen Demokratie zu festigen, indem ihr durch Rechtsbeschlüsse eine sozial-politische Identität gegeben wurde.

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betont er, dass es die erwähnten Anklagepunkte sowie die Antipathie in Form von Gerüchten schon immer gegeben habe, und – wenn er es jetzt nicht schaffen sollte, sich zu verteidigen – immer geben werde, auch wenn er freigesprochen werden sollte. Mit einem alleinigen Freispruch kann sich Sokrates demnach nicht abfinden, sondern er will das Gericht von der Philosophie überzeugen und nicht durch Mitleid oder mit Geldauflagen freigesprochen werden.14 In seiner Verteidigung vergleicht sich Sokrates mit einer Stechfliege (myops)15 und will wie diese ein schönes, aber träges Pferd, die Stadt Athen, wach und aufmerksam halten. Die Stadt kann sich nicht selbst „wach halten“, indem sie selbst beurteilt, inwiefern sie gut und gerecht ist, da sie durch Konventionen gelähmt ist. Dadurch zieht er die Abneigung derjenigen auf sich, die ihn bloß als kränkende und störende Plage wahrnehmen und seinen Dienst, die Stadt auf ihre Schwächen hinzuweisen, verkennen.16 Um einen berechtigten Vorwurf gegen ihn vorbringen zu können, klagen sie ihn aus jenen altbekannten Gründen an, die schon immer gegen die Philosophiebetreibenden vorgebracht wurden: Naturphilosophie, Leugnung der Götter und Verderben der Jugend. Obwohl Sokrates in seiner Verteidigungsrede immer wieder zu beweisen versucht, dass er eine Bezahlung für sein Philosophieren für unangemessen halte und er in seinen Unterrichtungen lediglich das als für gut befundene Leben seiner Gesprächspartner hinterfrage, um sie zum guten, tugendhaften Leben zu führen,17 wird er für schuldig erklärt und zu dem vom Ankläger Meletos vorgeschlagenen Strafmaß, dem Tod durch den Schierlingsbecher, verurteilt. Für Leo Strauss verkörpert die Figur des Sokrates als provozierender Störenfried die Philosophie.18 Da es ihm in seinem herausfordernden Auftreten an kluger Vorsicht und Zurückhaltung (modesty) mangele, sei es keineswegs verwunderlich, dass Sokrates angeklagt und letztendlich zum Tode verurteilt wurde. 14 Deswegen wagt Sokrates am Ende seiner Verteidigung den provokanten Vorschlag, ihn als angemessene Strafe im Prytaneion speisen zu lassen. Statt eine Geldstrafe von 30 Minen (Apologie, 38b) zu akzeptieren, schlägt er die höchste Belohnung vor. Entgegen der Meinung, Sokrates fordere damit seinen Tod heraus, lässt sich damit erklären, dass er sich nicht mit einem bloßen Freispruch begnügen kann, da dieser ja nicht von der wahrhaften Überzeugung des Gerichts stammen kann, denn ihm hängt immer noch ein gewisser Teil der Schuldhaftigkeit an, die Sokrates nicht akzeptieren kann. Es geht ihm um das eu zen, nicht um das bloße Überleben unter den Bedingungen des Geständnisses einer gewissen Restschuld. Siehe dazu auch die Dissertation von Wadenfels (1961), S. 49. 15 Platon, Apologie, 30e. Im Menon (80a) bezeichnet Platon Sokrates’ Handeln in der Polis als Zitterrochen (narke), der durch seine Aporien die Betroffenen erstarren lässt. Sokrates weist den Vergleich mit dem Zitterrochen jedoch zurück, da dieser andere lähme, ohne selbst gelähmt zu werden. 16 Vgl. Platon, Apologie, 23d. 17 Vgl. ebd., 19d; Trawny (2007), S. 91 sowie Platon, Kriton, 48b. 18 Strauss verwendet in Bezug auf den myops treffend das Wort waspishness, um Sokrates zu charakterisieren (vgl. Strauss (1997h), S. 111).

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Vielmehr erstaunt es Strauss, dass er so lange Zeit sein provokantes philosophisches Leben in Athen führen konnte und erst mit 70 Jahren das erste Mal vor Gericht erscheinen musste. Daher sei die Schuld für sein Todesurteil nicht den entrüsteten und verärgerten Athenern zuzuschreiben, sondern die Ursache liege vielmehr bei Sokrates selbst, da es ihm nicht gelungen sei, die Stadt durch eine „kunstmäßige“ Rhetorik zu zähmen.19 Statt sich den Nicht-Philosophen methodisch auf einen ihren Erwartungen entsprechendem Niveau zu nähern, entlarvt er durch unablässiges Hinterfragen nicht nur ihr Wissen als bloßes Schein-Wissen, sondern erschüttert jene Konventionen, die die innere politische Ordnung aufrechterhalten, und beleidigt die polites durch seinen Müßiggang, indem er lieber das Wesen aller Dinge erforscht als sich um konkrete politische Dinge zu kümmern.20 Da er sich jedoch mit den politischen Dingen theoretisch befasst, bezeichnet Strauss, mit Verweis auf Cicero,21 Sokrates als den Begründer der politischen Philosophie, der sich von der Naturphilosophie abwandte und sich mit seinen ti estin-Fragen den „menschlichen Dingen“ 22 zugewandt hat, die den Kern seiner philosophischen Betrachtungen ausmachen.23 „Politische Philosophie als Abteil der Philosophie ist am nächsten am nicht-philosophischen Leben, dem menschlichen Leben dran.“ 24

In all seinen Untersuchungen versteht Strauss Sokrates jedoch nicht als den historischen Sokrates, sondern verwendet ihn vielmehr als eine Metapher für das 19 Für Strauss stellt daher die Politeia ein angemesseneres Verhältnis zwischen Philosoph und Stadt dar, indem es der Philosophie gelingt, sich mit dem streitlustigen Sophisten Thrasymachos, der für Strauss die Stadt symbolisiert, anzufreunden (vgl. ebd., S. 78). Im wahren Leben ist dies Sokrates hingegen nicht gelungen. Zur „kunstmäßigen“ Rhetorik siehe vor allem das Kapitel Strauss’ platonische Politische Rhetorik. 20 Sokrates betont, dass er selbst nicht politisch aktiv gewesen sei, weil sein daimonion ihn davon abgehalten habe (vgl. Platon, Apologie, 31d). 21 Vgl. Strauss (1996), S. 3; Strauss (1989g), S. 126, vgl. Strauss (1989g), S. 124; und auch Cicero, Tusculanae Disputationes 5, 8–10 sowie Cicero, De republica 2, 52. Strauss unterstreicht darüber hinaus Ciceros Interpretation von Platons Politeia als einen Dialog, dessen Schwerpunkt auf der Erkenntnis eben jenes wesentlichen Charakters der politischen Dinge und nicht auf der Konzeption eines Idealstaates liege (vgl. Strauss (1989g), S. 125). Zu Sokrates als Begründer des Naturrechts im Strauss’schen Sinne siehe Strauss (1989g), S. 96 ff., 124. 22 Der Begriff der politischen Philosophie als philosophia politike tritt zuerst in Aristoteles’ Politik auf, wird aber zumeist mit „politischer Wissenschaft“ übersetzt (Politik, 1282b). Darüber hinaus benutzt Aristoteles verschiedene Begriffe, um das, was zumeist unter „praktischer Philosophie“ verstanden wird, auszudrücken: politike episteme und praktike episteme (Nikomachische Ethik, 1094; Metaphysik, 1025b; 1064a; Topik, 145a), praktike philosophia (Metaphysik, 993b), die Philosophie der menschlichen Dinge (philosophia peri ta anthropina) (Nikomachische Ethik, 1181b) (vgl. Leidhold (2000), S. 425). 23 Vgl. Sokrates’ wissenschaftliche Biographie in Phaidon, 96a–97d. Sokrates war nicht der erste Philosoph; Philosophie geht politischer Philosophie voraus (Strauss (1989d), S. 160). 24 Strauss (1989x), S. 10.

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„Problem des Sokrates“, das wiederum für das theologisch-politische Spannungsfeld der Philosophie steht.25 Als Quellen dienen Strauss vor allem Aristophanes für den „vorpolitischen“ Sokrates sowie Xenophon und vor allem Platon. Der Unterschied zwischen dem „unerotischen“ und „unpolitischen“ Sokrates in den aristophanischen Komödien liegt in der Erkenntnis, dass die Philosophie stets von ihrem politischen Umfeld herausgefordert wird und daher von Beginn an nicht nur ihren Gegenstand, sondern auch die Art und Weise ihres öffentlichen Auftretens und Wirkens mit reflektieren muss.26 2. Das Politische als Gegenstand und Modus der Philosophie In dem Aufsatz What is Political Philosophy? im gleichnamigen Sammelwerk von Leo Strauss erwartet der Leser eigentlich eine Erörterung mit der Klärung der Titelfrage, was Politische Philosophie27 ist. Strauss lässt sich auf den insgesamt 46 Seiten zunächst nur auf eine vordergründige Beantwortung dieser Frage ein. So ordnet er „political philosophy“ als ein Themengebiet der Philosophie ein und bestimmt zunächst ihren Gegenstand: Gegenstand der Politischen Philosophie sind die politischen Dinge, zu denen die Grundlagen des Gemeinwesens genauso wie die Rechte und Pflichten seiner Mitglieder sowie ihre Verhältnisse untereinander, Zwecke und Mittel ihres Handelns sowie Krieg und Frieden gehören.28 In Bezug auf ihren Gegenstand ist die Politische Philosophie also ein Teil der Philosophie, jedoch ist dieser politische Teil nicht als „kulturprovinzieller“ Teil zu verstehen, sondern er umfasst die gesamte menschliche Lebenswirklichkeit, die immer in ein politisches Umfeld eingebettet ist. Als ein Teil der Philosophie strebt die Politische Philosophie, statt bloß nach Meinungen über diese politischen Dinge, nach Wissen: „If political philosophy wishes to do justice to its subject matter, it must strive for genuine knowledge of these standards.“ 29

Unter den Bereich der Politischen Philosophie fallen für Strauss nicht nur Wissen über politische Verfahren und konkrete Ordnungen, sondern genauso eine philosophische Reflexion über die politischen Meinungen, die Nicht-Philosophen

25 Meier (2000), S. 11. Da der Philosoph in diesem Spannungsfeld steht und daher nicht nur die „menschlichen Dinge“, sondern dessen Implikationen, die das „Problem des Sokrates“ darstellen, mit reflektieren muss, erklärt Strauss in seinem Aufsatz The Problem of Socrates, warum Sokrates und nicht etwa Hellodorius der Begründer der Politischen Philosophie ist (vgl. Strauss (1989s), S. 104 ff.). 26 Meier (2000), S. 11. 27 Mit der Schreibweise „Politische Philosophie“ halte ich mich an Heinrich Meier, der die Politische Philosophie im Strauss’schen Sinne durch das Setzen der Majuskel von politischen Philosophien und Theorien abgrenzt (vgl. ebd., S. 15). 28 Ebd. 29 Strauss (1989x), S. 12.

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über die politischen Dinge haben, sowie vor allem Wissen über die Natur der politischen Dinge,30 zu der vor allem die Frage nach der richtigen Ordnung zählt.31 Daher darf seine Auffassung von politischer Philosophie nicht mit dem inflationären Gebrauch der Bezeichnung für beliebige politische Meinungen, Programme und Bekenntnisse verwechselt werden, obwohl sie diese reflektiert.32 Politische Philosophie geht weit über politische Ansichten und eine historische Rekonstruktion von politischen Verfahren und Ordnungen hinaus, da es ihr um die zentrale Frage nach der richtigen Ordnung, nach dem richtigen Leben, nach dem richtigen Verhältnis von Freiheit und Herrschaft und nach der Vervollkommnung der menschlichen Natur in ihrem politischen Umfeld geht. Insofern grenzt sich Strauss von „political thought“ ab, zu dem vor allem die akademischen Felder der politischen Wissenschaft (political science), der politischen Ideengeschichte und der politischen Theorie33 gezählt werden können. „Political thought which is not political philosophy finds its adequate expression in laws and codes, in poems and stories, in tracts and public speeches inter alia.“ 34

Gerade die Geschichte der politischen Ideengeschichte, in der die politischen Philosophen der Vergangenheit sich bemüht haben, die Frage nach der besten politischen Ordnung ein für allemal, allerdings mit unterschiedlichen Ansätzen, zu beantworten, zeigt die Notwendigkeit für politische Philosophie.35 Aus dieser scheinbaren Kontingenz der sich zwar widersprechenden, aber nicht widerlegenden Antworten entspringt jedoch, wenn auch nicht auf den allerersten Blick, die philosophische Erkenntnis, dass wir über diese wichtigsten Dinge nichts wissen und sich dadurch die Aufgabe der Philosophie zeigt. Darüber hinaus lehren die unterschiedlichen Ansätze aus dem Verlauf der Geschichte die politische Philosophie, spezifische Eigenschaften des politischen Lebens einer Zeit vom Wesen der politischen Dinge unterscheiden zu müssen. Insofern trennt Strauss politische Philosophie von politischer Wissenschaft (political thought), da diese politische 30 „Political philosophy is the attempt to understand the nature of political things“ (ebd., S. 14). 31 Ebd., S. 12. 32 Meier (2000), S. 15. 33 Strauss differenziert daher in What is Political Philosophy? Politische Philosophie von anderen Formen politischen Wissens, nämlich „political science“, „political theory“ und „political thought“ (Strauss (1989x), S. 12). „Considering the contrast between the solidity of the one pursuit and the pitiful pretentiousness characteristic of the other, it is however more reasonable to dismiss the vague and inane speculations of political philosophy altogether than to go on paying lip service to a wholly discredited and decrepit tradition. The sciences, both natural and political, are frankly non-philosophic. [. . .] ,Scientific‘ political science is in fact incompatible with political philosophy“ (ebd., S. 14). 34 Ebd., S. 12. 35 Strauss (1989o), S. 62; Strauss (1989x), S. 26; zum problematischen Verhältnis zwischen Politischer Philosophie und Historismus vgl. das Kapitel Historisches Verstehen.

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Zusammenhänge zwar geschichtlich rekonstruieren oder empirisch erfassen könne, jedoch weder nach den Grundlagen und der Natur der politischen Dinge noch nach der richtigen Ordnung frage. „Political thought is, as such, indifferent to the distinction between opinion and knowledge; but political philosophy is the conscious, coherent and relentless effort to replace opinions about the political fundamentals by knowledge regarding them.“ 36

Wenn es jedoch die Aufgabe eines politischen Philosophen ist, Wissen vom Wesen der politischen Dinge, vor allem der gerechten Ordnung erlangen zu wollen, muss sie sich darüber im Klaren sein, dass die Frage nach dem Guten und Gerechten nicht neutral sein kann. Der Philosoph stellt in seinen Untersuchungen gesellschaftliche Vorstellungen, Werte und Ziele in Frage, auf denen das Gemeinwesen beruht, oder weist auf Abweichungen von der „richtigen Ordnung“ in bestehenden Regierungsformen hin. Politische Philosophie muss daher nicht nur wissen, was das Gemeinwesen wesentlich zusammenhält, sondern muss auch die Erwartungen kennen, die an sie gerichtet werden, und sich über den Grad ihrer Wertschätzung oder Ablehnung bewusst sein, die sie durch ihre Erkenntnisse erfahren könnte. „Political things are by their nature subject to approval and disapproval, to choice and rejection, to praise and blame. It is of their essence not to be neutral [. . .].“ 37

Politische Philosophie bewertet demnach auch politisches Handeln und ist daher gefährdet, einer „Politisierung“ zu unterliegen, indem sie in den Dienst eines Machthabers oder Herrschaftssystems treten kann. Von dieser möglichen Korruption des Denkens abgesehen, muss die Philosophie jedoch immer bedenken, dass theoretische Erkenntnisse unvermeidlich praktische Folgen haben können, die nur schwer abschätzbar sind.38 Doch nicht nur politische Philosophie, sondern Philosophie allein hat daher immer schon einen politischen Faktor. Wie im Kapitel Das theologisch-politische Problem beschrieben, befasst sich die Philosophie mit der Natur (physis) aller Dinge und kann keine autoritären Auffassungen akzeptieren, die sie nicht rational überprüft hat. Doch auch wenn der Philosoph nach einem kontemplativen Leben außerhalb der religiösen und politischen Sphäre strebt, so ist er dennoch allein schon aus Gründen der Arbeitsteilung auf das Gemeinwesen angewiesen. Dementsprechend kann er sich nicht allein mit der philosophischen Frage nach dem guten Leben und der guten Ordnung beschäftigen, sondern muss ebenso die Voraussetzungen und die Umsetzung der bestehenden Ordnung seines Gemeinwesens nach Abweichungen hinsichtlich der besten Ordnung überprüfen. Durch dieses radikale Hinterfragen muss sich die Philosophie, 36

Strauss (1989x), S. 12. Ebd. 38 Vgl. dazu Sternberger (1967), S. 8. Zur Auseinandersetzung mit den beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen philosophischer Auslegungen vgl. das Kapitel Hermeneutische Politik. 37

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die in diesem Fall bereits politische Philosophie ist, nicht nur gegen religiöse Gebote, sondern auch gegen Gesetze und Konventionen stellen, die sich allein durch traditionelle Bewährung legitimieren. Wenn der Gegenstand der politischen Philosophie demnach Wissen über die politischen Dinge ist, bedarf es notwendigerweise einer gewissen Vorsicht in Bezug auf die Möglichkeiten der Folgen, die dieses Wissen im politischen Gemeinwesen auslösen könnte. Die kontemplative Lebensweise kann demnach politische und gesellschaftliche Auswirkungen haben, ohne dass sich die politische Philosophie bewusst auf eine politische Seite stellen muss. Philosophie in ihrem Selbstverständnis als zetetische Suche nach Wahrheit erachtet es gar nicht als ihr Ziel, eine systematische politische Lehre oder eine konkrete politische Handlungsempfehlung erarbeiten zu können, da sie kaum über das Stadium der Diskussion und des kritischen Hinterfragens hinausgeht. Politische Philosophie muss nicht „politisiert“ sein, um politisch gefährdet zu sein, sondern ist aus sich selbst heraus durch ihre Lebensführung und ihren radikal hinterfragenden Erkenntniswillen politisch. Insofern ist auch das Philosophieren von Sokrates, obwohl er sich stets von politischen Ämtern ferngehalten hat, für Strauss zutiefst politisch: „Das sokratische Fragen nach dem rechten Leben ist ein Zusammenfragen nach dem rechten Zusammenleben um des rechten Zusammenlebens, um des wahren Staates willen. Das Fragen des Sokrates ist wesentlich politisch.“ 39

Die philosophische Lebensweise versteht Strauss als Suche nach dem Wissen von allen Dingen – genauer gesagt als Suche nach dem Wissen des Wesens von allen Dingen, dem „Ganzen“.40 Philosophie darf sich nicht allein auf Physik und Metaphysik ausrichten, da sie sich sonst nur mit einem Teil des „Ganzen“ beschäftigen würde. Um ihrem Anspruch gerecht zu werden, Wissen von allen Dingen zu erlangen, muss sie sich auch den „menschlichen Dingen“ zuwenden, worunter die Interessen, Meinungen und Lebensweisen der Nicht-Philosophen fallen. Politische Philosophie ermöglicht der Philosophie durch die Beschäftigung mit der Natur der politischen Dinge den Zugang zur Erkenntnis des „Ganzen“. Die „menschlichen Dinge“ müssen dem Philosophen allein schon deswegen einen gewissen Ernst wert sein, da Philosophie ein Aufstieg von den Meinungen des jeweiligen sozialen Umfeldes zu Wissen ist. „To understand fully its own purpose and nature, philosophy has to understand its essential starting-point.“ 41

Obwohl sich der politische Philosoph den „politischen Dingen“ zuwendet, hat sein öffentliches Auftreten durch den eigentlichen Wunsch nach kontemplativer 39 Strauss (1997b), S. 412; Hervorhebung im Original. Vgl. auch Strauss (1989x), S. 12; 16 ff., sowie Strauss (1935), S. 67. 40 Strauss bezeichnet das Wissen über das Wesen in seiner Totalität als das „Ganze“ (knowledge of the whole) (Strauss (1989x), S. 11). 41 Strauss (1989j), S. 92.

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Zurückgezogenheit einen zutiefst ambivalenten Charakter.42 Dieses Spannungsverhältnis wird durch den autoritativen Anspruch der vorherrschenden Ordnung verstärkt, die der Philosoph gewissermaßen akzeptieren muss, wenn er ein Teil der Polis sein möchte. Ihm muss es daher gelingen, eine Mittelposition zwischen philosophischer Freiheit und Zurückgezogenheit einerseits und den autoritären Vorgaben des politischen Zusammenlebens andererseits zu finden.43 Die Extrempunkte dieses Verhältnisses werden einerseits durch die Figur des Sokrates verkörpert, der durch sein provokantes Auftreten in der Öffentlichkeit verurteilt wurde, und zum anderen durch seinen Schüler Platon, der nach dem Tod seines Lehrers die Akademie außerhalb der Polis Athen gründete, die den „Freunden der Weisheit“ ungestörte theoria erlauben sollte. Für die Ausgliederung der Philosophie vor die Stadtmauern spricht eine Politikos-Passage,44 dass der Philosoph nur überleben und wirken könne, wenn er sich von der Öffentlichkeit fernhalte. In der Apologie begründet Sokrates dies folgendermaßen: „Denn kein Mensch kann mit dem Leben davonkommen, der euch oder einer anderen Volksmenge echten Widerstand leistet und viel Ungerechtigkeit und Gesetzwidrigkeit im Staat verhindern will. Wer wirklich für die Gerechtigkeit kämpft, der muss, wenn er auch nur eine kurze Zeit überleben will, ein privates Leben und nicht eines in der Öffentlichkeit führen.“ 45

Für Leo Strauss weist dieser Zusammenhang auf das „theologisch-politische Problem“ hin, da die Philosophie in ihrer grundlegenden Bestimmung als Streben nach vernünftigem Wissen nicht nur dem religiösen Glauben, sondern ebenso der öffentlichen Meinung des politischen Gemeinwesens radikal gegenübersteht: „The demos is by nature opposed to philosophy.“ 46

Das philosophische Leben unterscheidet sich vom Gemeinwesen folgendermaßen: Philosophie ist für Strauss nur dann möglich, wenn sie das gute Leben zum Ziel hat.47 Es hat seine Grundkonstitution in der zetetischen Suche nach begründetem Wissen und unterwirft sich dabei keiner Autorität. Statt der intellektuellen Suche nach der richtigen Ordnung verlangt das Gemeinwesen hingegen, politische Entscheidungen zu befolgen und zu bewahren. Darüber hinaus ist die na42 Der naturphilosophische und daher „unpolitische“ Sokrates wird von Aristophanes in den Wolken charakterisiert. Er wohnt im phrontisterion, einer Art Elfenbeinturm, und befasst sich nicht mit „menschlichen Dingen“. Darin lauert die Gefahr für die Philosophie und Strauss interpretiert das Werk als Warnung und Vorwegnahme der Anklage gegen Sokrates. 43 Strauss (1988c), S. 37. 44 Platon, Politikos, 299b. 45 Platon, Apologie, 31e–32a. 46 Strauss (1997h), S. 37; vgl. auch Platon, Gorgias, 481d sowie Platon, Politeia, 494d. 47 Vgl. Strauss (1989g), S. 37.

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hezu asketische Selbstgenügsamkeit der Philosophen mit ihrer müßigen (schole)48 Kontemplation des Guten und Gerechten den Bürgern der Polis höchst verdächtig. Diese richten sich vielmehr nach dem bequemen Leben, welches viele Anlässe liefert, das Gute und Gerechte gleichgültig werden zu lassen. Statt nach Geld, Ehre und einem guten Ruf streben die Philosophen jedoch nach dem guten Leben (eu zen),49 worunter auch die Frage nach der guten Polis fällt, die das maßlose, bequeme Leben zugunsten des guten kritisiert, was von „den Vielen“ wiederum, die jenes Leben führen und als Nicht-Philosophen das Gute nicht kennen, ablehnend aufgenommen wird.50 Der Philosoph ist jedoch nicht nur durch seine Kritik an den ordnungsstiftenden Konventionen und an einem maßlosen Leben gefährdet. Da er sich mit der Natur der „menschlichen Dinge“ befasst, widmet er sich auch der Natur des Menschen. Strauss stellt dabei deutlich heraus, dass es ein grundlegender Fakt der menschlichen Natur ist, dass Philosophie „von Natur aus“ ein Privileg einiger weniger „Weisen“ war, denen eine „vulgäre“ Mehrheit gegenübersteht, was mit der Voraussetzung einhergeht, dass nicht alle Menschen die gleiche Natur haben.51 Obwohl sich Philosophie und das politische Gemeinwesen „von Natur aus“ (by nature) unterscheiden, muss bedacht werden, dass sich auch der „akademische“ Philosoph als zoon politikon immer schon innerhalb einer politischen Gemeinschaft befindet und diese braucht, um seinem Anspruch an philosophische Erkenntnis über alle Dinge gerecht zu werden.52 Für Strauss ist der Philosoph daher nicht nur dazu veranlasst, die jeweilige öffentliche Meinung und die Vorurteile eines jeweiligen Gemeinwesens zu erkennen, sondern er muss sich allgemein über das politische Leben als Entwurf einer Lebensführung bewusst werden. In der Auseinandersetzung mit dem eigenen und dem „politischen“ Leben werde ihm umso deutlicher, dass das ultimative Ziel des politischen Lebens, das gute Leben, allein durch ein Leben erreicht werden könne, das der philosophischen Kontemplation gewidmet ist.53 Demnach erfordert Politische Philosophie nicht 48 Im Theaitetos betont Sokrates die ascholia, die den Ort des Gerichts bestimmt und sich in eben jener schole von den Philosophen unterscheidet (172c und 173d). Hier halten sich die Sophisten auf, die zwar von Arbeit befreit sind, aber trotzdem ein sklavisches Leben ohne Muße führen. 49 Platon, Phaidon, 67d. 50 „All political action has then in itself a directedness towards knowledge of the good: of the good life, or of the good society. For the good society is the complete political good“ (Strauss (1989x), S. 10). 51 Vgl. Strauss (1988c), S. 34. 52 Sokrates beschreibt sich selbst als lernbegierig (philomathes), als er von Phaidros im gleichnamigen Dialog vor die Tore der Stadt mit einer Lysias-Rede gelockt wird. Sokrates verlässt die Stadt nur selten, da ihn „die Landschaft und die Bäume nichts lehren wollen, wohl aber in der Stadt die Menschen“ (Phaidros, 230d). 53 Strauss (1989j), S. 74.

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nur eine Reflexion des gut verfassten politischen Gemeinwesens, sondern auch eine Begründung, warum die philosophische Lebensweise der politischen vorgezogen wird.54 Politische Philosophie zeichnet sich daher durch Selbsterkenntnis über die eigene Lebensführung aus sowie durch die generelle Erkenntnis, dass die Suche nach der richtigen Ordnung durch ein kontemplatives Leben notwendigerweise aufgrund ihrer die vorherrschenden Meinungen und Konventionen kritisierenden Haltung zu einem Konflikt mit der Polis führen muss. War die politische Philosophie zunächst noch von ihrem Gegenstand eine Philosophie der „politischen Dinge“, so geht es ihr unter diesem selbstreflektierenden Blick nicht mehr allein darum, inwiefern ein konkretes Gemeinwesen von der besten Ordnung abweicht, sondern es muss ihr als ein Teilbereich der Philosophie ebenso darum gehen, wie ein philosophisches Leben in der politischen Gemeinschaft geführt und ermöglicht werden kann.55 Um ein philosophisches Leben in der Polis führen zu können, muss der Philosoph die Meinungen und Erwartungen an das politische sowie philosophische Leben kennen, um seine nicht-konventionelle Lebensweise vor den nicht-philosophischen Mitbürgern der politischen Gemeinschaft rechtfertigen zu können. Philosophen und Nicht-Philosophen stellen dabei unterschiedliche Adressaten dar, die es hinsichtlich der Argumentation zu berücksichtigen gilt, wenn sich der Philosoph vor dem Tribunal der politischen Gemeinschaft rechtfertigen muss.56 Philosophie politisiert in Freundschaft und Feindschaft57 und ist daher stets gefährdet, als Feind der von ihr herausgeforderten Polis verurteilt zu werden. Dabei muss bedacht werden, dass das eigentliche „naturgegebene“ Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Polis kein indifferentes Verhältnis werden darf, da Gleichgültigkeit gegenüber der Philosophie eine genauso große Gefahr für die Philosophie darstellt wie Verfolgung. Von Seiten der Polis bedeutet Indifferenz, dass es keine philosophische Wahrheit geben kann, die es wert wäre, sie auf das eigene Leben zu übertragen. Von Seiten der Philosophie bedeutet Indifferenz, dass sie sich, außer vor sich selbst, öffentlich nicht mehr rechtfertigen müsste, was die Gefahr birgt, dass sie selbst zu dem von Sokrates eingeführten Bild vom trägen Pferd werden könnte. Philosophie, die sich nicht mehr selbst reflektiert und ihre eigene Lebensweise als legitim glaubt, zeigt eben jene Müdigkeitserscheinungen auf, gegen die der politische Philosoph Sokrates durch permanentes 54

Vgl. Meier (2000), S. 20. Bohlender spricht hier von einer „politischen Behandlung der Philosophie“, die er auch als „Politische Philosophie 2“ bezeichnet und die er von einer „philosophischen Behandlung der Politik“ (Politische Philosophie 1) trennt; vgl. Bohlender (1995), S. 217. 56 Vgl. Strauss (1989j), S. 77. 57 Vgl. Strauss (1997h), S. 87, 97, 111 ff.; siehe dazu auch das Kapitel Das Politische. 55

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Hinterfragen vorgeht.58 Die Gefahr kann jedoch auch darin bestehen, dass die Polis ihre ordnungsstiftenden Kriterien gegen die Philosophie immunisiert und ihr einen quasi bedingungslosen Rückzugsort im Rahmen der Polis sogar zugesteht.59 Vor allem darf es ihr nicht darum gehen, eine gegenüber der Gesellschaft indifferente Rolle einzunehmen, wenn sie sich als sokratische Philosophie versteht. Die Philosophie kann sich daher nur angemessen vor sich selbst rechtfertigen, indem sie sich auf die öffentliche Meinung einlässt und diese wiederum als ihr Gericht betrachtet. Will die Philosophie, gerade wenn sie sich als philosophische Lebensführung versteht, Geltung über den Wissenschaftsbetrieb hinaus beanspruchen, muss sie sich auch der Öffentlichkeit stellen.60 Das öffentliche Auftreten dient der Philosophie daher als Überlebensmechanismus, um ihrem Wesen gerecht zu werden, bedarf jedoch gleichzeitig eines Selbstschutzes in Form einer angemessenen Politischen Rhetorik.61 Es gehört zu einem wesentlichen Teil der Philosophie, die den Anspruch hat, Wissen von allem zu erlangen, auch ihr Verhältnis zur Polis und ihr öffentliches Auftreten zu reflektieren. Strauss betrachtet jedoch nicht nur den Gegenstand und das öffentliche Auftreten der Politischen Philosophie, sondern fragt sowohl nach ihrer Möglichkeit als auch nach ihrer Notwendigkeit, vor allem unter gegenwärtigen Bedingungen. Zwar bürgt für Strauss die philosophische Tradition für die Möglichkeit der Politischen Philosophie,62 doch erkennt er, dass Politische Philosophie in der Gegenwart im Verfall (decay) begriffen ist, wenn sie nicht sogar schon völlig verschwunden ist. Ihr Verschwinden liege nicht allein darin begründet, dass es unterschiedliche, wenn nicht gar widersprüchliche Auffassungen über ihren Gegenstand und die Herangehensweise an diesen gebe, sondern auch darin, dass ihre schiere Möglichkeit in Frage gestellt werde. Ihr einziger akademischer Nutzen lasse sich nur noch als ein Studium der Geschichte der politischen Philoso58 Hierin liegt aber auch die Gefahr begründet, in die die Philosophie der Moderne gekommen ist, da sie sich die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Politik nicht mehr stellt und als universitäre Fachdisziplin sich kaum noch mit ihrer Wirkung auf die Öffentlichkeit auseinandersetzen muss. 59 Da der Staat zu Recht Angst vor der Philosophie habe, verfolge er eine „Einhegung“ der Philosophen als Philosophiebeamte. Norbert Bolz erachtet daher deren Verführbarkeit durch die Politik, ihre Bestechlichkeit durch Lob sowie ihre Unfähigkeit, der öffentlichen Meinung zu widerstehen, als die Hauptlaster der Intellektuellen in modernen Massendemokratien (vgl. Bolz (2009), S. 30). 60 Wenn sie sich in ihrem öffentlichen Auftreten an das politische Gemeinwesen richtet, muss sie allerdings in ihrer Rhetorik den schmalen Grad zwischen instrumenteller Politisierung einerseits und positivistischer Szientifizierung andererseits berücksichtigen (Strauss (1989x), S. 14). 61 Siehe dazu vor allem das Kapitel Politische Rhetorik. Philosophie birgt über das Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Polis hinaus immer die Gefahr des Missverstehens (vgl. Platon, Politeia 450e–451a). Zu einer Verschärfung dieses Problems vgl. sowohl die Nachteile als auch die Notwendigkeit der schriftlichen Kommunikation in Kapitel Schriftlichkeit und Philosophie. 62 Vgl. Strauss (1996), S. 3.

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phie erkennen, die jedoch jenen Anspruch auf die richtige Ordnung verloren habe.63 Während Strauss die Politische Philosophie 1954 noch als „dekadent“ diagnostiziert,64 erklärt sie Peter Laslett 1956 bereits für tot.65 1961 wagt Isaiah Berlin noch einmal eine intellektuelle Autopsie in seinem Aufsatz Does Political Theory still exist?.66 Auch wenn Berlin political theory schreibt, meint er in einem engen Sinne eigentlich politische Philosophie.67 Political theory ist für ihn nämlich keine empirische Politikwissenschaft, sondern befasst sich mit eben jenen Fragen, die nicht logisch ableitbar oder beobachtbar sind.68 Philosophie dürfe nicht zur Magd der Wissenschaften werden, da es immer Fragen hinsichtlich der Zwecke des Menschen geben werde,69 die eine Politikwissenschaft mit naturwissenschaftlichen, empirischen Methoden nicht beantworten könne. Daher behauptet Berlin, dass eine normative politische Philosophie nie ganz verschwinden werde, da selbst die Wissenschaft über ihren eigenen Wert urteilen müsse. Wie Strauss erachtet auch Berlin es als die wesentliche Aufgabe der politischen Philosophie, nach der richtigen Ordnung und dem Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu fragen. Zwar gebe es inkommensurable oder inkompatible Antworten innerhalb der Tradition der Philosophiegeschichte, die für Berlin zwar universellen Verhältnissen unterliegen, die sich jedoch nicht generell ordnen oder zusammenfassen lassen. Deswegen herrsche philosophiegeschichtlich ein scheinbarer Relativismus vor und die philosophischen Antworten liefen aufgrund des steten Antagonismus Gefahr, als Machtpositionen instrumentalisiert zu werden.70 Von daher ist politische Philosophie einerseits durch Szientifizierung, andererseits durch Parteinahme und Instrumentalisierung als Propaganda-Werkzeug eines Machthabers gefährdet. Die Auflösung der Disziplin liegt daher für Dolf Sternberger darin begründet, dass sich politische Philosophie entweder auf die 63

Vgl. Strauss (1989x), S. 17. Strauss hielt im Dezember 1954 den Vortrag What is Political Philosophy? an der Hebrew University in Jerusalem im Rahmen der Judah L. Magnes Lectures, auf dem die Version aus dem gleichnamigen Sammelband basiert. 65 „[F]or the moment, anyway, political philosophy is dead“ (Laslett (1956), S. vii). Zu den Auswirkungen historistischer und szientifistischer Einflüsse auf die politische Philosophie vgl. auch Sternberger (1967) und Lübbe (1971), S. 54 ff. 66 Berlin (1979a). Obwohl Berlin Strauss als einen sorgfältigen, aufrechten und engagierten Denker bezeichnet, erkennt er doch eine „unüberwindbare Kluft“ zwischen beiden und bezeichnet Strauss’ Modernekritik als ihm „nicht besonders sympathisch“ und seine Hermeneutik als „ziemlich verschroben“ (vgl. Berlin/Jahanbegloo (1994), S. 49 f.). 67 Vgl. Berlin (1979b). 68 Berlin (1979a), S. 172; vgl. auch Strauss (1989x), S. 14. 69 Berlin (1979a), S. 147. 70 Ebd., S. 172. 64

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Seite des Positivismus oder auf die der ideologischen Parteinahme gestellt hat und es ihr nicht gelungen ist, sich zu immunisieren und ihren eigenen Weg zu gehen. Die Aufgabe der Politischen Philosophie müsse es daher sein, sich vor politisch-ideologischer Vereinnahmung, aber auch Konturlosigkeit und Verflachung zu schützen, und betrifft daher ihr öffentliches Auftreten. Dieses Dilemma ist für Isaiah Berlin rhetorisch lösbar: Das Weiterleben der politischen Theorie hängt davon ab, inwiefern sie sich von Szientifizierung und Politisierung, also praxisferner und korrumpierter Theorie entfernen kann und eine Mitte zwischen beiden findet.71 Obwohl die Politische Rhetorik eine tragende Rolle in Strauss’ Ansatz der Politischen Philosophie spielt, muss nicht nur der öffentliche Auftritt der Philosophie und ihre Außenwirkung reflektiert werden, sondern vor allem ihr wesentlicher innerer Kern, weswegen sich Strauss auch der Selbstbestimmung der Politischen Philosophie zuwendet. Um nämlich überhaupt eine rhetorische wie inhaltliche Position zu finden, die nicht positivistisch oder ideologisch vereinnahmt ist, muss die Politische Philosophie sich erst einmal über ihren Gegenstand selbst erkannt haben. Denn auch wenn sie sich lediglich als Fachdisziplin in einer ausdifferenzierten Wissenschaftssphäre verstehen sollte, so müsste sie sich gegenüber der Struktur und den grundlegenden Auffassungen der Wissenschaft behaupten und sich fragen, inwiefern und warum sie überhaupt Wissenschaft sein kann.72 Doch durch den „Intellektualisierungsprozess“ der „Entzauberung der Welt“ 73, die Max Weber als eine sich steigernde Durchsetzung von Zweckrationalität charakterisiert, wurden nicht nur „unberechenbare Mächte“ religiöser Art „aufgeklärt“, sondern auch erste und letzte Gründe „prinzipiell“ als irrelevant erklärt, so dass normativ-verbindliche Ordnungskriterien sowie die selbstreflektierte Frage nach dem Sinn und der Wertigkeit der Wissenschaft mit den eigens aufgestellten „wertfreien“ Kriterien nicht beantwortet werden können. Da keine 71 Auch Bohlender untersucht den schmalen Grad, den politische Rhetorik von einerseits einer szientifischen Beobachtersprache und andererseits einer ideologischen Einheitssprache trennt. Wenn politische Philosophie Anerkennung eines breiten, heterogenen Publikums erlangen möchte, muss sie sich über die Mittel einer politischen Rhetorisierung als einer zielgruppenspezifischen Kommunikation bewusst sein (vgl. Bohlender (1995), S. 15). 72 Vgl. hierzu das gesamte Kapitel Tatsachen und Werte in: Strauss (1989g), S. 37 ff. Strauss wirft der positivistischen Herangehensweise der „wertfreien“ Wissenschaften vor, dass sie die Frage „Warum Wissenschaft?“ nicht beantworten könnten, ohne sich auf einen höheren Standard, der über sie hinausgehen würde, zu beziehen. Sie könnten ohne Werte ihre eigene Notwendigkeit nicht beweisen, weswegen die modernen Wissenschaften daher auch nicht in der Lage seien, die Frage nach dem richtigen Leben beantworten zu können (vgl. Strauss (2006b), S. 129). 73 Webers These von der „Entzauberung der Welt“ beschreibt das Ergebnis einer intellektualisierten Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik, die zwar nicht zu einer zunehmenden Kenntnis der Lebensbedingungen, jedoch zu der Erkenntnis führt, dass der Mensch „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne“ (Weber (1973), S. 594).

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argumentative Einigung über Normfragen bestehen könne,74 müssen zweckrationale legale Regeln erschaffen werden, die bei genauerer Betrachtung hinfällig sind. Die modernen Wissenschaften stehen in fundamentalem Widerspruch zu einer Philosophie, die Wissen als Tugend und das gute und gerechte Leben als Ziel hat, da sie sich allen Ansprüchen, die auf ein „Ganzes“ abzielen, verschließen. Durch die Zweckrationalität und relativistische Unverbindlichkeit ursprünglich normativer Elemente kann eine Philosophie im Strauss’schen Sinne keinen absoluten Wahrheitsanspruch mehr einfordern.75 Die größte Gefahr der Philosophie stellt demnach in liberalen Gesellschaften nicht länger eine politische Verfolgung dar, sondern, dass sie als bloß „interessante“ wissenschaftliche Disziplin keine „große Alternative“ der Lebensführung mehr beanspruchen kann. Für Strauss droht diese Gefahr nicht allein von Seiten des Positivismus, sondern in gleichem Maß vom Historismus.76 Dieser spielt auch in Isaiah Berlins Untersuchungen zum Zustand der politischen Philosophie eine wesentliche Rolle, wobei Berlin den historischen Kontext für äußerst wichtig erachtet, durch den man sich in das Denken der Philosophen der Vergangenheit einfühlen könne. Obwohl er selbst nicht als Relativist auftreten möchte und sein Historismus dadurch begrenzt ist, dass es für ihn so etwas wie eine Möglichkeit gibt, transkulturelles und transhistorisches Verständnis zu erlangen, ist für Berlin das Denken eines Philosophen an den historischen und kulturellen Kontext gebunden.77 Für Strauss spricht eine solche historistische Auffassung der Philosophie den Anspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer Erkenntnisse ab, indem sie annimmt, dass jegliches Denken zu einer gegebenen Zeit in einem kulturellen Umfeld zu keinen anderen Ergebnissen als den vorliegenden hätte kommen können.78 Strauss setzt daher alles daran, die Politische Philosophie von einer historisch relativierenden Perspektive zu befreien, indem er Philosophie deklariert „als ein Wissen, das einem Menschen, wenn er sich denn dieser Philosophie mit Ernst zuzuwenden bereit ist, ein besseres, d.h. wahreres Leben ermöglicht“ 79. Philo74 Der „Intellektualisierungsprozess“ ist für Strauss daher vor allem relativistischer Natur, indem er annimmt, dass die Wertvorstellungen des Einzelnen keine verbindlichen Werte hervorbringen können. Eine Diskussion von Werten hinsichtlich des besseren Arguments könne es dabei nicht geben, da die Wertvorstellung des Einzelnen nicht objektiv, sondern selbst immer schon wertend sei. 75 Strauss (1989x), S. 25. 76 „Historical study had come to be closer to philosophy and therefore also a greater danger to it than natural science. This in turn was a consequence of what one may call the historicization of philosophy, the alleged realization that truth is a function of time (historical epoch) or that every philosophy belongs to a definite time and place (country)“ (Strauss (1989h), S. 186). 77 Berlin (2005), S. 152. 78 Zu Strauss’ Umgang mit dem Historismus siehe das Kapitel Historisches Verstehen. 79 Trawny (2007), S. 62.

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sophie in diesem Sinne bleibt offen für Prinzipienfragen, die nicht pragmatischer Natur sind, und sucht nach jenen Grundproblemen, die nicht dem geschichtlichen Verlauf unterliegen. Darüber hinaus geht Strauss nicht davon aus, dass die abendländische philosophische Tradition historisch überwunden wurde, weswegen für ihn die Wiederbelebung der Frage nach dem Naturrecht im klassischen Sinne ein großes Anliegen ist.80 Um Philosophie in diesem klassischen Sinne wieder ermöglichen zu können, muss diese allerdings die Frage angemessen beantworten können, warum und unter welchen Bedingungen es überhaupt Philosophie geben kann. Darunter fällt nicht nur der Anspruch, die Natur der Dinge transhistorisch erkennen zu können, sondern vor allem auch die Frage „Warum überhaupt Philosophie?“. Die Entscheidung zu einer philosophischen Lebensführung als bios theoretikos muss daher nicht nur vor dem politischen Umfeld verteidigt werden, sondern die Philosophie muss ihre Vorstellung vom rational begründeten Leben „in der Auseinandersetzung mit den mächtigsten Antagonisten und mit der anspruchsvollsten Alternative unter Beweis stellen“.81 Diese anspruchsvollste Alternative ist für Heinrich Meier die Politische Theologie,82 indem er Carl Schmitt als den Ant80 „Philosophie ist nur dann möglich, wenn der Mensch, obschon unfähig Weisheit oder rein volles Verständnis des Ganzen zu erwerben, doch fähig ist, ,das zu wissen, was er nicht weiß‘, d.h. wenn er die Grundprobleme und damit die grundlegenden Alternativen erfassen kann, die grundsätzlich immer dieselben bleiben“ (Strauss (1989g), S. 37). Die Annahme des Naturrechts als das von Natur aus Gerechte ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Philosophie im ursprünglichen Sinne als ein Streben nach der Erkenntnis dieser natürlichen Beschaffenheiten, die der Mensch mit seinem Verstand allein erkennen kann (vgl. ebd., S. 30). 81 Meier (2000), S. 23. „Politische Philosophie ist möglich, wenn der Mensch zum Verständnis der grundlegenden politischen Alternative fähig ist, die den vergänglichen oder zufälligen Alternativen zugrunde liegt“ (Strauss (1989g), S. 37). 82 Heinrich Meier hat den politisch-theologischen – politisch-philosophischen Dialog unter Abwesenden (1988) zwischen der zweiten Version von Der Begriff des Politischen (1932) und der dritten von 1933 akribisch rekonstruiert. Dass die Politische Theologie ein „umstrittenes Terrain“ (Taubes (1985), S. 5) ist, zeigen die unterschiedlichen Lesarten von Schmitts Politischer Theologie. So versucht Raphael Gross in seinem bibliographisch argumentierenden Werk Carl Schmitt und die Juden nachzuweisen, dass Schmitts Gesamtwerk fundamental von antisemitischem und nationalsozialistischem Denken durchzogen ist. Gross liest Schmitts Katholizismus vor dem Hintergrund seines Antisemitismus und seines Staatsdenkens und schreibt ihm zu, sowohl katholische als auch protestantische Quellen herangezogen zu haben, um seine „politisch-theologischen Konstrukte“ zu stützen. Die Theologie benutze er allein als ein Instrumentarium – sei es zur Abgrenzung zum jüdischen Denken, zur Reinen Rechtslehre Hans Kelsens oder gegen den entpolitisierenden Liberalismus. Dem instrumentellen Charakter des Katholizismus würde auch die Figur von Dostojewskis Großinquisitor entgegenkommen, der die Form der Kirche gegen den Glauben rein instrumentell ausspielt. Politische Theologie sei daher für Schmitt bloß eine Selbststilisierung sowie eine „Übertragung und Instrumentalisierung theologischer Begriffe zur Begründung einer radikalen Staatsrechtslehre, wobei aus der Theologie nur der Feind übernommen wird“ (Gross (2005), S. 383). Es sei Schmitt dabei vorrangig um das Politische als Politik und nicht um das Theologische gegangen (vgl. ebd., S. 290). Nach dem 2. Weltkrieg habe

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agonisten mit Strauss’ Politischer Philosophie kontrastiert. Generell versteht man unter Politischer Theologie Theorien, in denen Herrschaft und Seelenheil miteinander verknüpft sind, vor allem, wenn eine jeweilige politische Ordnung den Anspruch erhebt, auf göttlicher Offenbarung gegründet zu sein.83 Dieser Anspruch fordert dabei die Herangehensweise der Politischen Philosophie radikal heraus, da diese die Frage nach der gerechten Ordnung grundsätzlich anders zu beantworten beabsichtigt. „By political theology we understand political teachings which are based on divine revelation. Political philosophy is limited to what is accessible to the unassisted human mind.“ 84

Da Politische Theologie einen Wahrheitsanspruch auf das geschichtliche Ereignis der Offenbarung Gottes beinhaltet, grenzt sie sich von politischen Religionen und Mythologien ab, da sie weder im Plural auftreten noch als „Mythos“ abgetan werden kann.85 Da Politische Theologie im Kern eine göttliche Wahrheit beinhaltet, die geglaubt werden muss, kann sie nicht bloß als formales Strukturäquivalent behandelt werden.86 Für Meier stellt hingegen das auf Augustinus zurückzuführende „anthropologische Glaubensbekenntnis“ von der fundamentalen Bosheit der menschlichen Natur (corruptio naturae) den Kern von Schmitts Politischer Theologie dar.87 Durch den Sündenfall habe Adam seine ursprüngliche Gerechtigkeit und Güte verloren und bedürfe nun der Gnade Gottes, um sein Seelenheil zurückzuerlangen. Der Mensch sei völlig unfähig, das Gute von seiner menschlichen Natur aus selbst zu erkennen, weswegen Institutionen nötig seien, die durch göttliche Gnade den Weg zu einer gerechten Ordnung weisen. Aufgrund der daraus folgenden institutionellen Instrumentalisierung der christlichen Gnadenlehre durch eine staatstragende Kirche hat Jacob Taubes daher in Carl ihm das Christentum ein mögliches Rückzugsfeld geliefert, da es eine gewisse Distanz zum Nationalsozialismus aufweise. Es sei jedoch schwer festzustellen, so Gross, inwiefern Schmitt tatsächlich an seine „Inszenierungen“ geglaubt habe. So sei auch das Glossarium bloß „eine Leimrute“, mit der Schmitt seine ehemaligen Positionen theologisiere, um seinen Antisemitismus als christlich geprägten Antijudaismus abzuschwächen (vgl. ebd., S. 367). 83 Meier (2009), S. 258. Meiers Lesart führt die „Politische Theologie“ auf den inzwischen berühmten Satz Carl Schmitts zurück: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“ (Schmitt (2009b), S. 43). Die Kernthese ist dabei, dass Politik immer auf „vorpolitische“ Voraussetzungen außerbzw. überpolitischer Art zurückzuführen sei. 84 Strauss (1989x), S. 13. 85 Vgl. dazu Meier (1988), S. 165. Es geht Schmitt auch nicht um Nationalmythen, wodurch er sich von George Sorel abgrenzt (Schmitt (2010a), S. 65; zitiert in: Meier (1988), S. 166). 86 So Böckenförde (1985). Böckenfördes Ansatz, Politische Theologie in drei unterschiedliche Arten, in juristische, institutionelle und appellative, zu unterteilen, versteht Schmitts „Politische Theologie“ lediglich als Strukturverwandtschaft theologischer und juristischer Begriffe. 87 Schmitt (2009a), S. 59 f.

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Schmitt eine „Inkarnation des Dostojewskischen Großinquisitors“ vermutet.88 Carl Schmitt habe in einem Gespräch in Plettenberg 1980 geäußert, dass der Großinquisitor recht habe gegenüber all den schwärmerischen Zügen einer jesuitischen Frömmigkeit. Mathias Eichhorn schließt sich Taubes an, dass man in Schmitt vielmehr einen Großinquisitor als einen gläubigen Christenmenschen sehen müsse.89 Ebenso kritisiert Raphael Gross, dass Meier den Katholizismus Schmitts zum „eigentlichen Zentrum“ erkläre und damit eine seiner zahlreichen Positionen als überzogene Kohärenzbehauptung darstelle.90 Schmitt betreibt jedoch keine säkularisierte Jurisprudenz, die zugunsten einer ordnungsstiftenden Macht dogmatische theologische Quellen instrumentalisiert. Ihm geht es vielmehr, wie Strauss festgestellt hat, um eine grundsätzliche Kritik des herrschenden liberalen Kulturbegriffs und dessen Trennungen in autonome Sphären. Dass die Meier’sche Position eines theologischen Kerns in Schmitts Denken ernst genommen werden muss, zeigt die Wahl des ursprünglichen Titelbildes seines Buches Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes: Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols (1938).91 Während die Trennung von privatem Glauben und öffentlichem Bekenntnis letztendlich den „Todeskeim“ darstelle, „der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat“ 92, so weist Schmitt zwar nicht explizit, aber „ebenso-

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Taubes (1987), S. 15. Eichhorn (1994), S. 83. 90 Gross (2005), S. 149. Schmitt bezieht sich im Begriff des Politischen und in der Politischen Theologie auf die politischen, katholischen Denker Bonald, de Maistre und Cortés. Nach Gross war es für Schmitt durchaus weniger problematisch, sich auf diese Denker der katholischen Gegenrevolution zu beziehen als auf die Autoren der Action Franaise. Gross sieht in Schmitts Werken eine strukturelle Nähe zur Action Franaise, unter die auch der von ihm unterstellte Katholische Atheismus fallen würde (vgl. ebd., S. 156). Gross sieht Schmitts politische Theologie, wenn sie denn überhaupt einen theologischen Bezug hat, in protestantischen Wurzeln verankert (vgl. ebd., S. 193, 227). 91 Dieses Bild zeigt das Symbol des Leviathan mit gebrochenem Genick und befindet sich auf dem Titelbild der ersten Auflage, aber auch als Schlussvignette auf Seite 132. Darüber hinaus betont Meier den Hinweis in der ersten Auflage des Aufsatzes Die vollendete Revolution. In diesem Aufsatz verweist Schmitt in Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht im Anklang an Johann von Salesburys Position darauf, dass er den Kampf des corpus unum malum in seinem Leviathan-Buch nicht behandelt habe. In diesem Kampf richten sich die weltlichen Mächte Leviathan und Behemoth mit den Worten aus Psalm 2,1–3 gegen Gott und Christus, was in ihrer Bedeutung so wichtig sei, dass Schmitt dieses nicht stillschweigend auf sich beruhen lassen haben dürfe. In diesem Zusammenhang entdeckt Heinrich Meier Schmitts Verweis auf die „herrliche Zeichnung“ aus dem Lexikoneintrag des Hortus Deliciarum (ca. 1175–ca. 1195) der Äbtissin Herrad von Landsberg (nach Straub/Keller (1879–1899), Tafel 24), in dem hier genau ersichtlich wird, dass Gott mit Jesus Christus als Köder dem Leviathan das Genick gebrochen hat (FN 139 in: Schmitt (2003b), S. 177; vgl. auch Schmitt (2003a), S. 15; vgl. Meier (2009), S. 262; vgl. den Eintrag „Angler“ im Reallexikon der Deutschen Kunstgeschichte (1935)). 92 Schmitt (2003a), S. 86. 89

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wenig stillschweigend“ 93 darauf hin, dass der von Hobbes konzipierte Staat von vornherein seinen „göttlichen Charakter“ als mächtiger, uneingeschränkter Gesetzgeber lediglich aus einem Strukturäquivalent zur göttlichen Macht beziehe.94 Als eine rein „künstliche“ Apparatur leide der Hobbes’sche Staatsentwurf jedoch an normativer Leere, weswegen der Staat immer mehr zu jener Maschinerie des Gesetzgebungsstaates geworden sei, deren technischer Charakter ihm von Anfang an eingeschrieben gewesen sei.95 Hobbes habe daher seinen Staatsentwurf als ein Instrument zur Herstellung von innerem Frieden und Sicherheit richtig als machina machinarum erkannt. Eigentlich aber, so Schmitt, habe Hobbes mit der Formel „that Jesus is the Christ“ die politische Einheit eines christlichen Gemeinwesens bewahren wollen.96 Schmitt macht demnach aus Thomas Hobbes, dem „Monster von Malmesbury“ 97, einen rechtschaffenden Mann des Glaubens, dessen Frömmigkeit stets verkannt worden sei.98 Dieser Zusammenhang bleibt lediglich in der Schlussvignette von Schmitts Leviathan-Buch angedeutet, die von Hendrik Goltzius’ Der angespülte Fisch als Titelbild abgelöst wurde, die auf den Eintrag im Hortus Deliciarum verweist, in dem ein angelnder Gott mit dem Köder Jesus Christi dem Leviathan das Genick bricht. Schmitts Politische Theologie sowie Sinn und Fehlschlag des politischen Symbols „Leviathan“ lassen sich daher nur im Rahmen seiner Geschichtstheologie verstehen, die ihren Wahrheitsanspruch auf „integres Wissen“ aus dem christlichen Glauben bezieht.99 Als der existenzielle Gegenpol zur Politischen Philosophie ist Politische Theologie für Carl Schmitt sowohl Diagnose als auch Programm. Zur Diagnose gehört jedoch nicht nur die Analyse analoger Strukturen, die für ihn ursprünglich aus dem theologischen Bereich stammen und die durch säkularisierte politische Begriffe neu besetzt wurden, sondern auch die Beurteilung politischer Ordnungen hinsichtlich ihrer Rolle in der christlichen Geschichte. Ebenso umfasst sein Programm der Politischen Theologie nicht nur einen Gegenentwurf zum entpolitisie-

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Schmitt (2003b), S. 177. Schmitt (2003a), S. 50. 1922 zeichnet Schmitt in Politische Theologie Hobbes daher durch die Entscheidungsgewalt des Souveräns als „klassische[n] Vertreter des dezisionistischen Typus“ (Schmitt (2009b), S. 39) aus, weil er weder abstrakten Normen noch starren Gesetzen unterworfen ist, sondern selbst über das Recht entscheidet: Auctoritas, non Veritas facit legem. 95 Schmitt (2003a), S. 69. 96 Vgl. Schmitt (2003b), S. 166, 169 ff. 97 Mintz (1969), S. vii. 98 Non iam frusta doces, Thomas Hobbes! lautet daher der letzte Satz von Schmitts Hobbes-Interpretation (vgl. Schmitt (2003a), S. 132). Hobbes als frommen Agnostiker deutet ebenso Francis Campbell Hood in The Divine Politics of Thomas Hobbes (1964), den Schmitt in Die vollendete Reformation rezensiert (vgl. Schmitt (2003b), S. 138 ff.). 99 Zur ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem „Sinn und Fehlschlag des politischen Symbols“ des Leviathan anhand Schmitts Geschichtstheologie vgl. das Kapitel Carl Schmitts politisch-theologische Geschichtsdeutung. 94

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renden Liberalismus,100 sondern ebenso ein konkretes Ordnungsdenken, das sich auf „integres Wissen“ bezieht, das aus dem Geschichtsverlauf erkennbar wird. Was dieses aufrichtige Wissen ist, führt Schmitt nicht explizit aus, und so endet Der Begriff des Politischen von 1932 mit dem Vergil-Zitat: Ab integro nascitur ordo.101 Schmitts Ordnungsdenken kreist um den Begriff des nomos, der in einer jeweiligen geschichtlichen Situation das „innere Maß der konkreten Ordnung und Ortung“ 102 ausmacht und jeweils bestimmt werden muss. Carl Schmitts Politische Theologie ist ein Theismus aus Redlichkeit, da Glaube letztendlich die einzige Gewissheit der von Gott abgefallenen Menschen sein könne. Letztbegründungen und Legitimierungen können für ihn immer nur auf Glauben, nie auf Wissen fußen. In politischen Auseinandersetzungen kämpfe daher immer ein Glaube gegen einen anderen. So sei selbst Bakunins Anarchismus, der sich mit „skythischer Wucht“ gegen alle Herrschaft und (göttliche) Autorität richtet, ein Glaube: Er ist der „Theologe des Anti-Theologischen“. Obwohl er jegliche Herrschaft ablehnt, deutet Heinrich Meier in Fußnote 2 von Was ist Politische Theologie? Bakunin lediglich als Schmitts exoterischen Feind.103 Schmitt, der sich selbst als Jurist und seine Werke als „rein juristische Schriften“ tarnt, verbirgt die theologischen Voraussetzungen seiner Politik genauso wie seine eigenen christlichen Überzeugungen. Der wahre Feind ist für 100 Politische Theologie als Programm meint keine dem Prozess der liberalen Neutralisierung und Säkularisierung entgegentretende rückwärtsgewandte instrumentelle Sakralisierung des Volksgedankens mit heilsgeschichtlichem Vorwand, wie Raphael Gross annimmt. In diesem Konzept einer „nationalen Homogenität“ ohne liberale Religionsfreiheit liege auch sein Antisemitismus begründet (vgl. Gross (2005), S. 89). 101 Schmitt (2009a), S. 87. Heinrich Meier verweist auf die Vergil, Ecloga 4, 5 als Quelle des Zitates in FN 136 in: Meier (2009), S. 256. 102 Schmitt distanziert sich dabei nachträglich von der völkischen Interpretation des nomos-Begriffs und betont die ursprüngliche Bezeichnung von nomos, der sich zuallererst als eine den Raum einteilende Landnahme zeigt, auf der sich alle folgenden Maßstäbe, das Weiden und Teilen, begründen. Schmitt kritisiert dabei alle Fehlübersetzungen, die aus dem griechischen nomos das lateinische lex, also Gesetz, hervorbrachten. Der nomos ist daher vom artfremden rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff und den „verdrehbaren Satzungen und Setzungen“ zu unterscheiden. Schmitts Denken richtet sich gegen die normativistische Methode, generelle Normen und allgemeine Regeln von der „konkreten Situation“ und der „konkreten Ordnung“ zu lösen und damit das positive Gesetz zu verabsolutieren (vgl. Schmitt (1997), S. 36 ff.; Schmitt (1958)). 103 Schmitt ermutigt auch die Leser von Ex Captivitate Salus, die Texte wie persönliche Briefe zu lesen, und warnt die Leser – „Vorsicht, mein Lieber!“ –, dass es sich bei dem Text um esoterisches Wissen handle und von einem Autor stammt, dessen „Wesen nicht ganz durchsichtig sein“ (Schmitt (1950b), S. 12) möge. „Carl Schmitt hüllt das Zentrum seines Denkens in Dunkelheit, weil das Zentrum seines Denkens der Glaube ist“ (Meier (1988), S. 77). Schmitt schreibt esoterisch, da sich sein Denken nicht für Diskussionen mit Ungläubigen eignet, die auch metaphysische Wahrheiten als „Privatsache“ degradieren. Schmitt fokussiert daher exoterisch die Metaphysik des Liberalismus, stellt jedoch esoterisch dem Relativismus der Privatsachen die Autorität des Offenbarungsglaubens entgegen.

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Schmitt die entpolitisierte Bourgeoisie, der Eigentum und Sicherheit über alles gehen, so dass alle metapolitischen Verbindlichkeiten ins Private verbannt wurden. Die einzigen verbindlichen „Gewissheiten“ werden aus dem diesseitigen entpolitisierten Technikglauben gezogen, so dass ein Absolutismus des moralischen Relativismus vorherrsche, in dem Menschlichkeit das von Gott bestimmte Menschenbild ersetzt habe.104 Insofern kämpft Schmitt gegen eine unterstellte Neutralität, die sich nicht darüber bewusst ist, nicht neutral zu sein. Der Begriff der Politischen Theologie hat, wie alle politischen Begriffe, eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge, die zur Selbstverortung zwingt.105 Meier verortet dabei Strauss als Schmitts „konkretes Gegenüber“, da sich Politische Theologie und Politische Philosophie gerade nicht wie zwei wissenschaftliche Disziplinen oder Sachgebiete menschlichen Handelns nebeneinanderstellen lassen, sondern durch einen unaufhebbaren Gegensatz getrennt sind.106 Zwar verbindet sie die Kritik an der selbstvergessenen Ausblendung und der ins Private verdrängten Fragen nach dem richtigen Leben und der gerechten Ordnung.107 Doch mit den unterschiedlichen Antworten, die sie darauf geben können, stehen sie sich diametral gegenüber: Die eine fußt auf dem Glauben an eine göttliche offenbarte Wahrheit, die andere auf menschlichem Wissen. Politische Theologie verneint die Möglichkeit einer rationalen Begründung der gerechten Lebensführung, während Politische Philosophie die Autorität der offenbarten Verbindlichkeiten generell anzweifelt. Wenn der Leser nun die Frage Was ist Politische Theo-

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Meier/Brainard (2006), S. 10. So verkennt Blumenberg in seiner Kritik an Schmitts Politischer Theologie die konkrete Gegensätzlichkeit. Zwar macht er die Selbstermächtigung und die Wissbegier des Menschen stark, doch sagt er ausdrücklich, dass diese „im Grunde rechtfertigungsunbedürftig“ seien, sondern in ihrer eigenen Evidenz ruhten (vgl. Blumenberg (2010), S. 393 ff.). So ist Blumenbergs Enttheologisierung letztendlich eine Entpolitisierung für Schmitt. Wenn es keinen Gott mehr gibt, der Gehorsam verlangt, hört die Welt auf, „politomorph“ zu sein, da es Gehorsam und Empörung nur noch in der diesseitigen „Menschenwelt“ gebe und so nur Menschen Gehorsam, jedoch keinen absoluten Gehorsam verlangen könnten und alles auf menschliche „Ansichten“ ohne Absolutheitsanspruch rückführbar sei. Ebenso verkennt dies auch Jan Assmann, wenn er in Herrschaft und Heil Schmitts Politischer Theologie rein „betreibenden“ Charakter durch die „Theologisierung der Freund- und Feindschaft“ zuschreibt und selbst eine ägyptische Politische Theologie als eine Theologisierung der politischen Begriffe „redefiniert“ (vgl. Assmann (2004), S. 23). 106 Meier (2009), S. 260. 107 Strauss interessiert an Schmitts Der Begriff des Politischen (1932) vor allem seine Kritik am Liberalismus, die Strauss in seinen Anmerkungen jedoch lediglich als „Begleit- und Vorbereitungsaktion“ (Meier (1988), S. 81) erachtet, da er im Liberalismus verhaftet bleibe und somit seine Kritik nicht vollendet, sondern nur „angestrebt“ sei (Strauss in: Meier (1988), S. 117). Im Dialog unter Abwesenden rekonstruiert Meier, dass Schmitt in der Folge seine theologischen Voraussetzungen stärker zum Vorschein kommen lässt (Meier (1988), S. 76). 105

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logie?108 an den gleichnamigen Text Heinrich Meiers stellt, erhält er die Antwort, dass Politische Theologie in ihrem wesentlichen Kern genau das ist, was Politische Philosophie nicht ist. Durch diese Gegensätzlichkeit gewinnt die Politische Philosophie schärfere Konturen, weswegen Schmitts radikale Politische Theologie vor allem zu der Klärung verholfen hat: Inter auctoritatem et philosophiam nihil est medium.109 Die Selbstverortung der Politischen Philosophie wirft nun aber die Frage auf, ob Sokrates als Begründer dieser philosophischen Lebensführung religiös gewesen sein kann. Hinweise dafür liefert Sokrates’ Erwähnung, dass er von einem daimonion geleitet werde und er seine philosophische Lebensweise als göttlichen Auftrag (theia moira)110 des Gottes von Delphi auffasst, sich selbst zu erkennen.111 Andererseits wurde er aufgrund von Gottlosigkeit (asebeia) vor Gericht gestellt. Das von Sokrates erlangte Wissen ist nun weder eine radikal atheistische Lehre noch eine spekulative Metaphysik, sondern, so interpretiert Peter Trawny das Eingeständnis „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, die Selbsterkenntnis der Grenze der menschlichen Vernunft.112 Dieses Eingeständnis gegenüber dem vorbehaltlos anerkannten religiösen Zentrum Delphi verkörpert daher den Befreiungsschlag der Philosophie zu sich selbst. Es ist die Selbsterkenntnis der Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Wissens, die den Beginn des philosophischen Strebens nach Wissen kennzeichnet und der Sokrates die Auszeichnung zum „weisesten Mann“ verdankt, die er von nun ab überprüft.113 Der Befreiungsschlag der Philosophie besteht nun gerade in dem Moment der Selbsterkenntnis, dass Sokrates sich selbst eben nicht als Weisen, sondern als einen „Freund der Weisheit“ bezeichnet.114 Politische Philosophie setzt daher für Trawny diese phi108 Vgl. die Ähnlichkeit der Formulierung des Titels von Was ist Politische Theologie? mit What is Political Philosophy? sowie deren Bezug auf die aporetischen ti estinFragen von Sokrates. 109 Meier (2009), S. 261. 110 Platon, Apologie, 33c. 111 Vgl. ebd., 28e; Strauss (2004), S. 402. Der Orakelspruch Gnothi Sauton stamme allerdings von einem alten spartanischen Philosophen (vgl. dazu Protagoras, 343a–b). 112 Vgl. Trawny (2007), S. 80; Platon, Apologie, 20e–21. 113 Strauss betont, dass nicht Sokrates selber, sondern, so berichtet er es in seiner Verteidigungsrede, Chairephon, ein Freund der Menge (hetairos en to plethei), die Pythia in Delphi befragt habe (Strauss (1989l), S. 41). Darüber hinaus freut sich Sokrates nicht einfach über die Aussage, der weiseste Mensch zu sein, sondern reagiert zweifelnd und prüft, ob die Auszeichnung wirklich zutrifft (Platon, Apologie, 36c). Trawny betont, dass die eigentliche Bedeutung des Orakels für den Politischen Philosophen nicht nur darin besteht, die philosophische Tätigkeit aufzunehmen, sondern die öffentliche Prüfung der Mitbürger als eine Mission im Dienste des Gottes von Delphi rechtfertigen zu können (vgl. Trawny (2007), S. 84 f.). Sokrates kann daher seine philosophische Lebensweise mit Berufung auf den Auftrag des Gottes (zeto kai ereuto kata ton theon) und als „Gehilfe des Gottes“ (to theo boethon) rechtfertigen (vgl. Platon, Apologie, 23b). 114 Ebd., 21b.

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losophische Selbsterkenntnis im Sinne der anthropopine sophia115 voraus. Doch hat sie im Gegensatz zu den vorherigen Aspekten der Politischen Philosophie, die sich zunächst mit ihrem Gegenstand, ihrem Selbstverständnis, ihrem Auftreten sowie ihrer „anspruchsvollsten Alternative“ der Politischen Theologie befassten, eine umfassendere Bedeutung. Diese Selbsterkenntnis verkörpert das reflexive Wesen der Politischen Philosophie und stellt das Zentrum dar, das jedoch mit den anderen Bestimmungen verschränkt ist und diese zugleich umschließt. Die Selbsterkenntnis, in der der Mensch sein eigenes unvollkommenes menschliches Wissen erkennt, weist aber auch auf die Frage hin, wie denn dieser Mensch dann leben soll. Die Alternative, die Sokrates bietet, ist eben jenes philosophische Leben, das unter der Maxime steht, Wissen über das „Ganze“ allein aus vernünftigen Begründungen heraus anzustreben. „Indem uns klar wird, dass wir die wichtigsten Dinge nicht kennen, erkennen wir gleichzeitig, dass das Wichtigste für uns, oder das einzig Notwendige, die Suche nach Erkenntnis der wichtigsten Dinge oder die Suche nach Weisheit ist.“ 116

Wenn Philosophie radikales Hinterfragen ist, so ist Politische Philosophie die radikalste Form der Philosophie, da sich in ihr die Philosophie selbst hinterfragt. Auch wenn das kritische Hinterfragen das Naheliegendste für den Philosophen zu sein scheint, ist es zugleich auch das Schwierigste. Die Selbsterkenntnis, nur menschliches Wissen erlangen zu können, nötigt den Philosophen, „seine Meinungen, Überzeugungen und Vorurteile in Dingen der Politik, Moral und Religion einer genauen Prüfung zu unterwerfen [. . .]“.117 Darunter fallen ebenso ein Überprüfen wie ein Bewusstmachen der eigenen Wahl in Bezug das philosophische Leben, wobei der Philosoph dabei selbst seine persönliche Ansicht, Meinung und Erkenntnis nicht von dem rückhaltlosen Befragen ausnehmen darf. Das Prüfverfahren ermöglicht eine Distanzierung eigener Überzeugungen und ermöglicht eine Freilegung vermeintlicher Selbstverständlichkeiten.118 Während Politikwissenschaft Politik als einen wissenschaftlichen Bereich unter vielen behandelt, bedenkt Politische Philosophie hingegen das „Ganze“, unter das ebenso die gute Ordnung des Gemeinwesens fällt. Politische Philosophie zeichnet sich durch ihren reflexiven Charakter aus, weswegen sich das Politische nicht nur auf ihren Inhalt bezieht, sondern vor allem auch darauf, mit welchem Anspruch dieser Inhalt erkannt und in welcher Art und Weise er kommuniziert werden kann. Politische Philosophie kann also im doppelten Sinne als politisch bezeichnet werden. Einerseits wägt sie inhaltlich zwischen der besten, der best115

Trawny (2007), S. 86. Strauss (1989g), S. 38. 117 Meier (2000), S. 28. 118 Ebd., S. 27. Meier fasst das Moment der Selbsterkenntnis jedoch auch ex negativo, indem er auf vorsokratische Philosophen rekurriert, denen es an diesem selbst-kritischen Moment mangelte. Meier zählt dabei auch Heidegger zu den Vorsokratikern. 116

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möglichen und der bestehenden politischen Ordnung ab, andererseits ist sie selbst politisch, indem sie sich selbst und ihr Auftreten reflektiert, um der Öffentlichkeit zeigen zu können, dass Philosophie erwünscht und sogar notwendig ist. „From this point of view the adjective ,political‘ in the expression ,political philosophy‘ designates not so much a subject matter as a manner of treatment; [. . .] ,political philosophy‘ means primarily not the philosophic treatment of politics, but the political, or popular, treatment of philosophy.“ 119

Heinrich Meier analysiert in Warum Politische Philosophie? Strauss’ Ansatz der Politischen Philosophie in Bezug auf ihren Gegenstand sowie auf ihren Modus. Dabei bestimmt er vier Momente der Politischen Philosophie, die sich aus dem theologisch-politischen Spannungsfeld ableiten lassen und die wiederum miteinander verschränkt sind und ein konstantes, einheitliches Grundproblem der Philosophie herausbilden. Die vier Momente sind: der thematische Gegenstand, die politische und die rationale Verteidigung des philosophischen Lebens sowie die Selbsterkenntnis des Philosophen. Kernthese des Ansatzes der Politischen Philosophie ist es nun, dass jede ernst gemeinte Philosophie Politische Philosophie werden muss, da einzig in der Politischen Philosophie die Philosophie ihren kritisch hinterfragenden Ansprüchen vollkommen gerecht werden kann, indem sie ihre eigenen epistemologischen Voraussetzungen, ihre theologisch-politisch geprägte Umgebung, ihren Gegenstand sowie ihre Außenwirkung reflektiert.120 Die Philosophie muss sich bewusst werden, dass sie sich zur Politischen Philosophie hinwenden und sich selbst an den politischen Lebenswirklichkeiten prüfen, legitimieren und beweisen muss. Verfolgung ist daher nicht die größte Gefahr der Philosophie, sondern es ist gerade die Begründungsunbedürftigkeit, die zu unerkanntem Dogmatismus, konturloser Verflachung oder zu einer instrumentellen Vereinnahmung politischer oder theologischer Art führen könnte. Die Politische Philosophie ist daher der Teil der Philosophie, durch den das „Ganze“ der Philosophie in Frage gestellt wird.121 Wenn sich die Philosophie vor dem „Tribunal der politischen Gemeinschaft“ rechtfertigen möchte, muss sie die unterschiedlichen Naturen der Adressaten bedenken, die größtenteils Nicht-Philosophen sind, und zu ihnen ad hominem sprechen.122 Darüber hinaus gilt es beim öffentlichen Auftreten die Vor- und Nachteile mündlicher und schriftlicher Kommunikation abzuwägen, wobei die Sicherung und Ermöglichung der Philosophie als Lebensführung für nachkommende Generationen ein nicht zu vernachlässigender Aspekt sind. In seiner öffentlichen schriftlichen Kommunikation richtet sich der Philosoph demnach nicht bloß an das zeitgenössische, sondern auch an ein nachfolgendes politisches Gemeinwe119 120 121 122

Strauss (1989j), S. 93 f. Vgl. Meier (2000), S. 13; 32 ff. Vgl. ebd., S. 27. Strauss (1989j), S. 93 f.

III. Politische Philosophie

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sen sowie an zukünftige, potentielle Philosophen. Er muss daher dieses Verhältnis der Adressaten in seinen konkreten politischen Sprechhandlungen einer „kunstmäßigen“ Politischen Rhetorik mit berücksichtigen, um seine Schriften gegenwärtig und im weiteren Verlauf 123 vor Verfolgung zu schützen und eine nachfolgende Schülerschaft auch in Zukunft zu bewahren. Politische Philosophie bemüht sich in ihrem öffentlichen Auftreten, die Grenzen und Voraussetzungen philosophischer Kommunikation zu erkennen, um eine philosophische Lebensführung im Sinne einer philosophischen Politik der Freundschaft auch generationenübergreifend gewährleisten zu können.124 Insofern wird Politische Philosophie zu einem „Handeln im Dienste der Philosophie: Schutz und Verteidigung des philosophischen Lebens oder Akt einer Politik der Freundschaft, die die Interessen der zukünftigen Philosophen mit einbegreift“.125 Von daher kann Heinrich Meiers Beschreibung der Politischen Philosophie als Gegenstand und Modus um das pädagogische Anliegen, sich zugunsten einer zukünftigen „philosophischen Politik der Freundschaft“ öffentlich zu äußern, erweitert werden. Ein Politischer Philosoph müsse sich letztendlich in der Öffentlichkeit selbst reflektieren und mit größter rhetorischer Vorsicht auftreten, um die Sache der Philosophie fortzusetzen.126 Der politische Philosoph Sokrates weigerte sich sein Leben lang, sich als Bürger Athens aktiv in die Politik einzumischen, sondern trat mit voller Absicht als störender myops (30e) auf, um die Polis aus ihren erstarrten Konventionen wachzurütteln und um möglichst viele potentielle Philosophen unter den Bürgern zum bios theoretikos zu bewegen.127 Sokrates wird darum von Strauss als erster politischer Philosoph bezeichnet, weil er sich der Naturphilosophie ab- und „den menschlichen Dingen“ zugewendet hat. Obwohl er von seinem Gegenstand der erste politische Philosoph war, so kann Sokrates jedoch hinsichtlich seines öffentlichen Auftretens kein Politischer Philosoph im Strauss’schen Sinne sein, da er die Erwartungen der Nicht-Philosophen nicht berücksichtigt hat, die letztendlich über ihn richten. Von daher muss dem Politischen Rhetoriker Platon der Titel des ersten Politischen Philosophen zugeschrieben werden, weswegen für Strauss Politische Philosophie in seinem Sinne sich immer an der platonischen Poli123 „Eben derselbe Gedanke kann, an einem andern Orte, einen ganz andern Wert haben“ (Gotthold Ephraim Lessing: Leibniz, von den ewigen Strafen (1773) zitiert in: Strauss (1945), S. 357). 124 Meier (2000), S. 20. 125 Ebd., S. 19. 126 Für Trawny setzt das öffentliche Auftreten des Philosophen daher eine tapfere Haltung voraus. Es sei darauf verwiesen, dass Tapferkeit (thymoeides) dabei ebenso den Stand der Wächter in Platons Politeia charakterisiert, die somit auch Voraussetzung für die Philosophen ist (Trawny (2007), S. 108). 127 „[Political Philosophy] means [. . .] the attempt to lead the qualified citizens, or rather their qualified sons, from political life to the philosophic life“ (Strauss (1989j), S. 93 f.).

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tischen Philosophie orientiert. Der Tod des politischen Philosophen Sokrates ist somit zugleich die Geburtsstunde der platonischen Politischen Philosophie.128

IV. Politische Rhetorik „Man rede nach der Fassungskraft der Leute [. . .]. Wir können nämlich nicht wenig Vorteil von ihnen erlangen, wenn wir so weit wie möglich ihrer Fassungskraft Rechnung tragen; hinzu kommt, dass man auf diese Weise die Menschen dazu bringen wird, der Wahrheit Gehör zu schenken.“ Baruch de Spinoza1

1. Platons antirhetorische Rhetorik „[I]ch bewunderte Platon bei diesem Buch [Gorgias] besonders darin, dass er sich – so schien es mir – mit seinem Spott über die Redner selbst als ein Meister der Beredsamkeit erwies.“ Cicero2

Platon ist bekannt für seinen Kampf gegen die sophistische Rhetorik,3 in dem er sich mit den berühmten Sophisten seiner Zeit sowie mit dem Verhältnis von Rede, Philosophie und dem Effekt auf das Publikum auseinandersetzt. Platon kritisiert dabei sowohl Inhalt als auch Form der rhetorisch übermittelten Sachverhalte vor allem, wenn diese politischer Natur sind. Platons Kritik an der Rhetorik ist für Leo Strauss dabei in den Komplex Politik, Philosophie und Paideia eingebunden und reflektiert die Form der sprachlichen Vermittlung als ein letztendlich notwendiger Teil der Politischen Philosophie. Von daher ist es kein Wunder, dass Strauss in seinem wichtigsten hermeneutischen Aufsatz Persecution and the Art of Writing proklamiert, dass die einzige Vorarbeit, die Forscher zu einer Technik des Zwischen-den-Zeilen-Schreibens leiten könne, in den Schriften der antiken Rhetoriker verborgen liege.4 Hinsichtlich seines Philosophieverständnis128 Vgl. Meier (2000), S. 11. Dementsprechend betitelt Strauss seine Aufsatzsammlung Studies in Platonic Political Philosophy, obwohl sich nur zwei der fünfzehn Beiträge direkt mit Platon auseinandersetzen. 1 Spinoza (2003), S. 17. 2 Cicero, De oratore I, 47. 3 Rhetorik und Sophistik werden im Folgenden als synonym behandelt, da beide auf das Engste zusammengehören. Die geistige Bewegung der Sophistik förderte und bestimmte vor allem die Jugendbildung, wobei sie auf zweckorientierte, „praktische“ Forschung zielte, in der „Kunst des schönen Redens“ eine tragende Rolle spielte und daher vornehmlich ethische und „menschliche Dinge“ anstatt metaphysische oder naturphilosophische Theorien behandelte. 4 Strauss (1988c), S. 24; dt. Strauss (2009), S. 27. Strauss ist sich seiner Benutzung einer Metapher seiner Politischen Rhetorik als „Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ ebenso bewusst wie des terra incognita, das hinter dieser Metapher liegt (vgl. Strauss (1988c), S. 24). Strauss geht dabei davon aus, dass der philosophische Wirklichkeitsbe-

IV. Politische Rhetorik

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ses kann er mit den antiken Rhetorikern nun gerade nicht die großen Sophisten und Rhetoriker meinen, die als Negativbeispiele durch Platons Dialoge bekannt geworden sind. Er muss vielmehr Platons eigene rhetorische Strategie meinen, die sich einer Politischen Rhetorik um der Philosophie willen bedient. Platons Hauptkritik gegen zeitgenössische Redenschreiber, Rhetoren und Sophisten5 richtet sich gegen die Art, in der sie mit auswendig gelernten oder abgelesenen emphatischen Reden ihr Publikum zu dem Glauben zu überreden trachten, Kenntnisse lehren zu können, ohne philosophische Kenntnis über die Sache erlangt zu haben. Dabei bedienen sie sich stilistischer Mittel, um einer großen Menge an Unwissenden Scheinwissen zu vermitteln. Platons Kritik an der Rhetorik bezieht sich sowohl auf das formale „Wie“ der Darstellung einer Sache als auch auf das „Was“, deren ontologischen Status. Seine Diskussion, ob falsches Reden als weder seiend noch nicht-seiend erachtet werden müsse und ob daher die Rhetorik ein „Zwischending“ zwischen Sein und Nichtsein darstelle, soll an dieser Stelle in den Hintergrund treten. Der Fokus in diesem Kapitel liegt auf Platons Kritik der Rhetorik als ein sprachliches Instrument, um einer Menge von Unwissenden Schweinwissen zu vermitteln. Resultierend aus Problemen der Rechtsprechung6 ist Rhetorik von Geburt an aufs Engste mit der Polis verbunden. Rhetorik und soziale Konflikte, zunächst der Kampf um rechtmäßigen Grundbesitz, bedingen sich daher gegenseitig. Aus diesem für das Zusammenleben notwendigen Umgang mit Sprache entwickelte sich geradezu eine „Kunst“ der Überredung. Durch Herausbildung mehrerer Schulen durch berühmte Redner entstand dadurch eine kulturelle und politische Hegemonie der sophistischen Rhetorik, die, bis auf einige philosophische Gegenansätze, konkurrenzlos das politische und kulturelle Umfeld bestimmte. Christian Meier spricht daher von einer rhetorischen „Politisierung der Polis-Ordnung“ 7 als zug auf sprachliche Adäquatheit verzichten muss – selbst wenn er diese Zusammenhänge darstellen könnte. Platon hingegen wird zumeist die Auffassung zugeschrieben, Sprache als „reines Transportmittel eines unproblematischen Sachverhaltes“ (Bohlender (1995), S. 39) zu sehen, so dass seine philosophische Dialektik nicht der Unbeherrschbarkeit der Sprache und des risikobehafteten Sprechhandelns der sophistischen Rhetorik ausgeliefert sei. Darüber hinaus stellt sich Strauss als Kommentator Platons mit einem Bild vom starken Autor gegen die Annahme, dass schriftliche Kompositionen gemäß der „logographischen Notwendigkeit“ unkontrollierbar seien, da es immer einen „blinden Fleck“ gebe. 5 Vgl. hierfür insbesondere Platon, Phaidros, 257c. 6 Durch die Umsiedlungs- und Enteignungsprogramme nach dem Sturz der sizilianischen Tyrannen im 5. Jahrhundert v. Chr. wurden zahlreiche Prozesse geführt, um aus den verworrenen Besitzverhältnissen die ursprünglichen zurückzuerlangen. An diesen Prozessen in einem nun demokratischen Regime nahmen zahlreiche Geschworene aus dem Volk teil, die durch Reden überzeugt werden mussten (vgl. Grieswelle (2000), S. 76; vgl. auch Ueding (2011), S. 79). 7 Meier (2007), S. 152. Für eine Gesamtdarstellung der antiken Rhetorik vgl. Eisenhut (1977).

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einer Reaktion auf geschwächte Institutionen mit neuen Handlungsspielräumen, in denen Entscheidungen gefällt werden mussten. In diesem Sinne könne Rhetorik als eine Antwort auf das nun bewusst wahrgenommene „Auf-sich-gestelltSein“ der Menschen auf der Suche nach Orientierung und als Beschleuniger dieses neuen Mentalitätswechsels betrachtet werden. Anstatt der ewigen Ideen und metaphysischen Fragen wendet sich die geistige Bewegung der Sophistik inhaltlich in erster Linie den „menschlichen Dingen“ zu und interessiert sich für ihre soziologische Stellung und ihre Beziehungen zur Umwelt. Da die Sophistik darüber hinaus nicht auf zweckfreie Forschung ausgerichtet war, sondern einen vornehmlich praktischen Bezug hatte, wurde sie vor allem für politische und rechtliche Dinge eingesetzt. Es bildeten sich daher ziemlich schnell zahlreiche Rednerschulen, in denen Weisheitslehrer (sophistes) gegen Bezahlung den „Ungebildeten“ umfassendes Wissen (episteme), aber auch rednerische Praxis (techne)8 vermitteln wollten. Eine Ausbildung bei einem der berühmten Lehrer der Rhetorik spielte eine wichtige Rolle in der höheren Bildung und war letztendlich Voraussetzung für alle öffentlichen Ämter.9 Dies war zudem möglich, da jene „Berufsintellektuellen“ Polymathie und Paideia als eine für jedermann lehr- und lernbare Ware annahmen. Allein durch den erlernten Umgang mit der Rede sollte jede nur denkbare Situation gemeistert werden können, ohne diese mit einem Absolutheitsanspruch bezüglich der Erkenntnis begründet haben zu müssen. So behauptete auch der berühmte Sophist Gorgias aus dem sizilianischen Leontinoi,10 dass die Jugend mit seinem rednerischen Unterricht hervorragend gebildet werden könne. Statt einer faktischen, inhaltlichen Ausbildung bestand dieser zunächst darin, rein formal durch Übungsstücke die sprachlichen Fähigkei8 Die Sophisten propagierten einen pragmatischen Vernunftgebrauch auf der Grundlage des Könnens (techne) gepaart mit individualistischen, skeptizistischen Zügen. Hauptstreitpunkt in der Rhetorik-Debatte der Antike war die Frage, ob Rhetorik eine erlernbare Fertigkeit, eine Kunst oder gar eine Wissenschaft sei. Unter dem Aspekt der Wissenschaft behandelt Platon die Rhetorik, indem er sowohl Form als auch Inhalt erforscht. Als „Überredungskunst“ wurde Rhetorik doch zumeist als Fähigkeit (techne) betrachtet. Aristoteles ordnet die Rhetorik als „Seitenstück“ (antistrophos) der Dialektik zu (Rhetorik I 1354a). Für ihn sind sowohl Dialektik als auch Rhetorik ein Gemeingut, das keiner Wissenschaft (episteme) angehöre, sondern in gewisser Hinsicht ein „Können“, das alle Menschen zu einem gewissen Grad beherrschen (vgl. Eisenhut (1977), S. 3). Darüber hinaus bestimmt Aristoteles die Rhetorik als „Fähigkeit, für jeden einzelnen Fall das in ihm liegende Überzeugende zu erkennen“. Mit dieser Ansicht ist Aristoteles’ peripatetische Schule in der Rhetorik führend geblieben. 9 Ebd., S. 6. 10 An dieser Stelle sei vermerkt, dass Gorgias selbst aus politischen Gründen 427 v. Chr. die Reise ins griechische Mutterland auf sich nahm. Als Führer einer Gesandtschaft aus dem kolonialen Leontinoi versuchte er, Athen zu bewegen, seiner Heimatstadt gegen Syrakus zu Hilfe zu kommen. Die Politik betraute damit die Rhetoriker mit politischen, diplomatischen Missionen, so dass auch hier ein direkter Zusammenhang zwischen Rhetorik und Politik sichtbar wird (vgl. ebd., S. 19).

IV. Politische Rhetorik

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ten zu kultivieren. Gorgias unterrichtete mittels Lehrstücken zum Auswendiglernen, die „Gemeinplätze“ (topoi) beinhalteten – ausgearbeitete, wirkungsvolle Redefragmente, die gut in andere Reden integrierbar und daher vielfältig und vielfach verwendbar waren.11 Gorgias konzentrierte seine Ausbildung vornehmlich auf die formale Redekunst als Selbstzweck, was sich radikal vom sokratisch-platonischen Ideal unterschied. Daher rief die sophistische Praxis vor allem durch ihren unphilosophischen Erziehungsanspruch starken Widerspruch von Platon hervor, der mit seinem dialektischen Verfahren des Prüfens und Widerlegens und seiner eigenen polemischen Rhetorik das Bild der Sophisten seither negativ geprägt hat.12 Platon reflektiert in einer Passage seines Siebenten Briefes die Unzulänglichkeit der Sprache zur Vermittlung von Erkenntnissen,13 was durch das Medium Schrift noch erschwert wird. Vor allem betrifft dieser Gedanke auch die Sagbarkeit von Philosophie. Kann man philosophisches Wissen überhaupt sagen? Sollte man dies sagen? Gibt es einen Unterschied zwischen der Sache und dem Reden, zwischen Inhalt und Form? Platon lässt Sokrates zu Beginn des Symposion über die „mechanische“ Übertragbarkeit von Wissen ohne eigene Erkenntnis nachdenken.14 Jedoch reflektiert er nicht nur die „Form“ der Übertragung, sondern, vor allem im Phaidros, eben auch die Wirkung der Rhetorik. Zu unterscheiden ist dabei einerseits zwischen der Form, die als techne rhetorike durch Übung erlernbar wäre, und andererseits dem zu vermittelnden Inhalt. Unter diesen beiden Aspekten reflektiert Platon im Phaidros sowohl die „gute Rede“ der „Redenschreiber“ als auch die der Philosophen und wägt darüber hinaus Vor- und Nachteile der schriftlichen und mündlichen Übermittlung gegeneinander ab.15 Aus 11 Zu Gorgias’ Ausbildung vgl. ebd., S. 21. Auch in anderen Rhetorenschulen, wie bei Isokrates und Protagoras, waren praktische, eingängige und vor allem durch Auswendiglernen abrufbare Lebensweisheiten Hauptbestandteil des Unterrichts. Die Ausbildung in solchen Kursen dauerte drei bis vier Jahre. 12 Da vornehmlich die platonischen Werke überliefert wurden, wurden die Sophisten und Rhetoriker der Antike in der westlichen Wirkungsgeschichte vor allem mit dem negativen Bild der „Rechtsverdreher“ wahrgenommen. 13 Platon, Siebenter Brief, 343a: „Aus diesem Grunde wird kein vernünftig gebildeter Mensch es je über sich gewinnen, die durch die reine Vernunft von ihm erfassten Wahrheiten in jene unzulänglichen Sprach-Bezeichnungen zu versetzen, zumal da diese etwas ganz Unbeholfenes sind, ein Missstand, welcher bekanntlich bei den durch Buchstaben geschehenden Veröffentlichungen eintritt.“ Friedrich Nietzsche spitzt diesen Gedankengang zu, da Philosophie für ihn generell einer rhetorischen Ummantelung bedarf. Entgegen der Kritik an der Rhetorik wettert er, dass es „keine unrhetorische ,Natürlichkeit‘ der Sprache gebe. [. . .] Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine dóxa, keine epistéme übertragen“ (Nietzsche (1922), S. 298). Dies führt er in seinem Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) weiter aus. Aufgrund der Unhintergehbarkeit der Sprache könne „Wahrheit“ nicht mehr sein als lediglich rhetorischer Schein, weswegen die Rhetorik – die Platon ja eigentlich als schmeichlerische Lüge verurteilt – die einzig mögliche Erkenntnisform darstelle. 14 Vgl. Platon, Symposion, 175d–e. 15 Vgl. hierfür das Kapitel Schriftlichkeit und Philosophie.

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dem Phaidros geht auch Platons Auffassung hervor, dass philosophische Erkenntnisse einer adressatengerechten, rhetorischen Vermittlung bedürfen – kurz gesagt, dass Philosophie Rhetorik benötigt. In diesem Kapitel soll es daher weiterführend um Platons Auseinandersetzung mit der Wirkung und der Leistung einer Politischen Rhetorik im politischen Umfeld gehen. Unter dem Aspekt der rhetorischen Wirkung ist Platons Dialog Gorgias berühmt geworden. Vor allem setzt sich der Dialog mit der herausfordernden Behauptung jener Redekunst auseinander, den Redner in allen thematischen Angelegenheiten als überlegen auftreten zu lassen.16 Platon kritisiert vor allem, dass eine so verstandene Redekunst, vor allem in Fragen der Gerechtigkeit, auf letztes Wissen verzichten muss. Im Gespräch mit dem Gorgias-Schüler Polos äußert Platon, dass Rhetorik nicht nur über kein Wissen (episteme) verfüge, sondern durch ihr schmeichlerisches Wesen sogar vom Wissen wegführe, da sich die Zuhörer mit diesem effektvoll präsentierten Glauben zufriedengäben und nicht weiter nach philosophischer Erkenntnis strebten. Daher könne Rhetorik gar nicht in allen Angelegenheiten Überlegenheit von sich behaupten, sondern sei letztendlich – wohlgemerkt aus der Perspektive des Philosophen – eine Ohnmacht. Gänzlich anders antwortet Gorgias auf Sokrates’ Frage, was Rhetorik sei und auf was sie sich als Wissenschaft beziehe.17 Für den selbsternannten „vollkommenen Meister der Redekunst“ zeichnet sie sich dadurch aus, dass der Redner durch seine Worte Macht erlangt und sowohl die Richter als auch die Ratsmänner in jeglicher Versammlung bezüglich dessen, was gerecht und ungerecht ist, überreden kann. Die Kunst der Redekunst könne demnach „Überredung in der Seele der Hörenden bewirken“.18 Es stellt sich im weiteren Verlauf heraus, dass die Redekunst nur „Meisterin der Überredung“ einer glaubendmachenden, keineswegs aber einer einsichtigen Überredung bezüglich aller möglichen Themen ist. Denn, so ergänzt Sokrates, der Redner vor Gericht könne wohl kaum „einen so großen Haufen in kurzer Zeit bekehren über so wichtige Dinge“.19 So fände, in einem von Gorgias genannten Beispiel, ein Redner bei der unwissenden Menge mehr Gehör als der sachliche Experte, in diesem Fall ein Arzt. Da der Redner angeblich über die Sachen selbst nichts zu wissen brauche, müsse er nach außen nur den Schein des Wissenden erlangen, „so dass er als Nichtwissender unter den Nichtwissenden dafür gilt, mehr zu wissen als ein Wissender“.20 Ein Redekünstler vermittelt demnach nicht nur Scheinwissen, sondern ist selbst ein Schein-Wissender. Dieser findet allerdings in beiden Aspekten bei der großen 16

Platon, Gorgias, 452d. Vgl. Platon, Gorgias, 449b–451d. 18 Ebd., 453a. 19 Ebd., 455a. In der Fortführung des Gesprächs präzisiert sich diese Behauptung, dass Gorgias einen jeden zum Redner ausbilden könne, der bei ihm lernen will. 20 Ebd., 459d. 17

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Menge „in der Bewirkung einer gewissen Lust und eines Wohlgefallens“ 21 Anklang. Die Redekunst ist für Sokrates daher nur eine Schmeichelei, für die es einer „dreisten Seele“ bedarf, „die von Natur aus stark ist in der Behandlung der Menschen“.22 Die Seele eines solchen Redners sei „dreist“, da sich seine Redekunst nicht um die Vortrefflichkeit der Seele sorge, indem sie die Zuhörer zu besseren Menschen erziehen wolle, sondern sich nur um das eigene Wohl und das eigene Ansehen in der Gesellschaft kümmere. Redekunst vernachlässige den ethischen Aspekt, dass das Gute Ziel allen Handelns sei.23 Wenn ein Redner davon jedoch nichts wisse, handle er willkürlich nach eigenem Wohlgefallen, ohne auf das Gute in seiner Seele und in den Seelen seiner Zuhörer zu achten. Um die Fehlhandlungen der eigenen Seele vorzubringen und die eigene Ungerechtigkeit der Seele zu reflektieren, eigne sich die Redekunst nicht, da sie nicht lehre, die Begierden zu zügeln und tugendhaft zu leben.24 Indem sie nicht das Beste in der Seele berücksichtige, könne sie bloß Wohlgefallen am Lustvollen und Schmeichlerischen erregen. In diesem Sinne richten sich auch Musik und Tragödie auf das reine Vergnügen aus, anstatt seine Zuhörer zum Besseren zu führen, so dass auch die Dichtung als schmeichlerische Redekunst gezählt werden muss. Da auch Dichtung dem „großen Haufen“ gefallen will, ist sie für Platon eine „Volksbearbeitung“ 25. Unter diesem erzieherischen Aspekt ist auch Platons Kritik an der Dichtung in der Politeia zu verstehen, die in zwei Schritten erfolgt: einer inhaltlichen Zensur im zweiten und dritten Buch und einer radikalen Verbannung im zehnten Buch. Die inhaltliche Kritik erfolgt im Rahmen des Aufbaus eines Erziehungssystems für die angehende Wächterkaste des Gemeinwesens. Von daher unterzieht Sokrates die gesamte musische Ausbildung auf ihre tugendpädagogische Eignung, weswegen die inhaltliche Kritik an der Dichtung vor allem die Göttersagen von Homer und Hesiod trifft.26 Da es Platon im zweiten Buch um die seelenformende Erziehung geht und gerade die „jungen und zarten Wesen“ noch von brutalen und moralisch fragwürdigen Geschichten beeindruckt und geprägt werden, ist der Wunsch nach ethisch tadellosen Inhalten verständlich. Wie sollen Kinder zu tugendhaften Wächtern werden, die ihre Mitbürger beschützen sollen, wenn sie mit Skandalgeschichten um Raub, Mord und Rachsucht aus dem Hause Zeus aufwachsen? Die Erziehung zu Tugend und Gerechtigkeit bedarf der Unterstützung durch moralisch unverfänglich präsentierte Mythen über die Götter – alle 21 22 23 24 25 26

Ebd., 462a. Ebd., 463a–b. Vgl. ebd., 468b. Vgl. ebd., 480b–500a. Ebd., 502c. Platon, Politeia, 376c–398c.

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anderen Geschichten werden von den zukünftigen Philosophenherrschern aus dem Bildungskanon entfernt. Gegen Ende der Dichterkritik im Erziehungssystem wendet sich Sokrates jedoch von dem Inhalt der Göttergeschichten ab und konzentriert sich auf die Art und Weise, wie diese vorgetragen werden. Sokrates betont die Wichtigkeit der musischen Kunst in der Erziehung, „weil Rhythmus und Tonart am tiefsten in das Innere der Seele dringen, sie am stärksten ergreifen, ihr Wohlgestalt bringen und sie wohlgestaltet machen“.27 Hier bahnt sich Platons formale Kritik bereits an, die im letzten Buch nach Darlegung der Ideenlehre und der akademischen Ausbildung der Philosophenherrscher radikal verstärkt wird. Die Aversion gegen mimetische Kunst und die Vorliebe für den einfachen Erzählstil wird jedoch erst nachvollziehbar mit Platons Ausführungen zur Erkenntnistheorie und den daraus abgeleiteten drei hierarchischen Stufen der Nachahmung aus dem zehnten Buch. „Alles [was zur nachahmenden Dichtung gehört] scheint mir Gift für den Verstand aller derjenigen Hörer zu sein, denen nicht die wahre Kenntnis der wahren Natur dieser Dinge als Schutzmittel dagegen zu Gebote steht.“ 28

Dichtung scheint demnach nur für diejenigen keine Gefahr darzustellen, die „wahre Kenntnis“ besitzen, und das sind, laut vorher erbrachter Definition, die in Dialektik geschulten Philosophen.29 Da die Dichtung aber nur den Philosophen nichts anhaben könne, müsse es gerade ihnen gelingen, sie aus dem Gemeinwesen zu verbannen. Mit Verweis auf die Ideenlehre versucht Sokrates zu klären, was Nachahmung eigentlich ist, nämlich die „Erschaffung eines Bildes“, das „drei Schritte von der Wahrheit“ 30 entfernt ist und das nur Phantome produziert, aber keinesfalls die Realität abbildet.31 Der Künstler täusche die Menschen dabei insofern umso mehr, als sie von dem Dargestellten nichts verstünden, ihnen jedoch diese Kompetenz zugesprochen werde. Da Nachahmungen nur „an dritter Stelle hinter der Wahrheit“ stünden, seien sie „bloßes Spiel und kein Ernst“ 32 27 Ebd., 401d. Platon unterscheidet drei Formen der dichterischen Darstellung: die „einfache“ Art der Beobachterperspektive, die Nachahmung und die Mischform (vgl. ebd., 392d). Vor allem kritisiert er dabei die nachahmende Form, in der sich ein vortragender Dichter in die Rolle einer anderen Person versetzt und so spricht und handelt, als wäre er diese Person. Im Gegensatz zur distanzierten epischen Erzählerposition sorgt sich Platon bei der mimetischen Nachahmung, wie sie vor allem in Tragödien und Komödien erfolgt, um den Verlebendigungseffekt, der emotionale Auswirkungen auf das Publikum hat. Um diese Gattung von Dichtung im Staat verbieten zu können, argumentiert Platon, allerdings auf sehr schwache Weise, dass nachahmende Dichtung gegen das Polypragie-Verbot verstoße. Da sich die nachahmende Kunst gegen das Spezialisierungsgebot wendet, ist sie für Platon ungerecht und aus dem gerechten Staat zu verbannen. 28 Ebd., 595b. 29 Vgl. ebd., 534b. 30 Ebd., 595a–602b. 31 Vgl. ebd., 599a. 32 Ebd., 602b.

IV. Politische Rhetorik

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und daher nutzlos. Wie die sophistische Rhetorik ziele sie allein auf Sinnlichkeit und Affekte, wodurch ihre Wahrnehmung das angestrebte Gleichmaß der Vernunft störe. Nachahmungen, so lautet Platons Vorwurf, verzauberten das Publikum, indem es emotional involviert und dabei gut unterhalten werde. Dabei richte sich Dichtung allein an den „reizbaren und unbeständigen Charakter der Seele“, um „bei der Menge Beifall [zu] finden“ 33. Anstatt auf Erkenntnis setzt Dichtung auf Gefühle, weswegen es Platons „größte Anklage“ gegen die nachahmende Kunst ist, dass sie selbst „imstande ist, auch die anständig Denkenden zu verderben“ 34. Während Sokrates anfangs Dichtung nur für Nicht-Philosophen zum „Gift“ erklärt, sieht er nun die potentielle Gefährdung auch der „anständig Denkenden“, indem die Dichtung den niederen Seelenteil selbst derjenigen nährt und beherrscht, der eigentlich von der Vernunft beherrscht werden sollte.35 Daher radikalisiert Sokrates seine Zensur der Dichtung aus dem zweiten und dritten Buch und verbannt nun jegliche Dichtung zum Schutz der Philosophen. Sokrates unterstreicht jedoch, dass er die Dichtung wieder in das Gemeinwesen aufnehmen würde, wenn sie ihren Nutzen – wohlgemerkt in prosaischer Form – rechtfertigen und beweisen könne, dass ihre Dichtung nicht nur angenehm und unterhaltsam sei, sondern auch der vernünftigen Ordnung des Staates diene.36 Durch den plötzlichen wiederaufgenommenen Einwurf der Dichterkritik im zehnten Kapitel wurden viele Versuche unternommen, diese als ironischen Einwurf zu erklären oder einer schriftstellerischen Laune zuzuschreiben. Dadurch erhielt die Politeia den Verdikt eines „schwachen und schludrigen Endes“ 37, das nicht in das Gesamtkonzept des idealen Staates passe. Entgegen diesen Vorwürfen zeigt der Philologe und Medientheoretiker Eric Havelock, aufbauend auf der Oral-Poetry-Forschung von Milman Parry,38 dass Dichtung in der griechischen Kultur um 400. v. Chr. ein fundamentales und einflussreiches Instrument der Kommunikation darstellt. Dichtung forme das so genannte „cultural book“, mit 33

Ebd., 604b. Ebd., 605c. 35 Vgl. ebd., 606d. 36 Vgl. ebd., 607b–608b. 37 Annas (1981), S. 353. 38 Vgl. Parry (1930). Milman Parry untersuchte kulturelle Mnemotechniken hinsichtlich der Frage, wie Gesellschaften ohne Schrift als „Gedächtnisspeicher“ für sie relevante Informationen sowie soziale Regelungen erinnern konnten. Er entdeckte dabei, dass Dichtungen wie die Ilias und die Odyssee nicht allein unter dem künstlerischen Aspekt zu betrachten sind, sondern ihre Form eine Erinnerungstechnik darstellt, die mündlichen Kompositionsregeln unterliegt. Diese rhythmische Komposition trägt einerseits den Inhalt des „cultural book“, andererseits ermöglicht sie durch einen großen kompositorischen Freiheitsgrad Improvisationen, da es sich nicht um ein wortwörtliches Memorieren handele, sondern der Dichter über ein Repertoire an feststehenden Phrasen verfügte, die er dem Publikum und der Situation entsprechend anpasste. 34

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dem er die Kapazität einer jeden menschlichen Kultur meint, für sie relevante Informationen zu speichern und über sie jederzeit verfügen zu können. Platons Zeit, so Havelock, sei demnach eine Übergangszeit, in der die Speichermethode der oralen mnemotechnischen Dichtung durch das griechische phonetische Alphabet abgelöst worden sei und sich somit Sprache und Denken den neuen medialen Bedingungen angepasst hätten.39 Obwohl das Alphabet Oralität durch Literarität habe ersetzen können, seien in der Übergangzeit zur Schriftlichkeit mnemotechnische Elemente weiterhin aufgenommen worden, bis eine eigene Sprache der Literalität entstanden sei.40 Dichtungen wie die Ilias und die Odyssee seien daher nicht als geschriebene Texte zu verstehen, sondern als Erzeugnisse verschriftlichter oraler Improvisationskunst, durch die das gesamte „cultural book“ hätte abgerufen werden können. Dichtung stellt daher in nicht- oder semiliteralen Kulturen das didaktische Instrument dar, um tradiertes Wissen zu übermitteln.41 Orale Dichtungen verkörpern demnach nicht nur bestimmte sprachliche Gewohnheiten, sondern prägen insbesondere eine Form des Denkens und eine geistige Haltung.42 Vor allem verursache Dichtung eine „pathologische“ emotionale Vereinnahmung des Publikums durch einen enthusiastischen Dichter und verhindere durch die Flüchtigkeit der Wörter eine inhaltliche Auseinandersetzung und eine kritische Distanz zum Gehörten. Da die Epen und Dichtungen durch ihre Rhythmik ohne Pause vorgetragen wurden, sei es unmöglich gewesen, das Gehörte aus der Distanz zu betrachten und zu überdenken. Dadurch sei es relativ leicht, soziale, moralische Regeln durch die lebensnahen Geschichten unreflektiert zu übernehmen. Die Dichter könnten daher als unhinterfragte geistige Erzieher der Gesellschaft angesehen werden, die monopolartig das gesamte kulturelle Gedächtnis verwalten und garantieren. Der Mensch in oralen Kulturen könne somit Zusammenhänge nicht nach unterschiedlichen Standpunkten abwägen und diese nach abstrakten Zielen hin entfalten, weswegen eine durch ein solches Medium geprägte Wissensvermittlung für Platon ein „Gift für den Verstand“ darstellt.43 39

Havelock (1986), S. 111. Zur Unterscheidung von Nichtliteralität und den Zwischenformen einer handwerklichen Literalität (craft literacy), der späteren Semi-Literalität bis hin zu einer gänzlich schriftlichen Literalität vgl. ebenfalls ebd., S. 90. Zu Havelocks Ansicht über Platons Abwägung der Vor- und Nachteile dieser Phasen vgl. Havelock (2004). 41 Havelock (1963), S. 43. 42 Vgl. auch Havelock (1990), S. 114. Die Geistesverfassung in mündlichen Kulturen ist demnach durch orale Dichtung bestimmt und wird von Havelock dadurch charakterisiert, dass in der Übertragung von Wissen objektive Distanz, Kritikfähigkeit sowie Reflexion und Abstraktion fehlen, wobei Bildhaftigkeit und Emotionalität dominieren. Komplexere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge werden noch nicht kausal nachvollzogen, sondern in mythische Göttergeschichten verpackt und sollen geglaubt statt gewusst werden. 43 Vgl. Havelock (1963), S. 200. 40

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Havelock verbindet Parrys Ergebnisse über die bildlichen und formelhaften Elemente der oralen Poetik mit Platons Kritik an den Dichtern in der Politeia. Erst vor dem Hintergrund einer immer noch einflussreichen oralen Dichtung lässt sich die platonische Dichterkritik als pädagogische Auseinandersetzung sowie als Plädoyer für eine neue Art des Wissens verstehen, das in generellen, allgemeinen und abstrakten Kategorien gedacht wird.44 Havelock zeigt, dass Platon für die Philosophen eben den Platz im Erziehungswesen beansprucht, den bislang die Dichter eingenommen haben. Platons Kritik, Zensur und letztendlich Verbannung der Dichter sind laut Havelock eine Ablehnung der oralen Tradition und ihrer noetischen Auswirkungen auf das Erziehungs- und Bildungswesen. Dichter kopierten und ahmten nicht nur Wörter und Phrasen, sondern auch Inhalte nach, ohne selbst Einsicht in den jeweiligen Wissensbereich zu haben und ohne dabei auch nur einen Funken an Selbstreflexion ihrer Tätigkeit vorzuweisen. Platons Kritik sei daher eine Ablehnung des formalen Aspekts der griechischen Wissensübermittlung – ein geistiger Zustand, der in einer Spannung mit den neuen Gedankenmodifikationen bestanden habe, die durch die Effekte des Alphabets verursacht worden seien. Platon kenne zwar das vorherrschende Medium und beabsichtige, dieses zugunsten der Erziehung zu verändern, jedoch kritisiert Havelock, dass er dies in seinen Dialogen selbst nicht konsequent anwende, da er sich selbst in seinen Dialogen auf dichterische Überlieferungen beziehe.45 Der gesamte Logos wird als fiktiver Mythos mit rhetorischen Stilmitteln vorgetragen, so dass hinsichtlich der inhaltlichen und formalen Dichter- und Mythenkritik im zweiten und zehnten Buch der Politeia sowie der Abneigung gegen die sophistische Rhetorik Platons Dialoge selbst als antirhetorische Rhetorik gelesen werden müssen. An Havelocks Urteil ist zu kritisieren, dass er durch seinen pädagogischen Schwerpunkt davon ausgeht, dass die politische Theorie nur ein Drittel der Politeia ausmacht.46 Der politische Rahmen des Werkes könne, so Havelock, getrost als utopisch betrachtet werden, während für ihn die pädagogische Kritik als ernst zu nehmender Angriff auf das bestehende Erziehungswesen zu verstehen ist.47 Havelock übersieht dabei jedoch den zutiefst politischen Charakter, der das Verhältnis zwischen Philosophie, Dichtung und Gemeinwesen ausmacht, wie es Leo Strauss herausgearbeitet hat.48 Als Professor für Politische Philosophie unterrich-

44

Vgl. ebd., S. 259 f. Vgl. ebd., S. 254 ff. 46 Vgl. ebd., S. 3, 13. 47 Vgl. ebd., S. 4, 7, 13. 48 Vor allem in den späten Werken Socrates and Aristophanes, aber auch in seinen Platon-Kommentaren in The City and Man, On Plato’s Symposion, The Argument and Action in Plato’s Laws, Xenophon’s Socrates. Zur Auseinandersetzung von Strauss mit Havelocks Buch The Liberal Temper in Greek Politics (1957) vgl. Strauss (1995d). Havelock geht in diesem davon aus, dass Platon kein liberaler Denker gewesen ist, wobei 45

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tete er 1959 ein Seminar zu Platons Symposion, in dem er in Bezug auf das Gemeinwesen eine direkte Konkurrenz zwischen den Philosophen und Poeten feststellt.49 Der größte Konkurrent der Philosophie in der Antike sei die Dichtung, insbesondere die Tragödie, da sie über eine Anziehungskraft verfüge und die meisten Menschen am tiefsten berühre. Der Hauptvorwurf der Dichter stamme, so Strauss, von dem Komödienschreiber Aristophanes in seinem Werk Die Wolken und sei als Warnung an die Philosophen zu verstehen, nicht allzu weltfremd bloß in ihrer „Denkwerkstätte“ (phrontisterion) zu verweilen.50 Laut Strauss’ Interpretation hat es Sokrates in Die Wolken nicht geschafft, sich vor dem Gemeinwesen rechtfertigen und seine Tätigkeit erklären zu können, mit der Folge, dass sein „Think Tank“ niedergebrannt wird. Während Philosophie sich darum bemühe, weltliche und politische Dinge gänzlich fernzuhalten, seien Aspekte des Zusammenlebens gerade Thema der Dichtung und ihre rhythmische, emotionale und bildhafte Sprache berühre die Zuhörer dermaßen, dass Dichtung einen erzieherischen und meinungsbildenden Effekt ausübe. Es gelinge ihr daher, die Menge zu beeindrucken. In diesem Sinne erkennt Strauss die Ähnlichkeit (kinship) zwischen Rhetorik und Dichtung.51 Anders als bei Havelock jedoch ist die Politeia für Strauss der politische Dialog – nicht etwa, weil er die bestmögliche Regierung darstellt, sondern weil er die Natur der politischen Dinge aufweist, indem er die Voraussetzungen und die wesentlichen Begrenzungen der Philosophenherrschaft reflektiert.52 Der „scheinbar unbeabsichtigte Rückbezug“ 53 auf die Dichterkritik im zehnten Buch der Politeia erfolgt an genau der Stelle, nachdem Sokrates vom Verfall der besten Stadt gesprochen hat. Die Dichter werden daher aus der besten Stadt vertrieben, da sie, so Strauss, mit ihren den niederen Seelenteil ansprechenden Kompositionen ein Instrument der tyrannischen und demokratischen Herrschaftsformen sei. Die Politeia zeigt daher für Strauss die Natur der politischen Dinge, da sie sich mit der Spannung zwischen Vernunft und Leidenschaften, dem Gemeinweisen und dem Philosophen sowie zwischen Rhetorik und Philosophie auseinandersetzt und dabei die wesentlichen Begrenzungen und Schwächen der Philosophie erkennt. Platon gelingt es, diese zu umgehen, indem er trotz seiner Kritik an Dichtung und er sich, so Strauss’ Replik, eines modernen Liberalismus-Begriffes bediene, der die menschliche Exzellenz vernachlässige. 49 Strauss (2001e), S. 6. In diesem Fall ist für Strauss Dichtung die größte Herausforderung für Philosophie und nicht Religion, da die Griechen Religion vielmehr im Sinne von Frömmigkeit verstanden hätten. 50 Die vorweggenommene Anklage des Philosophen Sokrates ist als Mahnung von Aristophanes zu verstehen. In der Apologie ist es der Dichter Meletus, der als Hauptankläger die gleichen Argumente aus den Wolken gegen Sokrates vorbringt (Platon, Apologie, 19b–24a). 51 Vgl. Strauss (1997h), S. 134. 52 Vgl. ebd., S. 138. 53 Ebd., S. 133.

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Rhetorik selbst rhetorische Effekte einsetzt und seine Dialoge nahezu poetisch komponiert hat. 2. Strauss’ platonische Politische Rhetorik „The problem inherent in the surface of things, and only in the surface of things, is the heart of things.“ Leo Strauss54

Für Strauss zeigt sich das grundlegende Dilemma der Philosophie darin, sich einerseits von den affektiven Stilmitteln der Rhetorik und Dichtung befreien zu wollen, andererseits sich dieser bedienen zu müssen, wenn sie den Anforderungen einer Politischen Philosophie gerecht werden möchte. Die wesentliche Schwäche, wenn nicht gar die Reflexion des Scheiterns der Philosophie vor einem nicht-philosophischen Publikum ist auch das Thema des Höhlengleichnisses55 in ungefähr der Mitte der Politeia, in dem der sich einer angemessenen Rhetorik verweigernde Philosoph um der Philosophie willen sein Leben riskiert. Strauss thematisiert diesen Zusammenhang in On Plato’s Republic und in Naturrecht und Geschichte. Philosophie scheitere in der „Höhle“, die als das politische Gemeinwesen verstanden werden müsse, da die Philosophen nicht regieren wollten und sich, statt sich um die „menschlichen Dinge“ (human affairs) zu kümmern, eigentlich allein der theoretischen Kontemplation widmen wollten. Nur die offensichtliche Abhängigkeit des philosophischen Lebens von der Polis und der Drang, potentielle Philosophen zu erziehen, könne sie dazu bringen, sich mit den Meinungen der Nicht-Philosophen auseinanderzusetzen. Da das Leben in der „Höhle“ auf dogmatisch verfestigten Meinungen (doxa) basiert, in der abstrakte und komplexe Zusammenhänge durch sophistische Rhetorik auf formelhaft erlernbare Lehrstücke reduziert wurden, stehen die Höhlenbewohner den Philosophen fundamental feindlich gegenüber, wenn sie diese Annahmen durch dialektisches Hinterfragen erschüttern.56 Aufgrund dieser „natürlichen Spannung“ 54

Strauss (2003), S. 24. Die andere Schwäche der Philosophie zeigt sich in der Durchsetzung der Philosophenherrschaft, indem der von der Philosophie selbst auferlegte Logos durch Verwendung des Mythos notwendig überschritten werden muss: Der Gebrauch der Lüge, und sei sie noch so edel, ist unvermeidlich, wie der Erdmetall-Mythos der Politeia zeigt (vgl. 415a–d). Der Philosoph muss sich als zukünftiger Philosophenherrscher selbst der doxa der „politischen Höhle“ bedienen. Die rhetorische Verblendung wird dabei durch Philosophen und nicht etwa durch Sophisten ausgeübt. Platon muss sich daher deswegen auch kritisch gegenüber der Philosophenherrschaft verhalten, nicht etwa weil Philosophen dazu nicht wirklich fähig wären, sondern weil sich durch sie Philosophie und Rhetorik zum Verwechseln annähern. Die Philosophenherrschaft ist letztendlich allein dadurch legitimiert, da die Philosophen ihre Entscheidungen und Eingriffe mit ihren Einsichten begründen können. Diese können sie jedoch den Nicht-Philosophen nicht angemessen vermitteln. Diesen Zusammenhang bezeichnet Strauss als das Problem der Zustimmung (vgl. vor allem Strauss (1989g), S. 145). 56 In eine ähnliche Richtung gehen auch Hans Blumenbergs Interpretationen des Höhlengleichnisses in seinem Werk Höhlenausgänge. Das Gleichnis inmitten der 55

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können die Philosophen die Mehrheit der Höhlenbewohner weder zur Philosophenherrschaft noch zur philosophischen Lebensweise überzeugen und gefährden im Versuch nicht nur die Philosophie, sondern auch ihr eigenes Leben.57 Strauss spricht daher von der „Unzulänglichkeit [der Philosophie], die Vielen führen und überreden zu können“ 58. Die „politische Höhle“ erfordert es daher, dass die Philosophie sich einer den politischen Umständen entsprechenden Redekunst bedient, um ihrem Scheitern zu entgehen.59 „Philosophy is unable to persuade the non-philosophers. Philosophy, in contradistinction to poetry, cannot charm the multitude. Because philosophy transcends the human and ephemeral, it is radically unpolitical, and therefore it is amusic and unerotic. It cannot teach the just things, whereas poetry can. Philosophy is then in need of being supplemented by a pursuit which is political because it is music and erotic, if philosophy is to become just.“ 60

Für Strauss stellt das Höhlengleichnis daher ein Gleichnis vom Scheitern der philosophischen Kommunikation dar, da es dem Rückkehrer ohne rhetorische Mittel weder gelingen kann, seine Philosophie durchzusetzen noch andere für den epistemologischen „Aufstieg“ neugierig zu machen und zu begeistern. Das Scheitern des Rückkehrers liegt letztendlich darin begründet, dass der Philosoph dem politischen Gemeinwesen auf sokratische Weise gegenübertritt. Hans Blumenberg meint daher, einen Zirkelschluss bei Platon entlarvt zu haben: Nur der, der schon Philosoph ist, könne auch Philosoph werden. Da der Rückkehrer keinen unter den Troglodyten für die Philosophie begeistern könne, herrsche in der Höhle „Verblüffungsresistenz“ 61. Nur demjenigen, der aus sich selbst heraus bereits ein Unbehagen gegenüber den Schatten verspüre, gelinge es – ob nun mit oder ohne Hilfe des Rückkehrers – sich von den Vielen abzuwenden. Blumenberg deutet daher das „homöopathische Prinzip“, dass „Gleiches nur durch Gleiches“ 62 beeinflusst werden könne, als Dilemma, da der Philosoph nur auf diejenigen Einfluss ausüben könne, die eigentlich schon Philosophen sind. Während dies für Blumenberg einen Zirkelschluss bezüglich der Möglichkeit einer philosophischen Erziehung darstellt, beruht der pädagogische Aspekt in Staatsphilosophie deutet er dabei als ein Lehrstück vom Versagen des philosophischen Dialogs und als eine Kritik an der Vermessenheit der Menschen zu einer sich selbst befreienden Erziehung. Den Gefesselten in der Höhle mangele es an alternativen Realitätsmöglichkeiten, da sie in der festgefahrenen, künstlichen Attraktion ihrer Sinnlichkeit gefangen seien (Blumenberg (1996), S. 80). Wie Strauss betont Blumenberg, dass Sokrates auf „Lösungen und transportable Schulformeln“ (ebd., S. 96) verzichte und durch die Vielschichtigkeit der Dialoge evident verdeutlichen könne, was es heißt, philosophisch zu fragen. 57 Vgl. Strauss (1997h), S. 125. 58 Ebd., S. 23. 59 Vgl. Strauss (1989g), S. 157. 60 Strauss (1989s), S. 126. 61 Blumenberg (1996), S. 113. 62 Ebd., S. 120, 137 ff.

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Strauss’ Politischer Philosophie darauf, dass der philosophische „Keim“ in der Seele eines potentiellen Philosophen zwar vorhanden sein müsse, um durch protreptische Rhetorik zur Philosophie geweckt werden zu können. In diesem Sinne kann Blumenberg die Notwendigkeit des Philosophen, aus pädagogischen Gründen in die „Höhle“ zurückzukehren und sich der doxa des politischen Gemeinwesens auszusetzen, nur abgeschwächt betrachten, da potentielle Philosophen aus sich selbst heraus Philosophen werden können. Dieser pädagogische Zusammenhang hat bei Strauss jedoch einen viel höheren Stellenwert, was sich in seiner Auffassung von Philosophie als ein wenn auch glücklich machendes, so doch auch mühsames Streben nach Wissen zeigt, das des Austauschs und der Rechtfertigung anderer im Sinne einer „philosophischen Politik der Freundschaft“ bedarf. Unmittelbare Erkenntnis aus sich selbst heraus zu erlangen sei allein jenen wenigen „großen Denkern“ möglich, während potentielle Philosophen einer Hinführung zur Philosophie bedürften, die sie von ihren jeweiligen doxaischen Ausgangspunkten abhole.63 Der Logos bedarf daher aus pädagogischen Gründen des Mythos, da er ohne ihn seinen eigenen Fortbestand nicht gewährleisten kann. Strauss vertritt daher die Auffassung, dass Rhetorik nicht bloß das aristotelische „Seitenstück“ der Philosophie ist, sondern Letztere vielmehr auf eine rhetorische Praxis angewiesen ist.64 Demnach hebt sich der feindliche Gegensatz zwischen Philosophie und Rhetorik auf, indem der Philosoph selbst zum Redner wird beziehungsweise werden muss. Strauss sucht somit eine Verschmelzung von Rhetorik und Philosophie, die zutiefst politisch motiviert ist, da sie nicht nur die doxaischen Ausgangspunkte der potentiellen Philosophen im Gemeinwesen mit reflektiert, sondern vor allem auch die generelle Spannung zwischen Philosophie und Gemeinwesen. Trotz seines Kampfes gegen die Rhetorik als Gefahr für die Erkenntnis (episteme) sei sich, so Strauss, auch Platon darüber bewusst gewesen, dass Philosophie, wenn sie sich selbst als Politische Philosophie versteht, Rhetorik braucht. So verdanke letztendlich der Dialog Politeia sein Zustandekommen der Überredungskunst von Polemarchos, dem es gelingt, Sokrates in das Haus des Kephalos in Piräus einzuladen.65 Diesen Zusammenhang erkennt Cicero in seinem Werk De oratore, indem er Platon selbst in seinem gegen die Rhetorik gerichteten Dialog Gorgias als „Meister der Beredsamkeit“ (orator summus) bezeichnet.66 Indem Rhetorik, und 63

Strauss (1995e), S. 4. Strauss (1997h), S. 22. 65 Ebd., S. 64. Thomas Szlezák erkennt darin das Motiv „den Philosophen nicht loslassen wollen (me aphienai)“ und den Zwang (ananke) in seiner Deutung des Dialoggeschehens in der Politeia (vgl. Szlezák (1985), S. 271 ff.). Zur Beziehung zwischen dem Zwang zum philosophischen Gespräch auf Sokrates in der Politeia und dem generellen Zwang auf die Philosophenherrscher vgl. auch Rosen (1964/65), S. 457 f. 66 Cicero, De oratore I, 47. 64

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im gleichen Sinne auch Dichtung, das kulturelle und politische Umfeld bestimmt hat, musste sich Platon quasi mit ihnen auseinandersetzen, um zu wissen, wie das Gemeinwesen denkt und spricht, um letztendlich den „Aufstieg“ zur Philosophie für zukünftige Philosophen ermöglichen zu können.67 Wenn nämlich sophistische Rhetorik die Basis ist, auf der die Vielen ihr Wissen (doxa) bauen, muss auch der Philosoph die Art und Weise, wie man sich öffentlich artikuliert, sowie die prägenden gesellschaftlichen Meinungen kennen, wenn er Paideia als einen Aufstieg von den Meinungen zum Wissen erachtet. Platons philosophische Erziehung bedürfe daher der Kenntnis der politischen Meinungen,68 um diese selbst in seiner Politischen Rhetorik einsetzen zu können und auf diese Weise die gewünschten Hörer zu erreichen. Indem die Philosophie sich ihrer Hörerabhängigkeit sowie ihrer kommunikativen Unfähigkeit in der „politischen Höhle“ bewusst wird, steht sie der Rhetorik nicht länger feindlich gegenüber, sondern weiß sich ihrer zu bedienen, obwohl sie die Wissensvermittlung durch emotionales Überreden eigentlich ablehnt. Geht man wie Strauss davon aus, dass Meinung (doxa) das Element der Gesellschaft ist und Philosophie somit in einem jeweils spezifischen Kommunikationszusammenhang zwischen ihren erwünschten und unerwünschten Adressaten steht, so sind zielgruppenspezifische Sprechebenen eine notwendige Folge, in denen sich die philosophische Äußerung in einer exoterischen Ebene einem nicht-philosophischen Publikum anpasst.69 Strauss ist sich des Vorteils einer solchen Rhetorik bewusst: Sie erreicht eine große Menge an Zuhörern und führt zu scheinbarem Wissen, das nicht langwierigen dialektischen Prüfungen unterzogen werden muss. Dadurch lassen sich etwa politische Entscheidungen treffen, die unter Zeitdruck nie die beste, sondern immer bloß die bestmögliche Wahl sein können. Eine Rhetorik, die das Zwischen-den-Zeilen-Schreiben begründet, besteht daher für Strauss aus einer Mischform aus der sophistischen Rhetorik und dem dialektischen, philosophischen Gespräch. Sie setzt dabei jenen Anspruch an eine „kunstmäßige“ Rhetorik aus dem Phaidros um,70 der eine Seelenprüfung 67 Daher auch die doppelte Verwendung des Wortes „Moral“: Das moralische, gerechte Leben bedeutet einerseits Unterwerfung unter die anspruchsvollen Erwartungen und Forderungen von Ehre und Pflicht, ohne diese zu begründen. Es besteht daher darin, gerecht zu handeln, ohne zu wissen, was Gerechtigkeit ist, und man handelt dementsprechend gerecht, weil es gerecht ist. Die Wahl, moralisch zu handeln, liegt demnach darin, sich willentlich bewusst für oder gegen einen gegebenen moralischen Vorsatz zu entscheiden. Die andere Verwendung unterscheidet sich von dieser hingegen im Wissensgrad. Der moralische Lebensweg ist der, der auf Selbsterkenntnis fußt und bewusst von anderen, verschiedenen moralischen Grundsätzen unterschieden werden muss, weil er diese transzendiert (vgl. Strauss (1945), S. 376). 68 Tarcov (1983). So entgegnet Nathan Tarcov auf Gunnell (1978). Strauss schreibe keine Geschichte der Politischen Theorie als solche, sondern er umschreibe Mythen in historischer Form, um seine eigenen Gedanken auszudrücken. 69 Strauss (1989i), S. 227. 70 Vgl. dazu das Kapitel Philosophie und Schriftlichkeit.

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vorausgehen muss und mit deren Hilfe der Redner – auch im Medium Schrift – adressatengerecht sprechen kann.71 Der „kunstmäßigen“ Rede gelingt es, in ein und derselben Rede unterschiedliche Naturen von Adressaten mit zu bedenken.72 Strauss bezeichnet diese „kunstmäßige“ Rhetorik aus dem Phaidros in einer Anmerkung in seinem Werk On Tyranny als „Sokratische Rhetorik“ 73, die sich in ihrer besten Form im platonischen Dialog zeige. Ein Dialog vermittelt daher auf indirekte und versteckte Art die philosophischen Gedanken des Autors hinter einer traditionellen Rhetorik, die sich an Nicht-Philosophen richtet. Diese Rhetorik erhebt Strauss zu einem unentbehrlichen Instrument der Philosophie und somit zu einem Schlüssel zum Verstehen der Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Schreibens. Das Ziel dieser Rhetorik ist es einerseits, potentielle Philosophen zur Philosophie zu führen, aber gleichzeitig, jenen den Weg zu verstellen, die sich zum Philosophieren nicht eignen. Der Weg zur Philosophie als ein kompromissloses, zetetisches Suchen nach Wahrheit besteht zunächst in der Befreiung von jenen von Platon erwähnten „Zaubereien“ (goeteia), aus denen die elementare gesellschaftliche doxa besteht, und darüber hinaus im dialektischen Philosophieren und Fragen nach dem Wesen der Dinge. „Sokratische Rhetorik“ ist daher für Strauss aus sozialer Verantwortung motiviert, da die Wahrheit für viele keineswegs erbaulich und nicht zu jeder Zeit ungefährlich ist, weswegen „Sokratische Rhetorik“, entsprechend der „kunstmäßigen“ Rede im Phaidros, darauf ausgerichtet ist, bestimmte Inhalte bestimmten Menschen auf eine bestimmte Art mitzuteilen. 74 Es könne hierbei jedoch nicht, wie Schleiermacher annimmt, darum gehen, Inhalte pädagogisch zu formulieren, indem sich ein Lehrer beispielsweise unterschiedlicher Allegorien oder Metaphern bedient und so den Schwierigkeitsgrad variieren kann. Vielmehr handle es sich um unterschiedliche Inhalte, die unterschiedlichen „Arten von Seelen“ vermittelt werden können. Der Ersatz akzeptierter Meinungen des politischen Gemeinwesens mit philosophischem Wissen erfolge jedoch graduell. Es sei ein „konservativer“ Weg, der von der Ausgangslage der Vorläufigkeit und Akzeptanz der Meinungen ausgehe und diese zu unterminieren trachte. Dabei sei immer Vorsicht geboten, da die Vorläufigkeit der Meinungen für Handlungen innerhalb

71

Strauss/Kojève (2000), S. 27. Gemäß Strauss’ Verständnis von Lehre (teaching) orientiert sich diese Rhetorik des esoterischen Schreibens daran, wer belehrt werden kann. Strauss achtet daher besonders darauf, zu wem Sokrates in den Platonischen Dialogen spricht (vgl. Strauss (1997h), S. 60). 73 Strauss/Kojève (2000), S. 26 f. 74 Platon, Phaidros, 271d–e. Dass Strauss bestimmten Schülern bestimmte Dinge gelehrt habe und so Uneinigkeit unter den Straussianern, vor allem Harry Jaffa und Thomas Pangle, über Strauss’ Lehre herrscht, zeigt die Debatte um die Legacy of Leo Strauss in: Jaffa (1984), S. 14 ff. mit der Antwort Pangles in: Pangle (1985), S. 18 ff. sowie Jaffas Verteidigung seiner Auffassung in der gleichen Ausgabe in: Jaffa (1985). 72

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des Gemeinwesens notwendig und aus zeitlichen Gründen nicht auf philosophische Einsichten bauen könne.75 Der Differenzierung der Seelen der Zuhörer im Phaidros fügt Leo Strauss in Fußnote 62 von Farabi’s Plato hinzu, dass sich Platon in den Briefen dazu geäußert hat, wie mit nicht-philosophischen Mitbürgern umzugehen ist. Dieser Umgang stelle eine Korrektur der sokratischen Haltung zur öffentlichen Rede dar. Strauss unterscheidet daher die „Socratic attitude“ von der fundamental anderen „Platonic attitude“ als eine Korrektur der ersteren. „Sokrates“ steht dabei für das radikale, moralische Philosophieren. Er habe keine Alternative aus dem Dilemma finden können, entweder mit den akzeptierten Meinungen der Stadt im Einklang zu stehen oder sie offen zu kritisieren und Verfolgung zu riskieren. Platon sei es hingegen gelungen, den „Weg des Sokrates“ und den des Thrasymachos zu vereinen.76 Der im Dialog Politeia zunächst stürmisch und barsch auftretende Thrasymachos77 verkörpert hier die schöne, schmeichlerische Redekunst, die emotional vereinnahmend ist, jedoch nicht auf philosophische Erkenntnis zielt. Während der kompromisslose „Weg des Sokrates“ nur bei einer philosophischen Elite angebracht ist, gelingt es dem rhetorisch leidenschaftlicheren „Weg des Thrasymachos“, sowohl die große Menge der Nicht-Philosophen als auch die potentiellen Philosophen ihren Erwartungen entsprechend begeistern und überreden zu können. An dieser Stelle differenziert Strauss demnach die Haltung zwischen Sokrates und Platon, was eigentlich zu einer Korrektur der Bezeichnung der verantwortungsbewussten „Sokratischen Rhetorik“ in On Tyranny in eine „Platonische Rhetorik“ führen müsste. Wenn sich Platon nämlich im Zweiten Brief dazu äußert, seine ausgesprochenen Gedanken seien die eines schöner dargestellten und neuen Sokrates,78 ist dies ein Beleg für Strauss, dass Platon die radikal zetetische Moralphilosophie des Sokrates mittels einer thrasymachischen Rhetorik schöner und daher auch neu dargestellt habe. Es sei daher, so Strauss, kein Wunder, dass in dem Dialog Politeia, der für ihn das Wesen der Politischen Philosophie beschreibt, Sokrates und Thrasymachos Freunde werden und, so Strauss, nie wirk-

75 Strauss (1945), S. 383. Strauss verweist explizit auf die ersten beiden Grundsätze von Descartes’ „morale par provision“ (Discours de la méthode, III). 76 Ebd. 77 Auch wenn Thrasymachos aus Kalchedon besonderes Gewicht auf die Erforschung und Lehre von der Erregung der Affekte gelegt habe, deutet Eisenhut aus den restlichen vorhandenen Fragmenten seiner Rede Peri politeias, dass er einen „gefälligen, nicht überladenen Stil gepflegt zu haben“ scheint, der sich durch Reinheit und Schlichtheit ausgezeichnet habe (Eisenhut (1977), S. 15). Thrasymachos’ aufbrausendes Auftreten ist daher als eine rhetorische Überhöhung Platons zu verstehen, um, auf rhetorische Weise wohlgemerkt, die Rhetorik selbst zu personifizieren. 78 Platon, Zweiter Brief, 314c.

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lich einander feind gewesen seien.79 Die Politeia zeige daher nicht das bestmögliche Regime, sondern das Wesen der politischen Dinge.80 Darüber hinaus lasse der Dialog erkennen, wie die Natur der besten Stadt sein müsse, wenn sie die höchsten Bedürfnisse des Menschen erfüllen wolle, die für Strauss in der philosophischen Lebensführung liegen. Eine der Grundbedingungen dafür ist eine generelle Rhetorisierung der Philosophie, nicht nur von politischer Theorie,81 in der sich die Rede an die Vielen in den Dienst der Philosophie stellt. „The right kind of persuasion is supplied by the art of persuasion, the art of Thrasymachus, directed by the philosopher and in the service of philosophy.“ 82

Da sich ein solches Verständnis des notwendigen Einsatzes von Rhetorik radikal von Sokrates’ Ablehnung der traditionellen sophistischen Rhetorik unterscheidet, ist eine korrigierende Umbenennung der verantwortungsbewussten „Sokratischen Rhetorik“ in eine „Platonische Rhetorik“ notwendig. Sokrates habe sich als kompromissloser Moralphilosoph gerade dieser nicht bedient, weswegen er vom Gemeinwesen zum Tode verurteilt wurde und sein Schüler Platon seine Philosophie daher verantwortungsvoll als die eines „schöneren und jüngeren Sokrates“ mittels einer rhetorischen Maske dargestellt habe. Sokrates habe auf seine radikale Art den Konflikt zwischen den akzeptierten Meinungen und dem wahren Wissen, nach dem der Mensch streben sollte, herbeigeführt, während Platon die Spannung zwischen Philosophie in dem Gemeinwesen mittels Rhetorik reduzieren wollte. Strauss erkennt daher in Farabis Bemerkungen über Platons Vorgehensweise, dass diese den allgemeinen Charakter aller schriftstellerischen Tätigkeiten von Philosophen kennzeichnen würden.83 Diese Vorgehensweise besteht darin, die akzeptierten Meinungen „nicht allzu offensichtlich durch Widersprüche“ zu unterminieren, so dass ihr Grundbau weiterhin für die Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens bestehe, aber trotzdem das Ziel verfolgt werden könne, die potentiellen Philosophen zur Wahrheit zu führen.84 „No careful writer would express himself ambiguously about an important and at the same time thematic subject without good reasons.“ 85 79

Platon, Politeia, 498d. Strauss (1997h), S. 138. Strauss verweist mit dieser Aussage auf Cicero, De republica II, 52. 81 So Bluhm (2002), S. 282. 82 Strauss (1997h), S. 123. 83 Farabi präsentiere daher nicht so sehr den historischen Platon, sondern übernehme genau die Haltung, die Platon gegenüber seinem unhistorischen Sokratesbild vorgelegt habe. Diese Darstellung mache Farabi zu einem wahren Platoniker: „For Platonists are not concerned with the historical (accidental) truth, since they are exclusively interested in the philosophic (essential) truth“ (Strauss (1945), S. 377). 84 Ebd., S. 384; vgl. auch Strauss’ Bezug auf die Metapher des Hauses in Descartes’ erster Maxime. 85 Strauss (1945), S. 369. 80

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Hinsichtlich der rhetorisch intendierten Zweideutigkeiten und Widersprüche als „Stolpersteine“, die auf eine tieferliegende Ebene verweisen, kann die verantwortungsvolle, aus der Reflexion der Spannung zwischen Philosophie und Gemeinwesen resultierende „Platonische Politische Rhetorik“ als paradoxe Strategie aufgefasst werden. Sie ist dabei im doppelten Sinne paradox. Zum einen verwendet sie selbst Widersprüche und Paradoxien in ihrer „Kunst des Schreibens“, wobei Paradox „eine scheinbar unannehmbare Schlussfolgerung [meint], die durch einen scheinbar annehmbaren Gedankengang aus scheinbar annehmbaren Prämissen abgeleitet ist“.86 Entweder ist demnach die Schlussfolgerung falsch oder der Gedankengang hat eine Schwäche, die nicht offen zutage tritt. So verstanden meint „paradox“ daher nicht tatsächliche Paradoxien, sondern scheinbare, die durch weiterfolgendes Nachdenken aufgelöst werden können, zu der die philosophischen Schriften auffordern. Zum anderen bezieht sich „paradox“ im wortwörtlichen Sinne als „Gegenmeinung“ auf das Bestreben der Philosophie, der gesellschaftlichen doxa entgegenzutreten. Durch die formale sowie inhaltliche Verwendung von Paradoxien stellt die „Platonische Politische Rhetorik“ eine Strategie dar, deren Logik, nicht nur im bewaffneten Konflikt, sondern generell bei ernsthafter existenzieller Bedrohung auf eine paradoxe Logik zurückgreifen muss.87 Um eine philosophische Schrift, die sich in ihrer „Platonischen Politischen Rhetorik“ einer paradoxen Strategie bedient, die unterschiedliche Leser adressiert, angemessen zu verstehen, muss demnach zunächst verstanden werden, warum der Autor sich dieser bedienen muss. Dieser formal kommunikative Aspekt eröffnet dabei die Frage, was Philosophie ist, führt dabei zu dem Verhältnis von Philosophie in der Gesellschaft und fragt nach den medialen Bedingungen philosophischer Vermittlung.88 Hinsichtlich dieser Fragen wird deutlich, dass eine politisch motivierte Rhetorisierung philosophischer Lehren, wie zuerst in den platonischen Dialogen vollzogen, aus der Verantwortung resultiert, Philosophie auch in Zukunft gewährleisten zu können.

86

Sainsbury (2010), S. 12. Luttwak (2003), S. 15. Für Luttwak ist der gesamte Bereich der Strategie von einer paradoxen Logik durchzogen, wenn es um ernsthafte existenzielle Konflikte geht. Kriegslogik ist paradox und muss den Erwartungen des Gegners mit einer „Gegenmeinung“ aufwarten, wenn eine radikale Existenzbedrohung vorliegt. Allan Bloom hingegen bezeichnet Strauss’ „Sokratische Rhetorik“ als „politische Taktik“, derer sich Philosophen von Platon bis Machiavelli bedienten, indem sie sich dem moralischen „Geschmack“ der jeweiligen Gesellschaft anpassten und zugleich einige scharfsinnige Leser zur Philosophie führen konnten (vgl. Bloom (1987), S. 283). 88 Vgl. Strauss (1997h), S. 52. 87

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3. Platonische Politische Rhetorik und „Liberal Education“ „For the politicization of philosophy consists precisely in this, that the difference between intellectuals and philosophers – a difference formerly known as the difference between gentlemen and philosophers, on the one hand, and the difference between sophists or rhetoricians and philosophers, on the other – becomes blurred and finally disappears.“ Leo Strauss89

Vor allem in der US-amerikanischen Debatte wird Leo Strauss die Absicht vorgeworfen, vermeintlich Theorie in die politische Praxis umsetzen zu wollen und umgesetzt zu haben. Shadia Drury widmet das ganze Kapitel Straussians in Power – eine Art Einführung von 2005 zu der erweiterten Edition von 1988, die nach den Ereignissen des 11. September 2001 und dem Krieg im Irak an Brisanz gewonnen hat –, um aufzuzeigen, inwiefern Strauss sein vermeintlich bestmögliches Regime in seiner zweiten Heimat, den USA, angeblich umgesetzt hat. Dabei spielt der „Gentleman“ als der von Philosophen instrumentalisierte politische Machthaber eine große Rolle. Ihr Hauptanliegen ist es, diese „purposeful deception“ 90 aufzudecken und „to smoke the Straussians out of their caves and force them to defend their ideas openly before their peers“. Sie unterstellt den Straussianern91, dass sie das absolute Regime der Philosophenherrschaft ohne jegliche Gesetzesreglementierungen in die Praxis umsetzen wollten und umgesetzt hätten. Vor allem der Enthusiasmus für den Krieg sei dabei ein Straussianisches Hauptelement92 und bestätige sich dadurch, dass in der Bush-Junior-Ära vor allem der Minister of Defense und Assistent des damaligen Vizepräsidenten Dick Cheney, Paul Wolfowitz, 2003 als Hauptbefürworter des Einmarsches in den Irak von den Ideen Strauss’ geprägt gewesen sei. Ebenso sei Abram Shulsky, Direktor des Office of Special Plans des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, ein StraussSchüler gewesen. Drury vertritt die These, dass Strauss mit seinem bellizistischen Kernthema eine machiavellische Taktik gelehrt habe, um die öffentliche Meinung durch noble Lügen manipulieren zu können und auf diese Weise Amerika von der säkularen, liberalen Demokratie zu befreien und die Regierung durch eine aristokratische Elite der „Leo-Konservativen“ zu ersetzen.93

89

Strauss (1989f), S. 124. Drury (2005), S. ix. 91 Zum Begriff der Straussians vgl. Smith (2007), S. 4 ff. 92 Drury (2005), S. x. Bezüglich Strauss’ anti-liberaler, sogar rechter Tendenzen wird zumeist der umstrittene Brief vom 19. Mai 1933 an Karl Löwith angeführt. Dass Strauss dem Liberalismus kritisch gegenüberstand, lässt sich, gerade hinsichtlich seiner Bejahung des Politischen nicht abstreiten, jedoch geht eine Charakterisierung von Strauss als eine Art „protofaschistischer Nazi-Jude“ zu weit, gerade wenn man sein Plädoyer für die amerikanische liberale Demokratie berücksichtigt. 93 Ebd., S. xxi; vgl. dazu auch Steinberg (2003); Xenos (2008); Pfaff (2003). 90

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Leo Strauss wird dabei stets vorgeworfen, ein „Secret Kingdom of philosophers“ errichtet zu haben, indem die Philosophen gezielt politische Machthaber, so genannte „Gentlemen“, erzogen und durch Gehirnwäsche manipuliert hätten, um sie ihren politischen Absichten entsprechend zu instrumentalisieren. Insofern sei Strauss’ Politische Rhetorik Mittel zu einem höchst real-politischen Zweck, nämlich um den „Straussianern“ in einem konkreten politischen Regime Macht zukommen zu lassen, um ihre radikalen Ideen durchzusetzen. In der Tat erwähnt Strauss den „Gentleman“ vor allem im Zusammenhang mit seinem Konzept der „liberalen Erziehung“ sowie in signifikanten Abschnitten in Naturrecht und Geschichte. Im folgenden Kapitel sollen daher zunächst Strauss’ eigene Äußerungen dargelegt und diese dann mit den Unterstellungen Drurys konfrontiert und erörtert werden. Auf diese Weise soll Strauss von dem Vorwurf befreit werden, er hege mit seinem Verständnis von Politischer Rhetorik die Absicht, versteckt konkrete Realpolitik durchsetzen zu wollen, die darüber hinaus von einem nietzscheanischen Machtverständnis ausgehe und letztendlich nur dem Eigenwohl der Philosophen diene. a) Der Philosoph und der „Gentleman“ In Naturrecht und Geschichte versucht Leo Strauss, die klassische Perspektive des „von Natur aus Rechten“ zu rekonstruieren, indem er Natur als physis sowohl als Wesensmerkmal einer Sache als auch als Maßstab versteht.94 Strauss meint mit Naturrecht (physei dikaion) kein Naturgesetz (nomos tes physeos) im Sinne eines natürlichen Gesetzes, das über dem konventionellen, d.h. legalistischen Gesetz steht.95 Das Naturrecht formuliert keine universell gültigen gesetzlichen Normen für bestimmte Handlungen, sondern bezieht sich auf die Ordnung des Ganzen als eine universell gültige Hierarchie der Zwecke.96 Das klassische Verständnis der Natur des Menschen richtet sich als Maßstab nicht nur auf die Erkenntnis des wesentlichen Charakters, sondern auf die Möglichkeit, diesen zu vollenden.97 Die klassische Beschreibung des menschlichen Wesens geht daher 94

Strauss (1989g), S. 188 f. Das klassische Naturrecht ist politisch, da es die Untersuchung des Gerechtigkeitsproblems auf der Ebene der gesellschaftlichen Auffassung von Moral umfasst, die aufgrund ihrer inneren Widersprüche über sich selbst hinausweist. Die philosophische Alternative zur göttlichen Vorsehung ist daher darum bemüht, die Gerechtigkeit an sich, über konkrete politische Probleme hinaus, verstehen zu wollen (vgl. Kauffmann (1997), S. 193). 96 „Die universale Hierarchie der Zwecke reicht als Maßstab aus, Werturteile über Erscheinungen innerhalb der menschlichen Sphäre zu fällen, sie reicht aber nicht aus, unsere Handlungen umfassend anzuleiten“ (ebd., S. 197). 97 Das beste Regime ist für die klassische Philosophie nach Strauss die absolute Herrschaft der Weisen, die jedem Bürger das zuteilen, was gut für ihn ist. Es gebe daher eine „natürliche Ordnung der Tugenden“, die den „natürlichen Vollendungen der menschlichen Seele“ vorausgeht. Entsprechend der klassischen Auffassung nach Platon 95

IV. Politische Rhetorik

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über seine gesellschaftliche Eingebundenheit als zoon politikon hinaus, indem sie seine Vernunftbegabung als zoon logon echon hervorhebt. Strauss leitet daraus ab, dass das politische Leben daher von wesentlich geringerer Würde als das philosophische ist, da ersteres Kriterium nicht nur faktisch gegeben, sondern darüber hinaus durch das Element der Meinung gekennzeichnet ist. Das philosophische, nach Vollendung des menschlichen Vernunftpotentials strebende Leben konzipiert Strauss daher als das maßgebende. Daher stellt er sich die Frage, inwieweit das von Natur aus Gerechte in den Bereich des politischen, konventionellen Zusammenlebens reichen kann, wenn es gerade nicht auf universell gültigen Handlungsanweisungen und/oder Naturgesetzen aufbaut. In Naturrecht und Geschichte konstatiert Strauss, dass das beste Regime, die Herrschaft der Philosophen, nur unter den günstigsten Bedingungen möglich und dadurch sehr unwahrscheinlich ist. Er betont die Problematik, dass das beste Regime eine absolute Herrschaft der Weisen ohne jegliche Gesetzeskontrolle sein muss, um Weisheit nicht durch Vorschriften, Erwartungen oder Wünsche der Nicht-Philosophen zu begrenzen. Dies bedeute wiederum eine freiwillige Unterwerfung der Nicht-Philosophen unter die Philosophen, was aufgrund von Unwissen und Misstrauen sehr unwahrscheinlich sei, da den Philosophen die Fähigkeit fehle, die Nicht-Philosophen dazu zu überreden, den Philosophenherrschern freiwillig, ohne vorherige Einsicht in die Gründe zu gehorchen.98 Wie das Höhlengleichnis andeutet, scheitert die Verwirklichung einer absoluten, gesetzesfreien Herrschaft der Weisen an der Zustimmung der Nicht-Philosophen aufgrund mangelnder Überredungskunst.99 Wahrscheinlicher ist es hingegen, dass jemand, der lediglich vorgibt, weise zu sein, sich der Erwartungen und Wünsche der NichtPhilosophen mit rhetorischen Mitteln annimmt und sie mit politischen Versprechungen überredet, ihn zum Herrscher zu machen. In dieser problematischen Konstellation von Weisheit und Zustimmung liegt die zweifache Antwort der antiken Philosophen auf die Frage nach der richtigen Ordnung begründet: Das absolut beste Regime ist die unwahrscheinliche, aber dennoch mögliche Herrschaft der Weisen, während das praktisch beste Regime die Herrschaft der Vornehmen unter dem Gesetz oder das gemischte Regime ist, wie es in Aristoteles’ Politik und Platons Nomoi vorgeschlagen wird. Letzteres ist ein an der Realität ausgerichteter Kompromiss, in dem die Herrschaft des Gesetzes an die Stelle der Menschen tritt. Im optimalen Fall schafft ein weiser Gesetzgeber einen unveränderlichen Kodex, der als eine Annäherung an die Urteile eines weisen Herrschers betrachtet werden kann, aber konkrete Entscheidungen zu

ist das Naturrecht die Gerechtigkeit selbst oder die „Idee“, wenn jeder nach dem Idiopragieprinzip seiner natürlichen Begabung entsprechend ihm obliegende Aufgaben, sowohl im Großen (Staat) als auch im Kleinen (Mensch), erfüllt. 98 Vgl. Strauss (1989g), S. 145. 99 Vgl. ebd., S. 144 ff.; vgl. auch Platon, Gorgias, 510a.

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den realpolitisch fälligen Erfordernissen und Regelungen zulässt.100 In Bezug auf konkrete Handlungsanweisungen hält sich die klassische philosophische Naturrechtslehre daher allein mit der formalen Strukturerkenntnis über das beste Regime zurück. Zur Bewältigung des realen politischen Geschehens bedarf es der Ergänzung der „Kunst des Steuermannes“. Diese Aufgabe wird im besten Fall jenen aufgetragen, die aufgrund ihrer guten Erziehung und Ausbildung nicht nur mit der naturrechtlichen Zweckhierarchie vertraut sind,101 sondern ebenso mit der Rechtsprechung, indem sie diese im Sinne des weisen Gesetzgebers handhaben, sie den entsprechenden gegebenen Umständen anpassen und auf diese Weise den Gesetzgeber „vervollständigen“.102 Diese Anforderungen erfüllen für die klassischen Denker die „Vornehmen“ 103, die Strauss als equitable men, als epieikes104 oder eben als „Gentlemen“ bezeichnet.105 Da der „Gentleman“ jedoch vielmehr ein „politisches Spiegelbild“ des Philosophen darstellt, geht die politische Herrschaft im bestmöglichen Regime zwar an Nicht-Philosophen über, denen es jedoch aufgrund seiner politischen Tugend gelingt, das spannungsvolle Verhältnis von Politik und Philosophie durch einen Kompromiss zwischen den Erfordernissen von Weisheit und Zustimmung zu entspannen. Der Kompromiss erfolgt dabei von zwei Seiten – einerseits stehen die „Gentlemen“ den Weisen wohlwollend gegenüber, andererseits gehorchen die Regierten wiederum den Vornehmen. Im Gegensatz zum philosophisch Gerechten besteht das politisch Gerechte nämlich darin, „eine ungeheure Menge Übels [zu entfernen], ohne eine ungeheure Menge von Vorurteilen zu erschüttern“.106 Die Orientierung von Handlungen in einer Entscheidungssituation setzt dabei die Zwecke in Beziehung, wobei keinesfalls der Rang der Zwecke für die Entscheidung allein maßgeblich ist, sondern die Dringlichkeit der Zweckerfüllung in einer konkreten Situation: „Unter Umständen ist das Dringende dem Ranghöheren vorzuziehen.“ 107

100

Strauss (1989k), S. 139. Strauss (1989g), S. 146. 102 Kauffmann (1997), S. 197; Strauss (1989g), S. 133 f., S. 146; Restatement, in: Strauss/Kojève (2000), S. 193. Kauffmann macht darauf aufmerksam, dass die Vorstellung, der politische Herrscher brauche den Weisen zur Legitimation, viel mehr Platons Auffassung des Politikos als der Politeia entspricht. 103 „Das beste Regime wird somit eine Republik sein, in der der grundbesitzende Adel die Vorherrschaft hat, der gleichzeitig das städtische Patriziat ausmacht, gut erzogen und vom Gemeingeist erfüllt, die Gesetze achtet und vervollkommnet, abwechselnd regiert und sich regieren lässt und für die Gesellschaft charakteristisch ist“ (Strauss (1989g), S. 147). 104 gr.: geeignet, kultiviert, vortrefflich, angesehen. 105 Restatement, in: Strauss/Kojève (2000), S. 193. 106 Strauss (1989g), S. 127 ff. 107 Kauffmann (1997), S. 196. 101

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„Die Unterscheidung zwischen dem besten Regime und legitimen Regimes wurzelt in der Unterscheidung zwischen dem Vornehmen und dem Gerechten. Alles Vornehme ist gerecht, aber nicht alles Gerechte ist vornehm.“ 108

Da konkrete Ordnungsprobleme zeitnahe Lösungen und Entscheidungen verlangen, kann in einer bestimmten Situation ein unvollkommenes Regime eine gerechte Lösung eines gesellschaftlichen Problems darstellen. Ein gerechtes und zugleich vornehmes Regime im klassischen Sinne ist nur erreichbar, wo die materiellen und erzieherischen Voraussetzungen herrschen, die ein gerechtes, vornehmes und tugendhaftes Leben erlauben.109 Mit den erzieherischen Voraussetzungen setzt sich Strauss in What is Liberal Education? und Liberal Education and Responsibility auseinander, vor allem mit der Frage, inwiefern Bildung unter dem Ideal der aufklärerischen, allgemeinen Volksbildung überhaupt möglich ist und eine liberale Erziehung in Massendemokratien möglich ist. „Liberal education is the ladder by which we try to ascend from mass democracy to democracy as originally meant. Liberal education is the necessary endeavor to found an aristocracy within democratic mass society.“ 110

Diese Äußerung, in Verbindung mit dem erklärten Ziel, durch diese Art von Erziehung den „perfect prince“ ausbilden zu wollen,111 ließ Strauss in den Verruf eines erzkonservativen, antidemokratischen Denkers kommen. Doch muss man sich genau ansehen, was er mit „Demokratie im ursprünglichen Sinn“ und der „Aristokratie in der demokratischen Massengesellschaft“ genau meint und wie diese Annahmen in sein „befreiendes, verantwortungsvolles Erziehungskonzept“ eingebunden sind. Trotz aller Kritik versteht sich Strauss als „Freund der Demokratie“, der es als philosophische Pflicht erachtet, auf mögliche intrinsische Gefahren hinzuweisen. „We are not permitted to be flatterers of democracy precisely because we are friends and allies of democracy.“ 112

Steven Smith versteht Strauss’ Kritik an der Demokratie daher als „Freundschaftsdienst“ und liest ihn als grundsätzlich liberalen Denker, der sich der Vorzüge der Demokratie gegenüber der Philosophie bewusst ist, aber auch auf mögliche Gefährdungen hinweisen möchte. Smith bezeichnet darüber hinaus Strauss’ Erziehungsentwurf der „liberal education“ als „Platonischen Liberalismus“. Bei 108 Strauss (1989g), S. 144. Die Handwerker in Platons Politeia leben gerecht, aber nicht vornehm. Wenn ein Mensch unter Zwang gerecht handelt, ist er gerecht, aber nicht vornehm. Vornehme Handlungen bedürften, so Strauss auf Aristoteles verweisend, eines gewissen „Rüstzeugs“. Dennoch könne ein unvollkommenes Regime die einzige gerechte Lösung einer konkreten Gemeinschaft sein. Da es sich aber nicht auf die menschliche Exzellenz ausrichte, könne es nicht vornehm sein. 109 Restatement, in: Strauss/Kojève (2000), S. 193; Kauffmann (1997), S. 200. 110 Strauss (1995e), S. 5. 111 Strauss (1989e), S. 321. 112 Ebd., S. 344.

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diesem Begriff tritt zunächst der Widerspruch hervor, der vor allem nach Karl Poppers Totalitarismusvorwurf an Platons politischem Werk Politeia eine liberalistische Deutung nahezu unmöglich erscheinen lässt. Bei beiden, sowohl Strauss als auch Platon, findet man nirgends eine Hervorhebung oder eine Fürsprache für die liberalen Prinzipien, der individuellen Rechte und menschlicher Gleichheit. Dennoch bezeichnet sich Strauss selbst als ein „Freund“ der liberalen Demokratie, der gerade nicht als Schmeichler (flatterer) auftritt.113 Vielmehr möchte Strauss in den grundlegenden Annahmen der „klassischen“ politischen Philosophie unterstützende Quellen und Denkansätze für eine liberale Demokratie finden und sie keineswegs unterwandern oder gar abschaffen.114 Der größte, unabweisliche Vorteil der liberalen Demokratie ist dabei für Strauss, dass sie eine große Vielfalt an Lebensformen, wie auch die des Philosophen, zulässt, „[who] can lead his peculiar way of life without being disturbed“.115 Da der „Platonische Liberalismus“ ein Leben nach freier Wahl erlaube, sei eine liberal-demokratische Ordnung grundsätzlich zu befürworten, da sie den Menschen kritische öffentliche Gespräche in politischer Freiheit ermögliche.116 Strauss fragt sich daher, warum Platon nicht der Demokratie den höchsten Platz zugeschrieben hat, da sie doch der Philosophie gegenüber offen ist.117 Platon habe demnach die Mängel der Demokratie „bewusst übertrieben“, um kritischen Abstand zur attischen Demokratie nehmen zu können. Aus „platonisch“ angelehnter kritischer Distanz beanstandet Strauss zunächst, dass das Recht auf Freiheit eines jeden Staatsbürgers als Endzweck der Demokratie den Erwerb von Tugend oder Exzellenz verdrängt hat. Damit möchte Strauss keineswegs die Freiheitsrechte abstreiten – gerade da diese letztendlich denen die Freiheit zugestehen, die sich um menschliche Exzellenz sorgen –, sondern er beklagt, dass der „Wert“ (value) eines „tugendhaften Lebens“ lediglich als überholt oder als relativer Wert betrachtet wird. Darüber hinaus kritisiert er, dass durch den einen sehr abgeschwächten politischen Tugendbegriff die notwendige Reflexion der Rechte als auch der Pflichten eines Staatsmannes abhanden gekommen ist.118 Die „Aristokratie in der demokratischen Massengesellschaft“ bestimmt

113

Ebd. Strauss (1989u), S. 98. 115 Strauss (1997h), S. 131. 116 Smith (2007), S. 105; vgl. Platon, Politeia, 557d–e. Darüber hinaus betone Strauss den platonischen Dialog durch seine Offenheit als liberale Kommunikationsform. Die Ideenlehre werde daher von Strauss nicht als moralisch absolut gelesen, sondern als ein Satz immerwährender Fragen, die jeder Leser für sich selbst nachvollziehen müsse. Da es keine absoluten Antworten auf diese gebe, unterlägen sie der offenen Kritik. Alles was man daher brauche, um diese Probleme verstehen zu können, seien eine Offenheit und der Wille, dem Text zuzuhören und die Alternativen abzuwägen. 117 Strauss (1989y), S. 55. 118 Strauss (1989e), S. 326. 114

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Strauss keineswegs über Reichtum, Geburt und Besitz, sondern vielmehr als einen „Adel des Geistes“, der sich ernsthaft mit der guten Ordnung des Gemeinwesens sowie seiner eigenen Seele befasst. In diesem Sinne beschäftigt sich Strauss, bezugnehmend auf die Schriften der Gründerväter der USA, mit der Frage, wie die aristoi, die zukünftigen „Zivildienstleistenden“ (Mill), hinsichtlich des demokratischen Geistes ausgebildet werden können, welche Rolle die Universitäten und Schulen dabei spielen und auf welche Art und Weise unterrichtet werden sollte. Dabei unterscheidet Strauss in der Tat zwischen der „liberalen Erziehung“ von „Gentlemen“ und Philosophen, die zu einer „politischen Tugend“ einerseits und zur philosophischen Lebensweise andererseits geführt werden sollen. Die „politische Tugend“ spielt für Strauss hinsichtlich einer „Aristokratie in der Demokratie“ als repräsentative Demokratie eine tragende Rolle. Für diese politische Form plädierten, so Strauss, bereits die Verfasser der Federalists Papers, indem sie sich für ein komplexes System der Gewaltenteilung im Sinne der angelsächsischen Tradition der checks and balances, die von Repräsentanten vertreten werden, einsetzten.119 Die Gründerväter der Vereinigten Staaten, vor allem Alexander Hamilton, Kenner der griechischen Klassiker und damit auch der griechischen Versammlungsdemokratie, hätten bereits wohl erkannt, dass Letztere ihrem Charakter nach Tyranneien gewesen sein müssen.120 In einem egalitären politischen Körper sollten demnach Personen mit höheren Qualitäten zu Volksvertretern ausgebildet und vor allem als Regierende gewählt werden. Die amerikanische Verfassung stellt demnach mit ihrer repräsentativen Demokratie ein Gegenmodell zur direkten Demokratie dar, wie sie bspw. mit dem „volksnahen“ volonté générale in Rousseaus Contrat social konzipiert wurde. Diese sollten ursprünglich nach den Prinzipien von Tugend, aber auch fachspezifischen Fähigkeiten, vor allem in der Rechtswissenschaft, gewählt werden. „Under the most favorable circumstances the men who will hold the balance of power will then be the men of the learned professions. In the best case, Hamilton’s republic will be ruled by the men of the learned profession.“ 121

119 Thomas Jefferson schreibt an John Adams, dass die beste Regierung eine effektive Selektion der naturgegebenen aristoi in die Institutionen der Regierung vornähme. Strauss zitiert Jefferson in On Classical Political Philosophy in: Strauss (1989y), S. 86. 120 „Wenn sich das Volk versammelte, befand sich am Ort der Debatte ein zügelloser Mob, der zur Beratung nicht fähig war“ (Alexander Hamilton, Über die griechischen Versammlungsdemokratien der klassischen Antike (1788)). Zur Frage der Legitimität des Parlamentarismus vgl. Schmitt (2010a). 121 Strauss (1989e), S. 333. So sei die amerikanische Jurisprudenz der Gründungszeit danach bestrebt gewesen, das neue Gemeinwesen mit einem grundlegenden und weiten Verständnis für Recht und Gesetz auszustatten. Zu diesem Projekt gehörte die Auffassung, dass ein Ausleger des Rechts mit den klassischen Schriften Senecas, Ciceros und Platons vertraut sein müsse, um der Gefahr zu entgehen, einen ungebändigten Individualismus und eine Bildung aus fachlichen Einzelheiten zu befördern, anstatt aus einem erweiterten Blickwinkel politisch relevante Fragen zu bewerten (vgl. Miller (1965), S. 140 ff.).

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Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass jene „learned professionals“ auch eine „liberale Erziehung“ genießen konnten und sich durch „Charakter und Geschmack“ 122 auszeichnen.123 Für Strauss steht und fällt die liberale Demokratie mit der Möglichkeit, vor allem die regierenden Menschen zu einer „politischen Tugend“ 124 erziehen zu können, um nicht dem „verantwortungslosen technokratischen Denken“ 125 zu verfallen, das mit seinem universalen Anspruch auf „Wertfreiheit“ den Wert der Demokratie nicht mehr begründen kann. Zunächst muss jedoch klargestellt werden, dass Strauss mit „liberal“ nicht die liberale, parteipolitische Richtung meint, sondern „liberal“ im Sinne von „liberating“, befreiend. Die „liberale Erziehung“ bietet zunächst eine befreiende Alternative zu den gegenwärtigen Bildungsmaßnahmen, die gänzlich auf zweckmäßige Spezialisierung ausgerichtet sind. Eine solche pädagogische Herangehensweise führe letztendlich zu jenen von Weber erwähnten „Fachmenschen ohne Geist“.126 „Charakter und Geschmack“ werden in einer Massenbildung mit Spezialisierungszielen, wenn überhaupt, nur im niedrigsten Grad angesprochen und den eigenen individuellen Präferenzen zugeschrieben. Indem die Aufklärung sich nicht für den Weg einer „breiten und tiefen Bildung“, sondern einer effizienten Spezialisierung entschieden habe, sei die massendemokratische Ausbildung

122 „[Liberal education] consists above all in the formation of character and of taste“ (Strauss (1989e), S. 324). 123 Für Mill besteht die repräsentative Versammlung gerade nicht notwendig aus „a selection of the greatest political minds of the country“ (Consideration on Representative Government (1861) zitiert in: Strauss (1989e), S. 335). 124 Strauss versteht unter dem Bildungsziel der „politischen Tugend“ der „Gentlemen“ eine Lebensweise, die diese an sich für erstrebenswert halten und nicht etwa aus „vulgären“ Gründen, um aus reinem Eigennutz öffentlich Ruhm und Ehre zu erlangen. „Liberale Erziehung“ ist für Strauss letztendlich eine Hinführung zur Philosophie und geht daher über „die politischen Dinge“ hinaus. Da sich der „Gentleman“ ebenfalls ernsthaft mit den bedeutsamsten Dingen beschäftigt hat, jedoch nicht den nachforschenden, philosophischen Charakter mit sich bringt, muss er in Hinsicht auf bestimmte bedeutsame Themen philosophische Antworten und Hinweise akzeptieren (vgl. Strauss (1989e), S. 328). Zwar verfolgen „Gentleman“ und Philosoph demnach unterschiedliche Absichten (deliberations), jedoch befördert eine „liberale Erziehung“ eine gewisse Akzeptanz und Zuneigung der politisch agierenden „Gentlemen“ gegenüber den Philosophen. 125 Für Strauss wäre ein „technokratisches“, „wertfreies“ Regime verantwortungslos, da es sich zwar den Anforderungen der Masse verantwortet, aber nicht erkannt hat, dass eine Masse nicht für eine Masse verantwortlich sein kann (vgl. ebd., S. 342). 126 Die Spezialisierung schreite immer weiter voran, so dass der Einzelne von seinem Spezialwissen abhänge und er dadurch jene „breite und tiefe Bildung“ verliere, die den Menschen letztendlich ausmache. Dieser Enge der Spezialisierung stehe als Kompensation die Oberflächlichkeit der universalisierten Aufklärung entgegen, die allenfalls interessant und unterhaltsam sein könne, aber nicht lehrreich oder erziehend. Strauss warnt daher vor dem immer weiter vordringenden Konformismus, der sämtliche entscheidende Meinungen oberflächlich bleiben ließe und durch den sie als private Auffassungen ins Private verdrängt würden (Strauss (1989y), S. 38).

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keine liberale, im Sinne einer befreienden Erziehung, sondern vielmehr eine Form demokratischer Indoktrinierung: Aufklärung als universelle Aufklärung. Gegen diese „engstirnige und prinzipienlose Effizienz“ 127 will Strauss erneut zu einer umfassenderen und tiefgründigeren Bildung aufrufen. Seinem Ansatz der „liberalen Erziehung“ kann sicherlich vorgeworfen werden, elitär und in diesem Sinne aristokratisch zu sein, da sie eine Unterscheidung naturgegebener „Qualitäten“ 128, von Talent und Intelligenz, vornimmt und dementsprechend genau das Gegenteil des aufklärerischen Ideals der allgemeinen Volksbildung meint.129 Deren Befürworter hätten nicht erkannt, dass es nicht nur von außen gesetzte Grenzen der Volksbildung, sondern auch innere, von Natur gegebene Grenzen gebe. Während sich die vormodernen Denker der naturgegebenen Kluft zwischen den Philosophen und Nicht-Philosophen noch bewusst gewesen seien, seien die aufklärerischen Philosophen davon ausgegangen, dass der Bildungsstand eines Menschen keine Grundtatsache der menschlichen Natur sei, sondern durch Fortschritt in der Volksbildung beeinflusst werden könne.130 Strauss fragt sich daher, inwiefern das aufklärerische Projekt „Volksbildung“ überhaupt allgemeinen Charakter haben kann und möglich ist, wenn sie denn keine Indoktrinierung sein will. Den pädagogischen Weg zu einer „liberalen Erziehung“ als einer Kultivierung des Geistes bahne das sorgfältige Studium des Kanons131 der so genannten „great books“: „Liberal education will then consist in studying with the proper care the great books which the greatest minds have left behind.“ 132

Dieses Studium zeichnet sich für Strauss durch ein aufmerksames und gefügiges „Zuhören“ der Gespräche zwischen den autoritativen „größten Denkern“ (greatest minds) aus, die sich mit den fundamentalen Grundproblemen der Philo127

Strauss (1989e), S. 337. Ebd., S. 321. 129 Strauss versucht seine „aristokratische“ liberale Erziehung daher mit dem demokratischen egalitären Prinzip in Einklang zu bringen, indem er mehrfach erklärt, dass „Demokratie im ursprünglichen Sinne“ eigentlich eine universelle Aristokratie bedeutet, die jedem die gleiche Chance einräumt, regieren zu können (vgl. Strauss (1995e), S. 4). 130 Strauss (1988c), S. 33. Andreas Hiepko übersetzt popular education mit Volksbildung in: Strauss (2009), S. 45. 131 Für einen autoritativen Kanon der „großen Bücher“, wie er ihn selbst mit seiner History of Political Philosophy aufgestellt hat, argumentiert Strauss, der sonst auf einen streng anti-autoritären Philosophie-Begriff baut, folgendermaßen: Einerseits gäbe es „greatest minds“, die als Lehrer ohne eigene Lehrer auskommen, äußerst selten, weswegen man statt des direkten Unterrichts auf Bücher zurückgreifen müsse, wenn man denn selbst kein „großer Denker“ ist. Darüber hinaus sei das Leben einfach zu kurz, um etwas anderes als die großen Bücher zu lesen: „Life is too short to live with any but the greatest books“ (Strauss (1995e), S. 6). Strauss umgeht mit diesem Argument auch den Vorwurf des Eurozentrismus, da es auch in China und Indien „great books“ gäbe, jedoch die Sprachbarriere und die Kürze des Lebens davon abhielten, alle Bücher lesen und erst recht studieren zu können (vgl. ebd., S. 7). 132 Ebd., S. 3. 128

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sophie und deren Alternativen auseinandergesetzt haben. Im Nachvollziehen dieser Alternativen erfährt das Denken ein befreiendes Moment. Es sei darauf verwiesen, dass „liberal“ tatsächlich bis 1800 fast ausschließlich im Sinne der sieben artes liberales der philosophischen Fakultät aufgefasst wird und sich auf die allgemeine kulturelle Bildung bezieht. Abgesehen von diesem alten Bildungsideal bezieht sich Strauss mit „liberal education“ meines Erachtens auf das paideia hos ton eleutheron prepei aus dem Protagoras,133 mit dem Anspruch, den Menschen aus freier Herkunft zu sich selbst zu erziehen. Unter „liberal“ versteht Strauss somit den vormodernen Aspekt der Ausübung der libertären Gesinnung als Zeichen menschlicher Exzellenz.134 „Liberale Erziehung“ stellt somit das „Gegengift“ jener kritisierten Massenkultur der allgemeinen Volksbildung dar, indem es ihr gelingt, Qualitäten wie Hingabe und Konzentration sowie thematische Breite als auch Tiefe zu fördern.135 In dem generell spannungsvollen Verhältnis zwischen Freiheit und Ordnung stelle letztendlich eine „liberale Erziehung“ eine Lösung dar, die wahrhaft befreien könne und trotzdem die zumeist beschränkende Ordnung zu schätzen wisse.136 In diesem Verständnis können allein die Philosophen wirklich frei sein, da sie weder der gesellschaftlichen doxa noch den rhetorischen Illusionen der Machthaber verhaftet seien, aber sich dennoch der gesellschaftlichen doxa aus Gründen der Verantwortung entsprechend angepasst verhielten. Das Konzept der Freiheit bezieht sich in Strauss’ „liberaler Erziehung“ noch auf einen weiteren Aspekt. Indem Freiheit ursprünglich den freien Mann meint, der sich vom Sklaven unterscheidet,137 bedeutet Freiheit für Strauss auch Freizeit, im Sinne von Muße, als ein Befreitsein von Arbeit, die dem Philosophen zur Kontemplation zur Verfügung steht. In einer zweckmäßig ausgerichteten Massenkultur seien daher die meisten Menschen in liberalen Gesellschaften nicht in diesem Sinne frei, da sie arbeiten müssen. Der freie Mensch nutzt hingegen sein Übermaß an Freizeit, um sich von gesellschaftlichen doxaischen Vorurteilen befreien zu können. Strauss erwähnt daher, dass es für die grundlegende Freizeit eines gewissen Wohlstandes bedarf, der entweder geerbt, gewonnen oder durch nicht allzu zeitaufwendige Arbeit verdient wurde. Ein freier Mensch kann daher für Strauss kein Kaufmann oder Unternehmer sein, sondern, überspitzt formuliert, eher der „gentleman farmer“ 138 oder im besten Fall, wie Sokrates, der am

133

Platon, Protagoras, 312b. Strauss (1995b), S. ix. 135 Strauss (1995e), S. 5. 136 Strauss (1988c), S. 37, meine Hervorhebung; dt. Strauss (2009), S. 50. 137 Strauss (1989e), S. 323. 138 Zur klassenlosen Bildungskultur und zum Einfluss des gedruckten Wortes im Amerika der Kolonialzeit vgl. Postman (1994), S. 44 ff. sowie zur Kultur der amerikanischen Intellektuellen Hofstadter (1964), S. 145. 134

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meisten von den Menschen in der Stadt lernte, der „städtische Patrizier“.139 Trotz dieses „Befreitseins von Arbeit“ betont Strauss, dass der „Adel des Geistes“ nicht mit dem Geburtsrecht verliehen werde, sondern allein durch „liberale Erziehung“ erlangt werden könne. Inhaltlich stellt sich „liberale Erziehung“ im Sinne der paideia hos ton eleutheron prepei durch das Studium der „great books“ als eine Hinführung zur Philosophie dar,140 die sich im Wesentlichen mehr durch den Weg der Forschung und Suche auszeichnet als durch ihre Ergebnisse. Philosophie ist daher „die unbedingte Suche nach Wahrheit, die durch die Überzeugung begründet ist, dass dieses Suchen allein das Leben lebenswert macht und durch des Menschen natürliche Neigung zu Misstrauen verstärkt wird, sich mit zufriedenstellenden Überzeugungen zufrieden zu geben, die unbewiesen oder nicht erwiesen sind“.141 Strauss geht es um die geistige Haltung und um die daraus resultierende Lebensweise, mit denen evidente Überzeugungen errungen und bekannt gegeben werden, wenn das philosophische Suchen nach Wahrheit als höchste Lebensweise angesehen wird. Es könne daher der Sache der Philosophie nicht gerecht werden, wenn sie als systematisch ausformuliertes Wissen „von den Dächern gepredigt“ 142 werde. „Philosophy was originally not systematic in any sense.“ 143

Strauss, wie auch Platon, präsentieren daher in ihrer „liberalen Erziehung“ keine Lehrsätze oder ein philosophisches System, sondern bereiten den Weg zum Philosophieren vor. Diese Befreiung erfolgt in den platonischen Dialogen jedoch weniger in Sokrates’ expliziten Reden als vielmehr indirekt in seinem Fragen, Schweigen und seinen Taten sowie seinem Nicht-Antworten oder Auslassen von wichtigen Folgeschritten und Ergebnissen.144 Der einzelne Dialog stellt dabei 139

Strauss (1989g), S. 147; Strauss (1989e), S. 324. „In the light of philosophy, liberal education takes on a new meaning: liberal education, especially education in the liberal arts, comes to sight as a preparation for philosophy“ (ebd., S. 328). 141 Strauss (1945), S. 393; meine Übersetzung. 142 Ebd. 143 Strauss (2006a), S. 143. Ein System verlangt, wie Hegel gesehen hat, dass das philosophierende Subjekt die „abstrakte Form“ in einem Kontext von Konzepten findet, auf die er bereits zurückgreifen kann. Philosophie in ihrem ursprünglichen Sinn bedeutet jedoch ein Aufsteigen zu diesen abstrakten Formen bzw. sich diese Konzepte selbst anzueignen. So unterscheidet Allan Bloom zwischen Philosophie und (Natur-)wissenschaft, wobei für Letztere diese Konzepte Paradigmen darstellen. Die Erfahrung und das Erlebnis der philosophischen Konversation durch das Streben nach Weisheit schlössen die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Gespräches mit klaren, objektivierbaren und systematisierbaren Antworten aus, so dass sich die Bildung durch „große Bücher“ mehr durch einen „permanent dialogue“ auszeichne (Bloom (1987), S. 380; vgl. dazu auch Strauss (1995e), S. 7). 144 Strauss (1997h), S. 59. Thomas Szlezák sieht nun gerade in den Aussparungsstellen einen Verweis auf die notwendige mündliche „Hilfestellung für den schriftlichen 140

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kein Kapitel eines enzyklopädischen Eintrags dar, der sich in ein Gesamtsystem eingliedern lässt, und ist noch viel weniger ein Relikt Platons geistiger Entwicklung. Vielmehr eröffnet er einen Teil der Wahrheit, indem jeder Dialog von etwas abstrahiert, das extrem wichtig für das Thema des jeweiligen Dialoges ist, das jedoch weder explizit definiert noch annähernd beantwortet wird.145 Strauss’ Schriften sowie die von ihm kanonisierten „großen Bücher“ ersetzen einen „lebendigen Lehrer“, der seine Schüler zum Denken erzieht und fördert. Strauss’ „Lehre“ (teaching) zeigt sich daher nicht in einzelnen Äußerungen, sondern auf subtilere Art in seinem gesamten Œuvre.146 Seine Schriften sind daher wie die platonischen Dialoge protreptischer Art und lehren, ohne eine systematisch verfasste, abrufbare Lehre zu beinhalten, und leisten gerade dadurch einen Beitrag zur philosophischen Erziehung. Indem sie von dem „Zauber“ des politisch eingebundenen Denkens in Konventionen und Meinungen befreien, bieten sie einen Ausweg aus der von ihm kritisierten Massenkultur.147 Der „Gentleman“ unterscheidet sich daher von der „großen Menge“, da er durch seine „liberale Erziehung“ das Schöne, Wahre und Gute erfahren hat, auch wenn er diese Dinge nicht wie der Philosoph weiter verfolgt.148 Er zeichnet sich jedoch nicht nur durch Erfahrungen und Kenntnisse von „schönen und edlen Dingen“ aus,149 sondern auch durch politisch relevante Fähigkeiten, zu denen Strauss Lesen, Schreiben, Zählen, Rechnen, körperliche Sportlichkeit, Kenntnisse im Rechnungswesen und in der Verwaltung sowie über die Belange der Stadt zählt. Da unter den letzten Punkt auch die gute Ordnung der Seele und der Stadt fällt, sind die „Gentlemen“ für Strauss „die Ernsthaften“, da sie sich mit den kompliziertesten Themen auseinandersetzen. Da sie diese jedoch nicht durch philosophische Dialektik erkennen, sondern durch den Umgang mit älteren „Gentle-

Logos“. Szlezák bezieht sich auf das boethein to logo aus Platon, Phaidon 88d. Zu Beispielen der „Hilfestellung für den Logos“ in den platonischen Dialogen vgl. Szlezák (1993), S. 77 ff. 145 Vgl. Strauss (1997h), S. 138. Durch die implizite Abstraktion, der Frage nach dem Wesen, gelinge dem platonischen Dialog mehr als der Komödiendichtung, die in ihrem Kern etwas Unerreichbares als erreichbar darstelle, während der platonische Dialog das Problembewusstsein durch das Aufwerfen von Fragen, ohne eine Antwort zu bieten, verschärfe. 146 Ebd., S. 54; Bloom (1991), S. xxi. Dagegen wettert Shadia Drury, die wohl erkannt hat, dass „teaching“ ein Schlüsselbegriff in Strauss’ Werk darstellt, aber nicht verstanden hat, dass dies keine systematische Lehre ist: „In ,teaching‘ there is a teacher and a pupil, therefore what is taught will depend not only on the teacher, but also on the pupil, or the one who is being taught. Philosophers do not reveal their ideas to anyone indiscriminately“ (Drury (2005), S. 5). 147 „Liberal education is liberation from vulgarity“ (Strauss (1995e), S. 8); Strauss (1997h), S. 59. 148 Strauss bezeichnet die „große Menge“ mit dem antiken Begriff apeirokalia, der gerade diese Erfahrungen fehlen (vgl. Strauss (1995e), S. 8). 149 Strauss (1989e), S. 324.

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men“, vorzugsweise mit älteren Staatsmännern, durch Lehrer, durch Geschichten und Reiseberichte, durch Gedichte, durch politische Aktivitäten, unterscheiden sie sich von den Philosophen durch „ihre vornehme Verachtung der Präzision“.150 „[T]hey disagree regarding first principles. Hence they cannot have genuinely common deliberations.“ 151

Wie Platon im Gorgias152 vertreten für Strauss „Gentleman“ und Philosoph zwar beide ernsthafte Lebensweisen, dennoch zählt er die „Gentlemen“ zu den Nicht-Philosophen. Durch ihre Möglichkeit zur Muße und Freizeit sowie ihren gewissen Hang zu Bildung und Tradition können sie daher als potentielle Philosophen „liberal“ erzogen werden, ohne jedoch Philosophen werden zu müssen, für was es einer wahrhaft „philosophischen Natur“ und der „Umkehrung der gesamten Seele“ als einer Hinwendung zum philosophischen Leben bedarf. Mit „Aristokratie in der Demokratie“ meint Strauss eine Universalisierung der Möglichkeiten, einerseits an politischen Entscheidungen teilzunehmen und andererseits die Vorzüge einer „liberalen Erziehung“ genießen zu können.153 Da diese jedoch auf Talent und philosophischer Natur bauen, stellt die Erziehung, obwohl für jeden, der diese Kriterien erfüllt, zugänglich, eine „aristokratische“ Bildungselite innerhalb demokratischer Massenbildung dar. Da „liberale Erziehung“ bestimmte Fähigkeiten und Kapazitäten des Geistes und des Geschmacks ausbildet, umgeht sie korrumpierende Effekte der Massenkultur und kann so den Wert der liberalen Demokratie erhalten. Strauss erwartet nicht, dass „liberale Erziehung“ universell wird – dies wäre, wie gesagt, ein Widerspruch –, sondern sie wird immer eine Pflicht und das Privileg einer Minderheit bleiben. Dennoch muss es ihr gelingen, ihr Anliegen zukünftig selbst gewährleisten zu können und sich trotz ihrer elitären Struktur vor dem Gemeinwesen behaupten zu können. Heinrich Meier betont dabei, dass Strauss dem Beispiel Platons und Aristoteles’ gefolgt ist und die Chance genutzt hat, auch die politischen Begabungen möglicher „Gentlemen“ unter seinen Studenten zu fördern.154 Dabei habe er jedoch immer klargestellt, dass er das politische Leben nicht als das beste Leben betrachtete. Er zeichnete die Wichtigkeit durch das Studium der Texte der geschichtlichen, konstitutionellen und politischen Fundamente seines Gastlandes USA aus und lehrte, wohlgemerkt auf der rein theoretischen Ebene, sich für die Verteidigung der liberal-demokratischen 150

Strauss (1989g), S. 146. Strauss (1989e), S. 326. Strauss verweist an dieser Stelle auf Platon, Kriton, 49d. In dieser Passage geht es darum, dass Menschen schlecht zu behandeln generell Unrechttun ist. Da sich die Menschen in dieser Auffassung jedoch fundamental unterscheiden, müssen sie unterschiedlich erzogen werden. 152 Platon, Gorgias, 500c. 153 Strauss (1995e), S. 4. 154 Meier (2005), S. 47 f. 151

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Grundprinzipien einzusetzen. Deswegen habe er ihren Patriotismus geachtet und gelehrt, sowohl die Anforderungen als auch die Würde angemessen zu verstehen, die dem politischen Leben zukommt. Dies bedeutet nun gerade nicht, die gesellschaftliche Ordnung hinsichtlich machtpolitischer Zwecke der Philosophen unterwandern zu wollen, sondern vielmehr zu verstehen lehren, was die gesellschaftliche Ordnung ausmacht, wie sie geworden ist, was sie gefährdet und warum sie geschützt werden muss. Genauer betrachtet, folgt dies allerdings doch einer philosophischen Absicht, nämlich, dass Philosophie, insbesondere philosophische Reflexion der politischen Ordnung, auch in Zukunft unter liberalen Bedingungen gewährleistet und wertgeschätzt werden kann. b) Der „Gentleman“ und Nietzsches „vornehmer Mensch“ Shadia Drury liest aus Strauss’ Platon-Kommentar On Plato’s Republic, dass der Sophist Thrasymachos Platons eigentliches Sprachrohr sei, dessen Ansicht Strauss befürworte, und er dementsprechend eine nietzscheanische Auffassung von Gerechtigkeit als das „Recht des Stärkeren“ vertrete.155 In diesem Sinne versteht sie Strauss’ eigentliche politische Absicht, das beste Regime als „geheime Herrschaft der Philosophen“ in „Abwesenheit von Gesetzen“ etablieren zu wollen, was er mit Unterstützung der von ihm durch „liberale Erziehung“ manipulierten „Gentlemen“ umzusetzen gedenkt. Wie Platon gehe auch Strauss davon aus, dass das politische Ideal die Herrschaft der Weisen sei, die jedoch in der realen Welt unmöglich umzusetzen sei. Dies habe Platon erkannt, weswegen er für die bestmögliche Version, die Herrschaft der Gesetze, wie sie in den Nomoi dargestellt sind, plädiere. Für Strauss hingegen sei die Herrschaft der Gesetze kein von Platon ernst gemeinter Lösungsvorschlag, weswegen er in The Argument and the Action of Plato’s Laws die „nächtliche Versammlung“ (nukterios syllogos) hervorhebe, um auf Platons „wahre“ politische Absicht zu verweisen.156 Diese sei eine geheime Philosophenherrschaft, die durch das überwiegend vorherrschende Unwissen der manipulierten „Gentlemen“ durchgesetzt werden könne. Je leichtgläubiger und unaufmerksamer sie seien, desto einfacher sei es für die Philosophen, sie zu kontrollieren und für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.157 Drury schreibt dem sokratischen Philosophieren daher stark egoistische und hedonistische Züge zu. Der Philosoph benutze eine politisch-rhetorische Maske, um über seinen Eigennutz hinwegzutäuschen, so dass er ungestört die Freuden 155 Drury (2005), S. 171. In seinem „post-modernen Projekt“ wolle Strauss das naturgegebene „Recht des Stärkeren“ re-etablieren und halte sich dabei an Nietzsche, aber keineswegs an Platon. 156 Strauss/Plato (1975), S. 181; Platon, Nomoi, 962b–964d. 157 Drury (2005), S. 83 verweist dabei auf Strauss (1970), S. 157 f.

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des rein kontemplativen Lebens genießen könne, die für das Gemeinwesen zwecklos seien. Für die Politik hingegen bedürfe es einer Klasse an Menschen, die Strauss als „citizens“ bezeichne, die den Hedonismus ablehnen und sich moralisch vorbildlich verhalten, um den Staatsapparat zu Gunsten der Philosophen am Laufen zu halten. Drury unterscheidet demnach drei Klassen: die Philosophen, die an der Politik partizipierenden Bürger (citizens), unter die vor allem die „Gentlemen“ fallen, und die Vulgären (vulgars). Dabei stehe der Philosoph aufgrund seines Hedonismus den Vulgären näher als den „Gentlemen“, die ihre eigenen Wünsche zugunsten politischer Pflichten unterdrückten. Die „Gentlemen“ sind für Drury dabei eine „spezielle Züchtung“ der Philosophen, da sie dazu fähig sind, von ihnen infiltrierte „edle Lügen“ zu verbreiten, ohne die das Gemeinwesen keine Ordnung aufrechterhalten könnte.158 In ihrer naiven, unphilosophischen Art glaubten sie, dass die Ordnung allein durch die politisch tugendhaften Menschen erfolgen könne und dass ein Leben im ehrenvollen Dienst für andere das beste Leben sei. Für den Philosophen hingegen sei eine solche Einstellung, dass das Edle und Ehrenvolle an sich erstrebenswert sei, eine politische Fiktion. Der Philosoph wisse, dass das von Natur aus Gute das Leben, das den eigenen Genüssen gewidmet ist, und nicht das Leben im Dienst für andere das beste sei. Die „Gentlemen“ gingen darüber hinaus in ihrer für sie ehrenvollen Dienerschaft auf, so dass der Philosoph, gemäß Strauss, auch keinen Sinn darin sehe, sie über diesen Irrtum aufzuklären.159 Drury meint, dass für Strauss die Lösung par excellence das Regieren der „Gentlemen“ sei, und sieht darin die Notwendigkeit, dass sich die „Art von Sokrates“ mit der „Art des Thrasymachus“ in einer bloß zweckorientierten, mit „edlen Lügen“ vorgetäuschten Freundschaft verbinden müsse.160 Strauss benutze daher sehr kalkuliert den „Gentleman“ als ein Instrument der Philosophen, der vom Gemeinwesen als Vorbild verehrt wird, um die Stadt zu Gunsten der Philosophie zu manipulieren.161 Der Philosoph müsse sich dabei gegenüber den „Gentlemen“ einer sophistischen Rhetorik bedienen und sie durch „edle Lügen“ dahingehend erziehen, sein hedonistisches, philosophisches Leben weiterführen zu können.162 Philosophen herrschen demnach entweder direkt im besten Regime oder indirekt, indem sie die „Gentlemen“ für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Der „Gentleman“, so Drury, könne auf seine naive Art den philosophischen Hinterhalt nicht erkennen und der Philosoph setze alles daran, dieses zu verhindern.163 158 159 160 161 162 163

Drury (2005), S. 82. Ebd., S. 87. Ebd., S. 190. Ebd., S. 87. Ebd. Ebd., S. 98.

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Drury vernachlässigt jedoch, dass die „Gentlemen“ als einzige Klasse in der Stadt den Philosophen wohlwollend gegenüberstehen,164 und blendet völlig die erzieherische Aufgabe des Philosophen aus, potentielle Philosophen auszubilden, wobei gerade die „Gentlemen“ die besten Voraussetzungen durch ihre bereits vorhandene Bildung sowie durch die Möglichkeit zur Muße haben. Drury liest daher auch „to speak differently to different people“ wortwörtlich so, als dass Strauss unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Inhalte mit unterschiedlichen politischen Zwecken gelehrt hätte.165 Sie unterstellt, dass die Strauss’schen Philosophen inhaltlich mehrere unterschiedliche Intentionen hätten, die zudem eine realpolitische Thematik behandelten. Drury geht davon aus, dass Strauss Platons Ansicht von der dreigeteilten Seele nicht teile, da er sich nicht auf die Seelentypen (psyche), sondern auf unterschiedliche Gesellschaftstypen von Menschen beziehe, die unterschiedliche Interessen forderten, die sich letztendlich in ihrer Art von Wissen, doxa und episteme, sowie in Hedonismus und der Selbstlosigkeit unterscheiden. Ersteres sei, so Drury, letztendlich der Grund, dass es einen unüberwindbaren Graben zwischen den Philosophen, die sie fälschlicherweise immer als Weise (wise) bezeichnet, und den Vulgären gebe, unter die auch die „Gentlemen“ fielen.166 In diesem Sinne gebe es nämlich doch nur zwei Typen, die sich im Zugang und Streben nach Wissen unterscheiden. Auch ergibt sich ein Widerspruch in Drurys Deutung von Thrasymachos: Ist jener barsch auftretende Rhetoriker nun Platons philosophisches Sprachrohr, der sich als Philosoph einer sophistischen Rhetorik bedient, oder stellt er den von Philosophen instrumentalisierten „Gentleman“ dar? Durch ihren Kampf, Strauss eine verschwörerische, nietzscheanisch geprägte Subvertierung der liberaldemokratischen Prinzipien vorzuwerfen und diese These aufrechtzuerhalten, verfängt sich Drury letztendlich in Widersprüchen. Diese stehen und fallen mit Strauss’ Auffassung vom „Gentleman“ und seinem „politischen Nietzscheanismus“. Darüber hinaus ist die Frage des „Gentleman“ für die Hermeneutik von größter Wichtigkeit: Wenn Strauss eine real-politische Intention als eine subtile Botschaft für die „Gentlemen“ intendiere, müsse man Strauss drei inhaltliche Intentionen zuschreiben: Er richte sich dabei nicht nur an Philosophen und Nicht-Philosophen, sondern vermittele konkrete Anweisungen für politische Handlungen. Matthias Bohlender verbindet daher in diesem Sinne Strauss’ differenzierende Rhetorik mit politischer Theorie, vornehmlich als ein Instrument der Philosophie, was er am Beispiel der unterschiedlichen „politischen Rhetoriken“ bei Thomas Hobbes aufzuzeigen versucht. Das, was für Strauss die Politisierung der Philoso-

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Ebd. Ebd., S. 188. Ebd., S. 198.

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phie als eine Reflexion des politischen Umfeldes ist, stelle sich als eine Rhetorisierung der politischen Theorie dar. „Aus einer politischen Philosophie wird eine Rhetorik des Politischen, die angetreten ist, sich als politische Philosophie existenziell wie instrumentell zu behaupten.“ 167

Diese richte sich als Politische Philosophie an Philosophen, als Politische Wissenschaft an intellektuell Interessierte sowie an eine Führungselite.168 Dabei werden die intellektuell Interessierten weiter aufgeteilt in die potentiellen Philosophen und die politische Gemeinschaft, vor denen sich die Philosophie rechtfertigen muss. Insgesamt leitet Bohlender aus Strauss’ vermeintlichem Verständnis von politisch-philosophischer Rhetorik vier Äußerungsmodi her, die sich auf die Funktionen der „politischen Rhetoriken“ beziehen: Diese umfasst a) Dialektik als Teil des philosophischen Dialogs, b) Psychagogie als Instrument zur Rekrutierung potentieller Philosophen, c) „politische Diätetik“ 169 der Führungselite, d) Rhetorik als politische Rechtfertigung der Philosophie vor dem Tribunal der politischen Gemeinschaft.170 Bohlender geht davon aus, dass durch diese „antikisierende Entmischung“ der Instrumente der Rhetorik „ganz unterschiedliche Philosophien, Redepraktiken und Lehren je nachdem, wer sie spricht und wer sie liest“ verbreitet und vor allem verstanden werden können.171 Er unterscheidet demnach nicht nur Philosophen und Nicht-Philosophen, sondern ebenso Herrscher und Beherrschte, für die es entsprechender „politischer Rhetoriken“ bedarf. Dies impliziert, dass Strauss folglich mindestens vier unterschiedliche Adressaten rhetorisch mit bedacht haben müsste und er von einer vierfachen „auktorialen Intention“ im Text ausginge. Politisch bedeutete eine entsprechende Adressierung, dass Strauss auf rhetorischem Weg eine Ausbildung der Führungselite verfolgte. Da dies Strauss in der Tat unterstellt wurde172 und da dies eine große Herausforderung für eine Hermeneutik bedeutet, die von einer „Intention des Philosophen“ ausgeht, muss an dieser Stelle geklärt werden, was Strauss unter dem „Gentleman“ versteht und ob er diesen mittels einer inhaltlich eigenen, „politischen Rhetorik“ entsprechend zu adressieren beabsichtigt. Shadia Drury geht davon aus, dass Strauss’ eigentliche politische Absicht, die geheime Philosophenherrschaft, dem nietzscheanischen „Pathos der Vornehmheit“ entspricht.173 Die „Philosophen der Zukunft“ verbreiten in ihrer Interpretation dabei eine Moral der eigens erschaffenen „edlen Lügen“, mit denen sie die 167

Bohlender (1995), S. 219. Ebd., S. 213. 169 Bohlender möchte sich damit auf eine an Foucault angelehnte praktische Ethik der Selbstbeherrschung beziehen, um andere zu beherrschen. 170 Ebd., S. 216. 171 Ebd., S. 217. 172 Drury (2005), S. 170 ff.; Lampert (1996), S. 129; Bluhm (2002), S. 115 f.; Bohlender (1995), S. 216 f. sowie Steinberg (2003); Xenos (2008); Pfaff (2003)). 173 Drury (2005), S. xvii. 168

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vornehmen „Gentlemen“ für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren.174 Der „vornehme Mensch“ wird in einer Textpassage in Nietzsches Werk Jenseits von Gut und Böse allerdings als jemand dargestellt, der das Ängstliche, Schmeichlerische und vor allem kleinliche Nützlichkeitsdenken verachtet.175 Die „vornehme Art Mensch“ bestimmt er als wertbestimmend und werteschaffend,176 da sie sich selbst eigene Werte und Urteile bildet und diese durchsetzt: „Der vornehme Mensch ehrt sich in den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust und Strenge und Härte gegen sich übt und Ehrerbietung von allem Strengen und Harten hat.“ 177

Da Nietzsche mit dem „Willen zur Macht“, so Laurence Lampert in seiner Untersuchung Leo Strauss and Nietzsche, eine höhere Kultur zu erschaffen beabsichtige, die von den „Philosophen der Zukunft“ regiert wird, sei dieser in Strauss’ Augen ein zutiefst politischer Denker.178 Dabei muss jedoch beachtet werden, dass nur der, dem es gelingt, die chaotische Natur zu überwinden,179 indem er jeglichen Sinn aus sich selbst heraus mit dem „Willen zur Macht“ schafft, für Nietzsche ein „vornehmer“ und daher freier Mensch ist.180 Allein aus diesem Aphorismus wird deutlich, dass für Nietzsche der „vornehme Mensch“ als „zukünftiger Philosoph“ nichts mit den instrumentalisierbaren, naiven „Gentlemen“ zu tun haben kann. Insofern ist der Zusammenhang, den Drury zwischen den „Gentlemen“ und Nietzsches „vornehmen Menschen“ erkannt zu haben meint, allein schon aufgrund der von ihr hervorgehobenen Leichtgläubigkeit gegenüber den Philosophen nicht haltbar. Dennoch ist zu klären, ob und inwiefern Strauss einem „politischen Nietzscheanismus“ verfallen ist. 174 Ebd., S. 87. Darüber hinaus stellt sie Strauss als Nietzscheaner dar, der die platonische Philosophie nur als Maske benutzt, um eine neue politische Ordnung etablieren zu können (vgl. ebd., S. 181). Drury behauptet sogar, dass Strauss der „bessere“ Nietzsche sei, da es ihm gelungen sei, Schüler (disciples) zu gewinnen, die seinen theoretischen Plan umgesetzt haben. 175 Aphorismus 260 in: Nietzsche (2007), S. 209. 176 Ebd. Mit dem „vornehmen Menschen“ beschreibt Nietzsche zugleich jene Herrenmoral, die den Unterlegenen nicht etwa aus Mitleid hilft, sondern aus dem Motiv, seine eigene Macht zu demonstrieren (vgl. ebd., S. 209 f.). 177 Aphorismus 260 in: Nietzsche (2007), S. 210. 178 So Lampert (1996), S. 189. Strauss betont in seinem letzten Absatz, dass Nietzsches letztes Kapitel, das als „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ betitelt ist, selbst als Philosophie der Zukunft verstanden werden muss (vgl. Strauss (1989h), S. 191). 179 Die Natur ist für Nietzsche reines Chaos, hinter dem es keine objektive Wahrheit außer der jeweils eigens geschaffenen gibt. Nietzsche antizipiere daher, nach dem Tod Gottes, dass unter den gegenwärtigen Atheisten einige verstünden, was sie tun, wenn sie das „Nichts“ statt Gott anbeten. Diesen gelinge es, die „todbringende Wahrheit“ in eine lebenspendende zu transformieren und einen Gegensatz zur Anbetung des pessimistischen Nichts zu schaffen. Insofern ist die Selbstvergöttlichung der Kern von „Nietzsches Theologie“. 180 Nietzsche (2005), S. 488.

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Strauss verurteilt Nietzsche in Note on the Plan of Nietzsche’s Beyond Good and Evil 181 als einen Mitverursacher der „Krise der Moderne“, indem er das diesseitige Leben bejaht und jegliche Annahmen transhistorischer, objektiver oder religiöser Wahrheit ablehnt.182 Mit einer kurzen, abschließenden Formulierung gelingt es Strauss, diesen Sachverhalt seines lebenslangen Denkweges als Verlust darzustellen: „Die vornehme Natur ersetzt die göttliche Natur.“ 183

Darüber hinaus diskutiert Strauss die Ambivalenz von Nietzsches Naturbegriff und kontrastiert diesen mit dem von Platon. Nietzsche stelle sich selbst bereits in der Einleitung zu Jenseits von Gut und Böse als Antagonist Platons dar, vor allem der platonischen Auffassung von Wahrheit und der „Idee des Guten“.184 Anders als Nietzsche versteht Strauss Platons Philosophie jedoch nicht als die Erkenntnis einer transzendenten „Idee des Guten“, sondern betont sein emphatisches Verständnis von sokratischer Philosophie als ein letztendlich nur durch eros motiviertes Streben nach Wahrheit.185 Aus dieser Sicht ist der „Wille zur Macht“ keine „Liebe zur Weisheit“, sondern der selbstische Wille, der der Natur vorschreibt, wie sie sein soll. Von Beginn an stellt Nietzsche das philosophische Streben nach Wahrheit in Frage und setzt die „gewollte“ Wahrheit dagegen.186 Nietzsches „Wille zur Macht“ nimmt für Strauss daher den Platz ein, den eros bei Platon hat. Aus dieser unterschiedlichen Auffassung von Philosophie entlarvt Strauss bei Nietzsche jedoch ein sich widersprechendes Natur-Verständnis. Zwar lehne Nietzsche dezidiert jegliche objektiven Wahrheitsansätze ab, unterscheide und bewerte jedoch die Herren- und Sklavenmoral. Demnach findet Strauss bei Nietzsche eine Hierarchie der Naturen vor, an deren Ende der „zukünftige Philosoph“ steht: „[F]or Nietzsche nature has become a problem and yet he cannot do without nature. [. . .] Nature, the eternity of nature, owes its being to a postulation, to an act of the will to power on the part of the highest nature.“ 187 181 Strauss (1989h). Der Aufsatz im Sammelband ist ein Wiederabdruck aus: Interpretation. A Journal of Political Philosophy 3, 2/3, 1973, 97–113. 182 Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel „Die Krise des Westens“. 183 Strauss (1989h), S. 191. Vgl. dazu auch Strauss’ Vergleich mit Platon und Nietzsche bezüglich ihres geschichtlich geprägten christlichen Hintergrundes, den Nietzsche als transzendenten Jenseitsglauben überwinden möchte, in: Strauss (1989a), S. 41. 184 Strauss (1989h), S. 175. 185 Ebd., S. 183. 186 Ebd., S. 176. Strauss verweist auf Nietzsches Aphorismus 9. 187 Ebd., S. 190. Für Nietzsche gebe es daher eine natürliche Hierarchie unter den Menschen als Erkennende. Der „moralische Imperativ“ der Sklaven-Natur sei dabei „Gehorsam“ gegenüber unnatürlichen und unvernünftigen Gesetzen, weswegen Nietzsche in Aphorismus 188 daher vom „Herdeninstinkt zu Gehorsam“ spricht. Der fundamentale Instinkt, die „wahre Natur“, sei jedoch für Nietzsche der „Wille zur Macht“ und nicht etwa wie bei Thomas Hobbes der Trieb zur bloßen Selbsterhaltung (vgl. ebd., S. 184).

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Die Bestimmung, was „Natur“ ist und wie sie sein sollte, basiert auf einer Forderung der „höchsten Natur“, die für Nietzsche der „vornehme Mensch“ ist. Dieser ist jedoch nicht mit der „Natur des zukünftigen Philosophen“ geboren, sondern muss erst dazu werden, indem er die „Sklavenmoral“ als solche erkennt und verwirft. Er muss daher „vernatürlicht“ werden, indem er der „zukünftige Philosoph“ wird, der er seiner Natur nach ist. Obwohl Nietzsche jegliche Auffassungen einer naturgegebenen Moral ablehnt, enttarnt Strauss den Widerspruch, dass Nietzsche dennoch von einer menschlichen Natur ausgeht, die erkannt hat, dass es eine „transmorale“ Wahrheit „jenseits von Gut und Böse“ gibt.188 Oder anders formuliert: Es gibt die Natur der „zukünftigen Philosophen“, die sich dadurch auszeichnet, dass sie erkannt hat, dass es keine Natur gibt. Laurence Lampert geht dabei sogar so weit, dass für Strauss Nietzsche als Advokat der „Philosophie der Zukunft“ „platonisiert“ 189, indem er das platonische Verständnis einer philosophischen Natur verteidigt.190 Nietzsches platonisches Philosophieren ist für Strauss jedoch keineswegs als eine „Rückkehr zur Antike“ aufzufassen, sondern als progressive „Vernatürlichung“ der „Philosophen der Zukunft“. Dabei betont Strauss, dass das Tugendideal Platons auf Besonnenheit und Gerechtigkeit fußt, während sich Nietzsches „zukünftige Philosophen“ durch Mitleid (compassion)191 und Einsamkeit auszeichnen. Entgegen der platonistischen Akzentuierung der „göttlichen Natur“ hebt Strauss stets die verantwortungsvolle Mäßigung (modesty) der Philosophen hervor, insbesondere in ihrem öffentlichen Auftreten. Lampert deutet diese Auslegung, dass Platon für Strauss nietzscheanische Züge trägt, indem er die „göttliche Natur“ als „edle Lüge“ benutzt, um „werteschaffende“ Philosophie zu ermöglichen. Durch diese Maskierung sei Platon zurückhaltend vorgegangen, während sich Nietzsche „maßlos“ verhalten habe, indem er sich offen gegen die christliche Sklavenmoral des Mitleids ausgesprochen habe. Für Lampert ist Strauss selbst daher kein Philosoph, sondern ein Wegbereiter für zukünftige „world-making“ Philosophen.192 Platon und Nietzsche sind für ihn hingegen Philosophen, da sie beide, wenn auch bei Platon weniger offensichtlich, die Herrschaft der Philosophen etablieren wollen.193 Für Lampert haben daher nicht nur Platon und Nietzsche, sondern hat letztendlich auch Strauss ein durchaus politisches Interesse. 188 Strauss bemerkt, dass Nietzsche daher versucht hat, diesen Widerspruch zu umgehen, indem er „natürlich“ mit „authentisch“ ersetzt (vgl. ebd., S. 190). 189 Lampert (1996), S. 117. 190 Ebd. 191 Hinsichtlich Zarathustras Aversion gegen Mitleid stellt sich die Frage, warum Nietzsches zukünftige Philosophen sich durch Mitleid und Einsamkeit auszeichnen sollen. Michael Frazer hebt in seinem Aufsatz The Compassion of Zarathustra: Nietzsche on Sympathy and Strength hervor, dass Mitleid zwar einerseits eine Schwäche, gleichzeitig aber „eine starke Waffe in den Händen Überlegener“ sei (Frazer (2006b), S. 65). 192 Lampert (1996), S. 129. 193 Ebd.

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„Mäßigung“ (moderation) spielt für Leo Strauss zwar in der Tat eine wichtige Rolle in Bezug auf das öffentliche Auftreten von Philosophen, jedoch muss diese vielmehr als ein Selbstschutz vor der Verführbarkeit durch politische Einflussnahme verstanden werden. Strauss betont daher in seinem Aufsatz Liberal Education and Responsibility nicht nur im Titel die Verantwortung hinsichtlich der „befreienden Bildung“. Vor der Gefahr zu Missdeutungen und politischen Auslegungen194 sind auch „liberal“ erzogene Menschen nicht gefreit,195 zu denen er nicht nur „Gentlemen“, sondern auch die Philosophen Nietzsche und Marx zählt. Indem Strauss auf ihre „grandiosen Fehlschläge“ verweist, appelliert er zugleich für ein verantwortungsvolles, im Sinne von politisch moderatem, Philosophieren: „Karl Marx, the father of communism, and Friedrich Nietzsche, the stepgrandfather of fascism, were liberally educated on a level to which we cannot even hope to aspire. But perhaps one can say that their grandiose failures make it easier for us who have experienced these failures to understand again the old saying that wisdom cannot be separated from moderation and hence to understand that wisdom requires unhesitating loyalty to a decent constitution and even to the cause of constitutionalism.“ 196

Maßhaltung schützt demnach die „liberal“ Erzogenen vor der Erwartung, ihre visionären politischen Ideen in der Politik umsetzen zu können, sowie vor der Verführbarkeit durch die Politik – the „unmanly contempt for politics“. Aus diesem Grund erweitert Strauss sein Konzept der „liberalen Erziehung“ um Verantwortung (responsibility). Verantwortung bedeutet für Strauss die Pflicht,197 Rechenschaft über seine eigenen Taten ablegen zu können. Vor allem hinsichtlich der vom Gemeinwesen erwarteten allzu klaren Antworten und eindeutigen Handlungsempfehlungen sollten sich „liberal“ erzogene Menschen in ihrem politischen Engagement bescheiden zurückhalten. Dennoch sollte es ihnen zugleich gelingen, öffentlich gehört werden.198 Diese verantwortungsvolle Zurückhaltung ist demnach keine rein theoretische „Tugend des Geistes“ 199, sondern eine politische, die die von Natur aus manische Eigenart der Philosophie in ihrem öffentlichen Auftreten beschränkt. Der „Philosoph der Zukunft“ ist für Strauss daher nicht Nietzsches werteschaffender, politisch agierender Philosoph, sondern der, der in seinem Auftreten Verantwortung, gerade im Hinblick auf die potentielle Vervollkommnung menschlicher Exzellenz, übernimmt. Daher entlarvt Strauss zwar die „natürliche“ Basis von Nietzsches Denken, unterscheidet aber dessen Philosophieverständnis von dem platonischen. Bei Nietzsche wird der „zukünftige Philosoph“ durch den 194 195 196 197 198 199

Strauss (1989e), S. 345. Ebd. Ebd., S. 345 ff. Ebd., S. 322. Ebd., S. 345. Strauss (1989x), S. 32.

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„Willen zur Macht“ zu dem, der er ist, während das platonische Philosophieren durch eros motiviert einen manischen, „göttlichen“ Charakter hat, der sich jedoch stets mäßigen muss, Werte und Normen des Gemeinwesens öffentlich radikal in Frage zu stellen oder sogar selbst neue Normen etablieren zu wollen. Nietzsches „vornehmer Mensch“ zeichnet sich nicht nur durch Führerqualitäten aus – er nennt exemplarisch in einer Aufzählung Napoleon, Alkibiades und Cäsar –, sondern ist zugleich der „zukünftige Philosoph“, der Sinnlosigkeit und Kontingenz mit seinen eigenen „transmoralen“ Wertschöpfungen unterdrücken kann. Strauss hingegen bemerkt, dass Sokrates selbst nicht weiß, was gut und schlecht ist, und er somit kein „vornehmer Mensch“ in Nietzsches Verständnis sein kann.200 In der Bejahung einer Natur, die letztendlich die „Philosophen der Zukunft“ auszeichnet, stehe Nietzsche, so Strauss, Platon nicht etwa in der Ablehnung einer „transmoralischen“ Naturauffassung gegenüber, sondern in der unterschiedlichen Auffassung bezüglich der politischen Realisierung philosophischer Ideen. Während bei Platon das durch eros motivierte Philosophieren stets auf der Suche nach dem Guten und Wahren bleibt, geht es Nietzsches Philosophie um das Schaffen und Durchsetzen der eigenen Werte durch den „Willen zur Macht“. In diesem Sinn muss Strauss’ Äußerung verstanden werden, dass die vornehme Herrennatur die durch eros motivierte „göttliche“ Natur des platonischen Philosophierens ersetzt. Nietzsche kann daher nur insofern für Strauss ein platonischer Philosoph sein, als er von einer „philosophischen Natur“ ausgeht. Jedoch unterscheidet sich dieser Natur gänzlich in ihrem Ziel und in ihren politischen Implikationen. Nietzsches Entwurf der „vornehmen Natur“ trifft daher nur durch den Namen auf Strauss’ Konzept des „Gentleman“ zu. c) Kalokagathia und das Problem mit Alkibiades Insofern bleibt die Frage offen, wer für Strauss in Bezug auf sein „befreiendes“ Bildungsideal der „Gentleman“ ist. Durch das sorgfältige und langwierige Studium der „great books“ kann Strauss nicht den englischen „Gentleman“ meinen, der in seinem vor-professionellen Amateurdasein eher einen intellektuell Interessierten mit einer möglichst breiten Allgemeinbildung aus Politik, Kultur und Wissenschaft darstellt und für den es unschicklich ist, einen höheren Grad an Bildung zu erlangen.201 Da Strauss in seinen Aufsätzen zur „liberalen Erziehung“ auch auf die Schriften der Gründerväter der USA rekurriert, trägt sein Konzept vielmehr Züge des „Citoyen“ 202, der seit der Französischen Revolution den poli200 Strauss (1989h), S. 199; Strauss (1972), S. 158, 143 ff.; Strauss (1970), S. 132, 159 ff.; Strauss/Kojève (2000), S. 43. 201 Weshalb es auch bis in die 1950er Jahre für den englischen „Gentleman“ unschicklich war, einen höheren Grad als den eines Bachelor of Arts zu erwerben. 202 Vgl. im Folgenden vor allem Reichardt/Schmitt (1988), S. 75 ff.

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tisch emanzipierten, aktiven Staatsbürger bezeichnet, der nicht nur ein freies und gleiches Mitglied der Gemeinschaft ist, sondern darüber hinaus durch den Besitz von Eigentum ökonomisch unabhängig ist. Indem der Citoyen meist mit dem bloßen Untertanen (sujet) kontrastiert wird, der an der politischen Macht nicht teilhat, ist die Bestimmung allerdings auch durch die Forderung konnotiert, dem Ideal des freien Bürgers zu entsprechen, nämlich ein politisch aktiver Bürger (citoyen actif) zu sein.203 Strauss sieht im „Gentleman“ hingegen nicht primär die politischen Aspekte des Citoyen, sich politisch zu engagieren, sondern akzentuiert die moralischen Ansprüche. Der Citoyen als der sich seiner gesellschaftlichen Pflichten bewusste Bürger dient als moralisches Vorbild für das Gemeinwesen. Um sich entsprechend verhalten zu können, erwirbt der Citoyen Kenntnisse, insbesondere durch den Besuch der Akademien.204 Der Begriff des „Citoyen“ hat jedoch nicht nur eine konkret politische Bedeutung, sondern ist auch eine soziologische Bezeichnung. Die begriffliche Trennung von bourgeois und citoyen, die ebenfalls das Verhältnis von prolétaire und bourgeois umfasst, bezieht sich dabei nicht länger auf die Rechtsstellung hinsichtlich der Souveränität, sondern behandelt die soziologische Unterscheidung von individuell „bourgeoisen“ und gemeinwohlorientierten Interessenlagen.205 Der Bourgeois wurde dahingehend durch die Linkshegelianer in den 1820er Jahren als Kampfbegriff für den nicht politischen, sondern wirtschaftlich handelnden Privatbürger mit eigenen (Klassen-)Interessen eingeführt.206 Strauss erkennt in dem auf Sekurität und Selbst203

Der Citoyen als politischer Bürger taucht mit 1789 und den Verfassungsdiskussionen auf und infolge der Nationalversammlung 1791 in der Abstufung zwischen Aktivund Passivbürgern. „Citoyens actifs“ sind dabei wählbare, politisch aktive Bürger, die an der Gesetzgebung teilhaben (vgl. Prechtl/Burkard (2008), S. 91 f.). Aus dem französischen Freiheitsdenken heraus beschreibt Rousseau den Citoyen im 1. Buch, Kapitel 6 des Contrat Social als Staatsbürger, der als einzelnes Mitglied des Staates, im Unterschied zum gesamten Volk, an der Souveränität teilhat. Er ordnet seine Eigeninteressen den Interessen des Gemeinwesens unter und zeigt dadurch Einsatzbereitschaft für das Vaterland. 204 Daher stellt sich schon früh die Frage, ob denn alle Mitglieder eines Staates gleichermaßen ,Bürger‘ im Sinne des Citoyen sein können. In der Antike ist man daher in der Verleihung dieses Rechts sehr zurückhaltend gewesen, weswegen für Aristoteles die praktische Ausübung von Politik in der Staatsverwaltung den wahren Citoyen auszeichnete, was nicht allen möglich war. 205 Die Frage zum Verhältnis von prolétaire und bourgeois stelle sich zuerst im Artikel ,Citoyen‘ der Encyclopédie nouvelle von P. Leroux (1837) zitiert in: Reichardt/ Schmitt (1988), S. 84. 206 Für Karl Marx beziehen sich Bourgeois und Citoyen „einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person“. Das Begriffspaar Bourgeois-Citoyen verlor bereits im 19. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung, je mehr sich die Gegenüberstellung Bourgeoisie-Proletariat durchsetzte (vgl. ebd., S. 108 ff.). Ein wechselseitiger Austausch oder eine Übersetzung von Bourgeois und Citoyen ist jedoch nicht möglich, gerade weil diese begriffsgeschichtlich politisiert wurden. Zudem umschließen sie bestimmte politisch und soziologisch nur schwer zuzuordnende Bevölkerungsgruppen, die sich auch in Marx’ „Klassenhierarchie“ nicht einhegen lassen. Eine Unterscheidung

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erhaltung überspitzt gedachten Bourgeois Züge von Nietzsches „letztem Menschen“, dessen Lebensentwurf auf bloße Unterhaltung ohne Ernst und reines Amüsement hinausläuft.207 Da er diese bourgeoise Lebenswelt in den demokratischen Massendemokratien diagnostiziert und problematisiert, muss der „Gentleman“ somit als Gegenbegriff zum „Fachmenschen ohne Geist“ aufgefasst werden. Gerade weil sich Strauss mit dem „Gentleman“ im Kontext der „liberal education“ in den gleichnamigen Aufsätzen auseinandersetzt, muss dieser vor dem bildungstheoretischen Hintergrund verstanden werden. Für Strauss stellt sich die „liberale Erziehung“ der „Gentlemen“ gerade dem „bourgeoisen“ geistigen Nivellierungsniveau entgegen,208 wobei sie auch die politischen Implikationen im Sinne des verantwortungsbewussten Citoyen mit bedenkt.209 Trotz seiner umfangreichen Bildung darf der „Gentleman“ jedoch nicht als Philosoph aufgefasst werden. Strauss weist darauf hin, dass Xenophon den Sokrates-Schüler Isomachos in einem Gespräch mit Sokrates zwar als „perfect gentleman“ auszeichnet, ihn jedoch letztendlich als totalen Narren vorführt, der bis ins kleinste Detail ausgetüftelt hat, was getan werden sollte.210 In einem weiteren Hinweis äußert Strauss explizit, dass Sokrates gerade kein „Gentleman“ ist.211 Dies widerspricht scheinbar einer anderen Äußerung, in der Strauss den Philosophen mit einem Sophisten vergleicht, die in Bezug auf ihre Behauptung, Wissen

zwischen dem „bourgeoisen“ Nutznießer der Rechte ohne Erfüllung der Pflichten ist wiederum eine linke Polemik, die dem liberalen Bild eines besitzenden und sowohl Rechte als auch Pflichten wahrnehmenden Bürgers widerspricht. 207 Meier (1988), S. 118. 208 Der Bildungsbegriff wurde im 20. Jahrhundert aufgrund seiner soziologischen Implikationen stark kritisiert, der Bildung einerseits als ein elitäres Privileg auffasste, andererseits Rechtfertigung einer umfassenden Allgemeinbildung vor dem geforderten Fachwissen und den zunehmenden Spezialfertigkeiten verlangte. Zu Strauss’ Auseinandersetzung mit der Allgemeinbildung siehe das Kapitel Zur Intention des „philosophischen Autors“. 209 Strauss’ Äußerungen zum „Gentleman“ sind in dieser Hinsicht als Kritik der Gegenwart seines neuen Heimatlandes aufzufassen. Es ist die enttäuschte Diagnose, dass die Realpolitik ihren Gründungsidealen nicht mehr folgt, die sich als ein Amalgam von modernen und antiken Prinzipien auszeichnen. So sei der Senat der USA ursprünglich gemäß der Cicero’schen Idee konzipiert worden, nach der eine Klasse „liberal erzogener“ „Gentlemen“ Führung und Verantwortung übernehme. Daher appelliert Strauss eindringlich für ein Bewusstwerden der Wurzeln des eigenen politischen Systems, nicht nur hinsichtlich des Citoyen, sondern vor allem der naturrechtlichen Grundlagen der Declaration of Independence (Strauss (1989g), S. 13). 210 Strauss (1970), S. 157 f. Aus diesem Kontext folgert Shadia Drury die Hörigkeit der naiven „Gentlemen“ gegenüber den Philosophen (Drury (2005), S. 83). Xenophon stellt in seiner Schrift Oikonomikos Isomachos als guten und sowohl charakterlich als auch äußerlich schönen Menschen dar, der sich im Sinne des Ideals der kalokagathia selbst beherrschen und mäßigen kann und darüber hinaus über freie Zeit für die Gespräche mit Sokrates verfügt. 211 Strauss (1972), S. 143 ff., 158; Strauss (1970), S. 132, 159 ff. sowie Strauss/Kojève (2000), S. 42.

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zu besitzen, leicht verwechselt werden könnten. Der Philosoph zeichne sich jedoch als „Gentleman“ aus, während der Sophist unterwürfig sei. Diesen Widerspruch löst Strauss auf, indem er die Zweideutigkeit der „gentlemanliness“ für die Verwechslungsgefahr verantwortlich macht. Allgemein werde nämlich der „Gentleman“ als gerechter und guter Bürger aufgefasst, der, aus Sicht der „Vielen“, nicht notwendig ein Philosoph oder gar ein Weiser sein muss.212 Da sich das philosophische von dem „vulgären“ Denken unterscheide, gehe die allgemeine Auffassung von einem Gegensatz zwischen dem Philosophen und dem „Gentleman“ aus, indem die „Vulgären“ die „vornehme“ Art nur in jenen erkennen, die sie für vornehm erachten: „They may doubt the gentlemanliness of the wise.“ 213

In diesem Sinne wird der Widerspruch, ob der Philosoph nun ein „Gentleman“ ist oder nicht, dahingehend aufgelöst, dass der Philosoph zum einen in der „vulgären“ Auffassung nicht ihren Vorstellungen eines „vornehmen“ Menschen entspricht. Zum anderen ist der Philosoph nicht nur „Gentleman“, sondern geht über diesen hinaus: „[P]hilosophy transcends gentlemanship.“ 214

Eine solche Unterscheidung zwischen „Gentleman“ und Philosoph verweist auf das Bildungsideal des kalokagathos, den „Gentleman“ in der Antike. Insofern habe Xenophon in erwähnter Textpassage vielmehr beabsichtigt, Sokrates mit Isomachos als den Prototyp des kalos te kai agathos aner zu kontrastieren.215 Mit dem kalokagathos bezeichnen die antiken griechischen Denker einen durch körperliche Übung schönen und gleichzeitig einen sowohl geistig als auch sittlich gebildeten Mann, der sich durch diese charakterlichen Auszeichnungen von der Masse unterscheidet. Im 5. Jahrhundert diente dieser sozialethische Terminus der politischen Standesbezeichnung jener Aristokraten, die Sokrates in seinen Fragen nach dem wahrhaft Schönen und Guten hinterfragt.216 Die Bindung an den Adelsstand löste sich mit der sophistischen Auffassung auf, dass Tugenden allgemein und für Geld lehrbar seien.217 Aristoteles stellt kalokagathia als den 212

Strauss/Kojève (2000), S. 42. Ebd. 214 Strauss (1989e), S. 328. 215 Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 190. 216 „Er [Sokrates] unterhielt sich immer über die menschlichen Dinge und untersuchte, was seinem Wesen nach fromm und was gottlos, was schön und was hässlich, was gerecht und was ungerecht ist, was Besonnenheit und was Torheit ist, was Tapferkeit und was Feigheit ist, was ein Staat und ein Staatsmann ist, was eine Herrschaft über Menschen und ein Herrscher über Menschen ist, sowie über das andere, durch dessen Wissen die Menschen nach seiner Meinung schön und gut (kalos kai agathos) seien“ (Xenophon, Memorabilia I, 16). 217 „Er wunderte sich auch darüber, dass jemand, der die Tugend lehre, Geld nehmen wolle und nicht vielmehr der Überzeugung sei, er habe größten Gewinn durch den Erwerb eines guten Freundes, auch dass er fürchten könne, wer tüchtig und gut geworden 213

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Inbegriff der ethisch-philosophischen Tugend dar, die alle Einzeltugenden umfasst. Er unterscheidet daher in der Eudemischen Ethik218 zwischen dem bloß materiell gut Gestellten, der durch Reichtümer gut ist, insofern sie ihm nützen, und dem kalokagathos, dem es gelingt, seine naturgegebenen guten Anlagen zu verwirklichen. Das Schöne und Gute wird von Aristoteles als an sich selbst gut und schön erachtet, weswegen diese, anders als materielle Güter, nicht für andere Zwecke missbraucht werden können.219 Am treffendsten wird die Unterscheidung von Philosoph und „Gentleman“ im Sinne des kalokagathos von Platon durch das Verhältnis von Sokrates und Alkibiades im Dialog Symposion vorgeführt. An dem ehemaligen Schüler des Sokrates’, der zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens wegen Hermesfrevel und Profanisierung der Elysischen Mysterien aus Athen verbannt wird und hinterhältig Verrat an der Stadt begeht, zeigt sich nicht nur der Bildungsanspruch einer „liberalen Erziehung“, sondern auch die Notwendigkeit, sich gegenüber der Ausbildung potentieller Philosophen hinsichtlich ihrer möglichen politischen Aktivitäten verantworten zu müssen. Im Prozess muss sich Sokrates gegen den Anklagepunkt verteidigen, die Jugend verführt zu haben, wobei die Ankläger wohl vor allem auch den politischen Skandal seines Schülers Alkibiades dazu zählen.220 Sokrates wurde für die Unzulänglichkeiten seiner Schüler beschuldigt – ein Risiko, das wohl ein jeder Lehrer eingehen muss. Es folgt aus einem politischen Missverstehen der philosophischen Lehre, der Anmaßung, Wissen erlangt zu haben und nach Machterlangung konkrete Handlungsmaximen für Realpolitik geben zu können. Der Philosoph ist und bleibt in Strauss’ strengem Philosophieverständnis jedoch stets der nach Wahrheit Suchende. Allein in dieser scheinbar „nutzlosen“ Tätigkeit, aus der keine konkreten Lehrsätze, Anweisungen oder Strategien resultieren, ist er der Gesellschaft nützlich. So redet der angetrunkene Zuspätkömmling Alkibiades im Symposion von Dingen, die er in Wirklichkeit nicht versteht: Er fühlt sich als ein in die Philosophie Eingeweihter, der vor vermeintlich Gleichen spricht.221 Es ist wahrlich ein „dramaturgischer Kunstgriff“ 222, die Unzulänglichkeiten des „Gentleman“ zu veranschaulichen, indem Alkibiades einfach nicht anwesend ist, als Sokrates Diotimas Rede vom erotischen Wesen der Philosophie wiedergibt. So deutet Alkibiades im weiteren Verlauf allein das Faktische, jedoch nicht die Gründe für Sokrates’ körperlich abweisendes Verhalten, das nur für jene einen offenbar vorbildhaften Charakter aufweist, die die Diotima-Rede gehört haben. Platon, so sei (kalos kai agathos), werde seinem Wohltäter nicht den größten Dank dafür wissen“ (Xenophon, Memorabilia II, 2–8). Vgl. vor allem Platon, Menon, 93a–b. 218 Aristoteles, Eudemische Ethik, 1248b ff. 219 Prechtl/Burkard (2008), S. 285; Horn/Rapp (2002), S. 229; Wankel (1961). 220 Platon, Apologie, 33a. 221 Platon, Symposion, 217e–218b. 222 Szlezák (1985), S. 264.

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Szlezák, führe dem Leser durch die Handlung vor, dass Alkibiades definitiv noch nie von den Inhalten gehört hat und seine für Philosophie „nicht unbegabte Seele“ nicht in der Lage ist, aus sich selbst heraus den höheren Grund der Ablehnung zu erfahren.223 Alkibiades ist nicht reif für eine weitere philosophische Förderung – und, so Szlezák, sei nie reif dafür geworden.224 Obwohl Alkibiades kein Philosoph ist, ist er jedoch nicht prinzipiell ungeeignet für die Sache der Philosophie. So hebt Platon ihn in mehreren Dialogen als Sokrates’ besten Schüler hervor. Alkibiades sieht sich selbst als „nicht unbegabte Seele“ (psyche me aphyes)225, was sich in Sokrates’ langem Bemühen um ihn zeigt. Allerdings wurde aus der psyche me aphyes keine psyche prosekousa.226 Der als äußerlich schön dargestellte Alkibiades erwähnt selbst, dass er zu schwach ist, das zu tun, was Sokrates von ihm verlangt, wenn dieser ihn zu Höherem, zur inneren Schönheit, erziehen will.227 Verführt durch Ruhm und Ehre, zieht er das politische Leben der philosophischen Existenz vor. Platon erwähnt selbst diese Gefahr für eine „philosophische Natur“.228 Alkibiades ist sich bewusst, dass er die philotimia der philosophia vorzieht und dadurch nicht das lebenswerteste Leben führt.229 Er ist der Philosophie nicht abgeneigt, jedoch von seiner Natur her unfähig, selbst Philosoph zu werden. In diesem Sinne wird auch der Daimon eros dargestellt: Nicht er verfolgt die schönen Jünglinge, sondern diejenigen, die selbst innerlich schön sind, verfolgen ihn.230 Der Philosoph wirbt erst protreptisch um potentielle Philosophen, gibt sich dann jedoch paränetisch, indem er seine Bewerber eindringlich prüft und von ihnen umworben werden will.231 Gerade vor dem Hintergrund, dass es sich bei Alkibiades um einen großen und beliebten Politiker Athens handelt, muss sich der Leser des Symposions die Frage 223

Ebd., S. 265. Szlezák deutet dies jedoch nun so, dass Alkibiades nur einen Typ sokratischer Logoi kenne. Es gibt demnach mehrere Typen von Gesprächen: die Diotima-Rede sowie andere Gespräche. Eine „Öffnung“ der Dialoge lasse sich im Fall des Diotima-Gespräches nicht dialogimmanent leisten, da man anwesend sein müsse, um diese Lehre mündlich als Eingeweihter zu hören. Das fundierte Mehrwissen eines Philosophen ist als inhaltliche Lehre ein anderes Gespräch als die sokratischen dialektischen Gelegenheitsgespräche auf den Straßen von Athen. Wer den Unterschied zwischen immanentem und extern abgestütztem Wissen verkenne, vergesse die fragwürdige Kompetenz der Dialogfigur Alkibiades. Szlezák vergisst dabei jedoch die Position des Lesers, der ja bewusst erkennt, dass Alkibiades höheres Wissen nicht gehört hat – der Leser hingegen schon. Der Leser ist insofern „eingeweiht“ und muss sich vielmehr selbst die Frage stellen, was die Figur des Alkibiades als ein Nicht-Eingeweihter bedeutet. 225 Platon, Symposion, 218a. 226 Szlezák (1985), S. 264. 227 Platon, Symposion, 218d–219a. 228 Platon, Politeia, 494c. 229 Platon, Symposion, 216a. 230 Ebd., 203d und 209b. 231 Szlezák (1985), S. 253. 224

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stellen, was die Inszenierung des Alkibiades hinsichtlich der Ausbildung der kaloikagathoi bedeutet. Gerade durch das sokratische Verständnis von Philosophie bei Strauss kann er mit seiner „liberalen Erziehung“ der „Gentlemen“ nicht beabsichtigen, politische philotimoi statt philosophoi auszubilden. „Liberale Erziehung“ ist keine politische Instrumentalisierung Leichtgläubiger, sondern eine Vorbereitung zur Philosophie. Strauss beschreibt in Persecution and the Art of Writing Lessing als den „tiefgründigsten Humanisten aller Zeiten“, der sich durch eine überaus selten vorkommende Kombination aus Gelehrsamkeit, Geschmack und Philosophie auszeichnete.232 Was mit Strauss’ „liberaler Erziehung“ demnach vermittelt werden kann, sind Gelehrsamkeit und ein Maßstab für Geschmack, während es für Philosophie letztendlich einer „philosophischen Natur“ bedarf. Mit seinem „befreienden“ Erziehungskonzept unterscheidet Strauss daher die „potentiellen Philosophen“ unter den „wahren Gentlemen“ (gentlemen proper), die Philosophen im strengen, Strauss’schen Sinn, und diejenigen, die an Philosophie interessiert sind: „Philosophy can be understood loosely and strictly. If understood loosely, it is the same what is now called intellectual interest. If understood strictly, it means quest for truth about the most weighty matters or for the comprehensive truth about the whole or for the science of the whole. When comparing politics to philosophy strictly understood, one realizes that philosophy is of higher rank than politics.“ 233

Entweder der „Gentleman“ akzeptiert ab einem bestimmten Punkt in seiner Ausbildung bestimmte wichtige Dinge, die für den Philosophen immer wieder zur Frage und Nachforschung stehen, oder er wird selbst zum Philosophen.234 Auch wenn Philosoph und „Gentleman“ beide eine für Philosophie „nicht unbegabte Seele“ besitzen und ihre erkenntnistheoretische Ausgangslage die jeweilige doxa des jeweiligen Gemeinwesens bildet, unterscheiden sie sich wesentlich hinsichtlich der „philosophischen Natur“. Strauss differenziert daher zwischen den „Gentlemen“ und den „Vulgären“ sowie zwischen „Gentlemen“ und Philosophen: „the philosopher and the non-philosopher cannot have genuinely common deliberations“.235 Doch trotz dieser Differenzen ist der „Gentleman“ aufgrund seiner Ausbildung und seines Interesses der Philosophie gegenüber nicht abgeneigt, sondern ist vielmehr die politische Spiegelung der Philosophie.236 232

Strauss (1988c), S. 28. Strauss (1989e), S. 327. Insofern unterscheidet Strauss zwischen Philosophen und Intellektuellen. Für ihn wäre es absurd, an einer Philosophischen Fakultät nach Philosophen zu suchen (vgl. Strauss (1995e), S. 7; Strauss (1989f), S. 124). Dementsprechend bemängelt Strauss, dass Weber Platon einen „Intellektuellen“ nennt, in: Strauss (1989g), S. 60. 234 „The gentleman as gentleman accepts on trust certain most weighty things which for the philosopher are the themes of investigation and of questioning“ (Strauss (1989e), S. 328). 235 Ebd., S. 329. 236 Ebd., S. 328. 233

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Strauss’ „Gentleman“ trägt daher, vor allem in seiner Gegenüberstellung zum bourgeois, Züge des citoyen sowie der aristokratischen Klasse der kaloikagathoi, der Schönen und Guten der griechischen polis. Diese sind keine Philosophen im strengen Sinn, sondern „liberal erzogene“ Männer, die durch ihre Erfahrung in schönen und edlen Dingen die apeirokalia ihrer „vulgären“ Mitbürger ablehnen. Der „Gentleman“ hat die besten Voraussetzungen, ein Philosoph zu werden, doch hängt dieser letzte Schritt von seiner „philosophischen Natur“ ab. Mit dem Begriff des „Gentleman“ grenzt sich Strauss daher einerseits gegen den von Eigennutz und Zweckdenken bestimmten mittelmäßigen bourgeois ab und bezieht sich andererseits über die Konnotation der antiken, griechischen kaloikagathoi auf ein klassisches Tugendideal. Dieses zeichnet sich für Strauss vor allem durch Mäßigung aus, die die Gefahr begrenzen soll, dass der grundlegende Bildungsinhalt, die Lektüre der „great books“, hermeneutische Politik wird.

V. Schriftlichkeit und Philosophie „One may say without fear of being presently convicted of grave exaggeration that almost the only preparatory work to guide the explorer in this field [of writing between the lines] is buried in the writings of the rhetoricians of antiquity.“ Leo Strauss1 „A properly written text will tend to transform the unavoidable deficiency of writing into a lever of learning and understanding.“ Jacob Klein2

Platons Dialog Phaidros erlangte Mitte des letzten Jahrhunderts enorme Aufmerksamkeit in der Medienwissenschaft durch seine Überlegungen zum Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Vermittlung von Sachverhalten. Aufgrund seiner Reflexion der Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Informationsträger wird Platons Schriftkritik von Wolfgang Ernst als erste Medienkritik bezeichnet.3 Während andere Autoren mit medienwissenschaftlichem Schwerpunkt, wie vor allem Eric Havelock, die kulturellen Vorzüge des griechischen, phonetischen Alphabets loben,4 kritisiert Platon – wohlgemerkt im Medium Schrift – die Illusion von Verfassern geschriebener Reden, den gleichen Inhalt auf die gleiche Art an unterschiedliche Adressaten vermitteln zu wollen. 1

Strauss (1988c), S. 24, meine Erläuterung. Klein (1998), S. 17. 3 Ernst (2005). Ebenso betont Havelock das Bewusstsein über die medialen Bedingungen bei Platon: Plato is the „first philosopher to adapt sustained oral teaching into written discourse“ (Havelock (1986), S. 111). 4 Havelock (1990), S. 71; vgl. auch die medienwissenschaftlichen Aspekte von McLuhan (1995); Goody/Watt (1997); Derrida (2004) und Derrida (1988). 2

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Die Interpretation des Dialoges Phaidros setzt sich unter diesem medienwissenschaftlichen Aspekt vor allem mit dem bereits von Friedrich Schleiermacher geprägten Platonbild auseinander. Dessen Dialogtheorie akzentuiert die Schriftkritik aus dem Schlussteil des Phaidros,5 die er in der Einleitung des ersten Bandes der Übersetzung Platons Werke (1804) darlegt. In dieser folgert er aus der Übereinstimmung von Inhalt und Form, dass der geschriebene platonische Dialog letztendlich das Gleiche wie der mündliche leisten könne. Dieses Platonbild verfestigte sich vor allem in Deutschland dermaßen, dass einige Platonforscher in Bezug auf Platons Medienreflexion sogar von einem eigenständigen „hermeneutischen Paradigma“ 6 sprechen. Da Leo Strauss Platon zunächst mit Schleiermacher’schen Augen wahrgenommen haben muss, setzt sich seine erste Arbeit zum Thema der esoterisch-exoterischen Schreibweise Exoteric Teaching (1939) intensiv mit Schleiermacher auseinander, was bislang in der Platonforschung zu diesem Thema entweder vernachlässigt oder missverstanden wurde. 1. Schriftlichkeit und die „kunstmäßige“ Rede „Der Dialog ist die einzige Form des Buches, die das Buch selber aufzuheben scheint.“ Paul Friedländer7

Platons Dialog Phaidros beginnt mit der inhaltlichen Gegenüberstellung zweier Reden über die Liebe. Die erste stammt aus der Feder des „Redenschreibers“ (logographos8) Lysias und wird als schriftlich vorliegendes Dokument von Phaidros vorgelesen. Die Rede warnt vor der Freundschaft mit dem Verliebten, die aufgrund der Kürze und des begierigen Charakters der Leidenschaft asymmetrisch und daher zu vermeiden sei. Sokrates antwortet „aus dem Stegreif“ zunächst mit gleicher Schlussfolgerung, korrigiert sich dann jedoch „aus Furcht vor Eros“ 9 in einer zweiten Rede, die mit dem Gleichnis vom beflügelten Seelenwagen berühmt geworden ist. Da die Reden sich inhaltlich entgegenstehen, die 5

Platon, Phaidros, 274b–278e. Zum Begriff des „hermeneutischen Paradigmas“ von Giovanni Reale (1993) siehe Kapitel Das „hermeneutische Paradigma“ der „Tübinger Schule“. 7 Friedländer (1960), S. 177. 8 Platon, Phaidros, 257c. Der Logograph, der für seine Mandanten Gerichtsreden verfasste, stand öffentlich in keinem guten Ruf (vgl. Heitsch (1993), Anmerkung 239). Die höhnische Verwendung des Wortes „Logograph“ bezieht sich zunächst nur auf diese Berufsbezeichnung und erhält von Sokrates erst im weiteren Verlauf neue Facetten durch die allgemeine Ausweitung der Untersuchung der Schriftstellerei. Zum generellen Geltungsbereich der Untersuchung vgl. Phaidros 278c. Zum historischen Aspekt der Kritik am Gerichtsredenschreiber Lysias, der sich nach dem Peloponnesischen Krieg darum bemühte, das attische Bürgerrecht zu erlangen, indem er angeblich die demokratische Partei während der innenpolitischen Kämpfe finanziell unterstützte, vgl. von Wilamowitz-Moellendorf (1948), S. 374, Anm. 1. 9 Platon, Phaidros, 243d. 6

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sokratische jedoch „vor allem in der Wortwahl“ 10 bewundert wird, wirft Phaidros die Frage nach dem Wesen der schönen Rede auf. Die Mittagshitze veranlasst Sokrates daraufhin zu einer Prüfung der „schönen und der schlechten Art zu reden und zu schreiben“.11 Zwar liegt der ursprüngliche Grund der Diskussion darin, Lysias als Verfasser von Gerichtsreden zu kritisieren, doch weitet Sokrates das Gesprächsthema auf das Allgemeine und Grundsätzliche aus, da er ihn als Schriftsteller und somit die Schriftstellerei an sich betrachtet. Was nun erörtert wird, sind nicht Reden in bestimmten Gattungsbereichen wie Politik, Poesie oder Philosophie, sondern jede denkbare Form von Schriftlichkeit. Als notwendige Voraussetzung für die gute Rede muss für Sokrates der Sprecher zuallererst die Wahrheit von dem, worüber er sprechen will, kennen. Wer sich nicht tüchtig um Wissen bemühe, werde niemals kompetent genug sein, über irgendetwas kunstgerecht reden zu können.12 Dadurch richtet er sich direkt gegen die traditionelle Rhetorik, die als Kriterium für den Redner eben nicht auf Wahrheit zielt, sondern auf das, was die meisten Zuhörer erreicht. Mit dieser Position setzt sich Platon im Gespräch mit dem Sophisten Gorgias im gleichnamigen Dialog auseinander.13 Das Ziel platonischer Rhetorik liegt nicht in der Überredung der unwissenden Massen, sondern in der Überzeugung, weswegen er mangelndes oder ungenügendes Wissen über die zur Rede stehende Sache kritisiert. Dennoch sei es notwendig zu wissen, was die Hörer erwarten: „[W]er ein Redner werden wolle, habe nicht nötig, was wahrhaft gerecht sei, zu lernen, sondern nur was der Volksmenge, welche zu entscheiden hat; so scheint, ebenso auch nicht, was wahrhaft gut sei oder schön, sondern nur was so scheinen werde; denn hierauf gründe sich das Überreden, nicht auf der Sache wahre Beschaffenheit.“ 14

Der Redner soll sich daher zwar an der Wahrheit orientieren, um überzeugen zu können, jedoch könne er zunächst bloß an den Meinungen der Vielen anknüpfen, um diese als Hörer zu erreichen. Sokrates differenziert demnach sachliche und rhetorische Kompetenz und betont, dass die Vermittlung von Wissen auf durch Dialektik gegründetes Sachwissen angewiesen ist. Die traditionelle Rhetorik wird als Disziplin ohne eigenen Wissensbereich vorgestellt, die somit bloß ein 10

Ebd., 257b–c. Ebd., 260e. 12 Vgl. ebd., 260a–261a. Phaidros setzt dieser Voraussetzung die Auffassung der herkömmlichen Rhetorik als Überredungskunst entgegen, dass nicht die Kenntnis des jeweiligen Sachverhaltes wichtig sei, sondern die Kenntnis dessen, „was die Masse derer, die das Urteil fällen soll“ (260a) für richtig hält. Während Sokrates’ rhetorische Kompetenz auf Sachkenntnis gegründet sein muss, bestimmt Platons Schüler Aristoteles sie jedoch wieder auf traditionelle Weise: „Die Rhetorik, so sei definiert, ist die Fähigkeit, für jeden Gegenstand die Möglichkeit zu finden, über ihn glaubwürdig zu sprechen“ (Aristoteles, Rhetorik, 1355b). 13 Vgl. hierfür das Kapitel Politische Rhetorik. 14 Platon, Phaidros, 259e–260d. 11

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„kunstloses Handwerk“ 15 ist. Richtige (etymos) Rhetorik komme daher nicht ohne dialektisch begründetes Wissen der jeweiligen Disziplin aus.16 Rhetorische Kompetenz verlangt folglich sowohl fundierte Kenntnis über das zu vermittelnde Wissen als auch über die Anwendungsmöglichkeiten der rhetorischen Praxis. Platon liefert im weiteren Verlauf eine neue Bestimmung der „schönen Rede“, die nun nicht mehr auf politische und gerichtliche Reden beschränkt ist, sondern allgemein als „Seelenführung (psychagogia17) mit Hilfe von Reden“ verstanden wird – und zwar Reden jeglicher Art „wo immer Menschen sprechen“ 18. Rhetorik als Seelenführung setzt dabei immer noch sachkundiges Wissen voraus, doch werde dieses dazu verwendet, Ähnlichkeiten zu den jeweiligen Auffassungen der Zuhörer zu erkennen und sie somit täuschen zu können.19 Damit will Platon keineswegs ausdrücken, dass seine Bestimmung der Rhetorik immer auf Täuschung baut. Vielmehr erlaube die sachkundige Rhetorik es dem Redner, durch geeignete Verwendung von Ähnlichkeiten „in möglichst kleinen, unscheinbaren Schritten“ 20 seine Zuhörer so zu beeinflussen, dass sie die Argumentation besser nachvollziehen und die jeweilige Sache verstehen können. 15 Ebd., 260e: atechnos tribe. Hier verwendet Platon den Begriff techne und beschreibt damit das sachverständige Können. techne-Fachwissen (z. B. in der Medizin) verfügt dabei über eine Methode, über die Rechenschaft abgelegt und die anderen vermittelt werden kann. Wenn Platon die traditionelle Rhetorik als atechnos bezeichnet, fallen damit seine drei Kriterien für die „richtige“ Rhetorik durch: Sie beruht weder auf sachkundigem Wissen noch auf „seelenführender“ Kompetenz, noch verfügt sie über eine Methode (vgl. Heitsch (1993), S. 128 vor allem FN 248). entechnos bezieht sich hingegen auf eine Rhetorik, die dialektisch begründetes Wissen voraussetzt. 16 Wenn Rhetorik so allgemein wie hier gefasst wird, stellt sich die Frage, ob unbeschränkte Sachkompetenz, also Allwissen, nötig wäre, da sonst die Einheitlichkeit des Rhetorik-Begriffs aufgegeben werden müsse und man wieder ein spezielles RhetorikKonzept für die jeweiligen Sachbereiche, wie bspw. Politik oder Rechtsprechung, bräuchte. Ernst Heitsch findet dabei jedoch den Ausweg, dass Sokrates die Allzuständigkeit der Rhetorik nicht in einer sachlichen Allwissenheit fundiert sieht, sondern in der Allzuständigkeit der Methode, über die sachkompetentes Wissen vom Redner erlangt werden müsse. Sokrates meine, dass das Wissen über die Methode der Rhetorik es dem Redner erlaube, in jedem Sachbereich, über den er sich äußern wolle, die für diesen Bereich spezifischen Ähnlichkeiten zu erkennen, und er so seine Hörer lehren könne (Heitsch (1993), S. 135). 17 Philologisch wird dieses Wort erstmals für die Leitung der Seele eines lebenden Menschen verwendet. Ursprünglich wird psychagogein für das Beschwören von Totenseelen und das Rauben von Menschen gebraucht (vgl. ebd., S. 130 FN 252). 18 Platon, Phaidros, 261e. Der Ort der Rhetorik beschränkt sich dabei nicht nur auf das Gericht, sondern sowohl auf den privaten als auch den öffentlichen Raum. Die allgemeine Bestimmung der Rhetorik gliedert den Gedankengang der Antwort auf die Frage, wie Lysias’ schriftlich verfasste Reden zu bewerten sind. Sokrates fragt also zunächst nach der richtigen Erstellung von Reden jeglicher Art und bestimmt dabei die Rhetorik, sowohl schriftlich als auch mündlich, insgesamt als Seelenführung. Erst dann stellt er anhand der vorher erstellten Kriterien ab 274b den richtigen Umgang mit der Schrift dar. 19 Ebd., 261e–262c. 20 Ebd., 262a und auch 262b.

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Neben der Seelenführung nennt Sokrates das Kompositionsprinzip als Kriterium der richtigen Rhetorik, „dass jeder Text komponiert sein muss wie ein Lebewesen, mit einer Art eigenem Körper, so dass weder Kopf noch Füße fehlen, er vielmehr eine Mitte hat und Extremitäten, die so verfasst sind, dass sie zueinander und zum Ganzen passen“.21 Hierfür erwähnt Sokrates zwar einzelne, gelungene Beispiele aus der Dichtkunst, doch will er eigentlich untersuchen, bei „wem und wann man diese einzelnen Mittel anwenden müsse und in welcher Dosis“ 22. Was sich aus der Abgrenzung von der traditionellen Rhetorik ergibt, beschreibt Christopher Rowe als neue, philosophische Rhetorik.23 Es geht Sokrates nicht um die Konzeption eines Programmes, rhetorische Raffinesse zu erlangen, sondern um die „notwendigen Vorkenntnisse“ 24 als eine Hinführung zur philosophischen paideia. Diese beziehen sich auf die naturgegebenen Voraussetzungen vor allem in der Seele des Zuhörers. Die ganze rhetorische Anstrengung müsse darauf gerichtet sein, in der Seele des Adressaten Überzeugung zu bewirken.25 Platon versteht Rhetorik demnach als ein Gespür für die Bedürfnisse und Fähigkeiten seiner Zuhörer und eine Sensibilität für deren unterschiedliche Begabung zur Philosophie.26 Wer Sokrates’ Kriterien entsprechend schön reden möchte, muss zuerst die Seele seines Zuhörers mit aller Genauigkeit beschreiben und erkennen, ob sie ihrem Wesen nach ein Einziges oder Vielgestaltiges ist.27 Zweitens muss der Redner bedenken, welche Wirkungen die Seele von wem erfahren kann. Dabei können die Typen der Reden und der Seele sowie Zustände klassifiziert und einander zugeordnet werden. Diese Klassifizierung ermöglicht ein Verständnis dafür, „welche Seele von welchen Reden aus welchem Grunde notwendigerweise überzeugt wird und welche nicht“.28 Da Platon das Augenmerk auf die Seelenführung richtet, muss der angehende Rhetoriker natürlich wissen, „wie viele Arten der Seele es gibt“.29 Wenn sich die Seelentypen jedoch unterscheiden, hat dies für Platon entsprechend unterschiedliche Typen von Reden zur Folge.30 21

Ebd., 264c. Ebd., 268b. 23 Rowe (2009), S. 266. 24 Platon, Phaidros, 268e. 25 „Vielmehr ist klar, dass wer immer einem anderen kunstgerecht Reden beibringt, genauestens die wahre Natur dessen zeigen wird, an das die Reden gerichtet werden sollen. Das aber ist doch wohl die Seele“ (ebd., 270e–271a). 26 Vgl. auch Rowe (2009), S. 268. 27 Vgl. Platon, Phaidros, 271a–b. Die Differenzierung zwischen poikilos und haplous bezieht sich nicht auf die drei Seelenteile in jeder Seele, sondern auf die vielgestaltige Konstitution als eine Charaktertypisierung der Seelen (vgl. Szlezák (1985), S. 44 ff.). 28 Platon, Phaidros, 271b. 29 Ebd., 271d; meine Hervorhebung. 30 Ebd., 271d–e. 22

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„[W]enn nicht jemand sowohl die verschiedenen Naturen seiner Zuhörer aufzuzählen31 als auch die Gegenstände nach ihren Arten einzuteilen und die einzelnen unter einen Begriff zusammenzufassen imstande ist, er niemals in Reden so kunstreich sein wird, als es dem Menschen möglich ist.“ 32

Es genügt Platon jedoch nicht, die Seele des Zuhörers zu klassifizieren, sondern der Redner, der schon im Besitz all dieser Fähigkeiten ist, muss zusätzlich die Situationen kennen, „in denen er reden und in denen er schweigen muss. [. . .] Dann und nicht eher hat er die Kunst (techne) in sich vollkommen ausgebildet.“ 33 Die angemessene Form des Redens ist demnach ein adressaten- und situationsgerechtes Sprechen, idealerweise mit einem einzelnen Gesprächspartner, auf dessen Fähigkeiten das Mitzuteilende abgestimmt werden kann. Als Folge schließt Sokrates allgemein, dass nur ein Gespräch nach diesen Kriterien „kunstgerecht“ sei, ohne es dabei auf eine mündliche Mitteilung einzuschränken: „Ehe sie also nicht auf diese Art [der Seelenführung] reden und schreiben, wollen wir ihnen nicht glauben, dass sie kunstmäßig schreiben (techne graphein).“ 34

In diesem Zusammenhang verwendet Platon den Begriff techne oder technikos, den Schleiermacher als „kunstmäßig“ übersetzt. Er unterscheidet demnach die techne seiner philosophischen Rhetorik von der traditionellen Auffassung einer rhetorischen Übung, da sie das Verfahren der Vermittlung prinzipiell mit reflektiert.35 Die Neubestimmung des Geltungsbereiches macht Rhetorik als allgemeingültige, methodische Seelenführung in Kombination mit Sachkenntnis „kunstmäßig“. Nachdem die Kriterien für eine „kunstmäßige Rede“ dargelegt sind, geht Sokrates auf die noch offene Frage nach der Angemessenheit des Schreibens ein: Unter welchen Bedingungen ist es angebracht zu schreiben und unter welchen nicht?36 An dieser Stelle des Dialoges beginnt die Textpassage, die unter medien31 gr. diarithmeo – untersuchen, beurteilen. Ernst Heitsch übersetzt dies mit „klassifizieren“. Dass es klassifizierbare Gruppen von Seelentypen, nicht Individuen sind, verweist auf eine Politische Rhetorik und nicht bloß auf ein Aufzählen, wie es die Schleiermacher’sche Übersetzung vorschlägt. 32 Platon, Phaidros, 273e. 33 Ebd., 272a–b. 34 Ebd., 271b–c. Ernst Heitschs Übersetzung macht die Betonung auf das „Kunstgerechte“ deutlich, das sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen beachtet werden müsse. „[W]o das, was hier unser Thema, oder sonst etwas in Musterreden oder in anderen Texten nicht nach dieser Methode vermittelt wird, dort ist das Verfahren niemals kunstgerecht, weder im Mündlichen noch im Schriftlichen.“ 35 Auch Thomas Szlezák betont in der Zusammenfassung des Phaidros, dass die Redekunst als techne sich nur durch selektierte Vermittlung „kunstmäßig“ betreiben lasse. Dafür sei nicht nur eine völlige Beherrschung des Inhalts notwendig, sondern ebenfalls eine Reflexion des Umfangs und der Umstände der Vermittlung (vgl. Szlezák (1985), S. 48; vgl. auch Heitsch (1993), S. 128 ff. vor allem FN 248). 36 Vgl. Platon, Phaidros, 274b.

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wissenschaftlichen Gesichtspunkten zusammen mit jener aus dem Siebenten Brief sehr bekannt geworden ist. Meistens wird jedoch nicht auf den vorausgehenden Teil des Phaidros eingegangen,37 in dem Rhetorik als Seelenführung (psychagogia) definiert wird. Die philosophische Reflexion der natürlichen Beschaffenheit der Seele des Empfängers kommt in der Medienwissenschaft zu kurz. Im Schlussteil des Phaidros überprüft Sokrates die Vor- und Nachteile der Schrift anhand einer Geschichte vom ägyptischen Gott Theuth38, der neben der Schrift (grammata) auch Mathematik, Astronomie sowie diverse Brett- und Würfelspiele erfunden hat. Theut führt seine Erfindungen dem ägyptischen König Thamus vor und wird aufgefordert, ihren Nutzen zu nennen. Die Schrift wird von Theuth durch die Möglichkeit ausgezeichnet, das Gedächtnis der Ägypter zu verbessern und sie klüger zu machen.39 Doch Thamus kritisiert die Erfindung, da sie in den Seelen der Nutzer Vergesslichkeit bewirken würde, weil sie im Vertrauen auf das Geschriebene ihr Gedächtnis nicht mehr übten.40 Schrift fördere demnach nur die Erinnerung, nicht aber das Gedächtnis. Zudem erleichtern schriftliche Texte zwar den Zugang zu Informationen, die Thamus allerdings als Schein-Wissen entlarvt, da sie kein Wissen durch Einsicht hervorbrächten.41 Darüber hinaus belasse Schrift ohne begleitende Unterweisung (didache) den Leser in dem trügerischen Glauben, viel verstanden zu haben. „Wer also eine Kunst in Schriften hinterlässt, und auch wer sie aufnimmt, in der Meinung, dass etwas Deutliches und Sicheres durch die Buchstaben kommen könne, der ist einfältig genug und weiß in Wahrheit nichts von der Weissagung des Ammon, wenn er glaubt, geschriebene Reden wären noch sonst etwas als nur demjenigen zur Erinnerung, der schon weiß, worüber sie geschrieben sind.“ 42

37 Besonders deutlich äußert sich dieses Phänomen in Einführungsbüchern zur Medienwissenschaft wie in Schöttker (1999) und Kloock/Spahr (2007), die bezüglich Platons Äußerungen zur Medialität im Phaidros lediglich auf die Endpassage 274b–278e verweisen. 38 Interessant in Bezug auf das Thema dieser Arbeit ist die synkretische Verschmelzung des ägyptischen Gottes Theut (auch Thot) mit dem Götterboten Hermes zu Hermes Trismegistos. Hier verbinden sich demnach die Attribute der (Natur-)Wissenschaft, Mathematik und des Schreibens mit dem für seine Redekunst bekannten Götterboten. 39 „Denn meine Erfindung ist ein Mittel (pharmakon) für Gedächtnis und Wissen“ (Platon, Phaidros, 274e). 40 Ebd., 275a. 41 Platon unterscheidet hier zwischen einsichtsreich (polygnomenos) und kenntnisreich (polyekooi). 42 Platon, Phaidros, 275d. Giovanni Reale versteht den Abschnitt so, dass Schriften „zu dem“ sprechen, der die Dinge schon „weiß“, die darin enthalten sind. Die Dialoge dienen demnach allein den bereits von der Sache Wissenden zur (Wieder-)Erinnerung. Daher habe Platon zwei unterschiedliche Sprechweisen: eine explizite, klare Sprache für die Dinge, die der Menge mitgeteilt werden können; die andere als anspielende, mit Ironie versetzte Sprache, die den Wissenden dazu diene, sich an das Wissen, wohlgemerkt der ungeschriebenen Lehre, zu erinnern (vgl. Reale (2000), S. 662).

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Das Wichtigste an dem obigen Zitat ist die Perspektive des Empfängers. Denn es wird hier nicht die Frage gestellt, ob etwas in schriftlicher Form deutlich und sicher dargestellt werden kann. Vielmehr soll hier erneut gezeigt werden, dass die Schrift als Medium Wissen nicht deutlich und sicher übermitteln kann.43 Schriftlichkeit schließt deutliches und sicheres Wissen nicht aus, aber das eindeutige Verständnis wird unwahrscheinlicher. Sicheres und eindeutiges Reden im Sinne der adressaten- und situationsgerechten Kriterien der kunstgerechten Rhetorik geht bereits immer schon dann verloren, wenn sich der Redner an ein öffentliches Publikum wendet, bei dem er sich nicht auf jeden Gesprächspartner einlassen kann.44 Die einzige Lösung besteht für den Verfasser mündlicher wie auch schriftlicher Reden darin, die unterschiedlichen Seelentypen zu antizipieren. Dies wäre aber sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form möglich, wobei jedoch der schriftlich fixierte Text die geringste Chance hat, sich der Situation und den Adressaten anzupassen. Erfüllt der Autor jedoch die Voraussetzung, Wissen über den jeweiligen Gesprächsgegenstand zu haben, so ist die schriftliche Vermittlung dieses Wissens dann und nur dann verwerflich, wenn der Verfasser die Schwäche der Schrift nicht erkennt und davon ausgeht, sein Wissen durch Schrift eindeutig überliefern zu können. Dabei ist es besonders schädlich für den Verfasser von politischen Fragen über das Gute und Gerechte, wenn er die Nachteile schriftlicher Kommunikation nicht kennt. Platon legt daher mit der Schriftkritik im Phaidros die grundlegenden Schwächen des Mediums Schrift dar und mahnt, diese stets zu berücksichtigen. Indem er Schrift diesmal mit der Malerei vergleicht, kritisiert Sokrates, dass der Text, der nicht nach den platonischen Kriterien der kunstmäßigen Rede verfasst wurde, wie ein Bild vorgebe, lebendig zu sein, jedoch schweigen würde, wenn man ihn etwas fragt. Gefahr bestehe sogar, wenn der geschriebene Text sich verbreitet und in gleicher Weise diejenigen erreicht, die ihn verstehen können und jene, für die er nicht geeignet ist. Da er nur das Gleiche sagen könne, wisse der Text nicht, zu wem er reden soll und zu wem nicht. Wird der Text dabei durch Miss- oder Unverständnis zu Unrecht kritisiert, könne er sich nicht rechtfertigen und brauche daher immer „die Hilfe (boetheia) seines Vaters“ 45, 43 Ernst Heitsch weist explizit darauf hin, dass saphes kai bebaion Rezeptionsbegriffe sind (Heitsch (1993), S. 192 FN 424). 44 Christopher Rowe folgert demnach richtig: „What Plato said about writing would apply equally to anything said, too“ (Rowe (2009), S. 270). 45 Platon, Phaidros, 275d–e. Die Hilfe kann nun einerseits, wie von Szlezák, als mündliche Unterweisung verstanden werden. Hilfe (boetheia) kann jedoch auch darin bestehen, wie Szlezák sogar selber einlenkt, dass ein Gesprächsabschnitt dem anderen, wie auch ein Dialog dem anderen hilft. Folglich würde eine chronologische Entwicklungsordnung der platonischen Dialoge nicht allzu viel Wert auf inhaltliche Verbindungen legen, da sie von der Unterstellung ausgeht, Platons Erkenntniserwerb in den so

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des Autors. Sokrates will daher lieber die „echtbürtige Schwester“ des ebenso nachteilig geschilderten Textes betrachten, die viel „tüchtiger und mächtiger [. . .] in ihrem Wesen als die andere“ 46 sei. Das liegt daran, dass sie „mit Verständnis verbunden ist und niedergeschrieben wird in der Seele des Lernenden; die fähig ist, sich selbst zu verteidigen, und weiß, wo sie zu reden und wo sie zu schweigen hat“.47 Eine geschriebene Rede könne demnach als „eine Art Abbild“ der lebenden und beseelten mündlichen Rede fungieren,48 wenn, und nur wenn sie sich zu verteidigen und den richtigen Moment des Schweigens weiß. Platon gibt zu, dass schriftliche Rede schwerwiegende Nachteile hat. Doch wenn der Philosoph die „kunstgerechte“ Rhetorik als Seelenführung angemessen anzuwenden weiß, kann die Schrift die Mängel gegenüber dem Mündlichen reduzieren. In der dritten Argumentation zur Schriftkritik unterscheidet Platon zwischen der ernsten und der spielerischen Rede. Diesen Aspekt erläutert Sokrates mit dem Gleichnis eines Bauern, der Samen aussät, der für den zu vermittelnden Sachverhalt steht. Dieser kann nun nachhaltig – „mit Ernst“ – in geeignete Böden gesät werden und langfristig Erträge bringen oder in ein Adonisgärtchen gepflanzt werden und kurzzeitig erfreuen.49 Ein kurzlebiger „Schriftgarten“ diene demnach nur der spielerischen Freude oder als Erinnerungsnotiz für das hohe Alter. Wer also sachkundiges Wissen hat, um das es ihm ernst ist, werde nicht mit „schwarzer Tinte“ Worte schreiben, „die unfähig sind, sich selbst argumentativ zu helfen, und unfähig, die Wahrheit hinreichend zu vermitteln“.50 Was in der medienwissenschaftlichen Forschung größtenteils übersehen oder missdeutet wurde, ist die eingeführte Bedingung „wenn es ihm ernst ist“. Es geht demnach nicht darum, dass der, der sachkundiges Wissen hat, um dessen langfristige, fruchtbare Vermittlung er bemüht ist, überhaupt nicht schreiben sollte. Wenn es ihm ernst ist, gibt es viele Gründe zu schreiben. Vielmehr sollte er mit Worten schreiben, die fähig sind, das Wissen gemäß den psychagogischen Kriterien hinreichend und angemessen zu vermitteln. Platon lehnt die Schrift an sich nicht ab – was allein schon darin ersichtlich ist, dass er selbst geschrieben hat. Vielmehr plädiert er für eine gewisse Vorsicht und Reflexivität des Mediums beim Schreiben und kritisiert die illusorische Haltung, dass Schreiben immer zuverlässig eigene Einsichten vermitteln könne. Die „literarischen Blumenkästen“, unter die dann die Werke von Dichtern, Schriftstellern und (Gerichts-)Redenschreibern fal-

genannten Frühdialogen sei weniger fortgeschritten als in den späteren. Vielmehr sollte man beachten, dass Platon nicht wie in der heutigen Zeit unter Publikationsdruck stand (vgl. Szlezák (1985), S. 328 f.). 46 Platon, Phaidros, 276a. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd., 276a. 49 Vgl. Platon, Phaidros, 276b. 50 Ebd., 276c; meine Hervorhebung.

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len,51 dienen demnach nur der Spielerei und der Erinnerung für das „Greisenalter des Vergessens“.52 „Weit herrlicher aber, [als spielerische Reden], so denke ich, ist der Ernst mit diesen Dingen [u. a. Gerechtigkeit], wenn jemand nach den Vorschriften der dialektischen Kunst, eine gehörige Seele dazu wählend, mit Einsicht Reden säet und pflanzt, welche sich selbst und dem, der sie gepflanzt, zu helfen imstande und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, vermittels dessen einige in diesen, andere in anderen Seelen gedeihend, eben dieses unsterblich zu erhalten vermögen und den, der sie besitzt, so glückselig machen, als einem Menschen nur möglich ist.“ 53

Die Metapher des Samens stellt im obigen Zitat die generations- und zeitübergreifende Vermittlung von Wissen dar. Wenn der Verfasser von Reden mit ernsthafter Absicht sein Wissen in die geeignete Seele „pflanzt“, so stellt Platon fest, ist dabei sowohl dem Schüler als auch dem Autor geholfen. Denn in der Auseinandersetzung mit der Rede und im dialogischen Bemühen um Erkenntnis wird ein Prozess in Gang gesetzt, dem Heitsch die eigentliche Erfüllung des menschlichen Lebens zuschreibt und ihn mit der erotisch-philosophischen Liebe in Sokrates’ zweiter Rede vergleicht.54 Über die Aufgaben und Kriterien einer kunstgerechten philosophischen Rede herrscht nun Einigkeit. Der Redner muss nicht nur fundierte Sachkenntnis über das erlangt haben, über das er reden oder schreiben möchte, sondern muss für die unterschiedlichen Seelen der möglichen Adressaten den geeigneten Redetyp finden und seine Rede entsprechend anlegen, gliedern und sprachlich ausformulieren.55 Daher kann nun die noch offene Ausgangsfrage überprüft werden, ob der Vorwurf gegen den Redenschreiber Lysias gerechtfertigt sei, dass er schriftliche Reden verfasse. Die Antwort, die Sokrates in einem langen Satz gibt, verdeutlicht, dass ein Vorwurf – nicht nur gegen Lysias –, sondern gegen jeden Verfasser schriftlicher Texte dann gerechtfertigt sei, wenn er von der Illusion geleitet wird, Wissen deutlich und sicher vermitteln zu können: „Wer aber weiß, dass in einer geschriebenen Rede (gegrammenos logos) über jeden Gegenstand vieles notwendig (anankeion) nur Spiel sein muss und dass keine Rede, gebunden oder ungebunden (logoi en metro oud’aneu metrou), als sonderlich der Mühe wert geschrieben sei noch auch gesprochen, so viele nämlich ohne tiefere Untersuchung und Belehrung nur des Überredens wegen zusammengearbeitet und gesprochen worden, sondern in der Tat auch die besten unter ihnen nur zur Erinnerung

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Ebd., 278e. Ebd., 276d. 53 Ebd., 276e–277a. 54 Vgl. Heitsch (1993), S. 203. 55 Platon, Phaidros, 277b–c. Heitsch verweist in FN 463 in Heitsch (1993), S. 206 darauf, dass die Vielfalt möglicher Ausdrucksweisen zunächst nur vorausgesetzt gewesen sei und dass man in 277c1 logon zu eidos hinzufügen müsse, um die Notwendigkeit zu berücksichtigen, welche Sprechweise im konkreten Fall zu verwenden sei. 52

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gedient haben für den schon Unterrichteten; in denen hingegen, welche gelehrt und des Lernens wegen gesprochen oder wirklich in die Seele hineingeschrieben worden, vom Gerechten, Schönen und Guten, in diesen allein weiß, dass etwas Wirksames sei und Vollkommenes und der Anstrengung Würdiges, weswegen auch nur solche Reden verdienten, gleichsam seine echten Kinder und Brüder von dieser zugleich in andern Seelen anderer nach Verhältnis (kat’axian) eingewachsen sind, und deshalb alle anderen gehen lässt – dieser mag dann wohl ein solcher sein, Phaidros, wie ich und du wünschten, dass ich und du sein möchten.“ 56

Schreiben ist in den meisten Fällen (os epi to plethi) Spielerei.57 Dieses Urteil trifft nicht nur die Texte, die zum Lesen geschrieben wurden, sondern auch solche, die in einem Stück vorgetragen werden und dem Hörer keinen Einwand oder keine Distanz ermöglichen und ihn so nur überreden, aber nicht überzeugen können. Denn – so schließt Ernst Heitsch – die Schwäche der Schrift sei nicht Verschriftlichung als solche, sondern eine fixiert vorliegende Schrift, die als ununterbrochener Text konzipiert war – wie es die erste, auswendig vorgetragene Rede des Lysias im Phaidros war.58 Sicherheit und Deutlichkeit kann es allein im dialogischen Gespräch unter denen geben, die für derartige Gespräche geeignet sind (kat’axian)59 – alle anderen schriftlich fixierten Reden verdienen den Vorwurf, schlechte Reden zu sein und lediglich der Erinnerung zu dienen. Darunter fallen auch jene, die durch „zusammenleimende“ 60 Korrekturarbeiten erstellt werden, da auch ihre Verfasser dem Trugschluss unterliegen, Wissen eindeutig vermitteln zu können. Nicht die Schrift als solche ist verwerflich, sondern Schriftstücke, die ohne diesen gebotenen Vorbehalt erstellt werden. Eine Kritik des Schreibens ist insofern berechtigt, wenn sie sich auf das „Wie“ des Geschriebenen bezieht. Es geht Platon daher um die richtige Einstellung und erforderliche Distanz gegenüber schriftlicher Fixierung.61 Wer die sokratischen Kriterien der kunstgerechten Rhetorik und die Schwäche der Schrift kennt, wird zwar nicht weise (sophos), aber als jemand bezeichnet, der nach Weisheit strebt (philosophos).62 Dieser besitzt neben dem Wissen über die Sache „Besseres (timiotera)“ 63 als die „aneinandergefügten“ feststehenden Formulierungen, nämlich die Fähigkeit zur adressaten- und situationsgerechten Vermittlung seines Wissens. Platon, der selbst nie in seinen Dialogen auftritt und demnach keine seiner eige56

Platon, Phaidros, 277e–278a. Vgl. dazu vor allem Heitsch (1993), S. 190 FN 421. 58 Vgl. ebd., S. 210. 59 Vgl. auch Platon, Phaidros, 276e. 60 Ebd., 278d. 61 Diese Distanz erzeugt Platon sehr „spielerisch“, indem er Sokrates in 278b wissen lässt, dass er selbst eine Figur in einem schriftlich fixierten Text ist. 62 Platon, Phaidros, 278d. 63 Ebd. Die Tübinger Schule nimmt diese Passage als Aufhänger für eine ungeschriebene esoterische Lehre Platons, der das „Wertvollere“ einer mündlichen Lehre vorbehält. 57

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nen philosophischen Überlegungen preisgibt, verlangt vom Leser, diese hinter dem Text zu rekonstruieren und somit selbst zu philosophieren. Durch diese dialogischen Inszenierungen ergänzen sich nicht nur Autor und Adressat, sondern auch das „Spiel“ und der „Ernst“.64 Die Auseinandersetzung von Leo Strauss mit Platons Schriftkritik orientiert sich vornehmlich an Friedrich Schleiermacher und an den Kriterien aus dem Phaidros. Da Strauss jedoch ebenfalls auf Platons Siebenten Brief rekurriert, sollen an dieser Stelle Platons Aussagen über die Schrift aus dem Siebenten als auch aus dem Zweiten Brief hinzugezogen werden. Platons Zweiter Brief ist an den Tyrannen von Syrakus, Dionysios II. (396–337 v. Chr.), adressiert und behandelt zunächst die gegenseitige Beeinflussung von Politik und Philosophie, um dann auf geheimniskrämerische Art das Thema des „ursprünglichen Ersten“ einzubringen. Platon beabsichtigt, dieses metaphysische Wissen jedoch nicht unmittelbar schriftlich zu vermitteln, sondern bedient sich „rätselhafter Ausdrücke“, damit es nicht in falsche Hände gerate.65 Entsprechend warnt er gegen Ende des Briefes davor, dass seine Belehrungen nicht in die Hände ungebildeter Menschen gelangen sollten. Nach seiner Ansicht würde die große Menge seine Belehrungen nämlich als äußerst lächerlich erachten und nur die von Natur Begabten wüssten sie zu schätzen und sich dafür zu begeistern.66 Dionysios solle Rücksicht auf diesen Sachverhalt nehmen, damit er nicht irgendwann einmal bereue, was er jetzt in „unwürdiger Weise“ 67 veröffentlicht habe. Um unangemessene Verbreitung zu vermeiden, sei die beste Strategie, das Wissen überhaupt nicht aufzuschreiben und es sich allein durch mündliche Gespräche anzueignen.68 „Darum habe ich nie etwas darüber [über metaphysische Dinge] niedergeschrieben, noch gibt es eine Schrift (syngramma) Platons oder wird es eine geben; das jetzt Ausgesprochene sind Gedanken des schöner dargestellten und verjüngten Sokrates.“ 69

Aus dieser Textstelle lässt sich schließen, dass Platon nicht über das „ursprüngliche Erste“ geschrieben hat, was mit der Deutung der Tübinger Schule über eine ungeschriebene Prinzipienlehre einhergehen würde. Was er jedoch aufgeschrieben hat, nämlich die zuerst diskutierten politischen Verhältnisse, stellt

64 Die literaturwissenschaftliche Dialogforschung sieht in den platonischen Dialogen daher den Idealtyp der kunstgerechten Rhetorik. Dabei verbleibe Platon selbst im Argumentieren im Modus des Spiels, so dass der „Ernst“ der Dialoge sich nicht allein aus den dargestellten Aussagen, sondern aus der Inszenierung und Dramaturgie der Gesprächspartner im Dialog ergebe (vgl. Hempfer (2002), S. 8). 65 Platon, Zweiter Brief, 313a. 66 Ebd., 314a. 67 Ebd., 314c. 68 Ebd. 69 Ebd.

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Platon nicht als seine eigenen Gedanken, sondern als die eines schöner und neuer gewordenen (kalou kai neou gegontos)70 Sokrates dar. Gerade anhand Strauss’ Analysen der Sokratesbilder von Xenophon, Aristophanes71 und Platon zeigt sich an dieser Stelle, dass Platon diesen Sachverhalt unter seinem Verständnis von Politischer Philosophie bedacht hat. Das „Ausgesprochene“ sind Gedanken, die mit Vorsicht und mit Hilfe „rätselhafter Ausdrücke“ die Gefährdung der großen Menge bei Veröffentlichung des für sie lächerlichen Wissens vermeiden, um nicht das gleiche Schicksal wie Sokrates erleiden zu müssen. Im Siebenten Brief 72 stellt Platon nach seinen Sizilienreisen ausführlich die philosophischen Neigungen und Fähigkeiten von Dionysios II. dar. Er erwähnt gegenüber Dion, dass es nur wenige gebe, die auch im Alltag an der mühsamen und nüchternen Lebensweise der Philosophie festhielten. Einerseits verspüren die meisten kein Interesse an der Philosophie und die wenigen Interessierten geben voreilig auf, wenn sie sehen, wie viel Mühe und Anstrengung aufzuwenden sind, um Erkenntnis zu erlangen.73 Diese sind keine „echten Weisheitsfreunde“, sondern dem „Wohlleben Ergebene und zur Anstrengung Unfähige“. Platon analysiert und klassifiziert demnach die Seelen, wie er es im Phaidros als Bedingung für die kunstgerechte Rede verlangt. Er schildert im Folgenden die Genügsamkeit des Dionysios, der den Anschein gegeben habe, „als sei er von vielem des Wichtigsten durch die unzureichenden Belehrungen anderer zur Genüge unterrichtet.“ 74 Platon vernimmt zu einem späteren Zeitpunkt, dass sowohl Dionysios als auch andere diese (wichtigsten) Gegenstände aufgeschrieben haben, obwohl sie nicht selbst zu einer Erkenntnis gelangt seien, sondern diese nur von anderen gehört und übernommen haben. Platon konstatiert nun über sich selbst: „Von mir selbst wenigstens gibt es keine Schrift über diese Gegenstände [Plural], noch dürfte eine erscheinen; lässt es [Singular] sich doch in keiner Weise, wie andere Kenntnisse, in Worte fassen [rheton], sondern indem es, vermöge der langen Beschäftigung mit dem Gegenstande und dem Sichhineinleben, wie ein durch einen abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in der Seele sich erzeugt und dann durch sich selbst Nahrung erhält.“ 75

In der Auslegung dieser Textstelle werden vor allem die Unsagbarkeit der Kenntnisse sowie der einzig mögliche Zugang zu deren Einsicht betont.76 Auch 70 Dass Schleiermacher hier nur von einem „verjüngten“ statt wortwörtlich von einem „neuen“ Sokrates spricht, zeigt, dass er die politische Dimension der Schriften Platons nicht beachtet hat. Der neue, d.h. veränderte Sokrates, wie ihn Platon in seinen Dialogen auftreten lässt, ist sich des „Problems des Sokrates“ bewusst, das ihn letztendlich vor Gericht geführt hat. Platons „neuer“ Sokrates ist ein Politischer Philosoph. 71 Vgl. vor allem Socrates and Aristophanes. 72 Zur umstrittenen Authentizität des Siebenten Briefes vgl. Szlezák (1985). 73 Platon, Siebenter Brief, 340d. 74 Platon, Siebenter Brief, 341b. 75 Ebd., 341c–d. 76 Vgl. Ferber (2007).

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wenn diese Passagen des Siebenten Briefes als Schriftkritik gedeutet werden, handelt es sich doch eigentlich um eine generelle Auseinandersetzung zwischen Mitteilen und Verstehen. Das zu Verstehende sei sprachlich nicht mitteilbar (rheton) wie andere Dinge, sondern entstehe plötzlich nach langer Auseinandersetzung mit der Sache.77 Dieses führt Platon weiter fort: „Soviel wenigstens weiß ich, dass ich, wenn ich es ausspräche oder niederschriebe, auf das sorgfältigste es tun und mir gewiss vor allen andern leid sein würde, wäre es schlecht abgefasst. Ergäbe es sich mir aber, dass es sich in einer der Mehrzahl verständlichen Weise niederschreiben und aussprechen ließe, was könnte dann von uns im Leben Schöneres geschehen, als etwa den Menschen zu großem Heile Gedeihendes niederzuschreiben und das Wesen der Dinge für alle an das Licht zu ziehen? Nun aber halte ich das, was sich für einen Versuch hierüber ausgibt, für nichts den Menschen Ersprießliches, mit Ausnahme einiger weniger, welche selbst es vermittels eines leisen Fingerzeiges aufzufinden imstande wären; von den übrigen aber würde es die einen, wie es nicht sollte, mit einer keineswegs angemessenen Geringschätzung erfüllen, die anderen aber mit einem hochfliegenden und törichten Dünkel, als haben sie irgendwelche erhabene Wahrheiten begriffen.“ 78

Aus dieser Passage wird deutlich, dass das Verstehen der philosophischen Dinge sowohl an Begabung als auch an Bemühung gebunden ist und daher nur einige wenige dazu geeignet sind, so dass der Philosoph jene ernsthaften Dinge nicht vor jedermann darlegt – weder mündlich noch schriftlich. Entscheidet sich der Philosoph jedoch, diese Dinge zu verbreiten, so muss er es sorgfältig und bedacht tun, wenn er darauf abzielt, seine Adressaten zur Einsicht zu bringen. Hier wird erneut deutlich, dass Platon der schriftlichen Darlegung nicht gänzlich abgeneigt ist, denn Wissensvermittlung scheint für ihn eines der schönsten Dinge im Leben zu sein. Aus diesem Grund lehnt er es ab, Ungeeigneten philosophische Sachverhalte mitzuteilen, die höchstwahrscheinlich missverstanden werden. Den wenigen geeigneten Seelen jedoch scheinen schon Hinweise zu genügen, so dass eine bloß „hinweisende“ Mitteilung nicht durch unangemessene Geringschätzung durch die Vielen gefährdet wäre. Platon unterscheidet demnach zwischen dem explizit und dem implizit durch „Fingerzeige“ Mitgeteilten, ohne jedoch die Vermittlung auf die rein mündliche Methode einzuschränken. Thomas Szlezák erwähnt in seinem Werk Platon und die Schriftlichkeit im Anhang in Fußnote 3 explizit die „jüngsten“ Formen der Dialogtheorie, die u. a. 77 Vgl. dazu den Abschnitt der Auseinandersetzung der hermeneutischen Herangehensweisen Gadamers und Strauss’, vor allem das unterschiedliche Verständnis des „Zu-tun-habens mit der gleichen Sache“, in Kapitel 9. Gadamers unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit“. Aus der „Funkenmetapher“ geht hervor, dass es sich um den Akt des Verstehens handeln muss, denn keine Theorie könnte sich plötzlich in der Seele entzünden. Explizit dargelegte Information kann kein angemessenes Verständnis garantieren. Die Vermittlung einer Sache, ob mündlich oder schriftlich, ist etwas anderes als ihr Verständnis und als die Sache selbst (vgl. hierzu auch die Unterscheidungen von onoma, logos, eidolon sowie episteme im Abschnitt Siebenter Brief, 342a). 78 Platon, Siebenter Brief, 341d–e.

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auf Strauss und seine Schüler Bloom, Klein und Rosen zurückgehen. Szlezák behauptet dabei, dass diese Form keine prinzipielle Modifizierung des Schleiermacher’schen Denkens oder seiner Zielsetzung erfahren habe.79 Es ist zunächst richtig, dass Strauss von der Schleiermacher’schen Dialogtheorie ausgeht und daher seine Lesart des Phaidros und dessen Konsequenzen für das Platonverständnis kennt. Ebenso wie Schleiermacher geht Strauss davon aus, dass die schriftlichen Dialoge, wenn sie den platonischen Kriterien entsprechen, ein geeignetes, wenn auch minderwertigeres Äquivalent für die mündliche Vermittlung liefern können.80 Strauss’ Auseinandersetzung mit Schleiermacher in Exoteric Teaching81 beweist jedoch, dass sich sein eigenes Denken und seine Zielsetzung von der Dialogtheorie in grundsätzlichen Aspekten unterscheiden. 2. Das Platonbild von Friedrich Schleiermacher Neben seinen theologischen Werken erlangte Friedrich Schleiermacher vor allem für seine Übersetzungen der Dialoge Platons Berühmtheit. Bereits kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes wurde seine Leistung überschwänglich gelobt und Schleiermachers Deutung des „philosophischen Künstlers“ prägte das Platonbild des 19. Jahrhunderts. Dies ist jedoch nicht allein seinen Übersetzungen zuzuschreiben, sondern vor allem der Einleitung zu Platons Werke von 1804. In dieser konzipiert er ein hermeneutisches System, wie Platons Dialoge zu verstehen seien. Diese „Dialogtheorie“ (Szlezák) bezieht sich auf die Selbstaussagen Platons aus dem Schlussteil des Phaidros,82 auf die Gedanken lenkende, pädagogische Funktion der Dialogform sowie auf die Idee des Gesamtzusammenhanges aller platonischen Dialoge.83 Diese drei Grundlagen seiner Platon-Lesart folgen wiederum grundlegenden Ansätzen seiner allgemeinen Hermeneutik, wie der Zusammenhang von Inhalt und Form,84 der Ansatz, dass man sich um Verstehen bemühen muss85, sowie die Annahme, dass „jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens“ 86 sei.

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Szlezák (1985), S. 331. Schleiermacher (1969), S. 11. 81 Strauss (1989b). 82 Schleiermacher (1969), S. 14 f., 29 ff. Auf den Siebenten Brief geht Schleiermacher in der Einleitung nicht ein. 83 Ein Gedanke, den Schleiermacher Friedrich Schlegels Brief vom 10. März 1800 verdankt, der von einem „Stufengang“ redet, in dem sich „mehr Gespräche an einander [schlössen] als man gewöhnlich annimmt“. 84 Schleiermacher (1969), S. 14. 85 Schleiermacher (2004), S.96: „Die strengere [hermeneutische] Praxis geht davon aus, dass sich das Missverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muss gewollt und gesucht werden.“ 86 Ebd., S. 76. 80

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Schleiermacher äußert sich in der Einleitung weder zu biographischen Lebensumständen Platons noch inhaltlich zu seiner Philosophie.87 Er tut dies in der Absicht, jedem Leser zu ermöglichen, sich eine eigene, genauere Kenntnis der Philosophie Platons anzueignen.88 Dies wird von der Prämisse begleitet, dass sich die Philosophie Platons dem verständigen Leser aus den Werken selbst erschließt.89 Eine vorwegnehmende Darstellung der Inhalte der Philosophie würde dem „Endzwekk [sic!]“ entgegenwirken, allein zur Erkenntnis zu gelangen. Schleiermacher appelliert daher an den Leser, von fremden Berichten und Urteilen über Platon abzulassen oder diese zu vergessen. Das Problem, Platon zu verstehen, liegt für Schleiermacher in der Wesensart des „philosophischen Künstlers“ 90 begründet. Seine abweichende Form der Mitteilung weise vordergründig keine Systematik auf und präsentiere sich fragmentarisch in Form von Dialogen.91 Aus diesen Gründen sowie wegen der bewundernswerten sprachlichen Schönheit der Dialoge seien andere – „theils aus einzelnen Aeußerungen des Platon selbst, theils auch aus einer weit verbreiteten Ueberlieferung“ – davon überzeugt, dass es in Platons Schriften einen esoterischen und einen exoterischen Teil gebe. Die Vertreter dieser esoterischen Lehre behaupten, dass Platons eigentliche Weisheit in den Schriften gar nicht oder nur in geheimen, schwer auffindbaren Andeutungen enthalten sei.92 So habe man die Schriften von ihrem Inhalt gelöst und Platons wahre Lehre in geheimen Lehren gesucht, welche er den Schriften nicht anvertraut habe. Schleiermacher betont jedoch, dass das Esoterische und Exoterische zu verschiedenen Zeiten eine ganz verschiedene Bedeutung gehabt haben, weswegen er diese Ansicht einer kritischen Sichtung unterzieht. Während die Esoterik der Pythagoreer unmittelbar auf den Inhalt bezogen gewesen sei, sei sie bei öffentlichen Vorträgen über sokratische Philosophie aus pädagogischen Gründen motiviert, indem ein esoterischer Inhalt aufgrund des zu erwartenden mangelnden Verständnisses zurückgehalten 87 Vorgängige Forscher seien trotz „werthe[r] Bemühungen“ dem Missverständnis unterlegen und hätten sich zu vorschnell mit ihren Ergebnissen zufriedengegeben, „dass auch bei allen besseren Absichten ein vollständiges Verstehen noch nicht überall zum Grunde gelegen hat“ (Schleiermacher (1969), S. 3). Vor allem bemängelt Schleiermacher jene, die sich schon zufrieden behaupteten, Platon jetzt schon besser verstanden zu haben, als er sich selbst verstanden hat (vgl. ebd.). 88 Ebd. 89 Ebd., S. 1. Weswegen Schleiermacher davon absieht, in der Einleitung eine Art Biographie Platons darzulegen, und auf das Werk Geschichte der Philosophie Wilhelm Gottlieb Tennemanns verweist. Die Vorstellung, dass Platon seine Leser zum Selbstdenken anregen wolle, indem er in den Dialogen Probleme und Aufgaben stellt, wurde bereits von August Boeckh und eben Tennemann dargelegt. 90 Ebd., S. 3. 91 Daher gab es die falschen Urteile vorgängiger Forscher, dass seine Schriften nichts Ganzes beinhalten würden und nichts in fester Beziehung zu einem anderen Dialog stehe (vgl. ebd., S. 5). 92 Ebd., S. 6.

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wurde. Schleiermacher wägt Platons Motivation für eine esoterische Lehre nun zwischen diesen beiden Ansätzen ab. Da seine Schriften schwer verständlich und geheimnisvoll seien, ziehe das pädagogische Element nicht. Dass Platon seine philosophische Lehre allein im inneren Kreis vertrauter Freunde und auch nur mittels dunkler Hinweise geredet habe, bedürfe einer geschichtlichen und lehrmäßigen Beweisführung, die Schleiermacher selbst nicht vollzieht.93 Vielmehr hebt Schleiermacher die unzertrennliche Einheit von künstlerischer Form und philosophischem Inhalt hervor sowie den Zusammenhang aller platonischen Werke. Sein Ansatz betont Platon als Philosoph und Künstler, der sich literarischer „Künste“ 94 bediene, zu denen eine scheinbar „willkürliche Fortschreitung“, indirekte Einleitungen, Widersprüche, Rätsel, Hinweise auf größere Ziele unter kleineren, „unzusammenhängende Striche“ sowie absichtliche Auslassungen gehörten, die vom Leser aber leicht ergänzt werden könnten. Auch wenn die Dialoge explizit oder systematisch in den formulierten Ergebnissen Unvollständigkeiten aufweisen, so seien sie dennoch als autark und als vollständig zu betrachten. Dazu gehöre auch, dass „jeder Saz [sic!] nur an seinem Orte und in den Verbindungen und Begränzungen [sic!], wie ihn Platon aufgestellt hat, recht zu verstehen“ 95 sei. Eine Schrift könne demnach bei „fast Jedem“ etwas „Klares und Deutliches“ 96 erzeugen. Schleiermacher bezieht sich in seiner Argumentation auf Platons Phaidros, dass eine schriftliche Übermittlung von Gedanken immer darüber im Ungewissen bleibe, inwiefern die Seele des Lesers Gedanken selbsttätig nachbilde oder es bei einem scheinbaren Verständnis oder bloßer Einbildung geblieben sei. Vorteil der mündlichen Rede sei, dass der Lehrende in einer gegenwärtigen und lebendigen Wechselwirkung mit dem Lehrenden stehe und daher mögliches Missverstehen erkennen und nachhelfend oder verteidigend darauf eingehen könne. Diese Methode sei eine „sokratische“, die auf einer „ununterbrochen fortschreitenden Wechselwirkung und dem tieferen Eindringen in die Seele des Hörenden“ basiere. Dieser Aspekt bezieht sich dabei allein auf die Form, nicht auf den Inhalt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass Platon nicht selbst seine Gedanken schriftlich übermittelt hat. Es besagt lediglich, dass er sich über die Schwäche der Schrift im Klaren gewesen sei. Denn ungeachtet der Kritik an der Schrift ist es für Schleiermacher nicht abzuweisen, dass Platon über sein gesamtes Leben so viel geschrieben hat. Platon habe demnach versuchen müssen, „auch die schriftliche Belehrung jener besseren so ähnlich zu machen als möglich“.97 Denn trotz der

93 94 95 96 97

Ebd., S. 8. Ebd., S. 16, 30 ff. Ebd., S. 10. Platon, Phaidros, 275c und 277d. Schleiermacher (1969), S. 11.

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Schwäche der Schrift müsse das Schreiben gewagt werden.98 Platon gehe es demnach darum, den noch nicht wissenden Leser zum Wissen zu bringen, mit der Vorsicht, „dass er nicht eine leere Einbildung des Wissens veranlasse“ 99. Dies habe ihn dazu veranlasst, „jede Untersuchung von Anfang an so zu führen und darauf zu berechnen, dass der Leser entweder zur eigenen inneren Erzeugung des beabsichtigten Gedankens, oder dazu gezwungen werde, dass er sich dem Gefühle, nichts gefunden und nichts verstanden zu haben, auf das allerbestimmteste übergeben muss“.100 Hierfür sei es erforderlich, dass das Ergebnis der Untersuchung nicht explizit ausgesprochen werde, damit der Leser dieses selbst suche. Dafür muss er sich zuerst über das eigene Nichtwissen bewusst werden und dadurch das Bedürfnis nach Wissen erlangen. Den richtigen Weg können dabei Widersprüche und Rätsel weisen oder fremdartige und zufällig scheinende Andeutungen, „die nur derjenige findet und versteht, der wirklich und selbstthätig sucht“.101 Eine weitere Möglichkeit stellt für Schleiermacher eine zweite Textebene dar, die über die eigentliche Untersuchung gelegt wird, „nicht wie mit einem Schleier, sondern wie mit einer angewachsenen Haut überkleidet, welche dem Unaufmerksamen, aber auch nur diesem, dasjenige verdekkt, was eigentlich soll beobachtet oder gefunden werden, dem Aufmerksamen aber nur noch den Sinn für den inneren Zusammenhang schärft und läutert“.102 Zuletzt nennt Schleiermacher die nur angedeutete Darstellung des Ganzen durch unzusammenhängende „Striche“, die demjenigen, der bereits eine Ahnung von dem Ganzen hat, leicht zu ergänzen sei. Durch diese vier Möglichkeiten, Schleiermacher nennt sie aufgrund des Formcharakters „Künste“, gelinge es Platon, „mit fast Jedem“, „entweder das zu erreichen, was er wünscht, oder wenigstens das zu vermeiden, was er fürchtet“.103 Diese formale „Kunst“, seine Lehre zu verschriftlichen, sei die „einzige Bedeutung, in welcher man hier von einem esoterischen und exoterischen reden könnte, so nämlich, dass dieses nur eine Beschaffenheit des Lesers anzeigte, je nachdem er sich zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt oder nicht“.104 Schleiermacher geht demnach davon aus, dass Platon seine Lehren im Mündlichen direkt und vollständig habe aussprechen können, während er, um Missverständnisse aufgrund der Schwäche der Schrift zu vermeiden, im Schriftgebrauch

98 „Das Schreiben aber müsse gewagt werden aufs ungewisse, und mehr um deswillen, was es für den Schreibenden und die schon mit ihm Wissenden sei, als um deswillen, was es werden könne für die noch nicht Wissenden“ (ebd., S. 10). 99 Ebd., S. 12. 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Ebd., S. 12 f.

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textimmanent esoterisch vorgegangen sei. Daher gebe es eine „grosse Absichtlichkeit in der Zusammensetzung seiner Schriften“ 105, die überall „voll von offenbaren und verstekkten Beziehungen auf fast alles frühere und gleichzeitige“ seien.106 Schleiermacher lobt das Zusammenspiel des „philosophischen Künstlers“ in Bezug auf den Zusammenhang von Form und Inhalt und betont dabei „die Eigenthümlichkeit der Sprache, ein gewisses gemeinschaftliches Gebiet des Inhalts, und die besondere Gestalt, in welche Platon ihn auszubilden pflegt“.107 Es sei wichtig, die platonischen Dialoge weder allein vom Inhalt noch allein von der Sprache oder gar der Echtheit zu beurteilen, sondern bei der Bewertung vor allem auf die Form und die Komposition im Ganzen zu achten, in der sich Sprache und Inhalt vereinen.108 Platon habe die Form in das Schema der Dialoge eingekleidet, um die „lebendige Auffassung jener Absicht, den mündlichen Unterricht, der es immer mit einem bestimmten Subjekt zu thun hat, nachzuahmen“ und der durch die „mimische und dramatische Beschaffenheit“ 109 schön und anmutig ist. Platons Dialoge erleichtern es demnach durch ihre textimmanente Esoterik in Form seiner „Künste“, dem Weg von der fixierten, schriftlichen Rede zur lebendigen „inneren Rede“ zu folgen. Daraus folgt für seine Platon-Interpretation, dass die platonische Form sich notwendig aus der hermeneutischen Einsicht ableitet, dass das Verstehen eines schriftlich vorliegenden Gedankens eine selbsttätige Leistung des Rezipienten sein muss. Dementsprechend habe Platon als „philosophischer Künstler“ 110 den Dialog „mit großer Absichtlichkeit“ 111 bewusst so komponiert, dass sogar die minderwertige Schrift Ideen im Leser hervorrufen könne. Die Absicht des Autors ist es dabei, sowohl „seinen eigenen Sinn Andern lebendig darzulegen“ als auch „den ihrigen lebendig aufzuregen und zu erheben“ 112. Ziel ist es dabei, „auch den noch unwissenden Leser [. . .] zur eigenen inneren Erzeugung des beabsichtigten Gedankens“ 113 bringen zu wollen. Auch wenn Platon demnach die Nachteile der Schriftlichkeit sehe, wie er sie im Phaidros beschreibt, so habe er in seinen Schriften wohl bedacht und dementsprechend komponiert, dass „auch die schriftliche Belehrung jener besseren [mündlichen] so ähnlich zu machen als möglich“ 114. Die erwünschte Gedankenerzeugung in der Seele des Lesers mache ihn daher „zu einem wahren Hörer des Inneren“ und ermögliche den eigenständi105 106 107 108 109 110 111 112 113 114

Ebd., S. 4. Ebd., S. 2. Ebd., S. 22. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 15.

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gen Nachvollzug des noch fremden Gedankens. Im anderen Fall bleibe der Leser jedoch von den inneren „unmittelbaren Lehren“, in denen der Autor „seine Gedanken rein und vollständig ausspreche“ 115, ausgeschlossen. In diesem Sinne spricht Schleiermacher von einer esoterischen und exoterischen Seite des Textes.116 Da diese für Schleiermacher Ebenen innerhalb eines Textes sind, lässt sich von einer „textimmanenten Esoterik“ sprechen. Diese ruft demnach ein hermeneutisches Ereignis in der Seele des Lesers hervor, das vom Text selbst, d.h. durch „Künste“ des Autors induziert und subtil gelenkt wird. Es geht demnach um eine bewusst intendierte Erzeugung von philosophischem Verständnis durch den Text und den in ihm angewandten rhetorischen „Künsten“. Platon gelingt es damit, seine Gedanken in der Seele des Lesers zu erzeugen und gleichzeitig den Irrtum zu vermeiden, dass der Leser meint, etwas verstanden zu haben, wenn dies nicht der Fall ist. Der platonische Dialog kann demnach trotz der Nachteile der Schrift durch Nachahmung des mündlichen Dialoges dieselbe Erkenntnis in der Seele des Lesers erzeugen wie die mündliche Lehre. Schleiermacher geht des Weiteren davon aus, dass Platon ein philosophisches System gehabt hätte, einen Gesamtzusammenhang des platonischen Œuvre, dass in den Dialogen ein natürlicher Zusammenhang auffindbar sei, der sich durch chronologische Ordnung der Dialoge zeige und den es systematisch zu rekonstruieren gelte. Die Werke stünden in einem „natürlichen Zusammenhang“, „wie sie als immer vollständigere Darstellungen seine Ideen nach und nach entwikkelt haben, damit, indem jedes Gespräch nicht nur als ein Ganzes für sich, sondern auch in seinem Zusammenhange mit den übrigen begriffen wird, auch er selbst endlich als Philosoph und Künstler verstanden werde“.117 Schleiermacher sieht die Aufgabe der Platondeutung demnach darin, die platonischen Werke in den richtigen Zusammenhang zu bringen, durch welchen jeder Dialog an sich als auch die darin enthaltenen Lehren verständlich werden. In Platons Werken sei die Darstellung der Philosophie fortschreitend aufgebaut, „dass es eine natürliche Folge und eine notwendige Beziehung dieser Gespräche aufeinander geben muss“.118 Die Abfolge stelle inhaltlich ein pädagogisch motiviertes Fortschreiten von Platons Philosophie dar: Von der anfänglichen Entwicklung der dialektischen Methode, zu dem Verhältnis der Ideen zu den wirklichen Dingen bis letztlich zur Idee des Guten.119 Die Dialoge seien demnach nicht fragmentarische, nebenein-

115

Ebd., S. 17. gr. eso/exoteros. Szlezák bemerkt, dass Schleiermacher zwei Arten von Esoterik „rückhaltlos“ anerkannt habe: Die textimmanente, hermeneutische Esoterik einerseits sowie die Esoterik der mündlichen Lehre andererseits, die Platon nur im mündlichen Unterricht ausgesprochen habe, „wenn er erst hinlänglich gewiss war, die Hörer seien ihm nach Wunsch gefolgt“ (ebd., S. 16 f.); vgl. auch Szlezák (2003), S. 82). 117 Schleiermacher (1969), S. 10. 118 Ebd., S. 12. 119 Ebd., S. 31 f. 116

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ander stehende platonische Gespräche, sondern ein „verbundenes Ganzes“ 120, das seine gesamte Lehre umfasse. Die hermeneutische Aufgabe bestehe demnach darin, dieses Ganze im Auge zu behalten und die natürliche Folge zu rekonstruieren. Würde es dieses Ganze, diesen „Endzwekk“, nicht geben, so könnten Platons Schriften nur als „pädagogische oder vielmehr polemische Reihe“ oder als „willkürliche Zusammenreihung von Productionen“ verstanden werden, bei denen nicht der philosophische Inhalt im Vordergrund stehe, sondern die Sprache und die Form. Platons Werk wäre dann ein „zwekkloser Schmukk“ 121, den Platon aus Eitelkeit geschrieben hätte. Zum Wesentlichen der platonischen Form gehört für Schleiermacher alles, „was für die Composition aus der Absicht die Seele zur eigenen Ideenerzeugung zu nöthigen folgt, jenes öftere Wiederanfangen der Untersuchung von einem anderen Punkte aus, ohne dass jedoch alle diese Fäden in dem gemeinschaftlichen Mittelpunkt wirklich zusammengeführt würden, jene dem Anschein nach oft willkürliche und nur aus der losen Haltung, die ein Gespräch haben darf, zu entschuldigende Fortschreitung, welche aber doch immer absichtsvoll und künstlich ist, ferner das Verbergen des grösseren Zieles unter einem kleineren, das indirecte Anfangen mit etwas Einzelnem, das dialektische Verkehr mit Begriffen, worunter jedoch die Hinweisung auf das Ganze und auf die ursprünglichen Ideen immer fortgeht.“ 122 Schleiermacher sieht in der Komposition der platonischen Dialoge sowohl den Künstler als auch den Pädagogen Platon. Für ihn sind seine philosophischen Inhalte allerdings nicht der politischen, äußeren Gefährdung ausgesetzt, sondern allein den Gefahren, die aus den Nachteilen einer schriftlichen Überlieferung entstehen. Diese könnten, so Schleiermacher, durch seine kunstvolle Komposition mit einem pädagogischen Fortschreiten bis hin zu seinem philosophischen Gesamtsystem, das in den Dialogen selbst textimmanent vorliege, durch eigene Gedanken gedacht werden. Schleiermacher geht nicht auf die generelle politische Gefährdung der Philosophie ein und sieht daher auch keine Notwendigkeit begründet, eine esoterisch-exoterische Kodierung sowohl aus politischen als auch pädagogischen Gründen zu veranlassen. 3. Das „hermeneutische Paradigma“ der „Tübinger Schule“ Konrad Gaiser bestimmt das Esoterische nicht als textimmanente Esoterik, sondern als „ungeschriebene Lehre“,123 die Platon nur einem kleinen Schülerkreis nach langer, intensiver mathematisch-dialektischer Vorbereitung mündlich 120 121 122 123

Ebd., S. 13. Ebd., S. 16. Ebd., S. 26. Zu Gaisers Definition des Esoterischen vgl. Gaiser (1980), S. 48.

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unterrichtet habe, und begründet mit dieser Auffassung zusammen mit Hans Krämer die Platoninterpretation der so genannten „Tübinger Schule“. Dieser Schule fühlt sich auch der Mailänder Philosoph Giovanni Reale verbunden, der in seinem umfassenden und vielfach übersetzten Buch Platone (1989) die wissenschaftliche Fortschrittsgeschichte der „hermeneutischen Paradigmen“ der Platonrezeption schildert. In diesem stellt er den Ansatz der „Tübinger Schule“ als ein eigenständiges, neues Paradigma heraus, das über die Grenzen des traditionellen, durch Schleiermacher begründeten Paradigmas hinausgehe und dessen Probleme erklären könne. Obwohl Reale ausgiebig und umfassend auf sämtliche Platoninterpretationen eingeht, findet Leo Strauss nur indirekt über seine Schüler einige kurze Anmerkungen in den Fußnoten,124 in denen sein Verständnis von Esoterik dem Schleiermacher’schen Paradigma zugeschrieben und der politischphilosophische Aspekt seiner Platondeutung nicht mit einbezogen wird. Reale leitet anhand der Geschichte der Platonrezeption drei Leitbilder ab, deren Abfolge er mit den Kuhn’schen wissenschaftlichen Revolutionen identifiziert. Gemäß Kuhn hat sich die Wissenschaft nicht in systematischen Zuwachsprozessen und aufeinander folgenden Anhäufungen einzelner Entdeckungen entwickelt, sondern entlang von Entwicklungslinien mit zentralen Grundannahmen,125 die letztendlich durch „wissenschaftliche Revolutionen126“ zugunsten anderer aufgegeben werden können. Es könne demnach kein Nebeneinander von wissenschaftlichen Paradigmen in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft geben, sondern nur einen Ersatz, der durch einen Paradigmenwechsel erfolge.127 Die Grundannahmen einer wissenschaftlichen Entwicklungslinie bezeichnet Kuhn als Paradigmen, die als „Vorbilder“ die Formulierung von Problemen und Lösungsansätzen liefern. Paradigmen werden dabei als historisch bedingt aufgefasst. Sie gälten, so erläutert es auch Reale, nicht zeitunabhängig, sondern könnten nur zu dem Zeitpunkt Gültigkeit beanspruchen, bis ein jeweiliges Paradigma durch einen revolutionären Paradigmenwechsel überwunden werde.128 Das Kon124 Die Anmerkungen erfolgen dabei nicht von Reale selbst, sondern von dem Herausgeber Josef Seifert. Anm. 13 auf Reale (2000), S. 547, Anm. 14 auf S. 548 sowie 553 und 556. 125 Da das Paradigma in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft selten in Frage gestellt wird, ähnelt es demnach der Struktur des Vorurteils (vgl. Kuhn (1976), S. 51). 126 Ebd., S. 97. „Wie bei politischen Revolutionen gibt es auch bei der Wahl des Paradigmas keine höhere Norm als die Billigung durch die jeweilige Gemeinschaft“ (ebd., S. 106). 127 Vgl. ebd., S. 105. Kuhn sowie Reale beschreiben diesen Wechsel fälschlicherweise mit der Idee des „Gestaltwandels“ von N. R. Hanson (vgl. ebd., S. 98; Reale (2000), S. 42). Diese geht jedoch davon aus, dass der Beobachter einer Gestalt die Freiheit habe, sich zwischen verschiedenen Sichtweisen hin- und herzubewegen und einen Perspektivenwechsel einnehmen zu können. Der Wissenschaftler einer wissenschaftlichen Gemeinschaft kann unter Kuhns strenger Auffassung von Paradigma diese Freiheit jedoch nicht haben. 128 Kuhn (1976), S. 17; vgl. auch Reale (2000), S. 32.

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zept der hermeneutischen Paradigmen biete sich auch für die Platonrezeption an, da Reale meint, sowohl die typische Abfolge „normaler“ und „außerordentlicher“ Wissenschaftlichkeit als auch den abgrenzenden Charakter eines jeweiligen Leitbildes innerhalb der Geschichte der Platondeutung erkannt zu haben. Dabei haben Paradigmenwechsel stattgefunden, da es Anomalien und Erklärungsdefizite gegeben habe, die das jeweilige neue Paradigma besser hätte erklären können. Die Leitdifferenz der Paradigmen stellt für Reale die Unterscheidung von direkter und indirekter Platonüberlieferung dar. Sein eigenes Hauptanliegen ist es dabei, die Beziehungen zwischen den geschriebenen und ungeschriebenen Lehren Platons adäquat zu rekonstruieren und die „ungeschriebene Lehre“ systematisch herauszuarbeiten, die Platon ausschließlich durch mündliche Gespräche vermittelt habe. Reale wie auch Gaiser und Krämer gehen davon aus, dass Platon zentrale Lehren über metaphysische Prinzipien vermittelt habe, die in seinen Schriften nicht enthalten sind. Maßgeblich führen sie diese Annahme auf das neuplatonische allegorische Paradigma zurück, das die mündliche Tradition des direkten Schülerkreises in der Akademie129 integriert, allerdings von Giovanni Reale aufgrund seiner revolutionären Überwindung des textimmanent-esoterischen Schleiermacher’schen Paradigmas als ein neues vorgestellt wird. Mit ihrem „neuen“ hermeneutischen Paradigma streiten sie daher die Autonomie der Schriften ab und setzen die Annahme der allein indirekt erwähnten ungeschriebenen Lehre als Schlüssel voraus, um Platons Gesamtwerk verstehen zu können.130 Anhand von Fragmenten der indirekten Überlieferungen rekonstruiert Reale die so genannte Prinzipientheorie, die auch von den Nachfolgern der platonischen Akademie als wesentliche Lehre erachtet werde und der mehr Bedeutung als der Ideenlehre zukomme. Mit Verweis auf die Passage aus Aristoteles’ Metaphysik müsse man die Dialoge und die mündlich vermittelte Prinzipientheorie als zwei qualitativ unterschiedliche Stufen betrachten. Während die Dialoge die Letztbegründung aller Dinge nur bis zu den Ideen aufwiesen, verfolge Platons mündliche Lehre diesen Weg bis zu dem ersten Prinzip, der Idee des Einen, und deren negativem Prinzip, der unbestimmten Zweiheit.131 Reale wirft den Gegnern der indirekten Platontradition dabei unwissenschaftliches Verhalten und ein ge129 Neben Aristoteles nennt Reale vor allem Speusipp und Xenokrates, aber auch Theophrastos und Alexander von Aphrodisias und verweist auf folgende Textstellen: Aristoteles, Metaphysik A6, 987a32–988a17, sowie Physik 2, 209b 11–17; Speusipp, Fragmenta frr. 48–88 und Xenokrates, Fragmenta frr. 92–122. 130 Reale (2000), S. 50. Dass Platon eine ungeschriebene Lehre habe, ermögliche es demnach, gewisse dunkle Schlüsselstellen verstehen zu können, mit denen Reale Bezug auf Szlezáks These von der „Hilfe für das Geschriebene“ nimmt und die er als grundlegend für das Verständnis der platonischen Dialoge erachtet. 131 Des Weiteren bringt Reale als katholischer Platoniker die demiurgische Intelligenz als eine Mischung von Einheit und Vielheit im Kosmos sowie die drei Prinzipien aus dem Timaios, Gott, Idee und Materie, mit der Prinzipientheorie in Einklang.

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störtes Geschichtsverhältnis gegenüber der Antike vor, während er selbst die Perspektive wiederzugeben meint, die im 4. Jahrhundert v. Chr. die Regel gewesen sei.132 Reale argumentiert dabei grundsätzlich mit Platons Selbstaussagen aus dem Phaidros und Siebenten Brief. Nach seiner Auslegung besagen diese Passagen ausdrücklich, dass Platon es für unangemessen gehalten habe, seinen Schriften alles anzuvertrauen, insbesondere nicht jene „wertvolleren Dinge“, die für Reale den wesentlichen Kern der platonischen Philosophie ausmachen.133 Diese Dinge fasst Reale als „ungeschriebene Lehren“ (agrapha dogmata) zusammen, wie sie über die indirekte Quelle von Platons Schüler Aristoteles in der Physik134 bezeichnet werden. Reales Anliegen ist es, diese „tragenden Schlüssellehren“ als eine „synthetische, organische Zusammenschau“ zu systematisieren. Gerade da die platonischen Dialoge nicht systematisch ausgearbeitet worden seien, habe es bereits schon in der Antike Bestrebungen gegeben, ein allgemeines Kompendium des platonischen Denkens zu schaffen.135 Die Frage, warum Platon alles daransetzt, möglichst unsystematisch zu erscheinen, stellt sich Reale jedoch nicht. Vielmehr weist er auf konzeptionelle Brüche in der Schleiermacher’schen Lesart hin, die die Authentizität der platonischen Schriften, vor allem des Siebenten Briefes, die Selbstaussagen Platons über die Schriftlichkeit sowie die Berücksichtigung und historische Aufarbeitung der Äußerungen der direkten Schüler Platons betreffen. Ganz gemäß dem Kuhn’schen Verständnis vom Paradigmenwechsel seien die Vertreter des Schleiermacher’schen Paradigmas diesen wissenschaftlichen Brüchen mit Versuchen begegnet, ihre einheitliche und autarke Lesart der Dialoge zu bewahren.136 Wenn die platonischen Schriften unter dem Aspekt betrachtet werden, dass der wichtigste und höchste philosophische Gehalt einer allein mündlich vermittelten, ungeschriebenen Lehre anvertraut wurde, so muss zwischen dem Philosophen Platon der Prinzipientheorie und dem künstlerisch begabten Schriftsteller der Dialoge unterschieden werden.137 Giovanni Reale und Hans Krämer streiten daher explizit die Möglichkeit ab, dass Platon Inhalt und Form, Philosophie und die „kunstmäßige Rede“, vereinheitlicht haben könnte. 132

Ebd., S. 51. Ebd., S. 27. 134 Aristoteles, Physik 2, 209b. 135 Reale (2000), S. 28. 136 Ein Ansatz sei es gewesen, die Einheit nicht in den Dialogen selbst, sondern in ihrem Autor Platon und in seinen politischen Interessen auszumachen (Reale (2000), S. 72). Reale sieht daher den größten Vorteil des neuen Paradigmas der Tübinger Schule darin, dass dieses die Möglichkeit biete, „ein platonisches ,System‘ zu erfassen, indem man sich nicht mehr auf dem Platonismus fremde Ansätze berufen müsse, geschweige denn auf politische Ideologien, sondern allein auf eine Tradition rekurrieren könne, die vom „lebendigen Wort“ Platons ausgehe (vgl. ebd., S. 82). 137 Krämer (1982), S. 140, vgl. auch Krämer (1969), S. 199 sowie Reale (2000), S. 126. Dieser Auffassung schließt sich Szlezák an, indem er Platon rühmt, „der sprachlich größte und künstlerisch genialste Prosaautor der Antike“ gewesen zu sein, jedoch nicht der größte Philosoph (Szlezák (2003), S. 76). 133

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Unter „Einheit“ verstehen sie vielmehr die Übereinstimmung des erkannten mit dem realen Sachverhalt.138 Dieser erkenntnistheoretische Ansatz, wie er vor allem von Hans Krämer in Kritik der Hermeneutik systematisiert wurde, missbilligt einen relativistischen, pragmatischen oder perspektivischen Wahrheitsbegriff und konzipiert mit seinem epistemologischen Realismus eine „Kohärenztheorie der Wahrheit“.139 Daraus resultiert für Reale die Aufgabe für einen Philosophen, ein möglich kohärentes Bild zu entwerfen, das die innerweltlichen Abbildungen den metaphysischen Wahrheiten annähere.140 So habe Platon zwar Einsicht in die objektive Struktur der metaphysischen Weltordnung gehabt, die er jedoch nicht in seinen literarischen „Spielereien“, sondern allein dem mündlichen Unterricht vorbehalten habe.141 Das „hermeneutische Paradigma“ der „Tübinger Schule“ ist daher grundsätzlich von der kommunikativen Überlegenheit des Mündlichen über das Schriftliche überzeugt, mit der radikalen Konsequenz, dass Platon die für ihn „ernsthaften Dinge“ nicht aufgeschrieben habe und seine Dialoge somit nicht seine vollständige Lehre beinhalteten. Diese Überzeugung wird anhand der Selbstaussagen Platons im Siebenten Brief und im Phaidros belegt, in denen sich Platon schriftlich darüber äußert, wie er die Schrift einschätzt und was dem Leser überhaupt methodisch und inhaltlich vermittelt werden könne.142 Reale erkennt zwar die Grundbedingungen der „kunstgerechten“, schriftlichen Rede an, dass eine dialektisch begründete Erkenntnis des Wahren genauso notwendig sei wie die Kenntnis der Seelen der Adressaten, jedoch müsse sich der Schreiber bewusst sein, dass es im Geschriebenen eben nicht jene „Sicherheit und Klarheit“ gäbe, da es sehr viel Spiel und keinen Ernst enthalte.143 Der Philo138

Reale (2000), S. 554, vor allem Anmerkung 28. Krämer richtet sich darin vornehmlich gegen die „dogmatisch antirealistische“ philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers. Da dessen hermeneutischer Antirealismus keinen strengen Beweis seiner Grundaxiome geben könne, bleibe er lediglich eine Annahme unter anderen und sei nicht als verbindlich zu erachten (Krämer (2007), S. 16). Krämers realistische Position versucht hingegen, wissenschaftliche Objektivität in der Hermeneutik zu re-etablieren, und geht davon aus, dass alle Horizonte zugänglich seien und daher grundsätzlich verstanden werden könnten (ebd., S. 151). Krämer plädiert daher für die „tentative Wiederaufnahme des älteren Begriffs der Approximativität an den historischen und kulturellen Gegenstand“ (ebd., S. 35). Approximation bezeichne dabei eine diachrone, allmähliche Annäherung an ein objektiv existierendes Erkenntnisziel. Die Approximation erfolge graduell, weswegen die Frage nach dem jeweiligen Stand der Abweichung zwischen Interpretierendem und Interpretandum eine große Rolle spielt. Durch Mangel an Beweisen betont Krämer mehrfach die Möglichkeit der Approximativität und somit auch die Möglichkeit eines Realismus, den er letztendlich auf einen „skeptischen Realismus“ beschränkt. Es liege kein Gegenbeweis vor, dass Approximation grundsätzlich unmöglich sei (vgl. ebd., S. 87 ff.). 140 Reale (2000), S. 547. 141 Ebd., S. 548. 142 Ebd., S. 85. 143 Ebd., S. 86. 139

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soph, auf den sich Sokrates und Phaidros am Ende des Dialoges beziehen, ist demnach der, der etwas Wahres erkannt hat und seine Werke auf die Weise schriftlich verfasst, um ihnen „väterlich“ in einem mündlichen Gespräch verteidigend zu Hilfe kommen zu können. Ein solcher Autor sei sich vollkommen darüber bewusst, dass das Geschriebene von „geringerem Wert“ sei im Vergleich zu den Dingen von „höherem Wert“, die daher ausschließlich der Mündlichkeit vorbehalten seien. Das Geschriebene ist demnach strukturell von der mündlichen „Hilfe“ abhängig. Die mündliche Lehre erkläre, wiederhole und verteidige jedoch nicht bloß einzelne Elemente des Geschriebenen, sondern gehe in Form einer eigenständigen, gänzlich neuen Lehre über das Geschriebene hinaus.144 Reale interpretiert die Textstelle Phaidros 275d–e demnach so, dass es im Medium Schrift unmöglich sei, zwischen würdigen und unwürdigen Hörern zu unterscheiden.145 Gemäß Phaidros 276a könne allein die mündliche Rede die Seele des Zuhörers berühren, da durch den unmittelbaren Kontakt auf den Rezipienten gezielt eingegangen werden könne.146 Dementsprechend legt Reale die Passage Phaidros 276b–277a mit dem Adonisgärtchen aus. Schreiben sei, wie das Gärtchen, zwar ein edles und schönes, aber dennoch bloß ein vergnügliches Spiel, während jene ernsthaften Dinge an geeigneteren Orten „angebaut“ werden müssten. Das heißt für Reale, dass Platon ausschließlich die zeitaufwendige, mündliche Dialektik als angemessen erachtet, um „ernste Dinge“ in die Seelen einzupflanzen.147 Platon bezeichne sein eigenes Schriftwerk an zwei Stellen der Politeia als mythologisierend (mythologein), was Reale mit einer mündlichen Unterrichtung kontrastiert. Mit Phaidros 276e beziehe sich Platon demnach auf bloße Mythen, wenn es um das „Gerechte und Gute und Schöne“ gehe, während er in der Akademie ausschließlich die mündliche Dialektik für seine philosophische Lehre angewandt habe.148 Platon beurteile sein Werk zwar als sehr schön, sei aber zutiefst davon überzeugt gewesen, dass die eigentliche ernsthafte und daher viel schönere Aufgabe in der mündlichen Lehrtätigkeit der Akademie gelegen habe. Da es den Schriften nicht gelinge, die ernsthaften Dinge mit „Sicherheit und Klarheit“ in die Seele einzuschreiben, charakterisiere Platon daher in der Endpassage des Phaidros den Philosophen als jemanden, der den Schriften bewusst nicht 144

Ebd., S. 89. Ebd., S. 88. 146 Reale ignoriert dabei, dass Platon selbst erwähnt, dass die zielgerichtete Adressierung nicht für jede mündliche Rede gelten könne, sondern nur für Reden in kleiner Runde, nicht für Massenveranstaltungen. Platon hebt nicht den generell nachteiligen Charakter der Schrift hervor, sondern mahnt zu einem reflexiven Umgang mit ihr und warnt vor einer allzu naiven Herangehensweise an die Möglichkeiten der Schrift. Platon schließt demnach Schrift nicht grundsätzlich aus, wie ich im ersten Unterkapitel gezeigt habe. 147 Ebd., S. 91. 148 Ebd., S. 92. 145

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jene „wertvolleren Dinge“ anvertraue. Er zeichne sich gerade deswegen als Philosoph aus, weil er erkannt habe, dass die Schrift nur eine Spielerei sei, wenn auch eine sehr schöne, er jedoch eben als Philosoph „wertvollere Dinge“ als die geschriebenen149 besitze. Laut Reale manifestiere sich der Philosoph daher nicht in der Dimension der Schriftlichkeit, sondern in der Mündlichkeit. Er ist demnach nur dann Philosoph, wenn er jene „wertvolleren“ Dinge, mit denen ihm ernst ist, nicht aufschreibt, sondern sie der Mündlichkeit vorbehält. Reale dreht den Satz aus dem Phaidros folgendermaßen um: „Wer [. . .] keine ,wertvolleren Dinge‘ besitzt als die, die er den Schriften übertragen hat, ist kein Philosoph.“ 150

Die Dialoge haben demnach bloß einen literarischen oder einen hypomnematischen Zweck, um sich im hohen Alter an bereits erlangtes Wissen zu erinnern.151 Auch wenn die pädagogische vor der erinnernden Funktion der Dialoge zurücktritt,152 erachtet Reale den pädagogischen Aspekt dennoch als zulässige Begründung auf die Frage, warum Platon überhaupt geschrieben habe. Reale sieht, dass die Form der platonischen Dialoge einen Weg darstellt, das „sokratische“ Gespräch in der Schrift zu reproduzieren. Damit bezieht er sich auf das Nachfragen, Prüfen und Beweisen, das laut Sokrates nur im lebendigen mündlichen Dialog verwirklicht werden konnte. In diesem Dialog werde die Seele unmittelbar mit einer anderen konfrontiert.153 Reale sieht demnach neben der hypomnematischen auch eine protreptische Funktion der Dialoge, die, indem sie das sokratische Gespräch nachahmen, die Seele auf die letzte Wahrheit vorbereiten. Der Leser nehme daher, vor allem in den ersten aporetischen Dialogen, die Rolle eines Gesprächspartners neben den Personen der Dialoge ein. Dem Leser werde in den Dialogen ohne Konklusion die Aufgabe zuteil, den letzten Schritt selbst zu tun 149 Hier lautet das griechische Wort der Textstelle, auf die sich Reale bezieht, syntheken (gr. zusammengesetzt). 150 Ebd., S. 98. 151 Platon, Phaidros, 276d. Reale interpretiert die gedächtnisstützende Funktion der Schrift so, dass diese dem Autor und dem Leser ein festgelegtes begriffliches Material zur Verfügung stelle (Reale (2000), S. 115). Die These der Dialoge als hypomnemata macht jedoch keinen Sinn, wenn man die Stelle Siebenter Brief 341e genauer betrachtet. Einige wenige Menschen könnten zwar einen Nutzen aus einer (systematischen) Schrift über die ,ernsthaften‘ Dinge ziehen, wenn sie in der Lage seien, selbst das Wahre nach knappen Hinweisen selbst herauszufinden. Dies passt nicht zu der These, dass Schrift denjenigen zur Erinnerung diene, die bereits Kenntnis im mündlichen Unterricht erlangt hätten. Es bedarf statt des mündlichen oder des schriftlichen Unterrichts vielmehr einer „inneren Verwandtschaft mit der Sache“ (syngene tou pragmatos, Singular) und keiner widerstrebenden Geisteshaltung sowie reichlichen Zeitaufwands und unermüdlicher Anstrengung. Gegen die hypomnemata-These spricht auch, dass Platon selbst sagt, dass diese Sache sich auf „kürzeste Sätze“ (344e) reduzieren lasse (en brachutatois), und wer diese einmal verstanden habe, könne sie nicht mehr vergessen – selbst im hohen Alter nicht (vgl. dazu Reale (2000), S. 116). 152 Ebd., S. 87. 153 Ebd., S. 113 f.

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und von sich aus die Lösung der besprochenen Probleme zu finden. In dieser Hinsicht erkennt Reale die Dialoge auch als eine protreptische Hinführung der Philosophen zu jenen letzten Wahrheiten an, „die keiner ,Schrift‘ jedweder Art, und sei es auch der dialogischen, anvertraut werden können, sondern nur der dialektischen Mündlichkeit“.154 Zwar setzen die Dialoge einen Prozess zur Philosophie in Gang, der jedoch an seine inhaltlichen Grenzen stoße und die zentrale Lehre nicht offen lege, sondern seine „abschließende Konklusion“ der Dimension der Mündlichkeit vorbehalte.155 Auch Krämer geht davon aus, dass der eigentliche Bildungsprozess an das reale Gespräch gebunden ist.156 Die Möglichkeiten der Adressierung im Medium Schrift seien zu gering und philosophisches Wissen sei zu voraussetzungsvoll, um schriftlich an Unbekannte weitergereicht zu werden, so dass Platon aus Verantwortung vor den inhaltlich höchsten Dingen diese der mündlichen Rede vorbehalten habe. Daher beharrt Reale auf seinem Standpunkt, dass die ausschließlich schriftliche Pädagogik die mündliche nicht ersetzen könne.157 Dies liege jedoch nicht daran, dass eine Verschriftlichung der philosophischen Lehre unmöglich sei, sondern weil es „nutzlos und vor allem schädlich sei, jene Lehren der großen Menge zur Verfügung zu stellen“.158 Niederschreiben wäre nur für die von Platon erwähnten wenigen Menschen nützlich, die die Fähigkeit hätten, selbstständig, mit nur wenigen Hinweisen diese „ernsthaften Dinge“, d.h. die letzten Wahrheiten der Prinzipienlehre, herauszufinden. Entgegen seiner vorherigen Annahme, Platons Motiv, Dialoge zu schreiben, habe „ethisch-pädagogisch-didaktische Gründe“ 159, ist Reale dennoch der Auffassung, „nur für diese wenigen zu schreiben, wäre in sich unnütz“.160 Platon habe es für angebracht gehalten, sich über die ihm „ernsthaften Dinge“ allein „auf die beste Weise“ zu äußern, was für Reale die mündliche Rede gewesen sei.161 Der größte Nachteil der Schrift liegt demnach für Reale in der Unmöglichkeit, zwischen den zur philosophischen Erkenntnis Fähigen und Unfähigen unterscheiden zu können. In der Passage des Siebenten Briefes 341d–342a beziehe Platon sich – wie auch schon bereits im Phaidros – auf die Adressaten des „großen Publikums“. Wenn es möglich wäre, ihnen „diese Dinge“ in befriedigender Weise niederzuschreiben, gäbe es für Platon nichts Schöneres als dies zu tun. Es geht demnach auch hier nicht ausschließlich um die Differenz zwischen mündlicher und schriftlicher Vermittlung, sondern um die wenigen zur Philosophie Befähigten und die große Menge. Eine systematische Abhandlung (syngramma) von 154 155 156 157 158 159 160 161

Ebd., S. 114. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 116. Krämer (1982), S. 147. Reale (2000), S. 98 sowie S. 106. Ebd., S. 106. Ebd. Ebd., S. 107. Ebd., S. 106.

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den „ernsten Dingen“, die zusammengefasst in wenige kurze Worte passe, wäre für die meisten nicht nur unnütz, sondern gefährde auch den Fortbestand der Philosophie.162 Wichtig in der gesamten platonischen Schriftkritik ist das Verständnis der verwendeten Begriffe163 grammata, syngrammta, logos gegrammenos und graphe in Bezug auf die Frage, ob Platon in allen drei Fällen von der Schrift im Allgemeinen oder von einer bestimmten Form der schriftlichen Darstellung spricht. Thomas Szlezáks Werk Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie (1985), das die Annahmen der Tübinger Schule aufgreift, fußt auf einer differenzierten Analyse dieser Begriffe. Dabei wendet er sich gegen die Schleiermacher’sche Auffassung, dass Platon die systematische Darstellung von Philosophie als Lehrstück (syngramma) verurteilt habe und die schriftlichen platonischen Dialoge, obwohl sie prinzipielle Nachteile aufweisen, das mündliche Gespräch ersetzen könnten, wenn jene Mängel durch eine künstlerische Annäherung überwunden würden. Szlezák wirft den Verfechtern des traditionellen Paradigmas daher vor, die Selbstaussagen Platons dem eigenen, paradigmatischen Rahmen angepasst zu haben. Man habe daher Platon zuzuschreiben versucht, dass er Schrift nicht im Allgemeinen ablehne, sondern nur bestimmte Formen von Schrift. So sei das Wort syngramma im Siebenten Brief 341c als Traktat, Lehrkompendium oder systematische Abhandlung dargestellt worden.164 Auf diese Weise würde sich syngramma nicht auf die Dialoge beziehen. Reale lehnt jedoch die Annahme explizit ab, dass 162 Hinsichtlich des zweiten „Selbstzeugnisses“ deutet Reale die Passage des Siebenten Briefes 340b–341a so, dass für einen ,ernsthaften‘ Schriftsteller die Dinge, die er dem Geschriebenen anvertraue, nicht die ,ernsthaften Dinge‘ seien, da der philosophische Schriftsteller diese Dinge in der Seele bewahre (Reale (2000), S. 99). Reale trennt dabei zwei inhaltliche Level der platonischen Lehre, die unterschiedlichen Medien anvertraut worden seien. Deswegen folgert er aus 341b–e, in der Platon Dionysios’ Verhalten kritisiert, die „ernsthaften Dinge“ Platons zu wissen behauptet und diese sogar aufgeschrieben habe, dass Platon mit 341b–c diese Dinge ausschließlich der Mündlichkeit anvertraue. Im Text steht jedoch, dass Platon diejenigen kritisiert, die behaupten, die Dinge zu kennen, um die er sich Sorgen macht, und diese geschrieben haben und schreiben werden. Diese könnten von der Sache (pragmatos, Singular) nichts verstehen. Auch gäbe es keine Schrift (syngramma) darüber und werde niemals eine geben. Eine Zeile weiter schreibt Platon explizit, dass diese Dinge eben nicht wie andere Lehrstücke (mathemata) mitteilbar seien, sondern einzig aus gemeinsamer (synousias) Bemühung um die Sache (to pragma, Singular) und aus dem gemeinsamen Leben entstünden – jedoch nicht aus einem einmaligen Vortrag oder gar durch systematische Zusammenschriften. Während Reale hier die Hauptdifferenz mündlich/schriftlich ausmacht, geht es bei Betrachtung der gesamten Stelle um die Unterscheidung zwischen Lehrstücken (mathemata) und der (philosophischen) Sache (pragma). Wenn Reale demnach den Vertretern des traditionellen Paradigmas vorwirft, die „Selbstzeugnisse“ zu ihren Gunsten verdreht und betont zu haben, so lässt sich dies Reale genauso vorwerfen. 163 grammata: vgl. Platon, Phaidros, 274a und 275c; graphe: 275a, 275d und syngramma: 277d. 164 Auch Hans Joachim Krämer spricht in Bezug auf die Textstelle im Siebenten Brief von einer „Gesamtdarstellung der platonischen Philosophie“, die es nicht gibt und niemals geben wird (Krämer (1969), S. 198).

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Platon mit dieser Bezeichnung aussagen wolle, dass er die ihm „ernsthaften Dinge“ zwar in der dialogischen Form, nicht aber in einer systematischen Lehre habe aufschreiben wollen.165 Szlezák versucht hingegen zu zeigen, dass sich der Ausdruck syngramma vielmehr auf eine Prosaschrift statt auf ein Werk in Versform beziehe und daher gerade die platonischen Dialoge als syngrammata aufzufassen seien.166 Das hermeneutische Paradigma, gegen das sich Reale und die „Tübinger Schule“ hauptsächlich richten, ist das Platonbild, das von Friedrich Schleiermacher in seiner programmatischen Einleitung von 1804 zu den Übersetzungen von Platons Werke entwickelt wurde. Dabei lehnen sie vor allem seine Ansicht ab, dass die einzelnen Dialoge einen didaktischen Plan verfolgten, der in Abschnitten von einer elementaren Ebene hin zu einer systematischen philosophischen Ebene vollzogen werde und daher seine vollständige Lehre beinhalte, die die Dialoge wie einen „roten Faden“ durchziehe. Daraus folge der Trugschluss, dass die Dialoge aus sich selbst heraus verstanden werden können und eine Integration der indirekt überlieferten, mündlichen Tradition ausgeschlossen werden könne.167 Aufgrund dieser „Fundamentalthese von der Autonomie der platonischen Schriften“ 168 ordnen Reale und Szlezák die Platonlesart von Leo Strauss dem Schleiermacher’schen Paradigma zu. Darüber hinaus unterstelle Strauss, dass Platon eine „unehrliche“, scheinbare Philosophie mit seiner wahren philosophischen Lehre auf esoterischer und exoterischer Ebene vermischt habe und die Dialoge zwei jeweils inhaltlich entgegengesetzte Philosophien enthielten.169 Giovanni Reale wirft Strauss daher vor, dass diese radikal unterschiedlichen Ebenen keine Kohärenz im Denken des Philosophen erwarten lassen können. Hierin wird die unterschiedliche Auffassung von Philosophie bei Strauss und Reale deutlich: Während Platon für Reale ein objektives, kohärentes, philosophisches System bereits erkannt hat, befindet sich der Philosoph bei Strauss als zetetisch Suchender im steten Denkprozess darauf hin. Was er bereits erkannt hat, sind diejenigen Fragen und alternativen Lösungen, die die Grundprobleme der Philosophie betreffen. Dieses zetetische Wesen der Philosophie müsse er verantwortungsbewusst vor den Erwartungen an konkrete Lösungsansätze des Gemeinwesens schützen, um ein entsprechendes Verständnis von Philosophie auch in Zukunft zu ermöglichen. Da Strauss aus diesen Gründen das Verhältnis von Philosophie und Gemeinwesen mit reflektiert und Platon vornehmlich als Politischen Philosophen liest, schreibt ihm Reale eine „gnostische“ 165

Reale (2000), S. 105. Szlezák (1985), S. 376 ff. 167 Der Katholik Reale diffamiert die Schleiermacher’sche Position daher mit der lutherischen Formel sola scriptura (Reale (2000), S. 69). 168 Ebd., S. 85. 169 Ebd., S. 548. 166

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Platondeutung zu, die eben jene großen metaphysischen Inhalte, wie die Ideenlehre und die Lehre des Demiurgen, als politisch motivierte Mythen behandle.170 Für Thomas Szlezák hat die Dialogtheorie Friedrich Schleiermachers durch den hermeneutischen Ansatz von Leo Strauss zwar neue Ansätze erfahren, jedoch unterlägen diese in ihrer prinzipiellen Denkweise und Zielsetzung keiner grundsätzlichen Modifizierung. So ordnet er in einer Anmerkung im Anhang den Ansatz von Leo Strauss sowie die von ihm beeinflussten Platoninterpreten Alan Bloom, Stanley Rosen als auch Jacob Klein der Schleiermacher’schen Tradition zu, indem sie dessen textimmanente esoterische Lehre weitergeführt haben, obwohl sie ihre Herangehensweise als Neuansatz ausgeben.171 Dass Strauss Schleiermacher jedoch prinzipiell kritisiert, geht aus Szlezáks Anmerkung nicht hervor. Für Szlezák ist Strauss’ weitergeführter Schleiermacher’sche Ansatz einer textimmanenten Esoterik mit einer „reinen und vollständigen Mitteilung“ nicht vereinbar, da die philosophische Lehre der exoterischen verdeckenden Ebene widersprechen müsse und somit nicht länger von einer kohärenten, einheitlichen Philosophie gesprochen werden könne, die sich allein im Grad des Fortschreitens unterscheide. Zwar erkennt Szlezák an, dass Schleiermacher der Esoterik alles Geheimniskrämerische aberkennt und ihr Motiv in der Sorge um Missverständnis begründet sieht. Jedoch kritisiert er, dass Schleiermacher Platons differenzierte Erwägungen über die menschlichen und sachlichen Voraussetzungen philosophischer Verständigung missachtet habe und als Lösung bloß eine „grobschlächtige“ Alternative zwischen einer esoterischen Geheimbündelei einerseits und populistischen Präsentation einer leicht verständlichen, exoterischen Lehre andererseits anbieten würde.172 Szlezák deutet Schleiermachers Verständnis von Esoterik als „esoterische Schriften, die einer geheimen Auslegung zu unterwerfen wären“ 173 und bemängelt seine unkritische Herangehensweise. In diesem Rahmen geht Szlezák vornehmlich auf Stanley Rosen als Vertreter der strauss’schen Herangehensweise ein, der die schriftliche Adressierung an ein breites, öffentliches Publikum als ein relativ neues Phänomen im westlichen Denken erachtet.174 Obwohl Rosen demnach eine positive Haltung zur Esoterik einnehme, unterscheide er 170 Ebd., S. 556. In der Tat betont Strauss mehrfach, dass der Mythos des Demiurgen im Dialog Timaios bloß als eine „sehr wahrscheinliche“ Geschichte zu verstehen sei. Auf die Ideenlehre geht er in seinen Platonkommentaren nicht ein und wertet sie eher als „fantastisch“ ab. „The doctrine of ideas is [. . .] „utterly incredible, not to say, that it appears to be fantastic“ (Strauss (1997h), S. 119). 171 Szlezák (1985), S. 331, Anmerkung 3. Generell bezieht sich Szlezák nicht direkt auf Strauss, sondern auf die von ihm beeinflussten Interpreten, vornehmlich Stanley Rosen. 172 Szlezák (1985), S. 364 ff. 173 Ebd., S. 366. Szlezák bezieht sich auf Schleiermacher (1969), S. 11. 174 Vgl. Szlezák (1985), S. 367, Anmerkung 62. Bislang sei das neuzeitliche Denken einer unbeschränkten Publizität unkritisch auf Platon übertragen worden.

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sich (und demnach auch sein Lehrer Strauss) nicht von anderen Anti-Esoterikern, da er die esoterische Lehre textimmanent in den Schriften selber postuliere.175 Auch wenn Rosen in der Nachfolge Schleiermachers zwar keinen engen Begriff von Esoterik als Geheimlehre verwendet und das Phänomen der Esoterik als ein von der Neuzeit vergessenes erklärt, geht er dennoch von einer textimmanenten Esoterik aus, die er dem antiken Denken aufgesetzt hat. Generell geht Szlezák von einer grundsätzlichen Formulierbarkeit des mitzuteilenden Inhaltes aus, „als das, was im einzelnen Dialog neben dem klar Bezeichneten nur in Andeutungen zugegen ist, nicht als das zwischen und hinter den Zeilen zu Lesende aufzufassen ist, sondern als etwas, das expliziter Formulierung durchaus fähig ist und diese auch erhält – entweder in anderen Dialogen oder in der mündlichen Philosophie“.176 Hiermit macht Szlezák deutlich, dass es in Platons ungeschriebener Lehre nicht um ein unsagbares und nur indirekt mitteilbares Wissen gehe, das sich sprachlich nicht ausdrücken lasse. Szlezáks Hauptansatz in der Interpretation der platonischen Dialoge ist, dass das zentrale Argument der Schriftkritik nach einer „Hilfe für den schriftlichen Logos“ verlange, die nur die mündliche Lehre liefern könne. Jede Lesart, in der sich die schriftliche Rede selbst durch verschleiernde oder literarische Maßnahmen sowohl helfen als auch schützen könne, weist er als spekulativ und historisch nicht haltbar ab. Wie Reale billigt Szlezák zwar einigen platonischen Dialogen zu, dass sie zum eigenständigen Nachvollzug philosophischen Denkens anregen, dieses Phänomen jedoch nicht der spezifischen Leistung der Dialoge entspreche. Die mündliche „Hilfe für den Logos“ sei die tragende Struktur aller platonischen Schriften und bereits in den frühen Dialogen angelegt. Platon habe seine philosophischen Schriften von Beginn an nicht als autarke Schrift konzipiert, sondern in allen Dialogen Raum für mündliche Hilfestellungen gelassen, da reine Schriftlichkeit die Mündlichkeit der Philosophie nicht ersetzen könne.177 175

Vgl. ebd., S. 364, Anmerkung 52. Ebd., S. 358. 177 Ebd., S. 66. Giovanni Reale deutet die zahlreichen Stellen in den Dialogen, in denen Platon ein weiteres, tiefgründigeres Gespräch ausspart, auf einen anderen Zeitpunkt verweist oder die Zuhörer mit Gleichnissen abspeist oder in der Aporie hält, als explizite Verweise auf die „höheren“ Dinge. Wenn Platon demnach von anderen Gelegenheiten spricht, an denen das Gespräch fortgesetzt werden soll, meine er damit, so Reale, den mündlichen Unterricht. Diese Deutung werde auch von der indirekten Tradition seiner direkten Nachfolger bestätigt (vgl. Reale (2000), S. 105). Er interpretiert die mündliche „Hilfe für den Logos“ als einen inhaltlichen Mehrwert, der sich aus keinem Dialog erkennen oder ableiten lasse. Dieser Mehrwert stehe demnach als esoterische, ungeschriebene Lehre hinter den Dialogen und nicht zwischen ihnen, geschweige denn zwischen den Zeilen. Reale wirft daher Szlezák vor, dass er mit seinen Grundannahmen noch im traditionellen Paradigma der Platoninterpretation verhaftet bleibe, weil er keine ungeschriebene systematische Lehre annimmt, die einen inhaltlichen Mehrwert biete. Jedoch zeige Szlezák die Grenzen des traditionellen Paradigmas auf (vgl. Reale (2000), S. 22). 176

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Szlezák hält es dabei für möglich, dass die „Hilfestellungen“ dabei auch auf Verweise innerhalb der Dialoge ausgeweitet werden können, in denen Gesprächsabschnitte sich untereinander „helfen“. Auf diese Weise soll Platon gezeigt haben, wie mündliche Hilfe aussehen könnte.178 Platon habe demnach bewusst sowohl einige Lehren von der Verschriftlichung ausgeschlossen als auch einige andere Lehren zwischen den Dialogen den zum eigenständigen Philosophieren fähigen Lesern vermitteln wollen. In Bezug auf die textimmanenten Hilfestellungen innerhalb der Dialoge gesteht Konrad Gaiser sogar ein, dass die von der „Tübinger Schule“ vertretene Position einer esoterischen, mündlichen Lehre mit einer textimmanenten Esoterik widerspruchsfrei vereinbar sei und diese bewussten Vorgehensweisen des Autors sich nicht gegenseitig ausschließen.179 Doch gerade dieser Versuch einer Synthese dieser beiden „hermeneutischen Paradigmen“ muss an hermeneutischen Prämissen scheitern. Geht man nämlich davon aus, dass Platon die für ihn wichtigsten Dinge nicht oder nur partiell in den Dialogen aufgeschrieben hat, so scheitert ein angemessenes Verständnis an dem mangelnden Vollkommenheitsanspruch. Ohne diesen würden Widersprüche oder Auslassungen als Verweise auf eine ungeschriebene Lehre gelesen, die den Leser gerade nicht dazu motivieren würde, selbsttätig den „notwendigen Anreiz“ aufzubringen, der Lehre zwischen den Dialogen oder den Zeilen nachzuspüren. Es ist daher notwendig für eine Kunst des textimmanent-esoterischen Lesens, den Autor als kohärenten Denker zu begreifen, der seine philosophische Lehre vollständig zwischen den Zeilen geschrieben hat. Es ist genau diese Herangehensweise, die Leo Strauss in den antiken Politischen Philosophen begründet sieht.180 Indem er das Verhältnis von Philosophie und Gemeinschaft in die textimmanente Lesart integriert, geht er über die unpolitische Herangehensweise Schleiermachers hinaus, wodurch sich seine Politische Hermeneutik als eigenständig erweist. 4. Die textimmanente Esoterik von Leo Strauss Historisch betrachtet ist für Leo Strauss die Unterscheidung zwischen esoterisch und exoterisch bis ins 18. Jahrhundert noch bekannt gewesen und ihre Implikationen wurden vor allem noch von Lessing, dem „tiefgründigsten“ Philosophen, gekannt und angewandt.181 Lessings Ansichten der exoterischen Lehre 178

Vgl. Szlezák (1985), S. 328. Vgl. Die Neapler Vorlesungen von Konrad Gaiser in: Gaiser (1984). 180 Strauss (1988c), S. 24; dt. Strauss (2009), S. 27. 181 „Lessing was always at my elbow. This meant that I learned more from him than I knew at that time. As I came to see later, Lessing had said everything that I found out about the distinction between exoteric and esoteric speech and its grounds“ (Strauss (1997a), S. 462). Daher zeichnet Strauss Lessing in Persecution and the Art of Writing als den „tiefgründigsten Geisteswissenschaftler“ aus (Strauss (1988c), S. 28; vgl. auch Strauss (1989b), S. 64). Strauss lobt vor allem Lessings Ansicht, sich allein auf dem 179

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fasst Strauss dabei folgendermaßen zusammen: Es müsse zwischen einer exoterischen und ihrer esoterischen Präsentation der Wahrheit aus kluger Vorsicht oder aus Zweckdienlichkeit unterschieden werden, wobei sich die exoterische Darlegung keiner philosophischer Einsichten bediene, sondern sich den Erwartungen vor allem moralisch Unterlegener anpasse. Lessing gehe davon aus, dass es bestimmte Wahrheiten gebe, die es zu verstecken gelte. Ebenfalls denke er, dass auch die beste politische Verfassung zwangsläufig imperfekt sei und daher das theoretische dem praktischen (politischen) Leben überlegen sei. Zusammenfassend lasse sich daraus schließen, dass eine enge Verbindung zwischen exoterischer Lehre und einer kritischen Reflexion des Verhältnisses von philosophischem und politischem Leben bestehe.182 Nach dem Tode Lessings schien das Bewusstsein für exoterisches Schreiben aus politisch-philosophischen Gründen verdrängt worden zu sein, wofür Strauss Friedrich Schleiermacher die Schuld gibt. Dieser habe eine neue, bis heute gültige Platon-Lesart hervorgebracht, als deren Verdienst in der Einleitung zu Platons Werke (1804) zwar die Betonung der „literarischen Kunstgriffe“ Platons gezählt werden müsse. Andererseits sei es ihm jedoch nicht gelungen, die wesentliche Problematik der Esoterik zu erkennen. Schleiermacher gehe nämlich davon aus, dass es nur eine platonische Lehre gebe, die textimmanent in den Dialogen vorliege, und es eine unbegrenzte Anzahl von Schwierigkeitsgraden auf dem Weg zum richtigen Verstehen gebe. Es sei somit dieselbe Lehre, die der Anfänger noch unangemessen und der Fortgeschrittene angemessen verstehe. Für Schleiermacher sei Platons philosophische esoterische Lehre nicht absolut versteckt, sondern nur für die unaufmerksamen Leser. Daher sei Aufmerksamkeit die einzige Voraussetzung, die philosophische Lehre verstehen zu können, die sich mit einer exoterischen „angewachsenen Haut“ 183 vor dem Unaufmerksamen, aber auch nur vor diesem, verstecke. Daraus folge, dass der philosophische Autor seine schriftliche Lehre zunächst vor allen verberge, letztendlich aber jeder, der genügend Zeit und Aufmerksamkeit mitbringe, diese verstehen könne. Die einzige Differenzierung der in Platons Dialog Phaidros so hochgesteckten Kenntnis der Naturen der Adressaten laufe bei Schleiermacher einzig und allein auf eine Unterscheidung zwischen aufmerksamen und unaufmerksamen Lesern hinaus. Dabei weise Platon selbst auf einen weiteren wichtigen Unterschied in den letzten Sätzen des Phaidros hin. Philosophie bedürfe nämlich einer wahren Konversion, die gänzlich von der Haltung eines Anfängers zu unterscheiden sei.184 Jener zur Philosophie konvertierte Weg des fleißigen Studiums der Klassiker vorbildlichen Philosophen nähern zu können (vgl. Lessings 71. Literaturbrief zitiert in: Strauss (1989b), S. 71). 182 Vgl. Strauss (1989b), S. 66. 183 Ebd., S. 68. 184 Vgl. ebd.

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„perfectly trained student“ habe erkannt, was Philosophie wirklich sei – nämlich Streben nach Wahrheit – und was für Opfer sie verlange.185 Der Unterschied zum Nicht-Philosophen liegt nicht im Grad des Wissens, das man erreicht hat, sondern im philosophischen Wesen und der geistigen Haltung des Dialogpartners: „[It] is a difference not of degree but of kind.“ 186

Schleiermacher habe es demnach nicht geschafft, zwischen dem Wesen eines Nicht-Philosophen und einer philosophischen Natur zu unterscheiden, was Strauss als die fundamentale Grundlage für eine exoterische Rhetorik erachtet.187 Seine Kritik an Schleiermacher gilt daher seiner Herangehensweise, die die politisch-philosophischen Gründe des „Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ nicht erkannt hat und daher die textimmanente Esoterik als bloßes Übungsstück, gepaart mit literarischem Schmuck, dermaßen geprägt hat, dass die ursprüngliche Auffassung einer politisch-philosophisch motivierten textimmanenten Esoterik, wie sie Lessing noch kannte, immer mehr an Bedeutung verloren hat. Die von Platon im Phaidros dargestellte pädagogische Seelenführung der „kunstmäßigen“ Rede, die sowohl Philosophen als auch Nicht-Philosophen adressatengerecht anspricht, ist für Strauss auch im Medium Schrift möglich. Dass sich Leo Strauss dabei mit Platons Siebenten Brief und den Implikationen der Schriftkritik aus dem Phaidros intensiv auseinandergesetzt hat, zeigen seine Anmerkungen in seinem Aufsatz Farabi’s Plato.188 Er betont Farabis Verweis auf die Textstelle 275c im Phaidros über die Schwierigkeit, im Medium Schrift zwischen für Philosophie geeigneten und ungeeigneten Lesern zu unterscheiden. An dieser Stelle verweist Strauss zusätzlich auf den Siebenten Brief 341d–e, auch wenn er in seiner weiteren Argumentation Platons Briefe nicht mit einbezieht.189 Dieser Satz in der umstrittenen Passage des Siebenten Briefes besagt, dass Platon, wenn er denn schrieb, es auf sorgfältigste Weise getan habe, so dass das philoso185 „In spite of its highness and nobility, [philosophy] could appear as Sisyphean or ugly, when one contrasts its achievements with its goal“ (Strauss (1989x), S. 40). 186 Strauss (1989b), S. 68 und Schleiermacher (1817), S. 12. Da für Platon Tugend Wissen ist, ist der Anfänger nicht nur intellektuell, sondern vor allem moralisch dem Philosophen unterlegen. Die Moral der Anfänger basiert nicht auf wahrem Wissen durch Einsicht, sondern auf einer vulgären Moral, die auf Gewohnheiten und Gesetzen basiert (vgl. Platon, Politeia, 430c und Phaidon, 82a–b). Eben diese Anfänger sind es, denen in der Politeia auch die „noble Lüge“ erzählt werden muss, um die Ordnung zu etablieren und zu bewahren (vgl. Platon, Politeia, 414b). 187 Strauss (1989b), S. 69. 188 Strauss (1945), S. 375; zu Strauss’ Auseinandersetzung mit dem Siebenten Brief siehe auch FN 41 in Strauss (1945), S. 373. 189 Um jegliche Kritik gegen sein Platonbild von vornherein abzuwehren und eine Diskussion über die Echtheit der Briefe Platons zu vermeiden, bezieht sich Strauss in seinen Argumentationen und Darstellungen nicht auf die umstrittenen Briefe (vgl. Strauss (1989n), S. 167). Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass er sich mit Platons Schriftkritik nicht intensiv mit auseinandergesetzt hat.

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phische Wissen, das für die meisten Menschen nichts Erstrebenswertes sei, nur von einigen wenigen, die dieses von selbst „vermittels eines leisen Fingerzeiges aufzufinden imstande wären“, erkannt werden könne. Platon könne sich nichts Schöneres vorstellen als seine philosophischen Erkenntnisse für alle der Sache angemessen verständlich niederzuschreiben und auszusprechen, doch dieses sei durch die Sache der Philosophie als anstrengende, tägliche Lebensweise (340e) unmöglich. Strauss ist anhand dieser Selbstaussage daher der Meinung, dass Platon nichts davon abgehalten hätte, über die für ihn wichtigsten Dinge schreiben zu können, indem er diese ausschließlich jenen mitteilt, die sie „vermittels eines leisen Fingerzeiges“ selbst erkennen können, während er sie gleichzeitig vor der Mehrheit der Leser verbirgt.190 Der platonische Dialog sei dadurch frei von der wesentlichen Schwäche der Schrift, die durch die allgemeine Zugänglichkeit nicht wissen würde, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.191 Durch diese Verbindung der Problemdarstellung aus Phaidros 275c und deren Lösung aus dem Siebenten Brief 341d–e folgert Strauss, dass demnach alle ernsten, philosophischen Schriften als solche (all writings as such) exoterisch sein müssen. Strauss hat demnach die im Phaidros aufgeführten Nachteile der Schrift reflektiert, sieht jedoch in der von Platon erwähnten „sorgfältigsten“ Vorgehensweise eine Möglichkeit, jenen „Feuerfunken“ der philosophischen Erkenntnis in der Seele der zur Philosophie Fähigen (341c) auch durch das Medium Schrift erzeugen zu können. Daher setzt Strauss im ersten Satz seines Kommentars zu Platons Politeia die Möglichkeit von mündlichen und schriftlichen Reden, philosophische Erkenntnis zu erlangen, gleich. „Generally speaking, we can know the thought of a man only through his speeches oral or written.“ 192

Um den philosophischen Funken in der Seele zu entfachen, habe Platon daher keine systematischen Lehrschriften (syngrammata), sondern stattdessen Dialoge geschrieben, weswegen Strauss demnach zwischen verschiedenen Formen der

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Strauss (1946b), S. 350. Strauss fügt der Diskussion dieser Thematik in seinem Politeia-Kommentar den Nebensatz „as every writing does“ hinzu (Strauss (1997h), S. 52). Jede Schrift sage demnach unbewusst verschiedene Dinge zu verschiedenen Lesern – ein Problem, das Platons Sokrates im Medium der Mündlichkeit nicht bedacht habe, da er den Fehler begangen habe, zu allen gleich zu sprechen (vgl. ebd., S. 53). Erst die Politische Rhetorik der platonischen Dialoge ermöglicht es durch ihre „sorgfältige“ Kunst des Schreibens, unterschiedlich zu unterschiedlichen Adressaten zu sprechen. 192 Ebd., S. 50. Über die platonische Schriftkritik hinaus betont Strauss, dass der Zugang zu den platonischen Schriften durch die christlich-platonische Wirkungsgeschichte vorgegeben ist, der einerseits die Interpretationen, Übersetzungen und Editionen zu verdanken sind, andererseits der grundlegende Unterschied zwischen Christentum und paganem Platonismus durch sie verwischt wurde (vgl. ebd., S. 61). 191

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Schrift unterscheidet und in seinem Politeia-Kommentar explizit die Form als zum philosophischen Inhalt zugehörig darstellt.193 Wie Platon lehnt Strauss nicht jede Form von Schriftlichkeit ab, sondern postuliert eine bestimmte Art des Gebrauchs der Schrift, weswegen er einen sehr engen Begriff von einer philosophischen Schrift (writing as such) und einem Buch vertritt.194 Der philosophische Autor ist sich der Rolle der Philosophie in ihrem politischen Umfeld bewusst und kennt die Schwächen der mündlichen, aber vor allem auch die Gefahren einer schriftlichen Vermittlung seiner philosophischen Erkenntnisse. Allerdings wisse er auch, diese durch eine „kunstgerechte Rhetorik“ zu kompensieren, die den für Philosophie Geeigneten kleine Hinweise in einer exoterischen Darstellung gibt und ihnen statt einer systematischen Abfassung der philosophischen Lehre den Weg zum eigenständigen Denken aufzeigt.195 Das Kriterium für eine philosophische Schrift oder ein Buch in Strauss’ engem Sinn stellt dabei das Kompositionsprinzip der „logographischen Notwendigkeit“ dar, das Platon ebenfalls als Maßstab für die gute Rede nimmt.196 In einem philosophischen Buch sei nichts vom Autor unbeabsichtigt oder willkürlich, sondern notwendig an der Stelle, an der es geschrieben wurde. Insofern weist Strauss’ textimmanent-esoterische Politische Rhetorik des sorgfältigen „Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ die Möglichkeit auf, die von Platon im Phaidros 275c aufgeführte größte Schwäche der Schrift zu umgehen und „in einer schriftlichen Veröffentlichung zu einer Minderheit zu sprechen, während man der Mehrzahl seiner Leser gegenüber schweigt“.197 193 Ebd., S. 52, vgl. auch die Position von Szlezák (1985), S. 376 ff. sowie Platons Selbstaussage im Siebenten Brief 341c. 194 Strauss (1945), S. 375. 195 Zum Verständnis von Philosophie als Lebensweise, die keine systematische Lehre sein kann, siehe Strauss (1989p), S. 259. 196 FN 4 in: Strauss (1997h), S. 60, vgl. auch Strauss (1997e), S. 374, Strauss (2004a), S. 394 sowie Platon, Phaidros, 262a–b. 197 Strauss (1988c), S. 25; dt. Strauss (2009), S. 29. Michael Frazer setzt sich in seinem Artikel Esotericism Ancient and Modern (2006a) mit der Unterscheidung zwischen moderner und antiker Esoterik auseinander, die als zwei unterschiedliche Motive diskutiert werden, warum philosophische Autoren ihre „wahre Lehre“ versteckt haben. Moderne Esoterik, die für Frazer schwächere Form der beiden, gehe auf Verfolgung und Zensur zurück, während die antike Esoterik dem Konflikt zwischen Gesellschaft und Philosophie entstamme. Strauss, so Frazer, löse diese Unterscheidung auf und erweitere die Motiviation für exoterisches Schreiben um das pädagogische Element. Strauss schreibe demnach selbst textimmanent esoterisch über Esoterik, jedoch sei diese an die antike Auffassung angelehnte Esoterik eine Maske, die als eine Art „Trophäenjagd“ potentielle Philosophen für den philosophischen Text begeistern soll. Demnach gebe es, so Frazer, für Strauss keine „philosophische Lehre“, sondern lediglich eine esoterische Rhetorik, die durch den vermeintlich „verborgenen Schatz“ die Neugier wecken soll. Catherine und Michael Zuckert bestreiten hingegen vehement, Strauss habe selbst textimmanent esoterisch geschrieben. Statt eine esoterische Lehre zwischen den Zeilen vermitteln zu wollen, schreibe er lediglich mit „pedagogical reserve“ (Zuckert/Zuckert (2008), S. 136).

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5. Zur Notwendigkeit der Verschriftlichung von Philosophie „Sie tun den Denkern Unrecht, erwiderte Raphael, sie sind nicht egoistisch genug, um ihre Wahrheit zu verbergen; mehrere haben sie in ihren Schriften mitgeteilt; und wenn die Herren der Welt das Licht zu empfangen bereit wären, sie könnten sehen und verstehen.“ Thomas Morus198

In einem Zeitalter der Publizierfreudigkeit und letztendlich -pflicht von Wissenschaft stellt sich die Frage, wieso ein Philosoph sich überhaupt die Frage stellt, schreiben zu müssen. Die bislang noch offen gebliebene Frage von äußerster Wichtigkeit in dem Verhältnis von Philosophie und Schriftlichkeit ist daher die nach der Notwendigkeit der Verschriftlichung von Philosophie. Warum opfert ein philosophischer Autor eine beachtenswerte Menge an Zeit, Kosten und Mühe für sein Schreiben? Was veranlasst ihn zu dieser herabwürdigenden Arbeit?199 In welchen Fällen ist die Schrift trotz ihrer Nachteile der mündlichen Vermittlung vorzuziehen? Die Abwägungen der Vor- und Nachteile sowie die gesellschaftlichen und noetischen Auswirkungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit spielen eine tragende Rolle in medienwissenschaftlichen Untersuchungen. Vor allem Jack Goody akzentuierte die verstärkte situative Eingebundenheit von Wissen in mündlichen Kommunikationsformen: Allein was sozial relevant und nützlich ist, wird mündlich weitergegeben, alles andere vergessen.200 Der Jesuitenpater Walter Ong betont dabei die „Präsenz des Wortes als Klang“ im kommunikativen Austausch,201 wobei gesprochene Wörter immer an die Situation und den Gesprächspartner gebunden sind. Die gesprochene Aussage verschwindet in dem Moment des Aussprechens, weswegen mündlich überliefertes Wissen zu einer wertvollen Ware wird, deren Bewahrung eine konservative, an Traditionen gebundene Denkweise bedingt. Erst das phonetische, griechische Alphabet ermöglichte eine vollständige und kontextunabhängige Wiedergabe von gesprochenen Aussagen und machte somit die Notwendigkeit des mühsamen Memorierens überflüssig. „[Schriftstücke] konnten als Artefakt herumliegen, um bei Bedarf gelesen zu werden; Vergessen rächte sich nicht.“ 202

Die phonetische Schrift entbindet aber nicht nur vom Kontext der konkreten Gesprächssituation, sondern auch von Kultur, Raum und Zeit sowie der sozialen 198

Morus (2009), S. 37. Zur im Vergleich zum vita comtemplativa niedrigeren Bewertung der Herstellung schriftlicher „Gebrauchsgüter“, auch wenn diese intellektueller Natur sind, vgl. Hannah Arendt, Vita activa (2008). 200 Goody (1981), S. 48. 201 Ong (2001), vgl. auch Ong (1987), S. 71. 202 Havelock (1986), S. 75. 199

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Hierarchie.203 Durch den Prozess von Übersetzungen204 und den Austausch von Texten unterschiedlicher Kulturen bewirkt die zunehmende Literalität einen überregionalen Zugang zu Wissen und eine Beschleunigung der Erstellung von Dokumenten, was durch die Erfindung und weitreichende Nutzung der Druckpresse durch Johannes Gutenberg noch verstärkt wird. Dieser Grad an Verbreitung des Mediums Schrift war zu Platons Zeiten um 400 v. Chr. noch nicht erreicht. Zwar ist Papyrus aus Ägypten reichhaltig vorhanden gewesen, doch bezeugen die Technik des Palimpsestierens und die Verwendung von Wachstafeln in Schulen und Briefen die Kostbarkeit der Materialien, mit denen Gedanken schriftlich fixiert wurden. Das geschriebene Wort hatte den Wert einer begrenzt vorhandenen Ware.205 Ebenso war die Technik des Buchbindens206 und -produzierens in jener Epoche noch nicht auf dem Niveau vor der Erfindung der Typographie angekommen.207 Diese Details – sowohl in den materiellen als auch den qualitativen Einschränkungen der Schreibkunst – lassen einen über Platons Gesamtwerk noch mehr erstaunen. Zugleich kann aus den materiellen Grenzen der Schriftlichkeit geschlossen werden, dass der schriftkundige Athener beim Lesen und Schreiben sehr wohlüberlegt und sorgsam vorgegangen sein muss.208 Der materielle und zeitliche Aufwand lässt außerdem darauf schließen, dass jemand etwas besitzen muss, das er weitergeben möchte, wenn er diese Kosten auf sich nimmt. In Der Meister und seine Schüler analysiert Georg Steiner das besondere Beziehungsverhältnis zwischen Meister209 und Schüler und geht expli203

Phonetische Schrift ist nicht mehr nur Priestern und Schriftgelehrten zugänglich, sondern erlebt durch das Klang gebundene phonetische Alphabet eine enorme Demokratisierung und liegt „theoretisch in Reichweite der Kinder“ (ebd., S. 72), wenn die sozialen Bedingungen der Schulbildung es ermöglichen. Lesen und Schreiben sind nicht länger elitär und an den geheimen, religiösen Bereich wie z. B. in semitischen literalen Gesellschaften gekoppelt (vgl. ebd., S. 71 f. und auch Goody (1981), S. 283 ff.). 204 Zur Unterscheidung und Problematik von Übersetzen, Übertragen und Transkribieren gerade von Texten aus nicht-alphabetisierten Kulturen in alphabetisierte vgl. Havelock (1986), S. 73. 205 Vgl. ebd., S. 159. 206 So beschreibt das Wort biblos das Material Papyrus oder das auf Papyrus Geschriebene. Die Übersetzung Buch von biblion ist dahingehend irreführend, da das Diminutiv vielmehr ein einfaches, zusammengefaltetes Blatt meine (vgl. ebd., S. 158). 207 Michael Giesecke beschreibt ausführlich, dass Gutenbergs Absicht, typographischen Druck zu entwickeln, darin gelegen habe, das Schreiben kalligraphisch zu optimieren und diesen Vorteil gewinnbringend durchzusetzen. Die Verknüpfung der neuen Technologie mit gesellschaftspolitischen Ideen und Utopien sei für ihre Durchsetzung zwar enorm bedeutsam, doch ging Gutenbergs Motivation eine standardisierte Ästhetisierung vor (vgl. Giesecke (1991), S. 141 ff.). 208 Vgl. auch Havelock (1990), S. 158: „Die geschriebene Sprache wurde nicht in einem solchen Umfang hergestellt, dass sie die Aufmerksamkeit hätte erlahmen lassen [. . .] können.“ 209 Steiner unterscheidet dabei zwischen Meister und Lehrer. Während der Lehrer vor allem Vermittler von bestimmten Fähigkeiten und Wissen ist und so primär als Me-

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zit auf Leo Strauss ein. Steiner erörtert dabei Gründe für als auch gegen die Weitergabe von philosophischer Erkenntnis im Medium Schrift. Darüber hinaus geht er auch auf das notwendige Verantwortungsbewusstsein zwischen dem Grad von Vertrauen und Verletzlichkeit zwischen Lehrer und Schüler ein, das vor allem durch Wissensgebiete verstärkt werde, die wie Philosophie, Kunst oder Religion per se emotional aufgeladen sind.210 In einer Lehrsituation sieht Steiner dabei stets die Gefahr, dass Schüler entweder entmutigt oder desinteressiert werden können und der Zugang zum jeweiligen Wissensgebiet für sie somit verbaut ist.211 In der Konstellation Meister-Schüler problematisiert Steiner vor allem die Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei der Überlieferung von Wissen. Hierbei stellt er Pythagoras, Sokrates, Jesus und auch Plotin in eine Reihe, die ihre Lehren nicht dem geschriebenen Wort anvertraut haben. „Vor der Schrift, während der Geschichte der Schrift und ihr zum Trotz ist das gesprochene Wort vom Akt des Lehrens nicht zu trennen. Der Meister spricht zum Jünger.“ 212

Ein wichtiger Punkt ist daher auch die Erwägung, warum einige Meister sich geweigert haben, Wissen überhaupt weiterzugeben. Ein erdenklicher Fall wäre, dass das erkannte Wissen als zu gefährlich angesehen wird, wenn es in falsche Hände gerät. Dieses Schweigen aus Verantwortung lässt sich dabei auf die zu vermittelnde Sache213, aber auch auf mögliche unerwünschte Auswirkungen beziehen, die das Wissen bei seinen Lesern oder Hörern auslösen könnte. Meister könnten in dieser Hinsicht aber auch ungeeignete Schüler abweisen, die ihnen unwürdig und illoyal erscheinen. Legendär ist dabei die eingeweihte Gemeinschaft von Akusmatikern und Mathematikern der Pythagoreer geworden. Um als Mitglied vor dem Meister und seinen persönlichen Lehren zugelassen zu werden, musste der Anwärter jahrelang strengste Regeln und Diäten einhalten, sich im Schweigen üben, bis er in die allein mündlich weitergegebene esoterische Geheimlehre eingeweiht wurde. Grund für diese Verschwiegenheit können dabei jedoch nicht nur die mystisch angehauchte Seelenwanderungslehre und die metaphysische Zahlensymbolik sein, sondern auch die politischen Implikationen der

dium der Vermittlung betrachtet wird, stehen bei dem Meister die Persönlichkeit und die gegenseitige emotionale Bindung zu seinen Schülern im Vordergrund. 210 „Ein charismatischer Meister [. . .] legt mit radikal ,totalitärem‘, psychosomatischem Griff Hand an den lebendigen Geist seiner Studenten oder Jünger. Die Gefahren und Privilegien sind grenzenlos“ (Steiner (2009), S. 38; vgl. auch S. 118). 211 Gefahr sieht er vor allem in der „Anti-Lehre“, einem Unterrichtsstil, der durch Routine und bloß utilitäre Ziele gekennzeichnet ist. Diese Lehre ist für Steiner „mörderisch“, da sie das zu Übermittelnde in Langeweile und graue Leere verwandelt, statt die mögliche Sensibilität für das Thema in der Seele des Schülers wahrzunehmen (vgl. ebd., S. 29). 212 Ebd., S. 18. 213 Die Tragödie Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt behandelt diese verantwortungsvolle Verschwiegenheit von Wissenden.

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Lehre: nämlich die Herrschaft der Pythagoreer über die Stadt.214 Anders sieht es jedoch aus, wenn ein Meister wie Platon ein paar wenigen Auserwählten das vermitteln kann, wovon er denkt, dass sie es verstehen und in seinem Sinne behandeln, während den Ungeeigneten eine verwässerte Version dargeboten wird.215 Insofern wäre das Finden einer geeigneten Zuhörerschaft für die adäquate Vermittlung des erkannten philosophischen Wissens der Hauptgrund für einen Philosophen, sich öffentlich zu äußern. Dass dieses Ziel, überhaupt geeignete Schüler zu finden, einem Meister verwehrt bleiben kann, zeigt sich an Friedrich Nietzsche sowie seiner autobiographischen Figur Zarathustra. Frustriert schreibt Nietzsche an Franz Overbeck: „Ich habe noch bei Lebzeiten Jünger nötig: und wenn meine bisherigen Bücher nicht als Angelruten wirken, so haben sie ,ihren Beruf verfehlt‘.“ 216

Seine Schriften dienen Nietzsche daher als „Angelruten“, um potentielle Schüler für sein Denken zu begeistern, da er auf direktem Wege keine Schüler gefunden hat, die seiner Lehre würdig gewesen sind oder ihn überhaupt verstanden haben. Insbesondere im zweiten Buch klagt Zarathustra, dass er es ihm nicht gelinge, seine Lehren zu verbreiten. „Nach einem solchen Ausrufe aus der innersten Seele keinen Laut von Antwort zu hören, das ist ein furchtbares Erlebnis.“ 217

Nietzsche verzweifelt daran, „dass in diesen fünfzehn Jahren auch nicht ein Mensch mich ,entdeckt‘ hat, mich nötig gehabt hat, mich geliebt hat“.218 Er hat den Willen zur Kommunikation und ein „Verlangen nach Schülern und Erben“ 219, die er dahingehend beeinflussen kann, dass er „Gelübde und Schwüre empfangen würde“.220 Stattdessen trifft er jedoch immer nur auf die „wunderliche Form jener ,rasenden Dummheit‘, welche sich gern als Tugend anbeten lassen möchte“ 221. Nietzsches Problem ist, dass er sich erst ein Publikum schaffen muss, das geeignete Ohren hat zu hören. Deswegen bedient er sich des Mediums Schrift, obwohl das „Beste und Wesentliche sich nur von Mensch zu Mensch mitteilen“ 222 lässt, und will den Schülern „die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen zu hören“.223 Heinrich Meier schreibt Lessing und Nietzsche die initiativen Rollen zu, die Strauss zur Wiederentdeckung der politisch moti214 215 216 217 218 219 220 221 222 223

Vgl. Steiner (2009), S. 20. Ebd., S. 13. Brief an Franz Overbeck im November 1884 in: Nietzsche/Overbeck (2000). Brief an Franz Overbeck vom 17. Juni 1887 in: Ebd. Brief an Franz Overbeck in 1887 in: Ebd. Brief an Franz Overbeck vom 31. März 1885 in: Ebd. Brief an Franz Overbeck vom 10. Juli 1884 in: Ebd. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885 (KSA 11), 228. Brief an Franz Overbeck im November 1884 in: Nietzsche/Overbeck (2000). Nietzsche, Zarathustra (KSA 4), 18.

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vierten esoterisch-exoterischen Schreibweise geführt haben.224 Auch Strauss bezeichnet sich selbst in einem Brief an Karl Löwith als „alten Nietzscheaner“, da Nietzsche ihn „zwischen seinem 22. und 30. Jahr so beherrscht und bezaubert hat, dass [er] alles, was [er] von ihm verstand [. . .] aufs Wort glaubte“.225 Auch wenn Shadia Drury Strauss’ späteren Schriften gerne nietzscheanischen politischen „Willen zur Macht“ unterstellt, setzt sich Strauss vor allem in dem Aufsatz Note on the Plan of Nietzsche’s Beyond Good and Evil (1973) sehr kritisch mit Nietzsche auseinander. Was er von ihm jedoch übernommen hat, ist sein Verständnis der philosophischen Natur, das eng mit den politisch-philosophischen Gründen für Notwendigkeit zur esoterischen Maskierung der Philosophie bei gleichzeitiger Offenlegung der „Angelruten“ verbunden ist.226 Daher übernimmt Strauss die Metapher der „Angelruten“, dass der Philosoph in der Öffentlichkeit nach potentiellen Philosophen „fischen“ müsse.227 Auch in seiner Untersuchung über Maimonides’ Führer der Unschlüssigen stellt Strauss den signifikanten Fall dar, in dem die Verschriftlichung von Wissen notwendig ist. Es sei den Talmud-Gelehrten explizit verboten gewesen, die Geheimnisse des jüdischen Mystizismus (wie ma’aseh merkabah) auch nur einem einzigen Mann weder schriftlich noch mündlich zu erklären, wenn er nicht weise sei und sie von sich aus erkennen würde. Der einzig zulässige Fall schriftlicher, öffentlicher Verbreitung liegt vor, wenn die Gefahr besteht, dass das Wissen ohne diese Vermittlung für immer verloren ginge: „Only the necessity of saving the law can have caused him to break the law.“ 228

Eine solche Notwendigkeit schriftlicher Kommunikation existierte vor allem aufgrund der lang andauernden jüdischen Diaspora. Während mystische Geheim224

Vgl. Meier (1996), S. 15. Brief von Leo Strauss an Karl Löwith vom 23. Juni 1935 in: Strauss (2001d), S. 648. 226 Vgl. Drury (2005), S. 170 ff. Strauss schätzt Nietzsche als grundsätzlich antimodernen Denker, der den Natur-Begriff und die antike (vorsokratische) Philosophie stark macht. Er lehnt jedoch Nietzsches Moralphilosophie, die letztendlich in Relativismus führt, in dem Aufsatz Note on the Plan of Nietzsche’s Beyond Good and Evil (1973) über das Werk Jenseits von Gut und Böse explizit ab. Strauss erkennt durch Nietzsche die Gefahr des Relativismus, die die schützende Atmosphäre des menschlichen Handelns zerstöre und den esoterischen Charakter der Theorie als „platonische Vorstellung eines Trugbildes“ notwendig mache. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Strauss Nietzsches Relativismus übernimmt. Zur Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von Nietzsche vgl. das Kapitel Politische Rhetorik. 227 Vgl. Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 205. 228 Strauss (1988e), S. 49. An dieser Stelle soll vor allem die Notwendigkeit, philosophische Wahrheiten schriftlich festzuhalten, dargestellt werden. Zur Diskussion von Strauss’ Deutung von Maimonides als „ungläubigen“ Philosophen, dessen Werk sowohl esoterische Themen der Bibel als auch der Philosophie behandele, kann hier nur auf die einschlägigen Aufsätze von Alfred Ivry und Rémi Brague in Leo Strauss’ Thought (1991) verwiesen werden. 225

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nisse der Nachwelt ausschließlich mündlich vor Ort in Israel vermittelt wurden, wurde die traditionelle orale Kontinuität durch die politischen Umstände unterbrochen. Als die externen Bedingungen die mündliche Vermittlung und Bewahrung des Wissens zunehmend unsicherer machten, entschloss sich Maimonides, die geheime Lehre – trotz des talmudischen Verbots – zu verschriftlichen. Strauss arbeitet seine wohl überlegte Vorgehensweise heraus: Maimonides habe nämlich einen Weg zwischen der unmöglich gewordenen Gehorsamkeit und der offensichtlichen Verletzung des Talmuds gefunden, indem er es als seine Pflicht betrachtet habe, die biblischen Geheimnisse so zu fixieren, wie es für eine mündliche Vermittlung angesetzt war. „[H]e had to become a master of the art of revealing by not revealing and of not revealing by revealing.“ 229

Wenn das Gesetz verlangt, dass nur ein Weiser mündlich in die Geheimnisse eingeweiht werden darf, stellt dies in einer direkten Lehrer-Schüler-Konstellation insofern kein Problem dar, als der Lehrer den Schüler langfristig durch Gespräche auf seine Tauglichkeit hin beobachten und prüfen kann. Er kann Hinweise geben und Zweifel an bereits Erlerntem säen und dadurch die kognitiven Fähigkeiten testen und ausbilden. Über die äußerste Notwendigkeit der Bewahrung von Wissen in der Diaspora und über die Verbreitung des eigenen Wissens hinaus besteht ein weiterer Grund in der Verschriftlichung von Philosophie darin, die Philosophie als Philosophieren zu erhalten. Platon erörtert im Phaidros das Ideal der seelenführenden Vermittlung von Wissen in der „kunstmäßigen Rede“, das sich gegen die leblose Autorität „sophistischer Buchgelehrsamkeit“ 230 richtet. Die seelenführende Pädagogik um der Philosophie willen läuft dabei Gefahr, den potentiellen Philosophen zu enttäuschen und ihm den Zugang zur Philosophie zu verbauen. Schafft es der Lehrer jedoch, ein Feuer in der Seele des Schülers für das Thema zu entfachen, wird die philosophische „Seelenverwandtschaft“ ersichtlich, da auch der Lehrer für dieses Thema brennt. Diese Erkenntnis der Seelenverwandtschaft kann in eine Form der gegenseitigen Anerkennung münden, die vor allem Alexandre Kojève in seiner Auseinandersetzung mit Strauss in Tyranny and Wisdom betont.231 Prinzipiell, so Kojève, unterschieden sich Staatsmann und Philosoph in dieser Hinsicht nämlich nicht, da beide nach Anerkennung strebten. Während jedoch der Politiker die Anerkennung vieler erstrebe, möchte der Philosoph allein von Wenigen anerkannt werden. Da Anerkennung jedoch nur befriedige, wenn diese von Würdigen erfolge, müss229

Strauss (1988e), S. 52. Steiner (2009), S. 23. 231 Zur Auseinandersetzung zwischen Kojève und Strauss in ihrer unterschiedlichen Auffassung von hermeneutischer Politik und Politischer Hermeneutik vgl. das Kapitel Hermeneutische Politik. 230

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ten beide, Philosoph und Politiker, alles daran setzen, mit politischer oder philosophischer Pädagogik (political or philosophical pedagogy) die Menschen zu würdigen Bewunderern zu erziehen.232 Der isolierte Philosoph, der sich nicht für andere interessiert, könne für seine eigene philosophische Erkenntnis keinen Wahrheitsanspruch behaupten, wenn er sie nicht anderen gegenüber eingehend prüft. Wenn der Philosoph daher nicht behaupten könne, dass seine Wahrheit von einer noetischen Vision oder eine göttlichen Offenbarung stamme, hat er über die anerkennende Bewunderung anderer hinaus die Pflicht seiner philosophischen Erkenntnis gegenüber, diese anderen mitzuteilen. Eine solipsistische Haltung ohne eingehende Prüfung der Erkenntnis durch andere wäre vielmehr anti-sokratisch. Gerade da Philosophie manische Züge hat, bedarf sie der rationalen, sozialen Kontrolle anderer.233 Strauss antwortet auf Kojève in Restatement on Xenophon’s Hiero, dass der Unterschied zwischen Philosoph und Politiker darin liege, dass der Politiker von einer großen Menge, dem demos, anerkannt oder gar geliebt werden möchte und dabei allerdings die Naturen der Menschen nicht differenziere.234 Der Philosoph in Strauss’ strengem Sinn lehnt daher das politische Leben nicht nur deswegen ab, um sich allein seiner Forschung zu widmen, sondern weil ihm an einem sehr speziellen Typ Mensch liegt, den philosophischen Naturen der potentiellen Philosophen und seinen philosophischen Freunden.235 Die Zuneigung des Philosophen zu ihm Gleichgesinnten basiert zunächst auf dem auch von Kojève erwähnten Bedürfnis nach Rechenschaftsablegung über die eigene Erkenntnis (logon didonai)236, das aus dem Problem der eigenen subjektiven Ungewissheit entsteht. Dennoch, so bemerkt Strauss, sehe man Sokrates in Gespräche involviert, von denen er keinen Gewinn bezüglich der Überprüfung oder Bestätigung der eigenen Erkenntnis gehabt haben könne. Das liege daran, dass der Philosoph eine tiefe Zuneigung zu den wohl geordneten Seelen potentieller Philosophen empfinde, die ihn trotz seiner Ablehnung der menschlichen Dinge veranlasse, solche Menschen dieser Art zu erreichen.237 „Hence he cannot help desiring, without any regard to his own needs or benefits, that those among the young whose souls are by nature fitted for it, acquire good order of their souls. But the good order of the soul is philosophizing. The philosopher therefore has the urge to educate potential philosophers simply because he cannot help loving well-ordered souls.“ 238 232

Tyranny and Wisdom in: Strauss/Kojève (2000), S. 157. Ebd., S. 158 ff. 234 Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 198. Strauss verweist auf Platon, Gorgias, 481d, 513d sowie auf Platon, Politeia, 573e, 574e und 575a. 235 Wie groß seine Zuneigung zu philosophischen Freunden gegenüber anderen ist, zeigt Platon überaus deutlich in Phaidon, 734a–b. 236 Vgl. Platon, Protagoras, 336c; Theaitetos, 201c–210b; Menon, 98a. 237 Restatement in: Strauss/Kojève (2000), S. 202. 233

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Der erzieherischen Absicht des Philosophen liegt jedoch eine ganz andere Motivation als der des Herrschers zugrunde, auch wenn Kojève diese in ihrem Prinzip mit Anerkennung (recognition) gleichsetzt. Während der Herrscher von allen Untertanen anerkannt werden möchte und daher eine allgemeine Erziehung zum Staatsbürger verfolgt, erzieht der Philosoph nur jene mit seinen philosophischen Gesprächen, mit denen er auch sprechen möchte. „If the philosopher addresses himself, therefore, to a small minority, he is not acting on the basis of an a priori judgment. He is following the constant experience of all times and countries.“ 239

Der Philosoph wendet sich daher nicht grundsätzlich aus Mangel an subjektiver Gewissheit oder gar Anerkennung seiner intellektuellen Leistungen an die Öffentlichkeit, sondern aus Liebe zu den wohlgeordneten Seelen potentieller Philosophen, die er zum Philosophieren führen möchte. Philosophie ist dabei von eros motiviert und äußert sich, wie Strauss in der posthum veröffentlichten Vorlesung On Plato’s Symposion240 erwähnt, in dem Verlangen, einem anderen Menschen zu begegnen, den man liebt. Da durch mündliche Gespräche der philosophische eros auf die jeweilige Lebenszeit und den Lebensraum beschränkt wäre, biete die schriftliche Kommunikation die Möglichkeit einer „Inkarnation der Seele“ des philosophischen Autors in seinen Büchern. Der philosophische eros erlange daher mit der „kunstgerechten“ „Kunst des Schreibens“, die die Seelen potentieller Philosophen wie im mündlichen Gespräch führt, Unsterblichkeit.241 Der Grund, warum der Philosoph überhaupt, und wenn, dann exoterisch, schreiben muss, bezeichnet Strauss’ Formel, alle exoterischen Schriften seien „written speeches caused by love“.242 Diese fasst daher den Inhalt des Dialogs Phaidros in doppeldeutiger Weise zusammen. Einerseits bezieht sie sich auf den Inhalt der „schriftlich verfassten Rede über die Liebe“, die das Gespräch eröffnet. Andererseits geht es darum, der Schwäche der Schrift zum Trotz, philosophische Schriften aus Liebe zu den zu Philosophie begabten Seelen zu verfassen und somit auf eine angemessene Weise philosophische Gespräche über zeitliche und räumliche Distanz zu ermöglichen.

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Ebd., S. 201. Ebd., S. 203. 240 Diese Vorlesung hielt Strauss im Herbst 1959 unter dem Titel Plato’s Political Philosophy. Sie wurde posthum transkribiert und 2001 von Seth Benardete veröffentlicht. 241 Strauss (2001e), S. 252. Aus dieser Perspektive lässt sich Sokrates’ Vorgehen, nicht zu schreiben, als Verhöhnung der Unsterblichkeit interpretieren. Es verweist auf den problematischen Charakter von Sokrates’ Eros, entweder in seinem eigenen richtigen Körper zu sein oder in einem Buch-Körper mit denen, die er liebt. Die Frage, die sich aus dem Fakt stellt, dass er nicht geschrieben hat, ist, ob er ein Liebhaber gewesen ist. 242 Strauss (1988c), S. 36. 239

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VI. Politische Philosophie und die „Kunst des Lesens“ „Dass jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf Dauer nicht allein das Schreiben, sondern das Denken.“ Friedrich Nietzsche1

1. Zur „Intention des philosophischen Autors“ „Ist ein Buch nur für wenige geschrieben, so wird sich das eben dadurch zeigen, dass nur wenige es verstehen. Das Buch muss automatisch die Scheidung derer bewirken, die es verstehen, und die es nicht verstehen. [. . .] Willst Du nicht, dass gewisse Menschen in ein Zimmer gehen, so hänge ein Schloss vor, wozu sie keinen Schlüssel haben. Aber es ist sinnlos, darüber mit ihnen zu reden, außer Du willst doch, dass sie das Zimmer von außen bewundern! Anständigerweise, hänge ein Schloss vor die Türe, das nur denen auffällt, die es öffnen können, und den anderen nicht.“ Ludwig Wittgenstein2

Persecution and the Art of Writing ist der Aufsatz, der sich intensiv mit dem Ausweg aus den Problemen einer sich selbst reflektierenden, öffentlich auftretenden Philosophie als Politische Philosophie unter den erschwerten Bedingungen der Verschriftlichung beschäftigt. Der Aufsatz erschien zuerst 1941 in der Zeitschrift Social Research3 und wurde 1952 zusammen mit drei weiteren Aufsätzen über Maimonides, Yehuda Halevi und Spinoza in einem gleichnamigen Sammelband veröffentlicht, die eben dieses Thema behandeln und zugleich als Anwendungsbeispiele der „Kunst des Schreibens“ dienen. In der Einleitung betont Strauss bereits mehrfach, dass die Thematik von Persecution and the Art of Writing in das Gebiet der „sociology of knowledge“ 4, genauer gesagt der „sociology of philosophy“ falle. Strauss interessieren dabei nicht wissenssoziologische Betrachtungen im Sinne einer konkreten Gruppe von Philosophen in der Gesellschaft, sondern die generelle Verortung der Philosophie in der Gesellschaft. Der herkömmlichen Wissenssoziologie sei es nicht gelungen, die Möglichkeit zu erwägen, „that all philosophers form a class by themselves, or that what unites all genuine philosophers is more important than what unites a given philosopher with a particular group of non-philosophers“.5 Die „Soziologie 1

Nietzsche, Zarathustra (KSA 4), 48. Wittgenstein (1977), S. 23. 3 Strauss (1941). 4 Strauss (1988d), S. 7. Meines Erachtens richtet sich Strauss vor allem gegen die Wissenssoziologie des Weber-Schülers Karl Mannheim, in dessen relativistischem Ansatz das menschliche Denken stets an das historische und gesellschaftliche Umfeld gebunden ist und von diesem generiert wird. Zu seiner generellen Kritik an Mannheim vgl. Strauss (2006b), S. 129. 5 Strauss (1988d), S. XIII. Matthias Bohlender spricht sogar von einer philosophischen „Klassengemeinschaft“ (vgl. Bohlender (1995), S. 215). 2

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der Philosophie“, die dem Sammelband zugrunde liegt, behandelt die fundamentale, spannungsvolle Beziehung zwischen dem Philosophen und der Gemeinschaft. Der Unterschied zwischen den Philosophen und der Gemeinschaft wird bereits auf den ersten Seiten von Persecution and the Art of Writing thematisiert. Besonders auffällig tritt dabei der kursiv geschriebene Term logica equina hervor. Diese „Pferdelogik“ hat eine doppelte Bedeutung: Einerseits bezieht sich Strauss auf den „horse-drawn philosopher“ Parmenides, den „Prototyp des traditionellen Metaphysikers“ 6, der sein philosophisches Lehrgedicht Peri physeos damit einleitet, dass er von Pferden zu einer Göttin gezogen wird,7 die ihm die wesentliche Unterscheidung zwischen Wahrheit (aletheia) und Meinung (doxa) offenbart. Dabei sei Kenntnis über die Meinung zum Verständnis des Ganzen unerlässlich, da diese ebenfalls, wenn auch kein verlässliches, so doch in gewisser Hinsicht wahres Wissen beinhalte. Indem Strauss seinen Aufsatz mit dem Weg des Parmenides zur Erkenntnis einleitet, erweist sich diese Textstelle selbst als Proömium, indem sie auf die epistemologischen Voraussetzungen der „Kunst des Schreibens“ rekurriert. Die andere Bedeutung von logica equina bezieht sich auf den Menschen in Anlehnung an Nietzsches „Herdentier-Moral“, der wie ein Pferd mit Scheuklappen, bestehend aus „government-sponsored views“ 8, sich in eine „politische“ Herde einzugliedern habe. Zugleich erinnert die logica equina an den Seelenwagen aus dem Phaidros, in dem die Seele von zwei charakterlich unterschiedlichen Pferden gezogen wird und entweder in geistige Höhen oder „weltliche Abgründe“ gelenkt werden kann.9 Gleich zu Beginn eröffnet Strauss somit das unterschiedliche Erkenntnisstreben der Philosophen und Nicht-Philosophen. Dabei betont er, dass Philosophen nach Wahrheit strebten und es nicht in ihrer Natur liege zu lügen, weswegen Strauss Parmenides mit den Houyhnhnms aus Gullivers Reisen10 auf eine Seite stellt. Die Auslegung ein und desselben Terms logica equina verdeutlicht die Problematik, dass der Philosoph, obwohl er zur Gemeinschaft dazugehören möchte, sich nicht an die politischen Vorgaben halten kann, da ihm als Wahrheitsliebender nichts fernerliegt als die bloße Meinung oder gar die Unwahrheit. Daher müsse der wahrheitsliebende Philosoph eine „economy of the truth“ 11 entwickeln, in der die Lüge ihre schlechte Konnotation verliert und zugunsten

6

Glatzeder (2000), S. 91. Parmenides, Fragmenta B1, 1–10. 8 Strauss (1988c), S. 23. 9 Platon, Phaidros, 246a–256d. 10 Strauss empfiehlt die Lektüre Jonathan Swifts mit den Worten, dass dieser „neben Lessing der freieste Geist der neueren Zeit“ gewesen sei (vgl. Brief vom 17. Juli 1935 an Karl Löwith in: Strauss (2001d), S. 657). 11 Strauss (1988c), S. 35. 7

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der Eingliederung des Philosophen in die Gesellschaft nunmehr als „edle Lüge“, gennaios pseudos oder pious frauds12 eine Zwischenform einnimmt. „Ökonomie der Wahrheit“ meint daher den wohl erwogenen Kompromiss zwischen einem rein kontemplativen Leben und philosophischem Wissen und den Bedingungen des politischen Lebens. Der „edlen Lüge“, die sich in Form der Politischen Rhetorik ausdrückt, liegt wiederum der Leitgedanken der Politischen Philosophie zugrunde: Die philosophische Verantwortung, die jeder Philosoph gegenüber seinem öffentlichen Auftreten tragen muss, um Philosophie zukünftig weiterhin zu ermöglichen. Der Philosoph hinterfragt die doxa der Gesellschaft und die Vorgaben der politischen Machthaber, ist sich dabei trotz seiner eigenen kritischen Haltung darüber bewusst, dass diese notwendig zur Bewahrung oder Etablierung von Ordnung sind. Im letzten Satz von Persecution and the Art of Writing betont Strauss daher, dass Bildung daher „die einzige Antwort auf die von jeher dringliche Frage, die politische Frage par excellence“ sei, die Spannung zwischen „Ordnung, die keine Unterdrückung ist, und Freiheit, die keine Zügellosigkeit ist“ in Einklang zu bringen.13 Die Bildung, die Strauss dabei meint, steht jedoch der Auffassung des aufklärerischen Ideals einer „allgemeinen Volksbildung“ grundsätzlich entgegen, da diese allein politische und religiöse Beschränkungen der Meinungsfreiheit als Grenze erachtet. Deren Aufhebung könne demnach die Kluft zwischen den Weisen und den Vielen überwinden. Für Strauss sind die aufklärerischen Denker durch die irrgläubige Hoffnung verblendet gewesen, dass aufgrund fortschreitender Volksbildung eines Tages völlige Redefreiheit herrsche und es so keinen Menschen mehr gäbe, „der sich von irgendeiner ihm zu Ohren gekommenen Wahrheit verletzt fühlen könnte“.14 Strauss fragt sich, inwiefern das Projekt „Volksbildung“ der Aufklärung überhaupt allgemeinen Charakter haben kann und möglich wäre. „Welche Haltung man in der Frage der Meinungsfreiheit einnimmt, hängt wesentlich davon ab, was man über Volksbildung und deren Grenzen denkt. Vormoderne Philosophen standen ihr in der Regel zurückhaltender gegenüber als moderne Philosophen. [. . .] Sie glaubten, dass die Kluft, die ,den Weisen‘ vom ,gewöhnlichen Menschen‘ trennt, eine Grundtatsache der menschlichen Natur sei, die von keinerlei Fortschritt in der Volksbildung beeinflusst werden könne: Philosophie, oder Wissenschaft, war ihrem Wesen nach ein Privileg ,Weniger‘.“ 15 12

Ebd. Ebd., S. 37, meine Hervorhebung; dt. Strauss (2009), S. 50. 14 Ebd.; dt. ebd., S. 44. 15 Strauss (1988c), S. 33; Andreas Hiepko übersetzt popular education mit Volksbildung in: Strauss (2009), S. 45. Insofern betrachtet Strauss die mittelalterlichen arabischen und jüdischen Philosophen als Aufklärer, die jedoch im Unterschied zu den modernen Aufklärern nicht darauf abzielten, „Licht zu verbreiten, die Menge zu vernünftiger Einsicht zu erziehen, aufzuklären; im Gegenteil, sie schärfen immer wieder den Philosophen die Pflicht ein, die vernünftig erkannte Wahrheit vor der unberufenen 13

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Für Strauss gibt es jedoch nicht nur „äußerlich“ gesetzte Beschränkungen in der Volksbildung, sondern vor allem „innere“, naturgegebene Grenzen, weswegen er den idealistischen Hoffnungen einer Massenbildung äußerst kritisch gegenübersteht. Volksbildung führe daher lediglich zu einer Herabsenkung der Standards.16 Die moderne Massenkultur benötige daher das „Gegengift“ 17 einer liberalen Erziehung, um den Implikationen entgegenzusteuern und die philosophische Natur aus der Massenkultur zu „befreien“.18 Dem „tiefgründigsten Geisteswissenschaftler“ 19, Gotthold Ephraim Lessing, sei diese naturbedingte und daher notwendig andere Adressierung jener, die zu einer „liberalen philosophischen Erziehung“ fähig sind, noch bekannt gewesen, weswegen er sich durch Gelehrsamkeit, Geschmack und Philosophie auszeichne.20 Mit Gelehrsamkeit meint Strauss profunde Kenntnisse der abendländischen Geschichte und Tradition sowie den Kanon der „großen Bücher“, die jedoch keineswegs historistisch aufgefasst werden dürfe. Daher müsse der gelehrige scholar aber philosophisch inspiriert sein, um als „Wahrheitssuchender“ nicht reine „Wissensverwaltung“ zu betreiben. Das wichtigste Charakteristikum steht natürlich in der Mitte: taste.21 Geschmack meint dabei eine Erkenntnisweise, ein sensibles Gespür für das soziale Umfeld durch Abstandnahme von sich selbst, die, im Falle der Philosophie, die Gründe der notwendigen Anpassung reflektiert, denen ebenso die esoterisch-exoterische Schreibweise zugrunde liegen. Lessing sei daher, im Gegensatz zu Schleiermacher, noch in der Lage gewesen, die politischen Gründe für eine textimmanent-esoterische „Kunst des Schreibens“ zu kennen, die sich mit einer Politischen Rhetorik zugleich an Philosophen und Nicht-Philosophen wendet.

Menge geheimzuhalten; der esoterische Charakter der Philosophie stand für sie – im Gegensatz zur eigentlichen, d.h. zur modernen Aufklärung – unbedingt fest“ (Strauss (1935), S. 88 f.). 16 Vgl. Strauss (1989x), S. 46. 17 Strauss (1995b), S. ix. 18 Strauss (1995e), S. 5. Wenn Erziehung als liberal education für Strauss die Lösung zu sein scheint, um philosophisches, befreiendes Denken in Zukunft zu gewährleisten, stellt sich vor allem die politische Frage, wer dieses tun darf. Siehe dazu die Auseinandersetzung mit Alexandre Kojève im Kapitel Hermeneutische Politik. 19 „Lessing, who was one of the most profound humanists of all times, with an exceedingly rare combination of scholarship, taste and philosophy [. . .]“ (Strauss (1988c), S. 28; vgl. Strauss (1989b), S. 64: Hier wird Lessing nur über philosophy und scholarship charakterisiert). 20 Strauss (1988c), S. 28. 21 „Geschmack“ spielt ebenfalls eine große Rolle in Strauss’ Analyse von Xenophons Beschreibung der angeblich von ihm geschätzten spartanischen Verfassung und Lebensweise; vgl. The Spirit of Sparta or the Taste of Xenophon. Zum „Geschmack“ als differenzierte Urteilsfähigkeit und nicht ästhetisches oder moralisches Kriterium siehe Gadamer (1990), S. 40 ff.

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Diese Rhetorik funktioniert deswegen, weil sich Philosophie als einen kompletten Bruch zu dem Geschwätz, dem „Gerede“ und dem „Rauschen“ (noise)22 der akzeptierten populären Meinungen versteht und sie diese Differenz in ihrem öffentlichen Auftreten mit einbezieht. „Gerede“, verstanden im Sinne Heideggers als die „verfallene“ Form der eigentlichen Rede unter der „Diktatur“ des Existenzials „Man“, zeichnet die öffentliche Meinung aus und ebnet die Auffassungen von Seinsmöglichkeiten ein, wodurch das Dasein von der Anforderung der Selbstauslegung entlastet wird. Das Dasein könne aus dieser bereits erfolgten Ausgelegtheit kein echtes Verstehen vollziehen, da das „Gerede“ lediglich aufgegriffen und weitergeredet werde und es ihm dadurch an Seinsbezug zum Seienden mangele.23 Das Gleiche gilt ebenso für das „Geschreibe“: Beide nehmen durch ihren „uneigentlichen“ Charakter des Weiter- und Nachredens bzw. -schreibens autoritative Züge an, weswegen Heidegger von der „Herrschaft der öffentlichen Ausgelegtheit“ 24 und der „Diktatur des Man“ spricht.25 „Gerede“ und „Geschreibe“ bestehen aus Floskeln und Plattitüden und ermöglichen allgemeines „durchschnittliches“ 26 Verständnis, verschließen jedoch das Verständnis der eigentlichen Rede, weswegen bewusst eingesetztes „verdeckendes Gerede“ als exoterische Oberfläche der „eigentlichen“ Rede dienen kann.27 Strauss verwendet das philosophische Streben nach dem „Eigentlichen“ 28 nicht in Heideggers ontologischem Sinn, sondern verweist mit der Unterscheidung zwischen doxa und episteme auf die epistemologische Differenzierung, die im Sinne der „sociology of knowledge“ ebenso eine politische ist. Da dieser Zusammenhang das Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und dem Gemeinwesen auszeichnet, stellt eine das „Eigentliche“ verdeckende Ebene in Schriftstücken einen Ausweg dar, um die philosophische Lehre, ohne lügen zu müssen, verstecken zu können, um auf diese Weise die philosophische Lehre zu bewahren und den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.

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Strauss (1995e), S. 4. Zur Kritik an Heideggers „uneigentlicher“ Fremdbestimmung unter der „Diktatur des Man“, der er die „Eigentlichkeit“ als existenzielle Modifikation eines „authentischen“ Lebens gegenüberstellt, siehe Adorno (2001). 24 Heidegger (2006), S. 169. 25 Ebd., S. 126. 26 Ebd., S. 169. „Man versteht nicht so sehr das beredete Seiende, sondern man hört schon nur auf das Geredete als solches. Dieses wird verstanden, das Worüber nur ungefähr, obenhin; man meint dasselbe, weil man das Gesagte gemeinsam in derselben Durchschnittlichkeit versteht“ (ebd., S. 168). 27 Ebd., S. 174. 28 Strauss selbst verwendet weder den Begriff „Eigentlichkeit“ noch „authenticity“, sondern „philosophic teaching“, „true teaching“ oder „esoteric teaching“. Zur Distinktion vgl. Strauss (1989i), S. 222. 23

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„Ein exoterisches Buch enthält also zwei Lehren: eine populäre Lehre von erbaulichem Charakter, die im Vordergrund steht; und eine die allerwichtigste Frage betreffende philosophische Lehre, die nur zwischen den Zeilen angedeutet wird.“ 29

Mit einem indirekten Verweis auf Kierkegaard und Hegel30 betont Strauss, dass philosophische Schriften keinen erbaulichen Charakter haben und daher nicht als beruhigender Ratgeber fungieren, sondern im sokratischen Sinne den Glauben an vermeintliches Wissen erschüttern. Erbaulichkeit hat demnach einen religiösen Charakter, wenn man sie religiös als „Rückkopplung“ 31 betrachtet, die bereits bekanntes Wissen bestätigt. Dementsprechend hebt Strauss stets hervor, dass Wahrheit deswegen für die meisten schwer erträglich und daher ungeeignet ist und dadurch das Gemeinwesen gefährdet. Philosophie steht daher einerseits in einem radikalen Bruch zur religiös-politischen, erbaulichen doxa, andererseits muss sie dieses dennoch mit reflektieren, da dies einerseits die Grundlage des politischen Zusammenlebens und andererseits der Ausgangpunkt aller Philosophie eben das „Meinen“ ist. Der verantwortungsvolle Politische Philosoph bedenkt daher epistemologisch die doxa sowie politisch die Macht der Vielen (dynamis ton pollon) und weiß, wohlgemerkt als Philosoph, wie man in der gegenwärtigen wie auch einer zukünftigen Polis am geschicktesten handelt, redet und sich erfolgreich behauptet, indem er auch in seinen Schriften eine adressatengerechte Politische Rhetorik textimmanent anwendet.32 „Verfolgung bringt also eine eigentümliche Schreibtechnik hervor und somit einen eigentümlichen Typ von Literatur, bei der die Wahrheit über alle wesentlichen Dinge ausschließlich zwischen den Zeilen angedeutet wird. Diese Literatur richtet sich nicht an alle Leser, sondern nur an die klugen und vertrauenswürdigen unter ihnen. Sie hat alle Vorzüge der privaten Mitteilung, ohne deren größten Nachteil zu haben – nur den Bekanntenkreis des Schriftstellers zu erreichen. Sie hat alle Vorzüge der öffentlichen Mitteilung, ohne deren größten Nachteil zu haben – die Höchststrafe für den Autor.“ 33

Als „Höchststrafe für den Autor“ schließt man zuerst auf das erste Wort im Titel des Aufsatzes und Sammelwerkes, Persecution. „Verfolgung“ umfasst dabei 29 Strauss (1988c), S. 36. Andreas Hiepko übersetzt edifying ebenfalls als „erbaulich“ (vgl. Strauss 2009, S. 48). 30 Hegel wendet sich ganz zu Beginn der Phänomenologie des Geistes gegen die Erbauungsphilosophie seiner Zeit: „Die Philosophie aber muss sich hüten, erbaulich zu sein“ (vgl. Vorrede in Hegel (2008), S. 17). 31 religare lat. zurückbinden. 32 Für Protagoras ist es gerade der Sophist, der wisse, wie man in der Polis am geschicktesten handelt, redet und sich erfolgreich durchschlägt. Platon, Protagoras 319a: „Diese Kenntnis [die Protagoras zu lehren können behauptet] aber ist die Klugheit in seinen eigenen Angelegenheiten [. . .] und des Staates, wie er am geschicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden.“ 33 Strauss (1988c), S. 25, dt. Strauss (2009), S. 29.

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für Strauss eine Vielfalt an Phänomenen. Er erwähnt einerseits die brutale Form der Verfolgung, wie sie in der Spanischen Inquisition erfolgte, andererseits die zwar physisch mildere, aber keineswegs angenehmere Form der gesellschaftlichen Ächtung. Darüber hinaus führt Strauss einerseits die „konkrete“ religiöse oder politische Verfolgung wissenschaftlicher Forschung an, unter der insbesondere die Philosophen der Frühen Neuzeit litten, welche daher in ihren Büchern Meinungsfreiheit forderten, um letztendlich alle Verfolgung abzuschaffen. Andererseits erwähnt Strauss direkt im ersten Abschnitt, dass es auch im heutigen Zeitalter, in dem sich zumindest in der westlichen Welt seit rund 150 Jahren Meinungsfreiheit formal etabliert hat, Verfolgung gibt. Diese sei jedoch durch einen Zwang zur political correctness ersetzt worden, die öffentliche Äußerungen mit der öffentlichen Meinung gleichschalte. Bereits Alexis de Tocqueville beobachtete in seinen Untersuchungen De la démocratie en Amérique (1835/1840) die Dynamik der „Tyrannei der Mehrheit“ in Massendemokratien, die abweichende Meinungen tabuisiert, sobald sich eine feste öffentliche Meinung gebildet hat.34 Ebenso greift John Stuart Mill in On Liberty (1859) Tocquevilles These auf und untersucht die Grenzen der Meinungsfreiheit, wenn eine Minderheit ungerechterweise von einer Mehrheit unterdrückt wird. Es gebe daher immer Minderheiten und Andersdenkende, gegen die sich eine neue Form der „Tyrannei der Mehrheit“ ausrichten könne, was das immer schwierige Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Autorität widerspiegle. Wie Strauss erachtet Mill politisch verordnete Strafmaßnahmen nicht als die größte Bedrohung der freien Meinung, sondern den sozialen Druck, vor allem in Massengesellschaften, der bis in das Privatleben hineingreife und Individuen „sanft“ dazu zwinge, sich den Vorstellungen und Erwartungen der Mehrheit entsprechend zu verhalten. Verfolgung drückt sich daher trotz etablierter formaler Meinungsfreiheit in einem Ostrazismus aus, den Elisabeth Noelle-Neumann als Ausgangspunkt ihrer Theorie der Schweigespirale ausführlich untersucht hat. Damit beschreibt sie die Dynamik, sich aus Angst vor sozialer Ächtung mit seinen öffentlichen Äußerungen der, wohlgemerkt für den Sprecher nur angenommenen, öffentlichen Meinung anzuschließen.35 Besonders für einen Philosophen, der auf den zukünftigen Erhalt der Philosophie baut, birgt gesellschaftlicher Ausschluss die Gefahr, sowohl von der Gesellschaft als auch von potentiellen Schülern in seinem Anliegen 34 Strauss geht in der Vorlesung Notes on Tocqueville, die er im Herbst 1962 gehalten hat, auf die Gefahr eines „Höflingsgeistes der großen Menge“ für die Demokratie im Allgemeinen ein. In eine ähnliche Richtung gehen Josef Isensees Untersuchungen einer Tabuisierung von Themen speziell für den Fall Deutschland, indem er viele Themen treffend als „Trabanten-Tabus der Nazi-Zeit“ bezeichnet. Auch wenn sich in Deutschland eine formale Presse- und Meinungsfreiheit wie nie zuvor in der Geschichte etabliert habe, gebe es tabuisierte Themen, über die öffentlich nicht diskutiert werden könne (vgl. Isensee (2003)). 35 Noelle-Neumann (1989) untersucht dies vor allem auf die Medienwirksamkeit unter dem Aspekt, dass Massenmedien einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung und daher auf die öffentlichen Äußerungen haben.

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nicht mehr ernst genommen zu werden. Keine Schüler mehr erreichen zu können wäre somit „die Höchststrafe für den Autor“, die impliziert, Philosophie in Zukunft nicht mehr gewährleisten zu können. Um sich nicht in die Gefahr der Verfolgung zu begeben, sich aber trotzdem öffentlich und schriftlich äußern zu können, bedarf es der Schreibtechnik des „Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ und umgekehrt der „Kunst“ des „Zwischenden-Zeilen-Lesens“. Diese tiefenhermeneutische Herangehensweise an Texte, die Strauss als „Wiederentdeckung des Exoterischen“ bezeichnet, unterscheidet eine exoterische „Oberfläche“ und eine esoterische „Tiefenschicht“. Die populären Ansichten der jeweiligen Zeit sind dabei exoterisch,36 während die philosophische Lehre durch eine adressatengerechte Politische Rhetorik verdeckt ist, die die unterschiedlichen Adressaten mit bedenkt. Der Verschlüsselungsbedarf für das Esoterische liegt in der Notwendigkeit der Philosophie begründet, als Politische Philosophie ihr öffentliches Auftreten mit zu reflektieren. Selbst in der „besten Stadt“, dem platonischen Idealstaat der Politeia, müsse die philosophische Lehre vor der unphilosophischen Menge geschützt werden.37 Der rhetorischen Verschlüsselungsstrategie liegt somit die selbst-reflektierende Natur der Politischen Philosophie zugrunde. Sie ist demnach nicht nur dann notwendig, wenn sich Philosophen mit politischer Theorie auseinandersetzen, wie Matthias Bohlender in Rhetorik des Politischen annimmt.38 Ebenso ist sie kein „Sonderfall“ in Zeiten politischer oder religiöser Verfolgung, sondern bezieht sich auf die generelle Schutzbedürftigkeit von Philosophie.39 Ebenso muss betont werden, dass es Strauss weder um arcana imperii noch um eine religiöse oder metaphysische Geheimlehre geht.40 Vielmehr zeigt sich die philosophische, esoterische Lehre als 36

Vgl. Strauss (1988a), S. 192. Strauss (1997h), S. 102. 38 Vgl. Bohlender (1995); vgl. auch Harald Bluhms Annahme, dass „die Mehrfachkodierung von Texten ein generelles Problem für die Geschichte der politischen Ideen ist. Solche Texte wenden sich nicht nur allgemein an die Öffentlichkeit des politischen Lebens, sondern sie sind zugleich auf wissenschaftliche wie auf politische Diskurse von Expertenkulturen bezogen, deren Standards divergieren“ (Bluhm (2002), S. 112). Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung von Strauss mit der Rezension zu Persecution and the Art of Writing des Historikers George H. Sabine (Sabine (1953), S. 220 ff.) und dem französischen Philosophen Yvon Belavel (Belavel (1953)) in seinem Aufsatz On a Forgotten Kind of Writing, der mit in den Sammelband What is Political Philosophy? aufgenommen wurde. Meines Erachtens geht es in dieser rhetorisch geschickten Argumentation voller „intentional blunders“, wie bspw. der Charakterisierung des wilhelminischen Deutschland als „extreme liberalism“ (Strauss (1989i), S. 224), darum, dass Strauss nicht die politische Philosophie (als philosophische Behandlung von Politik), sondern Politische Philosophie (als eine politische Behandlung der Philosophie) als grundlegend für die exoterisch-esoterische Lesart erachtet. 39 Dennoch sind Zeiten religiöser oder politischer Verfolgung für den historischen Kontext des Autors mit zu berücksichtigen. 40 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung mit der esoterischen „ungeschriebenen Lehre“ Platons der Tübinger Schule im Kapitel Schriftlichkeit und Philosophie; vgl. 37

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ein sokratisches Philosophieren, als ein von eros gelenktes, zetetisches Streben nach Wissen, das deutlich von systematisiertem Faktenwissen zu unterscheiden ist. Der Autor beabsichtigt mit seinen Schriften, den Leser selbst zum Nachdenken zu veranlassen. Dementsprechend ist auch das „Zwischen-den-Zeilen-Lesen“ für Strauss keine Methode, sondern Kunst (Art), weswegen er seine „Kunst des Schreibens“ sowie seine hermeneutische Herangehensweise nicht den zeitgenössischen wissenschaftlichen Erwartungen gemäß systematisch ausgearbeitet hat. Über seine kritische Haltung der positivistischen Methodik hinaus verweist Strauss auf das terra incognita, das hinter der Metapher des „Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ liegt.41 Um eine Systematisierung seiner Lehre zu vermeiden, aber dennoch zeigen zu können, was die exoterische Schreibweise auszeichnet, verfasst Strauss entweder selbst Kommentare zu „großen Büchern“, die als Vorbild der „Kunst des sorgfältigen Lesens“ dienen,42 oder er führt eine dritte Person ein, einerseits zur Abgrenzung einen Historiker oder einen fähigen Schreiber43 andererseits, und beschreibt im Konjunktiv, wie sich dieser einem esoterischen Text nähert. Generell lässt sich die „Kunst des Schreibens“ nicht mit „immer wenn, dann“-Beziehungen methodisch erfassen. Nicht immer, wenn ein Text widersprüchlich ist, beinhaltet er eine esoterische Ebene. Auch wenn die Notwendigkeit einer textimmanenten Esoterik durch die generelle Schutzbedürftigkeit der Philosophie begründet ist, so ist dennoch die historische Situation ausschlaggebend, in der der zu lesende Text verfasst worden ist. Gerade wenn diese eine Situation der Verfolgung darstelle, in der es eine orthodoxe Denkweise gab, die vom Titel des Werkes betroffen wird, müsse der Text „mit größerer Sorgfalt und weniger Naivität als zuvor“ 44 gelesen werden. Wenn Strauss demnach schreibt, die notwendige Bedingung eines fraglichen Buches sei, dass es in einer Epoche der Verfolgung verfasst wurde, was heißt zu einer Zeit, in der irgendeine politische oder andere Orthodoxie durch Gesetz oder Gewohnheit herrschte, und man davon ausgeht, dass jede Gesellschaft doxaische Ansichten haben muss, steht jedes philosophische Buch in Strauss’ strengem Sinn unter Verdacht, sich der esoterisch-exoterischen Schreibart bedient zu haben. Hinsichtlich des rhetorischen Aspekts fällt auf, dass sich Strauss in all seinen Publikationen einer nahezu alltäglichen Sprache bedient, die von einer wissenschaftlichen Fachsprache stark abweicht. Er wendet sich mit derselben Sprache exoterisch an die Vielen und zugleich esoterisch an die wenigen potentiellen Phi-

auch Szlezáks Unterscheidung zwischen Geheimlehre und esoterischer Lehre in Szlezák (1985). 41 Vgl. Strauss (1988c), S. 24. 42 Vgl. hierfür Platt (1987), S. 19. 43 Strauss (1988c), S. 32. 44 Strauss (1988c), S. 32; dt. Strauss (2009), S. 41.

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losophen. Strauss wolle damit, so Harald Bluhm, eine entsprechende Form des sokratischen Philosophierens nachahmen, um den Aufstieg von Meinen zum Wissen zu verdeutlichen, der aus alltäglichen, doxaischen Auffassungen erfolge.45 Darüber hinaus grenzt sich ein alltäglicher Sprachgebrauch von jener Auffassung von „Geheimlehre“ ab, die sich als begriffliche Kodierung oder als fachspezifisches Expertenwissen konstituiert. Die „Kunst des Lesens“ unterscheidet nicht zwischen dem Wissensgrad, sondern zwischen den unterschiedlichen zur Philosophie begabten Naturen.46 Da Strauss hauptsächlich auf die Gründe für seine Politische Rhetorik eingeht, die dialektisch zwischen Offenlegen und Schweigen wechselt, bleibt die Frage offen, wie textimmanent esoterische Texte gelesen werden sollen. Die „Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens“ wird von Strauss zunächst durch das „Axiom“ ermöglicht, „dass gedankenlose Menschen unachtsame, nachdenkliche Menschen jedoch aufmerksame Leser sind“.47 Der Möglichkeit, dass jene aufmerksamen Leser den gesellschaftskritischen Text des Autors bei religiösen oder politischen Machthabern denunzieren könnten, stellt Strauss ein zweites Axiom entgegen: Eine textimmanent esoterische Literatur wäre undenkbar, „wenn das sokratische Diktum, dass Wissen Tugend ist und folglich nachdenkliche Menschen ihrem Wesen nach vertrauenswürdig und nicht bösartig sind, gänzlich falsch wäre“.48 Wolle der Autor einen nachdenklichen, philosophischen Adressatenkreis erreichen, so müsse er nichts anders tun als so zu schreiben, dass nur ein sehr aufmerksamer Leser den tiefer liegenden Sinn verstehen kann.49 Strauss verweist außerdem auf eine Textstelle aus Platons Dialog Phaidros, in der Platon den Aufbau der guten Rede durch die „logographic necessity“ beschrieben hat.50 Eine Schrift (writing) sei dann gut, wenn jeder Teil der geschriebenen Rede notwendig für das Ganze sei. An diesem platonischen Kriterium der „guten Rede“ orientiert sich Strauss’ strenge Definition eines Buches, für das der Autor, gemäß der „logographischen Notwendigkeit“, all das herausstreicht, was nicht absolut notwen45

Bluhm (2002), S. 113. „[It] is a difference not of degree but of kind“ (Strauss (1989b), S. 68). 47 Strauss (1988c), S. 25; dt. Strauss (2009), S. 29. Dass es mehr als Aufmerksamkeit bedarf, nämlich einer Unterstellung von Wahrheit in dem Text, zeigt die Auseinandersetzung von Strauss mit Schleiermacher. Für Letzteren genügte ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, damit alle Leser den Sinn des Textes verstehen. Für Strauss bedarf es sowohl eines gehörigen Maßes an Aufmerksamkeit als auch einer philosophischen Natur. 48 Ebd. Darüber hinaus erwähnt Strauss, dass die Beweislast letztendlich beim Zensor liege. Dieser müsse nachweisen, dass gewisse Unzulänglichkeiten oder zweideutige Ausdrücke im Text nicht dem Zufall geschuldet seien, sondern vom Autor intendiert wurden. Der Zensor müsste dem Autor ein Zugeständnis machen, beim Verfassen des Textes auf geistiger Höhe gewesen zu sein, wenn ihm im vollen Bewusstsein Fehler unterlaufen seien. 49 Ebd., S. 26; dt. ebd., S. 31. 50 Platon, Phaidros, 264b; Strauss (1997h), S. 53. 46

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dig ist, und sein Werk entsprechend komponiert.51 Die Stelle, an der ein bestimmter Satz im Gesamtstück auftritt, ist daher die Stelle, an der er notwendig auftreten muss. Entsprechenden Wert muss der Leser daher auf den Aufbau und vor allem auf das dramaturgische Setting legen. Kein Wort – „however small or seemingly insignificant“ 52 – wäre folglich fehl am Platz oder unnötig, sondern sowohl die Wahl des Wortes als auch die Zuordnung an eine bestimmten Stelle folge der Absicht des Autors. Daher sei der Leser weder berechtigt, eine Stelle zu streichen, noch ihren Wortlaut zu verbessern, bevor er nicht jede sinnvolle Möglichkeit, die Stelle so zu verstehen, wie sie dasteht, sorgfältig geprüft habe. Dabei müsse er allerdings vor allem die Möglichkeit berücksichtigen, dass die Stelle ironisch gemeint ist oder sogar vermeintliche Fehler beabsichtigt sind.53 „Wenn einem Meister der Kunst des Schreibens grobe Fehler unterlaufen, die einen gescheiten Oberschüler beschämen würden, kann man berechtigterweise davon ausgehen, dass sie vorsätzlich begangen wurden, insbesondere dann, wenn der Autor, wie beiläufig auch immer, von der Möglichkeit vorsätzlicher Schreibfehler spricht.“ 54

Um mögliche Kritik von Seiten der historischen Forschung bezüglich scheinbar willkürlicher Genauigkeitsstandards seiner Lesart vorwegzunehmen, stellt Strauss vorausschauend folgende Regel des „Zwischen-den-Zeilen-Lesens“ auf: „Zwischen-den-Zeilen-Lesen ist immer dann strengstens untersagt, wenn es weniger genau wäre, als wenn man darauf verzichtete.“ 55

„Zwischen-den-Zeilen-Lesen“ ist für Strauss nur dann gerechtfertigt, wenn der Leser den Zusammenhang, in dem eine Aussage steht, den literarischen Charakter sowie den Aufbau des gesamten Werkes vollkommen verstanden hat, ehe er begründeterweise behaupten kann, dass die Deutung einer Aussage angemessen oder gar zutreffend sei. Wichtig sei es dementsprechend auch, ein besonderes Augenmerk auf die Form des Textes, das „Wie“, zu richten, da die Bedeutung des Inhalts von der Form abhänge.56 Die philosophische Lehre ist nicht von ihrer rhetorischen Form zu trennen, mit der sie präsentiert wird: „One must pay as much attention to the How as to the What“ 57. Zu der Form zählen ebenso Handlungen, das Setting58, aber auch die Textsorte wie das Genre: Strauss legt Wert auf die Unterscheidung, ob der Autor den Text als Traktat, systematische Schrift, 51

Zum Buch im strengen Sinne vgl. Strauss (2004a), S. 394. Strauss (1997h), S. 54. 53 Strauss (1988c), S. 30; dt. Strauss (2009), S. 38. Zu Strauss’ Auffassung von Ironie, unterschiedlich zu unterschiedlichen Menschen zu sprechen, vgl. Strauss (1997h), S. 51. 54 Strauss (1988c), S. 30; dt. Strauss (2009), S. 38. 55 Ebd.; dt. ebd., S. 37. 56 Vgl. Strauss (1997h), S. 52. 57 Ebd. 58 „In the same way we must understand the ,speeches‘ of all Platonic characters in the light of the ,deeds‘“ (ebd., S. 59). 52

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Dialog, Brief oder Essay ausgibt und inwiefern dieser als Satire oder Kampfschrift verstanden werden kann. Zu der formalen Betrachtung gehören ebenso der Titel, Untertitel wie auch nicht zu vernachlässigende Widmungen,59 Vorbemerkungen und Anredeformen, die einen Hinweis auf mögliche divergente Adressatenkreise geben können. Da Strauss seine Hermeneutik nicht systematisieren kann und will, ist es ihm lediglich möglich, Hilfestellungen (guidance) zu geben, was auf eine esoterische Ebene hinweisen könnte. Darunter fallen für ihn: auffällige rätselhafte Eigenheiten in der Darstellung der populären Lehre wie scheinbare Planlosigkeit bezüglich der Gliederung und Struktur, Widersprüche innerhalb eines Werkes oder zwischen zwei oder mehreren Werken desselben Autors, Auslassungen wichtiger argumentativer Zwischenschritte, fast nebensächliche Widersprüche in grundlegenden Folgerungen oder Voraussetzungen in der Darlegung des orthodoxen Systems, Pseudonyme, ungenaue Wiederholungen früherer Aussagen, seltsame oder gar selbst geschaffene Ausdrücke. Des Weiteren gibt es Kriterien und Auffälligkeiten, die Strauss zwar selbst nicht explizit erwähnt, die jedoch dem aufmerksamen Leser ebenso auffallen und ihn auf eine „tiefere“ Ebene im Text schließen lassen könnten. Dazu können Querverweise und Zitate gehören, die zueinander keinen oder einen widersprüchlichen Bezug haben, sowie Redensarten oder Wendungen, die in ihrem Sinn nicht eindeutig den jeweiligen Zusammenhang beschreiben. All diese müssen selbstverständlich jeweils im Kontext des Originals und im üblichen Sprachgebrauch geprüft werden. Hinweise können auch „wie zufällig hingeworfene Wörter“ oder ein pseudowissenschaftlicher Term sein, wie bspw. die eingangs aufgeführte logica equina. Sprachlich kann außerdem die unterschiedliche Verwendung von Konjunktiven statt Indikativen eine tragende Rolle in der inhaltlichen Nuancierung spielen. Nicht allein der Verbmodus, sondern auch Worte wie „höchstwahrscheinlich“, „meistens“ oder „scheinbar“ können dabei auf die „wahre“ Absicht des Autors schließen lassen.60 Der Autor kann dabei seine Meinung durch subversive Rhetorik in indirekten Zitaten ausdrücken und diese im Konjunktiv umschreiben. Subtil sind auch Implikationen, die gewisse Aussagen zwar implizieren, aber nicht explizit erwähnt werden.61 Wegweisend können auch scheinbar unbeabsichtigte Abschweifungen und Exkurse sein, die ein gegensätzliches oder weit entferntes Thema behandeln, das bei genauerer Betrachtung jedoch für die Argumentation der „esoterischen“ Lehre wichtig ist. Nach Strauss sind jene Eigentümlichkeiten und scheinbare 59 Allerdings, so betont Strauss, erfolgten solche Verlautbarungen in der Regel nicht im Vorwort oder an ähnlich exponierten Stellen (vgl. Strauss (1988c), S. 32; dt. Strauss (2009), S. 42). 60 Heinrich Meier zeigt diese Nuancierung anhand des kleinen Wortes „almost“ in Strauss’ Interpretation von Rousseau in Naturrecht und Geschichte (vgl. Strauss (1989g), S. 271 zitiert in: Meier (1996), S. 36). 61 „In some cases, not the explicit statements, but the necessary consequences from explicit statements contradict other explicit statements“ (Strauss (1988a), S. 185).

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Fehler nicht geeignet, diejenigen „aus dem Schlaf zu wecken, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“, dienen aber denjenigen als „erweckende Stolpersteine“, die dazu fähig sind.62 Zu den hinweisenden „Stolpersteinen“, die auf eine esoterische Lehre hinweisen können, zählt Heinrich Meier außerdem dem Text vorausgehende Schriften eines Autors, unter die Briefe oder Ankündigungen fallen könnten.63 So deutet Meier beispielsweise in Rousseaus Discours sur l’inégalité unterschiedliche Textebenen auf Basis von vorausgehenden Selbstaussagen des Autors: „Nur nach und nach und stets für wenige Leser habe ich meine Ideen entwickelt. Nicht mit mir bin ich dabei schonend umgegangen, sondern mit der Wahrheit, um sie sicherer weiterzugeben und um sie nützlich zu machen. Oft habe ich mir viel Mühe gegeben, es so einzurichten, dass in einem Satz, in einer Zeile, in einem wie zufällig hingeworfenen Wort, das Ergebnis einer langen Folge von Reflexionen beschlossen war, oft wird die Mehrzahl meiner Leser meine Reden (discours) schlecht verbunden und beinahe gänzlich unzusammenhängend gefunden haben müssen, da sie den Stamm nicht wahrnahmen, dessen Zweige ich ihnen nur zeigte. Aber es war genug für jene, die zu verstehen wissen, und zu den anderen habe ich niemals sprechen wollen.“ 64

Rousseau sei sich demnach darüber bewusst gewesen, dass die Mehrzahl seiner Leser ihn missverstehe, und spricht daher zu denen, „die zu verstehen wissen“. Rousseaus Discours liegt folglich eine Doppelung der Adressaten und Ebenen zugrunde, die von den meisten Lesern bei der ersten Lektüre nicht erkannt wird. Für Meier setzt die Konzeption des Discours eine grundsätzliche, naturgegebene Ungleichheit in der geistigen Natur der Menschen voraus, die sich entsprechend in dem Doppelgesicht der esoterischen Kunst des Schreibens ausdrückt. Historisch betrachtet sprechen die politisch-religiösen Voraussetzungen für eine vorsichtige, sorgfältige „Kunst des Schreibens“, da der Discours unter Bedingungen der Zensur geschrieben wurde und Rousseau die Druckerlaubnis verweigert worden wäre, wenn er tradierte religiöse Dogmen oder die Legitimität der bestehenden politischen Ordnung offen in Frage gestellt hätte. Meier charakterisiert über Strauss’ Werk hinausgehend weitere Möglichkeiten der Politischen Rhetorik, um auf die zwei Ebenen des Textes hinzuweisen. Darunter falle zum einen die Darlegung allgemeiner Erklärungen und förmlicher Bekenntnisse, die für alles Weitere inhaltlich folgenlos bleiben. Vor allem anhand von Rousseaus Discours weist Meier auf die Kritik von Dogmen, Institutionen und Personen in 62

Strauss (1988c), S. 36; vgl. auch dt. Strauss (2009), S. 40. Hierbei ist eine Unterscheidung zwischen Werk und Text einerseits und zwischen zur Veröffentlichung verfassten Schriften und „privaten“ Korrespondenzen andererseits wichtig. Dabei müsste der Philosoph, wie in Platons „privat“ verfasstem Zweiten Brief, stets mit bedenken, dass Schriften, welcher Art auch immer, in die Hände Unbestimmter gelangen könnten (vgl. Platon, Zweiter Brief, 313a). 64 Rousseau Préface d’une seconde lettre à Bordes (1753) zitiert mit Hervorhebungen in: Meier (2008), S. XXIII. 63

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Form von Lobeserhebungen hin, die deutlich überzogen und ungerechtfertigt sind oder die unter Hinweis auf Taten und Umstände ausgesprochen werden, welche die Berechtigung der rühmenden Erwähnung gerade fragwürdig erscheinen lassen. Auch explizites Vertreten von Positionen, die miteinander unvereinbar sind, sieht Meier als stilistische Hinweise auf die im Text verborgene kritische Ebene, vor allem bei Rousseaus Politischer Rhetorik gerade wenn die Unvereinbarkeit von Behauptungen dem Autor nicht verborgen geblieben sein kann und man ihm nicht unterstellen möchte, dass er nicht imstande war, Fehler zu sehen, die jedem Leser sofort ins Auge springen. Der erste Aspekt ergänzt Strauss’ Behauptung, dass die „tatsächliche Meinung eines Autors [. . .] nicht notwendigerweise mit dem identisch [ist], was er an einer Vielzahl von Stellen äußert“.65 Sorgfältige Leser müssten daher darauf achten, was einzigartig, unerwartet und anormal sei. Die „wahre Lehre“ des Autors entfalte sich viel mehr in halbgesagten oder vage angedeuteten Aussagen als in Sätzen, die klar und deutlich oft und konstant wiederholt und schonungslos beteuert werden. Wahrheit wird somit in dieser Hinsicht zu einem gewissen Grad „identical with rarity“ 66. Die Ansichten eines Autors, vor allem in einem Drama oder Dialog, sind demnach nicht unbedingt gleichzusetzen mit denen, über die Einigkeit herrscht oder die von den sympathischsten Personen geäußert werden. Strauss betont dabei die recht offene figürliche Darstellung der philosophischen Lehre – vor allem in den platonischen Dialogen –, in der ein Autor irgendeinen verrufenen Charakter als Sprachrohr benutzt und es daher in den bedeutendsten Werken „so viele interessante Teufel, Verrückte, Bettler, Sophisten, Betrunkene, Epikureer und Possenreißer“ 67 gibt. Eine weitere wichtige Voraussetzung zeigt Strauss in der konkreten Anwendung der „Kunst des Lesens“ in How to Study Spinoza’s Theologico-Political Treatise. Dort führt Strauss eine weitere Prämisse ein, dass nämlich Lesen dem Schreiben vorausgeht und daher die Lesegewohnheiten eines Autors Rückschlüsse auf seine Schreibweise ziehen lassen. „It is a general observation that people write as they read. As a rule, careful writers are careful readers and vice versa. A careful writer wants to be read carefully.“ 68

Strauss fragt sich daher wie Spinoza, der ebenfalls unter Zensurbedingungen publizierte, gelesen hat, um seine Schreibweise verstehen zu können. Dabei trifft Strauss auf den Widerspruch, dass Spinoza zwar gemäß seinem eigenen „hermeneutischen Prinzip“ fordert, dass die Bibel nur aus der Bibel verstanden werden müsse, Spinoza selbst sich daran jedoch nicht hält, da er die Bibel aus einer be65

Strauss (1988c), S. 30; dt. Strauss (2009), S. 38. Strauss (1988b), S. 73. 67 Strauss (1988c), S. 36; dt. Strauss (2009), S. 48. Dass gerade solche „Sprachrohre“ eines Autors gesellschaftlichen Ostrazismus erfahren haben, weist im doppelten Sinne auf den Zusammenhang von Verfolgung und Philosophie. 68 Strauss (1988a), S. 144. 66

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stimmten Tradition interpretiert. Strauss verweist dabei auf Spinozas Unterscheidung unterschiedlicher Arten von Büchern, den einfachen, aus sich selbst heraus verständlichen (intelligible), den „hieroglyphischen“ Büchern sowie einer Mischung aus beiden.69 „Hieroglyphische“ Bücher, unter die für Spinoza die Bibel fällt, könnten nur über einen indirekten Zugang verstanden werden, der nicht aus dem Buch selbst stamme, sondern vielmehr mit dem Lesen im „Buch der Natur“ vergleichbar wäre. Während es daher methodischer Voraussetzungen und Kenntnisse, wie bspw. der Rezeptionstradition oder biographischer Daten der Autoren, bedürfe, um die Bibel zu verstehen, benötige das „allgemein verständliche“ Buch keine weiteren Erfordernisse.70 Strauss’ Prämisse, Rückschlüsse von der Lesart auf die Schreibart eines Autors ziehen zu können, wird allerdings dadurch fragwürdig, dass Spinoza sich selbst nicht an seine eigens aufgestellten „hermeneutischen Prämissen“ hält. Da es sich nicht um ein „hieroglyphisches“ Buch handle, müsste sich Spinoza um die größte Klarheit und Verständlichkeit bemüht haben, jedoch seien seine „intelligiblen“ Bücher weder einfach noch „allgemein verständlich“. Spinozas eigens aufgestellte Regeln hätten in eine „Sackgasse“ (impasse) bezüglich der Frage geführt, wie sein Werk selbst gelesen werden soll. Strauss präzisiert daher seine hermeneutische Annahme, vom Lesen auf das Schreiben zu schließen, folgendermaßen, dass er nunmehr danach fragt, wie es Spinoza selbst beabsichtigt habe, dass seine Bücher gelesen werden.71 Damit wendet sich Strauss gegen die Herangehensweise, einen philosophischen Autor rückblickend betrachtet besser verstehen zu wollen, und plädiert für eine Lesart, die einen philosophischen Denker so verstehen will, wie er sich selbst verstand und wie er verstanden werden wollte.72 Wer einen philosophi69

Ebd., S. 148. „Intelligible books are self-explanatory“ (ebd., S. 149). 71 Dementsprechend muss auch die Frage nach den beabsichtigten Adressaten des philosophischen Autors gestellt werden. Auch wenn Spinoza unterstellt werde, dass sich seine Bücher primär an Zeitgenossen richteten, so seien diese, so Strauss, vornehmlich an die Nachwelt adressiert (vgl. ebd., S. 160). 72 In seiner frühen und kaum zitierten Schrift Cohen und Maimuni (1931) unterscheidet Strauss bereits die Herangehensweise an Texte mit der Frage nach der Intention des Autors und grenzt diese von historistischen Methoden ab. „Den Autor verstehen, wie er sich selbst versteht“ müsste somit der eigentliche Ehrgeiz eines Historikers sein. Dabei wirft Strauss in dieser Schrift vor allem Hermann Cohen vor, dass er in Anlehnung an Kant davon ausgehe, den Autor besser verstehen zu können als dieser sich selbst verstand (vgl. Strauss (1997b), S. 400). Die von ihm erwähnte Kant-Referenz findet sich in der Kritik der reinen Vernunft (KrV A314/B370). In dieser Passage behandelt Kant das Verstehen der überlieferten Philosophie, in diesem Fall Platons Ideenlehre: „Ich merke nur an, dass es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand [. . .]“. „Historisches Verstehen“ heißt für Strauss in dem am 16. Mai 1944 gehaltenen und 1989 erstmals publizierten Vortrag How to begin to study Medieval Philosophy wiederum, einen Autor der Vergangenheit genauso verstehen zu wollen wie er sich selbst 70

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schen Autor mit historisch genauen Ansprüchen verstehen möchte, muss sich fragen: „What was the conscious and deliberate intention of its originator?“ 73 Diese „Intention des Philosophen“ 74 zu verstehen ist die größte Herausforderung an den Leser, aber auch gleichzeitig der wichtigste Schlüssel zum Textverständnis. Sie eröffnet ebenfalls den Zugang zu Strauss’ Texten, wenn man sich fragt, warum er seine Philosophie nicht systematisch, sondern in Gestalt von Kommentaren philosophiegeschichtlicher Werke vorlegt. Während Philosophie für Strauss nun gerade nicht historisch bedingt ist, spielt nichtsdestotrotz die historische Situation, in deren politischem Kontext das Werk geschrieben wurde, eine wichtige Rolle. Zunächst verortet er daher Spinoza historisch in eine Zeit strenger Zensurbedingungen und deutet dementsprechend Widersprüche im Traktat als Hinweise auf eine exoterische Schreibweise, wodurch Strauss mit Spinoza einen „modernen“ Vertreter der „Kunst des Schreibens“ vorzeigen kann. In der nun folgenden inhaltlichen Analyse von Spinozas Werk entwickelt Strauss im Hinblick auf die Adressaten des Apostels Paulus folgende Richtlinie, um ad captum vulgi loqui zu sprechen: „If an author who admits, however occasionally, that he speaks ,after the manner of man,‘ makes contradictory statements on a subject, the statement contradicting the vulgar view has to be considered as his serious view; nay, every statement of such an author which agrees with views vulgarly considered sacred or authoritative must be dismissed as irrelevant, or at least it must be suspected even though it is never contradicted by him.“ 75

Der philosophische Autor müsse sich daher exoterisch den konkreten Vorurteilen einer konkreten „vulgären“ Gruppe anpassen.76 Die exoterische Lehre ist verstand (Strauss (1989c), S. 208). Zu einer Kontextualisierung des „besser verstehen“Axioms innerhalb der Kritik der reinen Vernunft, zu dessen Rezeptionsgeschichte und Strauss’ Kant-Verständnis vgl. Meyer (2010); zur ausführlicheren Auseinandersetzung mit Strauss’ „historischem Verstehen“ vgl. das Kapitel Historisches Verstehen. 73 Strauss (1989c), S. 209. Es ist gerade diese „Autorenintention“, die von dem literaturwissenschaftlichen Ansatz des New Criticism strikt abgelehnt wird, da es keine Bedeutung außerhalb des Textes geben könne und ein Wissen über die Absicht des Autors schier unmöglich zu erlangen und darüber hinaus unnötig sei (vgl. dazu Wimsatt/ Beardsley (1946); Abrams (1988), S. 84 f.). 74 Strauss verwendet diese Formulierung in seiner Antwort auf Eric Voegelins Rezension zu seiner Schrift über Xenophons Hiero, indem er der Frage nach der bewussten Intention eines Autors eine hermeneutische Herangehensweise über die historische Wirkung oder der Annahme, das Denken sei an eine historische Situation gebunden, gegenüberstellt (vgl. Strauss/Voegelin (2004), S. 54). Dementsprechend betitelt Strauss seinen Kommentar zu Rousseau als On the Intention of Rousseau. Diese hermeneutische Verlagerung von der Rezeptionsgeschichte oder einer historischen Kontextualisierung hin zu der Frage, was der Autor mit seinem Werk beabsichtigte, wird von Heinrich Meier als hermeneutischer Kern von Strauss’ Denkbewegung aufgegriffen, die von der Geschichte der Philosophie zu der Intention des Philosophen verläuft (Meier (1996)). 75 Strauss (1988a), S. 177. 76 Ebd., S. 178.

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dabei geschichtlich an politische, religiöse und moralische Meinungen der jeweiligen Zeit gebunden, die der Philosoph berücksichtigen muss, um einerseits überhaupt öffentlich Gehör zu finden und andererseits Verfolgung zu vermeiden. Das Denken der Philosophen unterliegt jedoch gerade nicht dieser geschichtlichen Abhängigkeit an Erwartungen, Meinungen und Vorurteile. Strauss betont daher, dass die populären Ansichten vor allem für politische und praktische Belange unverzichtbar sind, während die philosophische Wahrheit rein theoretischer Art und vor allem transhistorisch ist.77 Philosophie sei auf die Art historisch bedingt, wie sie ihre Gedanken öffentlich mitteile, sowie in der Hinsicht, was ihre jeweilige Zeit von ihr erwartete und erlaubte. Spinoza hätte demnach zu einer anderen Zeit, ggf. an einem anderen Ort, seine exoterische Lehre anders gestalten müssen, um seine philosophischen Gedanken exoterisch zu schützen, ohne diese dabei auch nur ansatzweise ändern zu müssen.78 Daher ist die exoterische Lehre, nicht jedoch die philosophische „historisch“ zu verstehen, indem sie auf die populären Ansichten der jeweiligen historischen Situation eingeht und sich ihr anpasst.79 Wäre hingegen auch die „philosophische Lehre“ dem geschichtlichen Kontext ausgeliefert, bestünde keine Möglichkeit, einen Philosophen der Vergangenheit so zu verstehen, wie er sich selbst versteht. Der Philosoph muss daher ein guter Historiker werden, wenn er ein wahrer Philosoph sein möchte, um die exoterische, geschichtlich bestimmte Hülle der Meinungen der jeweiligen Zeit zu erkennen und das philosophische Denken des Autors angemessen verstehen zu können.80 „Only because public speech demands a mixture of seriousness and playfulness, can a true Platonist present the serious teaching, the philosophic teaching, in a historical, and hence playful, garb.“ 81

Strauss unterscheidet daher im Aufsatz How to Study Spinoza’s TheologicoPolitical Treatise zwei Schritte, um die Intention des Autors verstehen zu können: erstens die Interpretation und zweitens deren Überprüfung (explanation). „By interpretation we mean the attempt to ascertain what the speaker said and how he actually understood what he said, regardless of whether he expressed that under77

Strauss (1988c), S. 36. Strauss (1988a), S. 192. 79 Ebd. 80 Meier (1996), S. 22. Meier verweist auf eine autobiographische Notiz aus den 30er Jahren, die sich im Strauss’schen Nachlass befindet und diesen Zusammenhang beschreibt: „Das historische Bewusstsein ist an eine bestimmte geschichtliche Situation geknüpft; wir heute müssen Historiker werden, weil wir nicht über die Mittel verfügen, die sachliche Frage angemessen zu beantworten“ (zitiert in: ebd.). 81 Strauss (1945), S. 375 f. Strauss bezieht sich hier auf Farabi, doch könne man, so Heinrich Meier, Farabi ebenso durch Strauss ersetzen. Zur Auseinandersetzung zwischen Ernsthaftigkeit und Spielerischem im Medium Schrift siehe das Kapitel Schriftlichkeit und die „kunstmäßige“ Rede. 78

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standing explicitly or not. By explanation we mean the attempt to ascertain those implications of his statements of which he was unaware. [. . .] It is obvious that the interpretation has to precede the explanation.“ 82

Bei der Interpretation wird hinsichtlich der expliziten und impliziten Aussagen des Autors nach der mitzuteilen beabsichtigten Idee des Autors gefragt, während bei der Überprüfung vom Autor unausgesprochene, weil den historischen Kontext betreffende Voraussetzungen gedeutet werden, für die ein angemessenes „historisches Verstehen“ absolut notwendig ist. Strauss setzt somit die Frage nach der83„Intention des Autors“ vor die kontextbezogene, erklärende Überprüfung dieses Anspruchs. Er richtet sich mit dieser Auffassung gegen die Herangehensweise eines Historikers,84 der mit seiner genauen Analyse der explizit geäußerten Fakten sowie der Annahme, alles Denken sei historisch bedingt, den philosophischen Gedanken nicht verstehen könne. Mit Strauss’ Worten darf daher Exaktheit nicht mit Verweigerung oder Unfähigkeit verwechselt werden, „den Wald vor lauter Bäumen nicht [zu] sehen“.85 Die wichtigste Voraussetzung, einen textimmanent esoterischen Text mit dem Anspruch verstehen zu können, dessen philosophischen Autor genauso zu verstehen, wie er sich selbst versteht, entwickelt Strauss ebenfalls in seinem Kommentar zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat. Es benötige dafür einen „notwendigen Anreiz“ von außen (necessary incentive), nämlich einen Wahrheitsanspruch an den Text einerseits und auf der Seite des Lesers wiederum eine „wahrheitssuchende“, d.h. philosophische Natur. Mit diesem hermeneutischen Wahrheitsanspruch an einen philosophischen Text geht auch eine Wiederbelebung der Politischen Philosophie einher, die gerade aufgrund des scheinbaren Unvermögens, transhistorische sowie -kulturelle Gültigkeit für Normen behaupten zu können, als „tot“ erklärt wurde. Denn einen Philosophen der Vergangenheit mit diesem Wahrheitsanspruch so verstehen zu wollen, wie er sich selbst verstand, heißt, „vom überlieferten ,Beitrag‘ des Philosophen zur ,Geschichte der Philosophie‘ auf seine Intention zurückgehen“.86 82

Strauss (1988a), S. 143; meine Hervorhebung. Entgegen der dekonstruktivistischen Hermeneutik, die von mehreren, beabsichtigten oder unbeabsichtigten, Bedeutungen in einem Text ausgeht, will Strauss mit seiner Politischen Hermeneutik zeigen, dass es sich bei scheinbaren „blinden Flecken“ nicht um unbeabsichtigte „Fehler“, sondern um einen beabsichtigten Hinweis bzw. ein bewusstes Schweigen im Sinne der „Intention des Autors“ handeln könne: „For the infinite variety of ways in which a given text can be understood does not do away with the fact that the author of the text when writing it, understood it in one way only“ (Strauss (1989c), S. 210). 84 Ebd., S. 29. Vgl. hierzu auch das Kapitel Historisches Verstehen. 85 Vgl. ebd., S. 30. So wirft vor allem Shadia Drury Strauss vor, dass die „Kunst des Schreibens“ eine Interpretationsmethode hervorbringe, der es „offenkundig an Klarheit und Genauigkeit mangelt“ (Drury (2005), S. 10 f.). 86 Meier (1996), S. 31. 83

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Der zur Philosophie fähige Leser muss philosophischen Texten daher zum einen unterstellen, inhaltlich eine philosophische Wahrheit zu vermitteln. Zum anderen muss er, entsprechend Strauss’ strengen Auffassung eines Autors, diesem unterstellen, dass er in der Lage ist, sein Werk auf unterschiedlichen, textimmanenten Ebenen gemäß der „logographischen Notwendigkeit“ verschlüsselt zu haben und entsprechend einer adressatengerechten Politischen Rhetorik die mögliche Unvollkommenheit seiner Leser mit reflektiert zu haben. Der „notwendige Anreiz“, einen esoterischen Text verstehen zu können, ist demnach sowohl ein inhaltlicher als auch formaler „Vorgriff auf Vollkommenheit“.87 „If we reject Spinoza’s belief [in the final character of his philosophy as the clear and distinct and, therefore, the true account of the whole] a limine, we will never be able to understand him because we lack the necessary incentive for attempting to understand him properly. On the other hand, if we open our minds, if we take seriously the possibility that he was right, we can understand him.“ 88

Ginge der Leser davon aus, dass ein philosophischer Autor keine Wahrheit zu vermitteln beabsichtigte, würde er Widersprüche, die als hinweisende „Stolpersteine“ dienen, entweder übergehen oder ihn als inkonsequenten Autor abwerten. „Without that incentive [the suspicion that Spinoza’s teaching is the true teaching] no reasonable man would devote all his energy to the understanding of Spinoza, and without such devotion Spinoza’s books will never disclose their full meaning.“ 89

Nur der Leser, der davon ausgeht, dass der vorliegende Text die Wahrheit beinhaltet, ist in der Lage, ihn zu verstehen. Wer hingegen von der historistischen Annahme ausgeht, den Text immer nur anders verstehen zu können, schließt die Möglichkeit, den Autor so zu verstehen, wie er sich selbst versteht, von vornherein aus. Dieser Leser glaubt dann, die Autoren der Vergangenheit besser verstehen zu können, da er meint, erkannt zu haben, dass jedes Denken geschichtlich gebunden ist. Er kann dem Text keine allgemeingültige Wahrheit mehr unterstellen und verschließt sich der Möglichkeit, etwas Wahres von dem Autor zu lernen. Die Herangehensweise an einen philosophischen Text bedarf daher einer „gewagten Demut“, indem sich der Leser dem autoritativen Wahrheitsanspruch unterwirft, sich jedoch zugleich mit mutiger Unerschrockenheit (boldness) dem mühsamen und langwierigen Studium des philosophischen Textes zuwendet. Es ist diese hingebungsvolle Aufopferung (devotion) an die Suche nach Wahrheit, mit der Strauss das „bloße“ Lesen intelligibler Schriften vom Studium, im ur87 Gadamer (1990), S. 279. Während für Gadamer der „Vorgriff auf Vollkommenheit“ eine Bedingung darstellt, überhaupt verstehen zu können, kann dieser keine inhaltliche Vollkommenheit beanspruchen. Zur Auseinandersetzung zwischen Gadamer und Strauss hinsichtlich des unvollkommenen „Vorgriffs auf Vollkommenheit“ vgl. das Kapitel Gadamers unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit“. 88 Strauss (1988a), S. 154. 89 Ebd., S. 152.

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sprünglichen Sinne von studere90, unterscheidet. Nicht umsonst verwendet er im Titel des Spinoza-Aufsatzes die Formulierung „How to study“ statt bloß „How to read“.91 Strauss ruft mit seinem erzieherischen Bildungsprogramm der liberal education daher dazu auf, die „großen Bücher“ der philosophischen Tradition sorgfältig zu studieren, was Steven Smith zu der Aussage verleitet haben muss, dass, hinsichtlich sämtlicher Unterstellungen, inwiefern Strauss politisch involviert gewesen sei, „Straussians“ sich allein durch das sorgfältige Lesen von „great books“ auszeichneten.92 Die hermeneutische Anstrengung des Studiums philosophischer Bücher ist dabei eng an die philosophische Anstrengung des sokratischen Hinterfragens geknüpft. Die exoterische Schreibart funktioniere letztendlich deswegen, weil es naturgegebene Hürden zur Philosophie gebe, die zu allen Zeiten die gleichen seien.93 Nur eine Minderheit der Leser frage entkoppelt von wirkungsgeschichtlichen Auslegungen ernsthaft nach der Intention des philosophischen Autors und nur wenigen gelinge es, die Denkbewegung des philosophischen Autors selber nachzuvollziehen. Da die Gesellschaft immer auf doxaischen Meinungen und Vorurteilen gegründet ist, gibt es eine unaufhebbare Spannung zwischen den wenigen, die zum sokratischen Philosophieren fähig sind, und den vielen, die in erbaulicher doxa leben. Die „Kunst des Lesens“ verweist demnach auf den prinzipiellen Zusammenhang zwischen Politischer Philosophie und Hermeneutik. Das Verstehen esoterischer Texte versteht sich nicht als eine sektenähnliche Einweihung und behandelt dementsprechend keine Geheimlehre, sondern erfolgt über Selbstselektion und schrittweisen Aufstieg aus der „politischen Höhle“ der Meinungen (doxa). Dementsprechend werden in den „großen Büchern“ keine systematisierten Wahrheiten präsentiert, sondern lediglich Hilfestellungen in Form von „Stolpersteinen“ für den Weg zum philosophischen Denken.94 Im Me-

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lat. nach etwas streben Vgl. dazu auch die Überschrift How to begin to study Medieval Philosophy. 92 „No one can be a Straussian who does not fundamentally love to read“ (Smith (2007), S. 7). 93 Strauss (1988a), S. 155. 94 Dementsprechend richtet sich Strauss strikt gegen die Annahme, alle esoterischen Bücher könnten auf die gleiche Art und Weise kodiert sein. Es ist gerade die exoterische Oberfläche, die sich der jeweiligen historischen Situationen anpasst, daher kann die Verschlüsselung sowohl aufgrund der exoterischen als auch der esoterischen, philosophischen Ebene nicht vereinheitlicht werden. Dementsprechend ist der Vorwurf, Strauss orientiere seine Hermeneutik an der kabbalistischen Numerologie (vgl. Gadamer (1984), S. 8; Drury (1999), S. 59), nicht haltbar. Strauss kannte zwar die kabbalistischen Forschungen zur jüdischen Mystik, vor allem die seines lebenslangen Freundes Gershom Scholem, und auch seine Machiavelli-Interpretationen finden numerologische Anwendungen; diese sind für ihn jedoch keinesfalls methodisch auf andere Schriften übertragbar (vgl. Strauss (1995c), S. 311, 313 ff.; vgl. diesbezüglich auch Strauss’ Maimonides-Interpretation in: Strauss (1989y), S. 165 ff.). Zu den Unterschieden siehe Smith (1993), S. 215, 219 f. Darüber hinaus differenziert Strauss selbst explizit zwi91

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dium der Interpretation schafft es Strauss’ Politische Hermeneutik, das philosophische Denken von den historizistischen und positivistischen Vorurteilen seiner Zeit zu befreien und sokratisches Philosophieren wieder zu ermöglichen. Wie die platonischen Dialoge präsentieren Strauss’ Schriften keine systematisierte Lehre, sondern stellen in ihrer schriftlichen Form einen Protreptikos der Philosophie dar. Der Leser muss selbst philosophieren, um die Intention des Politischen Philosophen Strauss95 hinter scharfsinnig formulierten Widersprüchen und Andeutungen so verstehen zu können, wie er sie selbst versteht.96 Den Weg zu dieser Intention ermöglichen allein das „erotische“ Streben nach Wahrheit und der „notwendige Anreiz“, dass philosophische Schriften etwas Wahres vermitteln, weswegen der philosophische Leser sich auf die Denkbewegung des philosophischen Autors einlässt. 2. Das Gespräch „verwandter Naturen“ „Wenn der Abend kommt, kehre ich nach Hause zurück und gehe in mein Schreibzimmer, und auf der Schwelle werfe ich das schmutzige Alltagsgewand ab und lege königliche Hoftracht an und betrete so passend gekleidet die Hallen der Männer des Altertums, die mich liebevoll aufnehmen, und wo ich mich von der Speise nähre, die mir allein angemessen und für die ich geboren bin. Da kann ich ohne Scheu mit ihnen reden und sie nach den Gründen ihres Handelns fragen, und freundlich antworten sie mir.“ Niccolò Machiavelli 97

Wenn der Leser sich ernsthaft darum bemüht, die „Intention des Autors“ verstehen zu wollen, lässt er sich in „wagemutiger Demut“ auf die Denkbewegung des Autors ein. Die hermeneutische Aktivität wird dabei zu einer philosophischen, da der Leser, der dieses philosophische Denken des Autors nachvollziehen will, dieses selbst denken muss. Für Heinrich Meier bewegt sich der Leser daher auf einer Ebene mit dem philosophischen Autor: schen einer „acroamatischen“, ungeschriebenen Geheimlehre und der esoterischen „Kunst des Schreibens“ (vgl. Strauss (1988d), S. 47). 95 Zur Debatte, ob Strauss selbst esoterisch geschrieben hat, vgl. das Kapitel Die textimmanente Esoterik von Leo Strauss. 96 Diesen Zusammenhang formuliert Allan Bloom folgendermaßen: „The Platonic dialogues do not present a doctrine; they prepare the way for philosophizing. They are intended to perform the function of a living teacher who makes his students think, who knows which ones should be led further and which ones should be kept away from the mysteries, and who makes them exercise the same faculties and virtues in studying his words as they would have to use in studying nature independently. One must philosophize to understand them“ (Bloom (1991), S. xxi). 97 Brief von Machiavelli an den florentinischen Botschafter in Rom, Francesco Vettori, vom 10. Dezember 1513.

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„Wer alles daran setzt, einen Philosophen so zu verstehen, wie dieser sich selbst verstand, und wer sich bei dessen Studium von der Maxime leiten lässt, dass die größte Anstrengung und Sorgfalt darauf zu verwenden sei herauszufinden, ob sein Œuvre die Wahrheit enthält, der mag den Punkt erreichen, an dem es für ihn keinen Unterschied mehr macht, ob er die Gedanken jenes Philosophen oder ob er seine eigenen Gedanken denkt, weil er sich auf einer Ebene bewegt, auf der die Alternativen sichtbar hervortreten, die jenseits der ,geschichtlichen Gebundenheit‘ des Autors wie des Interpreten die Sache bestimmen, auf die das Denken beider gerichtet ist.“ 98

Hinsichtlich dieser Perspektive der Begegnung auf einer Ebene, die Meier zudem als „Begegnung verwandter Naturen“ bezeichnet,99 fällt zunächst der Widerspruch auf, dass ein Sich-Einlassen auf die Denkbewegung des Autors starke autoritäre Züge trägt, da vom Leser von Anfang an die Bereitschaft erwartet wird, sich demütig auf den Text einzulassen. Strauss’ hermeneutischer Ansatz zwingt jedoch nicht nur dazu, sich mit größter Achtsamkeit auf das Denken des Autors einzulassen, sondern sich auf die Seite der Philosophie zu stellen, um überhaupt die „Intention des Philosophen“ erkennen zu können. Unter diesen autoritären Aspekt fällt ebenso Strauss’ autoritäre Charakterisierung der Beziehung zwischen Autor und Leser als ein „model and following the model“ 100. Das Verstehen einer philosophischen Schrift scheint somit auf den ersten Blick zutiefst hierarchisch geprägt zu sein und einen eher rezeptiven Charakter zu haben. Das von Strauss erwähnte „Nachfolgen“ darf hierbei jedoch nicht als blinde Nachahmung verstanden werden, sondern vielmehr als eine philosophische aufmerksame Auseinandersetzung mit dem geschriebenen Text, was letztendlich erst zu der Begegnung mit dem philosophischen Autor führt. Jacob Klein hat diesen Zusammenhang treffend formuliert: „Words can be repeated or imitated; the thoughts conveyed by the words cannot: an ,imitated‘ thought is not a thought.“ 101

Dass dieses Denken der Denkbewegung des Philosophen zu einer „Begegnung verwandter Naturen“ führt, ist eine Überlegung, die an ein Unterkapitel von Nietzsches Fröhliche Wissenschaft mit der Überschrift Zur Frage der Verständlichkeit erinnert, in dem er sich hinsichtlich der „Kunst des Schreibens“ darüber äußert, für wen der Autor eigentlich schreibt: „Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht eines Schreibers, – er wollte nicht von ,irgend Jemand‘ verstanden werden. 98

Meier (1996), S. 42. Ebd., S. 34. 100 Brief von Strauss an Gadamer vom 26. Februar 1961 in: Gadamer/Strauss (1978), S. 6; vgl. auch Gadamer (1990), S. 321. Vgl. hierfür auch den Aspekt von Strauss’ Rehabilitierung des Vorurteils als Ausgangslage allen Verstehens in Kapitel Strauss’ Rehabilitierung des Vorurteils als proteron pros hemas. 101 Klein (1998), S. 17. 99

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Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen ,die Anderen‘ seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten ,den Eingang‘, das Verständnis, wie gesagt, – während sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind.“ 102

Die Auswahl und Adressierung der Leser hebt Nietzsche bereits durch den Untertitel seiner Schrift Also sprach Zarathustra hervor, mit der er sich an „Alle und Keinen“ wendet. „[F]einere Gesetze eines Stils“ beschränken den Adressatenkreis, trotz der breiten Zugangsmöglichkeit des gedruckten Wortes, auf diejenigen, die mit dem philosophischen Autor insofern „verwandt“ sind, als sie eine philosophische Natur haben. Der „ohrenöffnende“ Zugang zum Verständnis der philosophischen Intention erfolgt über die „notwendige Voraussetzung“, dem philosophischen Autor zu unterstellen, im Text inhaltlich und formal etwas Wahres vermitteln zu wollen und diesem nachzugehen. Strauss betont zudem, dass es für einen „ohrenöffnenden“ Zugang zum Verstehen unerlässlich ist, die eigene Notwendigkeit zum Zuhören erkannt zu haben, nämlich das eigene Nicht-Wissen: „For before men can genuinely listen to a teaching, they must be willing to do so; they must have become aware of their need to listen.“ 103

Diese Selbsterkenntnis von Seiten des Lesers, dass ein Mangel an Wissen ihn zum Zuhören zwingt, kennzeichnet jenes hierarchische Wissensgefälle, das von Platon im Symposion mit dem philosophischen eros beschrieben wird. Dieses Wissensgefälle in Verbindung mit einer „erotischen“ Ebene beschreibt auch Strauss, wenn er als Adressaten die zukünftigen, potentiellen Philosophen,104 die „young puppies“, nennt.105 Die esoterisch-exoterische Kunst des Schreibens verdanke sich der „Liebe des reifen Philosophen für die jungen Hunde seiner Rasse, von denen er seinerseits geliebt werden möchte“.106 Die Metapher der jungen Hunde, auf die Strauss verweist, stammt aus der Textstelle der Politeia (539a–d). Sie betont, dass sich nur ernste Naturen für Philosophie eignen, vor allem im Hinblick darauf, dass öffentliches Philosophieren allen Grund zur Vorsicht gebietet. Daher mahnt Strauss zusätzlich mit einem Verweis auf die Anklage in der 102

Nietzsche (1980), S. 633 f. Strauss (1997h), S. 59 f. 104 Vgl. Strauss (1939), S. 534. 105 Da diese als potentielle Philosophen größtenteils noch die Meinungen (doxa) der Menge teilen, trägt die Adressierung demnach im Esoterischen philosophische Elemente, die pädagogisch vermittelt werden, als auch erbauliche, die politische doxa bestätigende auf der exoterischen Ebene. Für Matthias Bohlender, der Strauss als politischen Theoretiker und politischen Berater sieht, gibt es zusätzlich die politische sowie die politisch-wissenschaftliche Ebene und demnach mehrere auktoriale Intentionen. Da dies eine Politische Hermeneutik vor größte Schwierigkeiten stellt, zeigt das Kapitel Der Philosoph und der „Gentleman“, dass Strauss lediglich die Philosophen und die Nicht-Philosophen als Adressaten unterscheidet. 106 Strauss (2009), S. 49, engl. Strauss (1988c), S. 36. 103

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Apologie des Sokrates (23c), dass Sokrates, da er die Jugend zur Philosophie erziehen möchte, eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt. Dass sich der Philosoph durch seine Schriften dieser Gefahr dennoch aussetzt, geschehe aus Liebe zu den (zukünftigen) potentiellen Philosophen. Wenn der Autor solcher Schriften sich demnach der „Kunst des exoterischen Schreibens“ bedient, die einerseits sein politisches Umfeld aus Eigenschutz mit reflektiert und andererseits den Leser zum Philosophieren führt, können alle exoterischen Bücher als „written speeches caused by love“ 107 verstanden werden. Strauss zitiert diese Stelle ohne Quellenverweis – doch der vorausgehende Bezug auf Platon lässt auf eine zugespitzte Zusammenfassung von Platons Dialog Phaidros schließen. Dieser Dialog behandelt oberflächlich zunächst „geschriebene Reden über die Liebe“, stellt in seiner philosophischen Dimension zudem eine „geschriebene Rede aus Liebe“ dar, die sich einer „erotischen Rhetorik“ 108 bedient, um eine „philosophische Politik der Freundschaft“ herbeizuführen. Die Frage, wie eine „Begegnung verwandter Naturen“, zwischen Autor und Leser, erfolgen kann, muss allerdings genauer betrachtet werden. Die Verbindung von Freundschaft (philia) und philosophischem eros ist für Strauss dabei konstitutiv. Nietzsche erkannte demnach sein Dilemma, dass das Wesen des Philosophierens zwar an „Einsamkeit, Entfremdung, vielleicht auch Erkältung“ 109 gekoppelt ist, es andererseits jedoch nach Weitergabe, wenn nicht gar Anerkennung verlangt. Karl Jaspers deutet ferner den wesentlichen Grund für Nietzsches Einsamkeit, dass philosophische Kommunikation für ihn nur auf gleichem Niveau – weder mit Höherem noch mit Niederem – möglich sei.110 Bei Ungleichheit im geistigen Rang höre bei Nietzsche die Möglichkeit sowohl des philosophischen Austausches als auch der Freundschaft auf: „Und es gibt nur inter pares vollkommene Freundschaft. Inter pares!“ 111

Ebenso betont Strauss in einem Brief an Jacob Klein, dass „das Höhere nicht ,Freund‘ des Niederen sein [kann]“.112 Die Tragik bei Nietzsche ist nun, dass er „unter den Lebenden so wenig als unter den Toten“ 113 keinem ihm in seiner philosophischen Art Gleichgesinnten, einen „Mitwisser und Freund“ 114, getroffen hat, mit dem er sich „verwandt“ fühlt, weswegen er sich, auch in dieser Hinsicht, an „zukünftige Philosophen“ wendet. Dabei existiert der zukünftige Leser als „impliziter Leser“ während des Schreibens in der Vorstellung des Autors, wes107 108 109 110 111 112 113 114

Ebd. Strauss (1997h), S. 134. Brief vom 17. Oktober 1885 an Overbeck in: Nietzsche/Overbeck (2000). Jaspers (1981), S. 89 f. Brief vom 8. Juli 1886 an seine Schwester in: Nietzsche (1982). Brief vom 7. August 1939 in: Strauss (2001d), S. 575 f. Brief vom 5. August 1886 an Overbeck in: Nietzsche/Overbeck (2000). Brief aus dem März 1885 an seine Schwester in: Nietzsche (1982).

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wegen Nietzsche seine intellektuelle Einsamkeit umgeht, indem er seine zukünftigen Leser antizipiert und mit „meine unbekannten Freunde“ 115 anspricht. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang der „Begegnung philosophischer Naturen“ vor allem Strauss’ explizite Erwähnung, dass die meisten philosophischen Autoren Monologe verfassten und es selbst in den platonischen Dialogen keine Gespräche zwischen „gleichwertigen“ Philosophen gibt. Vielmehr spreche Sokrates zu Jugendlichen, Sklaven, Sophisten oder Schülern. Betrachtet man jedoch die Form dieser Unterhaltungen, so spricht Sokrates mit bspw. Menon im gleichnamigen Dialog als Freund, nicht wie mit einem klugen Meister der Sophistik. Sokrates lehrt seine Gesprächspartner nicht einfach bloß „Wahres“, sondern wirft Fragen auf, die zum philosophischen Weiterfragen verhelfen sollen.116 Ganz anders als der agonistische Tonfall, der unter eristischen Sophisten Usus war, spricht Sokrates freundschaftlich mit ihnen, weswegen die platonischen Dialoge als Vorbild des philosophischen Gesprächs dienen und zum Nachahmen anleiten.117 Szlezák deutet dieses Phänomen so, dass es Platon folglich nicht darum geht, eine Aussage lediglich vorzulegen, um diese widerlegen zu lassen, sondern ein philosophisches Gespräch zu führen: Mit Freunden rede man sanfter und „gesprächsmäßiger“.118 „Verständigung ist nur unter ,Freunden‘ möglich. [. . .] Dialektisches oder wirkliches Philosophieren ist nicht unabhängig von bestimmten menschlichen Bedingungen zu verwirklichen.“ 119

Eine Textpassage im Siebten Brief bestätigt Szlezáks Auffassung, dass für Platon Philosophieren sowie philosophisches Verstehen systematisch an Freundschaft (philia) und Wohlwollen (eunous) gekoppelt und wirkliche Erkenntnis nur „mit der Sache verwandten“ Partnern zu erreichen ist.120 Wie lässt sich dies mit der Anforderung verstehen, dem philosophischen Text demütig gegenüberzutreten und etwas von dem philosophischen Autor lernen zu wollen, wenn doch letztendlich eine Politische Hermeneutik zu einer „philosophischen Politik der Freundschaft“ führen soll, deren Freundschaft nicht nur die gleiche Gesinnung, sondern auch Gleichrangigkeit verlangt? In Bezug auf diese zunächst irreführende Widersprüchlichkeit zwischen autoritärem, hierarchischem Gefälle und gleichrangiger Freundschaft äußert sich Strauss folgendermaßen: Man dürfe sich dem Überlegenen nicht aus der Sicht des Unterlegenen (understand the low in the light of the high), sondern umge115

Nietzsche, Genealogie (KSA 5), 410. Platon, Menon, 75c–d. 117 Zur Nachfolge Sokrates’ vgl. Strauss (1997h), S. 51; Strauss (1989g), S. 37 f. 118 Szlezák leitet entsprechend dialektikoteron von dialegesthai ab (vgl. Szlezák (1985), S. 181). 119 Szlezák (1985), S. 182. 120 Vgl. Platon, Siebenter Brief, 343a–344c. 116

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kehrt, sich dem Unterlegenen so nähern, wie er sich aus Sicht des Überlegenen darstellt. Dadurch schwäche man das Höhere nicht ab, sondern lasse dem Unterlegenen den Freiheitsgrad, sich als der Unterlegene zu erkennen und sich zum Höheren zu entwickeln.121 Der noch unterlegene Leser muss demnach den pädagogischen und politischen Grund erkennen, warum der Überlegene, der philosophische Autor, in seinen Schriften nicht überlegen, sondern „gesprächsmäßiger“ 122 und moderat auftritt. Zudem erwähnt Strauss, dass sich Platon der Unmöglichkeit bewusst gewesen sein muss, keinen Dialog zwischen „two men of the highest order“ 123 schreiben zu können, der der Sache der Philosophie gerecht wird. Strauss sieht daher die Aufgabe des Lesers darin, Monologe – auch wenn sie in Dialogen stehen – in Dialoge (conversation) zu transformieren. Die Transformation von einem zunächst hierarchischen Gefälle wandele sich zunächst zu einem „side to side“ und schließlich zu einem „together“.124 Dieses „Zusammensein“ darf jedoch nicht als eine Art divinatorischer Akt einer „Kommunion der Seelen“ missverstanden werden, in dem sich der Leser mit der seelischen Verfassung des Autors verbunden fühlt. Vielmehr stellt sich der Verstehensprozess zunächst als ein Anerkennen der Überlegenheit des jeweiligen „greatest mind“ dar, der als Politischer Philosoph sich einer platonischen Politischen Rhetorik bedient und seine philosophische „Lehre“ zwischen den Zeilen schreibt. Um diese leise, moderate Stimme hören zu können, die sich zudem vom „Scheinwerferlicht fern hält“ 125, muss sich der Leser vom „ohrenbetäubenden Gerede“ 126 jener Antworten befreien, die „von den Dächern gepredigt werden“ 127, und mehr auf die Aussagen des Schweigens hören. Das Studium der „great books“ zeichnet sich für Strauss demnach durch ein aufmerksames und gefügiges Zuhören der Monologe der autoritativen „greatest minds“ aus. Durch das Einlassen auf die Denkbewegung des philosophischen Autors fragt der Leser die gleiche philosophische Frage, deren Antwortmöglichkeiten in einem dialektischen Prozess überprüft und durch erneutes Lesen, Weiter- und Hinterfragen fortgeführt werden. Auf diese Weise werden aus den Monologen der „great books“ Dialoge über die jeweilige „philosophische Sache“. Gerade weil Strauss in seinem Aufsatz What is Liberal Education? Verstehen als „I-Thou-We“-Relation beschreibt,128 lässt sich die Beziehung zwischen Autor 121

Strauss (1995b), S. 225. Siehe oben: Szlezák (1985), S. 181. 123 Strauss (1995e), S. 7. 124 Ebd. Harald Bluhm sieht diese hermeneutische Dimension nicht, wenn er Strauss nur ein quasi-sokratisches Vorgehen zuschreibt und statt des Verstehensprozesses sich lediglich über die Faktizität des Textes äußert (vgl. Bluhm (2002), S. 336). 125 Strauss (1995e), S. 9. 126 Vgl. ebd., S. 4. 127 Strauss (1945), S. 393. 128 Strauss (1995e), S. 7. 122

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und Leser in der Begegnung „verwandter Naturen“ mit dem „Ich-Du-Dialog“ vergleichen, wie er von Gadamer im letzten Teil von Wahrheit und Methode als wechselseitige Interaktion, allerdings zwischen wirkungsgeschichtlicher Überlieferung und Interpreten, dargestellt wird. Die über die Wirkungsgeschichte an den Leser herangetragene Überlieferung ist für Gadamer nicht bloß ein zu erkennender „objektiver“ Gegenstand, sondern eine spezifische Erfahrung des „Du“, das sich zu einem „Ich“ verhält. Indem Gadamer in Fußnote 306 auf die Reflexionsdialektik von „Ich“ und „Du“ in Karl Löwiths Werk Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) verweist, in dem Löwith das „Du“ nicht einfach als den „Anderen“ aus der „Mitwelt“ beschreibt, sondern immer ein Ich-Du-Verhältnis unter Ausschluss der Anderen meint,129 besteht auch für Gadamer die Erfahrung des „Du“ darin, dass es ein Verhältnis zu sich selbst darstellt, so dass „das Verstehen des Du eine Weise der Ichbezogenheit ist“.130 Für Gadamer geht es in diesem Verhältnis nicht um die Negation von Ansprüchen des anderen oder darum, diesen zu übertrumpfen. Ein so verstandenes Verhältnis setze voraus, den andern besser zu verstehen als dieser sich selbst versteht. Vielmehr gehe es darum, das Wesensmerkmal der Gegenseitigkeit zu betonen, „wenn das eine an ihm selbst auf das andere verweist“ 131. Darüber hinaus behandelt Löwiths Philosophie des Dialogs das Miteinandersprechen als Auseinandersetzung, die er als „Entsprechung“ bezeichnet, mit den Erwartungen des „Du“, das wiederum durch die Gegensätzlichkeit die eigenen Erwartungen reflektiert und dadurch ein Moment der Selbsterkenntnis ermöglicht.132 Verstehen ist daher nicht ein gegeneinander gerichtetes Übertrumpfen der Positionen, sondern ein „Auf-einander-Hören-können“ 133, für das es einer offenen Grundhaltung bedarf. Dies bedeutet, nicht blindlings und „hörig“ die Position des „Du“ anzunehmen, sondern sie mit dem Anspruch gelten zu lassen, dass jenes etwas zu sagen hat. Bezogen auf das Verstehen von wirkungsgeschichtlichen Überlieferungen heißt das wiederum für Gadamer, Texte der Ver-

129 Löwith (1969), S. 55. Dieses reduzierte dualistische Verhältnis von „Ich“ und „Du“ stellt Löwith, entgegen Heideggers unbestimmtem Miteinandersein, als das „eigentliche“ Miteinandersein dar, das sich im Gespräch zwischen „Ich“ und „Du“ verwirklicht (vgl. ebd., S. 109). 130 Gadamer (1990), S. 365. 131 Löwith (1969), S. 62. 132 Gadamer kritisiert dabei das Du-Ich-Verhältnis der Hegel’schen Dialektik, die in ihrer extremsten Form der Herrschaft und Knechtschaft den Standpunkt des anderen antizipiert und reflektiert abfängt (vgl. Gadamer (1990), S. 365). Der Anspruch, den anderen vorgreifend zu verstehen, verbaut dadurch den Anspruch, „das Du als Du wirklich zu erfahren“ (ebd., S. 367). Damit meint Gadamer, den Anspruch des „Du“ nicht zu überhören und sich etwas von ihm sagen zu lassen. Zu Gadamers Erfahrungsbegriff als „grundsätzliche Negation“, die immer ein Moment der Selbsterkenntnis beinhaltet, vgl. ebd., S. 362. 133 Ebd., S. 367.

VI. Politische Philosophie und die „Kunst des Lesens‘‘

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gangenheit nicht als „historisch“ vergangene hinzunehmen, sondern eine „IchDu-Beziehung“ mit ihnen einzugehen.134 Auch Leo Strauss fordert in What is Liberal Education?, sich nicht von einer anmaßenden „Ich-Perspektive“ der „Intention des Philosophen“ zu nähern, sondern diese als „Thou“ anzunehmen und in ein dialogisches „Wir“ (We) zu verwandeln.135 Um dieses Miteinandersprechen zu ermöglichen, präsentiere Platon in seinen Dialogen daher keine ausformulierte, systematische philosophische „Lehre“, sondern orientiere sich am sokratischen Philosophieren als ein „Zusammenfragen“ 136. Deswegen zeigt sich auch Strauss’ „Lehre“ (teaching) nicht in einzelnen Äußerungen, sondern subtil in seinem ganzen Œuvre.137 Seine Schriften sind daher wie die platonischen Dialoge protreptischer Art und lehren, ohne eine systematisch verfasste Lehre zu präsentieren. Vielmehr vermitteln sie eine „philosophische Sache“, die allein jenen „reasonable friends“ 138 zugänglich ist, die eine philosophisch „verwandte“ Natur besitzen. Strauss wählt für diesen Zusammenhang zudem die doppeldeutige Formulierung eines „Übergangs von der Zweidimensionalität des Textes in die Dreidimensionalität“ 139. Damit meint er nicht nur die sorgfältige Betrachtung der Szenerie und des Handlungsganges – die „Reden im Licht der Taten“ sehen –, durch deren imaginierten Nachvollzug ein Wechsel von der Zweidimensionalität der Buchstaben in die Dreidimensionalität der lebendigen Variationen und Heterogenität des gesamten „platonischen Kosmos“ vollzogen werden kann. Denn die Dialogizität verweist zudem auf den Charakter der „dialogischen Stadt“, die aus der Zweidimensionalität des Textes zum lebendigen Gespräch „verwandter Naturen“ führt. Platon führt daher Sokrates’ Arbeit fort, indem er Dialoge schreibt, um seine Leser zur Philosophie zu führen, indem er schweigt, wo es notwendig ist. Der Text sagt demnach nicht dasselbe zu jedem, sondern spricht in Momenten des Schweigens zu denen, die die „Ohren haben zu hören“. Der geschriebene Text 134

Ebd., S. 362. Mit Löwiths Worten hieße dies: Zusammen in einem philosophischen Gespräch „der gesicherten Konsequenz der eigenen Rede eines andern Rede in ungesichert freier Entsprechung [zu begegnen], [. . . die] durch keine Art von Selbstbefragung und Selbstkritik ersetzbar“ ist (Löwith (1969), S. 114). 136 Strauss (1997b), S. 412. Inwiefern Philosophieren als „Zusammenfragen“ unter guten Freunden an das Lesen „großer Bücher“ gekoppelt ist, zeigt die von Strauss zitierte Stelle aus Xenophons Apomnemoneumata Sokratous: „[T]ogether with my friends I scan the treasures of the wise men of old which they have left behind in writing and if we see something good, we pick it out, and we regard it as great gain when we become useful to one another“ (Xenophon, Memorabilia 1.6.14; Strauss (1989s), S. 140). 137 Bloom (1991), S. xxi; Strauss (1997h), S. 54. Dagegen wettert Shadia Drury, die wohl erkannt hat, dass „teaching“ ein Schlüsselbegriff in Strauss’ Werk ist, dass diese eine systematische Lehre sei, die unterschiedlichen Adressaten mit unterschiedlichen Inhalten vermittelt werde (vgl. Drury (2005), S. 5). 138 Strauss (1988c), S. 23. 139 Strauss (1995e), S. 7. 135

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führt auf diese Weise zu einem lebendigen Miteinandersprechen, verlangt dafür jedoch die aktive Partizipation des Lesers, der insofern ein Teil des Dialogs, wenn nicht gar der wichtigste, wird. Insofern gelingt es Platon, seine Dialoge nicht nur in ihren dialogischen Handlungen als lebensnah zu inszenieren, sondern sie selbst durch die Ermöglichung einer „philosophische[n] Politik der Freundschaft“ in der „dialogischen Stadt“ zu verlebendigen. Der philosophische Autor wendet sich an denjenigen Leser, die ihm mit „den Ohren verwandt“ ist, und begegnet ihm in der Dreidimensionalität der „dialogischen Stadt“. Diese „dialogische Gemeinschaft“ 140, die Strauss mit Verweis auf Platons Verwirklichung der „gerechten Stadt“ in der Rede (en logo) als „the city in speech“ 141 bezeichnet, ist dialogisch im doppelten Sinne: Zum einen bezieht sie sich inhaltlich auf das Gespräch im platonischen Dialog Politeia über die gerechte Stadt, zum anderen entsteht durch die Auseinandersetzung mit den Positionen der dialogischen Gesprächspartner über die „gerechte Stadt“ hinsichtlich der Frage nach der „Intention des philosophischen Autors“ eine dialogische Begegnung zwischen Autor und Leser. Dementsprechend wirft Strauss Karl Popper vor, in seiner harschen Kritik an Platons Politeia in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde die „dialogische Stadt“ als einen Entwurf für eine konkrete Regierungsform missverstanden zu haben. Mit Verweis auf Cicero stellt für Strauss die Politeia demnach nicht das beste mögliche Regime dar, sondern zeigt das Wesen der politischen Dinge: „the nature of the city“. Strauss bestreitet mehrfach, dass die in der Politeia geschilderte Stadt, die auf einer Verdrängung des körperlichen eros baut, als realpolitischer Entwurf ernst genommen werden kann, wie es Popper behauptet.142 Bei näherer Betrachtung dieser „dialogischen Stadt“ als Begegnungsstätte zwischen philosophischem Autor und Leser kann jedoch, wie Meier beobachtet, keine „wechselseitige Interaktion“ und demnach auch keine „Horizontverschmelzung“ zwischen geschichtlichen Horizonten stattfinden, sondern eine „Begegnung verwandter Naturen“, die sich in der „philosophischen Sache“ begegnen.143 Ebenso kritisiert Stanley Rosen den Gadamer’schen Ansatz, das Ver-

140 Kinzel (2002), S. 233. Die Formulierung stammt von Till Kinzel und ist eine Übersetzung von Seth Benardetes „dialogic city“ (vgl. Benardete (1992), S. 137, 140 ff.). 141 „[This] other city stands midway between this world and the other [religious] world, since it is an earthly city indeed, yet a city existing not ,in deed‘ but ,in speech‘“ (Strauss (1988d), S. 15). Nur in dieser „dialogischen Stadt“ könne der Mensch sich als Mensch verwirklichen (vgl. ebd., S. 16; Strauss (1997h), S. 51). 142 Strauss/Cropsey (1995), S. 60, 68 ff.; Strauss (1997h), S. 111 f. Zu den drei von Sokrates erwähnten Kriterien für eine Verwirklichung der „gerechten Stadt“, Verzicht auf Eigentum, Frauen- und Kindergemeinschaft sowie Philosophenherrschaft, vgl. Platon, Politeia Buch V–VI. 143 Meier (1996), S. 33 ff.

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stehen der Texte vergangener Autoren als „Horizontverschmelzung“ aufzufassen, da dadurch ein Verstehen des Autors, so wie er sich selbst versteht, unmöglich wäre.144 Während es für Gadamer hauptsächlich um das Verstehen einer Wahrheit in einer hermeneutischen Situation geht, akzentuiert Strauss die Wahrheit, die der philosophische Autor vermitteln wollte. So äußert sich Strauss diesbezüglich bereits in einer ersten Reaktion in einem Brief vom 26. Februar 1961 nach der Zusendung von Gadamers Wahrheit und Methode: „I would hesitate to say however that no one can complete it [something of the utmost importance within the text] or that the finiteness of man as man necessitates the impossibility of adequate or complete or ,the true understanding‘ (cf. 355). You deny this possibility (375). Your denial is not justified by the fact that there is a variety of hermeneutic situations: the difference of starting points and hence of the ascents does not lead to the consequence that the plateau which all interpreters as interpreters wish to reach is not one and the same.“ 145

Strauss kritisiert Gadamers Annahme, dass vollkommenes Verstehen der Wahrheit aufgrund der Vielfalt an hermeneutischen Situationen unmöglich ist, und hält dessen Konzept, das grundsätzlich vom Interpreten ausgeht, verstärkt die Seite des Autors entgegen: „For the infinite variety of ways in which a given text can be understood does not do away with the fact that the author of the text when writing it, understood it in one way only.“ 146

Auch wenn sich Strauss und Gadamer in ihren Auffassungen vor allem in ihrem Anspruch auf formale und inhaltliche Vollkommenheit, ihrem Wahrheitsbegriff sowie, daraus folgend, im „historischen Verstehen“ unterscheiden,147 zentrieren sich diese Unterschiede vor allem in der Ansicht darüber, wie die tiefe Kluft (deep gulf) zu einem Autor der Vergangenheit, der eine philosophische Wahrheit zu vermitteln beabsichtigt, überbrückt werden kann. Während für Gadamer Verstehen immer eine „Horizontverschmelzung“ bewirkt, will Strauss zurück auf genau das Denken, den „Horizont“ des philosophischen Autors der Vergangenheit. Strauss akzentuiert daher die spezifische Frage des philosophischen Autors, während Gadamer generelles Fragen aus dem jeweiligen „Horizont“ des Lesers heraus als Ausgangspunkt erachtet.148 Für Strauss kann es keine „Horizontverschmelzung“ zwischen Autor und Leser geben, da er in dem Nachvollziehen der Denkbewegung eines Autors über einen Text nicht die wechselseitige Beeinflussung erkennen kann, die Gadamer hervorhebt. So kritisiert Strauss: 144

Rosen (1987), S. 165. Brief von Strauss an Gadamer vom 26. Februar 1961 in: Gadamer/Strauss (1978), S. 6. 146 Strauss (1989c), S. 210. 147 Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel Gadamers unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit“. 148 Gadamer (1990), S. 373. 145

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„I do not believe however that this state of things is brought out when one speaks of ,a fusion of horizons‘. Surely my horizon is enlarged if I learn something important. But it is hard to say that Plato’s horizon is enlarged if a modification of his doctrine proves to be superior to his own version.“ 149

In seiner knappen Analyse des Briefwechsels Correspondence concerning Truth and Method betont Till Kinzel daher Strauss’ generelle Ablehnung der Gadamer’schen „Verschmelzung“ von „vermeintlich für sich seienden Horizonten“, um die Aufhebung der Spannung zwischen Leser und Text zu erklären. Strauss stelle sich die Begegnung von Autor und Leser nicht als Fusion, sondern als Begegnung auf einem „Plateau“ vor, womit er die Ebene der „philosophischen Sache“ meine, die Philosophen zu erreichen wünschen. Dieses transhistorisch gleichbleibende „Plateau“ stellt Strauss Gadamers „Horizontverschmelzung“ von wirkungsgeschichtlich überliefertem Text und Horizont des Lesers entgegen.150 Mit der Unterscheidung von transhistorischer, „philosophischer Sache“ und historischem sowie wirkungsgeschichtlichem Kontext erweist sich Strauss’ Politische Hermeneutik demnach nicht nur inhaltlich als eine Abwendung von der Philosophiegeschichte hin zur „Intention des Philosophen“, sondern auch formal als eine Bewegung „von der Geschichte zur Natur“ 151. Statt einer „Horizontverschmelzung“ begegnen sich philosophisch „verwandte Naturen“ in der „philosophischen Sache“, deren „Verwandtschaft“ sich im Sinne von philia im Fragen gleicher Fragen zeigt. In diesem tiefgründigen Weiter- und Hinter-Fragen liegt das inklusive und zugleich exklusive Moment der „philosophischen Politik der Freundschaft“ begründet, das sie verbindet.152 Jene „reasonable friends“ 153 sind von einem philosophischen eros beflügelt, der die zunächst hierarchisch geprägte Beziehung zwischen Autor und Leser initiiert. Während eros stark hierarchische Züge im Wissensgefälle trägt, basiert die aus dem philosophischen Streben nach Wissen begründete freundschaftliche Begegnung in der „dialogischen Stadt“ auf Gleichrangigkeit. Strauss’ Politische Hermeneutik verbindet daher in der „philosophischen Politik der Freundschaft“ die Liebe zur Weisheit (eros) mit der philosophischen Freundschaft (philia), die beide auf die Frage nach dem Guten gerichtet sind. Es bedarf zunächst der Selbsterkenntnis des eigenen Mangels an Wissen, der den „notwendigen Anreiz“ stiftet, sich überhaupt ernsthaft auf den Text einzulassen. Im Studium des Textes des philosophischen Autors steigt der Leser zu jener freundschaftlichen Ebene auf, indem er die Denkbewegung des Autors über die

149 Brief von Strauss an Gadamer vom 26. Februar 1961 in: Gadamer/Strauss (1978), S. 6. 150 Kinzel (2002), S. 91 ff. 151 Meier (1996), S. 33 ff. 152 Vgl. dazu das gleichnamige Kapitel Philosophische Politik der Freundschaft. 153 Strauss (1988c), S. 23.

VI. Politische Philosophie und die „Kunst des Lesens‘‘

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„philosophische Sache“ mitdenkt und ihm als gleichrangiger Freund in dieser begegnet. Hinsichtlich der freundschaftlichen Bedingungen der Gleichrangigkeit eines philosophischen Gesprächs interpretiert Strauss die einleitende Szene von Platons Nomoi, in der sich, anders als die politische Fragestellung vermuten ließe, unglaublich lange über das Trinken von Wein unterhalten wird. Vor allem wird diskutiert, dass Weintrinken einerseits eine wagemutige und kühne Haltung evoziert, andererseits jedoch ebenso mäßigen kann. Weintrinken, „not in deed, but in speech“, ermögliche es demnach, dass sich „philosophisch verwandte Naturen“ unterschiedlicher Wissensgrade auf Augenhöhe begegnen können.154 Insofern verbindet sich der hierarchische Charakter des eros mit der zutiefst auf Gleichrangigkeit angelegten philia in der „philosophischen Politik der Freundschaft“. Hermeneutisch wird diese einerseits durch den „notwendigen Anreiz“, der „erotischen“ Wissbegier, hervorgebracht, etwas Wahres vom Autor lernen zu wollen, indem der Denkbewegung des Autors im Sinne eines „following the model“ nachgegangen wird. Andererseits zeigt sie sich darauf in der „gesprächsmäßigen“ Auseinandersetzung auf einer Ebene mit der „Intention des philosophischen Autors“, worin sich der Leser als gleichrangige, „verwandte Natur“ hinsichtlich der „philosophischen Sache“ erkennen kann. 3. Die Aktivität des Lesens Nicht nur die Beziehung zwischen Leser und Autor weist auf den ersten Blick hinsichtlich der Herangehensweise an eine philosophische Schrift in „wagemutiger Demut“ scheinbare Widersprüche auf, sondern auch die Frage, inwiefern Strauss’ Politische Hermeneutik einen aktiven oder passiven Charakter hat. Auf einen eher rezeptiven Charakter des Lesens lässt sich daraus schließen, dass Strauss Gelehrsamkeit (scholarship) und das sorgfältige Studium der „großen Bücher“ stark hervorhebt und er zudem betont, dass der Leser etwas von dem Autor lernen soll und es auf keinen Fall darum gehen darf, diesen „besser verstehen zu wollen, als er sich selbst versteht“. Diese Ansicht ist jedoch sehr schnell zu verwerfen, wenn man Strauss’ Verständnis von sokratischem Philosophieren als „Zusammenfragen“ berücksichtigt und nach den Gründen fragt, warum eine „platonische Politische Rhetorik“ keine systematisierte Lehre vermittelt.155 Pla154

Strauss (1989x), S. 31 f.; Platon, Nomoi, 637a–650b. Strauss (1997b), S. 412; vgl. Sokrates’ Bemerkung zu der Unmöglichkeit der „mechanischen“ Übertragung von Wissen im Symposion (175d), die Voraussetzung für ein „passives“, rezeptives Verstehen wäre. Dementsprechend muss auch dem Vorwurf widersprochen werden, Strauss’ Lesart kehre Aussagen einfach nur in ihre Negation um, so dass die „wahre“ esoterische Bedeutung von X eigentlich –X sei – ein Zusammenhang, der lediglich auf eine einzige Aussage von Strauss in einem Abschnitt über Rousseau in Naturrecht und Geschichte zurückgeführt werden könnte, in der er hinsichtlich der esoterischen Lehre schreibt, dass „sie von allen Philosophen so begierig 155

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ton, so Strauss, präsentiere demnach in seinen Dialogen bewusst kein Gespräch zwischen zwei gleichrangigen Philosophen, da dieses letztendlich „zwischen den Zeilen“ erfolgt, indem der Leser dem philosophischen Autor zunächst „zuhört“ und sich demütig auf seine Denkbewegung einlässt, um diese dann wagemutig mit Positionen anderer „great minds“ abzuwägen und mit dem Autor hinter- und weiterfragend in ein freundschaftliches Gespräch hinsichtlich der „philosophischen Sache“ zu kommen.156 Durch diesen Dialog „philosophisch verwandter Naturen“ zeichnet sich die „Kunst des Lesens“ durch einen ausdrücklich aktiven Charakter aus. Diese Aktivität des Lesens in Strauss’ Hermeneutik muss jedoch von dem literaturwissenschaftlichen Ansatz der Reader-Response-Theorie von Stanley Fish und Wolfgang Iser abgegrenzt werden, obwohl sich diese ebenfalls mit dem transhistorischen und aktiven Prozess des Lesens befassen, in dem der Leser durch seine Interpretation die Bedeutung (meaning) des Textes vervollständigt. Hinsichtlich der Kritik an der traditionellen Auffassung lässt sich Strauss’ Herangehensweise zwar in gewisser Nähe zu ihnen verorten, insofern Lesen nicht als ein passiver Prozess aufgefasst wird, in dem ein Autor Bedeutung explizit in den Text schreibt und davon ausgegangen wird, dass der Leser diese adäquat aufnehmen kann. Die Reader-Response-Theorie betont daher die Rolle des Lesers, der die Bedeutung jeglicher literarischer Texte aus sich selbst heraus aktivieren und aktualisieren muss. Vor allem der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser vertritt in Der Akt des Lesens (1976), einer ausführlicheren, systematischeren Ausarbeitung von Die Appellstruktur der Texte (1970), die These, dass sich die Bedeutung weder ausschließlich im Text noch im Leser zu entfalten vermöge, sondern der Text immer nur ein Wirkungspotential beinhalte, das durch den Leser aktualisiert werden könne. Den Lesevorgang fasst er dabei als ein Geschehen auf, das durch den historischen und kulturellen Kontext des Lesers immer anders ist. Verstehen ist für Iser daher keine Begegnung der „verwandten Naturen“ von Autor und Leser in Bezug auf die „philosophische Sache“, sondern eine strukturelle Interaktion zwischen Text und Leser. Der Text halte dabei immer nur „schematische Ansichten“ parat, die vom Leser durch ästhetische Konkretisierung hervorgebracht werden können. Daraus folgert Iser, dass das literarische Werk nicht mit dem Text

aufgenommen wurde, und durch sie insgeheim Ansichten bekundeten, die denen entgegengesetzt waren, die sie öffentlich lehrten“ (FN 15 in: Strauss (1989g), S. 269; vgl. dazu Burnyeat (2008), S. 300). Der prinzipielle Vorwurf einer verkodifizierten Verschlüsselungstechnik (X = –X), als einer Inversion der literalen Bedeutung, muss daher vor allem deswegen abgewiesen werden, da dieser zunächst ein explizit formulierbares „X“ in Form einer systematischen Lehrformel voraussetzt, was im Hinblick auf Strauss’ Verständnis von sokratischem Philosophieren als „Zusammenfragen“ ausgeschlossen werden muss. 156 Strauss (1997h), S. 59 f.

VI. Politische Philosophie und die „Kunst des Lesens‘‘

251

gleichgesetzt werden dürfe, sondern verortet es in der wechselseitigen „Einwirkung“ von Text und Leser.157 Eine solche Interaktion158 entspricht gerade nicht einem informationstheoretischen Modell von Sender und Empfänger, in der eine Mitteilung eingleisig mehr oder weniger verlustfrei übertragen wird. Statt den Sinn zu vermitteln, geht es Iser im Leseprozess darum, Sinnpotentiale in einem Text zu aktualisieren. Dementsprechend enthalte ein literarischer Text immer „Unbestimmtheitsbeträge“, die eine aktive Beteiligung des Lesers am Hervorbringen der Textbedeutung ermöglichten.159 Der „implizite Leser“ spielt daher eine ebenso große Rolle in Isers hermeneutischem Ansatz wie der literarische Text. Dabei differenziert er sich von unterschiedlichen Leserkonzepten, wie dem „idealen“ und dem „informierten Leser“ 160 von Stanley Fish, vor allem aber von dem „intendierten Leser“ Erwin Wolffs. Wolff nähert sich seinem Leserkonzept von der Autorenseite, indem er versucht, die „Leseridee“ zu rekonstruieren, „die sich im Geiste des Autors“ 161 gebildet hat. Dem vom Autor „intendierten Leser“ können dabei unterschiedliche „Leserfiktionen“ 162 zugeschrieben werden, wie bspw. der „zeitgenössische Leser“, dem entsprechende Wertvorstellungen und politische Positionen unterstellt werden. Iser fragt sich jedoch, wie es dennoch dazu kommt, dass trotz dieser Adressierung an Zeitgenossen ein Text über historische Distanzen hinweg immer noch verständlich sein kann, obwohl die historischen Gegebenheiten eines Autors und dessen Adressierung dieses verhindern müssten. Iser ergänzt daher die Leserfiktion des Autors um die Leserrolle.163 Während die Leserfiktion an ein zeitlich und kulturell bestimmtes „Signalrepertoire“ des Autors gebunden sei und sie daher immer nur eine Textperspektive unter vielen möglichen biete, ergebe sich die Leserrolle aus dem Zusammenspiel von Perspektiven. Der „implizite Leser“, 157 Iser (1974), S. 7. „Das Werk ist das Konstituiertsein des Textes im Bewusstsein des Lesers“ (Iser (1994), S. 39). 158 Iser betont, dass das Lesen als eine vom Text gelenkte Aktivität den Verarbeitungsprozess des Textes als Wirkung auf den Leser zurückkoppelt. Diese Wechselseitigkeit bezeichnet er als „Interaktion“ (vgl. ebd., S. 257). 159 Ebd., S. 45. 160 Stanley Fishs „idealer Leser“ ist in der Lage, das Sinnpotential des Textes beim Lesen vollständig zu aktualisieren. Da sich in der Wirkungsgeschichte literarischer Texte unterschiedliche Bedeutungskonkretisationen aktualisiert haben, ist das Modell des idealen Lesers für Iser hinfällig, verwirrend und „im Unterschied zu anderen Lesertypen eine Fiktion“ (Iser (1994), S. 53). Fishs „informierter Lesers“ fragt nach den Auswirkungen des Textes im Leser und beschreibt dabei eingehender die Verarbeitungsprozesse des Textes durch den Leser und die notwendigen Erfordernisse, zu denen er Sprachkenntnisse und literarische Kompetenz zählt. Dieser Lesertyp setze alles in seiner Macht daran, sich selbst durch seine eigenen Kompetenzen gegenüber dem Text zu informieren (Fish (1970), S. 145). Zu Stanley Fishs hermeneutischem Ansatz vgl. vor allem auch seinen Essay Georgics of the Mind in: Fish (1994), S. 78 ff. 161 Wolff (1971), S. 166. 162 Ebd., S. 160. 163 Iser (1994), S. 59.

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der in die Struktur von Texten eingezeichnet ist, besitzt für Iser keine reale Existenz, sondern „verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet. [. . .] Dadurch bezeichnet das Konzept des impliziten Lesers eine Textstruktur, durch die der Empfänger immer schon vorgedacht ist.“ 164 Die Leserrolle aktualisiert sich somit, der jeweiligen historischen Situation oder dem jeweiligen Vorverständnis entsprechend, immer unterschiedlich. Der literarische Text mit seinen im Text bereit gestellten Wirkungsstrukturen gewährt daher immer einen „Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten“ und wird somit „zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Leuten immer ein wenig anders verstanden [. . .], wenngleich in der Aktualisierung des Textes der gemeinsame Eindruck vorherrscht, dass die von ihm eröffnete Welt, so historisch sie auch sein mag, ständig zur Gegenwart werden kann“.165 Der hermeneutische Ansatz von Leo Strauss unterscheidet sich insofern von den Betrachtungen der Reader-Response-Theoretiker, als er die im Hinblick auf ihre Begabung zur Philosophie unterschiedliche Natur der möglichen Leser mit bedenkt. Zwar teilt er die Kritik an der traditionellen, vereinheitlichten Vorstellung jeglicher Leser, die von den gleichen Fähigkeiten zu einem adäquaten Textverständnis ausgeht, jedoch lehnt er eine Hermeneutik ab, für die Verstehen, gerade das Verstehen der „philosophischen Sache“, immer anders ist.166 Strauss verbindet vielmehr den eher rezeptiven Charakter der traditionellen Lesart in der exoterischen Oberfläche mit dem aktiven Ansatz der Reader-Response-Theorie im esoterischen Kern.167 Für Strauss nähern sich die meisten Leser dem Text auf die traditionelle Art, indem sie erwarten, dass Inhalte klar und deutlich vorgelegt werden, alle kritischen Punkte und Alternativen offen abgewogen werden und mehr oder weniger passiv rezipiert werden können. Bereits bekannte „Vorurteile“ oder erwartete Aussagen in diesem Text, vor allem wenn diese mehrfach betont werden, nimmt dieser als die auktoriale Meinung wahr. Insofern überlesen sie jene sorgfältig formulierten „Stolpersteine“, die auf die esoterische Ebene verweisen, die nur von einigen wenigen Lesern durch aktives Nachvollziehen der Denkbewegung des Autors erreicht werden kann. Der Text führt den sorgfältigen Leser durch „rhetorische Strategien“ zu eben jenen Einsichten, die gerade nicht explizit, sondern vielmehr durch Schweigen und Auslassungsstellen dargelegt werden können und dadurch einen aktiven Leseprozess hervorrufen. Dabei muss jedoch betont werden, dass das aktive Verstehen des esoterischen Kerns nicht für 164

Ebd., S. 60 f. Iser (1974), S. 8. 166 Vgl. dazu vor allem die Auseinandersetzung mit Gadamers Hermeneutik sowie mit Strauss’ Ansatz von „historischem Verstehen“ in dem Kapitel Historisches Verstehen. 167 Für die Zusammenschau von Strauss und der Reader-Response-Theorie vgl. Cantor (1991), S. 272. 165

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Literatur im Allgemeinen, sondern nur für philosophische Bücher, in Strauss’ strengem Verständnis, sowohl von Philosophie als auch von einem Buch gilt.168 Es gibt für Strauss die „Intention des philosophischen Autors“, der als Philosoph inhaltlich etwas Wahres zu vermitteln beabsichtigt und sich aus politischen Gründen eben jener „rhetorischen Strategie“ des „Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ bedient. Insofern lehnt er die Annahme ab, dass der Leser immer eine eigene, einzigartige Interpretation hervorbringt und Verstehen demnach immer anders ist. In dem aktiven Interpretationsmodell der Reader-Response-Theorie zählt allein der „wagemutige“ Aspekt, des aktiven, sich einbringenden Lesers, während die „demütige Haltung“ (devotion), die der Leser zunächst gegenüber dem auktorialen Mehrwissen einnimmt, in diesem Theorieansatz gänzlich fehlt. Diesen sich auf den ersten Blick widersprechenden, zugleich rezeptiven und aktiven Charakter beschreibt Ralf Elm, allerdings in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty, als „Chiasmus“, um die sich überkreuzende Struktur scheinbar gegensätzlicher hermeneutischer Annäherungen mit dem griechischen Buchstaben X (chi) zu verdeutlichen.169 Dieses autoritäre, zunächst rezeptive, aber zugleich offene, aktiv weiterfragende Verhältnis zwischen Leser und Text ist auch Thema der letzten Abschnitte in Gadamers Wahrheit und Methode. Wie bei Strauss rehabilitiert Gadamer aufgrund der Einsicht in die menschliche Endlichkeit und der daraus resultierenden Unmöglichkeit, alles Wissen vernünftig überprüfen zu können, autoritäre und traditionelle Vorurteile als Voraussetzung für den Verstehensprozess, die wiederum auf die philosophische Aktivität des (Weiter-)Fragens als offenen, anti-autoritären Zug treffen. Der Leser unterliegt demnach nicht als „Subjekt“ einer autoritären Instanz, die sie rein rezeptiv formt, sondern wirkt auf den Verstehensprozess aktiv ein. Wie Strauss nimmt sich auch Gadamer die platonische dialektische Bewegung zum Vorbild, die er, im Gegensatz zum rhetorischen Monolog und zu der Eristik der Sophisten, als Dialektik von Frage und Antwort erachtet.170 Der Frage liegt die Selbsterkenntnis des Wissens vom eigenen Nichtwissen zugrunde.171 Mit Verweis auf die sokratische docta ignorantia bewertet Gadamer das Fragen schwieriger als das Antworten: „Um fragen zu können, muss man wissen wollen, d.h. aber: wissen, dass man nicht weiß.“ 172

Die Frage hat daher in Gadamers Hermeneutik Vorrang vor der Antwort und dennoch bedarf es einer doxaischen Antwort als Ausgangslage, die wiederum Voraussetzung für das Fragen ist. Ganz gemäß der platonischen episteme-doxaUnterscheidung heißt Wissen für ihn gerade nicht Eingenommensein durch eine 168 169 170 171 172

Vgl. Strauss (1997e), S. 374; Strauss (2004a), S. 394. Elm (2007), S. 153. Vgl. dazu Platon, Kratylos, 390c; Menon, 75d. Gadamer (1990), S. 368. Ebd., S. 369; vgl. auch S. 368, 371 ff.

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Meinung, sondern ein dialektisches Infragestellen des Wissens.173 Die Erfahrung des Nicht-Wissens ist dabei die elementare Voraussetzung für das Fragen, als ein Aufbrechen von feststehenden Meinungen. Es ist dieser „motivierende Anstoß“ 174, der die „Kunst des Weiterfragens“ auslöst und sich zur „Kunst, ein wirkliches Gespräch zu führen“ entwickelt.175 Durch die Negativerfahrung des eigenen Nichtwissens entsteht ein offenes Verhältnis zu seinen Meinungen als Meinungen, weswegen der Verstehensprozess trotz dogmatischer Voraussetzungen für Gadamer „radikal undogmatisch“ 176 ist. Die eigene Frage gibt dabei den Richtungssinn vor, in dem die Antwort erfolgen kann, weswegen Sinn daher nur durch eine in diese Richtung gelenkte Frage erfolgen kann, aus der die Antwort als eine sinnvolle kommen kann. In dieser Hinsicht lässt sich demnach ein Satz nur sinnvoll verstehen, wenn er als Antwort auf eine Frage gelesen wird. Da die Frage immer eine eigene ist, die auf die eigene Erfahrung des Nichtwissens rekurriert, gibt es für Gadamer keine Methode, das Fragen zu erlernen. Doch gerade die aporetischen Verwirrspiele in den platonischen Dialogen sind es, die eine Voraussetzung für das Fragen schaffen können.177 Die platonische Dialektik ist eine bewusste Handhabung der „Kunst des Fragens“ und verschafft demjenigen Zugang zum Verständnis, der wissen will – indem er fragt. Gadamers Hermeneutik ist demnach ebenfalls keine Methode im Sinne von techne als ein lehrbares Können oder im Sinne von Regeln und kontrollierbaren Abläufen.178 Ganz im Sinne der platonischen Dialektik, wie von ihm explizit im Siebenten Brief geäußert, stellt die Grundlage allen Verstehens daher nicht lehr- und lernbares Wissen dar, sondern die „Kunst des Fragens und Suchens der Wahrheit“ 179, die in diesem Sinne immer eine „Kunst des Weiterfragens“ ist: „Wer verstehen will, muss also fragend hinter das Gesagte zurückgehen. Er muss es als Antwort von einer Frage her verstehen, auf die es Antwort ist. So hinter das Gesagte zurückgegangen, hat man aber notwendig über das Gesagte hinausgefragt.“ 180

Die Aufgabe der Hermeneutik ist daher ein „In-das-Gesprächkommen mit dem Text“ 181 als ein Hinterfragen des „Gesagten“. Das hermeneutische Gespräch mit 173

Ebd., S. 371. Elm (2007), S. 170. 175 Gadamer (1990), S. 372 f., 375 ff. 176 Ebd., S. 361. 177 Ebd., S. 371. 178 Gadamer setzt sich dezidiert von Schleiermachers Forderung nach „mehr Methode“ für seine „Kunstlehre des Verstehens“ ab (vgl. dazu Schleiermacher (2004), S. 84), jedoch eher im Sinne einer „weniger regelhaften Methode“, was aber keineswegs als radikale Ablehnung jeglicher Methode missverstanden werden darf. 179 Gadamer (1990), S. 372. 180 Ebd., S. 375. 181 Ebd., S. 374. 174

VI. Politische Philosophie und die „Kunst des Lesens‘‘

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dem Text stellt das ursprüngliche Gespräch von Frage und Antwort wieder her und holt die durch Schrift überlieferte „philosophische Sache“ in die lebendige Gegenwart des Gesprächs zurück. Ein solches dialektisches Gespräch ist daher dynamisch charakterisiert „gegenüber der erstarrten Form der zur schriftlichen Fixierung drängenden Aussage“ 182. Es ist gerade nicht die systematische Aussage, sondern das Fragen, das das philosophische Gespräch in Gang bringt. Gadamer sieht daher Platons Kritik der Schriftlichkeit vornehmlich als Kritik am Literaturwerden der dichterischen und philosophischen Überlieferung. Platons Ablehnung richte sich gegen schriftlich fixierte philosophische Aussagen, die er durch seine Form des Dialoges gegen dogmatischen Missbrauch schützen möchte, indem er die Schwäche der logoi überwinde.183 Die Kunst Platons, sokratisches Philosophieren in seinen Dialogen zu verschriftlichen, liegt daher darin, die schriftliche Aussage nicht zur systematischen Abhandlung werden zu lassen, sondern die ursprüngliche Bewegung des philosophischen Gesprächs zu ermöglichen. Mit einem Verweis auf den etymologischen Ursprung aus dialegesthai ist Dialektik für Gadamer „die Kunst, ein wirkliches Gespräch zu führen“.184 Ein Gespräch zu führen bedeutet dabei, sich unter die Führung der Sache zu stellen, die für Gadamer die „Sache“ der jeweiligen Frage des Lesers ist, wobei das Fragen nicht durch die herrschende Meinung niedergehalten werden darf, sondern es sich dieser für ein Offenlegen der Frage und ihrer Antwortmöglichkeiten erwehren muss.185 In diesem Gespräch antwortet der Text nicht nur auf die Frage des Lesers, sondern spricht diesen durch weitere Fragen an. Der Verstehensprozess zeichnet sich daher durch die „chiastische“ Wechselseitigkeit von zunächst eher rezeptivem Vorverständnis durch jeweilige Vorurteile und aktivem offenem Weiter-Fragen aus. Diese Wechselseitigkeit kann für Strauss jedoch nicht als „Horizontverschmelzung“ von geschichtlichen Horizonten aufgefasst werden, sondern die Dialektik von Frage und Antwort ermöglicht als philosophisches Gespräch die Begegnung von Autor und Leser in der „philosophischen Sache“, wobei sich diese selbst als philosophisches Fragen und Abwägen der alternativen Antworten und daher durch Unabgeschlossenheit auszeichnet. So kann es für Strauss kein Verständnis der „philosophischen Sache“ in Form absoluter Aussagen im Sinne einer vollkommenen Übereinstimmung (adaequatio) mit dem proteron physei geben. Verstehen bleibt für Strauss wie auch für Gadamer immer ein offener „Adäquationsversuch“ im „Sichanmessen an die Sache selbst“. Diesem unabgeschlossenen Prozess entsprechend darf Strauss’ Wahrheitsbegriff nicht als systematisierbare Wahrheit missverstanden werden, jedoch auch 182

Ebd. Ebd. 184 Ebd., S. 372. Zum Vergleich von Gadamers und Platons Dialektik-Verständnis vgl. Wischke (2001). 185 Ebd., S. 373. 183

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B. „Die dialogische Stadt‘‘

nicht als graduell fortschreitender Prozess zu einem „Mehr“ an Wahrheit, auch wenn dies das Bild vom Aufstieg aus der „politischen doxa“ vermuten ließe.186 Das Verstehen der „philosophischen Sache“ bleibt im Entwerfen von Verstehensentwürfen in der Dialektik von Frage und Antwort als einen „permanent dialogue“ 187. Der Dialog ist fortlaufend, indem ein aus der Frage entwickeltes Verständnis erneut hinterfragt wird, worin sich genau das sokratische Philosophieren zeigt: Denn, „[s]okratisch philosophieren heißt: fragen“.188 Daraus resultiert jedoch wiederum die Frage, die auf das Grundproblem der Hermeneutik verweist, ob der Leser durch seinen individuellen, kontextuellen „Horizont“ nicht einer generellen Selektivität im Verstehen unterliegt. Für Gadamer wandelt der Text aus dem vermeintlich isolierten historischen Horizont durch das Befragen mit der eigenen Frage die „Sinnrichtung des Textes“, die jedoch „auch andere mögliche Antworten umfasst“ 189. Das „In-das-Gesprächkommen mit dem Text“ ist somit das Befragen des Textes mit der eigenen Frage, das dann in ein Weiterfragen übergeht. Strauss hingegen wendet sich gegen eine derartige Verflüssigung von Hermeneutik, indem er nicht den Text, sondern den philosophischen Autor als Gesprächspartner hervorhebt. Gadamer erachtet das Fragen an den Text als unabhängig von der „Intention des philosophischen Autors“, weswegen seine FrageAntwort-Struktur universeller und vielschichtiger ist als in dem strengen Sinne, in dem sie Strauss allein auf philosophisches Fragen nach der auktorialen Intention begrenzt. Strauss geht dabei zudem davon aus, dass die philosophischen Grundfragen schon immer die gleichen gewesen sind, und sucht nach der Frage des philosophischen Autors, die zumindest als Problembewusstsein über die „philosophische Sache“ philosophisches Wissen darstellt, während deren Antworten keinen Zustand absoluter Gewissheit generieren können.190 Hinsichtlich dieses Verständnisses des immer in Annäherung verbleibenden Weiter-Fragens der „philosophischen Sache“ wirft Yvon Belavel Strauss nun gerade vor, dass seine „Methode“ niemals zu einem absolut gewissen Ergebnis kommen kann.191 In seiner im Sammelband What is Political Philosophy? veröffentlichten Replik On a forgotten kind of writing stellt Strauss daher die be186 Steven Smith stellt daher eine Verbindung von Strauss’ Wahrheitsbegriff zu Heideggers Interpretation von aletheia aus Platons Höhlengleichnis her (vgl. Smith (2007), S. 116). Smith ignoriert dabei jedoch Strauss’ Kritik an Heideggers historizistischem Wahrheitsverständnis (vgl. dafür das Kapitel Historismuskritik und historisches Verstehen). 187 Bloom (1987), S. 380. 188 Strauss (1997b), S. 411; vgl. auch Strauss (1997h), S. 51; Strauss (1989g), S. 37 f. 189 Gadamer (1990), S. 375. 190 Strauss/Kojève (2000), S. 196. 191 Strauss (1989i), S. 231.

VI. Politische Philosophie und die „Kunst des Lesens‘‘

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rechtigte Gegenfrage, ob andere Methoden, die bspw. die Hinweise des Autors ignorieren, zu absoluter Gewissheit führen können. Strauss beantwortet diese von ihm selbst aufgeworfene kritische Frage nicht explizit, sondern stellt ihr das Funktionieren seiner hermeneutischen Herangehensweise entgegen, mit der er in seinen zahlreichen Kommentierungen aufschlussreiche Neuinterpretationen der westlichen philosophischen Tradition aufzeigen konnte. Er demonstriert in seinem Œuvre, in dem er mittelalterliche, antike und moderne Philosophen kommentiert, die Möglichkeit, weiterhin philosophische Dialoge führen zu können. Aus dem zunächst demütigen Zuhören (listening) der Monologe der „großen Denker“ entwickelt sich dabei ein wagemutiges „Zusammenfragen“ mit ihnen im Hinblick auf die „philosophische Sache“. Leo Strauss’ Politische Hermeneutik ist somit zwar keine Gewissheit generierende „Methode“, aber dennoch wortwörtlich ein methodos – ein „Mitgehen“ mit der Denkbewegung des Autors, die letztendlich zum synodos, zu einer „gemeinsamen Reise“, wird.

C. „Von der Geschichte zur Natur“ I. Historisches Verstehen „Only because public speech demands a mixture of seriousness and playfulness, can a true Platonist present the serious teaching in a historical, and hence playful, garb.“ Leo Strauss1

1. Historismuskritik und historisches Verstehen „[The] insistence on the fundamental difference between philosophy and history – a difference by which philosophy stands or falls – may very well, in the present situation, be misleading, not to say dangerous, to philosophy itself.“ Leo Strauss2

Der allererste Satz in dem Aufsatz Political Philosophy and History, in dem es, wie der Titel andeutet, um den Zusammenhang zwischen Politischer Philosophie und Geschichte geht, lautet: „Political philosophy is not a historical discipline.“ 3 Das „und“ im Aufsatztitel scheint in diesem Sinne als ein „oder“ gelesen werden zu müssen. Dennoch gibt es gute Gründe, das „und“ als ein Zusammenwirken von Politischer Philosophie und Geschichte zu verstehen – insofern nämlich, als eine historische Herangehensweise den Weg zum Verstehen von Texten der Politischen Philosophie weist. Es ist demnach kein Paradoxon4, dass Strauss trotz seiner radikalen Kritik am Historismus seine eigene Philosophie in Gestalt historischer Kommentare vorgelegt hat und für ein „historisches Verstehen“ plädiert. Darüber hinaus fordert er sogar, dass jeder Philosoph ein guter Historiker werden müsse – eine Forderung, die scheinbar keine Trennung von Philosophie und Ge-

1

Strauss (1945), S. 377. Strauss (1946), S. 332. 3 Strauss (1989o), S. 56. In diesem ambivalenten Sinne des „und“ und „oder“ ist auch der Titel Naturrecht und Geschichte zu verstehen. 4 Vgl. Kauffmann (1997), S. 156. Karl Löwith moniert diese scheinbare Widersprüchlichkeit von Strauss zwischen der fundamentalen Unterscheidung zwischen Philosophie und geschichtlicher Wahrheit einerseits und seiner Tendenz zur prinzipiellen Enthistorisierung der Wahrheitsfrage andererseits. Brief von Löwith an Strauss vom 14.8.1946 in: Strauss (2001d), S. 659. 2

I. Historisches Verstehen

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schichte vornimmt. Dennoch betont Strauss immer wieder, dass zwischen Philosophie und Geschichte unterschieden werden müsse, da Philosophie sonst Gefahr laufe, der „Weltanschauung des Historismus“ 5 zu unterliegen. Indem seine Hermeneutik erstrebt, das Denken eines Philosophen genauso verstehen zu wollen, wie er es selbst verstand,6 bedarf es zuallererst eines „nichthistorizistischen Verständnisses der Ursprünge des Historismus“ 7. Insofern zeigt sich Strauss’ Geschichtsverständnis ambivalent: einerseits als radikale Historizismuskritik, andererseits, unter dem Namen „historisches Verstehen“, als ein notwendiger propädeutischer Schritt, um zur transhistorischen Intention eines philosophischen Autors vordringen zu können. Der Ausgangspunkt für Strauss, Politische Philosophie und Geschichte zu trennen, ist zunächst der Historismus des Neukantianismus.8 Die Notwendigkeit jedoch, sich um der Philosophie willen mit Geschichte auseinanderzusetzen, muss letztendlich auf die von Martin Heidegger auf radikalste Weise formulierte Historizität des Daseins zurückgeführt werden. Während die neukantianischen Historisten ein scheinbar objektives Projekt jenseits von Werturteilen zu erschaffen versuchen, setzt Heidegger „Geschichtlichkeit“ in das Zentrum seiner Ontologie und schreibt in Sein und Zeit: „Weil aber die Grundbegriffe der historischen Wissenschaften [. . .] Existenzbegriffe sind, hat die Theorie der Geisteswissenschaften eine thematisch existenziale Interpretation der Geschichtlichkeit des Daseins zur Voraussetzung.“ 9

In seinem Œuvre nimmt Strauss eine ambivalente Haltung gegenüber seinem Lehrer Heidegger ein, den er von 1921–1925 in Freiburg und Marburg hörte. Zum größten Teil richtet er sich gegen seinen radikal existentialistischen „Zeitgeist“ (spirit of our time), durch dessen historizistische Beschränkung folglich

5

Strauss (1989g), S. 13. Strauss (1989o), S. 66. 7 Strauss (1989g), S. 35. 8 Dieser Historismus, der seinen Höchstpunkt in den 1920er Jahren erreicht, geht zurück auf Leopold von Ranke und Heinrich Rickert. Sie gehen davon aus, dass die gleichen epistemologischen Annahmen der Werte-Neutralität und Objektivität gelten, die später von Weber übernommen wurden. Sie hofften auf diese Weise den Fortschritt der universalen Geschichte mit vorurteilsfreien Augen erkennen zu können Zur Auseinandersetzung von Strauss mit Leopold von Rankes Geschichten der Romanischen und Germanischen Völker von 1494–1535 vgl. Strauss (1989c), S. 210. Gemäß dieser epistemologischen Perspektive gehört alles menschliche Denken einer spezifischen historischen Situation an, ist somit durch diese bedingt und wird daher von Denken in neuen Situationen abgelöst. Diese Haltung unterscheidet sich grundlegend von Heidegger, der beabsichtigte, über Weber epistemologisch hinauszugehen, indem er einen ersten Schritt in eine Richtung nahm, die als „vor-wissenschaftlich“ oder „vor-theoretisch“ bezeichnet werden kann (vgl. Bambach (1995), S. 4 ff.). 9 Heidegger (2006), S. 397. 6

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C. „Von der Geschichte zur Natur‘‘

ein Zugang zum Denken der klassischen Denker, wie sie sich selbst verstanden, vom gegenwärtigen Standpunkt aus unmöglich sei.10 Gerade aufgrund dieser Kritik am Historismus ist es eine heikle Angelegenheit, Strauss’ emphatisches Philosophieverständnis sowie seinen Ansatz des „Wiederlesens der alten klassischen Texte“ ebenso auf Heidegger zurückführen zu wollen. Es ist offensichtlich, dass Heidegger einen immensen Einfluss auf Strauss hatte, jedoch ist Strauss’ Antipathie gegen gewisse Implikationen seines Denkens nicht von der Hand zu weisen. In seiner grundlegenden Struktur wurde Strauss’ Re-Lektüre der klassischen Autoren jedoch durch Heidegger initiiert, was Strauss – wenn auch nicht in unzählig vielen, aber dennoch aussagekräftigen Worten – selbst zugibt: „Heidegger’s interpretation of Aristotle was an achievement with which I cannot compare any other. [. . .] Heidegger made it clear, not by assertions, but by concrete analyses [. . .] that Plato and Aristotle have not been understood by the modern philosophers.“ 11

Strauss eignet sich dabei Heideggers hermeneutische Herangehensweise an klassische philosophische Texte zwar an, sein Denkansatz zeigt jedoch zugleich eine grundsätzliche Reaktion gegen die Implikationen seines radikalen Historizismus.12 Dieser geht davon aus, dass keine Aussage der politischen Philosophie 10 Strauss (1989o), S. 60; vgl. auch Strauss (1989w), S. 75 und Heidegger (2004). Generell muss bei Heidegger zwischen Geschichte und Zeit unterschieden werden. Dasein steht insofern in einer Beziehung zur Geschichte, als Geschichte für Heidegger als eine Erfahrung des Seins in der Zeit emergiert. Geschichte versteht er daher zunächst und zumeist phänomenologisch. 11 Strauss (2006b), S. 134. Auch der Ansatz von Strauss, einem Denker folgen zu wollen und seine Denkbewegung nachzuahmen, kann auf Heidegger zurückgeführt werden. Zwar erachtet dieser es in seiner Vorlesung aus dem Sommersemester 1924, Die Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie, gleich zu Beginn für unmöglich, „[das 5. Buch der Metaphysik] so zu verstehen, wie die Schüler des Aristoteles verstanden haben“ (Heidegger (2002), S. 3), so bezeugt jedoch sein handschriftliches Vorlesungsskript, er wolle „[b]eileibe nicht aristotelische Begriffe übernehmen und anwenden, nicht nachreden, sondern nachmachen! Ich selbst habe dabei nichts zu tun als dafür zu sorgen, dass Aristoteles die rechte Gelegenheit bekommt, Ihnen seine Sache vorzumachen“ (ebd., S. 339). 12 Strauss (1989o), S. 57; meine Übersetzung. Strauss’ Ablehnung von Heideggers Existentialismus betrifft im Wesentlichen seine relativistische Haltung – nicht nur in Bezug auf die Herangehensweise an klassische Texte, sondern vor allem in Bezug auf die Moral. In diesem Relativismus zeigt sich Strauss’ Abneigung gegenüber den Implikationen einer nihilistischen Moral, die ihn letztendlich auch zu seinen hermeneutischen Forschungen der klassischen Texte motiviert haben muss. „Heidegger’s philosophy belongs to the infinitely dangerous moment when man is in a greater danger than ever before of losing his humanity“ (Strauss (1989m), S. 33). Strauss’ Antwort auf Heidegger ist daher eine Suche innerhalb der gesamten Tradition nach den „einfachen Erfahrungen von Recht und Unrecht, die den Kern der philosophischen These bilden, dass es ein Naturrecht gibt“ (Strauss (1989g), S. 34).

I. Historisches Verstehen

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Anspruch auf universelle Gültigkeit über ihre jeweilige historische Situation hinaus beanspruchen könne.13 Ebenso sei es durch die Gebundenheit an die jeweils eigene Zeit unmöglich, frühere Lehren zu rekonstruieren, da jeder Versuch diese wesentlich entsprechend modifizieren würde.14 Indem dadurch philosophische in historische Fragen transformiert würden,15 sei die Intention des Philosophen ihrem geschichtlichen Schicksal (fate)16 ausgeliefert. Somit wäre jegliche Möglichkeit, die Philosophen der Vergangenheit mit dem Anspruch verstehen zu wollen, wie sie sich selbst verstanden haben, schlichtweg unmöglich.17 Daraus resultiert eine Haltung, die eine geschichtliche Auseinandersetzung als „historisch-kritisches Verstehen“ für absolut notwendig erachtet, durch die sich Texten jedoch mit der Annahme genähert wird, diese immer nur anders oder, durch das historistische Bewusstsein, gar besser verstehen zu können. In diesem Sinne wirft Strauss Heidegger vor: „Above all, according to Heidegger, all thinkers prior to him have been oblivious of the true ground of all grounds, the fundamental abyss. This assertion implies the claim that in the decisive respect Heidegger understands his great predecessors better than they understood themselves.“ 18

Letztlich setzt sich Strauss mit dem Historizismus um der Philosophie willen auseinander und fragt, inwiefern Philosophie überhaupt noch möglich sein kann. Dabei identifiziert er den Historizismus als die gegenwärtige, dogmatische „Weltanschauung“ und bemüht sich, sowohl dessen Genese als auch die Gründe für dessen Selbstüberschätzung zu verstehen.19 Der Philosoph als Politischer Philosoph muss seinen sozialen Kontext reflektieren und daher auch mit dem Denken seiner Zeit bestens vertraut sein und sich mit den jeweiligen Weltanschauungen sowie vorherrschenden Meinungen und Auffassungen auseinandersetzen. Insofern muss der Philosoph im doppelten Sinne ein guter Historiker werden, wenn 13

Strauss (1989o), S. 63. Ebd., S. 60. 15 Ebd., S. 59. Strauss bezieht sich hierbei auf die klassische politische Philosophie, dass es unter diesen Voraussetzungen nicht mehr um den der Natur entsprechend besten Staat gehen könne, sondern nur noch um philosophiegeschichtliche Gedanken zu einem antiken Staat in einer jeweiligen Epoche. 16 Ebd., S. 70. 17 Ebd., S. 59. Es ist für Strauss offensichtlich, dass das Verstehen der Vergangenheit umso angemessener ist, je mehr wir uns dafür interessieren. Denn man könne nicht leidenschaftlich und ernsthaft interessiert sein, wenn man schon vorab davon ausgehe, dass die Gegenwart der Vergangenheit überlegen ist – vor allem wenn statt nach der ursprünglichen Intention des Autors nach dem Beitrag zu unserem gegenwärtigen Denken gefragt werde. „To understand a serious teaching, we must be seriously interested in it, we must take it seriously, i. e., we must be willing to consider the possibility that it is simply true“ (ebd., S. 68). 18 Strauss (1989m), S. 30. 19 „[H]istoricism must be applied to itself. It will thus reveal itself as relative to modern man“ (Strauss (1989o), S. 73). 14

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C. „Von der Geschichte zur Natur‘‘

er sich mit Texten der Vergangenheit beschäftigt: Einerseits muss er die jeweiligen historischen doxai der klassischen Autoren kennen und andererseits erkennen, dass die doxa seiner eigenen Zeit der Historizismus ist.20 So dienen Strauss’ historische Forschungen, wie es zur Ausbildung dieser „zweiten Höhle“ 21 der Moderne kommen konnte, dazu, die vorherrschende doxa seiner Zeit zu verstehen. Strauss rekonstruiert daher den intellektuellen Prozess und die Bedingungen des Baus und des Einzugs in die „zweite Höhle“, die noch unter der platonischen Höhle liegt, weswegen Philosophie im traditionellen Sinne kein Entrinnen ermögliche. Denn die „zweite Höhle“ befördert den Glauben, dass transhistorisches Wissen jenseits der „historischen Höhle“ grundsätzlich unmöglich sei. Wenn der Aufstieg jedoch bei den jeweils vorherrschenden Meinungen einer Zeit ansetzen muss, so ist dies für Strauss die historizistische „Weltanschauung“ 22. Daher appelliert er zur dringenden „Notwendigkeit eines nichthistorischen Verstehens des Historismus, d.h. eines Verständnisses der Ursprünge des Historismus, welches die Wahrheit des Historismus nicht als selbstverständlich voraussetzt“.23 Strauss begibt sich auf Spurensuche, um vermeintlich obsolete, historisch entschiedene Kontroversen wieder zu beleben. Er sucht aktiv Konfrontationen, die, wie bspw. zwischen Religion und Philosophie in Kap. 2.1., einseitig untergraben wurden, um einerseits zu den Grundlagen des modernen Denkens vorzustoßen und andererseits auf die versteinerte Tradition der Philosophiegeschichte zu antworten. Vor allem möchte Strauss herausfinden, warum und wie es zum Bruch mit der „klassischen politischen Philosophie“ gekommen ist und warum Philosophie praktisch und zu Zwecken der Umgestaltung der Natur instrumentalisiert werden konnte. Eine Ursache sieht er im Bestreben der Philosophie, grundsätzlich auf soliden Fundamenten bauen zu wollen, um sich der religiösen Orthodoxie entge-

20 Zur gegenwärtigen doxa vgl. Strauss (1997d), S. 451 f. und 461 ff.; Strauss (2006b), S. 123. Denn diese Auffassung ist keine Tatsache, wie er zeigen möchte, sondern das zeitgenössische Dogma. Es kann als Strauss’ Kernthema gesehen werden, dass sein Denken grundsätzlich von dem Gedanken bestimmt ist, dass alle modernen Dogmatismen falsch seien. „[W]hat claims to be the final triumph over provincialism reveals itself as the most amazing manifestation of provincialism“ (Strauss (1989q), S. 12). 21 Strauss verwendet das erweiterte Gleichnis von Platons Höhle aus der Politeia zuerst 1931 in Über die Fortschritte der Metaphysik (Hinweis von H. Meier). 22 „Während bei den Alten das Philosophieren gleichbedeutend war mit dem Verlassen der Höhle, gehört es bei unseren Zeitgenossen im wesentlichen einer ,historischen Welt‘, einer ,Kultur‘, ,Zivilisation‘ oder ,Weltanschauung‘ an, d.h. dem, was Platon die Höhle nannte. Wir wollen diese Anschauung ,Historismus‘ nennen“ (Strauss (1989g), S. 13). 23 Strauss (1989g), S. 35.

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genstellen zu können.24 So hätten die Eroberung der Natur und die Umgestaltung der Gesellschaft zuverlässiges, vor allem kommunizierbares, autoritatives Wissen sowie eine empirische Methode benötigt, die den politisch notwendigen Schutz eines jeden Einzelnen zur Ausgangsbasis gehabt habe. Zwar verstehe sich die Philosophie der Moderne nicht länger als „Magd der Theologie“, jedoch durch ihren direkten Einfluss auf politische Handlungsempfehlungen als „politische Wissenschaft“ hänge sie stark von dem jeweiligen Machthaber ab, dessen Autorität sie gemäß ihres Selbstverständnisses im klassischen Sinne eigentlich hinterfragen sollte. In seinen historischen Kommentaren versucht Strauss demnach, den vormodernen philosophischen Horizont wiederzuerlangen. Dieser Prozess fängt für Strauss nicht im 17. Jahrhundert an, denn wenn sich Philosophie gerade nicht als „Dienerin“ einer politischen oder religiösen Autorität versteht, so müssen auch der mittelalterliche Rationalismus und die Rolle der Philosophie mit untersucht werden. In diesem Sinne stellt die „zweite Höhle“ des modernen Denkens einen fehlgeschlagenen Fluchtweg aus der Höhle der „nomos-Tradition“ des biblischen Offenbarungsglaubens25 dar, da die Philosophie erfolglos versucht hat, diese widerlegen zu können. Die Suche nach absoluter Gewissheit und einem sicheren Fundament war demnach das Ziel der Moderne, um den Offenbarungsglauben zu überwinden. Strauss’ Weg zurück zum vormodernen Denken darf daher nicht als „reaktionäre Verbissenheit“ oder als „selbstvergessenes antiquarisches Interesse“ 26 aufgefasst werden, sondern es geht ihm vor allem darum, zu verstehen, was zum Denken der Moderne geführt hat. In diesem Fall geht es um das trennende „und“ im Sinne eines „oder“ in den Titeln Naturrecht und Geschichte sowie Political Philosophy and History. Jedoch gibt es darüber hinaus einen weiteren Aspekt, der das verbindende „und“ als den Zusammenhang zwischen Philosophie und Geschichte hervorhebt, wenn es um die methodische Herangehensweise geht, die klassischen Werke der „großen Denker“ verstehen zu wollen.27 Dieses „historische Verstehen“ (historical understanding) ist nur insofern geschichtlich, als der zu verstehende Text in einer bestimmten Epoche von einem Autor geschrieben wurde, der in einer be-

24

Vgl. das Kapitel „Die Krise des Westens“. Brief von Strauss an Gerhard Krüger vom 17.11.1932 in: Strauss (2001d), S. 406. Da der Offenbarungsglaube nicht widerlegt werden konnte, musste ihm ein funktionierendes alternatives System durch die Beherrschung der Natur entgegengestellt werden. Dass dadurch die Philosophie seit Hobbes von den Händen der Theologie in die Hände der Politik weitergereicht wurde, stellt für Strauss das „theologisch-politische“ Problem dar, mit dem er sich in seinem Gesamtwerk auseinandersetzt. 26 Strauss (1997h), S. 1. 27 Zur Geschichte in Leo Strauss’ Philosophie vgl. Tarcov (1983a). 25

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stimmten Epoche in einem bestimmten sozialen Umfeld lebte und eine bestimmte Sprache sprach.28 Strauss trennt daher die historische Untersuchung des zeitlichen Kontextes von der philosophischen, zeitübergreifenden Intention des Autors und sieht diese beiden Ebenen durch die „Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ verbunden. „Somit kann unser dringendstes Bedürfnis nur durch historische Studien befriedigt werden, die es uns ermöglichen, die klassische Philosophie genau so zu verstehen, wie sie sich selbst verstanden hat, und nicht so, wie sie sich auf der Grundlage des Historismus (historicism) ausnimmt.“ 29

Strauss antizipiert, dass eine Lesart, die zwischen den Zeilen zwischen historischer und philosophischer Ebene hin- und herwechselt, „nicht zu völliger Einheit zwischen den Forschern führt“.30 Divergenz bestehe vor allem zwischen der Interpretation als einem Beitrag zur Philosophiegeschichte und im Verstehen der Intention, die ein Autor mit seinem Werk beabsichtige. Letztere verstehen zu wollen sei die größte Herausforderung an den Leser, aber auch gleichzeitig der wichtigste Schlüssel zum Textverständnis. Diese Motivation eröffnet ebenfalls den Zugang zu Strauss’ Texten, wenn man sich fragt, warum er seine Philosophie nicht als System, sondern in Gestalt von philosophiegeschichtlichen Kommentaren vorlegt. Diese Herangehensweise findet sich vor allem in dem in Persecution and the Art of Writing explizierten und anhand von drei Beispielen aufgezeigten hermeneutischen Ansatz des „historischen Verstehens“. Dabei führt Strauss nicht nur vor, wie Spinoza, Maimonides und Halevi selbst in ihrer „Kunst des Schreibens“ vorgegangen sind, sondern er ahmt diesen Ansatz selbst nach und gibt Hinweise, wie sich der Intention des Autors in solchen Texten zu nähern sei. Strauss unterscheidet im Aufsatz How to

28 Da die spezifische Sprache von Autoren der Vergangenheit im Laufe der Zeit hinfällig geworden ist, muss selbstverständlich auch der sprachliche Hintergrund der Zeitgenossen eines Autors rekonstruiert werden. 29 Strauss (1989g), S. 35. Es sei darauf hingewiesen, dass die englische Sprache nicht zwischen „Historismus“ und „Historizismus“ unterscheidet und dies in der Übersetzung von Naturrecht und Geschichte übernommen wurde. 30 Strauss (1988c), S. 30; dt. Strauss (2009), S. 38. Vgl. hierfür auch die bereits oben angeführte Anmerkung zum Streit über die Legacy of Leo Strauss zwischen Jaffa und Pangle. Kauffmann ist der Auffassung, dass Strauss mit seinen historischen Darstellungen der Philosophiegeschichte die philosophische Funktion beabsichtige, einerseits zur Intention der klassischen Philosophen vorzudringen, wie sie sich selbst verstanden, und andererseits zu der esoterischen Lehre (vgl. Kauffmann 1997, S. 159). Es scheint, dass er durch seine Formulierung Intention und esoterische Lehre trennen würde. Strauss beabsichtigt zwar zweierlei Funktionen mit seinen „philosophiegeschichtlichen Einkleidungen“. Diese sind allerdings eher in der Kritik am Historismus als der doxa derjenigen Zeit zu finden, zu der Strauss schrieb. Zweitens bemüht er sich um ein historisch exaktes Verstehen der Voraussetzungen der jeweiligen Autoren, die er kommentiert, um der philosophischen Intention gegenüber begründet Rechenschaft ablegen zu können.

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Study Spinoza’s Theologico-Political Treatise zwei Schritte: erstens die Interpretation (interpretation) und zweitens deren Überprüfung (explanation). „By interpretation we mean the attempt to ascertain what the speaker said and how he actually understood what he said, regardless of whether he expressed that understanding explicitly or not. By explanation we mean the attempt to ascertain those implications of his statements of which he was unaware. [. . .] It is obvious that the interpretation has to precede the explanation.“ 31

Bei der Interpretation wird hinsichtlich der expliziten und impliziten Aussagen des Autors nach der mitzuteilen beabsichtigten Idee des Autors gefragt, während bei der Überprüfung vom Autor unausgesprochene Implikationen gedeutet werden, für die ein angemessenes „historisches Verstehen“ absolut notwendig ist. Strauss setzt somit die Frage nach der Intention des Autors vor die kontextbezogene, erklärende Überprüfung dieses Anspruchs.32 Der zweite Schritt dient demnach einer überaus kritischen rechtfertigenden Auseinandersetzung mit den in der Interpretation aufgestellten Annahmen. Darunter fallen die Erklärung von Widersprüchen, Brüchen im Text oder verschwiegene Äußerungen zu einem der „Sache“ wichtigen Argument.33 „[Philosophic efforts] would be accompanied by coherent reflections on the historical situation in which they were undertaken.“ 34

Auch wenn Strauss größten Wert auf die sorgfältige Lektüre eines „großen Buches“ legt, heißt dies nicht, dass er eine rein textualistische Hermeneutik verficht, die sich allein auf den vorliegenden Text bezieht. Er erachtet die historische Überprüfung der Annahmen des Lesers für überaus wichtig, ordnet diese jedoch 31

Strauss (1988a), S. 143, meine Hervorhebung. Vgl. auch Strauss (1989o), S. 59. Insofern dreht er die Reihenfolge um, wie sie Johann Gustav Droysen in seiner Historik (1868) vorgibt, die als sehr einflussreiche Grundlage für eine quellenkritische, hermeneutische Methode in der modernen Geschichtswissenschaft betrachtet werden kann. Jener unterscheidet dabei generell drei Zugangsmöglichkeiten zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Während die Philosophie und die Theologie spekulativer Art sind, so setzt sich die physikalische Methode das Ziel, Zusammenhänge erklären zu können, wobei es der historischen Methode zukommt, Sachverhalte und die dahinterliegenden Ideen zu verstehen. Droysens historische Methode setzt sich zum Ziel, den grundliegenden Gedanken hinter geschichtlichen Situationen gewinnen zu können und so die sittliche Wahrheit einer jeweiligen Zeit erkennen zu können und in ihrem geschichtlichen Verlauf zu verstehen. Die Idee ist dabei jedoch nicht transhistorisch, sondern an ihre Zeit und ihren Kontext gebunden, weswegen der Mensch nur ein „Organon“, ein Träger der sittlichen Idee in der fortschreitenden Geschichte ist. Daher besteht das methodische Vorgehen darin, zuerst das soziale Umfeld und die historische Sachlage zu rekonstruieren, um dann „in den vergangenen Geschehnissen Wirklichkeiten mit der ganzen Fülle von Bedingnissen, die ihre Verwirklichung und Wirklichkeit forderte, zu sehen“ (§ 37 Droysen (1977), S. 339). 33 Dafür ist es für das „historische Verstehen“ auch wichtig zu wissen, welche Bücher beispielsweise der zu analysierende Autor sehr gut kannte und wenn er sich in seinen Texten gerade nicht auf diese bezieht. 34 Strauss (1989o), S. 71. 32

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dem philosophischen Fragen nach der intendierten Idee des Autors unter. Demnach ist es für ein angemessenes Verständnis unerlässlich, den Text in seinem Kontext zu lesen und zu überprüfen. Jedoch darf eine kontextuelle Lesart nicht zum historizistischen Paradigma werden, dass der Kontext die philosophische Idee des Textes bedinge. Durch die Suche nach der Intention wird vielmehr hinterfragt, was der Autor beabsichtigt mitzuteilen, wie er als Politischer Philosoph den eigenen Kontext reflektiert und dementsprechend seine Idee äußert.35 Dafür ist vor allem die historische Situation ausschlaggebend, in der der zu lesende Text verfasst worden ist, besonders, wenn dieser in offenkundigen Zeiten der Verfolgung geschrieben worden ist. Dabei gilt es zu beachten, dass Strauss, wie in Kapitel 2.3. geschildert, Verfolgung als generelle Gefahr für die Philosophie erachtet, da jede Gesellschaft auf doxaischen Ansichten religiöser oder politischer Art baut. Das heißt in anderen Worten, dass eine politische Philosophie nicht hinfällig sein könne, nur da eine bestimmte politische Situation, in der diese Idee aufgeschrieben wurde, nicht mehr existiert. Um es kurz zu sagen, die Annahme, dass jede Doktrin zu einer jeweiligen historischen Situation gehört, beweist nicht, dass diese Doktrin unwahr sein könnte. Denn jede politische Lage enthält Elemente, die im Wesentlichen alle politischen Verhältnisse bestimmen.36 Während sich rein historische Fragen ausschließlich mit individuellen Situationen befassen, untersuchen Philosophen die grundlegenden Eigenschaften der politischen Dinge. Als Politische Philosophen betrachten sie dabei diese grundlegenden „politischen Wahrheiten“ vor dem Hintergrund der gegebenen historischen politischen Situation ihres Umfeldes.37 Insofern ist zwar die politische Lehre, die ein Politischer Philosoph veröffentlicht, „historisch bedingt“, indem sie sich dem politischen Umfeld anpasst, jedoch keineswegs die philosophische Idee. „[The philosophers] combined with that exposition an exposition of what they considered desirable or feasible in the circumstances, or intelligible on the basis of the generally received opinions; they communicated their views in a manner which was not purely ,philosophical‘, but at the same time ,civil‘.“ 38

Oberflächliche Leser könnten daher annehmen, dass ein philosophischer Autor den Bedingungen seiner gegebenen historischen Situation unterlegen sein müsse, wenn er seine Gedanken dem Umfeld entsprechend ausdrückt.39 Dass er dieses 35 Zum Kontext zählen auch weniger bekannte andere Autoren und Texte sowie Buchkenntnisse des Autors und Wissen, das er selbst voraussetzt und daher nicht expliziert werden muss. Darüber hinaus sind Kenntnisse der Denk- und Sprechweisen der jeweiligen Zeit unerlässlich, ebenso historische Einblicke, welche Konventionen der öffentlichen Mitteilung vorherrschten. 36 Strauss (1989o), S. 64. 37 Ebd., S. 63. 38 Ebd. 39 Ebd.

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aber auf diese Weise getan haben könnte, um überhaupt gehört zu werden, kann nur verstanden werden, wenn man nach der Absicht des Autors in seinen verschriftlichten Äußerungen fragt. Daher muss das Lesen philosophischer Texte von einer steten Reflexion des historischen Kontextes begleitet sein. Diese historische Erklärung und Rechtfertigung der philosophischen Annahmen unterliegen dabei jedoch stets der philosophischen Aktivität und dürfen nicht mit ihr gleichgesetzt werden.40 Ziel der Strauss’schen Hermeneutik ist es, den Autor so verstehen, wie er sich selbst verstand und dieses Selbstverständnis rechtfertigen zu können. Dabei darf er sich nicht auf das reine „historische Verstehen“ beschränken, sondern muss sich mit den expliziten und impliziten Äußerungen des Autors sowie seinem politischen Kontext auseinandersetzen, um ihn so verstehen zu können, wie er selbst verstanden werden wollte. Diese Annäherung an einen philosophischen Text bewahrt den Interpreten letztendlich vor der modernen Hybris, einen Autor der Vergangenheit besser verstehen zu wollen, als er sich selbst verstand. Die Verbindung von philosophischer Interpretation und historisch „wertfreier“ Erklärung bereitet den Weg zum eigentlichen Verstehen vor.41 Insofern ist geschichtliches Wissen als ein den Verstehensprozess begleitendes und unterstützendes Werkzeug notwendig, um die politisch-philosophische Idee hinsichtlich der Reflexion des jeweils gegebenen Kontextes des Autors angemessen verstehen zu können. Das „historische Verstehen“ des Kontextes des Autors in Verbindung mit der Notwendigkeit einer reflektierten Enttarnung der historizistischen Denkweise als moderne dogmatische „Weltanschauung“ erklärt Strauss zu einer propädeutischen Hinführung zur Philosophie: „Der Philosoph musste ein guter Historiker werden, wenn er ein wahrer Philosoph bleiben wollte.“ 42

Das Zusammenspiel zwischen Interpretation und Erklärung der historischen Situation verweist sowohl auf die Grenze der Beschreibbarkeit der Strauss’schen Hermeneutik als auch auf die Hybris, diese methodisieren zu wollen. Zwar bereiten das „historische Verstehen“ und die von Strauss erwähnten hermeneutischen Prämissen das Verstehen von esoterischen, philosophischen Texten vor, jedoch bleiben sie hinsichtlich der philosophischen „Sache“ und des Denkens des jeweiligen Autors rein äußerlich, da es sich um einen aktiven Prozess handelt, der aus den inneren, philosophischen Fragen des jeweiligen Lesers entspringt. 40

Ebd., S. 70. Kauffmann (1997), S. 164. 42 Meier (1996), S. 22. Meier verweist auf eine autobiographische Notiz aus den 30er Jahren, die sich im Nachlass befindet und die sein Zitat belegt: „Das historische Bewußtsein ist an eine bestimmte geschichtliche Situation geknüpft; wir heute müssen Historiker werden, weil wir nicht über die Mittel verfügen, die sachliche Frage angemessen zu beantworten“ (ebd.). 41

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Auch Heinrich Meier erachtet die historische Rekonstruktion des Kontextes als notwendig, um sich der philosophischen Sache nähern zu können. Die geschichtliche Abhängigkeit sei dabei nicht länger eine allgemein akzeptierte Voraussetzung für Philosophie, sondern geschichtlich abhängig sei allein die Reflexion der doxa einer jeweiligen Zeit. Dies gilt es historisch genauestens zu rekonstruieren, um der Aufgabe gerecht werden zu können, die Denker der Vergangenheit so zu verstehen, wie sie sich selbst verstanden. Die Wiederentdeckung des exoterischesoterischen Schreibens durch die historische und philosophische Ebene ist dabei die „tiefste Antwort auf die Herausforderung des Historismus“ 43: „The task of the historian of thought is to understand the thinkers of the past exactly as they did themselves, or to revitalize their thought according to their own interpretation. If we abandon this goal, we abandon the only practical criterion of ,objectivity‘.“ 44

Unterstellt man dem philosophischen Autor, dass er als Philosoph ein Politischer Philosoph ist und die jeweilige doxa, die geschichtlichen Bedingungen seiner jeweiligen Zeit, unter denen der Autor seine Schriften geschrieben hat, genauestens mit bedacht und Philosophie und Rhetorik in einer notwendigen „Platonischen Rhetorik“ angewandt hat, so ist eine Rekonstruktion dieser allgemeinen Selbstverständlichkeiten der jeweiligen Zeit unerlässlich, um Meinung von Wissen und Angepasstheit von eigenständigem, unabhängigem philosophischem Denken trennen und nachvollziehen zu können. Darunter fallen nicht nur Bedingungen der Zensur, sondern eben auch die generelle Spannung zwischen Gemeinwesen und Philosophie. In der Vergegenwärtigung des historischen Kontextes, um die philosophische von der jeweiligen historischen Ebene unterscheiden zu können, liegt die hermeneutische „Bewegung von der Geschichte der Philosophie zur Intention des Philosophen“ 45. Dabei dürfe es nicht allein darum gehen, einen überlieferten Beitrag eines Philosophen geschichtlich einzuordnen und unter historistischen Prämissen etwas über den Autor lernen zu können. Vielmehr müsse der Leser dem Anspruch gerecht werden, einen Autor genauso verstehen zu wollen, wie er sich selbst verstand, und motiviert sein, etwas von ihm lernen zu können. „[I]f one wants to understand a philosophy of the past, one must approach it in a philosophic spirit, with philosophic questions: one’s concern must be primarily, not with what other people have thought about the philosophic truth, but with the philosophic truth itself.“ 46

43 44 45 46

Ebd., S. 31. Strauss (1989o), S. 67. Meier (1996), S. 31. Strauss (1989c), S. 211.

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Das erfordert, neben der vorausgehenden historischen Rekonstruktion der jeweiligen Situation eines philosophischen Autors und der doxa seiner Zeit, eine aktive Teilnahme durch die Interpretation (interpretation) und Auseinandersetzung mit dem Text, in der sich auf die Denkbewegung des philosophischen Autors eingelassen und diese selbst gedacht werden muss. Hermeneutik wird in diesem Sinne zu einer geschichtsübergreifenden Philosophie, die im Denken der philosophischen Sache zu einer „Begegnung verwandter Naturen“ 47 führt: „Wer alles daran setzt, einen Philosophen so zu verstehen, wie dieser sich selbst verstand, und wer sich bei diesem Studium von der Maxime leiten lässt, dass die größte Anstrengung und Sorgfalt darauf zu verwenden sei herauszufinden, ob sein Oeuvre die Wahrheit enthält, der mag den Punkt erreichen, an dem es für ihn keinen Unterschied mehr macht, ob er die Gedanken jenes Philosophen oder ob er seine eigenen Gedanken denkt, weil er sich auf einer Ebene bewegt, auf der die Argumente die Führung übernehmen und die Alternativen sichtbar hervortreten, die jenseits der ,geschichtlichen Gebundenheit‘ des Autors wie des Interpreten die Sache bestimmen, auf die das Denken beider gerichtet ist.“ 48

Es ist „die Bewegung vom artikulierten Ganzen des Werks zur einheitsstiftenden Intention des Autors und mit ihr, im Falle des Gelingens, ein Verstehen, das seinen tiefsten Grund in der Bewegung verwandter Naturen hat“.49 Diese Begegnung ist die letzte Voraussetzung für die von Strauss geforderte hermeneutische Offenheit als die Anstrengung, einen Philosophen so zu verstehen, wie er sich selbst verstand, und in der Erwartung, von ihm etwas von größter Wichtigkeit lernen zu können. Strauss selbst stellt deswegen seine „kostbarste Erkenntnis“ nicht in „systematischen Werken“ dar, sondern in Gestalt des historischen Kommentars, so dass man sogar den oberflächlichen Eindruck gewinnen könnte, man habe es mit einem Historiker der Philosophiegeschichte zu tun.50 Seine „philosophisch konzipierte Philosophiegeschichte“ 51 ist die äußere Erscheinung im Gewand mehr oder weniger konventioneller Kommentare zu Beiträgen der Philosophiegeschichte, die auf einen von Strauss beabsichtigten inneren philosophischen 47 Strauss (1945), S. 377; Meier (1996), S. 42. Entgegen Gadamers Ansatz meint „Begegnung“ dabei gerade nicht eine Annäherung an historische Horizonte, die den Interpreten und den philosophischen Inhalt durch „gähnende Abgründe“ trennen würden. Thomas Gutschker wirft Strauss und der Strauss-Interpretation von Heinrich Meier vor, die „Fugenlosigkeit“ des transhistorischen Denkens einer Denkbewegung vergangener Autoren nicht zu hinterfragen (Anm. 64 in: Gutschker (2002), S. 94). Meier wie auch Kauffmann umgehen laut Gutschker diese Aufgabe und erlangen so keinen kritischen Abstand, so dass sie die esoterische Werkdimension nicht sehen und so allein die exoterische Fassade rekonstruieren. Dass die esoterische gerade im „fugenlosen“ Denken der Denkbewegung liegt, erkennt Gutschker in seiner Interpretation der Strauss’schen Aristoteles-Werke wiederum nicht. 48 Meier (1996), S. 41 f. 49 Meier (2005). 50 Vgl. Kauffmann (1997), S. 7. 51 Ebd., S. 157.

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Kern verweist. Ebenso wie Platons Sokrates vom historischen Sokrates unterschieden werden muss, so zeigt Strauss Alfarabis Rolle als „Philosophiehistoriker“, der in der Maske Platons Immunität gegenüber seiner eigenen Philosophie besitzt, dass historisch konzipierte Werke nicht notwendig historische Werke sein müssen. „His [Alfarabi] attitude to the historical Plato is comparable to the attitude of Plato himself to the historical Socrates, and to the attitude of the Platonic Socrates himself to, say, historical Egypt [. . .] By this very fact he reveals himself as a true Platonist. For Platonists are not concerned with the historical (accidental) truth, since they are exclusively interested in the philosophic (essential) truth.“ 52

Ebenso zeigt sich in dieser hermeneutischen Herangehensweise das politische Potential der Philosophie. Strauss’ Hermeneutik ist zutiefst politisch, nicht nur inhaltlich, da die philosophische Idee in einem generellen Spannungsverhältnis zum politischen Gemeinwesen steht und sich mit der naturgegebenen, besten Ordnung und ihren Bedingungen auseinandersetzt. Sie politisiert in ihrer Vorgehensweise, indem sie sich zum Ziel setzt, eine „philosophische Politik der Freundschaft“ in Form einer auf die im Text postulierte „philosophische Klassengemeinschaft“ zu begründen. Durch eine Hermeneutik, die zwischen der esoterischen und exoterischen Ebene unterscheidet, werden jene Leser ausgeschlossen, die nicht bereit sind, sich auf den zetetischen Prozess des Philosophierens einzulassen. Indem die exoterische Ebene sich darüber hinaus mit dem „historischen Verstehen“ der „Intention des Autors“ gegen den Historizismus richtet, ermöglicht Strauss’ Hermeneutik nur die „transhistorische Durchgängigkeit“ des philosophischen Dialogs „über die geschichtlichen Barrieren des Verstehens“ hinweg. Dabei kann die Philosophie mit einer Herangehensweise der historizistischen Herausforderung kontern, die die Möglichkeit transhistorischen Verstehens existenziell in Frage stellt. Mit dem propädeutischen Ausgangspunkt des „historischen Verstehens“ gelangt der Leser an die natürliche Grenze des esoterischen Kerns eines philosophischen Textes. Insofern lässt sich mit Meier Strauss’ Denkbewegung als eine „Bewegung von der Geschichte zur Natur“ 53 auffassen. „Natur“ bezieht sich dabei nicht allein auf die natürlichen Voraussetzungen einer philosophischen Seele des Lesers, sondern auch auf die auf „natürliche“ (independently acquired) Art, zu Einsichten zu gelangen, die sich von einer traditionell überlieferten (inherited) Herangehensweise durch die Wirkungsgeschichte unterscheidet. Mit der Frage nach der „Intention des Autors“ müssen wirkungsgeschichtlich überlieferte politische Ideen und ihre Implikationen hinterfragt werden. Auch unter diesem Aspekt fusionieren die philosophische und historische Anstrengung.54 52 53 54

Strauss (1945), S. 376. Meier (1996), S. 33 f. Strauss (1989o), S. 73.

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„To counteract this tendency [der Wirkungsgeschichte] a special effort is required to transform inherited knowledge into genuine knowledge by revitalizing its original discovery, and to discriminate between the genuine and the spurious elements of what claims to be inherited knowledge. This truly philosophic function is fulfilled by the history of philosophy or of science.“ 55

Strauss’ philosophischer Hermeneutik gelingt es daher, einen Ausweg aus jener künstlichen „zweiten Höhle“ zu finden, die den Weg zu den ursprünglichen Bedingungen zur Philosophie, den Aufstieg vom Meinen zum Wissen, erschwert und verlängert hat und eine „Hinführung“ (introduction) zu der Philosophie, die bei der ursprünglichen Höhle beginnt, notwendig macht. „Darum und nur darum ist die ,Historisierung‘ der Philosophie berechtigt und notwendig: nur die Geschichte der Philosophie ermöglicht den Aufstieg aus der zweiten, ,unnatürlichen‘ Höhle, in die wir weniger durch die Tradition selbst als durch die Tradition der Polemik gegen die Tradition geraten sind, und aus der ans Licht zu gelangen der ursprüngliche Sinn des Philosophierens ist.“ 56

So geht Strauss in seinen Analysen durch die gesamte westliche Tradition und „destruiert“ die doxa der Wirkungsgeschichte, um zu dem „klassischen“ Verständnis von Philosophie zurückzukommen. Strauss’ Destruktion der Tradition der Philosophiegeschichte sowohl in ihren überlieferten, verfestigten Lehren und Systemen, aber vornehmlich der historizistischen Prämisse erfolgt jedoch nicht im heidegger’schen Sinne, obwohl er stark von ihm geprägt wurde. Heidegger schaffte es ebenfalls, Aristoteles und vor allem die vorsokratischen Philosophen wieder lebendig zu machen.57 Sondern sie stellt sich als ein Versuch dar, „der Übermacht der Antworten mit radikalem Fragen zu begegnen“ 58 und das ursprüngliche, philosophische Wissen wiederzubeleben und vom überlieferten abzusondern. Um die jeweiligen eigenen „Selbstverständlichkeiten“ der Gegenwart und die „historisch entschiedenen“ Kontroversen der Tradition verstehen zu können und ihnen mit einer zetetisch-skeptischen Offenheit zu begegnen, eröffnet Strauss den „Wiederversuch“ von Philosophie in einer Richtung, die sich gerade dem „geschichtlichen Fortschritt“ entgegenstellt. Dabei sucht Strauss die grundlegenden Konfrontationen und versucht, den Streit um die „Sache“ der Philosophie willen neu zu initiieren, um scheinbar überwundene, aber nicht widerlegte Möglichkeiten offenzulegen und neu zu fragen. Seine Kommentare sind daher als „propädeutische Analyse“ 59 oder „künstliche Einführung“ 60 durch eine Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte 55 56 57 58 59 60

Strauss (1989o), S. 77. Kauffmann (1997), S. 21 f. Gadamer (2005), S. 50. Meier (1996), S. 29. Ebd., S. 26. Kauffmann (1997), S. 158.

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in viererlei Art „hinführend“: Sie will die doxa der Autoritäten aufdecken, das der „klassischen“ Auffassung von Philosophie entgegensteht. Zweitens führt sie durch eine rigorose Gegenüberstellung zu den wesentlichen Fragen „Was ist Philosophie?“ und „Warum Philosophie?“ hin. Drittens setzt sie sich historisch mit der Intention des zu untersuchenden Autors auseinander und versucht, über das „historische Verstehen“ der jeweiligen gesellschaftlichen doxa des Autors hinaus seine Denkbewegung zu rekonstruieren. Viertens setzt Strauss, indem er sich selbst der „Platonischen Rhetorik“ bedient und keine systematische Lehre ausgearbeitet hat, beim Leser ein sehr sorgfältiges Studium nicht nur seiner, sondern auch der Quelltexte voraus und initiiert auf diese Weise ein philosophisches Nachvollziehen der Denkbewegungen wie auch der philosophischen „Inhalte“ der fundamentalen Fragen und ihrer alternativen Lösungsmöglichkeiten. Ihm geht es um die „Sache“, die zwischen zwei Parteien kontrovers war. Von daher ist Strauss’s Werk nicht nur eine Hinführung zum Aufstieg zur Philosophie, seine Kommentare zu den „großen Büchern“ der Philosophiegeschichte sind die Leiter zum Aufstieg aus beiden platonischen Höhlen.61 Die Kunst des sorgfältigen Lesens trägt daher im Wesentlichen dazu bei, aus den versteinerten Lehren der Philosophiegeschichte im Medium der Interpretation neue Erkenntnisse hervorzubringen und zugleich das in ihnen gebundene philosophische Potential wieder freizusetzen.62 Strauss’ Hermeneutik ermöglicht somit Philosophie unter der Dominanz des Historizismus. Zwar liefert diese Herangehensweise weder eine wissenschaftsanaloge Leistung mit einer Methode noch ein letztbegründendes System, dennoch kann gerade hinsichtlich Strauss’ klassischer Auffassung von Philosophie von einer „philosophischen Hermeneutik“ 63 gesprochen werden. Statt eine philosophisch begründete Grundlage für die Geisteswissenschaften aufstellen zu wollen, kritisiert Strauss’ „philosophische Hermeneutik“ jegliche methodische Herangehensweise an Philosophie. Sie stellt vielmehr die Frage nach den Voraussetzungen des Verstehens und schafft es durch eine Hermeneutik von zwei Ebenen, Philosophie wiederzubeleben und weiterhin zu ermöglichen.

61

Meier (1996), S. 28 f. Vgl. ebd., S. 33. 63 Der Begriff ist im Wesentlichen von Günter Figal besetzt, der ihn für eine auf Heideggers Ontologie ausgerichtete Hermeneutik verwendet Figal 2000. Otto Friedrich Bollnow unterscheidet ebenfalls zwischen „philosophischer Hermeneutik“ und „hermeneutischer Philosophie“. In der „Festrede zu Wilhelm Diltheys 150. Geburtstag“ 1983 erläutert er selbst, dass „philosophische Hermeneutik“ der geisteswissenschaftlichen Herangehensweise zu einer erweiterten philosophischen Reflexion durch die Methode verhelfe, während „hermeneutische Philosophie“ eher das Bemühen der Philosophie um ein hermeneutisches Verfahren zur Grundlegung der Geisteswissenschaften bezeichne (vgl. Bollnow (1984), S. 49 f.). 62

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2. Quentin Skinners kontextualistische Kritik am „historischen Verstehen“ der philosophischen Intention „For Platonists are not concerned with the historical (accidental) truth, since they are exclusively interested in the philosophic (essential) truth.“ Leo Strauss64

Die Rezension zu Persecution and the Art of Writing des Historikers George Sabine war eine erste Reaktion auf Strauss’ Schrift, die bereits fragt, ob eine methodische Unterscheidung zwischen historischer und philosophischer Ebene „eine geeignete Herangehensweise für historische Interpretationen“ darstellt oder nicht vielmehr „eine Einladung zu einem verdrehten Erfindergeist“ 65 ist. Die äußerst einflussreiche Kritik des Cambridger Historikers Quentin Skinner erkennt dabei nicht die Raffinesse der Strauss’schen Verbindung von Philosophie und Geschichte, sondern verkennt seine unhistorische Herangehensweise als naive Spekulation. Skinner veröffentlichte 1969 den Aufsatz Meaning and Understanding in the History of Ideas66 und präsentierte einen grundlegend neuen methodologischen Versuch, sich Texten der politischen Ideengeschichte zuzuwenden, der spätestens seit den 1980er Jahren in den angelsächsischen Ländern zur „ideengeschichtlichen Orthodoxie“ 67 geworden ist. Skinner sah sich zu diesem Neuansatz genötigt, da die von ihm befürwortete politische Ideengeschichte Ende der sechziger Jahre einerseits durch soziologische Ideologiegeschichte überlagert wurde oder sich andererseits größtenteils als „Höhenkamm-Forschung“ darstellte. An Letzterer kritisiert er, dass sie sich auf den Kanon der „großen Denker“ konzentriere und sich durch die Auseinandersetzung mit transhistorischen „ewigen Fragen“ in „einem fragwürdigen Niemandsland zwischen Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte“ 68 bewege. Aus seinem historischen Blickwinkel wirft er vor allem Leo Strauss’ Herangehensweise an klassische Texte einen Mangel an Historizität sowie Naivität vor insofern, als der Kanon der politischen 64

Strauss (1945), S. 377. Sabine (1953). Vgl. auch Strauss’ Antwort in: Strauss (1989i), S. 221 ff., vor allem 223–228. Auch der Politikwissenschaftler Alfons Söllner kritisiert Strauss’ Hermeneutik als „verdammenswerte (condemnatory) (statt historisch-kritischer) Methode der Interpretation“ und sieht Strauss’ Thoughts on Machiavelli als Hauptbeispiel dafür. Viele Passagen läsen sich wie eine Übung zu intellektuellem Exorzismus, der in einen „apokalyptischen Fundamentalismus“ münde (Söllner (1995), S. 132 ff.). 66 Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas, History and Theory, 8, 1969, S. 3–53; wieder abgedruckt in: Tully/Skinner (1988), S. 29 ff. Skinner hat diesen Aufsatz für seinen Sammelband Visions of Politics (2002) überarbeitet und gekürzt. Im Folgenden wird, falls nicht anders angegeben, die deutsche Übersetzung von G. Buschor und A. Finke der ursprünglichen Fassung des Aufsatzes zitiert. 67 Mulsow/Mahler (2010), S. 8. 68 Heinz/Celikates (2009), S. 254. 65

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C. „Von der Geschichte zur Natur‘‘

Philosophie keine zeitlosen Themen (perennial problems)69 von universaler Gültigkeit beinhalten könne. Politisch-philosophische Werke seien vielmehr immer als konkrete, direkte Eingriffe in den jeweiligen zeitgebundenen Kontext zu erachten und könnten nur aus diesem heraus interpretiert werden. Daher stellt er sich gegen die methodische Annahme, dass ein Text selbst ein ausreichender Gegenstand für Forschung und Verständnis sein könne.70 Er unterstellt demnach Strauss eine anachronistische Lesart, die diesen Kontext ignoriere und die die Bedeutung der „immerwährenden Wahrheiten“ des Textes einzig durch sorgfältiges Lesen (close reading) erschließen könne. Bedeutung lässt sich für Skinner somit nicht aus dem Text allein, sondern nur zusammen mit dem Kontext verstehen, zu dem wiederum auch andere Texte sowie die gesellschaftlichen Erwartungen und Vorurteile gehören, die den Autor und sein Umfeld prägen.71 Da Ideengeschichte immer in einer spezifischen historischen Situation verankert ist, sei ein politischer Ideengeschichtswissenschaftler, so Skinner, daher dazu verpflichtet, detailliert und historisch äußerst genau die zeitgenössischen Entstehungsbedingungen eines Textes zu analysieren. Interpretationen, die diesen zeitgenössischen, diskursiven Kontext überschreiten, sind für Skinner einem trügerischen ideologischen Überbau verfallen. Die „Intention des Autors“ spielt bei Skinner zwar begrifflich und konzeptuell eine tragende Rolle, jedoch sei der Autor hinsichtlich der kontextuellen Diskussionen, in die er immer eingebettet ist, an diese gebunden und könne keine „zeitlosen Ideen“ in seinen Texten mitteilen. Dennoch hält er an einem starken Begriff des Autors fest und betont sogar, dass die Ernsthaftigkeit eines Autors von größter Relevanz für die Diskussion um die Intentionalität von literarischen Werken sei.72 Daher könne es allerdings wohl sein, wie „Professor Strauss“ behaupte, dass die Autoren einfach nicht immer in der Lage dazu gewesen seien, zu sagen, was sie meinten, und sie so das Gemeinte zwischen die Zeilen geschrieben hätten. Dabei müsse aber unbedingt historisch kontextuell rekonstruiert werden, warum die Strategie, das Gemeinte absichtlich indirekt zu vermitteln, willentlich angewendet worden sei. Auch wenn Skinner sich unter diesem Aspekt von Strauss bewusst distanzieren möchte,73 weisen beide Ansätze hinsichtlich der Intentionalität eine gewisse Ähnlichkeit auf. Skinner kann, wie eben auch Strauss, als Intentionalist bezeichnet werden, der nicht nur den Text danach liest, was der Autor explizit gesagt hat, sondern zu verstehen versucht, was er mit dem Gesagten gemeint haben könnte. 69

Vgl. Tully/Skinner (1988), S. 65. Skinner (2010), S. 22. 71 Ebd., S. 25. 72 Ebd., S. 81 f. Vgl. auch die Ablehnung von postmodernen Text- und Autorkonzepten in: Skinner (2009), S. 7 ff. 73 Skinner (2010), S. 59. 70

I. Historisches Verstehen

275

Im Gegensatz zu Strauss, der über die esoterisch-exoterische Ebene zwischen den jeweiligen Meinungen des jeweiligen historischen Kontextes und der philosophischen Intention des Autors unterscheidet, lehnt Skinner jegliche kategorische Trennung zwischen Texten und Kontexten ab. Die Intention des Autors drücke sich nicht im Text aus, sondern manifestiere sich innerhalb der Diskussion, in die der Text interveniert. Skinner versteht sich selbst nicht als Philosoph, sondern als Historiker. Daher untersucht er das Verständnis sprachlicher Äußerungen in literarischen Werken, die ebenso Gedichte, Romane oder eben philosophische, aber auch politische Traktate sein können. Er beruft sich dabei auf den pragmatischen Aspekt der Sprache von John L. Austins Sprechakttheorie, dass man mit sprachlichen Äußerungen immer auch handle.74 Gemäß Wittgensteins Diktum „Worte sind auch Taten“ sind politische Texte laut Skinner immer als Sprechakte zu betrachten, deren „sprachspielerische“ Regeln den Schlüssel zum Verständnis liefern. Dabei ist der Autor nicht als passiver Regulator von Diskursen zu verstehen, sondern als ein Akteur, der Sprechakte vollzieht und Sprache bewusst einsetzt. Sprechhandlungen tragen dabei Intentionen, die es zu rekonstruieren gilt, wobei nicht allein die sozialen und politischen Umstände der Entstehungszeit, sondern eben auch sprachliche Konventionen berücksichtigt werden müssen. Der Interpret müsse daher analysieren, was der Autor durch sprachliche Äußerungen „tut“, indem er bestimmte Wörter verwendet. „Die auktoriale Intention ist in diesem Fall gleichbedeutend mit dem, was der Autor gemeint oder beabsichtigt haben könnte, indem er sagte, was er sagte.“ 75

Textverständnis bedeutet dabei für ihn, die vom Autor intendierte Bedeutung sowie deren intendierte Rezeption zu erfassen, was bedingt, den Text als intendierten Kommunikationsakt zu verstehen. Es geht dabei darum, „herauszufinden, was ein Autor zu der Zeit, in der er schrieb, dem Publikum, das er ansprechen wollte, durch das Machen der Äußerung tatsächlich mitzuteilen beabsichtigte“.76 Der Kontext muss dabei als der determinierende Rahmen gesehen werden, „welche der konventionell zulässigen Bedeutungen jemand dieser Art von Gesellschaft grundsätzlich mitzuteilen beabsichtigt haben könnte“.77 „Das Verstehen von Texten setzt voraus, dass wir sowohl die beabsichtigte Bedeutung dieses Textes erfassen als auch das beabsichtigte Verständnis dieser Bedeutung. Um einen Text zu verstehen, müssen wir also sowohl die Absicht verstehen, die verstanden werden sollte, als auch die Absicht, dass diese Absicht verstanden werden sollte, die der Text als intentionaler Akt der Mitteilung beinhalten muss.“ 78 74 75 76 77 78

Austin (1962). Skinner (2009), S. 9. Skinner (2010), S. 81. Ebd., S. 82. Ebd., S. 60.

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Um den Sprechakt bestmöglich verstehen zu können, bedarf es einer interpretativen Rekonstruktion der intertextuellen und kontextuellen Zusammenhänge des Textes. Indem der Text historisch kontextualisiert wird und dadurch seine Nuancierung innerhalb eines bestimmten sprachlichen Diskurses erkennbar wird, lässt sich die besagte auktoriale Intention verstehen, die in Skinners hermeneutischem Projekt ins Zentrum rückt. Es geht ihm dabei hauptsächlich darum, was der Autor mit dem Gesagten beabsichtigte, indem er es sagte. Skinners Ansatz richtet sich demnach auf die intentionale, willentliche Handlung durch einen Sprechakt, wobei er dem Autor jegliche philosophische Intention abspricht. Die Intention des Autors ist einzig im Sinne der Sprechakttheorie zu verstehen – auf keinen Fall psychologisierend oder gar bezugnehmend auf zeitlose philosophische Fragen und deren Alternativen.79 Um eine Aussage zu verstehen, genüge es nicht, das Gesagte unter seinem sprachlichen und sozialen Kontext zu erfassen. Zusätzlich müsse für jede Aussage immer geklärt werden, wie das Gesagte vom Autor gemeint gewesen sei.80 „Wer sich entweder ausschließlich auf den Text oder auf den sozialen Kontext konzentriert, um die Bedeutung eines Textes zu bestimmen, wird nicht in der Lage sein, einige der schwierigsten Probleme bezüglich der Verstehensbedingungen von Texten zu erkennen.“ 81

Skinner liefert mit seinem kontextualistischen „Erfassen von Absichten“ so eine vermeintlich „aussichtsreichste Herangehensweise“, in der der Kontext als grundlegender Bezugsrahmen fungiert, von dem her zu entscheiden sei, welche der überhaupt möglichen Bedeutungen der Autor überhaupt mitzuteilen beabsichtigt hätte.82 Sein Ansatz führe demnach nicht nur zu einer befriedigenderen Geschichtsschreibung, sondern stelle auch die Ideengeschichte auf eine solide philosophische Basis.83 Auch wenn Skinner einen Dialog zwischen der philosophischen Argumentation und den historischen Fakten für möglich hält, rückt die Rolle des Historikers dabei stark in den Vordergrund. Denn die Bedeutung eines Textes könne nur durch eine streng historische Untersuchung und Interpretation der geschichtlich kontingenten Kontexte erschlossen werden, die als Grundlage dafür gelten, die auktoriale Intention in ihrem Sprechakt erfassen zu können. Durch diese strenge Methode entgehe man der Gefahr, in Texte etwas „hineinzulesen“ und in verstreuten oder zufälligen Bemerkungen eines Autors eine konsistente Lehre erwar79 Bspw. sei es im Fall von Ironie nie möglich, die wahre Intention des Autors zu verstehen, jedoch könne nachvollzogen werden, was der Autor tat, indem er ironische Aussagen und überhaupt den textuellen Beitrag machte. 80 Ebd., S. 79. 81 Ebd., S. 80. 82 Ebd., S. 81 f. 83 Ebd., S. 22.

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ten zu wollen.84 Skinner möchte es vermeiden, mit „vorgefertigten Paradigmen“ an Werke heranzugehen, und dabei vor allem den „Mythos der Kohärenz“ und der vorwegnehmenden und vor-beurteilenden „Prolepsis“ seiner Zeitgenossen aufdecken.85 So wirft er Leo Strauss explizit vor, seinem eigenen philosophischen Paradigma verfallen zu sein und dieses seinen scheinbar historischen Untersuchungen in einer nebulösen Art aufzudrücken, so dass diese wiederum zutreffen würden.86 Strauss sei mit einer vorgefertigten Meinung bezüglich der Untersuchungsergebnisse an den Text herangegangen und habe versucht, unabhängig vom Kontext historischer Entwicklung, zeitlose, universale Lehren zu formulieren, die er darüber hinaus noch als kohärent deute und nur in impliziten Äußerungen vorfinde. Die „teuflische, aber sehr einflussreiche“ 87 Herangehensweise von Strauss werde daher vom „Mythos der Lehre“ und vom „Mythos der Kohärenz“ in die Irre geleitet. Skinner sieht darin die Gefahr, dass mittels verstreuter, impliziter oder eher zufälliger Bemerkungen eines klassischen Denkers spekulativ auf eine kohärente Lehre geschlossen werden könne, was eine „erstaunliche Sackgasse für jegliche historische Untersuchung“ 88 wäre. Strauss unterliege dem „metaphysischen Glaubenssatz“, „dass man nicht nur davon ausgehen kann, dass ein Autor ,innere Kohärenz‘ aufweist, die herauszuarbeiten Pflicht des Interpreten ist, sondern dass alle offensichtlichen Hindernisse, die sich dabei ergeben, weil das Werk offensichtliche Widersprüche zu enthalten scheint, keine wirklichen Hindernisse sein können, weil es sich ja nicht um echte Widersprüche handeln kann“.89 Jene „äußerst einflussreiche Autorität [Strauss]“ glaube, Widersprüche müssten um jeden Preis versöhnt werden, so dass bei „Schnitzern“ 90 seitens der „großen Meister der Schreibkunst“ die Gefahr der Verfolgung berücksichtigt werden müsse, die ihre weniger orthodoxen Ansichten eben nur implizit zwischen den Zeilen des eigenen Werkes verborgen hätten.91 Skinner richtet sich gegen die für ihn daraus resultierende unvernünftige Annahme, scheinbare Widersprüche als eigentliche Absicht des Autors zu lesen, um diese auflösen zu können. Eine sol84

Ebd., S. 27. Ebd., S. 54. Mit „Prolepsis“ meint Skinner jenes Problem, dass der Interpret stets aus seiner eigenen, gegenwärtigen Perspektive und Fragestellung der Gefahr unterläuft, unbewusst in das Werk etwas hineinzulesen, auf etwas vermeintlich Vertrautes stößt und dieses dann dem Autor als bekannt zuschreibt oder gegenwärtige Begriffe dem Autor unter gegenwärtiger Bedeutung zuschreibt. 86 Ebd., S. 33 ff. 87 Ebd., S. 33. 88 Ebd., S. 27 und 34 ff. 89 Ebd., S. 43. 90 Ebd., S. 44. 91 Ebd., S. 45. 85

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che Lesart entziehe sich jeder Kritik, wenn man denn nicht als „gedankenloser, schlampiger Leser“ gelten möchte.92 Darüber hinaus führe Strauss kein nachvollziehbares Kriterium an, mit dem Epochen der Verfolgung präzise bestimmt werden können, in denen „geheime Botschaften“ zwischen den Zeilen zu erwarten wären. Strauss’ gesamtes Unterfangen unterliege daher jenem „Mythos der Kohärenz“, „dass eine nach dieser Methode verfasste Geschichte schwerlich irgendwelche historischen Darstellungen von Gedanken enthalten kann, die tatsächlich in der Vergangenheit gedacht wurden“.93 „[J]eder Versuch, solche Forschung aus den ,zeitlosen Fragestellungen‘ und den ,universellen Wahrheiten‘, die aus den klassischen Texten gewonnen werden können, zu rechtfertigen, [muss sich damit erkaufen], dass er das Untersuchungsobjekt selbst simplizifiert und unnötig naiv erscheinen lässt.“ 94

Die Naivität liegt für Skinner darin begründet, über die spezifische Situation des Autors hinausgehen und ihm gültige Lösungen auf transhistorische Probleme unterstellen zu wollen. Die klassischen Autoren beschäftigten sich nicht mit gegenwärtigen Fragen, sondern mit ihren jeweils eigenen. Dass diese bei einem philosophischen Autor seinem eigenen Anspruch gemäß philosophischer Natur und somit grundlegend und unveränderlich sein können, sieht Skinner nicht. Für ihn gibt es, mit Collingwoods Worten, „in der Philosophie überhaupt keine zeitlosen Fragestellungen“ 95: „Es gibt nur individuelle Antworten auf individuelle Fragen, und potentiell gibt es so viele verschiedene Fragen, wie es Fragende gibt.“ 96

Ideen seien immer eine Reaktion auf die unmittelbaren Umstände, weswegen nicht allein der Text, sondern der erklärende Kontext zum angemessenen Verstehen beitrage. Skinner stemmt sich gegen die konzeptuellen Unzulänglichkeiten einer rein autonomen Textanalyse, die in den klassischen Texten nach „zeitlosen Wahrheiten“ sucht, und plädiert für die Notwendigkeit der Berücksichtigung des zufälligen und immer kontingenten Kontextes. Dabei dient der Kontext, wie ja eigentlich auch bei Strauss, als unterstützende Hilfestellung zum Verständnis der Ideen des Textes, die sowohl literarischer als auch philosophischer Art sein können, jedoch keine transhistorische Wahrheit beanspruchen können, sondern allenfalls immer nur theoretische Antworten und Reaktionen auf historische Situationen. Trotzdem schreibt Skinner der Ideengeschichte den verminderten Wert zu, „die grundlegende Vielfalt sinnvoller moralischer Annahmen und politischer Auffas92 93 94 95 96

Ebd. Ebd., S. 46. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd.

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sungen zu entdecken“.97 Von der Geschichte der Ideen könne man letztendlich erfahren, dass das, was für zeitlose Wahrheiten gehalten werde, nichts anderes sei als ein kontingentes Resultat unserer Geschichte. Der philosophische und moralische Wert, den er dabei den klassischen Texten auf dem Gebiet des sozialen, ethischen und philosophischen Denkens zuschreibt, liege nicht etwa in konkreten Antworten oder unmittelbaren Lehren oder in der prinzipiellen Gemeinsamkeit in der Behandlung „ewiger Fragen“, sondern in der Einsicht prinzipieller Vielfalt von Konzepten in unterschiedlichen Gesellschaften. Die Einsicht in diese „Wahrheit“, dass jede Gesellschaft ihre eigenen begrenzten Vorstellungen und Organisationsformen habe, die historisch rekonstruierbar seien, sei der „Schlüssel zur Selbsterkenntnis“ und bewahre vor methodischen Fehlschlüssen.98 Skinner versteht nicht, dass seine kontextuelle Sprechaktinterpretation von politischen Texten eigentlich dem „historischen Verstehen“ von Strauss entspricht, nur dass Letzterer noch eine weitere, philosophische Ebene hinter der exoterischen, historischen annimmt. An diesem Punkt werden die Grenzen der Reichweite von Skinners Annäherung an die Intentionalität sichtbar. Wie Strauss nimmt auch Skinner einen an die historische Situation gebundenen Sprachgebrauch an, jedoch fehlt ihm das philosophische Gespür für die Notwendigkeit einer politischen Rhetorik à la Strauss. Natürlich muss für Strauss das „historische Verstehen“ in einer Interpretation so präzise wie möglich sein, doch, so bemerkt er selbst in Persecution and the Art of Writing in einer Passage, in der er sich mit der Herangehensweise von Historikern an esoterische Schriften auseinandersetzt, dürfte Genauigkeit nicht „mit der Weigerung oder Unfähigkeit [verwechselt werden], anstatt der Bäume den Wald zu sehen“.99 Es geht Strauss demnach um ein kontextuelles Verstehen sowohl der sprachlichen als auch sozialen Rahmenbedingungen der jeweiligen Zeit eines Autors, das er auf der exoterischen Ebene verortet. Jedoch geht er noch über Skinners Ansatz hinaus, indem er dem philosophischen Autor eine philosophische Absicht unterstellt, die er auf der esoterischen Ebene vermitteln wollte. Einen Kompromiss zwischen historischer Methode und philosophischer Intention schlägt Mark Bevir hinsichtlich des „fortwährenden Streites über die ideengeschichtliche Angemessenheit eines Kohärenzprinzips“ 100 vor. Indem er Bedeutungsfragen und empirische Analysen zusammenführen möchte, stellt er sich gegen Skinners Vorwurf, die Unterstellung von Kohärenz sei nicht legitim, da sie Historiker unweigerlich davon abbringe, was in der jeweiligen Vergangenheit tatsächlich der Fall gewesen sei. Bevir tritt dabei lediglich für eine Annahme von Kohärenz ein, nicht aber dafür, dass Überzeugungen eines philosophischen Au97

Ebd. Ebd., S. 86 ff. 99 Strauss (2009), S. 38. 100 Bevir (2010), S. 203. 98

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tors zwangsläufig absolut kohärent sein müssen.101 Er wirft Skinner vor, sich zu sehr auf die kommunikativen Ziele oder Intentionen eines Autors konzentriert zu haben, nicht aber auf ihre philosophischen Überzeugungen.102 Dabei unterscheidet Bevir zwischen den philosophischen Intentionen und den „illokutionären“ Absichten hinsichtlich des jeweiligen sprachlichen und kontextuellen Umfeldes, derer sich ein Autor bedienen müsse, um verstanden werden zu wollen. Eine reine Fokussierung auf diese an den historischen Kontext gebundenen Intentionen, wie sie Skinner verfolge, untergrabe das Interesse an der Kohärenz des Werks eines Autors.103 Skinner vermische daher intentionale Außenwirkung und Überzeugung: Während die kontextuellen Bedingungen nur eine schwache Kohärenz ermöglichen könnten, dürfe dies nicht auf die Überzeugungen übertragen werden, von denen Bevir annimmt, dass sie einigermaßen kohärent seien.104 Für Bevir genügt es nicht, sich allein an die expliziten, historisch kontextualisierbaren Aussagen des Autors zu halten, sondern der Interpret müsse auch die impliziten Absichten und Überzeugungen berücksichtigen, die, gerade bei philosophischen Werken, eng zusammenhängen. Er selbst positioniert sich als Philosoph und plädiert daher für eine Wiederzulassung der „großen Fragen“ sowie für eine vorläufige Unterstellung von Kohärenz, unter die nicht nur der einzelne Text, sondern auch das Gesamtwerk eines Autors fällt. „Folglich sollten Ideengeschichtler im Hinblick auf Überzeugungen Kohärenz annehmen, sich für die Kohärenz von Überzeugungen interessieren und versuchen, Überzeugungsbündel als kohärentes Ganzes zu rekonstruieren.“ 105

Bevir betont in seinem Aufsatz Mind and Method in the History of Ideas, dass diese Aufgabe sowohl historischer als auch philosophischer Natur sei. Er äußert sich dabei jedoch nicht dazu, wie dies erfolgen könne und inwiefern die beiden Ebenen, wie in Strauss’ Ansatz, mit der „Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Schreibens“ gehandhabt werden könnten. In Bezug auf die Strauss’sche Herangehensweise an zeitlose Fragestellungen und ihre grundlegenden alternativen Antworten sei daher erneut hervorgehoben, dass Politische Philosophen erkannt haben, dass alle politischen Handlungen sich von politischer Philosophie insofern unterscheiden, als sie sich mit individuellen Situationen befassen und daher auf eine jeweilige konkrete Situation Bezug nehmen.106

101 102 103 104 105 106

Ebd., S. 205. Ebd., S. 214. Ebd., S. 213. Ebd., S. 218. Ebd., S. 240. Zuerst veröffentlicht in: History and Theory (36) 1997, 167–189. Strauss (1989o), S. 61.

II. Gadamers unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit‘‘

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„The philosophers of the past claimed to have found the truth, and not merely the truth of their times. The historicist, on the other hand, believes that they were mistaken in making that claim, and he cannot help making that belief the basis of his interpretation.“ 107

In Bezug auf Skinners angreifende Analyse lässt sich daher nur sagen, dass seine Kritik als Historiker, jedoch nicht als „Historiker der Philosophie“ gerechtfertigt ist. Genauso wie ein Philosoph propädeutisch ein guter Historiker werden muss, muss ein Historiker der Philosophie die Seite der Philosophie in ihrem sozialen Kontext stärker beachten und nach der philosophischen Intention fragen. „It is true that all arbitrariness could be avoided if the historian would regard as philosophers only those competent thinkers who regarded themselves as philosophers.“ 108

Um die Frage nach dem Selbstverständnis des philosophischen Autors und der philosophischen Intention der „großen Bücher der Vergangenheit“ angemessen und kompetent beantworten zu können, muss der Historiker der Philosophie zu einem Philosophen werden, wenn er seiner Aufgabe gerecht werden möchte.109

II. Gadamers unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit“1 „[T]he truth is the important consideration in the study of a thinker, that the truth is always, that one can study an old writer as one would a contemporary and that the only concern is what is written, as opposed to his historical, economic, or psychological background.“ Allan Bloom2

Die beiden Philosophen Hans-Georg Gadamer und Leo Strauss verbindet eine lebenslange Freundschaft, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann. In dieser Zeit der geisteswissenschaftlichen und politischen Umbrüche teilten sie ein generelles Gefühl der Desorientierung und der Notwendigkeit eines Neustarts des Denkens. Zwar studierte Strauss in Hamburg, wo er auch 1921 bei Ernst Cassirer promoviert wurde, jedoch hielt er sich oft in der Universitätsbibliothek in Marburg auf, das in der Nähe seines Elternhauses im hessischen Kirchhain liegt. Dort lernte er Gadamer kennen, der zu der Zeit noch als Biblio-

107

Ebd., S. 68. Strauss (1997g), S. 253. 109 Vgl. Strauss (1989c), S. 211. 1 Dieses Kapitel wurde unter dem Titel Der unvollkommene „Vorgriff auf Vollkommenheit“: Die Auseinandersetzung von Leo Strauss mit Hans-Georg Gadamer veröffentlicht in: Weichert (2012a). 2 Bloom (1990b), S. 248. 108

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thekskraft arbeitete.3 1923 ging Gadamer nach Freiburg zu Heidegger, den er schon aus Marburg kannte, und hörte dort im Sommersemester die Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), die sein Denken maßgeblich beeinflussen sollte. Gadamer und Strauss trafen sich 1933 für zehn Tage in Paris wieder, wo sich Strauss durch ein Rockefeller-Stipendium aufhielt. Auch die Emigration nach Amerika, die ihn zuerst nach New York, später nach Chicago führte, ließ die Freundschaft der beiden nicht abreißen. Sie schickten sich gegenseitig ihre Bücher und Strauss wurde nach dem Krieg 1954 nach Heidelberg eingeladen, wo er einen Vortrag über Sokrates hielt. Dies sollte Strauss’ letzter Aufenthalt in Deutschland gewesen sein. Als Gadamer während seiner Lehrtätigkeit nach der Emeritierung in Deutschland noch in Amerika verweilte, profitierte er von dem Strauss’schen Netzwerk und wurde stets mit Wohlwollen aufgenommen. Aus der philosophischen Freundschaft zwischen den beiden ging auch eine Briefkorrespondenz hervor, die zu Teilen separat veröffentlicht und in Gadamers Ergänzungen zu Wahrheit und Methode fortgesetzt wurde.4 Öffentlich äußert sich Strauss zu Gadamer allein 1971 in einer einzigen Fußnote in dem Aufsatz Philosophy as Rigorous Science.5 Strauss formuliert dort die philosophische Aufgabe, die universelle Struktur transhistorisch verstehen zu wollen, und verweist dazu auf die zweite Auflage von Gadamers Werk Wahrheit und Methode von 1965, vor allem auf die Textpassagen, die sich mit dem „historischen Verstehen“ auseinandersetzen.6 Darunter fällt auch der Aufsatz Hermeneutik und Historismus, den Gadamer der zweiten Auflage beigefügt hat und der sich intensiv mit Strauss’ Hermeneutik befasst. In der Fußnote richtet sich Strauss vor allem gegen Gadamers Hauptthese, dass „das wirkungsgeschichtliche Moment in allem Verstehen von Überlieferung wirksam ist und wirksam bleibt“ 7. Indem Gadamer die Geschicht3 Zum historischen Kontext zum Kreis der so genannten „Marburger Hermeneutik“ vgl. Bormuth/von Bülow (2008). 4 Darunter fallen der Briefwechsel Leo Strauss and Hans-Georg Gadamer, „Correspondence Concerning Wahrheit und Methode.“ in: Gadamer/Strauss (1978); der Aufsatz Historismus und Hermeneutik in: Gadamer (1993). Zudem liegt eine auf die Freundschaft rückblickende Unterhaltung von Ernest Fortin mit Gadamer am Boston College vor, die 1984 in: Gadamer (1984) gedruckt wurde. Ebenfalls wurde 1978 ein im Frühjahr 1976 geführtes Gespräch mit Gadamer über Strauss in einem Newsletter der University of Dallas veröffentlicht (de Alvarez (1978)). Entgegen Gadamers Aussage sind zahlreiche Briefe aus den dreißiger und späteren vierziger Jahren von Klein, Löwith und Strauss erhalten, die Gadamers Witwe in einem Koffer fand, der so genannte „Leipziger Karton“, der seit dem Umzug von Leipzig nach Frankfurt am Main im Jahre 1947 nicht mehr geöffnet worden war. In der Korrespondenz, die 1932 einsetzte, befinden sich sogar einige maschinenschriftliche Transkriptionen, die insgesamt von Thomas Meyer archiviert werden, aber noch nicht veröffentlicht sind. Dieses Kapitel bezieht sich daher auf die veröffentlichte Korrespondenz sowie auf den Dialog der beiden philosophischen Freunde in ihren Werken. 5 FN 2 in: Strauss (1989m), S. 31. 6 Strauss verweist auf die 2. Auflage von Wahrheit und Methode (1965) S. xix, 233– 34, 339–40 sowie 505. 7 Vorwort zur 2. Auflage von Wahrheit und Methode (1965), S. xix.

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lichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip erhebe, könne man, so Strauss, nicht länger von einem „natürlichen“ Verstehen sprechen, sondern nur noch von einem historischen.8 Strauss veröffentlichte 1952 den Sammelband Persecution and the Art of Writing, der dem obigen Aufsatz drei Beispielfälle zufügte, an denen er seine Tiefenhermeneutik veranschaulicht.9 Dieses Werk wird von Gadamer zwar als „bedeutender Beitrag“ gelobt,10 zugleich aber kritisiert und als Ausgangspunkt für den konfrontativen Briefwechsel genommen. Gadamers Grundanliegen in Wahrheit und Methode ist es, das Verstehen zu verstehen. Er fragt danach, wie die hermeneutische Bemühung einsetzt, und rekurriert auf das „zirkelhafte Verhältnis“, dass man „das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse“.11 Dabei ist Gadamers Grundsatz von Texthermeneutik, dass jeder Text aus sich selbst verstanden werden muss. Verstehen ist dabei für Gadamer immer an eine Sinnerwartung gebunden, die das Verstehen leitet. Eine notwendige Antizipation des Verstehens ist dabei der „Vorgriff auf Vollkommenheit“. Die Unterstellung von vollkommenem Sinn besagt, dass nur das verständlich ist, was eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt – sowohl formaler als auch inhaltlicher Art. Vollkommenheit müsse sich demnach, so Gadamer, sowohl auf die Form als auch auf den Inhalt beziehen. Deutlich wird dies allerdings erst, wenn der Leser an einem Punkt eines Textes an dieser Annahme zu zweifeln beginnt, weil sie unzureichend ist – sei es durch sich widersprechende oder unlogische Aspekte zum eigenen bereits erfolgten Vorverständnis. Dies führe zu dem Bestreben, den Text als Meinung 8

Strauss (1989m), S. 31. Der Sammelband enthält Interpretationen zu den Werken von The Guide for the Perplexed von Maimonides, Kuzari von Yehuda Halevi und Spinozas Tractatus theologico-politicus. 10 Gadamer (1984), S. 6, meine Übersetzung. In der Erstauflage zitiert Gadamer fälschlicherweise den Titel von Strauss’ Werk in FN 2 als „Understanding and the Art of Writing“ (Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 278). 11 „Die Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist, kommt dadurch zu explizitem Verständnis, dass die Teile, die sich vom Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen“ (Gadamer (1990), S. 296). Der Verstehensprozess läuft somit in „konzentrischen Kreisen“ ab und erweitert sich bis hin zu einer Einheit; zu einer „Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen“ (vgl. ebd.). Das Verstehen des Interpreten ist dabei nicht auf ein objektives Ziel des inhaltlichen Einverständnisses mit der Sache ausgerichtet, indem ein Sinn des Ganzen vorwegnehmend erahnt wird und dann durch nachfolgende Explikation zu einem vollständigen Verständnis führt. Vielmehr ist das Verstehen im hermeneutischen Zirkel, wie Heidegger es beschrieben hat, als dass „die vorgreifende Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt“ (ebd., S. 298). Der „hermeneutische Zirkel“ beschreibt somit das Verstehen als das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten. Die das Verstehen leitende Antizipation von Sinn ist in steter Bildung begriffen, so dass der Zirkel somit nicht methodisch, sondern als ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens aufgefasst werden muss. 9

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eines anderen – sei es psychologischer oder historischer Art – zu verstehen, um ihm auch weiterhin einen inhaltlichen Wahrheitsanspruch unterstellen zu können.12 Das Vorverständnis zum Verstehen entspringt dem „Zu-tun-haben mit der gleichen Sache“, wobei „Sache“ dabei den zu verstehenden Sachverhalt meint. Die Sache ist somit immer schon in das Vorverständnis des Verstehens eingerückt, da bereits ein Verstehensentwurf entwickelt wurde. Verstehen ist daher keine Objektivierung oder Distanzierung von einer zu verstehenden Sache, sondern vielmehr ein angestrebter Einklang mit dieser. Das „Zu-tun-haben mit der gleichen Sache“ bedeutet jedoch nicht, dass man inhaltlich mit dem zu verstehenden Sachverhalt einverstanden sein muss. Wer aber verstehen will, muss zunächst unterstellen, dass das Gesagte oder Geschriebene formal verständlich ist sowie einen zu verstehenden Inhalt hat und insofern ein Wahrheitsanspruch angenommen wird. Zu diesem kann wiederum zustimmend oder ablehnend Stellung genommen werden. Zwar nähert man sich der zu verstehenden Sache immer mit dem jeweils eigenen Vorverständnis, bleibt dabei aber stets in dieser Bewegung zu der Sache hin. Durch dieses stetige Verweilen im Vorverständnis wird die Sinnantizipation zur Sache selbst. Aus der vorverstandenen Sache bestimmt sich das, was als einheitlicher Sinn nachvollziehbar wird. Gadamer bringt seine Bedenken bezüglich Strauss’ Hermeneutik aus dem Werk Persecution and the Art of Writing in der Fußnote 224 in genau der Passage von Wahrheit und Methode ein, in der es um jenen „Vorgriff auf Vollkommenheit“ geht. Das „Zwischen-den-Zeilen-Schreiben“ stelle das Textverständnis dabei vor die „schwierigsten hermeneutischen Probleme“. Gadamer deklariert das verschlüsselte Schreiben als einen hermeneutischen Ausnahmefall, da „hier die reine Sinnauslegung nach der gleichen Richtung überschritten wird, wie wenn die historische Quellenkritik hinter die Überlieferung zurückgeht. Obwohl es sich hier um keine historische, sondern um eine hermeneutische Aufgabe handelt, wird diese nur lösbar, indem man ein sachliches Verständnis als Schlüssel verwendet. Nur dann lässt sich die Verschlüsselung entschlüsseln – wie man ja auch im Gespräch Ironie in dem Grade versteht, in dem man in sachlichem Einverständnis mit dem anderen steht. Die scheinbare Ausnahme bestätigt also erst recht, dass Verstehen Einverständnis impliziert.“ 13 Aus dieser Passage lässt sich zunächst keine große Differenz zwischen Gadamer und Strauss erkennen. Zwar fordere, so Gadamer, das esoterische Schreiben die Hermeneutik durch die mehrfachen Ebenen heraus, doch werde gerade daran deutlich, dass Verstehen immer auf „Zu-tun-haben mit der gleichen Sache“ baue und Einverständnis in der Sache anstrebe. Allerdings erwähnt Gadamer in einer 12

Ebd., S. 299. FN 224 in: Gadamer (1990), S. 300. In der Erstauflage von 1960 ist diese Fußnote als Fußnote 2 auf Seite 278 nummeriert. 13

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Anmerkung zu eben jener Fußnote, dass Einverständnis auch unbewusst erfolgen könne. Das Verstehen von verschlüsselten Texten hingegen bedürfe – so Strauss – eines Höchstmaßes an Bewusstsein. Dieser Punkt zeigt bereits, dass Gadamer und Strauss die „Sache“, um die es in verschlüsselten Texten geht, unterschiedlich verstehen. Während für Strauss gerade das bewusste Einverständnis mit der philosophischen Sache das Ziel seiner philosophischen Hermeneutik ist, kann das horizontverschmelzende Verstehen Gadamers durch seinen partiell impliziten Charakter auch unbewusst geschehen. Leo Strauss beobachtet in seinem ersten Brief, den er im Februar 1961 als direkte Antwort auf die Zusendung der Erstauflage von Wahrheit und Methode schrieb, dass sie in „gegensätzliche Richtungen“ gegangen seien, und verschärft diese Aussage in einem weiteren Brief im Mai 1961,14 indem er die fundamentale Differenz zwischen beiden hermeneutischen Ansätzen darin sieht, dass sie in der querelle des anciens et des modernes unterschiedliche Seiten eingenommen hätten. Die Konsequenzen der gegensätzlichen Parteinahme ließen sich aus der jeweils unterschiedlichen Betrachtung von Hermeneutik ableiten. Der erwähnte Streit aus dem 17. Jahrhundert behandelt die Frage, inwiefern die Antike noch nachahmungswürdigen Vorbildcharakter für die gegenwärtige Kultur haben kann. Es geht Strauss dabei um den Aspekt der Reproduktion und der Orientierung am antiken Vorbild gegenüber dem modernen Selbstbewusstsein und des romantischen Genieverständnisses, das aus sich selbst heraus schöpft und meint, Besseres als das Bestehende entwickeln zu können. Strauss versucht dabei, einen Weg zurück zur Antike per se und nicht bloß zur wirkungsgeschichtlichen Auffassung der Antike zu finden. Er könne keine Theorie der Hermeneutik akzeptieren, die nicht auf eine emphatischere Weise das wesentliche Element des richtigen Verstehens herausarbeite, welches sich damit befasse, jemandes Gedanken so zu verstehen, wie dieser es beabsichtigt habe. Gadamers Auffassung des historischen Verstehens als Horizontverschmelzung müsse daher der modernen Position im Rahmen der querelle zugeordnet werden, da dieses nicht von einem gegenwärtigen Vorverständnis zu lösen sei. Neben vielen anderen Aspekten geht Strauss vor allem auf das Problem der Horizontverschmelzung und der Wirkungsgeschichte ein. Unter Horizont versteht Gadamer, rückgreifend auf Husserl und Heidegger, den Wirklichkeitszugang, der immer in einen Kontext gebettet ist. Der Verstehende versteht immer durch einen unverfügbaren, geschichtlich gewordenen Horizont.15 Dieser ist ein begrenzender Rahmen von Denkmustern, aus dem Aus14 Der zweite Brief stellt einen verschärften Respons dar, nachdem Gadamer in einem Antwortbrief im April 1961 „keine echte Differenz“ bezüglich der erwähnten Einwände sehen mochte (vgl. Gadamer/Strauss (1978), S. 9). 15 Konsequenz dieses Ansatzes ist, dass jede Äußerung immer von einem eigenen Horizont geleitet wird und diese nie vollständig expliziert werden kann, da sich der gesamte Horizont jeder Explizierung entzieht.

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schnitte explizit gemacht werden können, während der Horizont als Ganzes jedoch stets implizit mitläuft. Der hermeneutische Prozess ist daher für Gadamer nicht so sehr als Handlung der Subjektivität zu denken, sondern vielmehr als ein Geschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.16 Das Strukturmoment, das diesen Überlieferungszusammenhang kennzeichnet, ist der zeitliche Abstand zwischen der zu verstehenden Sache und dem Verstehenden. Gadamer betrachtet dabei die geschichtliche Distanz nicht als unüberbrückbaren Abgrund, sondern als stete, sich bedingende Wechselbeziehung zwischen beiden. Gemäß dem hermeneutischen Zirkel gewährleistet der geschichtlich tradierte Horizont eine Sinnantizipation, in die der gegenwärtige Interpret schon immer eingerückt ist und die sich zwischen tradiertem Vorverständnis und aktuellem Verstehen aufspannt. Der Zeitenabstand ist „ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Licht uns alle Überlieferung sich zeigt“.17 Verstehen ist somit an die Wirkungsgeschichte bzw. an ein wirkungsgeschichtliches Bewusstsein gekoppelt. Das bedeutet, dass Verstehen keinen unmittelbaren Zugriff auf die zu verstehende Sache hat, sondern immer Vermittlungen der Rezeptions-, Kritik-, und eben der Wirkungsgeschichte unterliegt. Wirkungsgeschichte verweist daher auf die Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart. Oder mit anderen Worten: Die Betrachtung des jeweils eigenen und des fremden Horizontes der Vergangenheit wird durch die Wirkungsgeschichte ermöglicht und mitbestimmt. Die Verstehensleistungen, die im Verlauf der Wirkungsgeschichte erbracht wurden, gehen in ihn ein, so dass beide „vermeintlich für sich seiende“ Horizonte für Gadamer als „ein einziger Horizont, der alles umschließt, was das geschichtliche Bewusstsein in sich enthält“ 18 aufgefasst werden. Es sei dabei jedoch wichtig, sich dieser gegenwärtigen Bestimmtheit des vergangenen Horizontes bewusst zu sein. So werde ein rein historisch verstandener Text aus dem „Anspruch, Wahres zu sagen, förmlich herausgedrängt“ 19, wenn es der Verstehende aufgäbe, „in der Überlieferung für einen selber gültige und verständliche Wahrheit zu finden“ 20. Diesen Prozess der Vermittlung zwischen Vergangenheit und gegenwärtigem Horizont bezeichnet Gadamer als Horizontverschmelzung, wobei der eigene „Verstehenshorizont der Gegenwart“ den historischen Horizont einholt und ihn aufhebt.21 Auf einen Text bezogen heißt das, dass dieser immer aus einer eigenen gegenwärtigen Perspektive auf das Vergangene interpretiert wird. Verstehen ist daher ein „produktives Geschehen“, da das Ver16 Gadamer (1990), S. 295. In diesem Rahmen rehabilitiert Gadamer die Autorität der Tradition, in der einzig Verstehen möglich ist. Zur Rehabilitierung des Vorurteils vgl. Kapitel Strauss’ Rehabilitierung des Vorurteils als proteron pros hemas. 17 Gadamer (1990), S. 281. 18 Ebd., S. 288 und S. 311. 19 Ebd., S. 287. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 312.

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ständnis eines Textes durch wirkungsgeschichtliche Aneignung immer ein anderes ist. Kurz gesagt: Verstehen ist für Gadamer daher immer anders, wenn man überhaupt versteht.22 Die von Gadamer postulierte „unaufhebbare Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber“ trennt somit kein „gähnende[r] Abgrund“ 23. Der geschichtliche Abstand ist stets überbrückt „durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt“ 24. In Bezug auf die vorverstehende Sinnerwartung heißt es bei Gadamer weiter, dass überlieferte Texte aufgrund der Tradition und ihrer Wirkungsgeschichte mit dem Anspruch von Sinn und Wahrheit an uns herantreten. So helfe die wirkungsgeschichtliche Selektion auch, zwischen legitimen und illegitimen Vorurteilen zu unterscheiden. Wirkungsgeschichte und Tradition bekommen von Gadamer daher ein vernünftiges Potential zugeschrieben, da sie die Werke in ihrer Wichtigkeit überliefert haben. Aus dem wirkungsgeschichtlichen Verstehen könne mit fortgeschrittener Zeit mehr und klarer erkannt werden, was an Texten wesentlich sei. Strauss lehnt dies dezidiert ab. Für ihn liefert die Wirkungsgeschichte bloß eine Menge illegitimer Vorurteile und falscher Annahmen, die den Zugang zu einer ursprünglichen Philosophie verbauen und verbaut hätten. Mit einem Verweis auf den antiken aufsteigenden Weg von bereits bekanntem Wissen (proteron pros hemas25) hin zum eigentlichen „natürlichen“ Wissen (proton physei) kritisiert er, dass Gadamer nicht vom Vorwissen des Interpretierenden ausgehe, sondern von gewissen falschen Theorien und Anmerkungen, die sich wirkungsgeschichtlich durchgesetzt haben. Die Wirkungsgeschichte sei für das Verstehen philosophischer Grundfragen weder notwendig noch relevant.26 Strauss’ hermeneutische Herangehensweise an den zeitlichen Abstand zwischen Text und Interpret kann nicht mit Gadamers Ansatz der Horizontverschmelzung in Einklang gebracht werden. Er ist sich zwar insofern mit Gadamer einig, als eine Lehre nicht als „Ausdruck irgendeiner Lebenssituation“ interpretiert werden dürfe, sondern mit dem Anspruch, wahr zu sein. Von diesem Wahrheitsanspruch ausgehend, könne der Interpret beurteilen, ob er den verstandenen Inhalt bejahen, ablehnen oder ihn tiefgründiger verstehen wolle. Strauss lehnt es jedoch ab, dies als Horizontverschmelzung aufzufassen. Da der Horizont immer 22 Vgl. ebd., S. 302. Da der wirkungsgeschichtliche Prozess unendlich ist, kann das Verstehen des „wahren“ Textgehaltes nie zu einem Abschluss gelangen (vgl. ebd., S. 303). 23 Ebd., S. 280. 24 Ebd., S. 281. 25 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139b ff. 26 Jedes Verstehen sei von seiner Wirkungsgeschichte beeinflusst, weswegen Gadamer für ein Bewusstsein dieser appelliert. Er richtet sich damit gegen die Historiker des 19. Jahrhunderts, die scharf zwischen faktisch vorliegenden Quellen und der nachwirkenden Geschichte unterschieden und daraus das „historische Bewusstsein“ ableiteten.

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teilweise implizit bleibe, ließen sich stets nur Teilaspekte bewusst begründen oder verwerfen. So könnte Gadamers „Vorgriff auf Vollkommenheit“ nur noch sehr eingeschränkt verstanden werden, nämlich dass Texte im Großen und Ganzen formal verständlich sind und einen Wahrheitsanspruch zum Verständnis erheben, der akzeptiert oder abgelehnt werden kann. Der gegenwärtige Horizont, der immer schon mit dem vergangenen durch die Wirkungsgeschichte verbunden ist, schwächt demnach den Vollkommenheitsanspruch ab. Unter dieser Prämisse kann es keinen inhaltlichen Anspruch auf Vollkommenheit geben. Andererseits können Horizonte als Blickpunkte zwar verschieden sein, aber das Ziel, das angestrebte epistemische Wissen, kann trotzdem das gleiche sein. In der Bejahung liegt nach Strauss’ Verständnis ein bewusstes Einverständnis zu einer „wahren“ Sache, die jedoch vom Interpreten ausgeht. Zwar erweitere sich dabei wohl sein eigener Horizont, wenn er etwas lerne, doch lasse sich dies nicht auf die Tradition oder einen platonischen Dialog übertragen. Eine Horizontverschmelzung kann es demnach nur von Seiten des Interpreten geben. Umgekehrt stellt sich Strauss daher die Frage, ob es zu verstehende Sachen der vergangenen Tradition geben könne, die verstanden werden können, ohne den Horizont der Gegenwart mit einzubeziehen. Strauss antwortet mit seinem Konzept des „historischen Verstehens“, das gänzlich anders als Gadamers Horizontverschmelzung aufzufassen ist. Sein Ansatz heißt für ihn zunächst, die Tradition so zu sehen, wie der Autor sie selbst gesehen hat, und dabei auszuklammern, wie sie sich dem Historiker von heute zeigt.27 Die fortschreitende Wirkungsgeschichte habe philosophische Ideen transformiert und das Fundament des ursprünglichen Wissens überdeckt, weswegen er mit seinem hermeneutischen Programm versucht, jenes wieder zu rekonstruieren und lebendig zu halten. Der Schlüssel zum Textverständnis und gleichzeitig auch die größte Herausforderung an den Leser ist es dabei, die Intention des Autors zu verstehen.28 Das bedeutet, dass man sich einem Text nicht aus antiquarischem Interesse an einem Werk nähert, in dem der Leser etwas über den Autor oder über das Thema zu lernen beabsichtigt. Die Intention eines Autors verstehen zu wollen, heißt vielmehr, von ihm grundlegende philosophische Probleme und deren Alternativen zu lernen. Genau dieses Bewusstsein der Existenz dauerhafter, fundamentaler Philosophie sei, so Strauss, durch den Historismus und den modernen Fortschrittsglauben verdeckt worden, so dass es nun einer „künstlichen“ 27 Strauss (1989g), S. 173. Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit Strauss’ Konzept des „historischen Verstehens“ vgl. das gleichnamige Kapitel 8. 28 Die Schwierigkeit, diese in esoterischen Schriften zu finden, liegt darin begründet, dass oft die „tatsächliche Meinung eines Autors [. . .] nicht notwendigerweise mit dem identisch [ist], was er an einer Vielzahl von Stellen äußert“ (Strauss (1988c), S. 30; dt. Strauss (2009), S. 38). Die Intention des Autors zeige sich viel mehr in halbgesagten oder vage angedeuteten Aussagen als in Sätzen, die klar und deutlich oft wiederholt und schonungslos beteuert werden.

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Einführung über das „historische Verstehen“ bedürfe, um zu den „natürlichen“ Problemen der Philosophie zu gelangen. „Historisches Verstehen“ sei daher eine propädeutische Hinführung zur Philosophie aus der „zweiten Höhle“ hinaus, die der Historismus unter die ursprüngliche platonische Höhle gegraben habe.29 Strauss unterscheidet zwei Schritte, um sich über das historische Verstehen dem philosophischen Kern des Autors zu nähern: erstens die Interpretation und zweitens die Erklärung (explanation).30 Die Interpretation versucht, das Selbstverständnis des Autors in „wagemutiger Demut“ zu rekonstruieren und zu verstehen, was dieser sagte und damit meinte – ob er es nun explizit ausgedrückt hat oder nicht. Dafür wird der Hintergrund aus der Perspektive des Autors rekonstruiert, der für das Verständnis seiner Bücher unverzichtbar ist. Mit dem zweiten Schritt, der Erklärung, wird der Rahmen des Selbstverständnisses des Autors verlassen und anhand von unbewussten Implikationen von Äußerungen beurteilt und bewertet. Strauss geht dabei davon aus, dass Sprache, Semantik und gesellschaftspolitische Gegebenheiten historisch bedingt sind. Das Selbstverständnis des Autors muss daher anhand dieser Gegebenheiten bewertet werden, um einen unkritischen, naiven Umgang mit dem Text zu vermeiden.31 Des Weiteren ist der Schritt zur rechtfertigenden Erklärung auch eine Vorbereitung des philosophischen Verstehens, da die philosophische Intention des Autors mit der historischen Situation abgewogen wird. Strauss’ Herangehensweise gelingt es dabei, durch die „künstliche“ Einführung des „historischen Verstehens“ an jene Grenze zu gelangen, an der die Grundprobleme der Philosophie liegen. Im Zuge der Rechtfertigung möglicher Fehler muss sich der Interpret nämlich die Frage nach der Absicht des Autors stellen. Diese steht bei philosophischen Autoren im Interesse der Wahrheit. Denn das Selbstverständnis des Autors lässt sich nur historisch bewerten, während seine philosophische Intention, in dem Text etwas Wahres vermitteln zu wollen, auf etwas Grundlegendes verweist und dem philosophischen Gespür des Interpreten zugänglich ist. Um die Intention eines esoterischen Autors verstehen zu können, ist daher ein notwendiger Anreiz von außen (necessary incentive) unerlässlich; der Anspruch nämlich, dass der Text Wahrheit beinhaltet.32 Ginge der Leser davon aus, dass der Autor keine Wahrheit zu vermitteln beabsichtigte, würde er Widersprüche,

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Vgl. dafür das Kapitel Historisches Verstehen. Strauss (1988a), S. 143. 31 Strauss kritisiert damit auch die unreflektierte Vorgehensweise des Historismus, dem das Bewusstsein dafür fehle, dass die eigene Position selbst historisch unterworfen sein könnte. 32 Strauss (1988a), S. 154. Der amerikanische Historiker Perez Zagorin missversteht in Ways of Lying (1990) den „notwendigen Anreiz“ dahingehend, dass der Interpret dem Text mit der Annahme begegnen müsse, der Autor wolle eine geheime Botschaft vermitteln (vgl. Zagorin (1990), S. 9 ff.). 30

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die als hinweisende „Stolpersteine“ auf die esoterische Ebene dienen, entweder übergehen oder ihn als inkonsequenten Autor abwerten. Auf keinen Fall würde er die Mühe auf sich nehmen, Paradoxien oder Widersprüchen im Text nachzugehen.33 Der Leser muss dem Text formale und inhaltliche Vollkommenheit unterstellen. Nur derjenige, der davon ausgeht, dass der vorliegende Text formal gemäß der „logographischen Notwendigkeit“ komponiert ist und inhaltlich etwas Wahres beinhaltet, ist in der Lage, den philosophischen Kern verstehen zu können. Wer hingegen davon ausgeht, den Text immer nur anders verstehen zu können, schließt schon die Möglichkeit, die Intention des Autors zu verstehen, von vornherein aus. Dieser Leser glaubt dann, die Autoren der Vergangenheit immer anders oder gar besser verstehen zu können, da er meint, erkannt zu haben, dass jedes Denken geschichtlich determiniert ist. Er kann dem Text keinen geschichtsübergreifenden Wahrheitsanspruch mehr unterstellen und verschließt sich dadurch der Möglichkeit, etwas von dem Autor lernen zu können. Das Denken eines Philosophen unterliegt nämlich gerade nicht der geschichtlichen Abhängigkeit von Meinungen und Vorurteilen, sondern grenzt sich dezidiert vom Meinen ab, um zum Wissen aufzusteigen. Philosophie ist für Strauss einzig auf die Art historisch bedingt wie sie ihre Gedanken öffentlich mitteile. Dies erfolge auf der exoterischen Ebene, die sich den Erwartungen und Ansprüchen der jeweiligen Zeit anpasse. So hätte Spinoza in einem anderen Zeitalter seine philosophischen Gedanken als Vorsichtsmaßnahme ebenfalls verstecken müssen – nur hätte sich die exoterische Oberfläche den jeweiligen historischen Bedingungen angepasst.34 Der Philosoph muss deswegen ein guter Historiker sein, um die exoterische geschichtliche Hülle der Ansprüche und Meinungen der jeweiligen Zeit erkennen und verstehen zu können, um letztendlich zum philosophischen Kern zu gelangen. Die Intention eines Philosophen unter diesem Wahrheitsanspruch zu verstehen ist ein anderer hermeneutischer Ansatz als das Werk als einen Beitrag zur Geschichte der Philosophie zu lesen.35 Wenn der Interpret die Intention des philosophischen Autors verstehen will, muss er sich selbst zum Nachvollziehen der Argumente animieren. Dabei treten die immerwährenden philosophischen Probleme, Grundfragen sowie ihre Alternativen hervor. Der Interpret muss sich ernsthaft und sorgfältig auf die philosophische Denkbewegung einlassen und sie letztendlich selber denken. Auf diese Weise sind ein Rückgang in die Antike als von der Wirkungsgeschichte entkoppelte Antike und ein Dialog mit den „greatest minds“ 36 der Philosophie möglich.

33 34 35 36

Strauss (1988a), S. 152. Vgl. ebd., S. 192. Meier (1996), S. 31. Strauss (1995e), S. 4.

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Die hermeneutische Anstrengung des Interpretierens ist dabei eng an die philosophische Anstrengung des Hinterfragens und der zetetischen Suche nach Wissen geknüpft. Es gelingt Strauss daher, das philosophische Denken von den philosophiegeschichtlichen Lehren und Systemen zu befreien und „ursprüngliches“, das heißt für ihn sokratisches Philosophieren wieder zu ermöglichen. Die hermeneutische Aktivität wird dabei zu einer philosophischen, da der Leser, der die Denkbewegung nachvollziehen will, diese selbst denken muss. Es macht dann für den Leser keinen Unterschied mehr, „ob er die Gedanken jenes Philosophen oder ob er seine eigenen Gedanken denkt, weil er sich auf einer Ebene bewegt, auf der die Alternativen sichtbar hervortreten, die jenseits der ,geschichtlichen Gebundenheit‘ des Autors wie des Interpreten die Sache bestimmen, auf die das Denken beider gerichtet ist“.37 Bei näherer Betrachtung findet demnach keine Horizontverschmelzung zwischen geschichtlichen Horizonten statt, sondern es begegnen sich philosophisch verwandte Naturen. Der hermeneutische Ansatz von Strauss bewegt sich „von der Geschichte zur Natur“ 38 im doppelten Sinn: Zum einen lehnt er das Gadamer’sche wirkungsgeschichtlich bedingte Verstehen als Horizontverschmelzung dezidiert ab und zum anderen bezieht sich die Bewegung auf die exoterische historisch bedingte Ebene, die über der transhistorischen philosophischen liegt. Die Denkbewegung eines Philosophen denken zu können, verweist auf den „natürlichen“ Zugang der Philosophie,39 die ebenfalls dem natürlichen Verhältnis unterliegt zwischen denen, die zum philosophischen Denken geeignet sind, und denen, die es nicht sind. Das esoterische Schreiben, so Strauss, funktioniere letztendlich deswegen, weil es naturgegebene Hürden zur Philosophie gebe, die zu allen Zeiten die gleichen sind.40 Das Lesen esoterischer Texte vergegenwärtigt durch das „historische Verstehen“ des geschichtlichen Kontextes daher nicht nur die Zensurbedingungen philosophischer Autoren, sondern verweist auf den prinzipiellen Zusammenhang zwischen Philosophie und Hermeneutik. Da die Gesellschaft immer auf doxaischen Meinungen und Vorurteilen aufbaut, besteht eine unaufhebbare Spannung zwischen den wenigen philosophisch Begabten und den „Vielen“, die in erbaulicher doxa gesellschaftlicher Meinungen und Illusionen verweilen. Philosophie hingegen besteht als ein Streben nach Wissen aus der Befreiung von dem meist religiös oder konventionell geprägten doxa. Da das erbauliche, wenn auch provisorische Wissen für gesellschaftliche Handlungen und Entscheidungen unverzichtbar ist, besteht ein fundamentaler Gegensatz zwischen der Gesellschaft und dem Philosophen. Gadamer greift in späteren Auseinandersetzungen mit Leo Strauss die anfängliche Diskussion um dieses Verhältnis zwischen Philosophie und Gesellschaft 37

Meier (1996), S. 42. Meier (1996), S. 33 ff. 39 „Yet [philosophy] is necessarily accompanied, sustained and elevated by eros. It is graced by nature’s grace“ (Strauss (1989x), S. 40). 40 Strauss (1988a), S. 155. 38

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wieder auf. Zwar erweitert er sein Verständnis vom Begriff der Verfolgung, jedoch fasst er die Notwendigkeit zur Verschlüsselung philosophischer Texte weiterhin als „Sonderproblem“ unter Bedingungen der Verfolgung auf und stellt Verfolgung als Extremfall hinsichtlich des öffentlichen Drucks dar.41 Trotz seines weiterhin sehr engen Begriffs von Verfolgung scheint Gadamer in einem Interview von 1984 den generellen Charakter der Kunst des verschlüsselten Schreibens für die Philosophie erkannt zu haben. Die wichtigste Frage in Persecution and the Art of Writing sei nämlich, wie man Gedanken vermitteln und ausdrücken könne, die gegenwärtigen Trends oder den allgemein akzeptierten Meinungen einer Gesellschaft entgegenlaufen würden. Es gäbe grundsätzlich immer die Möglichkeit, dass etwas, das es wert wäre, gesagt zu werden, Widerstand hervorrufen könne.42 Gadamer hat darüber hinaus nun auch erkannt, dass er und Strauss zwei unterschiedliche hermeneutische Ansätze konzipiert haben. In dem Aufsatz Hermeneutik und Historismus in den Ergänzungen zu Wahrheit und Methode von 1965 geht Gadamer erneut und diesmal verschärft auf hermeneutische Probleme in Verbindung mit dem Historismus ein. Er greift die von Strauss erwähnte querelle des anciens et des modernes auf und rühmt Strauss, diese querelle radikalisiert zu haben und der selbstbewussten Moderne „die einleuchtende Richtigkeit der klassischen Philosophie entgegenzustellen“.43 Beide sind sich dabei in ihrer Kritik am Historismus einig, dass dieser seine eigene Geschichtlichkeit nicht reflektiert habe und somit eine Position darstelle, die laut eigener Auffassung selbst dem geschichtlichen Verlauf unterlegen sein müsse. Gadamer hält dem von ihm als „naiv“ bezeichneten historistischen Denken entgegen, dass die Herangehensweise, gegenwärtig besser als die Vergangenheit zu verstehen, nicht reflektiere, „dass es ,die Gegenwart‘ gar nicht gibt, sondern stets wechselnde Horizonte von Zukunft und Vergangenheit“.44 Dieses Besserverstehen leiste „dem falschen Schein einer unübertrefflichen Überlegenheit des je gegenwärtigen Interpreten [. . .] Vorschub“ 45. Gadamer versteht Strauss’ Überbrückung des Zeitenabstandes demnach richtig, dass es ihm nicht darum gehe, den Autor besser zu verstehen, sondern ihn so zu verstehen, wie er sich selbst verstand. Strauss habe ein Korrektiv innerhalb des historischen Denkens erstellt, das dem Besserverstehen überlieferter Gedanken unter dem Anspruch auf Wahrheit entgegentrete.46 Dabei unterschätze Strauss jedoch die Schwierigkeiten alles Verstehens, „weil er das, was man die 41 42 43 44 45 46

Vgl. Gadamer (1984), S. 4. Vgl. ebd. Gadamer (1993), S. 415. Gadamer (1993), S. 417. Ebd. Ebd., S. 416.

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Dialektik der Aussage nennen könnte, ignoriert“.47 Mit der „Dialektik der Aussage“ bezieht sich Gadamer auf Strauss’ Prämisse, dass der Autor seine Lehre nur auf eine einzige Weise verstand, „vorausgesetzt, dass er nicht konfus war“.48 Wie noch in der in Wahrheit und Methode erwähnten Fußnote 224 weisen Widersprüche für ihn weiterhin kein eindeutiges Kriterium vor, auf die vom Autor intendierte „Wahrheit“ schließen zu können. Gadamer kritisiert, dass Auslegungen gemäß Strauss’ entschlüsselnder Vorgehensweise stets unsicher blieben, da ihre Wahrheit nicht nachweisbar sei, sondern nur denen zugänglich, die in dem gleichen sachlichen Einverständnis stehen, das sie mit dem Text verbindet. So behält Gadamer auch die Meinung bei, besonders in Bezug auf Spinoza, dass Widersprüche der Konfusion des Autors zuzuschreiben seien, und steht der strauss’schen Herangehensweise weiterhin kritisch gegenüber. Denn es sei „keineswegs sicher, dass wir jemals die ursprünglichen Erfahrungen wiedererlangen und einbeziehen könnten, die in diesen Werken liegen“.49 Der „Sache“ könne sich immer nur über eine Horizontverschmelzung angenähert werden. „Vollkommenheit“ kann sich demnach nur auf den wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang beziehen, der gegenwärtiges Verstehen durch die Wirkungsgeschichte in einen „vollkommenen“ einheitlichen Zusammenhang stellt. An diesem Einwand wird deutlich, dass beide eine grundlegend andere Auffassung von „Sache“ und „Vollkommenheit“ haben. Während für Gadamer die Sache den zu verstehenden Sachverhalt meint, bezieht Strauss das „Zu-tun-haben mit der gleichen Sache“ auf die philosophische „Sache“, das heißt auf grundlegende philosophische Fragen und deren Alternativen. Die Uneinigkeit bezüglich unterschiedlicher „Sachen“ eines Textes stellt ein sachargumentatives, jedoch kein philosophisches Problem dar. Aus dieser Lesart, die zwischen historischer und eher intuitiver Gewissheit hin- und herwechselt, resultiert Uneinigkeit zwischen den wissenschaftlichen Lesarten. Strauss antizipiert deswegen, „dass Zwischen-den-Zeilen-Lesen nicht zu völliger Einheit zwischen den Forschern führt“.50 Divergenz besteht vor allem zwischen der Interpretation als ein Beitrag zur Philosophiegeschichte und der Intention, die ein Autor mit seinem Werk beabsichtigt. Trotz dieser Divergenzen stimmt Gadamer Strauss’ Lesart insofern zu, als man diese Arbeiten sorgfältig und ernsthaft lesen müsse, allein schon, um sich vor der Gefahr des Relativismus zu schützen. Doch gerade in dieser Hin47

Ebd., S. 417. Ebd. Gadamer bezieht sich dabei auf eine Aussage von Strauss’ Aufsatz What is Political Philosophy? in der Ausgabe von 1988 auf S. 67. 49 Gadamer (1984), S. 6, meine Übersetzung. 50 Strauss (1988c), S. 30; dt. Strauss (2009), S. 38. Dass Strauss bestimmten Schülern bestimmte Dinge gelehrt habe und so Uneinigkeit unter den Straussianern, vor allem Harry Jaffa und Thomas Pangle, über Strauss’ Lehre herrscht, zeigt die Debatte um die Legacy of Leo Strauss in: Jaffa (1984), S. 14 ff. mit der Antwort Pangles in: Pangle (1985), S. 18 ff. sowie Jaffas Verteidigung seiner Auffassung in der gleichen Ausgabe in: Jaffa (1985). 48

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sicht versteht Gadamer nicht, dass das verschlüsselte Schreiben Philosophie in ihrem ursprünglichen Sinne wieder ermöglichen könnte. In Bezug auf Gadamers Auffassung vom „Vorgriff auf Vollkommenheit“ kann dieser mit Strauss’ strengem Bild von einem Autor nur noch abgeschwächt verstanden werden. Gadamer bezweifelt, dass ein Autor wirklich in jedem Satz genau wissen könne, was er meint. Er zieht daraus die Konsequenz, in strittigen Fragen „den Fall der Konfusion für gegeben zu achten“.51 Sein „Vorgriff auf Vollkommenheit“ ist daher nicht mehr als eine Vermutung auf Vollkommenheit hinsichtlich des Inhalts. Vermutet wird dabei irgendeine und nicht etwa die philosophische Sinnerwartung, die durch den wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang an den jeweils eigenen und daher immer anderen Horizont herangetragen wird. Gadamer fasst die anvisierte Vollkommenheit nicht als Möglichkeit einer realen Erfüllung auf, sondern sie fungiert bloß als eine regulative Idee, die das menschliche Verstehen leitet.52 Während der „Vorgriff auf Vollkommenheit“ für Gadamer bloß eine formale Prämisse zu jeglichem Verstehen ist, die inhaltlich bejaht oder abgelehnt werden kann, stellt er für Strauss den „notwendigen Anreiz“ dar, sich ernsthaft und sorgfältig um das Verständnis des Textes zu bemühen, wie der Autor es beabsichtigt habe. Gadamers „Vorgriff auf Vollkommenheit“ kann unter Strauss’ absolutem Verständnis von sowohl formaler als auch inhaltlicher Art nur als unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit“ betrachtet werden. Fast zwanzig Jahre später gesteht Gadamer in dem bereits erwähnten Interview mit dem Straussianer Ernest Fortin letztendlich ein, dass Strauss und er „eine Anzahl wichtiger Divergenzen“ hatten. Er nennt als den Hauptunterschied den besagten Streit der „Alten“ und der „Neuen“, den er zugleich auch als Herausforderung für die Moderne betrachtet. Er habe stets versucht, Strauss zu überzeugen, dass man die Überlegenheit antiker Autoren anerkennen könne, ohne zu der Ansicht verpflichtet zu sein, dass ihre Gedanken unmittelbar rekonstruierbar seien. Dabei sei man niemals von der hermeneutischen Anstrengung befreit, eine Brücke zu ihnen zu finden.53 Diese Brücke stellt für Gadamer die wirkungsgeschichtliche Überlieferung dar, in deren Geschehen der Interpret einrückt. Für Strauss liegt die Brücke hingegen in dem eigenen Nachvollziehen der Denkbewegung des philosophischen Autors. Geht man von dem strengen Bild des Autors aus, der den Text unter dem Anspruch der „logographischen Notwendigkeit“ und unter der verantwortungsvollen, pädagogischen „Politischen Rhetorik“ komponiert hat, und bedenkt man die natürliche hermeneutische Hürde zu philosophischen Texten, so muss man dem 51 52 53

Gadamer (1993), S. 422. Vgl. Gandner (2007), S. 116. Gadamer (1984), S. 2.

III. Hermeneutische Politik

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Werk des philosophischen Autors nicht nur Vollkommenheit unterstellen, sondern umgekehrt auch, dass er einen Vorgriff auf die Unvollkommenheit bei dem größten Teil seiner Leser und der Gesellschaft mit bedacht hat. Der Autor antizipiert Unvollkommenheit als mögliches Miss- bzw. Unverständnis unter den potentiellen Lesern, sofern sie seine philosophische Denkbewegung nicht mitdenken und angemessen verstehen können. Allein unter der Annahme, dass auch der Autor diesen Vorgriff antizipiert hat, lässt sich ein vollkommener, das heißt sowohl formaler als auch inhaltlicher „Vorgriff auf Vollkommenheit“ als hermeneutischer Zugang zum Verstehen seiner philosophischen Intention denken.

III. Hermeneutische Politik „Karl Marx, the father of communism, and Friedrich Nietzsche, the stepgrandfather of fascism, were liberally educated on a level to which we cannot even hope to aspire. But perhaps one can say that their grandiose failures make it easier for us who have experienced these failures to understand again the old saying that wisdom cannot be separated from moderation and hence to understand that wisdom requires unhesitating loyalty to a decent constitution and even to the cause of constitutionalism.“ Leo Strauss1

Wenn eine staatliche Gemeinschaft auf Verfassungs- bzw. Gesetzestexte gegründet ist, basiert politisches Handeln auf einer Hermeneutik dieser Texte. Von daher muss ein politisch-hermeneutisches Verfahren der ausführenden und urteilenden Politik gewährleistet sein. Gerade die von Strauss vielfach hervorgehobenen Schriften der „Gründungsväter“ der USA zeigen die Facetten des Verhältnisses von Politik und Hermeneutik auf und demonstrieren, wie notwendig deren Reflexion ist. Dabei muss zwischen der naturrechtlich und historisch argumentierenden Unabhängigkeitserklärung (Declaration of Independence) und der Verfassung unterschieden werden. Die höchst gebildeten Unterzeichner der Erklärung vom 4. Juli 1776 schöpften aus dem philosophischen Gedankengut der naturrechtlichen Tradition von Platon über die Stoa und Cicero bis hin zu den Einsichten der Aufklärung und Denkern wie Locke und Montesquieu. Dennoch stellt die Unabhängigkeitserklärung keine neue Rechtsordnung dar, mit der die „founding fathers“ einen Gültigkeit beanspruchenden Rahmen etablieren konnten, in dem Politiker und Staatsmänner auch in sich wandelnden Situationen handeln können. Eine solche maßgebende Ordnung entstand erst mit der Verfassung vom 17. September 1787 und dem in Form von „Amendments“ hinzugefügten Grundrechtekatalog, deren erste zehn Zusatzartikel, die so genannte „Bill of Rights“, die in der 1

Strauss (1989e), S. 34 ff.

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Unabhängigkeitserklärung reflektierten unveräußerlichen und eigentlich „selbstverständlichen“ Menschenrechte mit aufnehmen. Obwohl die Gründungsväter die Wahrheiten der Unabhängigkeitserklärung für „selbst einleuchtend“ (self-evident) halten,2 kritisiert Leo Strauss in der Einleitung zu Naturrecht und Geschichte, dass die philosophischen Ideen der universell gültigen Menschenrechte heutzutage nahezu unverständlich sein müssten.3 Schuld daran sei das Aufkommen des „wertfreien“ Positivismus und vor allem des Historismus mit seiner Ansicht, dass alle Standards und Einschätzungen geschichtlich bedingt und Aussagen über Werte dem jeweils eigenen Geschmack und den eigenen Präferenzen zuzuschreiben seien. Zu einem angemessenen Verständnis, so Strauss, seien jedoch stets die Ursache (cause) und die Absichten (intentions) jener Gründerväter zu bedenken, in deren Sinne die Schriften konzipiert wurden.4 Darüber hinaus wird ein angemessenes Verständnis der philosophischen Positionen hinsichtlich der Normenhierarchie notwendig. Alexander Hamilton sieht darin die Notwendigkeit eines „judicial review“, das Recht auf gerichtliche Normenkontrolle, dass Richter „ought to regulate their decisions by the fundamental laws, rather than by those which are not fundamental“.5 Die Normenhierarchie nötige die rechtsprechende Gewalt nicht nur zu der ihr eigenen Aufgabe, die Gesetze, sondern ebenfalls die Verfassung auslegen zu können, da diese dem Gesetz vorrangig sei. Daher müssen auch die Gesetzesausleger die Bedeutung der Verfassung und der ihr hinzugefügten Menschenrechte ebenso verstehen können wie die von der Legislative verfassten Gesetze.6 Während das Verstehen der Constitution eher einer hermeneutischen Politik bedarf, im Sinne der Rechtsauslegung zur Gesetzesauslegung, richten sich die naturrechtlichen Positionen der Unabhängigkeitserklärung nicht direkt an eine konkrete Handlungsanweisung, sondern beanspruchen in ihrer philosophischen Argumentation universelle Gültigkeit. Eine hermeneutische Politik der Gesetzesauslegung zur Handlungsanweisung müsste insofern von einer politisch-philosophischen Hermeneutik, als ein Verstehen der naturrechtlichen Argumentation, unterschieden werden. 2 So heißt es gleich zu Beginn in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the pursuit of Happiness.“ 3 Strauss (1989g), S. 1. 4 Strauss (1989y), S. 83. 5 Hamilton, S. 504 ff. 6 Dass darüber hinaus Texte der Verfassung jedem zugänglich sind, macht das Erfordernis des angemessenen Lesens politischer und rechtlicher Quellentexte sowie den Nachvollzug der diese begründenden Argumentationen zu einer grundlegenden Basis für die demokratische Erziehung.

III. Hermeneutische Politik

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Stanley Rosen stellt mit seinem Werk Hermeneutics as Politics eine gänzlich andere Facette des Verhältnisses von Politik und Hermeneutik dar. Zugleich trägt er einen weiteren Ansatz zu der Debatte um die Postmoderne bei, allerdings mit einer Strauss’schen Nuance. Sein Buch setzt sich größtenteils mit den gegenwärtigen postmodernen Strömungen in der Literaturwissenschaft auseinander, die Rosen als eine Weiterführung des aufklärerischen Denkens des 18. Jahrhunderts entlarvt, obwohl sie sich gegen dieses zu wenden beabsichtigen.7 Rosen hebt zunächst den hermeneutisch-politischen Aspekt hervor, dass die Grundlagentexte zu der US-amerikanischen Verfassung gerade nicht wie literarische Werke in der Postmoderne gelesen werden dürften.8 Eine dekonstruktivistische Hermeneutik sei aus politisch-philosophischen Gründen nicht haltbar, da ihre Amoral, ihre Apolitik und die Betonung der Kontextunabhängigkeit kein politisches Handeln erlaubten.9 Denn wenn sich die Dekonstruktion stets auf die Seite der schwächeren Position beziehe, entstehe ein starker Widerspruch, gerade wenn demokratische Prinzipien der Vernunft universellen Anspruch erheben wollen. Mit einer dekonstruktivistischen Lesart können bspw. die Texte der Gründervater der USA nicht mehr mit dem ihnen angemessenen philosophischen Ernst gelesen werden. So warnt auch der Strauss-Schüler Allan Bloom vor der Gefahr, die Glaubwürdigkeit und Legitimität von verfassungsrelevanten Texten durch bspw. leichtfertige dekonstuktivistische Lesarten zu unterminieren, gerade wenn eine Gemeinschaft auf solchen Texten basiert.10 Bloom betont den realen, aktuellen Wert der politischen Philosophie der Gründerväter, die nicht bloß aus historischer, ideengeschichtlicher Perspektive gelesen werden dürfen. Eine dekonstruktivistische Lesart politischer Grundlagentexte verschärft den von Strauss diagnostizierten Relativismus, dass letztendlich jeder jene Texte selbst auslegen und bestimmen könne, ohne sich des naturrechtlichen Begründungszusammenhanges bewusst zu werden.11 Letztendlich müsse eine dekonstruktivistische Lesart die Möglichkeit 7 Vor allem das zweite Kapitel Platonic Reconstruction stellt eine sehr humorvoll geschriebene Darstellung von Derridas Platonlesart dar (vgl. Rosen (1987), S. 3). Andererseits behandelt er das Wesen der Hermeneutik, deren intrinsisch politische Natur durch Scholastik und Technophilie verdeckt werde. Mit Blick auf die Dekadenz der Gegenwart, die in ihrer Höchstform durch den „Tod des Autors“ und den „Tod des Subjekts“ hervorgerufen wurde, beschreibt Rosen die Auswirkungen auf die Hermeneutik. 8 Vgl. auch Till Kinzels Auseinandersetzung mit Allan Bloom in dem Kapitel Wie soll Amerika gelesen werden? in: Kinzel (2002), S. 169 ff. 9 „This link between hermeneutics and politics can be broken only by anarchy or silence“ (Rosen (1987), S. 88). 10 Bloom (1990a), S. 4. 11 Die ursprünglich naturrechtlichen Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung werden idealisiert bzw. ideologisiert und mystifiziert. Leo Strauss kritisiert in Naturrecht und Geschichte, dass dadurch die göttlich-naturrechtliche Begründung der Menschenrechte als selbstverständlich hingenommen wird. Vgl. dazu Einleitung in: Strauss (1989g), S. 2.

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konsequent ablehnen, die ursprüngliche Intention bspw. der Gründerväter der Verfassung erschließen zu können.12 Gemäß Strauss’ Ansatz des „historischen Verstehens“ muss unter Berücksichtigung historischer Quellen versucht werden, die Verfassung und Texte der Gründerväter so zu verstehen, wie diese sich selbst verstanden. Dabei müssen vor allem die sprachlichen und sozialen kontextualisierenden Gegenwartskonstruktionen außen vorgelassen werden und der Verfassungstext muss gelesen werden „without condescending from the heights of the twentieth century“ 13. 1. Alexandre Kojèves hermeneutische Politik „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Karl Marx14

Stanley Rosen hat das dritte Kapitel in Hermeneutics as Politics nach dem Haupttitel benannt und stellt in diesem einen gänzlich anderen Aspekt des Zusammenhanges zwischen Hermeneutik und Politik dar, indem er Alexandre Kojèves hermeneutische Politik mit Leo Strauss’ Politischer Hermeneutik vergleicht.15 Rosen eröffnet das Kapitel zunächst mit einem grundlegenden Problem in der Beziehung zwischen Hermeneutik und Politik. Gemäß der sokratischen Auffassung, dass das Gespräch besser als die Schrift sei, da das mündliche Gespräch sich seinen Gesprächspartnern anpassen könne, könne der Gerechtigkeitszuspruch eines Richters das geschriebene Gesetz dem individuellen Fall anpassen, obwohl die Schrift jedem das Gleiche sage.16 In der Analogie befindet sich ein Widerspruch, der auf die unterschiedlichen Aspekte des hermeneutisch-politischen Problems hinweist. Denn einerseits kann ein feststehender, geschriebener Text durch politische, im Fall von Gesetzen vor allem juristische Instanzen unterschiedlich ausgelegt werden, obwohl er ja, wie der widersprechende Nebensatz besagt, eigentlich zu jedem das Gleiche sagt. Das hermeneutische Problem besteht in der unterschiedlichen politischen Auslegung, die jedem Text, insbesondere Verfassungstexten, zugrunde liegt. Die von Rosen eingebrachte Analogie bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen der Auslegung eines verfassungsrelevanten Textes und politischen 12 Während Lincoln und Jefferson noch grundsätzlich naturrechtlich argumentieren, entwickelt der Dekonstruktivismus Vorstellungen einer Demokratie, die immer eine kommende ist (démocratie à venir); vgl. Meier (1988), S. 172. 13 Bloom (1990a), S. 2. 14 Marx, Thesen über Feuerbach (MEW 3), 7. 15 Stanley Rosen traf sich 1960–61 während seiner Tätigkeit als Fulbright-Professor an der Sorbonne regelmäßig mit Kojève. 16 Rosen (1987), S. 87.

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Handlungsanweisungen bzw. daraus resultierenden politischen Handlungen. In der hermeneutischen Politik, auf die Rosen in der weiteren Auseinandersetzung mit Alexandre Kojève hinaus möchte, erweitert sich die Problematik, dass er auch den Auslegungen philosophischer Texte, vor allem Hegels Rechtsphilosophie, politisch motivierte Züge unterstellt. Rosens zentrales Kapitel handelt daher vom fundamental politischen Charakter der Hermeneutik von philosophischen Texten. Rosen setzt sich dabei mit der kojève-hegelianischen Geschichtsphilosophie auseinander, die die Struktur der Weltgeschichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ erachtet und daher einen engen Zusammenhang zwischen der ideellen Entwicklung des Geistes von seiner Freiheit und ihrer politischen Verwirklichung aufweist. Politik, Philosophie und Geschichtsphilosophie sind dabei eng verknüpft. In diesem Rahmen soll die hermeneutische Politik genauer betrachtet werden. Alexandre Kojève hielt an der Pariser École Pratique des Hautes Études in Vertretung von Alexandre Koyré von 1933 bis 1939 unter dem Titel Introduction à la lecture de Hegel Vorlesungen über Hegels Phänomenologie des Geistes, die 1947 veröffentlicht wurden.17 Kojève zeichnet in seinem Frühwerk den Verlauf der hegelschen Strukturgeschichte nach und charakterisiert das Ende der Geschichte (la fin de l’histoire) als Zustand vollständiger Zufriedenheit, in dem insbesondere der Wunsch nach Anerkennung erfüllt wird. Auch wenn sich Kojèves Überlegungen in der Introduction à la lecture de Hegel dem Titel nach auf Hegels Phänomenologie des Geistes beziehen, stellen sie im Kern einen vollkommen eigenständigen Ansatz dar, für dessen hermeneutische Kühnheit der russische Emigrant in der Hegel-Forschung daher kritisiert und als „philologischer“ Beitrag zur Hegel-Deutung missverstanden wurde.18 Es geht Kojève keineswegs darum, das hegelsche System zu erweitern und einen Beitrag zum konventionellen akademischen Diskurs zu leisten, sondern Hegel als eine Art intellektuelle Status-Figur für seine eigene Philosophie zu benutzen.

17 Kojève (2000); dt. Kojève (2005). Die deutsche Version ist eine Teilübersetzung von Introduction à la lecture de Hegel und umfasst ca. ein Drittel des französischen Originals. Die Stellen, die übersetzt wurden, sind im Folgenden in ihrer deutschen Übersetzung angegeben. Alle weiteren Verweise auf unübersetzte Abschnitte stammen aus dem französischen Original. Kojèves Vorlesungen liefen unter dem Titel La Philosophie Religieuse de Hegel. Zu Kojèves Biographie im Allgemeinen vgl. Auffret 1990 sowie zur freundschaftlichen Debatte zwischen Kojève und Strauss die Einleitung von Michael Roth und Victor Gourevitch in: Strauss/Kojève (2000), S. ix ff. 18 Rosen (1987), S. 94. Einen Hinweis zu Kojèves Selbstverständnis seiner HegelInterpretation liefert die Randbemerkung zu dem Artikel von Aimé Patri Patri 1961. Patri schreibt, dass Kojève unter dem Pseudonym Hegel ein eigenständiges Denken veröffentlicht habe, was Kojève mit „bien vu!“ ergänzt. Diesen Hinweis verdanke ich Fußnote 27 in: Roth (1985), S. 299; vgl. auch FN 13 in Roth (1995), S. 111.

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Wie bereits Marx, so setzt auch Kojève den Schwerpunkt seiner Auslegungen auf das Kapitel Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft und überträgt daraus das Prinzip der Anerkennung in einen dialektischen Kampf, der sich im universalen und homogenen Weltstaat aufhebt. Ausgangspunkt ist dabei die grundlegende Charakterisierung des Menschen, der sich im Gegensatz zum Tier durch Selbstbewusstsein auszeichnet.19 Dieses Selbstbewusstsein entstammt der typisch menschlichen Begierde, die durch zweierlei Aspekte charakterisiert ist. Einerseits zeichnet sich ihre Menschlichkeit in dem Versuch aus, den instinktiven Drang nach Selbsterhaltung überwinden zu können. Andererseits kann sie sich im Gegensatz zur tierischen Begierde auf nicht-natürliche Objekte richten, wie es für Kojève die Begierde selbst ist.20 Die sozialisierte, menschliche Begierde schließt sowohl natürliche, aber biologisch nutzlose Objekte, wie etwa Mode oder Abzeichen, ein, bei denen es rein um die Begierde der Begierde eines anderen Menschen geht. Es sei daher „menschlich zu begehren, was die anderen begehren, weil sie es begehren“.21 Kojèves Geschichtsschreibung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch die fundamental tierische Begierde der Lebenserhaltung überwinden könne und sich dadurch als Mensch auszeichne, wenn er für eine andere menschliche Begierde sein Leben aufs Spiel setzt. Als Gewinnanreiz steht ihm dabei Anerkennung der eigenen Person vor Augen, da er „sich selbst an die Stelle des von dieser Begierde begehrten Wertes setzen“ kann.22 „Die Begierde eines anderen begehren, heißt [. . .] begehren, dass der Wert, der ich bin der den ich ,repräsentiere‘, der von diesem anderen begehrte Wert sei: ich will, dass er meinen Wert als seinen Wert ,anerkennt‘, ich will, dass er mich als einen selbstständigen Wert ,anerkennt‘“.23

Der Mensch begnügt sich nicht damit, sich selbst einen Wert beizumessen, sondern er will, dass dieser einzelne Wert von allen allgemein anerkannt wird.24 Aus diesem Streben nach Anerkennung (désir de reconnaissance) entspringt die menschliche Geschichte als „Dialektik von Herr und Knecht“. Diese entfaltet sich nach dem „ursprünglichen“ Kampf zwischen zwei Gegnern um Anerkennung, wenn einer aus Angst um sein Leben aufgibt und künftig als Knecht den anderen als Herrn anerkennt. Diese soziale Grundstruktur der Ungleichheit unter den Menschen, sofern es Sieger und Besiegte gibt, prägt den weiteren Verlauf

19

Kojève (2005), S. 20. Die menschliche Begierde begehrt dabei eine andere Begierde, die nicht wie die tierische Begierde negiert und dadurch verinnerlicht, sondern sie ist „negierende Negativität“ (ebd., S. 20 ff.). 21 Ebd., S. 23. 22 Ebd., S. 24. 23 Ebd.; kursiv im Original. 24 Ebd., S. 76. 20

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der Geschichte.25 Henk de Berg formuliert Kojèves geschichtsphilosophisches Grundmotiv treffend: „Der Mensch qua Mensch strebt nach Anerkennung und riskiert dafür sein Leben.“ 26

Da man jedoch nur Anerkennung von jemandem annehmen kann, den man selbst anerkennt, bleibt der Herr wesentlich unbefriedigt, da er nur von einem ihm untergebenen Knecht anerkannt wird und die Anerkennung daher nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Kojève wendet sich in seiner marxistisch geprägten Auslegung vielmehr dem arbeitenden Knecht zu.27 Der Knecht stellt sich als progressiver Charakter dem passiven, nicht-arbeitenden Herrn entgegen. „[I]ndem er durch [. . .] Arbeit die Welt verändert, verändert der Knecht sich selbst und schafft damit die neuen, objektiven Bedingungen, die es ihm ermöglichen, den Befreiungskampf um die Anerkennung wieder aufzunehmen, dem er anfangs aus Furcht vor dem Tode ausgewichen war.“ 28

Durch diese Bedingungen mündet die Geschichte in die synthetische Aufhebung von Herrschaft und Knechtschaft in einen Zustand, dem sich jeder universal anschließen kann und in dem ein jeder prinzipiell als gleich in seiner Einzelheit und Allgemeinheit anerkannt wird. Nachdem der Knecht die herrischen Strukturen, d.h. das ancien régime, im Befreiungskampf zerschlagen hat, befindet er sich im „Reich der Freiheit“ 29. In diesem komme, so Kojève, die Ge-

25 An dieser Stelle sollen dabei nur die Eckpunkte dieser Geschichtsphilosophie erwähnt bleiben, die für die Auseinandersetzung mit einer hermeneutischen Politik und für ein Verständnis von Strauss’ Kritik relevant sind. Zu Kojèves Hegel-Interpretation vgl. Schneider (2007) und Riley/Kojève (1981). 26 de Berg (2007), S. 97, kursiv im Original. 27 Henk de Berg verweist darauf, dass sich die deutschen Übersetzer Fetscher und Lehmbruchs an Hegels Begriffen „Herr“ und „Knecht“ orientiert haben, um die Einheitlichkeit der deutschen Terminologie zu wahren. Im Original verwendet Kojève esclave, was dem Unterdrückten marxistischer Prägung näher kommt. FN 7 in de Berg (2007), S. 98. 28 Kojève (2005), S. 46, kursiv im Original. Durch die Arbeit erlangt der Knecht zunächst Freiheit über die Natur in zweierlei Maß. Einerseits, indem er die äußere Natur durch Technik und Arbeit bewältigt. Andererseits, indem er seine eigene Natur in Form seiner natürlichen Instinkte zu bezwingen lernt. Aus dieser autonomen Herrschaft über die Natur entwickelt der Knecht eine Idee der Freiheit, die sich dann im Verlauf der Realgeschichte politisch verwirklicht, indem er sich gegen den Herrn auflehnt. 29 „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“ (Marx, Kapital 3 (MEW 25), 828). Auf diese Passage verweist auch Kojève in der 1. Fußnote (vgl. Anmerkung 1 zu Seite 434 von 1946 auf dt. in König (1980), S. 286). Trotzdem bleibt das Reich der Freiheit mit dem Reich der Notwendigkeit verknüpft. Marx fordert eine Verkürzung des Arbeitstages, damit dies es dem Menschen ermögliche, wie er in Die deutsche Ideologie prophezeit, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Marx, Deutsche Ideologie (MEW 3), 33).

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schichte in dem Augenblick zum Stillstand, in dem der Unterschied zwischen Herr und Knecht aufhört.30 Sie sei nicht mehr möglich, da der so befriedigte Mensch nichts Weiteres mehr ändern wollen würde.31 „L’Histoire s’arrête donc. Elle n’est plus possible, l’Homme qui l’a créée état satisfait, ne voulant plus changer, se dépasser.“ 32

In einem Staat, der den Wert des Einzelnen prinzipiell in seiner Einzelheit und Allgemeinheit anerkennt, gibt es für Kojève keinen Grund mehr, sein Leben aufs Spiel zu setzen. „C’est dire que cet État ne se modifiera plus, restera éternellement identique à luimême. [. . .] L’Homme ne changera donc plus lui non plus. [. . .] Je suis pleinement et définitivement ,satisfait‘, quand ma personalité exclusivement mienne et ,reconnue‘ par tous, à condition que je ,reconnaisse‘ moi-même la réalité de la valeur de ceux qui sont censes devoir me ,reconnaître‘.“ 33

Der universale und homogene Staat (l’État universel et homogène) ist für Kojève Napoleons Staat, in dem sich alle Menschen gegenseitig und untereinander und vor dem Gesetz als unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund als gleich anerkennen. Kojèves Geschichtsphilosophie als Geschichte der hegelschen Vernunft beinhaltet jedoch außerdem eine ideelle Komponente. Damit weist er auf die Aufgabe der Philosophie hin, die real ablaufende Geschichte, die im napoleonischen Staat vollendet werde, als histoire raisonnée verstehen zu müssen. Denn nur der Mensch könne vollkommen befriedigt sein, der verstanden habe und wisse, dass sein menschliches Potential sich in diesem Staat erschöpfe. Da „die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt“, liegt die Aufgabe der Philosophie in der Rekonstruktion und Erklärung der Weltgeschichte, weswegen Kojève der hegelschen Philosophie absolutes Wissen – „la Sagesse elle-même“ – zuschreibt.34 Im weiteren Verlauf soll die für Kojève äußerst relevante Frage untersucht werden, ob der gegebene Zustand 1806 für Hegel bereits das Ende der Geschichte darstellt oder er davon ausgeht, dass es einen Keim dieses Staates in den notwendigen und ausreichenden Bedingungen gibt, die sich jedoch noch nicht aktualisiert haben. Vor allem die Folgen für Kojèves hermeneutische Politik gehen aus dieser Problemstellung hervor. Anders formuliert lautet die Frage, ob das Ende der Geschichte real erreicht sei oder eher virtuellen Gehalt habe. Kojève wechselt im Lauf seiner intellektuellen Tätigkeit seine Positionen, was einerseits auf 30

Kojève (2005), S. 61. Ebd., S. 89. 32 Kojève (2000), S. 114. 33 Ebd., S. 145. 34 Vgl. ebd., S. 249 und auch S. 271. Daher ist gemäß Kojèves Hegelianismus Geschichte als Verwirklichung der Wahrheit zu verstehen (comprendre l’Histoire comme le devenir de la vérité). Zum berühmten Hegel-Zitat vgl. Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hegel (1972), S. 14). 31

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historische Änderungen, aber auch auf Einwände von intellektueller Seite, vor allem auf die Auseinandersetzung mit Leo Strauss zurückzuführen ist. Stanley Rosen teilt Kojèves Antwort in die Zeit vor und nach 1948 ein. Er begründet diese Unterscheidung aufgrund von Widersprüchen in seiner Introduction sowie zweier inzwischen bereits berühmt gewordener Fußnoten.35 Rosen unterscheidet daher zwischen der Zeit vor 1948, in der Kojève die hegelsche Geschichte als noch nicht abgeschlossen und die posthistorische Lebenswelt des animal rationale als erstrebenswert erachtet habe. Nach 1948 jedoch stellt Kojève das von Hegel prognostizierte Ende der Geschichte bereits als allgegenwärtig fest und schreibt ihm eine eher kulturpessimistische Sichtweise zu. Der Widerspruch zwischen den beiden Aussagen bezieht sich daher auf die Qualität der Zufriedenheit, die das Ende der Geschichte für die Menschen ausmacht. Henk de Berg ist in seiner Einteilung der Datierung der geschichtsphilosophischen Wende in Kojèves Denken vorsichtiger und spricht nicht von einem eindeutig datierbaren Wendepunkt, sondern von „einer 1948 einsetzenden Entwicklung“ 36. Meines Erachtens ist es sinnvoll, von einer Entwicklung von Kojèves Denkweg zu sprechen, da sich die Einteilung in ein Denken vor und nach 1948 auf eine Selbstaussage bezieht, die er rückblickend auf eben diesen Denkprozess gemacht hat. Dennoch ist herauszuarbeiten, warum Kojève die Datierung auf das Jahr 1948 legt, in dem kein signifikanter Text bezüglich dieses Themenfeldes von ihm veröffentlicht wurde. Den Ausgangstext für Kojèves hier skizziertes Denken stellt der bereits erwähnte Sammelband seiner Vorlesungen Introduction aus den Jahren 1933–39 dar, den er 1946 editierte und ein Jahr später veröffentlichte. Dieser Band beinhaltet des Weiteren die Anmerkung aus dem Jahr 1946, die Kojèves frühe Auffassung belegt, dass das Ende der Geschichte noch nicht realisiert sei, Kojève aber diesem Ende optimistisch entgegensehe und den Menschen am Ende der Geschichte ein glückliches Dasein in Aussicht stelle. Einen ersten Wendepunkt markiert daraufhin der Aufsatz Hegel, Marx et le christianisme, ebenfalls im Jahr 1946 verfasst, in dem er dem Geschichtsverlauf konstatiert, sich noch nicht zwischen Rechts- und Links-Hegelianismus entschieden zu haben. Rückblickend erwähnt Kojève 1962 in seiner ebenfalls berühmt gewordenen zweiten Fußnote zur zweiten Auflage und einzigen Ergänzung der Introduction, er habe 1948 begriffen, dass das Ende der Geschichte bereits Gegenwart geworden sei und sich im „American Way of Life“ manifestiere. Kojève äußert sich nun des Weiteren, wie dieses vor allem hinsichtlich der Konsequenzen für den Menschen zu bewerten sei, und geht vor allem auf seine Japan-Reise von 1949 ein. Dieser Wandel in seinen Positionen bezüglich des Endes der Geschichte wurde zumeist wissen-

35 36

Rosen (1987), S. 102. FN 7 in: de Berg (2007), S. 156.

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schaftlich aufgrund Kojèves Selbstaussage in der zweiten Fußnote mit einer Unterscheidung in das Denken vor und nach 1948 eingeteilt. Im Folgenden sollen daher Kojèves Positionen zum Ende der Geschichte mit Schwerpunkt auf den Folgen für den Zusammenhang zwischen Philosophie und Politik als auch zwischen Politik und Hermeneutik dargestellt werden. Dabei liegt ein Schwerpunkt auch auf der Auseinandersetzung mit Strauss, aus deren Briefwechsel sich letztendlich Kojèves eigenmächtig ernannter Wendepunkt 1948 herauskristallisiert, obwohl dieser in seinem Denken und seinen Schriften erst später erfolgte. Ich möchte daher zunächst die konzeptuelle Modifikation nachzeichnen, um anschließend auf die Einsicht aus dem Briefwechsel mit Leo Strauss einzugehen, welche er 1948 – wenn auch noch „im Keim“ – erlangte. 1946 geht Kojève in der Introduction zunächst davon aus, dass das Ende der Geschichte noch nicht erreicht sei. So heißt es in der Introduction: „L’état parfait? Sans doute possible, on est bien loin de là.“ 37

Der Staat, den Hegel 1806 im Auge gehabt habe, sei noch nicht in Gänze realisiert worden, aber dennoch im Keim (germe) angelegt. „Il affirmait seulement la présence dans le Monde du germe de cet État et l’existence des conditions nécessaires et suffisants à son épanouissement.“ 38

Der Staat habe längst noch kein „Dasein“ und keine „Wirklichkeit“, sondern Hegel habe einen „Vorgriff auf die geschichtliche Zukunft tun müssen“.39 In Kojèves Perspektive habe sich die Herrschaft der Knechte noch nicht endgültig durchgesetzt. Die Idee dieses Staates lasse sich nicht ohne negierende Handlung (l’action negatrice) aktualisieren. Die Realisierung der von Hegel konstatierten Idee der Freiheit „ist nicht möglich ohne Kampf, ohne sozialen Krieg, ohne Einsatz des Lebens. [. . .] Da die zu realisierende Idee die Idee einer Synthese von Herrschaft und Knechtschaft ist, kann sie nur realisiert werden, wenn sich das knechtische Element der Arbeit mit dem für den Herrn kennzeichnenden Element des Kampfes auf Leben und Tod verbindet: der arbeitende Bourgeois muss Krieger werden, um (,zufriedener‘) Citoyen des ,absoluten‘ Staates zu werden, d.h., er muss den Tod in seine Existenz aufnehmen, indem er bewusst und freiwillig sein Leben einsetzt [. . .].“ 40

37 Kojève (2000), S. 290. Der entsprechende Abschnitt wurde nicht mit in die deutsche Übersetzung aufgenommen. 38 Ebd. 39 Kojève (2005), S. 157. 40 Kojève (2005), S. 88; „Der zum Revolutionär gewordene arbeitende Bourgeois schafft selbst die Situation, in der er das Moment des Todes in seine Existenz aufnimmt“ (ebd.); vgl. auch Kojève (2000), S. 290. Kojève formuliert es in einem Brief an Strauss vom 2. November 1936 folgendermaßen: „[T]he worker’s struggle leads to the struggler’s work“ (Strauss/Kojève (2000), S. 232).

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1946 seien demnach noch Arbeit und Kampf nötig, um den Endstaat zu realisieren, der jedoch sowohl ideell als auch in seinen real-politischen Keimen ersichtlich sei. Auch wenn diese prognostizierte Zukunft in ihren konkreten Abläufen unvorhersehbar sei, so seien doch die Weichen gestellt, dass der noch in seinen potentiellen Keimen steckende, universale und homogene Staat auf seine geschichtliche Verwirklichung zulaufe. Kojève geht 1946 davon aus, dass das zukünftige Ende der Geschichte unabwendbar und irreversibel sei und dabei unaufhaltsam seiner Verwirklichung zustrebe. Zwar sei das Ende der Geschichte bekannt, doch sei seine Verwirklichung, die gleichzeitig als Beweis des philosophischen Wissens zu betrachten sei, von politischen Handlungen abhängig. Seine aktivistische Geschichtsphilosophie vor 1948 legt dabei das Schicksal der Verwirklichung dieser Ideen eindeutig in die Hand der Kommunisten.41 Aufgrund der pragmatischen politischen Aufforderung in seiner Hegel-Hermeneutik lässt sich Kojèves ursprüngliche Position mit Michael Roths Bezeichnung als „heldenhafter Hegelianismus“ auffassen.42 „Militante“ bzw. „heroische“ Züge nimmt Kojèves Hegelianismus deshalb ein, da er im Kommunismus das Potential sieht, den gegenwärtigen bloß formalen Charakter der Ideen der Französischen Revolution in real-politische zu verwandeln. Gourevitch und Roth bezeichnen daher Kojèves Hegel als „dramatic pragmatist“ 43, da Wahrheit und erfolgreiches Handeln eng miteinander durch Arbeit und den blutigen Kampf um Anerkennung verbunden seien. Einen Wendepunkt dieser Auffassung stellt der Artikel Hegel, Marx et le christianisme44 von 1946 dar. Hierin tritt eine geschichtsphilosophische Skepsis hervor, die sich aus der Auseinandersetzung mit Henri Niels Werk Über die Vermittlung in der Philosophie Hegels entwickelt haben muss. Gegen die hegelsche Behauptung, die absolute Wahrheit und somit das „letzte Wort“ ausgesprochen zu haben, wendet Niel ein, dass sich im unmittelbaren Anschluss an die Phänomenologie des Geistes ein Links- und Rechts-Hegelianismus entwickelt hätte. Kojève stimmt diesem Einwand zu und präzisiert Niels Ansicht, dass es seit Hegel nichts anderes als Hegelianismus gegeben habe – „und zwar weder auf der Ebene 41 Vgl. dazu Henk de Bergs Ausführungen zu Kojèves Korrespondenz mit dem marxistischen Philosophen Tran-Duc-Thao (de Berg (2007), S. 145 f.) sowie zu seinen stalinistischen Überzeugungen (de Berg 2007, S. 147 ff.). 42 „heroic Hegelianism“ (Roth 1985, S. 298); Henk de Berg übersetzt dies als „militanten Hegelianismus“ (de Berg (2007), S. 157; 158 ff.). Zu Kojèves großen Erwartungen an die welthistorische Rolle von Josef Stalin als „politischen Führer par excellence“ vgl. Henk de Bergs Auslegung der verhüllten Bewunderung in Kojève 2000, S. 153 in: (de Berg (2007), S. 147 ff.) sowie die Zusammenstellung von Äußerungen in der Privatkorrespondenz. 43 Einleitung zu Strauss/Kojève (2000), S. xiv. 44 Das von Henri Niel veröffentlichte Buch De la médiation dans la philosophie de Hegel (dt. Über die Vermittlung in der Philosophie Hegels) von 1945 stellte den Bezugsrahmen für Kojèves Rezensionsartikel. Hegel, Marx und das Christentum in: Kojève (2005), S. 271 ff., zuerst erschienen in: Kojève (1946b).

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der geschichtlichen Wirklichkeit selbst noch auf der Ebene des Denkens und der Rede, was eine historische Auswirkung gehabt hätte“.45 Die Geschichte habe daher nicht den Hegelianismus widerlegt, sondern „sich noch nicht zwischen der ,linken‘ und der ,rechten‘ Interpretation der Hegelschen Philosophie entschieden“.46 „In unseren Tagen ist die Hegelsche Philosophie ebenso wie zur Zeit von Marx keine Wahrheit im eigentlichen Wortsinn: Sie ist weniger die adäquate diskursive Offenbarung einer Wirklichkeit als vielmehr eine Idee oder ein Ideal, das heißt ein ,Entwurf‘, den es durch das Handeln zu verwirklichen, also zu bewahren gilt.“ 47

Zwar habe Napoleon den universalen und homogenen Weltstaat politisch herbeigeführt und Hegel habe es ermöglicht, dieses geschichtsträchtige Ereignis zu verstehen, jedoch, so Kojève 1946, bedeute dies nicht, dass das Ende der Geschichte bereits verwirklicht sei. In seiner pragmatischen Wahrheitsauffassung bedarf es menschlicher Handlungen, um die virtuellen Keime des neuen Geschichtsstadiums in ihre unumkehrbare Wirklichkeit zu verwandeln. Wie Rosen, so deutet auch de Berg, dass Kojève lediglich den Keim des „Endes in der Geschichte“ als verwirklicht erachtet.48 Alle Geschichte nach 1806 stellt für Rosen daher einen Kampf mehrerer „sub-Hegelianischer Sekten“ 49 im Geschichtsverlauf dar. Rosen bezieht sich ebenfalls auf Kojèves Artikel Hegel, Marx et le Christianisme von 1946, dass die Geschichte den Hegelianismus weder widerlegt noch überwunden habe, sondern zwischen den beiden Interpretationsmöglichkeiten des Links- und Rechts-Hegelianismus changiere. Wenn die Geschichte noch nicht an ihrem Ende ist, blieben zwei Möglichkeiten, sie zu vollenden, die zwei gegensätzliche Interpretationen ausmachten, zwischen denen sich die Geschichte lediglich noch entscheiden müsse. Die verbleibende Geschichte nach 1806 könne auf eine Auseinandersetzung zwischen Links- und Rechtshegelianern reduziert werden.50 Auch mit dieser Deutung verbinde Kojève in Hegel, Marx et le christianisme eine konkrete Handlungsanweisung, die ebenfalls das Verhältnis von Politik und Hermeneutik aufweise. Eben weil die „Zukunft der Welt [. . .] von der heutigen Interpretation der Hegelschen Schriften“ abhänge,51 müsse der Linkshegelianismus, d.h. der Kommunismus, unterstützt werden. Kojèves halte an der Auffassung von Geschichte als einer Auseinandersetzung zwischen Linkshegelianismus (Kommunismus) und Rechtshegelianismus (für Kojève der Kapitalismus) fest. 45

Hegel, Marx und das Christentum in: Kojève (2005), S. 297. Ebd. 47 Ebd. 48 de Berg (2007), S. 117. 49 Rosen (1987), S. 93. 50 Hegel, Marx und das Christentum in: Kojève (2005), S. 297; de Berg (2007), S. 157. 51 Hegel, Marx und das Christentum in: Kojève (2005), S. 298. 46

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Kojève relativiert den Gegensatz von Links- und Rechtshegelianismus, da sich beide aus der Interpretation resultierende Gesellschaftssysteme in dieselbe Richtung bewegen würden.52 Es sei nicht weiter nennenswert, ob sich die Auseinandersetzung für den Rechts- oder Links-Hegelianismus entscheide, da beide daraus abgeleiteten Gesellschaftssysteme den universalen und homogenen Weltstaat etablieren würden. Der „Weltbürgerkrieg“ sei noch nicht entschieden, sein geschichtliches Ziel jedoch schon. „In jüngster Zeit hat die ,Linke‘ einen eklatanten Sieg errungen, und es wäre absurd, daraus zu folgern, dass die ,Rechte‘ schließlich gewinnen wird. Aber ebenso falsch wäre es, wenn man sagte, die augenblicklich siegreiche Interpretation habe sich endgültig als wahr herausgestellt.“ 53

Für Stanley Rosen heißt dies, dass für Kojève kein metaphysischer Unterschied zwischen Russen und Amerikanern bestehen würde.54 Henk de Berg bezeichnet diese neue Position als „kontemplativen Hegelianismus“ 55, da es letztendlich unwichtig sei, ob die rechte oder die linke Position gewinne, da beide Seiten den universalen und homogenen Staat etablieren würden. Diese Bezeichnung ergibt meines Erachtens jedoch zu dieser Zeit keinen Sinn, da Kojève immer noch pragmatisch denkt, statt eine rein kontemplative Auffassung zu vertreten. Rosen deutet daher Kojèves Vorgehen als „politische Propaganda“ und auch Kojève selbst sagt, dass „in unserer Zeit“ das Werk eines Hegelinterpreten die Bedeutung einer „politischen Propagandaschrift“ habe.56 „Man kann also sagen, dass im Augenblick jede Interpretation Hegels, wenn sie mehr als Geschwätz sein will, nur ein Kampf- und Arbeitsprogramm ist (wobei eines 52 Auch der Briefwechsel mit Carl Schmitt gibt Aufschluss über Kojèves Auffassungen, am deutlichsten in Kojèves Brief vom 16. Mai 1955: „Gewiss gibt es noch ,Außenpolitik‘. Innenpolitik gibt es dagegen nicht mehr: alle wollen ja dasselbe, nämlich nichts; da sie im großen und ganzen wenn nicht befriedigt, so doch zufrieden sind.“ Und weiter unten: „Und nach 10–20 Jahren wird wohl auch ein ,Nicht-Hegelianer‘ merken, dass Osten und Westen dasselbe nicht nur wollen (wohl seit Napoleon), sondern auch tun. Dann wird das ,Gleichschalten‘ leicht sein“ (Tommissen (1998), S. 75–143, 104 und 105). 53 Kojève (2005), S. 297. 54 Vgl. Rosen (1997), S. 6. Diese Einstellung teilt Kojève auch in einem Brief an Strauss vom 19. September 1950 mit: „Historical action necessarily leads to a specific result (hence: deduction), but the ways that lead to this result, are varied (all roads lead to Rome!). The choice between these ways is free, and this choice determines the content of the speeches about the action and the meaning of the result. In other words: materially ,i. e., factually‘ history is unique, but the spoken ,i. e., narrated‘ story can be extremely varied, depending on the free choice of how to act. For example: If Westerners remain capitalist (that is to say, also nationalist), they will be defeated by Russia, and that is how the End-State will come about. If, however, they ,integrate‘ their economies and politics (they are on the way to doing so), then they can defeat Russia. And that is how the End-State will be reached (the same universal and homogeneous State)“ (Strauss/Kojève (2000), S. 256). 55 de Berg (2007), S. 158. 56 Hegel, Marx und das Christentum in: Kojève (2005), S. 289.

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dieser Programme sich Marxismus nennt). Das heißt, das Werk eines Hegelinterpreten hat die Bedeutung einer politischen Propagandaschrift. Henri Niel hat also durchaus recht, wenn er abschließend sagt, dass der Hegelianismus nicht nur ein rein literarisches Interesse habe. Denn es kann sein, dass die Zukunft der Welt und damit der Sinn der Gegenwart und die Bedeutung der Vergangenheit letztlich von der heutigen Interpretation der Hegelschen Schriften abhängen.“ 57

Damit meint Kojève wohl vor allem seine eigene linke Hegel-Interpretation, nach der erst der Kommunismus den bislang bloß im Keim angelegten Status der Gleichwertigkeit in einen realen umsetzen könne und daher verstärkt unterstützt werden müsse. Kojève betrachtet die Philosophie Hegels als einen „,Entwurf‘, den es durch das Handeln zu verwirklichen, also zu bewahrheiten gilt“.58 Um dieses Ideal zu verwirklichen, nehmen die Anteile der Hermeneutik in diesem Konflikt einen großen Raum ein, gerade weil die Zukunft der Welt von der Interpretation der Philosophie Hegels abhängt. Der politische, pragmatische Appell richtet sich auch gegen die intellektuelle Bourgeoisie mit ihren passiven, liberalen Denkern, die die gegenwärtige Gesellschaft bloß kritisieren würden, anstatt sie verändern zu wollen.59 Es genüge nicht, sich fernab jeglicher politischer Praxis in eine „ideale Welt des Schönen, Wahren und Guten“ zu flüchten und sich mit einer toleranten Haltung gegenüber unterschiedlichen Überzeugungen zufriedenzugeben, die gesellschaftlich wirkungslos seien.60 Kojève möchte mit seiner „politischen Propaganda“, die er an seine Hegel-Hermeneutik anlehnt, den Leser zum Bewusstsein der Werte konkreter, politischer Aktionen führen und ihn in einen „citoyen actif“ verwandeln.61 Für Kojève sei der universelle homogene Weltstaat in seinem Denken vor 1948 im Keim (germe) vorhanden gewesen, zusammen mit seinen notwendigen und genügenden Bedingungen bereits, wie Hegel behauptet, seit 1806.62 Dieser Keim des notwendigen weiteren Geschichtsverlaufes lässt sich nun nicht mehr bestreiten, so dass dieser auch gegenwärtig noch vorhanden sein muss, wenn denn die Geschichte noch nicht an ihr Ende gelangt ist. Kojèves Kommentar zu Hegel muss daher als ein revolutionärer Akt verstanden werden, um die Geschichte zu vollenden. Er vollbringt dies durch eine Politisierung der Hermeneutik von Hegels Philosophie. „L’Autrement dit, L’Histoire pourrait s’arrêter avant d’atteindre son terme vraiment infranchissable. Il faut donc faire des efforts pourqu’il n’en soit pas ainsi.“ 63

57 58 59 60 61 62 63

Kojève (2005), S. 298. Hegel, Marx und das Christentum in: Kojève (2005), S. 297. Vgl. Kojève (2000), S. 108. Ebd., S. 109 und S. 150. Ebd., S. 94; vgl. auch de Berg (2007), S. 147. Rosen (1987), S. 103; Kojève (2000), S. 290. Ebd., S. 404.

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Die „politische Propaganda“ der Hegelinterpretationen ist die Verbindung, die Rosen zwischen Hermeneutik und Politik als hermeneutische Politik sieht. Er bezeichnet diese als „political hermeneutics“ 64. Um sie jedoch von Strauss’ Politischer Hermeneutik abzugrenzen, sei sie im Weiteren als hermeneutische Politik behandelt. Hermeneutische Politik setzt sich auch von einem hermeneutischen Beitrag zur Hegel-Forschung ab, die eine akademische Deutung seiner Rechtsoder Geschichtsphilosophie leisten möchte. Sie nimmt konkret Bezug auf die politische Lage, um Unzulänglichkeiten des idealen Endziels festzustellen, und ruft zu politischen Maßnahmen auf. Kojève betreibt Propaganda für das von ihm noch erstrebenswerte Ende der Geschichte. Von daher sei es völlig legitim, moralisch fragwürdige Maßnahmen zugunsten der Verwirklichung der eigenen Auslegung anzuwenden, während man gleichzeitig anderen diese vorwerfen könne.65 Dabei geht er davon aus, dass alle signifikanten philosophischen Wege zu Hegel und wiederum alle Hegelinterpretationen zum Ende der Geschichte führen: „all roads lead to Rome“ 66. Kojèves Biographie unterstreicht dabei seine pragmatistische Haltung. So nahm er nach dem Krieg eine hohe Beamtenstelle im französischen Wirtschaftsministerium an, die als wahrgenommene Chance verstanden werden kann, die Aktualisierung des im Keim angenommenen universalen und homogenen Staates zu beschleunigen.67 Kojèves pragmatische Geschichtsphilosophie verknüpft jedoch nicht nur Hermeneutik und Politik, sondern bindet auch ein moralisches Kriterium mit ein. Dieses entspringt Hegels Wahrheitsverständnis, das auf dem „Zusammenstoß aller vorhergehenden geäußerten philosophischen Meinungen“ basiert. Da sich Philosophie für ihn immer auf die realen politischen Ereignisse bezieht, „ist die dialektische Bewegung der Philosophiegeschichte, die bei der absoluten oder endgültigen Wahrheit endet, nur ein Reflex oder ein ,Überbau‘ der dialektischen Bewegung der wirklichen Geschichte des Wirklichen“.68 Während jede Philosophie „ihre Zeit in Gedanken“ fasst und daher einen nur vorrübergehenden Wahrheitsanspruch haben kann, stellt sich das absolute Wissen als unüberbietbar dar. Durch den geschichtlichen Prozess und die historische Wahrheitsauffassung, die 64

Rosen (1987), S. 104. Kojève (1946a), S. 311; Rosen (1987), S. 104. 66 Brief an Strauss vom 19. September 1950 in: Strauss/Kojève (2000), S. 256. Vgl. dazu die Metapher der einfahrenden Wagen in die Stadt im letzten Kapitel von Fukuyama (1992). 67 Auch wenn die berufliche Umorientierung als Entscheidung aus Geldnot ausgelegt werden könnte, so zeugt doch Kojèves Selbstaussage aus einem Interview kurz vor seinem Tod davon, dass er die Wahl, in der Politik tätig zu sein, nie bereut hat und sie in der Tat als „Devirtualisierung“ betrachtet: „Ich tue diese Arbeit für mein Leben gern. Für den Intellektuellen tritt der Erfolg an die Stelle des Gelingens“ (Kojève/Lapouge (1981), S. 122). Die deutsche Übersetzung des Gesprächs zwischen Gilles Lapouge und Alexandre Kojève ist eine Teilübersetzung des Interviews, das als Entretien avec Alexandre Kojève 1968 veröffentlicht wurde in: La Quinzaine littéraire (53) Juli 1968. 68 Kojève (2005), S. 149. 65

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absolutes Wissen als Endziel hat, lassen sich Irrtümer in Wahrheiten und moralisch schlechte Handlungen rückblickend als wahr und somit als gut auffassen. „Les vrais jugements moraux sont ceux que porte l’État; les États eux-mêmes sont jugés par l’Histoire universelle. Mais pour que ces jugements aient un sens, il faut que l’Histoire soit terminée. [. . .] Le succès absout le crime, parce que le succès – c’est une nouvelle réalité qui existe. Mais comment juger du succès? Il faut pour cela que l’Histoire soit terminée. Alors on voit ce qui se maintient dans l’existence: la réalité definitive.“ 69

Mit dieser Endzielausrichtung habe man ein Kriterium der letzten definitiven Wahrheit zur Verfügung, mit dem sich konkrete Handlungen bewerten lassen. Denn wenn die Idee des universalen und homogenen Weltstaates bereits existiert und ihre Umsetzung die absolute Wahrheit darstellt, sind jene Handlungen moralisch gerechtfertigt, die zu diesem Erfolg beisteuern.70 Da das Ende der Geschichte daher von Kojève in der Phase vor 1948 gänzlich positiv bewertet wird, ist jede noch so verwerfliche Handlung erlaubt, die zu diesem erstrebenswerten Ende hinführt: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“.71 2. Naturrecht oder Geschichte In der ersten Fußnote der Introduction à la lecture de Hegel von 1946 verbindet Kojève mit dem Verschwinden des Menschen am Ende der Geschichte ein Verschwinden der Philosophie, „denn da der Mensch sich nicht mehr wesentlich selbst ändert, gibt es keinen Grund mehr, die (wahren) Grundsätze zu verändern, die die Basis der Welterkenntnis und Selbsterkenntnis bilden“.72 Das Ende der Geschichte bleibe selbst dann erstrebenswert, wenn das Posthistoire letztendlich bedeuten würde, dass „der Mensch im eigentlichen Sinn“ [s.c. der Mensch, der das Seiende negiert und formal die Begierde anderer begehrt] verschwinden würde. In der berühmt gewordenen Anmerkung 1 zu Seite 434 von 1946 in der Introduction, die nicht in die deutsche Übersetzung aufgenommen wurde, heißt es, dass das Verschwinden des Menschen am Ende der Geschichte gerade „keine kosmische Katastrophe“ sei. Der Mensch wäre vielmehr vollständig befriedigt und könne sich als glückliches Tier unbegrenzt anderen Aktivitäten, wie Kunst, Liebe und Spiel, widmen. In der Selbstaussage in der zweiten Fußnote zur zweiten Auflage von 1962 äußert sich Kojève über den Wandel in seinem Denken, der für ihn 1948 begon69

Kojève (2000), S. 95. Insofern lässt sich auch Kojèves Sympathie für Stalins kompromisslose politische Härte erklären (vgl. dazu de Berg (2007), S. 147 ff.). 71 Friedrich Schiller aus dem Gedicht Resignation (1786); vgl. Strauss’ spöttische Bemerkung zu dieser Auffassung im Hinblick auf seine Aufklärungskritik in: Strauss (1935), S. 17. 72 1. Fußnote in: König (1980), S. 286. 70

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nen habe und Rosen dazu veranlasste, den Wendepunkt auf dieses Jahr zu datieren. „In der Zeit, als ich die obige Fußnote verfasste (1946), schien mir die Rückkehr des Menschen zur Animalität als Zukunftsperspektive [. . .] nicht undenkbar. Aber kurz danach habe ich begriffen (1948), dass das Hegelsch-Marxsche Ende der Geschichte nicht mehr aussteht, sondern schon jetzt Gegenwart ist.“ 73

Mit der Schlacht von Jena und Auerstedt habe die Avantgarde der Menschheit virtuell das Ende der geschichtlichen Entwicklung erreicht, so dass alles, was sich seitdem ereignet habe, bloß eine Ausdehnung der universalen revolutionären Macht sei, die sich durch unterschiedliche Ereignisse aktualisiert habe.74 Was passierte 1948? Wie kam es zu der Wende im Kojèves Denken? Aufschluss darüber geben nicht seine Werke und die veröffentlichten Auseinandersetzungen, sondern vor allem Fußnoten und der Briefwechsel mit Leo Strauss. Durch mehrere Reisen in die USA und die Sowjetunion habe Kojève zunächst erkannt, dass es keine großen Unterschiede zwischen den Weltmächten mehr gebe und daher „der American Way of life die typische Lebensweise der posthistorischen Periode ist und die heutige Anwesenheit der Vereinigten Staaten in der Welt die künftige ,ewige Gegenwart‘ der ganzen Menschheit vorwegnimmt. So erschien die Rückkehr des Menschen zur Animalität nicht als eine noch ausstehende Möglichkeit, sondern als eine bereits gegenwärtige Gewissheit.“ 75 Während Kojèves ursprüngliche Auffassung des Endes der Geschichte implizierte, dass politisches Handeln nötig sei, um das ersehnte Endziel des „Reiches der Freiheit“ zu verwirklichen, betrachtet er nun die Folgen für das menschliche Dasein am nun aktualisierten Ende der Geschichte. Einer der wenigen Kritiker von Kojèves Hegelianismus, die Kojève ernst nahm, war Leo Strauss.76 Dieser hat sich intensiv mit den Werken seines Studienfreundes „Kochevnikoff“ auseinandergesetzt und ihn beeinflusst,77 weswegen hier nun die Debatte zwischen Strauss und Kojève dargestellt werden soll. Aus ihr wird der Unterschied zwischen Kojèves „hermeneutischer Politik“ und Strauss’ „Politischer Hermeneutik“ sehr deutlich. Zunächst soll dabei auf die offizielle Debatte um Leo Strauss’ Artikel On Tyranny78 (1950) behandelt werden, da diese bereits die grundlegenden Differenzen zwischen Strauss und Kojève auf73

2. Fußnote, zitiert nach der deutschen Übersetzung in: König (1980), S. 287. Vgl. 2. Fußnote in: Ebd., S. 288. 75 Ebd. 76 Strauss selbst bezeichnet Kojève trotz aller Kritik als „[the] only one true intelligent man in Paris“. Brief vom 9. Mai 1935 in: Strauss/Kojève (2000), S. 229. 77 Zur Auseinandersetzung zwischen Strauss und Kojève vgl. Drury (2004), S. 143 ff., Gourevitch (1968), Roth (1988); und in Roth (1985); Grant (1964); Meyer (1993), S. 179 ff.; Pöggeler (1995), S. 14 ff.; Roth (1995), S. 96 ff. 78 Der Aufsatz beinhaltet eine kritische Studie zu Xenophons Hiero und wurde 1948 geschrieben. 74

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weist. In dem erst 1991 in der zweiten Auflage von On Tyranny veröffentlichten Briefwechsel von 1932–65 spitzt Strauss die Schwierigkeiten und die Folgen von Kojèves Denkens dermaßen zu, dass sich bestehende Zweifel verstärken und dieser seine ursprüngliche Position von 1946 änderte. Strauss greift dabei vor allem die Idee an, dass sich ein finaler Zustand von Weisheit und Glück durch politisches Handeln im fortschreitenden Geschichtsverlauf einstellen könne und dass die Verwirklichung des Endzustandes ein ultimativer Beweis dafür sei. Auch wenn Kojève davon ausgeht, dass sie sich in ihrem Denken nicht grundsätzlich unterscheiden,79 erkennt Strauss bereits 1948 die Hauptdifferenz zwischen beiden: „[Y]ou regard Hegel’s philosophy as absolute knowledge, and reject philosophy of nature together with its implications as a dogmatic and dispensable residue.“ 80

Der Grundunterschied liege darin, dass Kojève Hegels Lehre als endgültige Lehre betrachte und seine Geschichtsphilosophie nicht von einer „natürlichen“ Basis ausgehe. Stanley Rosen kontrastiert die Positionen der beiden philosophischen Freunde daher scharf mit „Hegel“ und „Platon“, zwischen denen die einzige, philosophische Wahl bestehe.81 Aus der Gegenüberstellung „Hegel–Platon“ bestimmt sich alle weitere Kritik, die Strauss an Kojève übt. Diese betrifft die Frage, ob die Verwirklichung des menschlichen Potentials vom Geschichtsverlauf oder von der menschlichen Natur bestimmt ist. Daran koppelt sich ebenso die Frage nach der Qualität des menschlichen Lebens im Posthistoire82 sowie nach 79 „I have the impression that basically we do not think as differently as it appears“. Brief vom 8. April 1947 in: Strauss/Kojève (2000), S. 235. 80 Ebd., S. 237. Auch im Restatement erachtet Strauss als fundamentalen Unterschied in ihrem Denken, dass Kojève die klassische Lösung der grundlegenden Probleme ablehne. Vielmehr vertraue er auf den unbegrenzten technologischen Fortschritt und die universelle Aufklärung als wesentliche Bestandteile für die menschliche Zufriedenheit (vgl. ebd., S. 186). 81 Rosen (1987), S. 96. Die Hauptdifferenz, die Robert B. Pippin zwischen den beiden sieht, ist, zu welchem Grad Geschichte das menschliche Denken bestimmt. Während Kojève das Denken an die Strukturgeschichte koppelt, ist sie für Strauss unabhängig davon (Pippin (1993)). 82 Kojève verwendet den Begriff „Posthistoire“ selbst in dem Sinne, dass der Vorstellung von Geschichte die Zukunft abgesprochen wird. Begriffsgeschichtlich geht dieses auch im Deutschen französisierte Wort im Neutrum auf die schlichte Phrase „phase posthistorique“ des französischen Mathematikers und Philosophen Antoine Augustine Cournot (1801–1877) zurück. Dieser verwendet sie vielmehr als ein technokratisches Programm der Selbstregulierung der Gesellschaft zur Überwindung von der als chaotisch beschriebenen Geschichte. Seine melancholische Färbung erhält der Begriff durch Arnold Gehlen, der die Diagnose des Posthistoire dem Sicherheitsbedürfnis seiner Zeitgenossen zuschreibt, die dadurch „die Welt zukunftslos [. . .] machen“ (Gehlen (1963a), S. 246). „Und wenn wir jetzt zu (den) beiden großen Welthälften mit ihren Basisideologien zurückkehren, dann ist vielleicht meine Folgerung weniger überraschend, wenn ich sage, dass ideengeschichtlich nichts mehr zu erwarten ist, sondern dass die Menschheit sich in dem jetzt vorhandenen Umkreis der großen Leitvorstellungen einzurichten hat,

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der Universalisierbarkeit von absolutem Wissen. Des Weiteren setzen sich beide mit dem Verhältnis von Philosophie und Politik auseinander, vor allem hinsichtlich der Frage, ob es eine gegenseitige Beeinflussung oder gar eine Kooperation der beiden Bereiche geben könne. Während für Strauss der Konflikt zwischen der Philosophie und der Stadt unvermeidbar ist,83 empfiehlt Kojève Philosophen und Politikern, gegenseitig aufeinander zu hören und sich hinsichtlich des geschichtsphilosophischen Endziels im politischen Handeln zu unterstützen. Während für Strauss Philosophen zetetischen Fragen nachgehen und sie daher generell Politiker nicht beraten können, gibt es für Kojève philosophisches Wissen, das in politische Taten umgesetzt werden müsse.84 „For Hegel/Marx (but by no means for Plato), the philosophers ought indeed (and hence can) become ,Kings‘ [. . .].“ 85

Auch beide hermeneutischen Herangehensweisen unterliegen der Differenz „Hegel“ oder „Platon“. Während Kojève in seinem frühen Denken hermeneutische Politik betreibt, um das Ende sowohl der Geschichte als auch der Philosophie herbeizuführen, baut Strauss auf seine Politische Hermeneutik, um dem Skandalon dieses Endzustandes mit „katechontischem Auftrag“ 86 entgegenzutreten und die Philosophie vor ihrer Abschaffung zu bewahren. Grundsätzlich lässt sich die Unterscheidung der „kojève-hegelschen“ und der „strauss-platonischen“ Position auf die unterschiedliche Auffassung zurückführen, ob absolutes Wissen erreichbar sei. Diese geht auf das unterschiedliche Ver-

natürlich mit der dann noch dazuzudenkenden Mannigfaltigkeit von allerlei Variationen. [. . .] Ich exponiere mich also mit der Voraussage, dass die Ideengeschichte abgeschlossen ist, und dass wir im Posthistoire angekommen sind, so dass der Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich ,Rechne mit deinen Beständen‘, nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist. Die Erde wird demnach in der gleichen Epoche, in der sie optisch und informatorisch übersehbar ist, in der kein unbeachtetes Ereignis von größerer Wichtigkeit mehr vorkommen kann, auch in der genannten Hinsicht überraschungslos. Die Alternativen sind bekannt, so wie auch auf dem Felde der Religion, und sind in allen Fällen endgültig“ (Gehlen (1963b), S. 322 f.). Benns Appell „Rechne mit deinen Beständen“ richtet sich an die Bestände der Tradition der „großen Bücher“, jenseits derer es sich nicht mehr lohnt, Neues zu denken oder entwickeln zu wollen. Gehlen diagnostiziert mit der Erstarrung der Verhältnisse Geschichte als einen abgeschlossenen Erfahrungsraum, in dem die Entwicklung abgewickelt und alles, was zukünftig folgt, bereits vorhanden ist und in Beliebigkeit ausartet: „Der Synkretismus des Durcheinanders aller Stile und Möglichkeiten, das Post-histoire“ (Gehlen (1960), S. 206). 83 Vgl. hierfür das Kapitel Politische Philosophie. 84 Mit diesem Philosophieverständnis lasse sich auch der auf Weisheit basierende platonische Staat durch Geschichte verwirklichen, während er für Strauss „en logo“ besteht (vgl. Strauss/Kojève (2000), S. 231 ff.). 85 Brief von Kojève an Strauss vom 15. Mai 1958 in: ebd., S. 303. 86 Meyer (1993), S. 199. Vgl. hierfür das Kapitel Carl Schmitts politisch-theologische Geschichtsdeutung.

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ständnis von Philosophie zurück, die Kojève als „philo-sophie“ von der „Sophia“ unterscheidet: „Je parle de la ,philo-sophie‘, de l’amour de la Sagesse, de l’aspiration à la Sagesse, par opposition à la ,Sophia‘, à la Sagesse elle-même. [. . .] Car le ,Savoir absolu‘ (das absolute Wissen) dont il y est question n’est rien d’autre que la ,Sagesse‘ opposée à la ,Philo-sophie‘ [. . .].“ 87

Hingegen bedeutet Philosophie für Strauss im Restatement: „Philosophy as such is nothing but genuine awareness of the problems, i. e., of the fundamental and comprehensive problems. It is impossible to think about these problems without becoming inclined toward a solution, toward one or the other of the very few solutions. Yet as long as there is no wisdom but only quest for wisdom, the evidence of all solutions is necessarily smaller than the evidence of the problems.“ 88

Strauss formuliert daher die Differenz zwischen ihm und Kojève nicht wie Rosen durch das Gegensatzpaar „Platon“ und „Hegel“, sondern „Platon“ und „Aristoteles“. Während es für Aristoteles möglich und notwendig gewesen sei, Philosophie zu systematisieren, habe Platon nur Dialoge schreiben können. Dies liege daran, dass Aristoteles davon ausgegangen sei, dass Weisheit und nicht nur Philosophie zu erreichen sei.89 In dem 1950 veröffentlichten Rezensionsartikel Tyranny and Wisdom90 werden diese grundlegenden Unterschiede sehr deutlich. Wie auch der Original-Titel L’action politique des philosophes besagt, geht es in Kojèves Beitrag um die Beziehung zwischen politischem Handeln und dem philosophischen Leben, vor allem um die Frage, inwiefern der Philosoph etwas anderes tun könne als über politische Ideale zu sprechen und ob er den ideellen Bereich verlassen wolle, um der politischen Führung realistische Ratschläge zu geben. Dabei geht Kojève, wie auch Strauss, zunächst von einer radikalen Gegensätzlichkeit zwischen Politik und Philosophie aus. Während sich die politische Führung an der konkreten Realität orientiere, strebe der Philosoph nach Weisheit und präferiere dabei ein kontemplatives Leben in gesellschaftlicher Abgeschiedenheit.

87

Kojève (2000), S. 270. Strauss/Kojève (2000), S. 196. 89 Brief vom 28. Mai 1957 in: ebd., S. 277. Strauss kritisiert Kojève in dem Brief vom 11. September 1957 darüber hinaus, dass er in seiner Platon-Lesart den Ideen und Konzepten den Vorrang gebe, anstatt auf die platonischen Überlegungen zu der menschlichen Seele zu achten, die nach Vervollkommnung strebt. 90 Dieser Aufsatz erschien ursprünglich 1950 unter dem Titel L’action politique des philosophes in: Kojève 1950. 1954 erschien der französische Sammelband De la tyrannie dieses schriftlichen Dialoges, um Strauss’ Restatement erweitert. Die Zitation bezieht sich auf die bearbeitete englische Fassung des Sammelbandes On Tyranny von 1990, die ebenfalls die briefliche Korrespondenz von Kojève und Strauss aus den Jahren 1932–1965 beinhaltet. 88

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Kojèves Ansatz unterscheidet sich jedoch grundlegend von Strauss in dem Punkt, dass auch der Philosoph nach Anerkennung verlange. Der Philosoph verlasse daher seine Eremitage und bemühe sich um Verbreitung seiner gewonnenen Weisheit, um einerseits Anerkennung für seine Erkenntnis als auch andererseits Selbstvergewisserung zu erlangen, wirklich etwas Wahres erkannt zu haben. Die Gesellschaft stelle daher den Prüfstein für die philosophische Erkenntnis dar. Ein Mensch, der eben kein weiser und selbst-genügsamer Gott ist, bedürfe der Vergewisserung, mit seinem Denken richtig zu liegen und nicht verrückt zu sein. So strebe der Philosoph nicht nur nach der Wahrheit, sondern auch nach Anerkennung durch kompetente andere. In der Tat ist für Kojève der Erfolg, d.h. die gegenseitige Annahme und Bestätigung von Erkenntnissen, das einzige objektive Kriterium für die Wahrheit einer philosophischen Lehre.91 Da es an legitimer subjektiver Gewissheit mangele, könne man demnach kein Philosoph ohne gesellschaftliche Bestätigung sein. Wie bei Strauss gibt es daher auch bei Kojève einen engen Zusammenhang zwischen Philosophie und Pädagogik, da die Anerkennung der geistigen Errungenschaften auf angemessenem, ebenbürtigem Niveau erfolgen müsse. Es bedarf daher philosophischer Erziehung, die aus Gründen der Vorurteilshaftigkeit und der Erstarrung nicht auf die eigene kleine elitäre „Klostergemeinschaft“ (cloister) beschränkt sein dürfe. Es müsse vielmehr eine breit angelegte Erziehung einer großen Menge veranlasst werden, um die Anzahl derer zu erhöhen, die der Anerkennung würdig sind. In diesem Punkt, der dem Dilemma des nicht anerkannten Herren entspricht, treffen sich politischer Machthaber und Philosoph: „[B]oth seek recognition, and both act with a view to deserving it [. . .].“ 92

Politiker und Philosoph gehe es um eine politische bzw. philosophische Erziehung der Gesellschaft. Dabei besteht die Gefahr, dass sich beide in die Quere kommen könnten – wie es im Fall der Anklage Sokrates’, die Jugend verführt zu haben, traurige Berühmtheit erlangte.93 Trotz des gemeinsamen Zieles der gesellschaftlichen Erziehung unterscheiden sich Politik und Philosophie gänzlich im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt. Da die politische Führung auf konkrete Situationen unter Zeitdruck reagieren und handeln muss, bleibt ihr nicht die Zeit, alle Optionen im dialektischen Prüfverfahren abzuwägen.94 91

Strauss/Kojève (2000), S. 163. Ebd., S. 156. 93 Kojève äußert sich dezidiert, dass man keinesfalls Sokrates zuschreiben dürfe, sein Wissen einzig und allein aus Anerkennungsmotiven öffentlich verbreitet zu haben. Dennoch habe er sein Wissen öffentlich prüfen müssen, da er eben kein Gott gewesen sei und sich auch nicht auf göttliche Eingebung hätte berufen können. Als Philosoph benötige er die Verifizierung seiner Erkenntnisse sowohl durch die Gesellschaft als auch durch die Geschichte (vgl. Strauss/Kojève (2000), S. 161). 94 Vgl. ebd., S. 150. 92

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Kojève und Strauss stellen sich daher die Frage, inwiefern überhaupt Politik und Philosophie in Form von politischer Beratung kooperieren können, wenn sich deren Herangehensweisen im Hinblick auf die Zeit gänzlich unterscheiden. Da sich der Philosoph der Grenzen seines Wissens bewusst ist, zögere er, Ratschläge mit einer theoretischen Ungewissheit oder einem moralischen Konflikt zu geben. Doch erkenne der Philosoph den tragischen Konflikt zwischen kontemplativem Streben nach Wissen und politischem Handeln, der in der Unmöglichkeit besteht, politisch zu handeln, ohne die Philosophie aufzugeben.95 Auch wenn Kojève diese Unvereinbarkeit einsieht, trennt er diese beiden gegensätzlichen Bereiche nicht so rigoros streng wie Strauss. Kojève behält 1950 seinen pragmatischen „heroischen Hegelianismus“ bei und hält eine gegenseitige Einflussnahme von Philosophie und Politik prinzipiell für möglich, weswegen der Philosoph keinesfalls das politische, beratende Handeln aufgeben dürfe.96 Kojève möchte im Hinblick auf das geschichtsphilosophische Ende eine philosophische politische Beratung rechtfertigen. Für ihn sei die philosophische Suche nach offenen Fragen unbefriedigend – vielmehr müsse ein Philosoph danach streben, diese zu lösen, indem er „jenseits der Diskussion“ gehe und die hegelsche Methode der historischen Verifikation anwende, um unanfechtbare Resultate zu erhalten.97 Die rein verbale philosophische Diskussion ist für Kojève kein ausreichendes Kriterium für die Wahrheit: „[I]f one leaves it at talking, one will never succeed in definitively ,eliminating‘ the contradictor or, consequently, the contradiction itself; for to refute someone is not necessarily to convince him.“ 98

Widersprüche können nur auf der historischen Ebene des sozialen Lebens ausgefochten werden, wo mittels Akten der Arbeit oder des Kampfes die Wahrheit durch den historischen Prozess hervortrete. „But, even without wishing to assume, with the author of the Phenomenology of Mind, that history is already virtually ,completed‘ in our time, one can assert that if the ,solution‘ to a problem has, in fact, been historically or socially ,valid‘ throughout the entire period that has elapsed since, then, short of (historical) proof to the contrary, one has the right to regard it as philosophically ,valid‘, in spite of the philosopher’s ongoing ,discussion‘ of the problem.“ 99

Die Geschichte beende demnach die philosophische Diskussion von Problemen, die gewissermaßen durch die philosophische Idee des universellen Staates bereits gelöst sind. Sie bietet für Kojève demnach ein „jenseits“ der menschlichen Endlichkeit an – und demnach auch eine Lösung von Problemen, die in 95 96 97 98 99

Ebd., S. 166. So sieht es auch Henk de Berg in FN 7 in: de Berg (2007), S. 156. Strauss/Kojève (2000), S. 167. Ebd., S. 167 f. Ebd., S. 168.

III. Hermeneutische Politik

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der kurzen Lebensdauer oder zeitlichen Gegebenheit nicht ausreichend reflektiert werden können. Da sich konkrete Politik wiederum aus philosophischen Zielen ableite, dürfe der Philosoph die Politik nicht außer Acht lassen, da sie die philosophische Wahrheit konkret umsetzen könne. „The tyrant who here initiates the real political movement toward homogenity consciously followed the teaching of the intellectual who deliberately transformed the idea of the philosopher so that it might cease to a ,utopian‘ ideal [. . .] and become, instead, a political theory in terms of which one might give tyrants concrete advice, advice which they could follow. Thus, while recognizing that the tyrant has ,falsified‘ (verkehrt) the philosophical idea, we know that he has done so only in order to ,transpose‘ (verkehren) it from the realm of abstraction into that of reality.“ 100

Der politische Machthaber „verkehrt“ die philosophische Lehre in politische Praxis. Geschichte stellt sich daher aus dieser Perspektive als eine kontinuierliche Abfolge evolutionärer Philosophie dar. Denn erst aus der philosophischen Reflexion wird sich der Mensch der jeweils gegenwärtigen politischen Situation bewusst, die ihm eine Unterscheidung zwischen der politischen Realität und dem Ideal ermöglicht. Belässt man es jedoch bloß bei der philosophischen Reflexion der aktuellen Situation, komme man nie über diese oder die entsprechende philosophische Idee hinaus. Für das „jenseits“ sowie für den philosophischen Fortschritt zu absolutem Wissen müsse die politische Gegenwart durch Arbeit oder Kampf negiert werden, so dass eine neue geschichtliche politische Realität entstehen könne, die dann im Rahmen der Philosophie verstanden werden könne.101 „Only by proceeding in this fashion will philosophy make its way toward absolute Knowledge or Wisdom, which it will be in a position to attain only once all possible active (political) negations have been accomplished.“ 102

Demnach hängt der gesellschaftliche und philosophische Fortschritt einerseits davon ab, dass Philosophen Politiker beraten, und andererseits davon, dass Staatsmänner philosophische Ratschläge durch ihre politische Macht verwirklichen.103 Für Kojève arbeiten Philosophen und Politiker demnach zusammen und wechselwirkend auf das Ende der Geschichte hin. Allein von diesem aus müsse alles politische Handeln bewertet werden. 100 Strauss/Kojève (2000), S. 173. Andererseits brauchen Philosophen auch die Politik, da diese die Ausgangslagen der geschichtlichen Realität herbeiführen, von denen sie zu denken anfangen. 101 Ebd., S. 174. 102 Ebd. 103 Der politische Machthaber handle somit vernünftig innerhalb der historischen Realität. Es wäre demnach unvernünftig für den Staatsmann, philosophische Ratschläge zu ignorieren. Ebenso unvernünftig wäre es für den Philosophen, den Politiker bloß aus dem Kontext der gerade gegebenen politischen Situation heraus zu kritisieren oder zu rechtfertigen (vgl. ebd., S. 176). Die philosophische Lehre könne jedoch niemals direkt angewendet werden, da sie per Definition unanwendbar sei, so dass es „intellektueller Mediatoren“ bedürfe, die die Lehre mit der gegebenen Realität konfrontieren und eine Brücke entwickeln.

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C. „Von der Geschichte zur Natur‘‘

„In general terms, it is history itself that attends to ,judging‘ (by ,achievement‘ or ,success‘) the deeds of statesmen or tyrants, which they perform (consciously or not) as a function of the ideas of philosophers, adapted for practical purposes by intellectuals.“ 104

Daher behält Kojèves Position nach 1950 noch den Charakter von „politischer Propaganda“, in der philosophische Ideen die fortschreitende Geschichte durch politische Umwälzungen unterstützen. Philosophie und Politik sind daher durch das immer noch optimistisch aufgefasste Ende der Geschichte verbunden. Wie kommt es dann jedoch zu Kojèves Selbsteinschätzung, dass er 1948 erkannt habe, dass das Ende der Geschichte bereits gegenwärtig sei, und er einen kritischen, wenn nicht gar kulturpessimistischen Blick auf die Folgen für die Lebensbedingungen wirft, wenn er 1950 seinen „heroischen Hegelianismus“ durch die Vereinbarkeit von Politik und Philosophie beibehält und einfordert? Am 22. August 1948 schreibt Leo Strauss von New York aus in einem langen Brief an Kojève, dass er die Introduction gelesen habe. Sie sei ein „außergewöhnliches Buch“, obwohl es textinterne Inkonsistenzen aufweise. So werde das „Reich der Freiheit“ zwar durch Krieger und Arbeiter (warrior workers) hervorgebracht, obwohl es im strengen Sinne eigentlich keine Kriege und kaum noch Arbeit geben werde.105 Das Hauptproblem, auf das Strauss hinauswill, besteht jedoch darin, in welchem qualitativen Grad die Tätigkeiten der Menschen im Posthistoire anerkannt werden könnten. Wenn es nämlich im Posthistoire keine richtige Arbeit mehr gibt, da die Natur bezwungen sei und die Dialektik unter den Menschen nicht mehr existiere, würden alle Tätigkeiten des Alltags banal werden.106 Denn die rein formale, universale Anerkennung des Staates würde nicht genügen, den Menschen völlig zu befriedigen, da er eine direkte Anerkennung der anderen verlange. Mit nietzscheanischem Einschlag wendet Strauss ein, dass der Mensch nicht nur als formal gleich, sondern in seiner Überlegenheit nicht nur anerkannt, sondern bewundert werden möchte. „What makes human beings into human beings is the striving for recognition. Hence human beings are fully satisfied when and only when they are universally recognized. I see an ambiguity here: a) they should be satisfied; dissatisfaction with the universal recognition is irrational; b) they are satisfied. Regarding a) human beings 104

Ebd. „The universal and homogeneous state is ,good‘ only because it is the last (because neither war not revolution are conceivable in it: – mere ,dissatisfaction‘ is not enough, it also takes weapons!)“ (ebd., S. 255; Original auf Deutsch). 106 Henk de Berg sieht ein weiteres Problem, nämlich, dass im posthistorischen Staat nur das Staatsoberhaupt wirklich anerkannt werden könne, was der Kernthese widerspreche, dass alle Menschen vollständig anerkannt seien (de Berg (2007), S. 170 f.). Meines Erachtens liegt das Grundproblem für Strauss aber nicht auf dem Fokus des Staatsmannes, sondern auf dem der Philosophie. 105

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are irrational; they manage to destroy the simple rational communal life [. . .]. Regarding b) human beings are not satisfied; they want to be happy; their happiness is not identical with their being recognized.“ 107

Strauss unterscheidet hier zwischen der rein formalen Anerkennung, die zur Zufriedenheit führt, und dem Glück, das nicht mit dieser verwechselt werden dürfe. Da der Mensch bemüht sei, über sich selbst und über andere hinauszuwachsen, möchte er als „besser“ anerkannt werden und nicht in der Mittelmäßigkeit verharren.108 Bewunderung (admiration) ist etwas gänzlich anderes als prinzipielle Anerkennung der Gleichheit, da sie den anderen als den Besseren anerkennt und dafür bewundert. „The recognition for which great men of action strive, is admiration. That recognition is not necessarily satisfied by the End-State.“ 109

Wahres Glück basiert für Strauss auf der antiken Auffassung, seine menschliche Bestimmung, d.h. sein geistiges Potential, zu verwirklichen. Es stellt sich daher die Frage, wie der posthistorische Mensch mit der formal-rechtlichen Gleichheit und der Alltäglichkeit ohne bedeutungsvolles Handeln zurechtkomme und trotzdem seinen menschlichen Charakter bewahren könne. Gerade die „Besten“ würden sich mit Mittelmäßigkeit nicht zufriedengeben. Kojève habe es verpasst, Weisheit im Stadium der Endgeschichte mitzudenken. Sein Konzept von Weisheit könne somit nicht universell sein, da allein Philosophen nach Weisheit strebten und sich mit nichts anderem zufriedengäben. Der Mensch strebe nicht nach formaler Anerkennung, sondern nach dem menschlich höchsten Gut, der Weisheit. Diese verschließe sich jedoch von Natur aus der Universalisierung und ein Streben nach ihr sei nur wenigen möglich, während die meisten in der Meinung verhaftet bleiben. Eine massendemokratische Befriedigung durch Erlangung des höchsten Gutes ist für Strauss schier unmöglich. Dieser Umstand ist jedoch für Strauss naturbedingt. Um das philosophische Leben als ein Streben nach Weisheit zu führen, bedürfe es keiner geschichtlichen Implikationen, noch könne geschichtlicher Fortschritt den Menschen zu Weisheit führen: Philosophie ist mit allgemeiner Gleichheit nicht vereinbar. „Hence it is not recognition but only wisdom that can truly satisfy a human being [. . .]. Hence the end state owes its privilege to wisdom, to the rule of wisdom, to the popularization of wisdom [. . .], and not to its universality and homogeneity as such. But if wisdom does not become common property, the mass remains in the thrall of 107 Strauss/Kojève (2000), S. 237. Strauss weist dabei auf einen Vergleich von S. 334 mit S. 435 in der Introduction hin. Auf Seite 334 besagt Kojève, dass das philosophische Selbstbewusstsein des Citoyen im Endstaat die kulturelle und politisch real gewordene Totalität offenbare. In diesem Moment werde der Philosoph zum Weisen und die Philosophie zur Weisheit. In der zu vergleichenden Fußnote 1 spricht er hingegen vom Verschwinden der Philosophie, die für Strauss das gute und glückliche Leben ausmacht. 108 Brief vom 22. August 1948 in: Strauss/Kojève (2000), S. 237. 109 Ebd., S. 238.

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religion, that is to say of an essentially particular and particularizing power [. . .], which means that the decline and fall of the universal-homogenous state is unavoidable.“ 110

Gerade Strauss erblickt in dem rein rationalen Geschichtsverlauf ein tragisches Moment.111 Es würde sich am Ende der Geschichte auf tragische Weise herausstellen, dass das Verhältnis zwischen Politik und Philosophie nicht gelöst sei. Bei diesem Verhältnis geht es Strauss um die Verteilung von Wissen in der Gesellschaft.112 Während in seiner „sociology of knowledge“ Philosophie weiterhin ihren elitären Raum in der „Klassengemeinschaft der Philosophen“ über die Zeiten hinweg hat, richtet sich Kojève in einem Brief vom 15. Mai 1958 dezidiert gegen die klösterliche weltfremde Abgeschlossenheit der „Akademie“. Sein „heroischer Hegelianismus“ sieht immer noch die Möglichkeit, Wissen zu universalisieren, indem Wissen mit real-politischer Wirklichkeit verschränkt werde. Die Akademie müsse daher in eine „Polis“ transformiert werden.113 Für Strauss bleibt es auch in der Neuformulierung im Restatement unmöglich, dass Menschen jemals wirklich vollkommen befriedigt sein werden, da nicht alle absolutes Wissen erreichen können.114 Daraus folgt, dass für fast alle menschlichen Wesen der Endstaat identisch mit dem Verlust ihrer Menschlichkeit wäre und sie daher nicht glücklich, sondern nur formal zufrieden sein können. Der Endstaat, den Kojève beschreibe, könne den Menschen nicht rationelle oder wirkliche Befriedigung geben. Und dann folgt die wegweisende Referenz: „For the sake of simplicity I refer today to Nietzsche’s ,last man‘“.115

Ein zusätzlicher Einwand ist, dass für Strauss säkulare Geschichtsphilosophie eines natürlichen Kerns bedarf. Kojèves Ansatz würde es nicht erlauben, geschichtliche Ereignisse oder Handlungen zu bewerten, ohne einen Bezug auf die menschliche Natur zu nehmen.116 Darüber hinaus würde sich ein Historismus ohne naturphilosophische Basis in Relativismus verlieren. Ohne naturphilosophische Basis sei Geschichte kontingent oder auch wiederholbar. Eine Theorie der Geschichte, die auf menschlicher Begierde fußt, sei letztendlich eine Philosophie der menschlichen Natur und habe diese zur Basis. Gerade die „Besten“ würden sich mit Mittelmäßigkeit nicht zufriedengeben. 110

Strauss/Kojève (2000), S. 238. Restatement in: ebd., S. 208. 112 Strauss bezeichnet diesen Zusammenhang als „sociology of knowledge“ in: Strauss (1988d), S. 7. 113 Brief vom 15. Mai 1958 in: Strauss/Kojève (2000), S. 302. 114 Ebd., S. 177 ff. 115 Brief von Strauss an Kojève vom 22. August 1948 in: ebd., S. 239. Strauss verweist darauf auch erneut im Restatement in: ebd., S. 208 wie auch in: Strauss (1989g), S. 67. 116 Brief von Strauss an Kojève vom 22. August 1948 in: Strauss/Kojève (2000), S. 237. 111

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Strauss stellt Kojèves geschichtliches Telos in Frage, vor allem, warum die Geschichte nicht Kataklysmen unterliegen sollte, zu denen partielle oder totale Wiederholungen des geschichtlichen Verlaufs gehören.117 Einzig ein teleologisches Konzept der Natur könne eine Geschichtsphilosophie begründen, weswegen für Strauss eine Philosophie der Natur unabdingbar ist. Kojève lehnt jedoch eine transhistorisch aufgefasste menschliche Natur ab, die das Potential zur Verwirklichung von Natur aus gegeben in sich trägt. Dieses „natürliche“ Verständnis der menschlichen Seele widerspreche einem geschichtlichen Fortschritt, der sich am moralischen „Sollen“ orientiere, nach der sich der Mensch als ein geschichtlich Werdender hin entwickelt: „If there is something like ,human nature‘, then you are surely right in everything. But to deduce from premises is not the same as to prove these premises. [. . .] The task of philosophy is to resolve the fundamental question regarding ,human nature‘. And in that connection the question arises whether there is not a contradiction between speaking about ,ethics‘ and ,ought‘ on the one hand, and about conforming into a ,given‘ or ,innate‘ human nature on the other. For animals, which unquestionably have such a nature, are not morally ,good‘ or ,evil‘, but at most healthy or sick, and wild and trained.“ 118

Rosens philosophische Wahl zwischen „Hegel“ und „Platon“ bezieht sich somit nicht nur auf ein unterschiedliches Verständnis von Philosophie, sondern auch von der menschlichen Natur. Während sich der Kojève-Hegelianische Mensch durch geschichtlichen Fortschritt verwirklicht, ist das Potential zur Verwirklichung für den Platoniker Strauss gemäß den naturrechtlichen Bestimmungen „always a given“. Strauss kritisiert daher, dass sich Kojève viel zu schnell von Hegels Naturphilosophie verabschiedet habe. In seiner Freiheitskonzeption vergesse er, dass nur der Weise wirklich frei sein könne, da er selbstgenügsam und nicht auf andere angewiesen sei. Die anthropologische Rückführung auf das Streben nach Anerkennung sei nur dann überzeugend, wenn das Selbst-Bewusstsein aus dem philosophisch-erotischen Verlangen des zoon logon echon abgeleitet werde. Ganz anders ist die Herangehensweise von Francis Fukuyama in seinem Werk The End of History and the Last Man, dessen Leistung als eine Erweiterung der Kojève’schen Geschichtsphilosophie um die naturrechtlichen Strauss’schen Einwände betrachtet werden kann. Der Titel der deutschen Übersetzung lässt den Aspekt des letzten Menschen jedoch völlig außen vor. Dabei zeichnet sich Fukuyamas Integration der menschlichen Seele in das Konzept der „kojève-hegel117

Ebd. Kojèves Brief vom 29. Oktober 1953 in: Strauss/Kojève (2000), S. 262; Hervorhebungen im Original. In diesem Jahr erschien auch Leo Strauss’ Werk Natural Right and History, das sich genau mit der naturrechtlichen Bestimmung des Menschen zu seiner Vervollkommnung auseinandersetzt und diese Position von geschichtlichem Fortschritt abgrenzt. Hegel erscheint in diesem Werk nur am äußersten Rand. 118

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schen“ Fortschrittsgeschichte als die von Strauss geforderte notwendige und grundlegende Berücksichtigung einer Naturphilosophie aus. Das Buch geht aus dem Aufsatz The End of History? 119 von 1989 hervor und wurde sowohl um eine Analyse der gegenwärtigen Weltgeschichte als auch um die eben erwähnte Naturphilosophie erweitert. Das Fragezeichen im Titel wurde in dem drei Jahre später veröffentlichtem Werk ausgelassen, da für Fukuyama die Geschichte auf ihr Ende zusteuere, das er in der weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie sieht. Die Leistung Fukuyamas ist es dabei, dass er dem Geschichtsverlauf einen anthropologischen Kern gibt, der das Streben nach Anerkennung auf die Basis der naturgegebenen menschlichen Seele stellt. Er übernimmt dabei das Konzept der dreiteiligen menschlichen Seele aus Platons Politeia und überträgt dadurch das geschichtliche Prinzip Kojèves, des „Strebens nach Anerkennung“, in das platonische Verständnis des thymotischen Seelenteils. Platons thymos, der in der Politeia die Wächterklasse charakterisiert,120 beschreibe neben den Wächtertugenden Stolz, Wut und Zorn auch ein Selbstwert- und Selbstachtungsgefühl. Dieses differenziert Fukuyama in einen rationalen und irrationalen Teil. Während die rationale isothymia das thymotische Bedürfnis beschreibt, als formal „Gleicher unter Gleichen“ akzeptiert und anerkannt zu werden, ist die irrationale megalothymia durch Ruhmsucht und Überlegenheit charakterisiert. Mit dem Konzept der megalothymia gelingt es Fukuyama, die von Strauss erwähnte Nietzscheanische Überlegung in Kojèves Geschichtsphilosophie zu integrieren. Dabei beruft er sich, ohne es explizit zu nennen, auf Strauss’ Vorstellung der Adelstugend aus Hobbes’ Politische Wissenschaft,121 die Hobbes mit seinem Bedürfnis nach Sicherheit und Frieden abschaffen möchte. Mit diesen zwei Formen des thymos sieht Fukuyama zwei Möglichkeiten am Ende der Geschichte. Entweder könne sich die Menschheit zu „allseits abgesicherten, egozentrischen letzten Menschen entwickeln, denen jedes thymotische Streben nach höheren Zielen fremd ist, weil sie nur noch um ihre private Bequemlichkeit bemüht sind“.122 Es könne andererseits aber auch ein Rückfall in den Zustand der ersten Menschen erfolgen. Fukuyama lässt das Ende der Geschichte offen und determiniert es nicht in der liberalen Demokratie, sondern weist auf die Gefahren hin, die partikulare Irrationalismen durch die Macht der megalothymia hervorrufen könnten, gerade weil die universale, rein formale Anerkennung keine universale, rein rationale Befriedigung bieten könne. Als Teil 119

Fukuyama (1989). Vgl. hierfür vor allem die Textstellen der Politeia 373e–376c. 121 In Hobbes’ Political Science and its Genesis gibt es sogar einen Verweis auf Kojève, wie Strauss Letzterem auch in dem Brief vom 9. Mai 1935 berichtet (vgl. Strauss/ Kojève (2000), S. 230). 122 Fukuyama (1992), S. 433. 120

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der menschlichen Natur müsse die megalothymia einen regelmäßigen und konstruktiven Ausdruck finden, wofür Fukuyama gezähmte, irrationale Formen vorschlägt. Grundsätzlich stellt die liberale Demokratie für Fukuyama die bestmögliche Lösung für das menschliche Dilemma dar, dass die irrationalen thymotischen Züge durch die Vernunft beherrscht werden müssen und gleichzeitig formale, isothymotische Züge garantiert werden können. Als das gegenwärtige Problem analysiert er, dass man über die Gefährdung der liberalen Demokratie nicht mehr wisse, was auf dem Spiel steht, da die (seit Hobbes als rein negativ erachtete) menschliche Natur historisch für überwunden angesehen werde. Das moderne Denken stecke in einer „relativistischen Sackgasse“ und erkenne nicht mehr, dass die liberale Demokratie allen drei Seelenteilen den größten Raum gibt. Es gehe um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, das immer wieder neu interpretiert und angegangen werden müsse. Eine politische Hermeneutik als pragmatische hermeneutische Politik im Sinne Fukuyamas muss sich daher um eine Umsetzung der idealen Verhältnisse kümmern und dabei die Texte der „great minds“ zur Orientierung heranziehen, die sich damit bereits auseinandergesetzt haben. Nachdem die folgenden Briefwechsel auf den wegweisenden Brief von 1948 hauptsächlich Strauss’ Xenophon-Studie betreffen, wendet sich Kojève erst zwei Jahre später in einem Brief vom 19. September 1950123 den Konsequenzen für den Menschen im Endstaat zu. Als Ausweg aus der Zwecklosigkeit der posthistorischen Aktivitäten setzt er auf die Möglichkeit der Philosophie, Weisheit zu erlangen und sich selbst zu vergöttlichen. Problematisch sei dabei, dass Hegel bereits absolutes Wissen erlangt habe und so niemand anderes mehr etwas gänzlich Neues sagen könne. Zwar könne man danach streben, das Hegel’sche Wissen nachzuvollziehen, ohne sich jedoch dafür rühmen zu können, vollends eigene Gedanken gedacht zu haben. Es kann daher also im Posthistoire keine Philosophen mehr geben, da der Philosoph im Posthistoire lediglich in „emotionsloser Kontemplation diagnostiziert, was der Fall ist“.124 Es könne kein gänzlich neues philosophisches System mehr entwickelt werden, weswegen es auch keine intellektuellen Überraschungen mehr gebe. Da der philosophische Geist den geschichtlichen Ereignissen immer hinterherhinkt, können diese nur noch registriert und in das bestehende System integriert werden. Philosophen können demnach danach streben, das hegelsche System nachzuvollziehen, und das Ende der Geschichte anhand real-politischer Ereignisse konstatieren. In diesem Weg allein bestünde noch die Möglichkeit, sich nach dem philosophischen Ideal selbst vergöttlichen zu können – eine Option, die Kojève bereits in der Introduction be123 Brief im Original auf Deutsch. In der Zwischenzeit fand schon die Debatte um die Rezension um On Tyranny und das Restatement statt. 124 Meyer (1993), S. 13.

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schreibt.125 Ansonsten bleibe lediglich die Aufgabe, post-historische Automaten zu erziehen. „Besides, ,not human‘ can mean ,animal‘ (or, better- automaton) as well as ,God‘. In the final state there naturally are no more ,human beings‘ in our sense of an historical human being. The ,healthy‘ automata are ,satisfied‘ (sports, art, eroticism, etc.) and the ,sick‘ ones get locked up. As for those who are not satisfied with their ,purposeless activity‘ (art, etc.), they are the philosophers (who can attain wisdom if they ,contemplate‘ enough). By doing so they become ,gods‘. The tyrant becomes an administrator, a cog in the ,machine‘ fashioned by automata for automata.“ 126

Zwar können die posthistorischen Menschen, die Kojève hier als „gesunde Automaten“ bezeichnet, Befriedigung in spielerischen oder erotischen Aktivitäten erlangen, während die Philosophen sich nun gerade nicht mit einer solchen Zweckentbundenheit zufriedengeben können.127 Nachdem Alexandre Kojève in seinen folgenden Briefen nicht auf die 1948 aufgeworfene Frage bezüglich der Qualität des Lebens der Menschen im hegelschen Endstaat geantwortet hat, fordert Strauss sie in einem Brief vom 11. September 1957 erneut ein: „The root of the question is I suppose the same as it always was, that you are convinced of the truth of Hegel (Marx) and I am not. You have never given me an answer to my questions: a) was Nietzsche not right in describing the Hegelian-Marxian end as ,the last man‘? and b) what would you put into the place of Hegel’s philosophy of nature?“ 128

Da Kojève auf Strauss’ Frage in keinem seiner noch erhaltenen Briefe geantwortet hat, stellt die zweite Fußnote eine Antwort dar, auf die Strauss mit Spannung wartet. „I am very anxious to see the second edition of your book especially the supplement on Japan.“ 129

In dieser zweiten Auflage geht mit seiner Diagnose des bereits erreichten Endes der Geschichte eine Neubewertung des Endstadiums einher. Um 1948 habe sich, laut Selbstaussage, Kojèves Meinung grundsätzlich geändert, ob das Ende der Geschichte bereits eingetreten sei oder noch erkämpft werden müsse. Gegen 125 Anmerkung 32 in: Kojève (2005), S. 322. Wenn der philosophierende Weise die für Hegel immer gleiche Wahrheit besitzt, ist er zwar nicht mit gleichem Recht menschlich und auch nicht frei wie der geschichtliche Mensch, da er nichts negiert, sondern eher ein sterblicher Gott. 126 Strauss/Kojève (2000), S. 255. Man beachte das unscheinbare Wörtchen „naturally“, das als ein Verweis auf eine menschliche Natur gedeutet werden kann, die sich Kojève nicht eingesteht. Die Automatengesellschaft ist für ihn eine historische gewordene. 127 Ebd. Diese Ambivalenz zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen sieht auch Rosen in: Rosen (1987), S. 103. 128 Brief vom 11. September 1957 in: ebd., S. 292. 129 Strauss an Kojève 4. Oktober 1962 in: ebd., S. 310.

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die pragmatische Position stellt Kojève nun fest, dass Hegel recht gehabt habe und sich seit 1806 grundsätzlich nichts Wesentliches ereignet habe, wodurch eine „heroisch hegelianische“ Einstellung nicht länger notwendig sei. Nach Hegels Tod habe sich der Hegelianismus zwar in einen Links- und Rechts-Hegelianismus gespalten, jedoch sei dies alles, was sich seitdem verändert habe. Alle weiteren Ereignisse seien bloß Manifestationen der Realisierung des universalen Weltstaates, das „Nachrücken der Provinzen“ 130, was sich ebenfalls in der Angleichung der politischen Systeme im Osten und Westen zeige. Nur die Geschichte des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit ist für Kojève am Ende, so dass nun die Frage nach dem Menschen in den Mittelpunkt rückt. Das Posthistoire trägt nicht mehr die idealisierten Züge des marx’schen „Reichs der Freiheit“, sondern die „post-historischen Tiere“ leben in dem durch Sicherheit und Übersättigung gekennzeichneten „American Way of Life“, in dem der Mensch als bloße Konsummaschine existiert. Während Kojève den universalen Weltstaat vor 1948 noch als erstrebenswert erachtete, betrachtet er ihn in seiner radikalsten Wertung, in der ergänzten Fußnote zur 1962 erschienenen Auflage, in der er das Posthistoire als sinn- und bedeutungsloses Leben beschreibt. Kojève wandelt sich vom hegelianisch-marxistischen Fortschrittsoptimismus zum nietzscheanischen Kulturpessimismus. Kojèves Pessimismus resultiert daraus, dass die „großen Taten“, die actions négatrices du donné, nur geschichtsmäßigen Subjekten möglich gewesen seien und nicht den posthistorischen Menschen, denen er quasi „Negationsvergessenheit“ 131 vorwirft. An der Ausbreitung der mondialen Konsum- und Massengesellschaft, in der alles zur konsumierbaren und unpolitischen Ware wird, scheint zunächst kein Weg vorbeizuführen.132 Die Wende scheint daher zu sein: Statt politisch etwas ändern zu wollen und mit einer Hegel-Interpretation aktiv eine Ausrichtung zu unterstützen, geht es 130 So Kojève in einem Interview mit Gilles Lapouge 1968; dt. in: Kojève/Lapouge (1981), S. 123. 131 de Berg (2007), S. 194. 132 Vielmehr stärkt für Norbert Bolz Konsum das „Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatistischen Religionen“ (vgl. Bolz (2002), S. 16). Der späte Kojève erachte, so Rosen, die Aufklärung letztendlich als Fehlentwicklung, da sie den Menschen ihre Menschlichkeit abspricht. Rosen weist auf den Widerspruch im dialektischen Denken der Aufklärung hin, die er mit Kojèves Formel „Rameau’s nephew universalized – that is the Aufklärung“ (Rosen (1987), S. 95), er zitiert dabei Kojève (2000), S. 135), zusammenfasst. Der Widerspruch besteht darin, dass Rameaus Neffe, der Held von Diderots gleichnamiger Novelle, eine Parallele des radikalen Individualismus ausdrückt. Das Individuum ist einzigartig in der Welt und hat doch gleichzeitig einen universell gültig zugesprochenen Wert (Kojève (2000), S. 146). Wenn dieser jedoch als universal betrachtet werden soll, bedeutet der radikale Individualismus eine Trennung von universellem Wissen. Das historische Individuum wird daher durch die Aufklärung statt eine universelle, synthetisierte Form einzugehen, durch Widersprüche zerrissen.

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nach 1948 darum, die eigene Haltung zu ändern. Kojèves findet nach seiner Japanreise von 1959 den einzigen Ausweg aus dem animalischen Posthistoire ebenfalls in der Überlegung im letzten Teil der bereits zitierten Fußnote. Es sei der japanische Snobismus, der dem amerikanischen Weg diametral gegenüberstehe, und sich an „total formalisierten Werten [. . .], die bar irgendeines ,menschlichen‘ Inhalts im ,historischen‘ Sinne sind“, orientiert.133 Der japanische Snobismus ist Kojèves Antwort auf Strauss’ Frage nach dem letzten Menschen. Der Snob setzt sich als reine Form, statt eines transzendenten Inhaltes, sich selbst als auch anderen entgegen. Ihnen bleibt allein das rein formale „als ob“-Handeln. Diese Auffassung scheint Kojèves späten philosophischen Absichten zu widersprechen, das philosophiegeschichtlich umfangreiche, mehrbändige Werk Essai d’une histoire raisonnée de la philosophie païenne134 schreiben zu wollen. Wenn am Ende der Geschichte alles nur noch reine Form ist, warum befasst er sich so akribisch mit Philosophiegeschichte? Rosen sieht dafür folgende Erklärung: Wenn der dialektische Prozess der Geschichtsphilosophie fortschreitet, indem jede erreichte Stufe erneut negiert wird, stellt sich die Frage, ob dieser Prozess überhaupt endlich ist. Die Frage ist letztendlich, ob das Ende der Geschichte wirklich erreicht ist und wenn ja, wie sich dann seine Vollständigkeit beweisen lässt. Die Frage, ob die Geschichte wirklich an ihrem Ende angekommen ist, sei, so Rosen, daher von existenzieller Bedeutung für Kojève. Wäre sie es nicht, würde sich Hegels System auf bloß eine andere unter vielen historischen philosophischen Ansichten reduzieren. Seine Philosophie wäre dann offen für Aufhebungen.135 Kojève erhoffe sich daher die Möglichkeit, selbst ein Weiser zu werden, indem er noch etwas sagen könne, was nicht bereits von Hegel geäußert wurde. Auch Michael Roth sieht Kojèves Spätwerk als ein alternatives Programm, im ideengeschichtlichen Verlauf nach möglichen Aufhebungen und Differenzen zu suchen, um die Geschichte am Laufen zu halten und Philosophie weiterhin zu ermöglichen. „Thus, the commitment to the possibilities of self-conciousness reveals a commitment to the possibilities of history.“ 136

133

FN 2 in: König (1980), S. 287 ff. Paris (Gallimard), 1. Band: 1966, 2. Band: 1972, 3. Band: 1973. Allein der erste Band beinhaltet 360 Seiten. 135 Rosen (1987), S. 98. Rosen hebt hervor, dass es der philosophierende Mensch und nicht etwa der passive, notwendige Verlauf der Geschichte ist, der Negationen aus freiem Willen hervorbringt, die eine Vorgängerposition durch Negation ablösen. So ist es für Rosen auch „eine freie, revolutionäre Handlung effektiver Negativität, wenn zweideutigen Texten ihre ,korrekte‘ Lesart entgegengehalten wird“ (ebd., S. 100). Wenn notwendig, müsse Hegel besser verstanden werden als er sich selbst verstand. 136 Roth (1985), S. 305. 134

III. Hermeneutische Politik

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Da das Endziel der Geschichte bereits feststeht, macht es für Kojève keinen Sinn mehr, die Gesellschaft grundlegend zu revolutionieren, da es nun um die Haltung des Einzelnen geht. Als Kojève daher 1967 den Vortrag Was ist Dialektik? in West-Berlin hält, zu dem er auf Betreiben von Jacob Taubes eingeladen wurde, rät er den Studentenführern des SDS auf die Frage, was zu tun sei – Griechisch zu lernen.137 Dieser Rat, der die Studentenbewegung verblüffte, ist mehrdeutig auslegbar. Einerseits richtet er sich gegen einen Aufruf zu politischen Aktivitäten, die wohl von Kojève erwartet wurden. Eine weitere Deutung jedoch schließt sich an die zweite berühmte Fußnote Kojèves nach seinem Japan-Aufenthalt an. Ein möglicher Ausweg aus dem animalischen Posthistoire stellt es für Kojève dar, Altgriechisch zu lernen. Dies wäre demnach reine Form, die ohne jeden Nutzen menschlichen Snobismus ausdrücken könne. Das posthistorische Tier könne demnach sein Menschsein bewahren, indem es nach total formalisierten Werten lebt und so tut, als ob diese einen sinnstiftenden Inhalt hätten. Die Existenzform des Posthistoire wäre demnach die des „Als-ob“ und daraus könnte eine Wendung in das Ästhetische und in den Snobismus resultieren.138 Die rein formale Ästhetik würde rein formale Werte erzeugen, die die nötige Spannung in der bürgerlichen liberalen Gesellschaft erzeugen würde, deren dialektische Grundspannung zwischen Herr und Knecht zum Stillstand gekommen sei. Eine dritte mögliche Deutung passt zu seiner Auffassung, dass es am Ende der real-politischen Geschichte darum gehe, sie verstehen zu können. Hegel hat dieses zwar in seiner Phänomenologie bereits vorgelegt, doch Kojèves Auffassung von der einen immer geltenden Wahrheit und der Möglichkeit von göttlichen Weisen würde daran ansetzen, die Geschichte, die in Griechenland angefangen hat, vollständig nachzuvollziehen, um absolutes Wissen zu erlangen. In diesem Sinne lässt sich Henk de Bergs „kontemplativer Hegelianismus“ 139 nun auf Kojève übertragen. Indem Kojève sein akribisches Werk Essai d’une histoire raisonnée de la philosophie verfasst, betreibt er demnach Philosophiegeschichte um der Geschichte willen. Er will die bereits vollendete Geschichte in Gänze ihres absoluten Wissens verstehen oder, wie Rosen und Roth annehmen, etwas Neues sagen können, um als Weiser im antiken Sinn göttlichen Status anzunehmen.

137 Vgl. Taubes (1987), S. 24. Der Vortrag wurde 2002 posthum veröffentlicht in: Deutsche Zeitung für Philosophie (vgl. Kojève (2002)). 138 Vgl. auch Taubes (1987), S. 24. Taubes selbst hingegen betrachtet die „gegenwärtige Konjunktur der Ästhetik“ nicht als eine formale „Als ob“-Strategie des Posthistoire, sondern spricht von einem „Grundvorgang“ der „Ästhetisierung der Wahrheit“ (Taubes (1988), S. 41 und 47 ff.). Dieser Vorgang ermögliche es dem ästhetischen Wesen des modernen Subjekts, seine geschichtsphilosophische Gebundenheit zu überwinden und die Welt als Bild zu erobern. Vgl. auch Marquard (1981). 139 de Berg (2007), S. 158.

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C. „Von der Geschichte zur Natur‘‘

Leo Strauss hätte exakt die gleiche Anekdote liefern können. Ihre Deutung hingegen wäre gänzlich anders zu verstehen, nämlich als Aufforderung, von den antiken Philosophen etwas Zeitloses zu lernen, das nicht dem geschichtlichen Verlauf unterlegen ist und für das die Originaltexte in Originalsprache studiert werden müssten. Denn das Ziel der Menschheit liegt für Strauss, der in der Wahl zwischen „Hegel“ und „Platon“ auf die Naturrechts-Philosophie Platons setzt, nicht am Ende der Geschichte, sondern in der Natur des Menschen, der aus sich selbst heraus durch Philosophie und nicht durch Geschichte sein menschliches Potential verwirklicht. Daher kritisiert Strauss auch Kojèves Platon-Lesart, die Letzterer immer aus einem hegelschen Standpunkt heraus ansetzt. Strauss verweist auf die großen Bücher der Philosophiegeschichte um der Philosophie und des philosophischen, menschlichen Potentials willen. Die beiden philosophischen Freunde Strauss und Kojève versöhnen sich daher in ihrem Spätwerk nicht, sondern behalten ihre grundlegende Differenz der Positionen „Hegel“ und „Platon“ bei. Motiviert sind sie dabei aus demselben Grund, nämlich Philosophie in der Gegenwart zu ermöglichen. Auch wenn beide dadurch mit allem Ernst das philosophische Studium der „Anciens“ aufgreifen,140 ist die Einstellung gegenüber der Vergangenheit eine gänzlich andere: Während die Geschichte für Kojève der Prüfstein der geschichtsphilosophischen Wahrheit ist, ist sie für Strauss jene von Nietzsche erwähnte Mittlerin, die immer wieder zur „Erzeugung des Großen“ Anlass und Kraft gibt: „[E]in Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch mutwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort. [. . .] Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren.“ 141

IV. Theologische Politische Hermeneutik „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden.“ Paulus, 1. Kor. 2,14

Obwohl Leo Strauss seit Philosophie und Gesetz (1935) bereits Position für die Politische Philosophie bezieht und seit 1938 die Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen proklamiert,1 heißt dies nicht, dass sein Denken theologische Frage140 Vgl. Kojèves Brief an Strauss vom 2. November 1936 in: Strauss/Kojève (2000), S. 231. 141 Nietzsche (1997), S. 271. 1 Im Brief vom 16.2.1938 an Jakob Klein in: Strauss (2001d), S. 549 glaubt Strauss anhand seiner Maimonides-Studien den Beweis für die Unvereinbarkeit von Judentum (Glauben) und Philosophie erbracht zu haben – eine „Bombe“, die er in einigen Jahren zu sprengen gedenkt.

IV. Theologische Politische Hermeneutik

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stellungen ausblenden würde. So setzt sich Strauss bereits in den 20er Jahren mit Fragen nach Gott und theologischen Themen auseinander, die, zudem auf höchst provokante Weise, u. a. von Rudolf Otto, Franz Rosenzweig und Karl Barth aufgeworfen wurden.2 Diese plädierten für eine Aktualität der Theologie gegen die Strömungen der säkularisierten Theologie und des Historismus. Es sind gerade die erfolgte Entschärfung der Theologie und ihr Versuch, sie in ihrem wesentlichen Kern durch eine neue Art von Hermeneutik zu aktualisieren, die sie für Strauss interessant machen. Bereits in seinen frühen Schriften fragt Strauss nach den geistigen Grundlagen der Moderne und nach der Rolle des Judentums im problematischen Zusammenhang von Philosophie und Theologie. Strauss kannte die kabbalistischen Forschungen zur jüdischen Mystik und die Ansätze seines lebenslangen Freundes Gershom Scholem.3 Im Hinblick auf die Erneuerungen in der Theologie, vor allem im Christentum, spielte Karl Barths Römerbrief eine große Rolle. Barth nimmt Rekurs auf die Theologie und sucht nach einem soliden Absoluten, das aus der Bibel, letztendlich aus dem Brief an die Römer durch Paulus, spreche. Auch Barth übt rigorose Kritik an der Moderne und findet eine Antwort in der Hermeneutik. Doch nicht nur seine Römerbrief-Exegese, sondern vornehmlich seine These von „Gottes Nein“ zu dieser Welt lösten beim Erscheinen heftige Reaktionen aus.4 Barth ist nicht nur für Strauss’ Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität und dem spannungsvollen Zusammenhang von (jüdischer) Theologie und Philosophie von größter Bedeutung, sondern gerade hinsichtlich der Herangehensweise und des Umgangs mit heiligen bzw. philosophischen Schriften. So weisen Ansätze der theologischen Bibelexegese, der Hermeneutik im ursprünglichen Sinn, in ihrer Modernekritik, ihren Grundannahmen und ihrer Herangehensweise Parallelen zu Strauss’ Hermeneutik auf. Auch die Theologie kämpft mit modernen Infragestellungen der eigenen Positionen durch den Historismus und Positivismus, vor allem in der Kombination der historisch-kritischen Methode. Jedoch in ihrem essentiellen Wesen, dem Glaubensbezug, unterscheiden sich die philosophische und die theologische Politische Hermeneutik radikal. Dennoch, so Strauss, könne eine Hermeneutik, die sich um das Verständnis des biblischen Geistes durch das historisch-kritische Verstehen hindurch bemühe, auch für Nichttheologen von großer Wichtigkeit sein, um sich letztendlich durch die Auseinandersetzung mit den theologischen Prämissen die eigene Position zu verdeutlichen.5 2 Vgl. dazu Strauss’ Rezension des Buches Das Heilige (1917) von dem Theologen Rudolf Otto in: Strauss (1997c). Für eine Übersicht zur „Renaissance jüdischer Kultur“ in der Weimarer Republik vgl. Bluhm (2002), S. 43 ff. 3 Die Unterschiede bezüglich ihres interpretatorischen Ansatzes zu einer esoterischen Lesart siehe Smith (1993), S. 215 ff. 4 Vgl. Löwith (1986), S. 25; vgl. Bluhm (2002), S. 43. 5 Strauss (1997a), S. 460.

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In seiner Bibelexegese Jesus von Nazareth bedient sich der Theologieprofessor Joseph Ratzinger und Papst Benedikt XVI. zweier hermeneutischer Herangehensweisen, um die Gestalt Jesu, sein Wort und sein Tun, näher zu verstehen: der historisch-kritischen sowie der rein theologischen Hermeneutik, die er beide zu einer „recht entfalteten Hermeneutik des Glaubens“ verbinden möchte.6 Diese ist sich der jeweiligen Grenzen der historisch-kritischen Methode bewusst, ohne auf ihren positivistischen, historisch-faktischen Charakter verzichten zu wollen, weswegen er ebenso nach der historischen Situation fragt, in der diese Glaubensberichte erfahren und verfasst wurden. Die historische Methode müsse erkennen, dass sie „nicht Ausdruck der allein gültigen und endgültig zu sich selbst gekommenen Vernunft ist, sondern eine bestimmte und historisch bedingte Art von Vernünftigkeit darstellt, die der Korrektur und der Ergänzungen fähig und bedürftig ist“.7 Es gehe ihm darum, die in Dei Verbum 12 vom Zweiten Vatikanischen Konzil verfassten methodischen Grundsätze aufzugreifen und anzuwenden.8 In diesem Sinne liest er das Neue Testament als eine Antwort auf die alttestamentarischen Prophezeiungen, so dass der gesamten Bibel eine vollkommene, sowohl formale als auch inhaltliche, Einheit unterstellt werden muss.9 Nur vom Alten Testament her ließen sich die Person und das Handeln Jesu verstehen, weswegen vor allem in der Passionsgeschichte eine Vielzahl von Anspielungen und Verweisen auf alttestamentliche Texte eingewoben seien. Die Bibel ist demnach hermeneutisch als einheitliches Ganzes zu verstehen, wobei die historischen Fakten zu einer „Hermeneutik des Glaubens“ zu ergänzen sind. Der Glauben liefere die letzte Gewissheit auf die exegetischen Hypothesen, die in sich wissenschaftlich widerlegenden Positionen auftreten.10 Die Botschaft des christlichen Glaubens entfaltet sich in einem Ineinander von theologischem Sinn und historischen Fakten, wodurch sie sowohl ihre Glaubwürdigkeit als auch historische Relevanz empfing und empfängt.11 Insofern weist sie Ähnlichkeit zu Strauss’ Herangehensweise an das historische Verstehen mit seiner Vereinbarkeit von geschichtlicher Situation und transhistorischem Denken auf.12

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Vgl. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. (2011), S. 11 ff. Ebd. (2011), S. 11. 8 Ebd. (2011), S. 12. 9 Vgl. ebd. (2011), S. 229; Reiser (2007), S. 337 ff. Gemäß den methodischen Einsichten der Exegese der Kirchenväter orientiert sich auch Marius Reiser in Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift (2007), auf den Ratzinger auch hinweist. Vor allem geht es um die eindrückliche Analyse der Passion Christi aus der Prophezeiung Jesajas (Jes. 53), die den Propheten des Alten Testamentes als Evangelisten darstellte. Vgl. auch Söding (2007) sowie das Kapitel Gadamers unvollkommener „Vorgriff auf Vollkommenheit“. 10 Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. (2011), S. 124. 11 Ebd., S. 227. 12 Vgl. hierfür das Kapitel Historisches Verstehen. 7

IV. Theologische Politische Hermeneutik

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1. Origenes’ theologisch-politische Hermeneutik Parallelen in der Bibelhermeneutik gibt es zu Strauss’ Politischer Hermeneutik jedoch nicht nur in der Antizipation einer formalen und inhaltlichen Einheit des Textes und im Hinblick auf die Frage, ob dieser transhistorische Wahrheiten vermitteln kann, sondern auch hinsichtlich der adressatengerechten Rhetorik.13 Dafür lassen sich unzählige Beispiele, vor allem im Neuen Testament, finden, in denen die Glaubensinhalte entsprechend den Erwartungen, Konventionen und Bedingungen der historischen, politischen Situation und den unterschiedlichen Kulturgruppen der Adressaten angepasst niedergeschrieben wurden, was historisch vornehmlich auf die römisch-imperiale Besetzung und die Entstehung urchristlicher Gemeinden im gesamten Mittelmeerraum zurückzuführen ist. So stellt sich vor allem Paulus, quasi der Prototyp des Missionars, die Frage, wie verschiedene kulturelle Gruppen mit unterschiedlichen Glaubenskenntnissen adressiert werden können, um möglichst viele mit der „guten Nachricht“ zu erreichen: „Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi –, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette.“ 14

In seiner Rolle als missionierender Theologe gelangte er zwischen die Fronten religiöser Auslegungen. Einerseits hatte er es mit den hellenistischen Christen zu tun, die, vertraut mit griechischer Philosophie, vor allem aber unter dem Einfluss der Gnosis, die praktischen Auslegungen für den Glauben im Alltag vernachlässigen. Andererseits musste sich Paulus mit seiner „guten Nachricht“ der christlichen Freiheit gegen den jüdisch geprägten Gesetzesglauben mit seinen rigorosen, aufs Penibelste einzuhaltenden Vorschriften für das tägliche Leben wehren und bedenken, inwiefern diese Freiheit das politische Zusammenleben beeinflusst. Um „allen alles“ zu werden, setzt er alles auf situations- und adressatengerechte Verkündigung seiner Theologie.15 Insofern sind seine theologischen Kernaussagen von einer „kunstmäßigen“ Rhetorik umgeben, die durch die historische Situation bedingt ist und sich an unterschiedliche Zielgruppen richtet. Eine theologische Politische Hermeneutik, die ihre Leser nicht nur nach kulturellen Hintergründen und nach ihrem vorausgegangenen Glauben unterscheidet, sondern den Zugang zu den theologischen Kernaussagen nach unterschiedlichen 13

Vgl. hierfür das Kapitel Schriftlichkeit und die „kunstmäßige“ Rede. 1. Kor. 9, 20–22. 15 Zu Strauss’ Auseinandersetzung mit der Rhetorik von Paulus siehe Strauss (1988a), S. 177. 14

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intellektuellen Naturen differenziert, wurde zuerst von dem Kirchenvater Origenes aus Alexandria (185–254 v. Chr.) herausgearbeitet. In seiner in Peri archon beschriebenen Hermeneutik lehnt Origenes eine ausschließlich wortwörtliche Auslegung ab und verweist auf einen textimmanenten geistigen Schriftsinn, der allerdings nur fortgeschrittenen Lesern zugänglich sei.16 Origenes verändert demnach das Verhältnis zur Lesart der Schrift, indem er ihre autoritative Literalität mit seiner Inspirationslehre verknüpft und dadurch erweitert. Er lehrt, die ganze Bibel als Buch tiefer liegender Geheimnisse, gerade beim Auftauchen von Paradoxien und Widersprüchen, zu verstehen. Origenes beschreibt jedoch nicht konkret, welche Regeln in schwierigen Passagen anzuwenden sind, sondern verweist darauf, dass es vielmehr eines langen und sorgfältigen Studiums bedarf, um ihren geistigen Sinn erfassen zu können.17 Origenes will damit sagen, dass der eigentliche, tiefere Sinn der Bibel nicht jedem Beliebigen zugänglich sei,18 sondern nur jenen Belehrbaren, die in den Texten versinken und ihrem geistigen Sinn nachforschen. Daher greift Origenes den Appell aus Joh. 5,39 auf: „Erforscht die Schriften!“ 19 und meint damit ein ernsthaftes und aufmerksames Streben, die Heiligen Schriften in ihrem geistigen Sinn verstehen zu wollen. Dieser ist für Origenes nicht bloß eine willkürliche Ergänzung zum wortwörtlichen Sinn, sondern verweist auf die antike Vorstellung von Philosophie als Lebensweise, die eine praktische Dimension aus geistigen Übungen und steter Prüfung des eigenen Verhaltens beinhaltet.20 Die allegorische Auslegung ist demnach eng mit einer moralischen Haltung verknüpft, die dazu anleiten soll, sich so weit wie möglich dem göttlichen Logos zu nähern und ihm ähnlich zu werden. Da für Origenes der Heilige Geist Autor der Schrift ist, muss die Herangehensweise an die Schrift dem Geist, von dem sie stammt, würdig, wenn nicht sogar gleichwertig sein. Der Exeget müsse von dem gleichen Geist durchflutet sein, der den Autor der Schriften beim Schreiben inspiriert habe.21 Unter der Annahme 16 Zu einem angemessenen Verständnis des geistigen Schriftsinns unterscheidet Origenes die hermeneutische Methode der literarischen, wortwörtlichen Auslegung von der Allegorese. Entscheidend ist für Origenes dabei, dass er Beispiele für die Anwendung der allegorischen Methode in der Heiligen Schrift selbst fand, nämlich bei Paulus. Dieser weist im Brief an die Galater darauf hin (vgl. Gal. 4,21–24), dass „alle diejenigen es [sc. das Gesetz] nicht verstehen, die in dem Geschriebenen keine ,Allegorien‘ annehmen“ (Origenes, Princ. IV 2,6 (GCS Orig. 5, 316) in: Origenes/Görgemanns/Karpp (1992), S. 717). Der Abschnitt über Origenes’ Politische Hermeneutik wurde in Teilen bereits veröffentlicht in: Weichert (2012b). 17 Vgl. Origenes, Princ. IV 2,4 (GCS Orig. 5, 314). 18 Vgl. ebd. 1,7 (GCS Orig. 5, 303). 19 Ebd. 3,5 (GCS Orig. 5, 331). 20 Vgl. dazu auch Fürst (2011), S. 100. 21 Vgl. Origenes, Princ. IV 3,6 (GCS Orig. 5, 333). Dies zeigt sich in Origenes’ eigener Exegese, in der er selbst sehr exakt und sorgfältig gearbeitet und dadurch einen

IV. Theologische Politische Hermeneutik

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des mehrfachen Schriftsinnes als einer Hinführung des Geistes zu einer forschenden Lebensweise wird verständlich, warum Origenes die Verschriftlichung eines philosophisch-theologischen Systems mit kanonisierbaren, dogmatischen Lehrsätzen vermeiden möchte. Die Gefahr wäre recht hoch, dass unzureichend Gebildete eine von ihm vorgelegte Exegese des höheren Sinnes missverstehen würden. Origenes war jedoch zugleich ein philosophischer Lehrer, der dezidiert allen Christen in ihren unterschiedlichen Stufen der Erkenntnis den Sinn der Schriften erschließen wollte – je nach ihrem jeweiligen Fassungsvermögen. Für diesen pädagogischen Aspekt spricht auch, dass Origenes überhaupt systematische Schriften wie Peri archon verfasst und seine Erkenntnisse nicht allein der mündlichen Unterweisung überlassen hat. Es versteht sich keinesfalls von selbst, dass Überlegungen, wie sie in Peri archon erörtert werden, von großen Denkern veröffentlicht werden. Bekannt ist, dass Philosophen wie Origenes’ Vorgänger Pantänus, sein Lehrer Ammonius und sein Zeitgenosse Plotin ihr Wissen nicht schriftlich festhielten oder sich erst, wie im Falle des Letzteren, im fortgeschrittenen Alter dazu durchringen konnten. Zwar weist Peri archon eine große inhaltliche Geschlossenheit auf, doch folgt die Darstellung nicht unbedingt einer geradlinigen Abfolge, wie man sie von einer systematischen Schrift erwarten würde. Görgemanns und Karpp heben die „Anzahl an Abhandlungen [. . .], die ihr Thema weder ausschließlich, noch erschöpfend behandeln“, hervor,22 weswegen das Werk unter die philosophische Gattung des Protreptikos, als erzieherische Anleitung zum Glauben, eingeordnet werden kann.23 Origenes versichert mehrfach, dass er der Vollständigkeit halber Fragen aufwerfe, gewisse Lösungen und Probleme zu erwägen gebe, ohne jedoch eine eindeutige, systematisierte Lehre anbieten zu wollen. Dies erinnert stark an die frühen sokratischen Dialoge, die thematische Diskussionen anregen, die jedoch zumeist in Aporien enden. Es ist das fragende, andeutende Problemdenken, dem es mehr um das Fragen an sich geht als um deren Beantwortung durch ein dogmatisches System, das relativ schnell eingeprägt werden kann, ohne jedwede philosophische Erkenntnis erlangt zu haben. Origenes will seine Schüler vielmehr zum „geistigen Schriftverständnis“ anleiten und ihnen die philosophische Lebensweise durch Exegese aufzeigen, anstatt ihnen bloß eine Lehre zu präsentieren. Der Weg wird dabei zum Ziel, den geistigen Zugang zum Logos selbst zu finden. Dieses Streben nach Wissen, das erweckt werden soll, bestimmt dabei sein Menschbild so sehr, dass sich Origenes

wissenschaftlichen Standard im christlichen Glauben begründet hat. So bewertet Ronald Heine in seinen einleitenden Worten Origenes’ Exegese des Johannesevangeliums (Origenes/Heine (1989), S. 3). 22 Origenes/Görgemanns/Karpp (1992), S. 15. 23 So klassifiziert Origenes auch das Johannesevangelium: in Ioh. comm. I 3,18 (GCS Orig. 4, 7).

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auch das Leben nach dem Tod als „Schule der Seelen“ 24 vorstellt. Peri archon ist seiner literarischen Form nach selbst somit als eine „komplexe Zwischenform“ 25 zwischen einem pädagogischen und einem systematischen Lehrbuch zu verstehen. Es wäre daher viel zu kurz gegriffen, Origenes als Esoteriker zu deuten, der eine Art Geheimlehre vornehmlich der mündlichen Unterrichtung vorbehalten hätte, wie es beispielsweise in der pythagoreischen Tradition üblich war. So beziehen sich Origenes’ Menschenbild und die damit verbundene Erkenntnistheorie gerade nicht auf eine Geheimhaltung von Wissen aus Gründen elitärer Exklusivität. Wie Platons Sokrates geht es ihm um den pädagogischen Aspekt, nicht all sein Wissen in formelhaften Lehrsätzen auszubreiten.26 Dementsprechend setzt der an griechischem Denken geschulte Origenes die Messlatte von Peri archon sehr hoch, um die Gefahr einer allzu raschen Bekehrung ohne Einsicht zu vermeiden, spricht aber gleichzeitig, wie Jesus, in Gleichnissen, um auch christliche „Anfänger“ zu erreichen.27 Die Erkenntnis, die Origenes lehrt und zu der er hinführen möchte, ist die geistige und sittliche Hingabe an den Logos, die zur „Angleichung an Gott“ führen soll. Durch biblische Exegese und Überlegungen der Vernunft soll der Mensch zur divina scientia aufsteigen.28 Origenes verbindet somit das Fundament des christlichen Glaubens mit der wissenschaftlichen Herangehensweise der antiken Philosophie. Die Hauptmaximen der origeneischen Hermeneutik, zu denen eine ganzheitliche und einheitliche Deutung der Heiligen Schrift gehört, entspricht der Grundannahme bei Strauss, den Text eines philosophischen Autors als einen vollkommenen, d.h. sowohl formalen als auch inhaltlichen „Vorgriff auf Vollkommenheit“ aufzufassen. Nur unter dieser Prämisse wird der Leser den von Origenes geforderten Appell „Erforschet die Schriften!“ ernst nehmen und Widersprüchen und Paradoxien im Text nachgehen, bis sich für ihn ein Sinn oder die versprochene Wahrheit erkennen lässt.29 Ginge der Leser davon aus, dass der Autor keine Wahrheit zu vermitteln beabsichtigte, würde er Widersprüche, die als hinweisende „Stolpersteine“ dienen, entweder übergehen oder ihn als inkonsequenten Autor abwerten. Auf keinen Fall würde er die Mühe auf sich nehmen, Paradoxien oder Widersprüchen im Text nachzugehen. Nur der Leser, der davon ausgeht, dass der vorliegende Text eine Wahrheit beinhaltet, ist in der Lage, seinen Kern zu verstehen.

24

Origenes, Princ. II 11,6 (GCS Orig. 5, 189–191). Origenes/Görgemanns/Karpp (1992), S. 17. 26 Zur Reflexion über das Scheitern von pädagogischer Wissensvermittlung siehe vor allem Platons Zweiten und Siebten Brief sowie die Dialoge Phaidros und Menon sowie deren Diskussion in dem Kapitel Philosophie und Schriftlichkeit. 27 So Fürst (2011), S. 182. 28 Vgl. Origenes, Princ. I praef. 1. 3 (GCS Orig. 5, 7 f. 9). 29 Strauss (1988a), S. 152. 25

IV. Theologische Politische Hermeneutik

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Betrachtet man letztendlich Origenes’ Hermeneutik unter der Strauss’schen Herangehensweise an einen mehrfachen Schriftsinn, so fällt zunächst in den Blick, dass sich Origenes nicht auf philosophische, sondern auf die theologischen Quellen der Heiligen Schriften bezieht. Leo Strauss’ Lebenswerk hingegen durchzieht eine scharfe Trennung zwischen Offenbarungsglaube und Philosophie, die für ihn zwei unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu Erkenntnis darstellen, die sich gegenseitig ausschließen.30 Ganz anders sieht dies jedoch bei Origenes aus, bei dem die Vernunftnatur im Glauben eine große Rolle spielt. Glauben und Wissen schließen sich demnach nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Zwar setzt seine Bibelhermeneutik wie die Strauss’sche einen „Vorgriff auf Vollkommenheit“ voraus und richtet sich protreptisch an unterschiedliche Naturen, jedoch ist der Verfasser der einheitlichen Konzeption der Heiligen Schrift kein philosophischer Autor, sondern der Heilige Geist. Origenes’ Bibelhermeneutik unterscheidet sich demnach im Wesen des Verfassers und in der daraus resultierenden Haltung, nicht jedoch im Anspruch an die Vollkommenheit des Textes und in dem langwierigen und sorgfältigen Streben nach einer auf Vernunft gegründeten Erkenntnis einer textimmanenten Wahrheit. Auf diese Weise kann Origenes das philosophische Streben nach Wahrheit mit seiner pädagogisch-protreptischen Hermeneutik des mehrfachen Schriftsinnes in theologische Exegesen integrieren. Darum erfolgt ein steter Appell zum Nachforschen und kritischen Hinterfragen von Argumentationsschritten, die in ihrem Kern jedoch Dinge des Glaubens behandeln. Philosophie in diesem engen Strauss’schen Sinn darf sich jedoch weder auf menschliche Meinungen noch auf übermenschliche Autoritäten berufen, sondern muss sich auf „menschliches Wissen“ verlassen können und Erkenntnisse einzig und allein durch die Vernunft begründen. Strauss möchte mit seiner philosophischen Politischen Hermeneutik zu einem Nachvollziehen der Argumente animieren, aus dem resultiert, die Denkbewegung eines philosophischen Autors selbst zu denken. Das esoterische Schreiben, so Strauss, funktioniere letztendlich deswegen, weil es naturgegebene Hürden zur Philosophie gebe, die zu allen Zeiten die gleichen seien, weswegen die „Kunst des verschlüsselten Schreibens“ dem generellen Charakter der Philosophie zugrunde liegt. Diese Hürde stellt in der origeneischen Hermeneutik nun letztendlich nicht die philosophische Natur des Lesers, sondern sein Glauben dar. Auch wenn die theologische Politische Hermeneutik des Origenes von ähnlichen Prämissen ausgeht, stellt sich ihre fundamentale Voraussetzung, an eine Offenbarung göttlicher Wahrheit zu glauben, als radikal gegensätzlich dar. Zwar verweist Strauss im Rückblick auf die Ausführungen im Vorwort von Karl Barths Der Römerbrief 31, dass eine Hermeneutik, die sich

30 „There seems to be no ground common to both, and therefore superior to both“ (Strauss (2004b), S. 232). 31 Barth (2005), S. v.

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um das Verständnis des biblischen Geistes durch das historisch-kritische Verstehen hindurch bemühe, auch für Nichttheologen von großer Wichtigkeit sei.32 Hinsichtlich seines Œuvre darf daraus jedoch allein die prinzipielle hermeneutische Grundsituation abgeleitet werden, nicht jedoch ein generell möglicher Ansatz, offenbartes Wissen philosophisch aus der Heiligen Schrift verstehen zu können.33 2. Strauss’ Interpretation des ersten Buches Genesis Strauss’ Selbstverständnis, wie er die Bibel zu lesen und zu kommentieren gedenkt, verdeutlicht er gleich im allerersten Satz von On the Interpretation of Genesis: „I am not a biblical scholar“ 34. Strauss nähert sich der Bibel als Philosoph und führt seine Auseinandersetzung nicht um theologischer Erkenntnis willen, sondern um philosophische Selbsterkenntnis zu erlangen. In diesem Fall scheint er sich schon von vornherein auf die Seite von „Athen“ geschlagen zu haben.35 Da er aber erkannt hat, dass die Philosophie die Offenbarung nicht widerlegen kann,36 sondern eine immerwährende, ernst zu nehmende Alternative darstellt, bemüht er sich in seinem Bibelkommentar, „Jerusalem“ so stark wie möglich zu machen. In Anlehnung an seine Spinoza-Studien stellt er sich die Frage, wie die Bibel zu lesen ist und was diese überhaupt ist. Im Gegensatz zu den griechischen Philosophen, die Bücher als einheitliches Gesamtwerk ihres Denkens verfassten (compose), in dem nichts Überflüssiges geschrieben ist, was der Autor nicht beabsichtigte, ist die Bibel für Strauss kein Buch, sondern ein Sammelband (a collection of books), in dem bereits vorliegende heilige Schriften von ungewisser Herkunft zusammengestellt wurden (compile).37 Die Frage, von wem diese bereits vorliegenden heiligen Schriften verfasst wurden und warum sie heilig sind, wird von Strauss nicht explizit thematisiert, sondern implizit angedeutet, dass es Schriften, mündlich überlieferte erlebte Geschichten sowie reflektierte Erinnerungen von unbekannten Autoren seien.38 Er lässt somit die Frage nach dem Ursprung offen und behandelt allein die Überlieferung, wodurch er sich als Philosoph nicht weiter zur Frage nach der Göttlichkeit des Autors äußern muss. 32

Strauss (1997a), S. 460. Vgl. Kinzel (2002), S. 89. 34 Strauss (1997e), S. 359. 35 Strauss (2004a), S. 380. 36 Vgl. Strauss (1935), S. 19 sowie das Kapitel Das „theologisch-politische Problem“. 37 Strauss (1997e), S. 374; Strauss (2004a), S. 394. 38 Vgl. Strauss (1997e), S. 362; Strauss (2004a), S. 381 f. sowie S. 394. Strauss erwähnt dabei das logische Problem, dass es zwar bei Schöpfungsbeginn noch keine Menschen gegeben hat, aber dennoch der Schöpfungsbericht als eine Art Zeugnisbericht von Gottes Taten geschildert wird, was die Frage nach dem Beobachter aufwirft. 33

IV. Theologische Politische Hermeneutik

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Hinsichtlich der Komposition der heiligen Schriften bemerkt er jedoch, dass die (menschlichen) „Herausgeber“ der Bibel sich im Gegensatz zu den philosophischen Buchautoren nicht überlegen mussten, wie sie das Werk gestalten und argumentativ ordnen, da sie auf bereits vorliegende Schriften zurückgreifen konnten. Während der Autor eines Buches im strengen Sinn gemäß der „logographischen Notwendigkeit“ alles streicht, was nicht notwendig ist, das keine Funktion für den Zweck des Buches erfüllt,39 verfolgten die größtenteils unbekannten „Herausgeber“ der Bibel eine vollkommen andere Regelung. Da sie mit einer großen Anzahl bereits existierender heiliger Schriften konfrontiert wurden, die mit dem höchsten Respekt und Ehrfurcht behandelt werden mussten, haben sie lediglich das gestrichen, was nicht mit der elementaren und autoritativen Lehre kompatibel war.40 Diese heiligen Schriften konnten sie mit höchster Demut und Ehrfurcht modifizieren und zu einem einzigen Band zusammenstellen. Aus dieser frommen Haltung gegenüber der göttlichen Autorität bestimmten die „Herausgeber“, welches der vorliegenden Bücher vom göttlichen Geist inspiriert war und welches nicht. Der zusammenstellende „Autor“ habe, so Strauss, demnach die Texte zwar verändern können, allerdings nur so wenig wie möglich. Er werde gerade nicht all das gestrichen haben, das nicht unbedingt notwendig ist, sondern nur das, was offensichtlich inkompatibel mit der göttlichen Absicht ist, sowie bestimmte Passagen, die zu schwerwiegenden Missverständnissen führen könnten. Die fromme Ehrfurcht gegenüber den heiligen Schriften veranlasste ihre „Herausgeber“ dazu, nur geringfügige Änderungen in diesen vorzunehmen, weswegen sich aufgrund der Vielzahl an vorliegenden Quellen zahlreiche unbeabsichtigte Widersprüche und ungenaue Wiederholungen in der Bibel vorfinden. Der philosophische Autor eines Buches hingegen, für das Strauss die platonischen Dialoge als vorbildhaft erachtet, setzt Widersprüche und ungenaue Wiederholungen bewusst als rhetorisches Mittel ein, so dass diese gemäß der „logographischen Notwendigkeit“ als intendiert gelesen werden müssen.41 Obwohl es sich bei der Bibel um eine Zusammenstellung von sich teilweise widersprechenden Schriften handelt, sei teilweise dogmatisch gefordert worden, die Bibel als ein Buch zu lesen, das die Heilige Schrift des göttlichen Autors par excellence 39

Strauss (1997h), S. 53, siehe dazu auch Platon, Phaidros, 264b. In seiner Darstellung der prä-adamistischen Hypothesen von Isaac de La Peyère erwähnt Strauss in Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft, dass La Peyère in Systema theologicum (1655) der Auffassung war, dass Mose den Pentateuch lediglich als Tagebuch verfasst habe und darin auch die Geschichte der Juden wiedergibt, die ihm mündlich überliefert wurde. Dabei habe er nur diejenigen Themen eingehender behandelt, die sich auf die spezifische Geschichte der Juden bezogen haben. Die Verfasser der Abschriften seien darin noch weitergegangen, weswegen die Weltschöpfung im ersten Buch Genesis nur kurz und knapp behandelt werde (vgl. Strauss (2001a), S. 117). 41 Strauss (1997e), S. 375. 40

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darstelle.42 Eine historisch-kritische Herangehensweise, wie sie von Spinoza begründet wurde, setzt sich dabei zwar mit diesem Zusammenhang der Zusammenstellung einer Vielzahl an Quellen unterschiedlicher und unbekannter Herkunft auseinander, kann letztendlich jedoch die Frage nach der Göttlichkeit der ursprünglichen Textquellen und der göttlichen Intention nicht beantworten.43 Daher kann Strauss auf diese Problematik auch nur ansatzweise aufmerksam machen, da ihm in seinem Selbstverständnis als Philosoph eine Aussage darüber verwehrt ist. In seinem Kommentar zu Genesis 1 untersucht Strauss die Bibel daher nicht, um Antworten auf Glaubensfragen zu finden, sondern er stellt sie als fundamentale Alternative der Philosophie gegenüber. Er verweist dabei auf Widersprüche und ungenaue Wiederholungen, die bei genauerer, wohlgemerkt philosophischer Prüfung nicht alle als unbeabsichtigt gelesen werden müssen, sondern sich gerade dadurch von der Philosophie abwenden, vor allem, wenn es das mysteriöse Wesen Gottes betrifft, zu dessen Erkenntnis allein der Glaube führen kann. Obwohl die Schriftreligion „Jerusalem“ aufgrund ihrer Zusammenstellung (compilation) auf widersprüchlichen Schriften basiert, macht Strauss „Jerusalem“ so stark wie möglich und zeigt, dass diese Schriften dennoch eine inhärente Kohärenz aufweisen – nämlich, dass sie sich gegen „Athen“ richten. Insofern kann Strauss mit seinem Selbstverständnis als ein die Bibel studierender Philosoph etwas von dieser lernen, da sie nicht ausschließlich religiös zugängliche Inhalte präsentiert, sondern als ein alternatives Gegenüber der Philosophie sich rationaler Elemente bedient, ohne jedoch eine Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarungsglauben zu suggerieren. Das erste Buch Genesis stelle daher einen verständlichen Schöpfungsbericht dar, der allerdings widersprüchliche Elemente enthalte, die sich bei genauerer Betrachtung als Gegenposition zur Philosophie darstellen. Von daher ist das erste Buch Genesis für Strauss nicht gänzlich, wie Shadia Drury behauptet, unverständlich und irrational.44 Zwar hat sie recht, dass für Strauss der biblische Gott undurchschaubar und der Glaube an ihn irrational ist, doch weist die Bibel einen verständlichen „roten Faden“ auf, der sich an rationale Addressaten richtet und die fundamentale Alternative „Athen“ und „Jerusalem“ behandelt. Aufgrund dieser Betonung des Rationalen vermutet Hadley Arkes allerdings, dass Leo Strauss in Anlehnung an Hermann Cohen das Judentum als eine Religion der Vernunft erachtet, obwohl er sich gegen Cohens Annahmen aus Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919) bereits in seinen frühen Schriften auflehnte.45 Die Offenbarungsreligion ist für Strauss nicht mit der Philosophie vereinbar, sondern ihr radikal entgegengesetzt. Es geht ihm 42 43 44 45

Strauss (2004a), S. 394. Vgl. ebd., S. 380. Vgl. Drury (2005), S. 40 ff. Vgl. Arkes (1996).

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daher nicht darum, „Jerusalem“ „Athen“ unterzuordnen oder umgekehrt, sondern beide als ernst zu nehmende Alternativen gegenüberzustellen.46 Dass die Bibel daher, wie Strauss anhand des Schöpfungsberichtes zeigt, dennoch rationale Elemente beinhaltet, die jedoch von gänzlich irrationalen Forderungen und Verweisen auf das mysteriöse Wesen Gottes überlagert werden, passt nicht zu Cohens Annahme einer Vernunftreligion. „Jerusalem“ lehnt das Prinzip, autonomes Wissen über alle Dinge erlangen zu können, ab und stellt sich auf die Seite des nicht rational erkennbaren Gottes. Wie sich Vernunft und Glaube gegenseitig ausschließen, zeigt Strauss anhand seiner Interpretation On the Interpretation of Genesis. Gleich zu Beginn der Bibel sei es eine große logische Herausforderung, dass es zwei Schöpfungsberichte gibt,47 die sich auf den ersten Blick zwar inhaltlich widersprechen, die jedoch für Strauss die maßgebende biblische Botschaft enthalten.48 Während das erste Kapitel der Bibel eine Kosmologie ist, behandelt der zweite Schöpfungsbericht die Frage nach der Natur des Menschen und wie er leben soll. Strauss „argumentiert“ 49 nun, dass der Leitgedanke beider Berichte sei, dass Glauben und Gehorsam notwendig seien, um einen Zugang zu Gott zu finden. Daher gebe es gänzlich irrationale und widersprüchliche Aussagen innerhalb der beiden Schöpfungsberichte, die jedoch auch rational verständliche Elemente beinhalteten. So werde bspw. im ersten Buch berichtet, dass Gott die Welt in sechs Tagen schuf, die jedoch keine „Sonnentage“ gemäß der naturphilosophischen Orientierung sein könnten, da die Sonne erst nach der Erde erschaffen werde.50 Aufgrund diverser logischer Inkonsistenzen stellt der Schöpfungsbericht für Strauss daher eine ziemlich unwahrscheinliche, aber dennoch verständliche und in gewisser Hinsicht chronologisch nachvollziehbare Geschichte dar, da zumindest am Anfang vom Anfang gesprochen werde. In diesem Rahmen verweist er auf das Selbstverständnis der Schöpfungsgeschichte im Timaios, die Platon bloß als höchst wahrscheinlich deklariert.51 Obwohl diese Entstehungsgeschichte ebenfalls metaphysische Elemente enthält, die allein durch „menschliches Wissen“ nicht überprüft werden können, macht Strauss mit diesem Hinweis auf die fundamentale Differenz des Wahrheitsanspruches von Genesis 1 aufmerksam.

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Vgl. das Kapitel „Athen“ und „Jerusalem“. In der Bibelexegese werden sie als Priesterschrift und Jahwist unterschieden. 48 Luz (2005), S. 278. 49 Drury bemerkt zynisch, dass es merkwürdig von Strauss sei, sich über mangelnde Argumentation in der Genesis zu beschweren, ohne selbst die Spur eines expliziten Arguments zu liefern (vgl. Drury (2005), S. 42). 50 Strauss (2004a), S. 115. Ebenso können die Pflanzen, die Gott laut Schöpfungsbericht am dritten Tag schuf, nicht ohne Sonne überleben. 51 Vgl. Platon, Timaios, 29c und 30b. „The Platonic teaching on creation does not claim to be more than a likely tale“ (Strauss (2004a), S. 130). 47

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Schwieriger als die mehr oder weniger chronologische Entstehung der Welt sei es allerdings, das Wesen des Schöpfers ohne Widersprüche aus den biblischen Quellen verstehen zu wollen.52 Um das undurchschaubare Wesen Gottes vorzuführen, muss Strauss erst gar nicht einen Überblick der Gottesbilder aller biblischen Schriften darbieten, sondern er leitet dies allein aus dem ersten Buch her. Von Anfang an werde in der Bibel das unbegreifliche Mysterium Gottes dargestellt, dessen Bemühung um rationales Verständnis allein schon Unfrömmigkeit bedeute.53 Die Verbindung zwischen Gott und den Menschen liege daher nicht im Verständnis Gottes, sondern sie manifestiere sich als „free and mysterious action of love on the part of God, and corresponding attitude on the part of man is trust, or faith“.54 Die Attribute Gottes, insbesondere seine Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit, sind logisch nicht erkennbar und verlangen daher Glauben. Strauss kontrastiert den mysteriösen biblischen Gott mit Platons Demiurgen-Gott, der den Kosmos nicht allmächtig allein durch sein Wort geschaffen, sondern sich an den ewigen Ideen orientiert hat.55 Diese allein dem nous zugänglichen Ideen werden von Strauss als „doctrine“ zwar religiös konnotiert, dennoch besteht die Möglichkeit, dass diese von einigen Menschen erkannt werden können,56 während das mysteriöse Wesen des biblischen Gottes den Menschen gänzlich undurchsichtig bleibt. Hinsichtlich des philosophischen Strebens nach Wissen ist es für Strauss bezeichnend, dass der Schöpfungsbericht hauptsächlich die Erde behandelt und der Himmel und die Himmelskörper kaum erwähnt werden, die als Astronomie eine tragende Rolle in der Naturphilosophie spielen.57 Diese Wissenschaft stehe wie 52 In Bezug auf den Satz „Nun wollen wir den Menschen machen, ein Wesen, das uns ähnlich ist!“ bemerkt Strauss, dass Gott den Dualismus von männlich und weiblich in sich selbst beinhalte, da in seiner Allmacht die Möglichkeit seines Wesens als Gott oder Göttin gegeben sein müsse, obwohl es nur einen Gott geben kann. Das Ergebnis ist die Emergenz eines unverstehbaren, mysteriösen, undurchsichtigen Gottes (vgl. Strauss (1997e), S. 360 und S. 366; vgl. auch Strauss (2004b), S. 220 und Strauss (2004a), S. 127). 53 Vgl. Strauss (1997e), S. 373. 54 Strauss (2004b), S. 220. 55 Strauss (2004a), S. 130. Strauss nennt die Ideenlehre in The City and Man „doctrine of ideas“ und nicht etwa „teaching“, was auf ihren religiös-dogmatischen, für Strauss sogar „phantastischen“ Charakter hinweist. 56 Strauss lehnt demnach eine metaphysische Gesamtdeutung des Wissens über Gott, die Welt und den Menschen ab und reduziert sie im Sinne von noesis, aber nicht von nous als Sinneswahrnehmung und logische Folgerungen (Strauss (1997h), S. 45 ff.). 57 „All philosophy is cosmology“ (Strauss (1997e), S. 369, Strauss (2004a), S. 115). Astronomie war ein wichtiger Bestandteil antiker Weisheit und einer der pädagogischen Stützpfeiler des Quadriviums in Platons Politeia und stellte einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung der Philosophen dar. Im Gegensatz dazu soll der bibeltreue Mensch keine Orientierung in den Himmelskörpern suchen, weswegen Strauss Psalm 115, 16 zitiert: „Der Himmel allenthalben ist des Herrn; aber die Erde hat er den Menschenkindern gegeben.“

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keine andere für den menschlichen Versuch, die Ordnung der Welt (kosmos) ohne übernatürliche Einsicht allein mit der menschlichen Vernunft verstehen zu wollen. Wenn Gott daher zum Volk Israel im Buch Deuteronomium58 spricht, verbietet er die Anbetung der Himmelskörper, da sie keine Verehrung oder nähere Untersuchung verdienen, sondern rein instrumentell von Gott als Lichtquelle geschaffen wurden.59 All dies weise darauf hin, dass der Leitgedanke der Schöpfungsgeschichte eine Degradierung der Philosophie sei. Strauss unterstützt diese Interpretation mit einer überwältigenden Aufmerksamkeit zum Detail, dass sich bereits das erste Buch der Bibel gegen die philosophische Alternative richtet.60 Zusammengefasst laute der unausgesprochene Leitgedanke des ersten Buches Genesis, dass der Mensch von sich aus zwar nicht weise sei, aber auf zwei unterschiedliche Arten Wissen erlangen könne. Während „Jerusalem“ Gehorsamkeit und Ehrfurcht gegenüber der allumfassenden Autorität und Weisheit Gottes fordere, der sich in seinen heiligen Schriften offenbart habe, bestehe der Weg der Philosophie in der zetetischen Streben nach „menschlichem Wissen“ (anthropopine sophia), das mit dem Staunen (thaumazein) beginne. „According to the Bible, the beginning of wisdom is fear of the Lord; according to the Greek philosophers, the beginning of wisdom is wonder. We are thus compelled from the very beginning to make a choice, to take a stand.“ 61

Die durchaus rational verständliche Forderung der Genesis sei daher, sich zwischen diesen beiden Zugangsarten zu Wissen von Anfang an zu entscheiden. Die Bibel richte sich daher mit ihrem widersprüchlichen, aber dennoch verständlichen Schöpfungsbericht von Beginn an gegen die philosophische Alternative und verlange demütigen Glauben und Ehrfurcht gegenüber den offenbarten Schriften, die einen göttlichen Zweck beinhalten. Die Bibel kann daher für Strauss allein hinsichtlich der wissenschaftlichen Erklärung der erfolgten „zusammenstellenden Herstellung“ (compilation) sowie in ihrer politischen, kulturellen Adressierung historisch-kritisch gelesen werden. Der göttliche Zweck der Bibel hingegen verweist auf den mysteriösen Charakter göttlichen Wissens und muss daher als ein Buch im strengen Sinne gelesen werden, das von einem göttlichen Autor bzw. von göttlich autorisierten Schriftführern verfasst wurde. Um die göttliche Absicht in den heiligen Schriften verstehen zu können, muss daher unterstellt werden, dass die ursprünglichen heiligen Schriften sowie ihre „Herausgeber“ 58

Deut. 4,15–19. Vgl. Strauss (1997e), S. 368 ff. 60 Dem Wissen über den Kosmos aus der naturphilosophischen Betrachtung der Himmelskörper folgen Überlegungen über die Ordnung des Zusammenlebens und das gute oder böse Wesen des Menschen, weswegen der zweite Schöpfungsbericht die eigenständige Verfolgung dieses Wissens durch das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, aufnehme (Strauss (1997e), S. 373). 61 Strauss (2004a), S. 112. Vgl. Platon, Theitetos 155d und Aristoteles, Metaphysik I 2, 982b. 59

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vom Heiligen Geist inspiriert waren. Diese Antizipation verlangt, im Gegensatz zum sowohl formalen als auch inhaltlichen „Vorgriff auf Vollkommenheit“ bei philosophischen Büchern, Glauben an die göttliche Herkunft dieser Schriften. In diesem immerwährenden Gegensatz zwischen „Glauben“ und „Wissen“ wird bereits im ersten Buch Genesis transhistorische Wahrheit reflektiert, die auch der Philosoph auf Basis seines menschlichen Wissens erkennen kann. 3. Carl Schmitts politisch-theologische Geschichtsdeutung „Christlich hat man im voraus schon mehr als gesiegt [. . .]. Weltlich muss man, in Ungewissheit gespannt, warten auf das, was nach dem Leiden folgt, ob nun der Sieg folgt; christlich ist auf nichts zu warten, der Sieg längst im Glauben einem voraus in die Hand gegeben.“ Sören Kierkegaard 62

Carl Schmitts Politische Theologie stellt sich als „mächtigste[r] Antagonist und mit der anspruchsvollsten Alternative“ 63 der Politischen Philosophie entgegen und somit auch der philosophischen Politischen Hermeneutik von Leo Strauss. Hinsichtlich der Hermeneutik beruht die fundamentale Gegensätzlichkeit nicht allein auf der unterschiedlichen Auffassung von „integrem Wissen“, sondern manifestiert sich vor allem in Schmitts theologisch-politischer Geschichtsdeutung, deren Historismus und Glaubensbezug Strauss rigoros ablehnt. Beide Denker versuchen dabei, ausgehend von einem „angemessenen HobbesVerständnis“ 64, unterschiedliche Antworten auf den Liberalismus zu finden. Während Schmitt in Der Begriff des Politischen von Hobbes als „einem großen und wahrhaft systematischen politischen Denker“ 65 spricht, ist er für Strauss, so merkt er selbst in seiner einzigen Fußnote in den Anmerkungen an, der antipolitische Denker,66 da er gerade jene Auffassungen des Wahren politisch einhegt, die für Schmitt die schlimmsten Feindschaften hervorrufen. Hobbes ist für Strauss durch seine Negation der Natur, einschließlich der natürlichen politi62

Kierkegaard (1948). Meier (2000), S. 23. Zur Gegenüberstellung von Politischer Philosophie und Politischer Theologie sowie zur Lesart Schmitts Politischer Theologie vgl. das Kapitel 4. Politische Philosophie. Zum „roten Faden“ und zu der „katholischen Verschärfung“ als „das geheime Schlüsselwort [seiner] gesamten geistigen und publizistischen Existenz“ (vgl. Schmitt (1991a), S. 165) sowie den Aufsatz von Heinrich Meier Der Philosoph als Feind. Zu Carl Schmitts „Glossarium“ in: Meier (1988), S. 142 ff. 64 Strauss, Anmerkungen in: Meier (1988), S. 125. Schmitt war sehr interessiert an Strauss’ Hobbes-Forschungen, weswegen er ihm ein Gutachten für das Rockefeller-Stipendium schrieb, dank dessen er sich Ende 1932 in Frankreich und England aufhalten konnte (vgl. Briefe von Strauss an Schmitt vom 13.3.1932 und 10.7.1933 in: Meier (1988), S. 131, 134 ff.). 65 Schmitt (2009a), S. 60. 66 FN 1 in: Meier (1988), S. 109. 63

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schen Ordnung, der Begründer des liberalen, instrumentell-technischen Denkens, da er, statt nach der besten Ordnung zu suchen, die Weichen zur Ermöglichung einer lediglich stabilen Ordnung neu gestellt habe. Der Mensch werde von Hobbes nicht länger von seiner potentiellen Exzellenz aus gedacht, sondern als ein Wesen, dessen todesängstlicher Selbsterhaltungstrieb von nun an als politische Grundlage dient, wobei Macht an die Stelle von sozio-moralischer Ordnung und Tugend getreten ist.67 Das von Hobbes als „asozial“ aufgefasste Individuum wird dabei nicht länger vom Gesellschaftsverbund der zooi politikoi gedacht, sondern als Untertan. Für Strauss verliert jedoch mit Hobbes nicht nur die natürliche politische Ordnung ihre tragende Rolle in der Staatstheorie, sondern auch die theologische Begründung der Politik.68 Strauss deutet Hobbes’ Auffassung zum Verhältnis vom Staat und Religion rein instrumentell, indem die Religion dem Staat zu dienen habe und zu schätzen oder zu verwerfen sei, je nachdem, ob sie diesem nützt oder schadet.69 Darüber hinaus gehe Hobbes von einer „mechanistischen Psychologie“ aus, die die Willensfreiheit leugne und Denkprozesse als zwangsläufige Reaktionen auf Sinneseindrücke herleite.70 Durch diese „resolutiv-kompositive“ Methode beruhe Hobbes’ Werk methodisch und sachlich auf der Naturwissenschaft und sei daher als „politische Wissenschaft“ zu verstehen. So wie Zeitgenossen von Hobbes seinen monistischen Materialismus in seinen Implikationen als „Wegbereiter des Atheismus“ 71 verstanden, deutet auch Strauss sein „koboldhaftes“ 72 Auftreten als einen unorthodoxen Theismus, der als Schutzschild für Hobbes’ eigentliche atheistische Auffassung dient.73 Gänzlich anders legt Carl Schmitt seine politisch-theologische Interpretation von Hobbes’ Schriften aus. In seinem Buch Der Leviathan in der Staatslehre des 67

Strauss (1989g), S. 187. Strauss (2001c), S. 89. 69 Ebd., S. 93 ff. 70 Ebd., S. 15. 71 More (1712), S. 142. Für den Cambridger Platoniker Henry More ist vor allem Hobbes’ materialistische Grundprämisse, dass alles, was im Universum existiere, materiell sein müsse, „a prelude to atheism“. Zu den zeitgenössischen Atheismus-Vorwürfen gegen das „Monster of Malmbury“ vgl. Bramhall (1676), S. 873; Mintz (1969). 72 Strauss (1989g), S. 172. 73 Vgl. Strauss (1989g), S. 199. Während Strauss in Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft (1930) aus Hobbes’ Werken einen expliziten Agnostizismus herausliest, der „wahre Religion“ lediglich als „Annahme“ Gottes verstehen könne, und das Kriterium für die Wahrheit einer Religion nichts anderes als der politische Wille sei, da der Staat auch ohne Gottesbezug möglich sei, revidiert er diese Auffassung der Spinoza-Interpretation und liest Hobbes in Naturrecht und Geschichte als vorsichtigen, „koboldhaften“ Autor (vgl. Strauss (2001b), S. 144 ff.). Ebenso behauptet der Karl-Barth-Schüler Dietrich Braun in Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth (1963), dass Hobbes’ reduzierter christlicher Bezug „that Jesus is the Christ“ nur als Maske diene, um seine eigentlich säkulare Grundhaltung zu verstecken, dass sein absolut totalitärer Staatsentwurf Religion nur als Instrument bedürfe. Zur Auseinandersetzung zwischen Schmitt und Braun vgl. Schmitt (2003b), S. 145 ff. 68

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Thomas Hobbes (1938) und dem Rezensionsaufsatz Die vollendete Reformation (1965) macht er aus Thomas Hobbes, dem „Monster von Malmesbury“ 74, einen rechtschaffenen Mann des Glaubens, dessen Frömmigkeit stets verkannt worden sei.75 Schmitt reiht Hobbes’ Staatsentwurf in eine christliche Tradition ein, in der alle Bürger Untertanen einer christlichen Obrigkeit sind, der es gelingt, Konfessionsstreitigkeiten und Bürgerkrieg auf dem jeweiligen Staatsgebiet einzudämmen. Darüber hinaus zeichnet Schmitt in Politische Theologie (1922) Hobbes durch die Entscheidungsgewalt des Souveräns als „klassische[n] Vertreter des dezisionistischen Typus“ 76 aus, weil er weder abstrakten Normen noch starren Gesetzen unterworfen sei, sondern selbst über das Recht entscheide: Auctoritas, non Veritas facit legem. In dieser Macht als uneingeschränkter Gesetzgeber liege der „göttliche Charakter“ 77, den Hobbes hinsichtlich seiner Struktur analog zur göttlichen Macht auffasse. Während Schmitt 1922 den dezisionistischen Charakter Hobbes’ mit der konkreten persönlichen Entscheidungsgewalt hervorhebt, setzt er 1938 in Der Leviathan den Fokus auf die Bruchstelle, die letztendlich dazu geführt hat, dass der Souverän an Stärke zugunsten eines neutralen Rechts- und Verfassungsstaates verloren hat.78 Die Ursache liegt für Schmitt in der Trennung von privatem Glauben und öffentlichem Bekenntnis. Da der Souverän absoluten Gehorsam aller Untertanen verlangt, die ihn als Kollektiv verkörpern, sei es die Gewissensfreiheit gewesen, die die Individuen immer stärker eingefordert haben, die zu einer inneren Spaltung der notwendigen Einheit des Hobbes’schen Staatentwurfes geführt habe. Daher deutet Schmitt die Abkehr vom staatlich vorgegebenen Glaubensbekenntnis als den „Todeskeim, der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat“ 79 und darüber hinaus zu einem „Massenglauben an einen antireligiösen Diesseitsaktivismus“ 80 geführt habe. Diese innere Spannung zwischen privatem Glauben und öffentlichem Bekenntnis habe zwar den „Todeskampf des Leviathan“ ausgelöst, doch dass dieser töd74

Mintz (1969), S. vii. Non iam frusta doces, Thomas Hobbes! lautet daher der letzte Satz von Schmitts Hobbes-Interpretation, dessen politisch-theologische Implikationen emblematisch durch die unvollständige Vignette des Leviathan an der Angel Gottes verstärkt werden (vgl. Schmitt (2003a), S. 132). Zu der Debatte um Schmitts Frömmigkeit siehe auch das Kapitel 4. Politische Philosophie. Hobbes als frommen Agnostiker deutet ebenso Francis Campbell Hood in The Divine Politics of Thomas Hobbes (1964), den Schmitt in Die vollendete Reformation rezensiert Schmitt (2003b), S. 138 ff. 76 Schmitt (2009b), S. 39. 77 Schmitt (2003a), S. 50. 78 Ebd., S. 85. 79 Ebd., S. 86. 80 Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen in: Schmitt (2009a), S. 85. 75

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lich endete, liege daran, dass das Staatskonzept von vornherein eine schwache Konstitution gehabt habe. Denn letztendlich besteht die Macht des Souveräns aus der Konstituierung der absoluten Macht durch das Volk und er kann erst zum Entscheidungsträger werden, wenn die Kontraktualisierung bereits begonnen hat. Der gottähnliche Souverän ist somit ein Produkt der kollektiven Einwilligung von Individuen, so dass sich bereits in der Genese des kontraktualistischen Staates sein künstlicher Charakter offenbart. „Die innere Logik des von Menschen hergestellten Kunstproduktes ,Staat‘ führt nicht zur Person, sondern zur Maschine.“ 81

Schmitt beschreibt den Hobbes’schen Staat in Der Leviathan daher als einen „übermächtigen, jeden Widerstand vernichtenden, technisch vollendeten Befehlsmechanismus“ 82. Obwohl Hobbes den Staat hinsichtlich seiner Struktur als gottähnlichen magnus homo konzipiert habe, sei er doch von Anfang an ein „sterblicher Gott“ gewesen, der jeder Zeit wieder aufgelöst werden könne. In seiner weiteren Entwicklung wurde die staatliche Ordnung zwar äußerst selten abgeschafft, doch letztendlich in seinem souveränen Entscheidungsmonopol immer weiter durch das Gesetz so weit eingeschränkt, bis er als Verwaltungsapparat mit einer gut organisierten Exekutive und Polizei erhalten blieb.83 Hobbes’ Staat, so Schmitt 1938, hätte dabei von Anfang an den Charakter eines „Apparates“ oder eines „großen Betriebs“, in dem Sachzwänge zur Sicherheit und für Frieden walteten und in dem die Frage nach dem wahren Glauben im weiteren geschichtlichen Verlauf reduziert, wenn nicht gar gänzlich neutralisiert worden sei. Hobbes habe sein Staatskonzept in seinem „technischen Charakter“ jedoch zugespitzt, indem er es selbst als eine Maschine erfasste – und dementsprechend benannte –, die ihr Recht und ihre Wahrheit nur aus sich selbst heraus durch ihre Leistung und Funktion schaffe. Das Kunstprodukt „Staat“ leide durch sein rein funktionales Konstitutionsprinzip an normativer Leere und werde daher durch die den Staat immer weiter aushöhlende Individualisierung des privaten Glaubens und partikulare Interessen immer mehr zu einer Maschinerie des Gesetzgebungsstaates.84 Hobbes habe daher seinen Staatsentwurf als machina machinarum, als ein Instrument zur Herstellung von innerem Frieden und Sicherheit, richtig als Maschine erkannt und benannt, indem die mittelalterliche Vorstellung von einem „göttlichen Recht der Könige“ durch ein funktionalistisches System ersetzt werde. Obwohl Hobbes den technischen Charakter des Staates entwickelt habe, antworte er jedoch, so Schmitt, auf die politisch-theologische Herausforderung seiner Zeit, die zwar einer neutraleren Haltung gegenüber den verschiedenen christ81 82 83 84

Schmitt (2003a), S. 53. Ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 99. Ebd., S. 69.

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lichen Konfessionen bedürfe, um Glaubenskriegen ein Ende zu bereiten, aber dennoch die politische Einheit eines christlichen Gemeinwesens zu bewahren beabsichtige. Schmitt bewertet Hobbes daher nicht wie Strauss als den eigentlich antipolitischen Denker, sondern als „praktischen Philosophen“, der auf die „ineinander verzahnten Unterscheidungen von Geistlich-Weltlich“ 85 des Protestantismus eine konkrete Antwort liefern kann. Zwar führte das durch den Leviathan symbolisierte kontraktualistische Staatsmodell zu der Entwicklung des „Zeitalters der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“, doch, so Schmitt, habe Hobbes dies nicht beabsichtigt. In dieser Beurteilung spielt Schmitts Auffassung von der Beschleunigung und Entschleunigung der Geschichte vor dem Hintergrund seiner christlichen Zeitvorstellung eine fundamentale Rolle. 1950 äußert sich Schmitt dazu in einem Aufsatz, der unter dem „von der Redaktion improvisierten“, „ganz falschen“ 86 Titel Drei Stufen historischer Sinngebung veröffentlicht wurde, folgendermaßen: „Wir sind mit Karl Löwith überzeugt, dass das Heidentum keines geschichtlichen Denkens fähig ist, weil es zyklisch denkt. In den Kreisläufen einer ewigen Wiederkehr verliert das Geschichtliche seinen spezifischen Sinn. Wir wissen, dass der aufklärerische und positivistische Fortschrittsglaube nur säkularisiertes Judentum und Christentum war und seine ,Eschata‘ von dort bezog.“ 87

Anders als in zyklischen Geschichtstheorien ist Zeit für Schmitt ein linear ablaufendes, befristetes Interim zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht von ungewisser Dauer, in dem es beschleunigende und aufhaltende Kräfte geben kann. Kernbegriff dieser heilsgeschichtlichen Konzeption ist der Aufhalter (to/ho katechon)88, den Paulus im Zusammenhang mit der Frage nach der Wiederkehr 85

Schmitt (2003b), S. 166, 169 ff. Heinrich Meier verweist darauf, dass Schmitt den von ihm intendierten Titel in von ihm versandten Sonderdrucken handschriftlich zu Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes wiederhergestellt habe (FN 56 in: Meier (2009), S. 39). „Ganz falsch“ sei der von der Redaktion gewählte Titel, da es sich weder um Stufen noch um Sinngebung handele. 87 Schmitt (1950a), S. 928. Dieses christliche Geschichtsbild mit einem linear voranschreitenden Zeitverständnis markiert die Trennlinie zwischen Schmitt und den Denkern der „Konservativen Revolution“, in die Armin Mohler Schmitt einreihen wollte (vgl. Mohler (1988); vgl. auch Motschenbacher (2000), S. 206). Zwar betont Schmitt, wie Ernst Jünger, auch die „Entscheidung“, greift jedoch nicht auf die nietzscheanische Vorstellung des zyklischen Geschichtsverlaufs ewiger Wiederkehr zurück. 88 2. Thess. 2,6 und 7; zunächst als neutrales, dann als maskulines Partizip verwendet. In der vergangenen und gegenwärtigen Theologie hat der Katechon keine tragende Rolle gespielt. So taucht etwa in dem einschlägigen Werk Eschatologie von Joseph Ratzinger und auch in theologischen Lexika der Begriff des Katechon gar nicht auf. Schmitt bemerkt im Eintrag vom 11.1.1948 im Glossarium (Schmitt (1991a), S. 80), dass er seine Theorie vom Katechon selbst auf das Jahr 1932 datieren würde, was Heinrich Meier jedoch als nicht nachweisbar erachtet (vgl. hierzu FN 106 in: Meier (2009), S. 244). Schmitt selbst erwähnt den Katechon in Werken zuerst 1942 in Beschleuniger wider Willen (vgl. Schmitt (1942)) und formuliert ihn in Land und Meer (1942) weiter 86

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Christi erwähnt. Bevor dieser nämlich wiederkomme, erscheine erst der Widersacher Gottes, der mit der Kraft des Satans vorgebe, Gott zu sein.89 Die Textstelle erklärt zugleich, warum sich die bereits von den ersten Christen erwartete zeitnahe Wiederkunft Christi und das Kommen des Reichs Gottes verzögern.90 Solange der Aufhalter das Wirken des Antichrist verhindert, kann mit der Wiederkehr Christi und der Vollendung der Heilsgeschichte nicht gerechnet werden. In diesem Sinne deutet Schmitt die Weltgeschichte als Kampf zwischen Katechon und Antichrist, zwischen beschleunigenden Kräften des „promethischen Zeitalters“, der Neutralisierung, Säkularisierung, Formalisierung und Entpolitisierung, und entschleunigenden Kräften, die sich diesen entgegensetzen. Schmitts Grundangst ist, dass der Eschaton mit den Schrecken der prophezeiten endzeitlichen Wirren ausgelöst wird, weswegen er den Katechon nicht als Hindernis betrachtet, sondern als einen, der die „eschatologische Lähmung“ aufhält, die unmittelbar vor dem Ende dem geschichtlichen Sein ihren Sinn nimmt.91 Der Katechon schärfe dabei das Bewusstsein für den „einen Fall, auf den es ankommt“ 92 und erschüttere die Sekurität des Status quo der Sicherheit und des Friedens. Die Parole des Antichrist sei hingegen „Friede, Sicherheit und Harmonie Aller mit Allen“ 93 als ein von Menschen geschaffenes Paradies auf Erden. Schmitt verwendet die Denkfigur des „bösen und teuflischen Geistes“ bereits in Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen und erachtet ihn dort als „Geist der Technizität“, „der zum Massenglauben eines antireligiösen Diesseits-Aktionismus geführt hat“, aber selber „nichts Technisches und Maschinelles“ 94 sei. Am stärksten sieht Schmitt den antichristlichen Geist in jenen „systematischen Betrügern“, jenen gleichmachenden Theoretikern, die „bewusst oder unbewusst“ einen „von Natur aus guten Menschen“ 95 voraussetzten und sich ewigen Frieden und das Ende aller Feindschaften ersehnten. Bereits in Theodor Däublers „Nordlicht“ von 1916 äußert Schmitt „das bange Gefühl“, aufaus (vgl. Schmitt (2008a), S. 19 und 80 ff.). Raphael Gross sieht die Lancierung der Figur des Katechon als Resultat des von ihm geschilderten Scheiterns des LeviathanSymbols, da Schmitt nämlich Hobbes’ Fehler nicht wiederholen wolle und er daher nach einem neutestamentarischen Bild suche, das nicht durch jüdische Mythen besetzt sei (Gross (2005), S. 292). Dazu sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass Schmitt selbst betont, dass sein Vorbild Donoso Cortés theologisch daran gescheitert sei, dass ihm dieser Begriff unbekannt geblieben ist (vgl. Schmitt (1991a), S. 63); Grossheutschi (1996)). 89 Zum Antichrist als den täuschend echten Nachahmer siehe Schmitt (2003b), S. 164; Meier (2009), S. 197; Meier (1988), S. 45 ff. 90 Vgl. hierfür Strobel (1978). 91 Schmitt (1950a), S. 929. 92 Meier (2009), S. 207. 93 Schmitt (2009a), S. 60. 94 Das Zeitalter der Entpolitisierungen und Neutralisierungen in: Schmitt (2009a), S. 85. 95 Ebd., S. 55.

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grund einer Homogenisierung der Feinde nicht mehr zwischen Christ und Antichrist unterscheiden zu können.96 Schmitt spricht daher in Politische Theologie von einer „Theologie des Gegners“ 97, da die letzte Begründung aller politischen Theorien über die gute oder schlechte Natur des Menschen auf einem „anthropologischen Glaubensbekenntnis“ 98 basiere, wobei er in den „theologischen Dogmen von der Sünde“ 99 die „notwendigen Denkvoraussetzungen“ für Theologie und politische Theorie sieht. Dem neutralisierenden antipolitischen Denken entspreche daher die Leugnung der Erbsünde.100 Schmitts Politische Theologie richtet sich mit seiner These von dem metaphysischen Kern aller Politik gegen das vorherrschende Denken seiner Zeit, die jegliche Metaphysik längst für überwunden hält, wobei diese Positionen lediglich entweder auf Übertragungen oder Umbesetzungen beruhen.101 Schmitt kämpft dabei nicht prinzipiell gegen jede Form der Säkularisierung, sondern bloß gegen die Entpolitisierung, Formalisierung und Trennung von Religion und Politik aus pazifistischen Gründen, die jegliche potentiell „politischen“ Entscheidungen neutralisieren wollen. Um der Herrschaft des Antichrist entgegenzuwirken, verteidigt Schmitt das Politische, wobei die Bejahung des Politischen, und nicht etwa die Orientierung an der reinen theologischen Lehre, zum wichtigsten politisch-theologischen Kriterium wird, da er in der Verneinung der Feindschaft das sicherste Zeichen der antichristlichen Bedrohung sieht.102 Die antichristlichen Gegenspieler des Katechon sind daher die Feinde des Politischen, vor allem jene, die sich gegen einen Pluralismus der Staaten als gegenüberstehende souveräne politische Einheiten richten.103 Es ist diese „wichtige Lücke“, die, so bemerkt Schmitt selbst, in seiner „geschichtliche[n] Skizze zur politischen Leviathan-Symbolik“ noch fehle, auf die er erst „am Schluss noch besonders hinweis[t]“ 104. Es handelt sich dabei um den in Psalm 2,1–3 erwähnten Kampf der Leviathane und Behemoths, die sich am Ende aller Tage geschlossen gegen Gott wenden. Während es in der „Epoche der Staatlichkeit“ hauptsächlich äußere Feinde gibt, gegen die „gerechte Kriege“ geführt werden können,105 befürchtet Schmitt einen Zusammenschluss aller Staaten, die, wie im Psalm beschrieben, einen Krieg planen, der alle Kriege beenden soll. 96

Vgl. Schmitt (1991b), S. 70. Schmitt (2009b), S. 66. 98 Schmitt (2009a), S. 54. 99 Schmitt (2009a), S. 60. 100 Vgl. ebd. 101 Meier/Brainard (2006), S. 10. Daher lautet der Untertitel von Politische Theologie II: Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie. 102 Meier (2009), S. 207 ff. 103 Ebd., S. 193. 104 Schmitt (2003b), S. 145. 105 Schmitt (2003a), S. 47; 72 ff. Zur Außenpolitik vgl. Schmitt (2009a), S. 10. 97

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Das Verhältnis von Staat und Religion erhält durch den Katechon eine heilsgeschichtliche Dimension, die durch den Aufschub des Endes überhaupt erst eine christliche Geschichte ermöglicht.106 Schmitts Denkfigur des Aufhalters schlägt die Brücke vom eschatologischen Glauben zur Erkenntnis und Deutung des Wesens der Geschichte107 und zu einer Möglichkeit, „als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden“.108 Denn für Schmitt ist das Christentum in seinem „Wesenskern keine Moral und keine Doktrin, keine Bußpredigt und keine Religion im Sinne der vergleichenden Religionswissenschaft, sondern ein geschichtliches Ereignis von unendlicher, unbesitzbarer, unokkupierbarer Einmaligkeit“.109 Diese Geschichtsauffassung, von der Schmitt selbst sagt, dass es keine andere Möglichkeit gibt, „für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Katechon überhaupt“ 110 zu denken, die er auf die Bewertung von Staatsentwürfen und -umsetzungen anwendet, ist der Kern seiner politisch-theologischen Hermeneutik. Aus dieser Perspektive betrachtet, lassen sich Schmitts Entscheidungen unter ein Leitmotiv setzen, wo andere ihm schieren Opportunismus vorwerfen.111 Denn die Verteidigung, die theoretische Grundlegung und die Verteidigung des Politischen beschränken sich nicht allein auf Der Begriff des Politischen, sondern mit der „politischen Idee des Katholizismus“ aus Politische Theologie konzipiert Schmitt eine Gegenposition gegen die Feinde des Politischen, was er in seiner Geschichtsdeutung nach dem Krieg weiter vertieft. Schmitts katechontische Geschichtsdeutung bestimmt daher nach 1945 seine theologische Politische Hermeneutik,112 mit der er, selbststilisiert zum „christ106 Taubes (2007); Löwith (2004). Das Böse aufzuhalten und nicht mit ihm auf einer Seite zu stehen, erfordert Unterordnung unter die von Gott gegebene staatliche Autorität, die als aufhaltende Kraft seit Tertullian mit dem Römischen Reich identifiziert wurde (Motschenbacher bezieht sich hierbei auf das Apologeticum 32,1 in: Motschenbacher (2000), S. 205). 107 Meier (2009), S. 246. 108 Schmitt (1997), S. 29; vgl. Schmitts Eintrag vom 19. Dezember 1947 in: Schmitt (1991a), S. 63. 109 Schmitt (1950a), S. 930. 110 Schmitt (1997), S. 29. Für Gross stellt dieser „ursprüngliche christliche Glauben“ eine agnostische Position dar, die sich „ursprünglich“ aus dem christlichen Glauben entwickelt habe (vgl. FN 107 in: Gross (2005), S. 295). Liest man „ursprünglich“ jedoch als primären christlichen Glauben in seiner gerade enttäuschten Parusieerwartung wie zur Zeit des Paulus, so kann es kein anderes Geschichtsbild geben als die Institutionalisierung von Glauben durch politische oder kirchliche Mächte, die andere Strömungen aufhalten. 111 Gross sieht in Schmitts Verwendung der theologischen Begriffe und Konzepte eine reine Instrumentalisierung (FN 83 in: Gross (2005), S. 287; 289 ff.) und vermutet, wie auch Karlfried Gründer, dass er ihn von Erik Peterson oder aus der protestantischen Exegese durch die griechischen Begriffe statt der lateinischen Vulgata-Quelle habe. 112 Sie ist nicht nur inhaltlich politisch, weil sie konkrete Politik aus einer theologischen Geschichte deutet, sondern politisch im Sinne einer Politischen Rhetorik, weil sie ihr Umfeld mit bedenkt und daher exoterisch schreibt.

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lichen Epimetheus“ 113, einen Kampf gegen die „promethische“ Fortschrittsgeschichtsdeutung führt. Er entwickelt dabei seine christliche Eschatologie zu einem „marianischen Geschichtsbild“ 114 weiter, das er dem Dichter Konrad Weiß aus Der christliche Epimetheus entlehnt. Im Gegensatzpaar des „zu spät Bedenkenden“ Epimetheus und des vorausdenkenden Prometheus, der den Menschen den wissenschaftlichen Fortschritt gab, weicht Schmitt von der klassischen mythologischen Auslegung von Epimetheus ab, der als Verursacher allen menschlichen Übels gehandhabt wird, da er die Büchse der Pandora an sich nahm. Konrad Weiß hingegen konzipiert den Epimetheus als Diagnostiker, als den „mitschauenden“ Zeugen der Werke der christlichen Pandora. Im Gegensatz zu seinem zutiefst aktiven Bruder, der sich gegen die Götter richtet, ist Epimetheus bei Weiß ein passiver Charakter. Schmitt stilisiert sich selbst daher nicht als „promethisch“ aktiv, sondern als einen lediglich beobachtenden, tragischen Zeugen, der an den promethischen Kräften leidet, selbst aber passiv bleibt. Auch wenn das „mitschauende“ Bezeugen des christlichen Epimetheus eine zeitnahe Diagnose vermuten lässt, so verweist sein Name (epi-manthanein) auf den, der erst im Nachhinein mögliche geschichtliche Irrtümer zu erkennen vermag. Erst in der „demütig-wagenden Nachvorwegnahme“ 115 in einer Rückschau auf vergangene Ereignisse lässt sich das Urteil des „christlichen Epimetheus“ im blinden „marianischen“ Gehorsam finden, ob es sich bei einer politischen Form um einen Aufhalter oder Beschleuniger gehandelt hat.116 Anders als der aktive Prometheus stellt Epimetheus den „sich stumm zum Geschehen der Welt Verhaltenden“ 117 dar. Indem er auf vollbrachte Ereignisse zurückblickt, ist er jedoch für Heinrich Meier nicht gänzlich passiv, sondern findet in „aktiver Kontemplation“ 118 den verborgenen Sinn der Geschichte. Mit diesem Wissen richtet er sich als eine „geschichtliche Gegen-Kraft gegen die Neutralisierung der Geschichte zum Allgemein-Humanen, zum Museum der Vergangenheit und zum verleihba113 Schmitt (1950b), S. 12, 31, 53 ff., Schmitt (1950a), S. 929, Schmitt (1991a), S. 66, 101, 238 ff. Die kryptische Selbststilisierung des christlichen Epimetheus geht auf den „große[n] Dichter“ Konrad Weiß zurück, den Schmitt seit 1917 kannte. Schmitt nennt Weiß in: Schmitt (1950b), S. 40, 45, 51 f., 91 ff.; vgl. hierzu auch Nyssen (1988). 114 Meier (2009), S. 38 ff. Maria wird dabei als fromme, ehrerbietige Magd des Herrn charakterisiert. Alles komme im „marianischen Geschichtsbild“ des „christlichen Epimetheus“ darauf an, dem Wort des Herrn zu entsprechen, das dieser in und durch die Geschichte spricht. Schmitt in seinem Selbstverständnis als „christlicher Epimetheus“ könne sich demnach nur im Rückblick „wagend-demütig“ rechtfertigen, was er als Handelnder noch nicht erkannt habe. Zur Debatte um Schmitts Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit, insbesondere sein Eintritt in die NSDAP 1933 und die aktive Mitgestaltung der nationalsozialistischen Politik, hinsichtlich seines öffentlichen Bekenntnisses christlicher Reue als „taktischer Rückzug“ sei hierbei auf Raphael Gross verwiesen (Gross (2005), S. 340 ff.). 115 Meier (2009), S. 197. 116 Schmitt (1950a), S. 930 ff. 117 Nyssen (1988), S. 188. 118 Schmitt (1950a), S. 930.

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ren Kostüm für die Nacktheit aktivistischer Sinngebungen des Sinnlosen“.119 Schmitt blicke, so Meier, daher nicht nur diagnostisch auf ein geschichtliches Ereignis zurück, sondern erhebe dieses zu einem „wahrhaften Exempel geschichtlichen Handelns“ 120. Für Günter Maschke beinhaltet Schmitts zentrales politisch-theologisches Denken daher den Maßstab, dass Politik stets Katechon zu sein habe121 und auch bei undeutlicher Feindbestimmung stets auf das Politische gerichtet sein müsse. Die undurchschaubare Feindeslage, in der das Wesen des Feindes lediglich als Feind des Politischen bestimmt werden kann, resultiere daraus, dass sich der Feind in verschiedene „Zeitkostüme“ hülle, die an „konkrete Situationen“ gebunden sind, weswegen die Frage nach dem wirklichen Feind daher immer aktualisiert werden müsse.122 Die ganze christliche Geschichte ist daher eine GleichZeitigkeit zwischen der Erscheinung Jesu Christi und seiner Wiederkehr, zwischen der es mehrere irdische „Zwischen-Zeiten“ gibt, die erst aus dem Rückblick (Epi-metheus) als solche erkannt werden können und in denen sich die Frage nach dem Katechon und dem Antichrist grundsätzlich von Neuem stellt.123 Die drei Möglichkeiten, auf die Schmitt für ein christliches Geschichtsbild in seinem Kampf um die Interpretationshoheit der Geschichte zurückgreift, verbinden sich zu einem Geschichtsglauben, der „konkrete“ Unterscheidungen in der Wirklichkeit am Ende nicht mehr zulässt, da sich der vermeintliche Aufhalter im Nachhinein als Beschleuniger entpuppen kann. Die verbleibende Unsicherheit, wer Aufhalter und wer Beschleuniger ist, kann keine noch so rationale Analyse vorhersagen, sondern sie verlagert sich auf den Prüfstein des Glaubens. Die Glaubenswahrheit in der Geschichtsdeutung bezüglich der richtigen Beurteilung der konkreten geschichtlichen Situation basiert allein auf Glauben. Schmitts politisch-theologische Geschichtsinterpretation kann dabei weder eine konkrete Ordnung hervorbringen noch den Feind oder den Aufhalter näher beschreiben. Schmitt weiß lediglich, dass es einen „Katechon“ gibt, der für die jeweiligen Epochen aus der Rückschau bestimmt werden muss.124 „Man muss für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den Katechon nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden. [. . .] Es gibt zeitweise, vorübergehende, splitterhaft fragmentarische Inhaber dieser Aufgabe.“

Wer der Katechon ist und ob er letztendlich nicht doch als Beschleuniger verstanden werden muss, stellt sich für Schmitt als die grundsätzlich immer aktuelle 119

Schmitt (1950a), S. 930. Meier (2009), S. 251. 121 Maschke (1989), S. 565. 122 Vgl. Schmitt (2006), S. 89; Schmitt (2009a), S. 26. 123 Schmitt (2008b), S. 75; Meier (2009), S. 247. 124 Zur Zuschreibung des Katechon insbesondere als das Römische Reich und das Reich der Staufer vgl. Motschenbacher (2000), S. 187 ff. 120

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Aufgabe seiner theologischen Politischen Hermeneutik.125 Schmitt hört daher nicht auf, nach potentiellen Katechonten Ausschau zu halten.126 Durch die linearitätsbedingte Einmaligkeit der geschichtlichen Ereignisse lässt sich „jede geschichtliche Handlung und Tat eines Menschen“ als Antwort auf den „Ruf der Geschichte“ 127 verstehen. Geschichte ist somit nicht bloß ein „Archiv des Gewesenen“ 128, sondern ein Wagnis, in dem die Menschen „in den Stand der Geschichtlichkeit“ 129 eintreten können. Das „geschichtliche Ereignis“ Jesus Christus ist keine Sache der Vergangenheit, sondern hinsichtlich des Eschaton sieht Schmitt die „große historische Parallele“ 130 zwischen den ersten Christen und denen der Gegenwart. Schmitts christlich-eschatologische Bewertung von vergangenen und aktuellen Ereignissen sowie die Bestimmung des Katechon sind von der jeweiligen geschichtlichen Situation abhängig und teilen sich somit jene Inhaltslosigkeit der Schmitt’schen Begriffe, die erst in einem jeweiligen konkreten Fall einen Inhalt erhalten.131 Infolgedessen bewertet Schmitt Hobbes’ Leviathan anhand dieses geschichtstheologischen Kriteriums, ob sein staatlicher Befehlsmechanismus im Dienste Christi oder des Antichrist steht. Dabei habe Hobbes die christliche Wahrheit schützen wollen, indem er sie auf die Formel „that Jesus is the Christ“ reduziert habe. Für Schmitt steht Hobbes daher nicht im Auftrag des Antichrist, sondern er habe seinen maschinellen Staatsentwurf aus „reiner Frömmigkeit“ 132 konzipiert. Hobbes habe daher den „geschichtlichen Sinn des modernen Staates“ 133 in seiner konkreten Situation erkannt, in der die Säkularisierung aller theologischen Gegensätze vordringlich ist, um alle Glaubenskriege, zumindest im Inneren, zu beseitigen. Die Glaubenskriege nach der Reformation und der Zusammenbruch der mittelalterlichen Res publica christiana seien die geschichtliche Voraussetzung, die in dieser konkreten geschichtlichen Situation angemessen gewesen sei. Ihre geschichtliche Richtigkeit liegt darin, Ordnung in einer konkreten Situation herstellen zu wollen. Die Geschichte habe daher Hobbes Fragen gestellt, auf deren „Ruf“ er mit dem Entwurf der protestantischen „Staatsmaschine Leviathan“ auf die Leerstelle der fehlenden Ordnung geantwortet habe. Durch sein Programm 125 Zu Schmitts katechontischer Geschichtsdeutung vgl. das Kapitel Geschichte oder Der christliche Epimetheus in: Meier (2009), S. 187 ff. 126 Ebd., S. 252. 127 Schmitt (1955), S. 151. 128 Schmitt (1950a), S. 931. 129 Schmitt (1955), S. 152. 130 Schmitt (1950a), S. 928. 131 Schmitt (2008b), S. 75. Günter Maschke spricht daher von einer „vielseitig ausspielbaren Carte blanche“, mit der „bald diese, bald jene Politik, Parteiung, Ideologie [. . .], weil sie ,aufgehalten‘ werden soll, dem Feldlager des Antichristen zugerechnet werden [kann]“ (Maschke (1989), S. 569). 132 Meier (2009), S. 197. 133 Schmitt (1997), S. 128 ff.

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der Neutralisierung aller christlich-theologischen Gegensätze kann Hobbes in der Tat als der Begründer des Liberalismus gesehen werden und hat im Wesentlichen den Ausgangspunkt für eine Entpolitisierung gelegt. Von dieser Perspektive aus muss Schmitt Strauss eigentlich recht geben, wenn Letzterer Hobbes in seiner Fußnote in den Anmerkungen als „den antipolitischen Denker“ bezeichnet.134 Aus Schmitts theologischer Politischer Hermeneutik heraus jedoch stellt Hobbes’ Staatsentwurf eine protestantische Alternative zum Römischen Reich und zu allen christlichen Wirrungen jener Zeit dar und ist daher die, wenn auch nur aufs Wesentliche eingeschränkte christliche, angemessene Antwort auf den „Ruf der Geschichte“. Daher ist Schmitt zutiefst daran interessiert gewesen, ob Strauss, der ihn wie kein anderer durchschaut habe,135 seinen Aufsatz Die vollendete Revolution gelesen und die daraus resultierende politisch-theologische Herausforderung erkannt habe.136 Hobbes habe, so Schmitt, den Sicherheitsstaat theoretisch aufgrund der vordringlichen geschichtlichen Umstände begründet, jedoch aus seiner Zeit heraus weder beabsichtigt, dass die Neutralisierung jeder Wahrheit in seiner weiteren Entwicklung verstärkt werde, noch, dass der „Befehlsmechanismus“ antichristlichen Zwecken diene.137 Es ist richtig, dass Hobbes die Frage nach dem richtigen Leben zugunsten eines Staatsmodells verdrängt habe, die sich dann von innen heraus zu einem neutralisierenden Apparat ausgedehnt habe. Hobbes habe jedoch in einer konkreten geschichtlichen Zeit eine bestmögliche Antwort auf die ordnungsstiftende Leerstelle nach den Wirren des englischen Bürgerkrieges geben wollen. Dabei sei auch sein Protestantismus vertretbar, der für Schmitt, im Unterschied zu anderen Häresien, eine christliche138 Möglichkeit nach der Kirchenspaltung als eine „klare staatliche Alternative zum römisch-kirchlichen Entscheidungsmonopol“ 139 darstellt. Schmitt vollzieht dabei eine christliche Umdeutung des Leviathan, den er in ein christliches geschichtliches Geschehen einordnet. Er unterstellt Hobbes, aus reiner Frömmigkeit und guter Absicht einen christlichen Souverän durch die Setzung seiner theologischen Achse um die Formel „that Jesus is the Christ“ vorausgesetzt zu haben, um durch sein theoretisches Handeln 134

FN 1 in: Meier (1988), S. 109. So berichtet der Jurist Günther Krauss, dass Schmitt ihn seinerzeit auf die Lektüre von Strauss’ Anmerkungen zum Begriff des Politischen hingewiesen habe; vgl. ebd., S. 158. 136 Carl Schmitt hat Heinrich Meier am 2.11.1976 einen Brief geschrieben, in dem er wissen wollte, ob Strauss seine „Leviathan-Schrift von 1938 kennengelernt und vor allem, ob er den Challenge [s]eines Hobbes-Aufsatzes Die vollendete Revolution (that Jesus is the Christ) vernommen hat. Das ist nicht nur aus persönlichen Gründen wichtig“ (FN 153 in: Meier (2009), S. 184). 137 Vgl. Meier (2009), S. 195; Schmitt (2003a), S. 47, 63, 65 ff.; vgl. auch Schmitt (2009a), S. 62. 138 Schmitt (1917), S. 77 FN 5 in: Schmitt (2003b), S. 170; Meier (2009), S. 198. 139 Schmitt (2003b), S. 169; Schmitt (2003a), S. 126. 135

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das christliche Projekt zu retten. Dass dieser protestantisch ist und dass dieser das Christentum auch genauso gut abschaffen könnte,140 interessiert Schmitt in seiner theologischen Geschichtsdeutung genauso wenig wie der historische Thomas Hobbes und seine auktoriale Intention. Schmitt unterscheidet zwischen der Funktion des Staatsentwurfes in einer konkreten geschichtlichen Situation und dem Zweck im Verlauf der christlichen Geschichte. Es gibt daher für ihn geschichtliche Wahrheiten, die Ordnungen hervorbringen, die in ihrer konkreten Zeit richtig sind, die sich im Laufe der Zeit jedoch als unangebracht herausstellen können. Schmitts Ordnungsdenken und seine Deutung dieser Ordnung sind daher radikal historisch bedingt. Durch seine theologische Geschichtsdeutung politischer Ordnungen als „christlicher Epimetheus“, der erst aus der „demütig-wagenden“ Rückschau den Zweck einer Ordnung bewerten kann, unterliegt er dem Strauss’schen Vorwurf an historistische Interpreten, einen Denker im Nachhinein besser verstehen zu wollen als dieser sich selbst verstand.141 Schmitt fokussiert allein die Fragen, die allein die christliche Geschichte und nicht der Denker Hobbes sich gestellt hat. Seine dogmatische Verengung, indem er Hobbes echte Frömmigkeit unterstellt, durch die er ein christliches Gemeinwesen vor Augen gehabt habe, um auf die konkrete geschichtliche Verortung mit Wissenschaftlichkeit und Neutralisierung zu antworten, soll eine geschichtsbedingte Antwort auf das sein, was im Streit der Theologen im Prozess der neutralisierenden Säkularisierung verloren gegangen war.142 Daher besteht für Schmitt „die epochale Bedeutung des Thomas Hobbes“ darin, „den rein politischen Sinn des geistlichen Entscheidungsanspruchs begrifflich klar erkannt zu haben“ 143 und dennoch einen christlichen Souverän vorausgesetzt zu haben. Der mythische Name des Seeungeheuers Leviathan ist daher letztendlich ein „fehlgeschlagenes politisches Symbol“, da zwar der maschinelle Charakter des Staatsentwurfes „ungeheuerlich“ ist, er aber dennoch eine politisch angemessene Ordnung in ihrer spezifischen Zeit schafft, durch die das Werk als ein Zeugnis der christlichen Wahrheit verstanden werden muss. Mit diesen historistischen und theologischen Grundlagen stemmt sich Schmitts Lesart von Hobbes’ Leviathan demnach gegen jene des Politischen Philosophen Leo Strauss. Ihr „angemessenes Hobbes-Verständnis“ resultiert dabei einerseits aus Schmitts zutiefst historistischer theologischer Hermeneutik einer christlich oktroyierten Politikgeschichte und andererseits aus Strauss’ philosophischer Politischer Hermeneutik. Eine Auseinandersetzung mit vorchristlicher, antiker Philosophie und antikem Denken kommt daher bei Schmitt nicht vor, obwohl dies ge140 Vgl. vor allem das Kapitel 42 Von der kirchlichen Gewalt in: Hobbes (2008), S. 376 ff. 141 Vgl. hierfür das Kapitel Historisches Verstehen. 142 Schmitt (2003b), S. 161. 143 Ebd., S. 167.

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rade für Hobbes’ eigenes Verständnis von Geschichte eine tragende Rolle spielt, wie Leo Strauss herausgearbeitet hat. Nachdem Hobbes nämlich die „Ohnmacht der Vernunft“ in Bezug auf die Durchsetzbarkeit von Normen konstatiert hat, wendet er sich geschichtlichen Beispielen der Durchsetzung und Bewahrung von Vorschriften durch ein methodisches Studium der Geschichte zu. Daher fragt er nicht mehr nach der besten Ordnung, sondern zutiefst pragmatisch und historisch danach, wie sich Normen durchgesetzt haben und inwiefern Geschichte eine „anwendbare Moral“ liefern kann, die befolgt wird.144 Während Schmitt Hobbes’ Staatsentwurf theologisiert und in sein Geschichtsverständnis einreiht, bemüht sich Strauss um eine Wiedergewinnung des Horizontes vor Hobbes, in dem ein Denken der natürlichen Ordnung wieder möglich ist. Der Weg zurück zum Suchen nach der von Natur aus besten Ordnung ist dabei gleichzeitig eine Abwendung von Hobbes’ „Wendung von der Philosophie zur Geschichte“ 145 hin zur Politischen Philosophie.

144 145

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Namensregister Adorno, T. 37 Alkibiades 102, 166, 170–172 Arendt, H. 37 Aristoteles 47, 53, 62, 63, 84, 85, 87, 88, 93, 94, 104, 128, 147, 149, 157, 167, 169, 170, 175, 195, 196, 260, 269, 271, 314 Augustinus 81, 117 Averroes (Ibn Ruschd) 57, 58 Barth, K. 329, 335, 343 Bloom, A. 19, 21, 28, 29, 33, 89, 96, 144, 155, 187, 203, 238, 297 Cassirer, E. 20, 281 Comte, A. 43 Cicero 95, 98, 104, 139, 151, 168, 246, 295 Cohen, H. 62, 82, 232, 338, 339 Descartes 36, 65, 142, 143 Dilthey, W. 22, 272 Farabi (Alfarabi) 32, 51, 207, 234, 270 Freud, S. 91–93 Gadamer, H.-G. 16, 17, 20, 29, 30, 31, 63, 65–67, 68, 186, 197, 221, 236, 239, 244, 247, 248, 253, 254, 255, 256, 269, 281–295 Guttmann, J. 45, 47, 82 Hegel 31, 53, 74, 75, 80, 155, 167, 223, 244, 299–328 Heidegger 16, 18–22, 53, 69, 123, 222, 244, 256, 259–261, 271, 272, 282, 283, 285

Hobbes 26, 35, 37, 41, 71–74, 82, 85, 118, 119, 160, 163, 263, 322, 323, 342–347, 352–355 Husserl 20, 53, 285 Kierkegaard, S. 223, 342 Klein, J. 20, 38, 47, 51, 95, 187, 203, 239, 241, 282, 328 Kojève, A. 29, 30, 31, 80, 80, 81, 215, 216, 217, 221, 298–328 Krüger, G. 20, 26, 263 Kuhn, T. 194, 196 La Peyère 337 Leibniz 125 Lessing 32, 172, 205–207, 213, 219, 221 Löwith, K. 20, 25, 70, 145, 214, 219, 244, 245, 258, 282, 346 Machiavelli 36, 74, 144, 145, 237 Maimonides, M. 15, 38, 58, 214, 215, 218, 237, 264, 283, 328 Mannheim, K. 60, 218 Marx, K. 27, 60, 80, 165, 167, 295, 298, 300, 301, 305, 306, 308, 311, 313, 324, 325 Nietzsche 37, 42, 53, 54, 80, 94, 129, 146, 158–166, 213, 214, 218, 219, 239–242, 295, 318, 320, 322, 324, 325, 328, 346 Origenes 331–336 Parmenides 219 Paulus 45, 233, 328 Pythagoras 212

Namensregister Ratzinger, J. (Benedikt XVI.) 328–330 Rosenzweig, F. 329 Rousseau, J.-J. 151, 167, 229–231, 233, 249 Schmitt, C. 30, 31, 68–87, 97, 116–122, 307, 342–355 Scholem, G. 38, 237, 329 Skinner, Q. 31, 273–281

375

Spinoza, B. 15, 35, 218, 231–237, 264, 283, 290, 293, 336, 338, 343 Swift, J. 219 Taubes, J. 77, 117, 118, 327 Tertullian 25, 38, 46, 349 Thukydides 33 Weber, M. 21, 22, 40, 55, 114, 152, 172, 218, 259